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VA'^-
Eduard von Hartmanns
Ausgewählte Werke,
BAND XIL
Geschichte der Metaphysik.
Zweiter Teil: seit Kant
Leipzig, 190a
HERMANN HAACKE,
VSIULAGSBUCHHANDLUNO.
GeschicMe der Metaphysik.
Von
C>
Ednard von Hartmann.
ZWEITER TEIL:
Seit Kant
Leipzig, igoa
HERMANN HAACKE.
VERLAGSBUCHHANDLUNG.
4
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CL^zi'be
Alle Rechte vorbehalten.
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INHALT.
1* Kant und seine Schulf.
Seite*
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Kanu erste Periode: S, i, — Kants «weite Periode: S. 2. — Motive fiir
Kants Übergang zur dritten Periode: S. 5. — Kants Apriorisitius udö RationalU-
mufi: S. 7* — Kants Verhältnis zum Empirismus: S. 9- — Die objektive ReaJi-
tit: S. ir — Moral und Naturphilosophie als Zweck der Kantschen Er-
kenntnistheorie und Metaphysik: S, 12 — Der Begriff der Kategorie: S. 15. —
Grilnde fiir die Aprioritit der Anschauungs- und Denkfozmen; S. 15,. —
Ursprung und Geltungsbereich der Kategorien : S. 17. — Gründe für die bloss
immanente Geltung der Anschauungiformen: S. t8. — Das Geltungsgebiet der
Denkfomieo : S. 20, — Doppeiter Gebrauch und doppelte Bedeutung der
wichtigsten Denkformen : S. 22. — Die Tafeln der Urteilsform cn, Denkfomien
und SchemaU: S. 23. — Die Kausalität: S. ib. — Die SubstantiaütÄt: S. iq. —
Die reine Naturwissenschaft a priori: 8,31. — Die Vemunf tbcgriffe : S. 32, —
Das Ich: S, 33« — Die kosmologischen Antinomien: S. 33. — Die rationale
Theologie: S. 35. — Vernunft- und Vcrstandesbegriffc, regulative und kon-
stitutive Erkenntnu: S. 37 < — Die Finalität als die Kategorie der UrteiU-
kraft: S, 39. — Teleologie und Mechanismus: S. 42. — Der Endzweck der
Weh: S. 45. — Rückblick und Ausblick : S. 45. — Tabellarische Übersicht: S, 47.
. Die Knntsche Schule ...
I. Reinhold . . .
1. Schuke
3. Maimon ,,.,♦.
4. Beck ....
5. BardiÜ . ,
6. Bouterwek . .
7. Krug
S. Fries
Fl. Der Pantheismus.
I* J. G. Fichte ... ...
Sem erster und sein zweiter Standpunkt: S. 63. — Die Urtbätigkeit: S. 65» —
Das reine Ich: S. 67. — Da* absolute Ich: S. 6d. — Ich _ Ich: S. 71. —
«>i
~ VT —
Seite
' Die Mehrheit der Ichs: S. 73. — Widerspruch der theoretischen und prak-
tischen Weltanschauung: S. 75. — Die notwendige Berichtigung des Fichte-
schen Standpunkts: S. ^^, — Die Ableitung der Kategorien aus dem Prozess
der Bewusstseinsentstehung : S. 79. — Die Relationskategorien und die Denk-
gesetze: S. 81. — Der konkrete Prozess der Bewusstseinsentstehung: S. 83. —
Die zwiefache Doppelseitigkeit der Thätigkeit: S. 85. — Die Anschauungs-
formen und die Modalitfttskategorien : S. 86. — Rückblick und Fortgang:
S. 87.
2. Schelling in seiner ersten Periode 89
Verhältnis zu den Vorgängern: S. 89. — Die Methode und die intellektuelle
Anschauung: S. 93. — Die intellektuelle Anschauung und das Absolute:
S. 95. — Ansich und Ding an sich: S. 97. — Anschauungsformen imd Be-
griffe: S. 99. — Die Kategorien: S. 100. — Die prästabilierte Harmonie
zwischen Handeln und Anschauen und die zwischen verschiedenen Intelligenzen :
S. 103. — Der drei£Eu:he Begriff der Natur: S. 105. — Der dreifache Begriff
der natura naturans als idealis, realis und absoluta: S. 108. — Der All-
organismus: S. HO. — Die Weltseele als Lebensprindp : S. in. — Die
Imponderabilien: S. 113. — Die Theorie der Materie: S. 114. — Die Prind-
pien als Thätigkeiten : S. 117. — Die Prindpien als ewige ideale Momente:
S. 121. — Der Panlogismus: S. 123. — Das Problem der Individuation :
S. 125. — Das Problem der Freiheit als Überleitung zur zweiten Periode: S. 127.
Solger 128
J. J. Wagner 131
Oken 135
Schubert 137
Planck 138
3. Schleiermacher 139
Sein Verhältnis zu Vorgängern: S. 139. — Schieiermacher als Schellingianer :
S. 141. — Deduktion und Induktion: S. 143. — Die intellektuelle und die
organische Thätigkeit: S. 144. — Das bewusstseinstranscendente Sein: S. 146. —
Die untere und obere Grenze von Begriff und Urteil: S. 148. — Die Identität
des Idealen und Realen : S. 1 50. — Das begriffliche und das urteilende Er-
kennen: S. 152. — Fühlen, Denken und Wollen: S. 154. — Das System
der substantiellen Formen und das System der Wechselwirinmg als das Ideale
und Reale in der Natur: S. 156. — Kraft und Erscheinung: S. 157. — Zeit,
Raimi imd Stoff: S. 158. — Die Welt als Einheit von Natur und Greist:
S. 159. — Gott als die ursprüngliche Identität: S. 160. — Grott als der un-
bewusst und xmpersönlich Lebendige : S. 161. — Die Unerkennbarkeit Gottes:
S. 163. — Tabellarische Übersicht des Schleiermacherschen Systems : S. 166. —
4. Schopenhauer 167
Verhältnis zu Kant und Fichte: S. 167. — Verhältnis zu Schellings erster
Periode: S. 169. — Verhältnis zu Schellings zweiter Periode: S. 171. —
Verhältnis zu sonstigen Vorgängern: S. 172. — Der Standpunkt des »besseren
Bewusstseins« als Vorstufe der Schopenhauerschen Willensmetaphysik:
S. 174. — Übergang von diesem Standpunkt zur Willensmetaphysik: S. 177.
— Raum und Zeit: S. 178. — Kausalität und Motivation: S. 179. —
Kausalität und Ding an sich: S. 181. — Die Substanz und die Materie:
- V« «
S. r82. — Vielheit und ZwedrmAssigkeii: S. 1S5, -^ Da» Absolute Er-
kermlDLSsulrjekt, das erkennende lodtviduum und das Brwnsstsemsich :
S, 186. — Da* absolute Erkenntnissubjekt und die Idee: S. 189. — Die
transcen den Laie und die ästhetbche Idee: S. 190. ^ Der Wille als Ding an
sich; S. 192. — Der Analogienschluss vom eigenen Wollen auf freimdea
Wollen: S 193. — Die Vielheit der Willensindividuen: S. 195* — ^^^
Korrespondenz zwischen Willen^individuen und subjektiv idealen Encbei-
Qungsobjekten : $. 196. — Wille und Idee: S» 197. — Das Eine Subjekt
des WoUens und Erkennens: S. 200. — Der Pantheismus: S. toi. —
Universalismus und Individualismus in der Erlösungslehre; S. 103. — Zu-
saminenf assung : S. 204. — Tabellarische Übersicht: S. 106.
Hegel
Verhältnis zu den Vorgängern : S. 207. — Anlehnung an SchelÜng : S» 209. —
Hegels Schriften und ihre Lektüre: S» 211. — Der Panlogismus und die
Wider^nichsdlAlektik: S. 213. ^ Realprtndp, Substanz und Subjekt im
Panlogismus: S. 215. — Absolutes und individuelles Denken: S, 217. —
Der Panlogismus als Umversalismus, Begrißsrealismus und IntellekturUismuÄ :
H, 319. — Die Ableitung des WQlens vermittelst der Widerspruchsdialektik:
S. 321. — Die absolute Idee im Verhältnis zu Natur und Geist, Unbewusst-
hdt und Bewusstsein: S. 223. — Die Entwickelung im Verhältnis zu Idee,
Natur und Geist: S. 227. -— Die Gliederung der Logik in die Lehre vom
Sein» Wesen und Begriff: S. 229. — Begriff und Idee: S. 231. — Sein und
Werden: S. 233. ^ Die vierfache RealitÄt: S, 234» — Fürsichsein» Quan-
titfii und Mass: S, 236, — Grund: S. 238. — Substanz, Ursache und Wechsel-
wirkung: S, 240. — Begriff, Urteil und Schluss: S. 241. — Mechanismus,
Chemismus und Zweck: S. 241. — Idee: S. 242. — Doppelter Begriff der
Wirklichkeit; S. 243. — VerhäLUnis des Logischen und Unlogischen: S« 244*
Rechte und Linke der Hegeischen Schule .
Michclet ..,.,.,.,.,
Vatke
Hmllcr ...
Karl Rosenkran/ ...,.,
Geoige , . - . -...,.
6. Der Panthetsmu» mit unpersönlichem, aber f eibitbtwnittetn
Absoluten, oder der Pseu dotheismus
QiArakteristik des Pseudotheisinus : S. 256,
Wirth
Steudcl
Biedermanu
Fechner
Seine Atoinrnkhre: S. 264. — Die Bewusstseinsschweüe bei den Individuen
verschiedener Stufe: S. 265. — Das Selbstbcwusstsein des Absoluten: S. 267, —
Der psjrchQphyiische Parallelismus : S. 368. ^ Erketmtnislebre und Psycho-
physik: S. 269.
Obergang zum Theismus ... . . . ,
Die Ergebnisse des Pantheismus und die doppelte Reaktion ge|^a Üia*
S. 270. — Chronologische Übersicht des Theismus und Atheismus: S. 17$.
%mim
207
156
ifO
— vm —
Seite
m. Der Theismui.
1. Die Begründer des neuesten Theismus 277
Jmcobi 277
Erkenntnistheorie: S. 277. — Theistischer Geftihlsglaube : S. 279. — Kampf
gegen den Naturalismus: S. 280. — Kampf gegen den abstrakten Monismus:
S. 283. — Jacobis Bedeutung: S. 284.
Baader 285
Verhältnis zu Vorgängern: S. 285. — Die drei innergöttlichen Prozesse:
S. 285. — Der logische Prozess: S. 286. — Der Willensprozess : S. 287.—
Der Geistesprozess : S. 288.
2. Schelling in seiner zweiten Periode 28v
Verhältnis zu den Vorgängern : S. 289. — Rein rationale imd positive Philo-
sophie: S. 292. — Die Philosophie als induktiver Empirismus und historische
Weltanschauimg : S. 293. — Der Wille als positives, irrationales Realprincip :
S. 294. — Das zweite, ideale Prindp: S. 296. — Die Substanz oder das
Subjekt als Urprincip (Princip O): S. 297. — Der Prozess: S. 299. — Die
drei göttlichen Personen und der ideale Urmensch: S. 301. — Der Abfall
des idealen Urmenschen, die Naturverschlcchterung und das Böse: S. 302. —
Der transcendentale Realismus: S. 304.
Troxler, Berger, Steffens 305
Oersted 306
Wilhebn Rosenkrantz 307
3. Der Rückgang auf Leibniz 310
Krause 311
Früherer und späterer Standpimkt : S. 31 1. — Aufsteigender imd absteigender
Lehrgang: S. 312. — Kategorienlehre und Gotteslehre: S. 313. — Natur-
imd Geschichtsphilosophie: S. 314.
Herbart 31S
Verhältnis zu Vorgängern: S. 315. — Erkenntnislehre: S. 316. — Katcgorien-
lehre: S. 318. — Metaphysik: S. 320. —Gotteslehre: S. 322. — Zusammen-
fassung: S. 324.
Beneke 325
Methodologie: S. 325. — Die Selbsterfassung des Ich : S. 325. — Die sensu-
alistische Auflösung dieses Ausgangspunktes: S. 327. — Der Spiritualismus:
S. 331. — Die Kategorienlehre: S. 331. — Die Kausalität: S. 333. — Frei-
heit und Unsterblichkeit: S. 334. — Gott: S. 335.
4. Der strenge Theismus 337
Günther 337
Sein Standpunkt im allgemeinen: S. 337. — Das menschliche und das göttliche
Ich: S. 338. — Gott Vater und Sohn: S. 339. — Der heilige Geist und die
Einheit Gottes: S. 341. — Die Schöpfung aus Nichts: S. 342. — Die Kate-
gorien im menschlichen Geiste: S. 345. — Die Kategorien in der Natur
und in Gott: S. 346.
Weber 349
Deutinger 352
5. Die Vertreter der Phantasie 355
Weisse, I. H. Fichte und Frohschammer : S. 355.
— Dt — ^^l^pi^B^pi^:
Seit«
Wetise . , , . 356
S<*in VrrhÄitnis 2u Solgcr, HegeU Schdling und K»nt 1 S, 356, — Die PhÄiiusie
, in Gott oder die Idee der Schönheit; S* 359. — Die Dreipereönlichkcit
Gottes: S. 362, — Die Kalegorienlehf e : S. 364,
L H, Fichte 367
Sein VerhUtrüi zu Vorgängern und Zeitgenosien : S. 367, — Erkenntnislehre:
S. 368. — Kategorienlehre; S. 369. — Gottes Selbi tbewoastaein : 8,371. —
Der dreifache Prozess in Gott: S. 373. — Gott und Welt: S. 375. — Die
Phantasie: S. 376.
FrofaschAmmer . . . , , . . . 37g
Sein Verhältnis %\\ den Vorgängern : S. 379. — Die unbewusate Weltphanttaie:
S- 380. — Der bewiisstc pereönlicbe Gott: S. 382. — Rückblick auf die
Vertreter der Phantasie: S» 383. - Trinttaräche und umiaj-ijsche Theisten:
S. 384.
. Neuere Unitarier , 385
Trendelenburg» Ulrici, Lotze: S. 385,
'rrendelenburg ,......,.,... , . , 387
Sein Vcrhiltni» zu den Vorglngem: S. 387. — Die Bewegung als identitäts-
philosophisches Urprindp ; S. 388. — Die Ableitung der Kategorien aus der
Bewegung: S. 391. — Die fünf Entwickelungsstufen des Pfindpi: S. 393.
UJrid .,,....,....,.....,, 394
Methodologie und Erkenntnistheorie: S. 394. — Die unterBcheidende Thitlg*
keit als Quell der Kategorien^ des Bewuastseins und Sclbstbewusstseini»:
^' 39S* -~ ^^^ Begrüf der Kategorie; S, 398. — Das Sysiem der Kale-
gorien: S. 399. — Materie tmd Seele: S. 40t. — Gott: S. 403.
LoUe . . - ,
Sein Verhiltiiis zu Schelling, Hegei, Schopenhauer und Herbart: S. 405. —
Desgleichen *u L H. Fichte, Fcchncr und Weisse: S. 407. — Desgleichen
aur modernen Naturwissenschaft: S. 409, — Erkenntnistheorie. S. 411. —
Substantialität : S, 412. — Realität: S. 413. - Kausalitlt: S. 41b. —
Räumlichkeit: S. 418. — Zeitlichkeit: S. \%\. — Das Geltungsbereich der
Denkformen: S. 423. — Gotl: S. 425,
RückbUck auf den Theiamiu ,.....,>*..
40s
rV. Der Atlieitinut.
)er ainiiliche Materialismus .... .... . 433
Comte 43i
Allgemeiner Standpunkt: S. 433. ^ Die drei Stufen deiiErkennens: S. 434. —
Methodologie: S. 43b.
Feuerbach , , , . . . 437
Sein Durchgang durch sechs Standpunkte: S. 437. ^ Der Anthropologismus :
S* 439" -* ^^ Sensualismus: S. 440. — Der Naturalismus und Materialis.
mos: S. 441. — Ethik und Religionsphilosophie : S. 443.
StnusB , 444
Naturwtsaenschaftliche Materialisten . 445
Büchner. 44^
- X -
Seite
Das geschichtliche Verdienst des Matferiälismus : S. 446. — Der Dualismus
Von Stoff und Kraft: S. 447. — Der liaive Realismus als Grund des Materia-
lismus: S. 449.
Csolbe 451
Seine erste Periode: S. 451. — Seine zweite Periode : S. 452. — Seine dritte
Periode: S. 455.
Haeckel 456
Sein Hylozoismus: S. 456. — Sein kosmonomischer Monismus: S. 457. —
Sein naturphilosophischer Evolutionismus: S. 459.
Dühring 460
Sein Verhältnis zu den Vorgängern: S. 460. — Die Prindpien: S. 461. —
Die Grrenzprobleme : S. 463. — Der Religionsersatz: S. 464.
von Kirchmann 465
Der Inhalt des Seins und Wissens: S. 465. — Die Beziehungsformen : S. 466.
Rückblick auf den Materialismiis 469
Ausblick auf die weitere Entwickelung 471
\. Der Agnostizismus 475
Hamilton 476
Mansel 477
James Mill 477
John Stuart Mill 478
Die Methodologie: S. 479. — Die Gefühls- und Wahmehmungsmöglichkeiten :
S. 480. — Religion und Agnostizismus: S. 482.
Herbert Spencer 484
Sein Verhältnis zu den Vorgängern: S. 484. — Das Absolute: S. 484. —
Das Gesetz der Erhaltung der Kraft: S. 487. — Das Gresetz der Entwickelung:
S. 489. — Die Psychologie: S. 492.
F. A. Lange 494
Sein Verhältnis zu den Vorgängern : S. 494. — Die Naturphilosophie: S. 497.
— Die Geistesphilosophie: S. 498.
Der Neukantianismus und seine Richtungen 500
Der Obergang zum transcendentalen Realismus 502
Der Agnostizismus in der Naturwissenschaft 504
Der Übergang zum atomistischen Dynamismus 505
Der Agnostizismus in der Psychologie 507
Der Übergang zur individualistischen Willensmetaphysik 508
. Der atheistische Individualismus und Pluralismus 510
a) Die individualistische Willensmetaphysik 510
Bahnsen 511
Sein Verhältnis zu den Vorgängern: S. 511. — Die Realdialektik: S. 514.
— Die Stellung des Logischen im Weltprozess: S. 516. — Der Willens-
inhalt: S. S18. — lyet ontologische Pluralismus der Willenshenaden: S. 519.
— Das Verhältnis der vielen Henaden zur Einheit: S. 521.
b. Die pluralistische Willensmetaphysik $23
Mainl&nder 523
Sein Verhältnis zu den Vorgängern: S. 523. — Erkenntnistheorie: S. 524.
^ Itf —
Seit«!
— Naturphilosophie: S. ^25* — Metaph^ik: S» 537, — IndividuaterlOsuni;
und Universakrlöfiung : S. 528. — Einheit und Vielheit; S, 532.
Hamerling 533
Übergang von der subsUnädlai zur funktioöellen WiUensmcUphyiik .... 536
Wundt . . , . ' • 537
Sein Verhältnis zu den Vorgängern: S. 537. — Erkenntnistheorie: b. 538.
— Der Kampf gegen den SubstanzbegrUF: S. 541. — Die Tcleologie: S. 542,
— Die Psychologie: S. 543. — Das Absolute: S* 546. — Die Individuen
und das Absolute: S. 547. — Die physiologische Psychologie: S. 549.
c Der Übersinnliche Materialismus oder transcendentale Indivi-
dualismus ....... 550
von Hellenbach ..... 554
Erkenntnistheorie: S. 554. — Die Seele aU Metaorgaiüsmuä : S. 55Ö. — Die
Fortdauer nach dem Tode: S. 559. — Das Verhältnis de« Ich zum trans-
cendcnulrn Individuum: S, 561. — Ergebnis: S- 562.
Du Prel .,..,... 563
Sein Vcrhi!uiis zu den Vorgängern: S. 563. — Die Unter bewuisiäeinc und
das Oberbewusstsem im Menschen: S. 565. -^ Das transcendentale Subjekt:
S. 567. — Du Preis »Monismus^ : S. 568.
Die angloindische Neotheosophie ♦ »5^9
d. Der selbstherrliche Indi vidualii^mus oder die Apotheose des
Egoismus ...-,,.,..- 570
Fr. Schlegel , , , , 571
Der selbstherriiche Individualismus in dem linken Flügel der Hegclschen Schule 573
Stimcr , 573
Das Ich als der Einzige und die Welt als sein Geschöpf und sein Eigeutuan :
S- 573- — Die Emanzipation des Ich von allen objektiven Mächten: S» 574.
— Die Abstumpfung der schroflsten Konsequenzen: S. 577, — Übergang au
Nietzsche: S. 578.
Nieizsche $79
Sein Verhältnis zu den Vorgängern: S. 579. — Der Übermensch und seine
neue Moral und Religion: S. 582. — Die Irratiomditlt des Mietischeschen
Ideals und seine praktische Realität: S. 5S4. — Die kfLlturgeschichdiche
Bedeutung des Individualismus und Personalismus für die Gegenwait: S. 586.
^ Absolutheit oder Beschiibiktheit des Individuums: S. 588.
Ergebnis des Individualismus . 589
Rtickblick au! die Entwickeluug seit Kaul ........... 592
Der Umschwung in der Methode der Metaphysik: S. 592. — Die Leistungen
der pantheis tischen und theistlschen Richtungen: S. $95. — Die Leistungen
der atheistischen Richtungen: S* 597. — Die von der geschieh tlichen Ent-
Wickelung gt^tellte Aufgabe: S. 599.
— xn —
Baader, S. 285—289.
Bahnsen, S. 511— 5«3-
Bardili, S. 55—56.
Beck. S. 54— 5S-
Beneke. S. 325—337.
von Berger, S. 305.
Biedennann, S. 261—263.
Bouterwek, S. 56 — 58.
Büchner, S. 446-45 * •
Comte, S. 433—437-
Czolbe, S. 451—456.
Deutinger, S. 352—355-
Dühring, S. 460—465.
du Prel, S. 563—568.
Fechner, S. 263—270.
Feuerbach, S. 437—444.
Fichte, J. G., S. 63—89.
Fichte, 1. H., S. 367—379.
Fries, S. 59—62.
Frohschamer, S. 379—385.
George, S. 253—256.
Günther. S. 337—349-
Haeckel, S. 456—460.
Haller, S. 251—252.
Hamerling, S. 533— 536. 548.
Hamilton, S. 476 — 477.
Hegel, S. 207—246.
Alphabetisches Register.
; Hegeische Schule, S. 247.
j von Hellenbach, S. 554 bis
' 563-
Herbart, S. 315-325-
Jacobi, S. 277—284.
iKant, S. 1—48.
vonKirchmann, S.465 — 469.
'Krause. S. 311— 315.
I Krug, S. 58—59-
Lange, S. 494 — 500.
Lotze, S. 405 — 429.
Maimon, S. 52 — 54.
Mainländer, S. 523—533.
Mansel, S. 477.
Michelet, S. 247—249.
Mill, Jomes, S. 477—478.
Mill, John Stuart,S. 478— 484.
Neukantianismus, S. 500 bis
502.
Nietzsche, S. 579—589.
Oersted, S. 306 — 307.
Oken, S. 135-137.
Planck, S. 138—139.
du Prel. S. 563—568.
Pseudotheismus,S. 256—258.
Psychologie, physiologische,
s. 549—550-
Reinhold, S. 49—52.
Rosenkranz, K., S. 252—253.
Rosenkrantz,W.,S. 307 -3 10.
Schelling, S. 89—127, 289
bis 305.
Schlegel, Fr., S. 571—573-
Schleiermacher, S. 139 — 166.
Schopenhauer, S. 167—207.
Schubert, S. 137—138.
Schulze. S. 52.
Solger, S. 128— 131.
Spencer, S. 484—494-
Steffens, S. 305.
Steudel, S. 259—261.
Stimer, S. 573—579-
Strauss, S. 444—445-
Trendelenburg, S. 387-
Troxler, S. 305.
Ulrici, S. 3<>4— 405-
Vatke, S. 249-251.
Wagner, S. 131 — 135-
Weber, S. 349— 35«-
Weisse, S. 356—367.
Wirth. S. 258—259.
Wundt, S. 537- 550.
-394
Orientierende Zusammenfassungen, Rückblicke, Ausblicke. Überleitungen etc: S. 45 — 47,
87—89. 165, 204—205. 244—247. 256—258, 270—274. 277. 289—290, 310, 324,
337—338.355—356.383—387. 428-434. 469—476. 500-5". 536—537. 547—554.
568—571, 586—600.
Tabellarische Übersichten: S. 47—48, 118, 132—135, 166, 206, 255. 275, 319, 345—346,
364—365, 370-371. 389-390. 540-
Unbewusstes: S. 13—15, 41. 65—67, 70, 78—79, 83 — 86, 94—96,99, 106, 119 — 121,
144—146, 161— 163, 181— 182, 189— 191, 199—201, 223—227, 250, 268—269,
297-299. 306—307. 327—331. 335. 337. 353-354. 363. 371—373. 377—382. 394.
397—399. 403—405. 407—408. 426. 432. 545. 565—568. 574-
— xra —
Selbttbewnittiein dei Absoluten: S. 67 — 71, 201 — 202, 250, 256 — 259, 260—263,
265—269. 313—314. 323—324. 339—342. 353—354. 362—364. 371—373. 375.
394, 401, 403—405. 426—428.
Penönlichkeit des Absoluten: S. 201 — 202, 247 — 249, 250, 260 — 263, 279—280,
288—289. 301—302. 312, 314. 323—324. 335—336, 339—342. 359—360. 362 bis
364. 373—375. 382—383. 393—394-
Trinität: S. 250. 288-289. 301—302. 339—342. 354. 362—364. 373—375
Beziehungen zwischen Vorgängern und Nachfolgern: S. i — 4, 89 — 93. 139 — 143. 167 bis
174, 207—211. 263—264, 277—278. 285. 289—292. 305—306, 311— 312. 315 bis
316. 352. 35^-359. 367—368, 379—380. 387—388. 394. 405—409. 451. 460 bis
461. 484, 494. 511-514. 523— 524t 537—53«. 563—565. 573. 578—582.
Geschichte der Metaphysik.
I,
Kaut imd seine Scliule.
I. Kant
Kant {1724 — ^1804) zeigt in seiner philosophischen Entwicke-
lung vier Perioden. In der ersten Periode, die bis zum Jahre 1769
reicht, steht er auf dem Boden seines Lehrers Knutzen, d, h. einer
Synthese zwischen Wolff und Newton. Mit WoliF lässt er die
Erkenntnis nur soweit als philosophische gelten, als sie a priori
ist und apodiktische Gewissheit bietet, und lässt er die Leibnizische
prästabilierte Harmonie für die Einwirkungen der Körper auf
Körper und der Geister auf Geister fallen. In der Zurückfiihning
aller Bewegungen auf atomistisch gegliederte Kräfte stimmen
WolfF und Newton überein; dagegen behauptet Newton die me-
chanische Erklärung aller Veränderungen in der Körper weit und
den real existierenden leeren Raum als ihren Schauplatz. Im
ersteren tritt Kant in allen seinen Perioden, im letzteren wenigstens
in seiner ersten Periode auf Newtons Seite, Mit Knutzen (und
Crusius) verwirft Kant die prästabilierte Harmonie auch da, w^o
Wolflf sie hypothetisch noch festhält, zwischen Körper und Geist
ein und desselben Individuums. InbetrefiF der Fortpflanzung des
Lichts verwirft er die Newtonsche Emissionshypothese und be-
kennt sich zu der Eulerschen Undulationshypothese. Den niederen
Monaden spricht er im Interesse der Mechanik die Geistigkeit ab
und wandelt sie in blosse Körperelemente um; dies ist der Gnind,
warum er die Lehre des Leibniz sein Leben lang als Idealismus
(genauer Spiritualismus) bekämpfte*
Durch die Unterscheidung des Realgrundes vom logischen
t Grunde gelangt Kant schon in seiner ersten Periode zu der Ein-
£. V. HiiriiDAntip Au9g«w. Wisrke. Bd, XII. I
2 Kant.
sieht, dass es unmöglich sei, irgend einen realen Kausalzusammen-
hang aus bloss logischen Beziehungen, d. h. am Leitfeiden des
Satzes vom Widerspruch zu erkennen oder etwas Thatsächliches
aus reiner Vernunft zu behaupten. So stösst er auch mit Crusius
den apriorischen ontologischen Beweis um durch die Erwägung,
dass das Dasein keines der Prädikate eines Subjekts sei, sucht
ihn aber auf Grund der Crusiusschen Unterscheidung zwischen
Princip der Wirklichkeit und Princip der Möglichkeit durch einen
transcendentalen Beweis für das Dasein Gottes aus dem BegriflFe
der Möglichkeit zu ersetzen, der aus der unvermerkten Ver-
tauschung zweier verschiedenen Begriffe (»Unmöglichkeit« und
»Aufhebung aller Möglichkeit«) seine Kraft schöpft Im übrigen
beschäftigt sich Kant in seiner ersten Periode vorzüglich mit
naturwissenschaftlichen Aufgaben und hält an der Leibnizschen
Ansicht fest, dass die Teleologie als die höhere Ansicht sehr wohl
mit der mechanischen Naturkausalität vereinbar sei. Mit Hobbes
unterscheidet er einen reinen, deduktiven, apriorischen Teil der
Naturwissenschaft von einem induktiven, empirischen Teil der-
selben; auch teilt er dessen Vorliebe für genetische Definitionen,
für mathematischen Rationalismus in der Analyse wie in der
Synthese, aber in der ersten Periode nicht dessen Abneigung
gegen den leeren Raum. —
In seiner zweiten Periode (1769 — 1776) hält Kant an der
transcendenten Gültigkeit der Denkformen fest, lässt aber die der
Anschauungsformen (Räumlichkeit und Zeitlichkeit) fallen, wendet
sich also von dem realistischen Flügel der Leibnizschen Schule
(Knutzen) zu dem idealistischen hin (Baumgarten und Crusius)
und rückt den englischen Phänomenalisten und Swedenborg
näher. Von Locke hält er die Unterscheidung zwischen äusserem
und innerem Sinn, Nominalwesen und Realwesen (logischem und
realem Wesen), spielenden (analytischen) und belehrenden (syn-
thetischen) Sätzen (Urteilen) fest, verwarft aber mit Hume die
Lockesche Unterscheidung zwischen primären und sekundären
Eigenschaften. Gleich Hobbes, Berkeley und Hume verwirft er
nunmehr auch den leeren Raum und schreibt mit den beiden
letzteren blossen Vorstellungen des Bewusstseins empirische
Realität und phänomenal-substantielle Dinglichkeit zu. Die trans-
cendente, die Sinnlichkeit affizierende Ursache, die Hume leug^net,
nennt Kant Ding an sich, während Berkeley sie Gott nennt;
Kant
3
Kant nimmt einen influxus physicus realis der von Gott ge-
schaffenen Dinge an sich auf einander an, Berkeley nur einen
übernatürlichen Einfluss Gottes auf die Geister. Von Hume,
dessen erstes Hauptwerk Kant nicht gekannt hat, übernimmt er
den unrichtigen Gebrauch des Wortes Skeptizismus für Agnosti-
zismus oder Ignoranztheorie und verwirft in diesem Sinne den
Humeschen Skeptizismus, \veil er selbst auf eine positive Erkennt-
nistheorie hinaus will. Von Hume lernt er ferner, dass der Begriff
ier Kausalität schlechterdings nicht aus der Erfahrung zu schöpfen
'ist, und dass die logische Konstanz des Bewusstseinsich nichts
für die reale Substantialität des Ich beweist.
Von Leibniz übernimmt er die Ansicht, dass die sogenannten
angeborenen Vorstellungen nur als typische Regeln des formalen
Funktionierens dem Verstände angeboren seien, und dass das
Gebiet der dunkeln, nicht bewussten Vorstellungen in der Seele
sehr ausgedehnt und sehr wichtig sei. Gleich Reid lässt er die
Erfahrung durch vorbewusste, instinktive Geistesthätigkeit aus
den Empfindungen aufgebaut werden und hält an den Dingen
an sich als Bedingungen für eine positive Erkenntnistheorie fest;
dagegen setzt er an Stelle des gesunden Menschenverstandes den
wissenschaftlich kontrollierten ^ kritischen Verstandesgebrauch* Die
Unterscheidung des unerkennbaren Dinges an sich und der Er-
scheinung, die nichts als unsere subjektive Vorstellung ist, hat
Kant wahrscheinlich von Bannet entlehnt» ebenso die Behauptung,
dass Leibniz alles intellektuiere , Locke alles sensifiziere, und die
Bedeutung des Gehirns für das Seelenleben. Dagegen verwirft
er den Atherleib Bonnets zu Gunsten des Svvedenborgschen
räum- und zeitlosen Geisterreiches, das in einem rein idealen
oder intelHgiblen Verkehr unter einander steht.
An Baumgarten schloss Kant sich so eng an, dass er dessen
Lehrbücher seinen Vorlesungen zu Grunde legte; auf ihn sind
auch Kants gelegentliche identitätsphilosophische Anwandlungen
noch in seiner dritten Periode zurückzuführen. Crusius wurde
vorbildlich für Kant durch seine skeptische Kritik der rationalen
Theologie, Kosmologie und Psychologie und durch seine Gegner-
schaft gegen den eudämonologischen Optimismus, auch durch
den Llnsterblichkeitsbeweis aus dem postulierten künftigen Aus-
gleich zwischen Verdienst und Glück. Von Tetens übernahm
Kant die Dreiteilung der Seelenvermögen in Gefühl . Verstand
^ Kant.
und Willen. Während Kant in seiner ersten Periode gleich
Rüdiger lehrte, dass die Mathematik analytisch, die Philosophie
synthetisch, behauptete er in seiner zweiten Periode gleich Lam-
bert, dass beide synthetisch verführen, und beide Wissenschaften
a priori seien. Lambert legt Raum, Zeit und Bewegung als ein-
fache apriorische Grundbegriffe mit gleichartigen homogenen
Teilen der Geometrie und Phoronomie (Bewegungslehre) zu
Grunde und formuliert die Grundfragen der Erkenntnistheorie
dahin, wie solche zusammengesetzte Begriffe a priori möglich
seien und warum sie objektive Gültigkeit haben. Kant wandelt
bloss die zusammengesetzten Begriffe a priori in synthetische
Urteile a priori um.
Das Motiv, welches Kant veranlasst hat, von dem Stand-
punkt seiner ersten Periode zu dem der zweiten hinüberzutreten,
liegt lediglich in seiner Unfähigkeit, mit den Antinomien fertig
zu werden, und in der Hoffnung, sie durch den Übergang von
einer realistischen Auffassung der Anschauungsformen zu einer
idealistischen endgültig überwinden zu können. Swedenborgs
räum- und zeitloses Geisterreich hatte er schon fünf Jahre früher
kennen gelernt; es mag ihm vielleicht den Weg gewiesen haben,
aber es hat ihn nicht veranlasst, ihn zu beschreiten. Es ist
wichtig, festzuhalten, dass für Kant der eigentlich zwingende Be-
weis für die ausschliessliche Subjektivität der Anschauungsformen
in der sonstigen Unüberwindlichkeit der Antinomien lag; für die
Apriorität der Anschauungsformen dagegen lag ihm der Beweis
darin, dass er glaubte, ohne sie die Mathematik nicht zugleich
als apriorische und synthetische Wissenschaft festhalten zu können,
war also letzten Endes dadurch bedingt, dass er den anal)rtischen
Charakter des mathematischen Verfahrens wenigstens fiür ihre
Grundsätze mit einem synthetischen vertauscht hatte.
Alle Materie der Anschauung stammt aus der Rezeptivität
der Sinnlichkeit, die Form der Erkenntnis aus dem oberen
intellektuellen Erkenntnisvermögen und bewegt sich in apriori-
schen Kategorialfunktionen oder reinen Begriffen. Die apriorischen
Principien zerfallen in sensuale und intellektuale Begriffe oder in
Kategorien der Sinnlichkeit und des Verstandes. So sind die
Anschauungsformen als Produkte des oberen Erkenntnisvermögens
reine apriorische Begriffe oder Kategorien der Sinnlichkeit;
beides aber sucht Kant zu unterdrücken und sie zu dem niederen
Knut.
I
BF Sinnlichen Erkenntnisvormngen hinüberzudrängen, weil er in
zweiten Periode ihnen ein ganz anderes Geltungsgebiet an-
weist als den reinen Denkformen oder Kategorien des Verstandes.
Ja, sogar er behält diese Trennung der Anschauungsformen von
den Denkformen auch in seiner dritten Periode noch bei, wo das
Motiv, aus dem er sie vorgenommen hatte, wieder weggefallen
ist, und beide wieder das gleiche Geltungsgebiet haben.
Kants Standpunkt in seiner zweiten Periode ist also idealis-
tisch in Bezug auf Raum und Zeit, aber realistisch in Bezug auf
alle Denkformen, insbesondere in Bezug auf die Kausalität, den
influxus physicus realis der Dinge auf einander und die Kraft-
äusserungen der dynamischen Atome. Sein Hauptverdienst liegt
in der Befestigung des Rationalismus durch die Lehre von der
apriorischen Wirksamkeit der Kategorialfunktionen, durch welche
er die Einwendungen der Engländer gegen die angeborenen
Ideen gegenstandslos machte. Sein Nebenverdienst liegt darin,
dass er dem Sensualismus und Empirismus durch die Lehre von
den uns afBzIerenden Dingen an sich sein unentbehrliches Recht
wahrte, ohne sich durch den Widerspruch des Urteilsapriorismus
der deutschen Rationalisten beirren zu lassen. Seine Schwäche
aber liegt darin, dass er den kategorialen Apriorismus mit dem
Urteilsapriorismus verwechselte und vermengte, und dass er aktive
Produktivität und passive Rezeptivität einseitig auf Materie und
Form der Anschauung verteilte, statt in jedem der beiden Be-
standteile der Anschauung bereits die vollzogene Synthese von
aktiver Produktivität und passiver Rezeptivität anzuerkennen. —
Die Frage ist nun, durch welche Erwägimgen Kant dazu
gedrängt wurde, von dem Standpunkt seiner zweiten Periode zu
dem der dritten weiterzugehen, d, h. den reinen Denkformen
ebenso die transcendente Geltung abzusprechen wie den reinen
Anschauungsformen. Von den beiden Lambertschen Fragen war
die erste (»wie sind synthetische Urteile a priori möglich?«) durch
den kategorialen Apriorismus gelöst, sofern man dessen Ver*
tauschung mit dem Urteilsapriorismus gelten lässt; die zweite
aber (»warum haben sie objektive Gültigkeit ?t) war nur für die
Mathematik und Phoronomie diirch die ausschliessliche Subjek-
tivität von Raum, Zeit und Bewegung beantwortet, für die
Metaphysik als apriorische Wissenschaft aber völUg unbeantwortet
geblieben. Diese Beantwortung musste nachgeholt werden. Wenn
6 Kant.
die apriorischen Bestimmungen der raumzeitlichen Beschaffenheit
der Dinge nur deshalb objektive Gültigkeit haben sollten, weil
die Objektivität eine bloss subjektiv phänomenale war, weshalb
sollten dann die apriorischen Bestimmungen über die logische Be-
schaffenheit der Dinge ihre objektive Gültigkeit aus einem andern
Grunde schöpfen? Und welcher konnte dieser andere Grund sein?
Dass die Erkenntnis über die f9rmale Beschaffenheit der
Dinge in empirischer Weise lediglich durch die Dinge selbst be-
stimmt sei, ist für Kant ausgeschlossen, weil dann die Erkenntnis
in Urteilen a posteriori bestände, und Urteile a priori unmöglich
wären. Die Thatsächlichkeit der Urteile a priori steht ihm ebenso
fest wie ihre objektive Gültigkeit, und es handelt sich für ihn nur
darum, zu begreifen, wie diese möglich sei. Da bleiben dann die
zwei Fälle übrig: entweder stehen die Dinge und das Denken
unter gleichen Formen, so dass die richtigen formallogischen
Urteile auch in Bezug auf die Beziehungen der Dinge zu einander
wahr sind, oder aber die Objekte sind durch das subjektive
Denken bestimmt und sind dann nur als subjektive Erscheinungen
im Bewusstsein zu verstehen. Der erstere Fall scheidet für Kant
aus, teils weil er die Übereinstimmung beider Seiten sich nur als
occasionalistische Nachhilfe Gottes von Fall zu Fall oder als
prästabilierte Harmonie, aber nicht als gesetzmässige vernünftige
Konformität zu denken vermag, teils und ganz besonders deshalb,
weil die objektive Gültigkeit der apriorischen formalen Erkenntnis
dann nicht mehr apodiktische Gewissheit gehabt hätte, sondern
nur noch Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Hypothese. Somit
blieb nur der andere Fall übrig, dass die Dinge nicht nur in Be-
zug auf Raum, Zeit und Bewegung, sondern auch in Bezug auf
ihre logische Beschaffenheit durch das subjektive Denken be-
stimmt seien.
Es kam ergänzend hinzu, dass ihm die Einsicht aufging, die
Denkformen seien an sich zu leer, um metaphysische Erkenntnis
a priori hervorzubringen, und bedürften hierfür erst des Hinzutritts
der reinen Anschauungsformen, oder doch wenigstens einer von
ihnen (der Zeitlichkeit), wodurch sie aus Begriffen zu Schematen
würden. Dann war es aber klar, dass hiermit doch ein rein sub-
jektiver Bestandteil (die Zeitlichkeit) in die Metaphysik eingeführt
war, und dass die Metaphysik wenigstens nach dieser Seite hin
keine transcendent- objektive Gültigkeit beanspruchen konnte.
Kant.
Lag es da nicht nahe, auch der anderen Seite (den reinen Denk-
formen) die transcendent- objektive Gültigkeit abzusprechen» und
die Metaphysik als rein immanente Formal Wissenschaft auf die
formale Beschaffenheit der subjektiven Erscheinungsobjekte zu
beschränken? Hatte nicht Hume recht, der schon lange be-
hauptet hatte, dass Kausahtät nur innerhalb der Grenzen der
Erfahrung, d. h. für die Beziehungen von subjektiven Erscheinun-
gen unter einander gelte?
So wurde Kant völlig zum Phänomenalisten nach Art der
Collier, Berkeley und Hume, aber aus entgegengesetzten Denk-
motiven. Die Engländer waren zum Phänomenalismus gelangt,
um dem Sensualismus und immanenten Empirismus zum Siege
zu verhelfen und den Rationalismus und Urteil sapriorismus end-
gültig zu vernichten; Kant gelangte zu ihm, um durch ihn den
Sieg des Rationalismus und Urteilsapriorismus sicher zu stellen,
d. h. weil nur unter der Voraussetzung des PhSnomenalismus ihm
rationale Urteile a priori von apodiktisch gewisser objektiver
Geltung möglich schienen. Das Gefühl dieses Gegensatzes erhielt
seine Abneigung gegen die englischen Phänomenallsten aufrecht
Wie er Leibnizens Spiritualismus als einen die Körperlichkeit
der niederen Monaden aufhebenden Idealismus und den mate-
rialen Idealismus des Descartes als einen die empirische Realität
der Materie der Anschauung aufhebenden bekämpft, so den eng-
lischen Phänomenalismus als einen den Urteilsapriorismus zer-
störenden und zum Skeptizismus (Agnostizismus) führenden Idealis-
lus. Er weiss sehr wohl, dass der materiale Idealismus des
scartes in Bezug auf die Empfindung einen formalen oder
ranscendentalen Realismus in Bezug auf die Anschauungsformen
Is Ergänzung verlangt, und dass sein eigner formaler oder trans-
^cendentaler Idealismus in Bezug auf die Anschauungs- und Denk-
formen eines materialen oder empirischen Realismus in Bezug auf
die Empfindung bedarf, wenn nicht jede Realität der Anschauung
und Erfahrung in nichts zernnnen soll. —
Die Wolffsche Metaphysik bekämpft er nicht, um den ratio-
nalen Urteilsapriorismus zu bekämpfen, sondern vielmehr um ihn
jegen die Schädigimg zu retten, die seinem Ansehen als Princip
lus einer zu weit greifenden Anwendung erwachsen musste. Die
Verstiegenheit Wolffs und seiner Schule, über alles mögliche aus
reiner Vernunft apodiktische Urteile abzugeben, bedarf für uns
8 Kant.
keiner Widerlegung mehr; für Kants Zeitgenossen war ein
gründliches Aufräumen mit ihr Bedürfnis, und darum war Kants
Ansehen als des »Alleszermalmers« so gross. Indem aber Kant
diese Kritik der WolflFschen Transcendentalmetaphysik a priori
nur durch seinen Hinübertritt auf den Boden des Phänomenalis-
mus zu leisten verstand, befestigte er auf der neuen Grundlage
den rationalistischen Urteilsapriorismus und entfesselte die spe-
kulative Ära der Fichte -Schelling- Hegeischen Philosophie, die
an Verstiegenheit apodiktischer Urteile a priori kaum hinter
Wolff zurückblieb.
Die Aufstellung wahrscheinlicher Hypothesen verwirft Kant
nicht schlechthin, sondern nur für die Mathematik und Philoso-
phie; in der Naturwissenschaft lässt er sie innerhalb des Bereiches
möglicher Erfahrung gelten. Der Philosophie will er, ebenso
wie Spinoza, eine der Mathematik gleichkommende apodiktische
Gewissheit sichern. In seiner dritten Periode handelt es sich also
für Kant darum, die Grenzen des realen, apodiktisch gewissen,
apriorischen Vernunftgebrauchs zu bestimmen; mit dem bloss
formalen Vernunftgebrauch , wie ihn die Mathematik und formale
Logik lehrt, hat es Kant ebensowenig zu thun, wie mit dem
realen Vernunftgebrauch der induktiven Wissenschaften, der sich
auf die Erfahrung und die Wahrscheinlichkeitsrechnung zugleich
stützt. Es ist ganz irrtümlich, zu sagen, dass Kant die Grenzen
des Vernunftgebrauchs überhaupt ein für allemal gezogen habe,
da er sich mit dieser Aufgabe niemals beschäftigt hat. Für eine
Zeit, die, wie die unsrige, den Begriff eines realen, apodiktischen,
apriorischen Vernunftgebrauchs kaum noch versteht, und wenn
sie ihn verstanden hat, belächelt, hat die Kantsche Aufgabe-
stellung gar keine Bedeutung mehr, und alle auf das Verständnis
seiner Lösungsversuche verwandte Mühe ist eine Zeitverschwen-
dung aus Missverständnis.
Kants Hauptergebnis ist das, dass wir eine apodiktisch ge-
wisse apriorische Erkenntnis über die Beschaffenheit der Dinge
an sich aus reiner Vernunft niemals erlangen können. Das giebt
heute wohl jeder zu, ohne dass es irgend welcher Beweisführung
für ihn bedarf Dass aber auch eine hypothetisch wahrscheinliche
induktive Erkenntnis über die Dinge an sich durch realen Ver-
nunftgebrauch auf Grund der Erfahrung niemals zu erlangen sei,
das hat Kant durchaus nicht behaupten wollen; er hat sich nur
Kant.
mit einer solchen nicht befasst, weil sie ausserhalb seines Begriffes
von Philosophie fiel. Was uns heute allein interessiert, darüber
ist bei Kant nichts zu finden; was Kant sich abmüht zu be-
weisen, ist für uns selbstverständh'ch. Sein Verbot, irgendwelche
transcendentale Hj^othesen zu bilden, schöpft seine Begründung
keineswegs aus seinem aprioristischen Rationalismus, sondern
lediglich aus dem Phänomenalismus oder transcendentalen Idealis-
mus und steht und fällt mit dem Verbot, die Kategorien trans-
cendent zu gebrauchen. Übrigens hat Kant selbst am wenigsten
sein Verbot beachtet; das die Sinnlichkeit affizierende Ding an
sich, das Urwesen als transcendcnter Grund der Weltordnung,
ja sogar die Apriorität der Anschauungs- und Denkformen als
Möglichkeitsgrund der Urteile a priori {die transcendentale De-
duktion) sind bei ihm thatsächlich ebensoviel transcendentale
Hypothesen von bloss wahrscheinlicher Geltung, mit deren
Streichung die ganze Kantsche Philosophie zusammenbräche.
Sein ^ theoretischer doktrinaler Glaube«, der sich auf den prak-
tischen stützt, ist schliesslich nichts als Wahrscheinlichkeit
Es ist müssig, darüber zu streiten, ob bei Kant der Aprioris-
mus oder der Rationalismus (Erkenntnis aus reiner Vernunft) das
Grundlegende sei; denn er kennt den Rationalismus nur in Ge-
stalt des Urteilsapriorismus und denkt gar nicht an die Möglich-
keit eines kategorialen Aprionsmus, der nicht rationaler Natur
wäre (z, B. etw^a im Sinne der Abstammungslehre auf gehäufter
Vererbung sensual istischer Associationen beruhte). Der Rationalis-
mus ist ihm also zugleich aprioristisch und der Apriorismus ratio-
nalistisch. Der kategoriale Apriorismus verhält sich dabei zum
Urteilsapriorismus und dieser wieder zum Rationalismus wie
Grund zur Folge, zugleich aber auch wie Mittel zum Zweck. —
Nur eins ist Kant entschieden nicht, nämlich philosophischer
Empirist; den Empirismus vertreten gegen ihn die zeitgenössi-
schen Popularphllosophen und lierder. In den Naturwissen-
schaften und in der Anthropologie verfährt Kant freilich em-
pirisch induktiv, aber doch nur in dem Sinne, dass aller Stoff
der Erfahrung vom Subjekt selbst in vorbewusster Weise a priori
produziert und dann erst vom Bewusstsein a posteriori perzipiert
ist, d* h. dass der Mensch sich seine Erfahrung selber nach seinen
eigenen Gesetzen macht und dann als fertige vorfindet Als
Philosoph ist Kant das direkte Gegenteil eines Empiristen, da er
lO Kant.
alles Erkennen von der Philosophie ausschliesst, das nicht auf
apodiktisch gewissen apriorischen Urteilen aus reiner Vernunft
beruht Der Empirismus ist die Ansicht, dass das Nichtich ent-
scheidend sei für den Erkenntnisinhalt des Ich, nicht nur für die
Materie der Anschauung (d. h. die Empfindung), sondern auch
für die Auswahl und die Anwendungsart der apriorischen An-
schauungs- und Denkformen auf diesen Stoff. Bei Kant aber ist
die Auswahl und Anwendungsweise der Formen, die dem StoflF
der Anschauung übergestülpt werden, nicht im geringsten von
diesem Stoff, sondern lediglich vom erkennenden Subjekt be-
stimmt, und der Stoff der Anschauung oder die Empfindungen
werden ebenfalls vom Subjekt als Modifikationen seines Gemüts
hervorgebracht Der letzte Rest von Empirismus flüchtet sich
in das Affiziertwerden der Sinnlichkeit durch das Ding an sich,
über welchen Vorgang Kant gar nichts zu sagen weiss, und
dessen Annahme auch als transcendente Kausalität seinem grund-
sätzlichen Verbot eines transcendentalen Kategoriengebrauchs
widerspricht. Das erkennende Subjekt produziert nach Kant aus
sich selbst heraus unbewussterweise ebensogut die speziellen em-
pirischen Naturgesetze, wie die allgemeinen reinen Verstandes-
gesetze und legt beide der Natur auf; dass es nur die letzteren
mit dem Bewusstsein a priori rekonstruieren kann, macht keinen
principiellen Unterschied zwischen beiden ; auch haben seine Nach-
folger versucht, die speziellen Naturgesetze ebenso a priori zu
rekonstruieren, wie Kant die allgemeinen, und er selbst hat später
den Zweck als die Kategorie bezeichnet, durch welche sich die
Ableitung der speziellen Naturgesetze aus den edlgemeinen voll-
zieht Dies alles ist so antiempiristisch wie möglich. —
Durch zweierlei ist Kant in den ganz verkehrten Ruf eines
Empiristen gekommen, erstens dadurch, dass er seine Kritik der
reinen Vernunft auch als »Theorie der Erfahrung« bezeichnet,
und zweitens dadurch, dass er alle unsere Erkenntnis auf den
Kategorien gebrauch, diesen aber auf das Bereich möglicher Er-
fahrung beschränkt. Nun versteht aber der Empirismus gerade
das Entgegengesetzte unter einer Theorie der Erfahrung wie
Kant, nämlich die Ableitung des Erkennens aus der Erfahrung,
während Kant die genetische Ableitung der Erfahrung aus der
produktiven Erkenntnisthätigkeit des Subjekts darunter versteht
Der Empirismus und Kant sind zwar darin einverstanden, unter
Kant.
dem Gebiet der Erfahrung das Gebiet der objektiven Realität zu
verstehen; aber beide verstehen gerade das Entgegengesetzte
unter dem Gebiete der objektiven Realität, nämlich der Empiris-
mus die eine für alle Erkennenden gemeinsame Welt der Indivi-
duation, Kant aber die vielen subjektiv idealen Erscheinungs-
welten» deren je eine nur je einem Subjekt angehört» nämlich
demjenigen, das sie produziert hat Wenn also der Empirismus
verbietet, die Grenze mögUcher Erfahrung zu überschreiten, so
thut er es aus Misstrauen gegen die Leistungsfähigkeit der Ver-
nunft, selbst bei induktivem Gebrauch derselben; wenn dagegen
Kant verbietet, die Grenzen möglicher Erfahrung zu überschreiten,
so thut er es, um innerhalb dieses subjektiv idealen Erscheinungs-
gebietes den deduktiven Gebrauch der Vernunft zu apodiktisch
gewissen apriorischen Urteilen sicher zu stellen, während ihr
etwaiger induktiver Gebrauch ganz ausserhalb seines Interesses
liegt. Ist aber der transcendentale Idealismus Kants unbegründet,
so ist es auch sein Verbot des transcen dentalen Kategoriengebrauchs
und damit die Beschränkimg der Erkenntnis auf die Grenzen mög-
licher Erfahrung im Kantschen Sinne, Der moderne Empirismus
kann sich also in keinerlei Hinsicht auf Kant berufen, der in
allem das gerade Gegenteil beabsichtigte. —
Die Erfahrung soll objektive Realität haben, und zwar soll
die Realität aus der Materie der Anschauung, die Objektivität
aus der Allgemeingültigkeit der Form stammen. Als bloss sub-
jektiv wirkHche AfFektion des Gemüts hat die Empfindung zwar
eine empirische Realität im Sinne eines subjektividealen Ge-
schehens, aber keine von dem Bewusstseinsvorgang unabhängige
Realität; wenn ihr doch solche zugeschrieben wird, so geschieht
dies nur insofern, als sie durch die transcendentale Hypotliese
eines affizierenden Dinges an sich auf die vom Subjekt unab-
hängige Realität eines solchen bezogen wird. Als apriorische
subjektiv ideale Formen können die Anschauungs- und Denk*
formen der Erftihrung keine Objektivität verleihen, da sie zw^ar
innerhalb des Subjekts gesetzmässig, aber rein subjektiv aus-
gewählt und determiniert sind. Das Zusammentreten der beiden
subjektiv idealen Bestandteile der Erfalirung kann sie weder über
die blosse Subjektivität^ noch über die reine Idealität hinausheben.
Erst die transcendentale Beziehung 6es immanenten sinnlichen
Objekts auf ein transcendentes Objekt an sich oder Ding an sich
1 2 Kant
als sein Korrelat, d. h. erst die Erhebung des sinnlichen Objekts
zum transcendentalen Objekt oder Bewusstseinsrepräsentanten
des Dinges an sich eröffnet die Sphäre der Objektivität im Sinne
eines für alle erkennenden Subjekte identischen Objekts. Deshalb
hängt die reale Objektivität ebenso wie die objektive Realität
an der transcendentalen Hypothese eines uns affizierenden trans-
cendenten Dinges an sich und wird mit dieser zugleich zur Illusion.
Die ganze Erkenntnistheorie Kants zielt darauf ab, den Ob-
jekten der Wahrnehmung eine objektive Realität oder reale Ob-
jektivität zu sichern; aber vergeblich sind alle seine Bemühungen,
aus bloss subjektiv idealen Faktoren ein Produkt herauszubringen,
das eine mehr als bloss subjektiv ideale Wirklichkeit in und mit
und durch den Vorstellungsakt hätte. Deshalb sieht er sich
immer wieder auf das Ding an sich als seine letzte Zuflucht zu-
rückgeworfen, und deshalb hält er auch an dem Ding an sich als
positiv existierendem transcendentem Korrelat des Wahrnehmungs-
objekts und an der transcendenten Kausalität seines Affizierens
bis an sein Ende fest. Für die Sphäre des Bewusstseins ist der
Begriff des transcendentalen Objekts, der in repräsentativer Weise
auf ein transcendentes Korrelat seiner selbst hinausweist, das
letzte Erreichbare, während jenes transcendente Korrelat, oder
das Ding an sich, bloss als negativer Grenzbegriff (negatives
Noumenon) dasteht. Aber wenn diesem für das bewusste Denken
bloss Negativen nicht in der transcendenten Existenz ein Positives
entspräche, dann wäre der Begriff des transcendentalen Objekts
nichts weiter als eine psychologisch unvermeidliche Illusion, und
dann sänke auch die transcendentale Realität des transcenden-
talen Objekts und die auf ihr ruhende objektive Realität oder
reale Objektivität der Erscheinungsobjekte, und mit dieser wieder
die objektiv reale Geltung der apodiktisch gewissen Urteile a priori
in Nichts zusammen. —
Wenn man Kants Stellung zur Erkenntnistheorie und Meta-
physik betrachtet, so muss man sich immer gegenwärtig halten,
dass beide ihm nur Mittel zu einem anderen Zweck sind, und
dass sein eigentliches Interesse auf die Moral und die Natur-
philosophie gerichtet ist. Für die Moral spricht er dies offen aus,
für die Naturphilosophie geht es aus dem ganzen Verlauf seiner
schriftstellerischen Entwickelung hervor, der mit Naturphilosophie
beginnt, in ihr endet, und sie zu keiner Zeit seines Lebens aus
Kant.
t3
den Augen lässt. Es kommt ihm darauf an» eine theoretische
Grundlage zu gewinnen, von der aus einerseits der praktische
Glaube an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sicher zu stellen
und andererseits eine apriorische Naturphilosophie von apodik-
tischer Gewissheit möglich bleibt. In ersterer Hinsicht ist ihm
daran gelegen, alles vermeintliche Wissen über metaphysisch
transcendente Gegenstände, wie die Wölfische Schule sich dessen
rühmte, zu zerstören, aber nur, um dem praktischen Glauben auf
Grund einer moralischen Gewissheit Platz zu machen; in letzterer
Hinsicht sucht er alle Elemente der Naturphilosophie, wie Be-
wegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft, Masse, An-
ziehung, Abstossung, Beharrungsvermögen u. s, w. ganz in das
subjektiv ideale Gebiet hereinzuziehen, damit die reine Vernunft
imstande sei, apodiktisch gewisse Urteile a priori über sie auf-
zustellen. Das hat Kant sich auch nicht im Traume einfallen
lassen, dass einmal eine Zeit kommen könnte, wo das Sitten-
gesetz keine unbedingte Gewissheit mehr für die Menschen haben
könnte, wo der Mensch sich nicht mehr dessen schämen würde,
nicht tugendhaft, sondern dem Sittengesetz unterworfen zu sein,
und wo man eine apodiktisch gewisse Naturphilosophie a priori
aus reiner Vernunft als eine kindliche Verirnmg des Menschen*
geistes belächeln würde. Hätte er dergleichen für möglich ge-
halten, so hätte er wohl jedes Bemühen um die Erkenntnistheorie
unterlassen. —
Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik ist wesentlich Kate-
gorienlehre, wenn man den Begriff der Kategorie im weitesten
Sinne braucht, so dass er die reinen Anschauungsformen, die
reinen Verstandesbegriffe (oder Kategorien im engeren* Kantschen
Sinne), die Reflexionsbegriffe des Verstandes, die reinen Vernunft-
begriffe und die Kategorie des Urteilsvermögens (den Zweck)
umspannt. Der bleibende Wert seiner theoretischen Philosophie
liegt hauptsächlich in der erneuten und vertieften Durcharbeitung
aller dieser Arten von Kategorien, durch die er die Kategorien-
lehre auf eine neue Stufe hob und seinen Nachfolgern die wich-
tigsten Anregungen zu ihrer Fortbildung gab. Der grosse Schritt
in der Vertiefimg der bisherigen Auffassung lag darin, dass er
alle Kategorialfunktionen als vorbewusste synthetische Intellek-
tualfunktionen erkannte und auf eine einzige vorbewusste syn-
thetische Inteüektucdfunktion zurückführte, aus der sie sich als
14
Kant
blosse Spezifikationen differenzieren. Diese eine Funktion nennt
er die transcendentale synthetische Einheit der Apperzeption.
Wird diese Funktion auf diejenigen Modifikationen des Ge-
müts angewendet, welche die Einbildungskraft auf Grund des
Affiziertseins der Sinnlichkeit vom Dinge an sich produziert, so
formiert sie die Empfindung als Einheit von Stoff und Form
(Intensitätsgrad u. s. w.). Wird sie auf die Empfindung angewandt,
so formiert sie vermittelst der Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Be-
wegung die Anschauung. Wird sie auf Anschauungen angewandt,
so formiert sie die Erfahrung als Einheit des empirischen und
intellektuellen Bestandteils derselben, indem sie die reinen Ver-
standesbegriffe als intellektuellen Bestandteil zur Anschauung
hinzufügt. Wird sie auf die Erfahrung oder die von ihr ab-
gezogenen Abstraktionsbegriffe angewendet, so formiert sie die
verstandesmässige Reflexion durch Hinzufügung der Reflexions-
begriffe. Wenn sie auf reine Verstandesbegriffe und Urteile ohne
empirische Beimischung angewandt wird, und zwar als transcen-
dentale synthetische Funktion auf unbedingte Totalität der Syn-
thesis gerichtet ist, dann formiert sie die reine Vernunfterkenntnis
durch Hinzufügung der Ideen, welche zugleich regulative Normen
für die vernünftige Selbstbestimmung der Freiheit sind. Was in
formeller Hinsicht vorbewusste synthetische Intellektualfunktion
ist, das ist inhaltlich genommen teleologische Selbstspezifikation
oder Selbstbesonderung der reinen Vernunft; diese Seite der
Sache, durch welche der Zweck zur höchsten, alle andere aus
sich hervorbringenden Kategorie wird, kommt aber erst in Kants
vierter Periode zum Durchbruch.
Jede vorbewusste synthetische Intellektualfunktion ist als
Prius des bewussten Produkts, das erst durch sie formiert wird,
a priori. Kategorie bedeutet erstens die angeborene potentielle
Keimanlage zu bestimmten synthetischen Intellektualfunktionen,
zweitens die vorbewusste Anwendung dieser Keimanlagen auf
bestimmte empirische Reize oder die aktuelle Funktion selbst,
die, eben weil sie sich erst bei Gelegenheit entfalten kann, nicht
angeboren ist, drittens den dem Produkt immanenten Bestandteil,
der von der formierenden Thätigkeit dieser Intellektualfunktion
herrührt und sich als spezifische Form zu dem durch sie geformten
Stoffe verhält, und viertens die aus den vollständigen Produkten
durch den analysierenden Verstand herausgeschälte begriffliche
Kant
X5
I
Abstraktion dieser Form. In der ersten und zweiten Bedeutung
ist die Kategorie unbewusst, in der dritten implicite bewusst und
nur in der vierten explicite bewusst. A priori ist sie eigentlich
nur in der ersten und zweiten Bedeutung; in der dritten ist sie
nicht mehr Prius, sondern Bestandteil der Erfahrung oder des
vollständigen Produkts, in der vierten sogar ihr Posterius, Be-
griff, reiner Formbegriff oder auch reine Formanschauung ist sie
nur in der vierten Bedeutung als Posterius der Erfahrung; als
ihr Prius aber ist sie nicht Begriff, sondern synthetische Funktion
oder normierende Form des Anschauens oder Denkens, und in
diesem Sinne Anschauungsform oder Denkform,
Kant ist sich dieser Unterschiede zwar bewusst, aber er
sucht die Augen vor ihnen zu verschliessen, weil er ihre Konse-
quenz scheut, nämlich die Aposteriorität der Kategorien als Be-
griffe, die unmittelbare Unerkeonbarkeit der apriorischen un-
bewussten Kategurialfunktionen und den bloss hypothetischen
Charakter derselben. Denn wenn der kategoriale Apriorismus
den Urteilsapriorismus stützen sollte, so musste er selbst apotiik-
tisch gewiss, also die Apriorität der Kategorialfunktlonen mit
Sicherheit a priori erkennbar sein. Dies war nur möglich, wenn
die Fiktion aufrecht erhalten wurde, als ob das Bewusstsein die
apriorische Funktion trotz ihrer Unbewusstheit bei ihrer formieren-
den Arbeit beobachten und belauschen könne. Um diese Fiktion
aufrecht zu erhalten, musste die formierende Funktion oder reine
Anschauungs- oder Denkform mit der abstrakten reinen Form-
anschauung oder dem Formbegriff identifiziert und die apriorische
Norm mit dem aposteriorischen Begriff so verschmolzen werden,
dass die Begrifflosigkeit der ersteren und die Aposteriorität des
letzteren verschwand. So nennt er z. B, die reinen Anschauungs-
formen »Raum und Zeit*, statt Räumlichkeit und Zeitlichkeit,
während doch Raum und Zeit nur reine Formanschauungen und
zugleich Abstraktions- und Kombinationsbegriffe sind. —
Der entscheidende Grund für die Annahme der Apriorität
der Anschauungsformen liegt für ihn in dem mathematischen
Urteilsapriorismus, den er nur aus der Apriorität von Raum und
Zeit erklären zu können glaubt Er nimmt an, dass entweder
alle mathematischen Sätze, oder doch alle oder der grösste Teil
ihrer Grundsätze synthetisch seien; aber diese Annahme ist un-
richtig, da in der AJgebra kein Satz synthetisch ist und in der
l6 Kant.
Geometrie nur die Grundsätze, welche die Un gekrümmtheit des
Raumes nach einer vierten Dimension einschliessen. Wären aber
auch alle mathematischen Urteile synthetisch und a priori zu-
gleich, so würde daraus doch nur folgen, dass sie selbst als Ur-
teile rein formal logisch sind, aber nichts über den Ursprung des
gleichgültigen Materials, an dem sie ihre Logizität ausüben«
Raum und Zeit könnten aposteriorische äusserliche Daten, und
die Urteile der Mathematik darum nicht weniger a priori apodik-
tisch gewiss sein; Raum und Zeit könnten hingegen a priori
produziert und die Urteile der Mathematik doch bloss (nach Mills
Ansicht) Induktionen aus der Erfahrung sein. Beides hat gar
nichts mit einander zu thun.
Die direkte Begründung der Apriorität von Raum und Zeit
hat Kant offenbar nur hinzugefügt, nachdem für ihn die Sache
aus jener indirekten Begründung schon feststand. Sie lautet: Der
Raum (beziehungsweise die Zeit) ist nicht eine Abstraktion aus
der Erfahrung, sondern eine notwendige Vorstellung a priori,
nicht ein diskursiver Begriff, sondern eine reine Anschauung, und
er wird als unendliche gegebene Grösse vorgestellt, dergleichen
von keiner Erfahrung geboten wird. Nun ist aber schon die
Räumlichkeit für das Bewusstsein in der That eine Abstraktion
aus der Erfahrung und als reine Formanschauung zugleich ein
Begriff; der eine Raum aber ist sogar ein Kombinationsbegriff
oder Konstruktionsbegriff des Verstandes. Als gegebene Grrösse
ist sowohl alles Räumliche, als auch der Raum stets endlich;
nur potentiell als beliebige Erweiterung im Fortgang und Nega-
tion jeder Grenze kann der Raum unendlich heissen. Fortgang
sowohl wie Negation der Grenze sind nur etwas, das zu dem je-
weilig vorgestellten endlichen Raum hinzugedacht wird, aber
nicht an und in ihm gegeben. Die synthetische Intellektualfunk-
tion, welche die Empfindung räumlich formiert, hat selber die
Unendlichkeit nur potentiell, nicht aktuell an sich, geschweige
denn ihr jeweiliges Produkt. Von ihr gilt allerdings, was Kant
mit Unrecht vom Raum im Bewusstsein behauptet, dass sie nicht
Abstraktion aus der Erfahrung und nicht diskursiver Begriff sei;
für sie darf man deshalb schliessen, dass sie, wenn sie existiert,
apriorische Vorstellung und reine Anschauungsform sei. Aber
von ihr bleibt es wieder ungewiss, ob sie existiert, da sie, wenn
sie existiert, jedenfalls bloss unbewusst existiert. Sie ist lediglich
Kant.
17
eine H>^othese, die als solche gerechtfertigt werden muss, aber
nicht ein apodiktisch gewisses Resultat der Selbstbeobachtung,
die über sie nie etwas aussagen kann. Kants vermeintliche Be-
gründung der Apriorität der Anschauungsformen beruht auf lauter
Verwechselungen; die Begründung, deren sie fähig ist, hat er
^'^ar nicht geahnt, und würde sie, wenn er sie gekannt hätte, als
eine unter der Würde der Philosophie belogene Induktion von
blosser Wahrscheinlichkeit verschmäht haben.
Die Apriorität der Denkformen stützt sich bei Kant darauf»
dass die der Anschauungsformen als erwiesen und die Existenz
synthetischer Urteile a priori auch ausser der Mathematik als selbst-
verständlich vorausgesetzt wird. Wenn beide Voraussetzungen
fortfallen, so fällt auch die transcen dentale Deduktion der Kate-
gorien hinweg, welche darauf hinausläuft, zu zeigen, dass die
Apriorität der Kategorien eine unentbehrliche Hypothese sei, um
die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori begreiflich zu
machen. —
Die Frage nach dem apriorischen oder aposteriorischen Ur-
sprung der Kategorien darf nicht mit derjenigen nach dem imma-
nenten oder transcendenten Geltungsgebiet derselben verwechselt
oder durcheinandergemengt werden; vielmehr haben beide un-
liittetbar gar nichts mit einander zu thun. Bei Berkeley z. B.
"Snd die Formen der subjektiven Erscheinungswelt a posteriori
gegeben und haben doch bloss immanente Geltung, weil die rein
geistige Welt der Individuation nicht in diesen Formen existiert.
Im transcendentalen Realismus dagegen sind diese Formen a priori
vom erkennenden Subjekt selbst produziert, und doch zugleich
die nämlichen Formen» in welchen die transcendente Welt existiert.
Der Ursprung a priori und a posteriori ist eine reine Alternative
ohne dritte Möglichkeit; die immanente Geltung aber ist nicht
als Glied einer Alternative zu setzen, weil sie durch die Erfahrung
unmittelbar konstatiert ist. Die Alternative kann hier nur ge*
stellt werden zwischen der bloss immanenten oder subjektiven
Geltung einerseits und der sowohl immanenten als auch trans-
cendenten Geltung andererseits.
Die Kategorien können also sein 1) a priori und bloss immanent
(transcendentaler Idealismus), 2) a posteriori und bloss immanent
(Berkeley), ^) a priori und immanent und transcendent zugleich
(transcendentaler Realismus)» 4} a posteriori und immanent und
£. V. H Art ma an, Ausgew. Werke. Bd. XII. -
l8 Kant.
transcendent zugleich (Empirismus;. Kant übersieht die Möglich-
keit des zweiten Falles ganz und schiebt den dritten Fall aus den
schon oben angegebenen Gründen beiseite. Er glaubt demnach,
dass er es mit einer reinen Alternative zwischen dem ersten und
vierten Fall zu thun habe, und dass jeder Grund für die Apriorität
der Kategorien zugleich ein Grund für ihre bloss immanente Gel-
tung und umgekehrt sei. Demgemäss mengt er seine Gründe
für die Apriorität und blosse Immanenz fortwährend durch ein-
ander, während wir genötigt sind, sie zu sondern. Wie die ander-
weitige Unbegreiflichkeit der apriorischen synthetischen Urteile
der Mathematik und Philosophie für ihn der entscheidende Grund
für die Apriorität der Anschauungs- und Denkformen war, so die
anderweitige Unlöslichkeit der Antinomien für die bloss immanente
Geltung; durch diese Vermengung griffen beide Gründe in einander
über, als ob sie beide die Apriorität und bloss immanente Geltung
zugleich bewiesen. —
Die Anschauungsformen sind Formen unserer bewussten
Anschauung; aber daraus folgt nicht, dass sie nicht auch Formen
des Daseins und Wirkens der Dinge an sich sein könnten. Nur
der Nominalismus folgerte aus der Heterogenität der denkenden
und ausgedehnten Substanz, dass ein Accidens der ersteren nicht
auch Accidens der letzteren sein könne; soweit geht aber Kant
nicht, der das Ding an sich für ein schlechthin unerkennbares X
erklärt und zugiebt, dass »niemand von einem unbekannten Gegen-
stand ausmachen kann, was er thun oder nicht thun könne«, sein
oder nicht sein könne. Wenn es feststeht, dass die Anschauungs-
formen bloss Formen unseres bewussten Anschauens sind, dann
ist es sicher, dass sie nicht auch Formen der Dinge an sich sein
können; umgekehrt, wenn es feststeht, dass sie nicht Formen der
transcendent objektiven Realität sind, ist ihre blosse Immanenz
oder ausschliessliche Subjektivität gesichert. Auf die Antinomien
kommen wir später; hier ist nur noch zu erwähnen, dass Kant
einmal beiläufig versucht, die objektive Realität von Räumlich-
keit und Zeitlichkeit als ungereimt hinzustellen, weil sie dann
erstens Dinge und zugleich unendlich, zweitens existierend und
doch weder Substanzen, noch etwas wirklich Inhärierendes, und
drittens als Bedingung der Existenz aller Dinge übrig bleiben
müssten, auch wenn alle Dinge aufgehoben würden. Nun sind
aber Räumlichkeit und Zeitlichkeit erstens weder Dinge noch
Knnt
tQ
unendlich» zweitens weder Substanz noch Modus, sondern Formen»
in denen die Modi oder inbärierenden Wirklichkeiten von der
Substanz entfaltet werden, und drittens würden sie nach Auf-
hebung aller Dinge nicht als etwas reell Existierendes übrig
bleiben, sondern nur als ideale Normen oder latente Möglichkeiten
in der Substanz» nach welcher dieselbe eine neue Welt von Dingen
aus sich heraussetzen könnte, wenn sie wollte. Damit fallen alle
Ungereimtheiten weg.
In seiner zweiten Periode bezeichnete Kant noch Raum und
Zeit als die Erscheinungen der göttlichen Allgegenwart und
Ewigkeit und beide zusammen als die sinnliche Vorstellung des-
selben einheitlichen Grundes der Welt, dessen verstandesmässige
Vorstellung die Wechselwirkung aller Teile der Welt unter ein-
ander ist. In seiner dritten Periode spricht er aber nicht gern
mehr von diesen spekulativen Gedanken. Nach den Konsequenzen
seiner Voraussetzungen war Kant geradezu gezwungen, die An-
schauungsformen, die er ja doch für Produkte des oberen, intellek-
tuellen Erkenntnisvermögens erklärt, auch dem intuitiven Intellekt
oder der intellektuellen Anschauung Gottes zuzuschreiben. Denn
wie soUte der göttliche Verstand ohne Denkformen denken, und
welchen Inhalt sollten in ihm diese an sich leeren Denkformen
linden, wenn nicht den der Anschauungsformen? Nur durften in
Gott die letzteren nicht durch Anwendung auf sinnlichen Stoff
und Empfindungen in ihrer Reinheit getrübt und in die Sphäre
des niederen Erkenntnisvermögens heruntergezogen werden. Da
aber Kant ferner lehrt, dass die Dinge an sich so sein müssen,
wie der intuitive göttliche Verstand sie denkt» und nichts weiter
sind als diese realisierten göttlichen Gedanken selbst, so folgt
daraus, dass nach Kant auch die Welt der Dinge an sich in die-
selben Formen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit gespannt sein
müsste, in denen die intellektuelle Anschauung Gottes sich bewegt.
Alledem zum Trotz stellt Kant die blosse Immanenz oder aus-
schliessliche Subjektivität der Anschauungsformen oder ihre Nicht-
gültigkeit in dem transcendenten Gebiete der Dinge an sich als
ein Dogma hin, das durch die Zusätze «bloss«, »ausschliesslich«,
»nicht« zu einem negativen gestempelt wird. Sein transcenden-
taler Idealismus in Betreff der Anschauungsformen ist also ein
negativer Dogmatismus, der einer ausreichenden Begründung
ermangelt und deshalb vor der Kritik sich als nicht haltbar er-
20 Kant.
weist Sein kategorialer Apriorismus ist richtig, wenn auch seine
Beweise falsch sind; sein transcendentaler Idealismus ist ebenso
falsch, wie seine Beweise. —
Dies klar zu stellen ist darum so wichtig, weil die Beweis-
führung für die blosse Immanenz, exklusive Subjektivität oder
transcendentale Idealität (Irrealität) der Denkformen ganz auf die
der Anschauungsformen gestützt ist und deshalb mit ihr steht
und fällt. Während Kant in Betreff der Anschauungsformen so-
wohl in seiner zweiten wie in seiner dritten Periode transcen-
dentaler Idealist ist, so ist er in Betreff der Denkformen in der
zweiten Periode noch transcendentaler Realist und schlägt erst
in der dritten Periode zum transcendentalen Idealisten um.
Deshalb verhält er sich zaghafter gegenüber den Denkformen
und wagt hinsichtlich ihrer nicht, den negativen Dogmatismus
mit festem Griffe zu erfassen, wie er es hinsichtlich der An-
schauungsformen gethan hatte. Vielmehr ist er negativ dogma-
tisch nur in dem Verbot, die Denkformen auf das positive Nou-
menon oder positiv existierende Ding an sich anzuwenden; in
Bezug auf das negative Noumenon oder den negativen Grenz-
begfriff des Dinges an sich aber ist er bloss agnostizistisch. In
Bezug auf ersteres erklärt er den transcendenten Gebrauch der
Denkformen für sich selbst widersprechend, in Bezug auf das
letztere bloss für rein problematisch und nichtssagend. Nebenher
läuft dann drittens die Gestattung eines positiven transcendenten
Gebrauchs, insbesondere der dynamischen Kategorien, wenn auch
nur im uneigentlichen Sinne.
Die reinen Denkformen als solche sind nach Kant eigentlich
von gar keinem Gebrauch, weder von transcendentalem, noch
von empirischem; denn sie sind leer und bedeutungslos, so
lange sie nicht eine Erfüllung mit sinnlichem Inhalt finden, und
real grundlos, so lange nicht die Existenz eines ihnen ent-
sprechenden Gegenstandes durch die unmittelbare Erfahrung ge-
geben ist. Das Noumenon oder Gedankending, oder das Intelli-
gible, das in der zweiten Periode noch der schlechthin adäquate
Bewusstseinsvertreter des Dinges an sich gewesen war, wird da-
durch selbst zu einem Anoöton oder Inintelligiblen, Unerkennbaren.
Erst in der Anwendung auf zeitliche Vorgänge erhalten die reinen
Verstandesbegriffe oder Denkformen eine inhaltliche Bedeutung,
die vorläufig auch noch relativ leere Form, d. h. Schema zu
Kant.
2t
künftiger weiterer Ausfüllung mit räumlichem und Empfindungs-
Inhalt bleibt. Da nun aber schon dieser erste Schritt zur Auf-
hebung der nichtssagenden Bedeutungslosigkeit und Grundlosig-
keit der Denkformen sie in die bloss subjektive Zeitlichkeit einführt,
so folgt daraus, dass auch sie selbst nur subjektive Bedeutung
beanspruclien können, und da, wo die Zeitlichkeit keine Geltung
mehr hat, auch selbst zu nichts mehr brauchbar sind.
Es ist klar, dass diese Beweisführung jeden Boden verliert.
wenn die Anschauungsformen auch transcendente Geltung haben;
sie ist aber auch in ihrem Aufbau auf ihrer Voraussetzung an-
fechtbar. Die völlige Unerkennbarkeit des Dinges an sich ist
entweder eine petitio principii oder eine letzte Folgenuig aus der
auch ohne ihre Zuhilfenalime bereits begründeten ausschliess^
liehen Subjektivität der Anschauungs- und Denkformen. Die
Leerheit der reinen Denkformen ist keine absolute, sondern ebenso
wie die der Schemata nur eine relative, graduelle, die die konkrete
Bestimmtheit der betreffenden Form nicht aufliebt. also sehr wohl
eine spezifische Bedeutung derselben bestehen lässt. Die reelle
Grundlosigkeit der a priori ausgewählten Denkformen ohne An-
schluss an empirische Daten ist Kant zuzugeben, nicht aber, dass
dieser Anschluss ein unvermittelter, dass der Gegenstand durch
unmittelbare Erfahrung gegeben sein müsse und nicht auch mittel-
bar aus ihr erschlossen sein könne. Nur diese unberechtigte Ein-
schränkung, dass der Stoff für die Anwendung der Denkformen
durch unmittelbare Erfahrung gegeben sein müsse, schmiedet
sie in den Bannkreis der blossen Subjektivität, weil nur im Be-
wusstseinsinhalt unmittelbare Erfahrung zu finden ist, und jeder
Schritt über die immanente Sphäre hinaus schon in das Gebiet
der bloss mittelbaren Erfalirung führt.
Es ist also letzten Endes Kants Scheu vor der blossen Wahr-
scheinlichkeit solcher Schlüsse aus der unmittelbaren Erfahrung
und seine willkürliche Beschränkung der Philosophie auf apodik-
tisch gewisse Urteile, was ihn zwingt, die Denkformen in ihrem
Gebrauch auf die Sphäre der Immanenz zu beschränken. Er
kann eigentlich die Möglichkeit eines weiteren Gebrauchs der
Denkformen in Bezug auf mittelbare Schlüsse aus der Erfahrung
gar nicht leugnen; er leugnet nur, dass ein solcher Gebrauch
philosophisch heissen dürfe, oder Erkenntnis im philosophischen
Sinne des Wortes verschaffe. Selbst auf Grundlage der blossen
22 Kant.
Subjektivität der Anschauungsformen hätte Kant die mehr als
subjektive Geltung der Denkformen (ebenso wie in seiner zweiten
Periode) festhalten können, wenn er sich nicht genötigt gefühlt
hätte, die letzten Konsequenzen seines Vorurteils zu ziehen, dass
die Philosophie es nur mit Erkenntnissen und Urteilen von ajx)-
diktischer Gewissheit zu thun habe und um andere sich gar nicht
bekümmern dürfe. Wer dieses Vorurteil nicht teilt, für den hat
Kant gar nichts bewiesen. —
In seiner zweiten Periode, wo Kant noch transcendentaler
Realist in Betreff der Denkformen ist, haben alle Kategorien, wie
Substanz, Ursache, Realität und die verwandten Begriffe, wie Kraft,
Materie, Körper, Sache, äusserlicher Gegenstand u. s. w. ihre
eigentliche Bedeutung im transcendenten Gebiet, als Noumena
oder intelligible Begriffe. Daneben bestand schon in der zweiten
Periode eine uneigentliche Bedeutung im immanenten Gebiet als
Phänomena oder bloss subjektive Vorstellungen. Die substantia
phänomenon oder realitas phänomenon ist gleichsam das sinnliche
Spiegelbild oder der subjektive Vorstellungsrepräsentant der sub-
stantia noumenon oder realitas noumenon. In der dritten Periode
muss sich dieses Verhältnis umkehren; die immanente Bedeutung
wird nun zur eigentlichen und wahren erhöht, während die trans-
cendente, intelligible Bedeutung zu einer uneigentlichen, zu einer
überfliegenden Projektion herabsinkt. Aber ganz streng gilt dies
doch nur für die sogenannten mathematischen Kategorien, viel-
leicht nicht einmal für sie alle, während die dynamischen Kate-
gorien, insbesondere die der Substantialität und Kausalität, im
Ernste von einem transcendenten Gebrauch gar nicht aus-
geschlossen werden können. Das Ding an sich als etwas mich
Affizierendes, mein sittlicher, nach Zwecken handelnder Wille,
und Gott als letzte Weltursache üben zweifellos transcendente
Kausalität und sind transcendente Substanzen. (Sie könnten es
nicht, wenn sie nicht reell viele wären, sondern Eines.)
Die dynamischen Kategorien haben Korrelate, auf deren
Existenz sie sich beziehen, die mathematischen Kategorien nicht;
die ersteren gestatten deshalb, diese korrespondierenden Existenzen
zu ihnen hinzudenken , dadurch ihre Synthesis transcendent zu
machen und so die intelligible Welt assertorisch zu erkennen, die
letzteren nicht. Die ersteren haben einen doppelten (empirischen
und transcendentalen) Gebrauch, die letzteren nur einen einfachen
Kant.
53
(empirischen). Dieser doppelte Gebrauch ist nach Kaiitschen
Grundsätzen schlechterdings nicht zu rechtfertigen» so lange die
Bedeutung der dynamischen Kategorien einfach ist Nur wenn
die phänomenale Substantialität und Kausalität eine andere ist
als die intelligible, nur dann kann jede ihren besonderen Ge-
brauch und ihr eigenes Anwendungsgebiet haben, Im ersteren
l'alle ist entweder der transcendente oder der immanente Ge-
brauch feilsch und verkehrt; im letzteren Falle ist zu untersuchen»
wie wir zu dem Besitz doppelter Kategorien von verschiedener
Bedeutung und Anwendung kommen, und wie diese sich zu ein-
ider verhalten. In beiden Fällen bedarf d:is Kantsche System
ler grundstürzenden Änderung; um diese zu vermeiden, bleibt
Kant vor dieser Alternative in unklarer, schwankender Haltung
stehen. —
Die Tafel der reinen Verstandesbe griffe leitet Kant von der
Tafel der Urtcilsformen ab. Um solchen rarallelismus als mög-
lich zu denken, bedarf es zweier Vorbedingungen: erstens, die
Tafel der Urtcilsformen muss auf die rein logische Form der
Urteile ohne jede Rücksicht auf ihren Inhalt gestützt sein; zwei-
tens, die unbewussten synthetischen Kategorial Funktionen müssen
wirkliche Urteile, d. h. Subsumtionen von sinnlichen Anschauungen
oder Begriffen unter weitere Begriffe sein. Gegen die erste Be-
dingimg hat Kant selbst Verstössen, indem er bei den Abweichun-
gen seiner Urteiistafel von der damals üblichen den Inhalt der
Urteile für die transcendentale Logik mit berücksichtigte. Die
zweite Bedingung ist ebensowenig erfüllt, weil die Kategorien in
den vorbewussten synthetischen Intellektualfunktionen noch gar
keine Begriffe, und am wenigsten Gattungsbegriffe des Seienden
sind, unter welche dieses sich subsumieren liesse. — Aber wenn
auch die Bedingungen für die Möglichkeit eines solchen Parallelis-
mus gegeben wäre, so fehlte es bei Kant doch an jedem Nach-
weis seines wirklichen Bestandes. Ein solcher müsste stets daran
scheitern, dass derselbe Gedankeninhalt in sehr verschiedenen
Urteilsformen ausgedrückt werden kann, dass aber eine Ver-
tauschung der formierenden Kategorien auch stets den Inhalt der
durch sie formierten Erfahrung verändert, Kant hat sowohl die
Tafel der Urteilsformen als auch die der Kategorien gewaltsam
verändert, um einen künstlichen Parallelismus zu erzielen, der
selbst, wenn er haltbar wäre, doch keinen Wert hätte; er hat
24 Kaot.
dann sein ganzes systematisches Denken in den so geschaffenen
schablonenhaften Schematismus eingezwängt und durch diese Ver-
unstaltung seiner architektonischen Form oft genug den Inhalt
mit geschädigt.
Aus der Tafel der Urteilsformen entnimmt Kant zunächst
die vier Gruppenbezeichnungen: Quantität (d. h. Urteilsumfang),
Qualität (d. h. Bejahung oder Verneinung), Relation (kategorische,
hypothetische und disjunktive Urteilsform) und Modalität und
setzt sie den Triaden der Verstandesbegriffe als Überschriften
voran, ohne sie damit selbst als Kategorien oder gar als Stamm-
beg^ffe bezeichnen zu wollen, von denen die ihnen untergeord-
neten erst abgeleitet wären. Qantität, Qualität und Relation be-
deuten in diesen Gruppenüberschriften etwas ganz anderes, als
die unter den gleichen Bezeichnungen bekannten Kategorien, die
in Kants Tafel gänzlich fehlen, weil es an jeder Parallele zu ihnen
in den Urteilsformen ebenso mangelt wie für Räumlichkeit, Zeit-
lichkeit und Bewegung. Qualität und intensive Quantität gehören
zur Materie der Anschauung, wie extensive Quantität zu ihrer
Form, haben also unter den reinen Denkformen keinen Platz;
nur die abstrakte Quantität oder Zahlengrösse sollte unter diesen
nicht fehlen. Obwohl aber Kant die Kategorie der Quantität
nirgends, weder unter den Kategorien der Sinnlichkeit, noch
unter denen des Verstandes behandelt hat, thut er doch nachher
so, als ob sie von ihm behandelt worden wäre, nämlich in dem
>Axiom der Anschauung« und der »Antizipation der Wahr-
nehmung«, welche es als Urteile a priori behaupten, dass alle
äusseren Anschauungen extensive, alle inneren Empfindungen
intensive Grösse haben, und deren Urteilsapriorität doch nach
Kant nur aus der Apriorität der entsprechenden Kategorie ent-
springen kann.
Einerleiheit und Verschiedenheit, Einstimmung und Widerstreit
rechnet Kant, obwohl er zugiebt, dass sie einen inhaltlichen trans-
cendentalen Gebrauch zulassen, und dass aus ihnen vier Urteils-
formen entspringen, doch nicht zu den reinen Verstandesbegriifen,
sondern zu den Reflexionsbegriffen. Als Grund ihrer Aus-
scheidung giebt er an, dass die Kategorien auf das anschauliche
Objekt selbst, die ReflexionsbegrifiFe aber nur auf BegrifiFe gehen.
In der That können aber beide ebensowohl auf Anschauungen,
wie auf BegrifiFe angewendet werden, wie es ja auch bei den
Kant
25
Urteilsformen der Fall ist. Dagegen hat Kant recht, Inneres und
Äusseres» Materie und Form nicht unter die Kategorien zu zählen,
weil sie sinnliche Bilder oder Vergleiche, aber keine reinen Denk-
formen sind.
Unter den zwölf Kantschen Begriffen treten Position und
Negation zweimal auf, nämlich als Realität (Affirmation) und
Negation und als Dasein und Nichtsein (Wirklichkeit und Nicht-
Wirklichkeit), Die Limitation fällt mit der Negation, die Wechsel-
wirkung mit der Kausalität zusammen. Wenn somit Limitation,
Wechselwirkung und Dasein und Nichtsein gestrichen werden,
so bleiben nur neun übrig, nämlich Einheit, Vielheit und Allheit;
Realität (Affirmation als reale Position) und Negation; Substan-
tialität und Kausalität; Möglichkeit und Notwendigkeit (mit ihren
Gegensätzen). Dagegen fehlen abstrakte Quantität, Relation {oder
Beziehung), Einerleiheit und Verschiedenheit, Einstimmung und
Widerstreit und ausserdem die sämtlichen Kategorien der Sinn-
lichkeit: Qualität, intensive und extensive Quantität, Räumlich-
keit und Zeitlichkeit.
Wenn das dritte GHed in jeder Gruppe, wie Kant behauptet,
lur eine Verbindung des ersten und zweiten Gliedes wäre, so
wäre es von diesen abgeleitet, unbeschadet dessen, dass zu dieser
Synthese ein neuer Akt des Denkens erforderlich wäre, und wäre
es kein ursprünglicher Stamm begriflF des reinen Verstandes.
Wenn ferner die Kategorien von den Urteilsformen und diese
von den Reflexionsbegriffen abgeleitet sind, so sind die Kate-
gorien nicht ursprüngliche reine Verstandesbegriffe, sondern in-
direkt von den Reflexionsbegriffen abgeleitet; diese aber sind
dann die ursprünglichen Kategorien. Wenn endlich alle Kate-
gorien von der synthetischen Einheit der transccndentalen Apper-
zeption oder dem transcendentalen Bewusstsein abgeleitet sind,
so ist dieses die einzige wahrhaft ursprüngliche Kategorie und aUe
anderen sind abgeleitete. Dann ist aber der Unterschied zwischen
ursprünglichen und abgeleiteten reinen Verstandesbegriffen» Prädi-
kamenten und PrädikabiUen überhaupt nicht mehr als feste Grenze
aufrecht zu erhalten, sondern wird zu einem fliessenden und bloss
graduellen. Die Prädikabilien sind dann bloss noch etwas mehr
abgeleitet, als die Prädikamente, und es wird zur Sache blosser
Willkür und Opportunität, wo man die Grenze für die Behand-
lung der Begriffe als Kategorien ziehen will.
26 Kant.
Die Lehre von den Schematen ruht auf der richtigen Voraus-
setzung, dass die reinen Verstandesbegriffe für sich allein nicht
ausreichen, um die Realität zu erfassen, und auf der irrtümlichen
Annahme, als ob die blosse Hinzufügung der Zeitlichkeit sie dazu
ausreichend machen könnte. Wie Descartes und Spinoza geglaubt
hatten, in der räumlichen Ausdehnung ein Princip zu besitzen,
das dem reinen Denken die Realität verleihen könnte, so Kant
in der zeitlichen Bestimmtheit; in der That reicht aber selbst die
Vereinigung von Raum und Zeit dazu nicht aus, wenn nicht auch
das dynamische oder thelische Moment hinzutritt, das Kant aus
seinem naturphilosophischen Dynamismus und aus seiner mora-
lischen Willenslehre hätte entnehmen können. Kants Tafel der
Schemata ist ein künstliches Gebilde mehr, das ohne Bedeutung
ist. Der tiefere Grund, weshalb Kant die Form der Zeitlichkeit
so viel näher an die reinen Verstandesbegriffe heranrückt als die
der Räumlichkeit und in der ersteren allein eine ausreichende
Erfüllung für die Leerheit der Denkformen sucht, lieget in seinem
Glauben, dass der menschliche Geist beim Tode den äusseren Sinn
oder die Form der Räumlichkeit verliert und mit dem inneren
Sinn oder der Form der Zeitlichkeit allein auskommen muss. —
Von den Kategorien sind die wichtigsten Kausalität und
Substantialität, und bei beiden ist das Verhältnis zur Zeit, wenn
auch in verschiedener Weise, wichtig. Der Begriff der Kausalität
verliert überhaupt jeden Sinn, wenn ihm die Zeitlichkeit geraubt
wird. Man kann mit einer unräumlichen Thätigkeit, z. B. einer
affizierenden des Dinges an sich, oder einer handelnden des sitt-
lichen Willens wohl noch einen Begriff verbinden; aber eine un-
zeitliche Thätigkeit erscheint sich selbst widersprechend. Deshalb
ist eine transccndente Kausalität wohl noch denkbar, wenn die
Räumlichkeit bloss immanente Geltung hat, aber unmöglich,
wenn auch die Zeitlichkeit bloss immanente Geltung hat. Die
Nachfolger Kants haben also ganz recht gehabt, ihm die Auf-
rechterhaltung der transcendenten Kausalität im Affizieren und
sittlichen Handeln trotz der Beseitigung der transcendenten Gel-
tung der Zeitlichkeit als eine widerspruchsvolle Inkonsequenz
vorzuwerfen. Beide müssen gleichermassen entweder bloss imma-
nente Geltung haben, oder immanente und transccndente zugleich.
Kant behauptet in seiner zweiten »Analogie der Erfzihrung«,
dass alle zeitliche Folge durch die Kausalität bestimmt ist. Wenn
Kant.
27
dies auch kein Urteil a priori ist, so kann man es doch als eine
letzte Folge langer Indiiktionsreüien gelten lassen, vorausgesetzt,
dass es auf den einheitlichen Strom der universellen transcendenten
Weltkausalität bezogen wird, in welchem in der That alle zeit-
liche Bestimmtheit nur durch den Kausalzusammenhang der
produktiven Thätigkeit gesetzt wird. Kant bezieht aber diesen
Grundsatz auf die Aufeinanderfolge der subjektiven Erscheinungen,
und seine transcendentale Deduktion desselben gilt nur für die
Natur als eine subjektive Erscheinungswelt im menschlichen Be-
wusstsein, insofern ohne die apriorische kausale Einheit keine
Einheit der Erfahrung und keine zeitliche Bestimmung der Er-
scheinungen möglich sein soll. Hier widerspricht aber Kants
Grundsatz geradezu der Erfahrung, die eine Menge genau be-
stimmter zeitlicher Folgen von subjektiven Erscheinungen ohne
jeden kausalen Zusammenhang zeigt, und selbst da, wo ein Kausal-
zusammenhang vorliegt, oft genug zeigt, dass dieser unserer
Erkenntnis vorenthalten bleibt, oder doch erst lange nach Fest-
stellung der festen Zeitfolge dem Verständnis aufgeht Kant
verwechselt die apriorische, rationale Nötigung zur Anwendung
der Kausalitätskategorie überhaupt auf die gegebenen Er-
scheinungen mit der aposteriorischen, empirischen Nötigung, das
eine der empirisch gegebenen Glieder als das frühere, das andere
als das spätere anzuerkennen. Welches der gegebenen Glieder
bei Konstatierung eines Kausalzusammenhanges als Ursache und
welches als Wirkung zu betrachten sei, kann immer nur aus den
empirischen Daten entnommen werden, aber nicht aus der aprio-
rischen Kategorie der Kausalität. Hier zeigt sich der Gegensatz
Kants gegen allen, auch den berechtigtsten Empirismus in seiner
schroffsten Gestalt.
Die dritte > Analogie der Erfahrung« besagt, dass das Zu-
leichsein aus der Wechselwirkung stamme, wie die zeitliche
Folge aus der Kausalität Dieser Satz ist gleich unhaltbar für
das transcendente wie für das immanente Gebiet; denn er würde
die Wechselwirkung zu einer unzeithchen Thätigkeit machen und
sie damit aus dem einheitlichen zeitlichen Strom der universellen
Kausalität herausheben. Gleichzeitig ist immer nur das. was auf
einem durch diesen Strom gelegten zeitlichen Querschnitt liegt;
das sind aber nur koordinierte Wirkungen des unmittelbar vor-
hergehenden Weltzustandes. Bei der immer vorwärts gehenden
28 Kant
Kausalität wäre es nach Kant widerspruchsvoll und unmöglic]
wenn etwas nach rückwärts Ursache dessen wäre, wovon es zi
gleich Wirkung ist. Die Wechselwirkung besaget bei Kant nichi
weiter, als dass alle Substanzen in der Welt stets auf einande
d. h. auf die Änderungen ihrer Zustände, einwirken; die univei
seile Wechselwirkung fällt also mit der universellen Kausaliti
zusammen. Diese universelle Wechselwirkung oder der influxu
physicus (sive realis) derivativus hat aber nur einen Sinn al
transcendente universelle Kausalität, wie Kant ihn noch in seine
zweiten Periode ausschliesslich versteht, aber nicht als immanent
Kausalität. Denn der Wechsel im Bewusstseinsinhalt zeigt i
einer Wüste von kausal unverständlichen Aufeinanderfolge
immer nur Oasen einer fragmentarischen Scheinkausalität, abe
keinen einheitlichen, universellen, kontinuierlichen Strom.
Die immanente und transcendente Kausalität oder die cau
salitas phänomenon und die causalitas noumenon laufen bei Kar
neben einander her, aber doch nicht so, als ob sie von einande
unabhängig, oder nur durch eine prästabilierte Harmonie au
dasselbe Ziel gelenkt wären, sondern in dem Sinne, dass di
erstere das subjektiv verzogene und gefärbte Spiegelbild de
letzteren im Bewusstsein und für das Bewusstsein darstellen sol
Wir schauen die von uns produzierten subjektiv idealen Ei
scheinungen mechanischer Kräfte oder beweg^ter Stoffe als Ot
jekte an, die unsere Sinnlichheit affizieren, obwohl wir wisset
dass die von uns gesetzten Vorstellungen unmöglich die Ursach
unserer sie produzierenden Thätigkeit sein können, und dass di
ihnen entsprechenden Dinge an sich, die allein uns wirklich äff
zieren können, weder räumlich ausgedehnte Stoffe, noch in Bc
weg^ng befindlich sind, noch zeitliche Thätigkeit ausüben. Da
scheinbar doppelte Affizieren und das doppelte (empirische un
transcendente, physische und metaphysische) Ding an sich, da
bei Kant zu finden ist, löst sich dadurch in ein einfaches auf, das
das phänomenale Affizieren und das empirische oder physisch
Ding an sich*) nur die subjektiven Vorstellungsrepräsentante
*) Kant versteht darunter das anschauliche, dreidimensionale raumzeitliche Vo
stcllungsobjekt mit Einschluss der ihm anhaftenden sinnlichen Empfindungsqualitäte
aber unter Ausschluss aller Entstellungen, Verzerrungen, perspektivischen Projektion«
und Sinnestäuschungen, die durch die Zufälligkeiten der Entfernung, Stellung, B
leuchtung, Spiegelung, Li^tbrechung, Sinnesorganisation u. s. w. bedingt sind.
Kiint,
29
des intelligiblcn Affizierens und des transcendenten oder meta-
physischen Dinges an sich sind.
Wir können die ersteren für unser Denken nicht entbehren»
weil uns bei dem Versuch, die letzteren zu denken, alles Denken
ausgeht; um das Affizieren überhaupt noch irgendwie vorstellen
zu können, müssen wir uns an unsere gedankliche Umbildung
des sinnlichen Wahrnehmungsobjekts, d. h, >das Phänomen eines
Phänomens* halten, immer dessen eingedenk, dass wir dabei
etwas Falsches denken und uns bloss an ein Surrogat des un-
denkbaren Wirklichen klammern. Illusion ist dieses surrogative
Denken, sofern es mit unanwendbaren Bestimmungen (wie Räum-
lichkeit, Zeitlichkeit, Bewegung) behaftet ist; aber Wahrheit ist
es, sofern es auf ein dieser Bestimmungen ermangelndes trans-
cendentes Korrelat repräsentativ hindeutet Völlig wahrheitslose
Illusion wäre es nur dann, wenn es bloss eine täuschende Ein-
richtung unseres Verstandes wäre, dass wir die empirischen
Dinge (an sich) als uns affizierend anschauen müsslen, obwohl
keinerlei uns wirklich affizierendes transcendentes Korrelat ihnen
entspräche. Dies ist erst der Standpunkt Becks und seiner Nach-
folger; Kant aber hält an dem transcendenten Affiziertwerden
durch das transcendente Ding an sich eben darum so zäh fest,
weil er nicht in den absoluten Illusionismus und Agnostizismus
hineinstürzen will —
Substanz ist das Beharrliche im zeitlichen Wechsel der Acci-
dentien. Die phänomenale Substanz zeigt nur relativ beharrliche
Verhältnisse der Erscheinung und fällt mit der phänomenalen
Materie oder dem sinnlichen Stoff zusammen, aus dem die phäno-
menalen Dinge oder Vorstellungsobjekte bestehen. Substanz im
eigentlichen Sinne kann aber nur das durch alle Zeit Beharrliche,
oder das Substrat eines immerwährenden Daseins, oder das un-
entständliche und unvergängliche Sein heissen. Dies ist erst die
intelligible Substanz, die von Gott geschaffene Welt der geistigen
Monaden und atomistisch gegliederten materia noumenon. Die
phänomenalen Substanzen sind nur für ^ Vorstellungsarten
(Bewusstseinsrepräsentanten) eines unbekannten (transcendenten)
Gegenstandes« zu halten. Auch die materia phaenomenon ist da-
nach nur eine subjektive Vorstellungsart, ein sinnliches Surrogat
der uns unbekannten materia noumenon, und die bewegenden
Kräfte in der subjektiven Erscheinungswelt bloss Spiegelbilder
30
Kant.
der übersinnlichen Kraftsubjekte im und fürs Bewusstsein. Denn
Kraft im intelligiblen Sinne ist das absolut beharrliche Subjekt
der dynamischen Aktion oder die Substanz; die materia nou-
menon aber ist nichts als die Gesamtheit dieser substantiellen
Kraftsubjekte.
Die erste »Analogie der Erfahrung« besagt, dass alle Er-
scheinungen beharrliche Substanz und wechselnde Accidentien
entlialten, und dass erstere in der Natur weder vermehrt noch
vermindert wird. Ob ich relativ beharrliche und wechselnde
unter meinen subjektiven Erscheinungen vorfinde oder nicht,
kann mich nur die Erfahrung lehren. Dass die Substanz als un-
vergängliche nicht weniger, und als unentständliche nicht mehr
werden kann, sind leere Tautologien, aber keine synthetischen
Urteile. Für die phänomenale, bloss zeitweilig beharrliche Sub-
stanz und Materie gilt natürlich die Unvermehrbarkeit und Un-
verminderbarkeit nicht, sondern nur für die intelligible Substanz
und Materie; diese letztere aber ist nicht mehr »das Bewegliche
im Räume«, sondern die Summe der unräumlichen Kraftsubjekte
in ihrer zeitlosen Wechselwirkung. Sofern er die Unvermehrbar-
keit und Unvermindcrbarkeit des Beweglichen im Räume (d. h.
des sinnlichen Stoffes) behauptet, ist also dieser Grundsatz geradezu
eine formell falsche Folgerung aus den Kantschen Voraussetzungen,
die durch Vertauschung der materia phaenomenon und materia
noumenon zustande gekommen ist.
Da auch die »Postulate des empirischen Denkens« nur die
Kantschen Definitionen des Möglichen, Wirklichen und Notwen-
digen als Postulate hinstellen, so stellen sich alle :» Grundsätze
des reinen Verstandes« keineswegs als synthetische Urteile a priori
heraus, sondern teils als analytische, oder gar identische Urteile,
die bloss die einmal angenommenen BegriflFsdefinitionen analy-
sieren oder mit anderen Worten wiederholen , teils als aposterio-
rische Konstatierung empirischer Thatsachen, teils als induktive
hypothetische Schlussfolgerungen aus der Erfahrung von blosser
Wahrscheinlichkeit. Damit werden alle Beispiele synthetischer
Urteile a priori, die Kant für die metaphysische Erkenntnis bei-
zubringen versucht, ebenso hinfällig, wie seine Beispiele auf dem
Gebiet der mathematischen Erkenntnis. Damit fällt aber die
ganze Grundlage des Urteilsapriorismus, auf welche Kant seine
erkenntnistheoretische Fragestellung stützt. Zugleich zeigen die
Kant.
31
ffrörteningen über die Kausalität und Substantialität, wie die für
das transcendente Gebiet richtigen Grundsätze ihren guten Sinn
und ihre Berechtigung verlieren, wenn sie auf das immanente
Gebiet übertragen werden. —
So erscheint denn auch Kants Bestreben, eine reine Natur-
wissenschaft a priori zu konstruieren, als verfehlt. Freilich kann
man die reine Bewegungslehre oder >Phoronomie* a priori kon-
struieren, sofern sie eine bloss formale Geltung hat; ob aber etwas
■ Wirkliches vorhanden ist, das diesen Gesetzen gemäss sich be-
wegt, kann nur die Erfahrung lehren. Ebenso kann man die
IPhoronomic auf den Begriff träger Massen a priori anwenden
und so die >Mechanikv aufbauen; aber ob es etwas giebt, das
diesem Begriffe entspricht, und ob es den a priori konstruierten
Gesetzen gehorcht, ist nur aus der Erfahrung zu entnehmen.
Endlich kann man drittens eine »Dynamik* a priori konstruieren,
indem man die Voraussetzung macht, dass die beweglichen trägen
Massen im Räume bewegende Kräfte v^on bestimmter Gesetz-
mässigkeit haben; aber ob es solche Krilfte von solcher Gesetz-
mässigkeit giebt, ist wiederum nur durch die Erfahrung zu
konstatieren.
Genau betrachtet zeigt die direkte Erfahrung im Bewusst-
seinsinhalt wohl Bewegüches, aber keine trägen Massen und
noch weniger Kräfte, und das Bewegliche bewegt sich im sub-
jektiv idealen Erscheinungsraum entweder anscheinend gesetzlos,
oder doch nach anderen Gesetzen, als die Phoronomie fordert.
Nur die mittelbare Erfahrung, d. h. die hypothetisch erschlossenen
Dinge an sich im objektiv realen Raum, bietet che verlangten
Voraussetzungen und Übereinstimmungen dar, zeigt aber wieder
bloss Wahrscheinlichkeit und nicht apodiktische Gewissheit. Kant
befindet sich in einer offenbaren Täuschung, wenn er glaubt, dass
seine naturphilosophischeri Spekulationen über die atomistisch-
dynamische Konstitution der Materie etwas anderes seien, als
Hypothesen auf Grund der Erfahrung; die Abweichungen seiner
Ergebnisse in der : Dynamik« der .Metaphysischen Anfangs-
■ gründe der Naturwissenschaft ?: und in dem unvollendet nach-
gelassenen Werk hätte genügen sollen, ihn zu überzeugen, dass
seine Aufstellungen nicht apodiktische Gewissheit haben können.
Letzteres Werk zeigt einen Fortschritt darin, dass es die Wärme
nicht mehr als Stoff, sondern als undulatorische Molekular-
I
I
32 Kant.
bewcgung auffasst und nicht bloss bei der Anziehung, sondern
auch bei der Abstossung eine Fem Wirkung gelten lässt, einen
Rückschritt darin, dass es wieder neben den Atomkräften eine
ungegliederte, gestaltlose, stetige Urmaterie einfilhrt. —
Vemunftbeg^ffe oder Ideen sind bis zum Unbedingten er-
weiterte Verstandesbegriffe und geben mannig&chen Erkennt-
nissen des Verstandes Einheit, wie die Verstandesbegriffe den
Anschauungen ; denn die Vernunft geht auf Begriffe und Urteile,
wie der Verstand auf Anschauungen. Die Vernunft oder das
Vermögen der Schlüsse und der Verstand oder das Vermögen
der Begriffe und Regeln werden durch die Urteilskraft oder das
Vermögen der Subsumtion mit einander verbunden und unter-
scheiden sich nur dadurch, was und worunter es subsumiert wird.
Der Begriff des Unbedingten soll die Zusammenfassung der drei
Begriffe Gott, Welt und Seele sein, obwohl nur ersterer im
eigentlichen Sinne und in jeder Hinsicht so heissen kann. Der
geschichtliche Gegensatz der Ansichten über Gott, Welt und
Seele, die der Wolffsche Rationalismus und der englische Sen-
sualismus vertreten, erscheint Kant als eine unvermeidliche
Dialektik der reinen Vernunft selbst, die er in der Kosmologie
antithetisch zu Antinomien durchbildet, in der Theologie und
Psychologie aber nur als einseitigen Schein im Sinne des Ratio-
nalismus entwickelt, ohne die Ansichten des Sensualismus anti-
thetisch gegenüberzustellen. Überall geht seine Absicht dahin,
zu zeigen, dass der Begriff des Unbedingten nur dann ohne
Widerspruch denkbar sei, wenn man sich auf den Boden des
transcendentalen Idealismus stelle. Thatsächlich zeigen aber seine
Darlegungen nicht das, was er mit ihnen beabsichtigt, sondern
dass gar keine Widersprüche vorhanden sind und ihr falscher
Schein aus Verwechselungen verschiedener Bedeutungen gleicher
Worte entspringt Psychologisch interessant ist nur, dass er
trotzdem den Glauben an wirklich vorhandene Widersprüche
festhielt. —
Das Ich zerfällt in ein phänomenales und ein intelligibles
Ich; ersteres setzt sich aus der log^ischen Form des Bewusstseins
und dem realen Gefahlsinhalt des Daseins zusammen, letzteres
ist dagegen das innere Ding an sich oder das transcendente
Subjekt, das dem Erscheinungsich als transcendentes Korrelat
korrespondiert, und auf welches bezogen dieses »transcendentales
Kant.
53
Subjekt« heisst Die Form des Bewusstseins ist einfach wegen
ihrer Leerheit» und ihre Identität mit sich darf nicht über die
2feiten hinaus ausgedehnt werden, in denen sie erfahrungsmässig
bestanden hat. Hält man ihre bloss logische Einheit für eine
metaphysische, so begeht man >die Subreption des hypostasierten
Bewusstseins*, Das Erscheinungsich als Einheit des formalen
und inhaltlichen P'aktors ist selbst nur substantia phaenomenon,
kann also auch nur die relative Beharrlichkeit dieser beanspruchen.
Das transcendente Subjekt allein dürfen wir als absolut beharr-
liche substantia noumenon denken; aber wir können nicht wissen,
erstens ob dieses transcendente Subjekt noch substantiell ver-
schieden sei von dem transcendenten Objekt oder Ding an sich
unserer äusseren Vorstellungsobjekte (also auch von anderen
Individuen), und zweitens ob es in seiner Fortdauer über den
Tod hinaus als selbstbewusster und bewusster Geist oder als be-
wusstlose Substanz fortdaiu-e. Diese Kantsche Kritik der Un-
sterblichkeitsbeweise aus der Substantialität des Ich besteht in
Kraft ganz unabhängig davon, ob sein transcendentaler Idealis-
mus richtig ist, denn sie selbst steht mit der Annahme eines
transcendenten Subjekts hinter dem Erscheinungsich auf trans-
cendentalrealistischem Boden. —
Die erste Antinomie handelt davon, ob die materielle Welt
in räumlicher und zeitlicher Hinsicht endlich oder unendlich sei.
Die Thesis behauptet, die aktuelle NichtUnendlichkeit der trans-
cendent realen Welt, die Antithesis die potentielle Unendlichkeit
der subjektiv idealen Erscheinungswelt; beide haben recht in
ihren Behauptungen» unrecht in ihrer gegenseitigen Bekämpfung,
weü sie mit verschiedenen Subjekten und Prädikaten operieren.
Kants Lösung fasst nur die berechtigten Seiten beider Behaup-
tungen zusammen, beschränkt sie aber auf die subjektiv ideale
Erscheinungswelt, weil ihr die Raimizeitlichkeit der transcendent-
realen Welt für ausgeschlossen gilt Dass diese Antinomie einen
indirekten Beweis liefern könne für die blosse Subjektivität der
Anschauungsformen, ist hiernach ganz ausgeschlossen.
Die zweite Antinomie dreht sich darum, ob die Materie aus
einfachen Bestandteilen bestehe^ oder ob es nichts Einfaches in
der Welt gebe. Die Thesis behauptet die Unzusammengesetztheit
der immateriellen, unräunrdichen Substanzen» welche die trans-
cendentreale Materie konstituieren, die Antithesis, dass in dem
Kv, Hart m« DU. Au9gew. Werke. Bd. Xli. i
34
Kant.
sinnlichen StoflF als subjektiv idealer Erscheinung nichts Unteil-
bares vorkomme. Beide operieren also mit verschiedenen Sub-
jekten und verschiedenen Prädikaten, und der Schein eines Wider-
spruchs entspringt nur daraus, dass sie gleiche Worte (Materie
und einfach) zur Bezeichnung der verschiedenen Subjekte und
Prädikate benutzen. Beide haben recht in ihren Behauptungen
und unrecht in ihrer gegenseitigen Bekämpfung, wie Kant in
seiner Lösung feststellt. Wenn aber der transcendentale Idealis-
mus richtig ist, so ist das Subjekt der Thesis eine blosse Fiktion,
die nicht mehr Materie genannt werden kann, und die Antithesis
bleibt allein in Kraft.
Die dritte und vierte Antinomie behandeln die Frage, ob es
ausser dem Bedingften auch ein Unbedingtes giebt oder nicht,
und zwar fasst die dritte Antinomie das Unbedingte als die freie
Veränderung im Gegensatz zur Naturgesetzmässigkeit, während
die vierte Antinomie es als das schlechthin notwendige Wesen
im Gegensatz zum Zufälligen (contingens) betrachtet Die Thesis
der dritten Antinomie hat darin recht, dass es in einer zeitlich
endlichen Welt eine freie Initiative geben müsse, die Antithesis
darin, dass innerhalb der Reihe der Erscheinungen nichts frei,
sondern alles naturgesetzmässig bedingt sei. Die Thesis hat
darin Unrecht, die Freiheit von der Initiative des Absoluten, mit
welcher erst der Prozess beginnt, auf das Handeln der vielen
Individuen innerhalb des Prozesses zu übertragen, durch welche
die Naturgesetzmässigkeit aufgehoben würde, die Antithesis darin,
auf Grund einer aktuellen zeitlichen Unendlichkeit ein Anfangs-
glied in der Kette des Geschehens zu leugnen. Da Kant ein
Anfangsglied des Prozesses leugnet, müsste er auch die freie
Initiative des Absoluten leugnen; für diese interessiert er sich
aber gar nicht, sondern nur für die Freiheit der vielen Individuen,
gegen welche die Kritik der Thesis in voller Kraft bleibt.
Die vierte Antinomie ist für uns völlig veraltet, weil wir
weder den Begriff eines schlechthin Notwendigen, noch sein
Gegenteil mehr zugeben können. Ersterer wäre ein Rückfall in
dem überwundenen ontologischen Beweis a priori; ohne diesen
Begriff als Gegensatz kann aber auch das gesetzmässig Not-
wendige des Weltlaufs nicht mehr als »zufällig« bezeichnet werden.
Ein unbedingtes Wesen kann nicht innerhalb der Reihe des Ge-
schehens gesucht werden, sondern nur ausserhalb als metaphysisch
Kant.
35
transceadentes Wesen * was sonderbarerweise sowohl von dem
Vertreter der Thesis, als von dem der Antkhesis geleugnet wird.
»Schlechthin notwendige scheint aber ein ganz unpassendes Prä-
dikat für ein solches Wesen.
Sämtliche Beweise der Thesen setzen den transcendentalen
Realismus, samtliche Beweise der Antithesen den transcenden-
talen Idealismus voraus* Die Thesen der beiden ersten Anti-
nomien beziehen sich auf das erkenntnistheoretisch Transcendente,
die der beiden letzten auf das metaphysisch Transcendente. Die
Antithesen der beiden ersten Antinomien gehen demgemäss auf
das erkenntnistheoretisch Immanente, die der beiden letzten auf
das metaphysisch Immanente. Als Metaphysiker, Moralphilosoph
und dynamistischer Naturphilosoph steht Kant auf dem Boden
der Thesen, als Erkenntnistheoretiker auf dem der Antithesen;
in ersterer Eigenschalt fühlt er sich zum WolflFschen Rationalis-
mus, in letzterer zum englischen Phänomenalismus hingezogen.
In den beiden ersten Antinomien überwiegen bei ihm die er-
kenntnistheoretischen, in den beiden letzten die metaphysischen
Interessen. Der unausgeglichene Widerstreit zwischen phänome-
nalistischer Erkenntnistheorie und rationalistischer Metaphysik in
seinem Denken erscheint ihm nicht als Widerstreit zwischen Er-
kenntnistheorie und Metaphysik, sondern als Widerstreit der
Metaphysik mit sich selbst durch Spaltung in sensualistischen
Empirismus und Rationalismus. *—
Kants rationale Theologie bleibt völlig in der Scholastik
stecken, indem er zwei gleich wertlose und hohle Schulbegriffe
mit einander verknüpft, den des allerrealsten Wesens (ens realis-
simum) und den des schlechthin notwendigen Wesens» oder den
InbegriflF aller positiven ursprünglichen Prädikate oder Voll-
kommenheiten und den Begriff, dessen Denknotwendigkeit eine
unbedingte sein soll Nun sind aber die Prädikate, die nach dem
Satz vom ausgeschlossenen Dritten dem Absoluten zukommen,
meist bloss negativ (z. B. nichtblau, nichtspitzwinklig), und von
den positiven wissen wir nicht, inwieweit sie ursprünglich und
mit einander vereinbar (reell kompossibel) sind. Notwendigkeit
ist immer nur eine logisch bedingte, und ein unbedingt Not-
w^endiges ist selbst schon ein sich widersprechender Begriff. Die
Verschmelzung beider Begriffe ist deshalb nicht, wie Kant meint,
ein »transcendentales Ideal<, sondern eine völlig verunglückte
3'
36
Kant.
Konzeption. Dass diese Konzeption niemals durch apriorisches
Denken vom blossen Gedachtsein zum Sein hinüberführen kann,
erkennt auch Kant an, schreibt ihm aber trotzdem eine wenigstens
problematische Gültigkeit als Idee zu. Dass durch Erfahrung
ein reales Objekt zu dieser Idee unmittelbar gegeben werde, ist
unmöglich; ein mittelbarer Anschluss an Erfahrung wäre nach
Kant philosophisch wertlos.
Gleichwohl versucht Kant solchen mittelbaren Anschluss
durch den Rückschluss von der empirisch gegebenen Existenz
irgend welchen Etwas auf die Existenz eines schlechthin not-
wendigen Wesens. Er erkennt an, dass dieser Rückschluss von
einem völlig unbestimmten Bedingten auch nur ein völlig un-
bestimmtes Unbedingtes liefert, glaubt aber, diesem die fehlende
Bestimmtheit durch das transcendentale Ideal verschaffen zu
können. Er sucht also den gewöhnlichen ontologischen Beweis
a priori mit dem ontolog^ischen Beweis a posteriori, den er den
kosmologischen nennt, zu verschmelzen, verkennt aber, dass der
letztere nur eine Hypothese liefert, also nicht auf Apriorität und
apodiktische Gewissheit Anspruch machen kann. Bei dem teleo-
logischen Beweise, den Kant den physikotheologischen nennt,
erkennt er dagegen den hypothetischen Charakter ausdrücklich
an, durch den er für ihn aus der wissenschaftlichen Philosophie
ausscheidet und auf bloss popularphilosophische Bedeutung zurück-
geführt wird.
Kants moralischer Beweis ruht auf drei Voraussetzungen:
i) es ist schlechthin notwendig, dass ich sittlich handle; 2) die
Vernunft als solche hat keine motivierende Kraft, sondern bedarf
eines hinzukommenden Motivs, um das sittliche Handeln zu ver-
wirklichen; 3) dieses hinzukommende Motiv ist allein in einem
jenseitigen Ausgleich von Glück Würdigkeit und Glückseligkeit
zu finden. Daraus folgt dann die moralische Notwendigkeit eines
diesen Ausgleich herstellenden Gottes, obwohl die theoretische
Einsicht durch diese moralische Notwendigkeit nicht erweitert
werden soll. Nun lehrt aber Kant selbst, dass der Widerstreit
von Tugend und Glückseligkeit in diesem Leben nicht aufhören
darf, wenn nicht die Reinheit der Tugend zerstört werden soll,
und erkennt im Jahre 1791 an, dass alle Versuche einer Theodicee,
auch der auf die jenseitige Harmonisierung von Glückwürdigkeit
und Glückseligkeit gestützte, misslungen seien. Danach fällt sein
Kiint»
37
moralischer Beweis schon durch die Unhaltbarkeit der dritten
Voraussetzung, so dass es nicht erst der Prüfung der beiden
ersten bedarf,
Gottes Eigenschaften sind Intelligenz und WUle, aber unter
Abstreifung alles Anthropomorphischen von diesen Begriffen.
Seine Intelligenz ist demnach nicht sinnlich, abstrakt und dis-
kursiv, sondern intuitiv-, d, h. er erkennt die Teile aus dem Ganzen
mittelst anschaulicher Ideen. Sein Wille ist in seiner Zufrieden-
heit nicht abhängig von der Existenz irgend eines anderen Gegen-
standes, auch nicht von der Glückseligkeit anderer Wesen, und
setzt oder schafft das, was seine Intelligenz schaut, aber nidit als
Erscheinungen, sondern als Dinge an sich oder positive Noumena.
Gott ist intelligible Substanz und setzt oder schafft als ausser-
weltliche Ursache durch sein schauendes Wollen intelligible
Substanzen; diese erst setzen als innerweltliche Ursachen die
subjektiv idealen sinnlichen Erscheinungswelten. Den Unsterb-
lichkeitsglauben seiner zweiten Periode, nach welchem die Seelen
der Verstorbenen fortfahren, ein Geisterreich mit zeitlichen Er-
scheinungswelten, aber ohne Räumlichkeit, zu bilden, hält Kant
auch in seiner dritten Periode fest, schreibt ihm aber keine apo-
diktische Gewissheit und darum keine wissenschaftliche pliilo-
sophische Gültigkeit mehr zu, —
Seele (Ich), Welt und Gott sind offenbar weder Vernunft-
begriffe noch Kategorien, sondern hypothetische Kombinations-
begriffe. Der Begriff des Unbedingten ist mit Unrecht auf die
beiden ersteren angewendet und passt nur auf den letzten. Die
Unbedingtheit kann verstanden werden als Unbedingtheit des
Wesens, d. h. als Absolutheit oder Negation der Relativität, oder
als Unbedingtheit der Bethätigimg, d, h. als Freiheit oder Nega-
tion der kausalen Bedingtlieit, oder als Unbedingtheit der Sub-
sistenz, d. h. als Substantialität Im ersten Falle zeigt sie eine Ver-
einigung der Kategorien Negation und Relation, im zweiten eine
solche von Negation und Kausalität, im dritten Falle deckt sie
sich mit der Kategorie der Substantialität In allen drei Fällen
haben wir es nur mit den schon bekannten Kategorien zu thun,
nicht mit neu hinzutretenden. Es scheint demnach ungerecht-
fertigt, Verstandesbegriffe und Vernunft begriffe zu unterscheiden.
Kant selbst lehrt, dass die Vernunftbegriffe nur die transcendental
gebrauchten Verstandesbegriffe sind, also nichts neues darbieten.
38 Kant.
Er unterscheidet nur darum Verstand und Vernunft, Verstandes-
begrifFe und VernunftbegriflFe, weil er die ersteren auf die un-
mittelbare Erfahrung beschränkt, die letzteren über alle Erfahrung
hinausgreifen lässt.
Erstere verhelfen zu keiner Erkenntnis, weil sie die unmittel-
bare Erfahrung nicht überschreiten dürfen, letztere, weil sie nicht
an die Erfahrung anknüpfen dürfen. Beide Verbote sind gleich
unberechtigt; sie sind es, durch die Kant trotz alles Ringens
nach Erkenntnis im Agnostizismus stecken bleibt. Denn das
Gebiet der Erkenntnis fängt gerade erst da an, wo man sich
durch transcendentalen Kategoriengebrauch über die unmittelbare
Erfahrung erhebt, und hat da sein Ende, wo man sich vom em-
pirischen Boden ganz losreisst, auch auf die mittelbare An-
knüpfung an die Erfahrung verzichtet und das Denken auf eigene
Hand ins Bodenlose ausschweifen lässt. Das Transcendente, um
dessen Erkennbarkeit allein es sich handelt, spaltet sich bei Kant
in ein solches, dessen Existenz feststeht, von dessen Beschaffen-
heit aber gar nichts mehr erkennbar ist (das Ding an sich), und
in ein solches, dessen Beschaffenheit von der Vernunft a priori
bestimmt wird, dessen Existenz aber völlig problematisch bleibt
(die Vernunftideen). Ein »Dass« ohne »Was« kann aber ebenso-
wenig Erkenntnis heissen, wie ein >Was« ohne »Dass«, oder wie
die Vereinigung beider Abstraktionen. So wie man jene negativ
dogmatischen Verbote Kants missachtet, gelangt man zu einer
wirklichen Erkenntnis des Transcendenten, die »Dass« und »Wasc
zugleich bietet, aber freilich in Kants Augen wertlos ist, weil sie
nur Wahrscheinlichkeit und keine apodiktische Gewissheit besitzt
Kants Philosophie in seiner dritten Periode stellt eine Rück-
zugsposition des apriorischen Rationalismus dar, der das Feld der
theoretischen Metaphysik dem Agnostizismus preisgiebt, aber das
der praktischen Philosophie oder Moral zu behaupten sucht
Diese Halbheit findet ihren Ausdruck einerseits in dem Verbot
des transcendentalen Gebrauchs der Kategorien auf theoretischem
Gebiet und seiner Zulassung in praktischer Hinsicht, andererseits
in der Leugnung der konstitutiven und Zulassung der regulativen
Gültigkeit der so erreichten Begriffe und Grundsätze. Die dyna-
mischen Grundsätze des reinen Verstandes, die Ideen und später
auch der Zweck, sollen in theoretischer Hinsicht nur eine Negativ-
lehre oder einschränkende Disziplin der reinen Vernunft, in prak-
Kant jg
iSsMer Hinsicht aber einen positiven Kanon der reinen Vernunft
bilden» und in beiderlei Hinsicht (negativ beziehungsweise positiv)
regulativ wirken. Dagegen sollen sie keinen positiven Beitrag
zum Aufbau und der Erw^eiterung unserer Erkenntnis liefern,
also theoretisch nicht konstitutiv sein, obwohl sie den un-
zerstörbaren Schein mit sich fuhren, dass sie dies doch seien.
Diese Konstruktion erscheint äusserst erkünstelt. Was wir für
gewiss oder auch nur für wahrscheinlich halten, wird naturgemäss
motivatorisch regulativen Einfluss auf uns gewinnen; wenn aber
jemand etwas als eine vülh'g problematische leere Möglichkeit
durchschaut und doch zum Princip seines Handelns nimmt, so
ist er kein vernünftiger Mensch mehr, sondern ein Narr. Wenn
die regulativen Principien mit dem unzerstörbaren, aber falschen
Schein behaftet sind, theoretisch konstitutiv zu sein, d. h. positive
Wahrheiten zu liefern, so können sie durch diesen Schein aller-
dings auch praktisch regulativ wirken. Aber die Kritik, die das
Ulusorische dieses Scheines enthüllt, weist damit auch zugleich
ihren Anspruch darauf, regulative Principien zu sein, als einen
rein illusorischen und völlig unbegründeten nach. Wenn sie kraft
der Unzerstörbarkeit dieses falschen Scheines thatsächlich fortfahren
sollten, uns zu regulieren, so müsste doch die Kritik sich darüber
klar sein» dass wir dabei durch die illusorische Beschaffenheit
unserer Geistesorganisation zu Narren gehalten werden, —
In der Kategorienlehre der zweiten und dritten Periode
Kants fehlt gänzlich die Kategorie der FinalitÄt, die unter den
Kategorien der Relation neben der Substantialität und Kausalität
an Stelle der Wechselwirkung ihren rechten Platz finden würde.
Indem Kant das bisher Versäumte nachholt, erringt er einen
höheren Standpunkt, als er bisher eingenommen hatte, und tritt
damit in seine vierte Periode ein, die durch die Kritik der Urteils-
kraft gekennzeichnet ist. Leider fehlte es ihm an Frische und
Kraft, aus diesem höheren Gesichtspunkt seine fi^üheren Werke
noch einmal neu zu bearbeiten; er begnügte sich deshalb mit
einer Zuthat, die doch nur ein Flickwerk werden konnte.
Der Zweck ist nach Kant ein Princip mehr, die Natur-
erscheinungen unter Regeln zu bringen, und kann nicht aus der
Erfahrung gezogen w^erden; d. h, er ist eine apriorische Kategorie.
Für das Kennenlernen und Erklären wenigstens der organisierten
Wesen ist er unentbehrlich und verdient deshalb den Namen
40
Kant
einer Kategorie immer noch in objektiverem Sinne, als die Kate-
gorien der Modalität. Unter den VemunftbegriflFen schliesst er
sich am nächsten an den der Freiheit an, die Kant als das Ver-
mögen, nach Zwecken zu handeln, oder als teleologische Ver-
nunftkausalität definiert; die Verwandtschaft wäre noch enger,
wenn Kant nicht die sittliche Selbstbestimmung rein formalistisch
aufFasste und alle inhaltlichen teleologischen Rücksichten von ihr
ausschlösse. Soweit die Finalität sich auf bedingte Naturzwecke
(Organismen) bezieht, ist sie eine Kategorie des Verstandes; so-
weit sie sich auf den unbedingten Endzweck der Natur und
Vernunft richtet, ist sie eine Kategorie der Vernunft. Hiemach
sollte man meinen , dass Kant konsequenter Weise der Finalität
konstitutive Gültigkeit, ebenso wie den VerstandesbegriflFen, zu-
schreiben müsste, insoweit sie sich gleich diesen auf bedingte
Zwecke richtet, dagegen ebenso wie den Vernunftbegriffen bloss
regulative Gültigkeit, soweit sie sich auf den unbedingten Zweck
oder absoluten Endzweck der Welt richtet. Das thut aber Kant
inkonsequenter Weise nicht, sondern rückt den Zweck in Bezug
auf seine Gültigkeit ganz in die Reihe der Vernunftbegriffe, auch
da, wo er sich auf Bedingtes und Endliches bezieht. Er behauptet,
dass er immer nur regulative Gültigkeit habe, aber gleich den
Vernunftbegriffen immer den falschen Schein konstitutiver Gültig-
keit mit sich führe.
Die Finalität ist nun aber nach Kant weder eine Äusserung
des Verstandes noch der Vernunft, sondern der Urteilskraft, welche
das Verbindungsglied zwischen beiden darstellt, oder das über-
greifende Vermögen, dessen Bethätigung sich erst je nach der
Bedingtheit oder Unbedingtheit ihres Gegenstandes in Verstand
und Vernunft differenziert. So ist die Urteilskraft mit ihrer Kate-
gorie der Finalität zugleich das Bindeglied der Naturgesetz-
lichkeit und der sittlichen Weltordnung, oder der sinnlichen
und übersinnlichen Welt, oder des Reiches der mechanischen
Notwendigkeit und der geistigen Freiheit. Die Kluft zwischen
beiden erscheint Kant darum so gross, weil er die übersinnliche
Seite der Natur und die sinnliche Bedingtheit des sittlichen Han-
delns übersieht, weil er die Natur der subjektiven Erscheinungs-
welt verselbständigt und die geistige Sittlichkeit von ihrem phäno-
menalen Mutterboden losreisst. Wäre diese Absonderung richtig,
so wäre die Kluft selbst durch die Finalität nicht zu überbrücken;
Kant.
41
denn diese kann nur die reale Gesetzmässigkeit der übersinnlich
transcendenten Natur mit der sittlichen Weltordnung vermitteln.
Das Ringen um die Kategorie der Substantialität und Kau-
salität, das bis dahin den Hauptinhalt der Geschichte der Philo-
sophie ausgemacht hatte, tritt nun zurück hinter dasjenige um
die Kategorie der Finalität. Kant zuerst fasst den kühnen Ge-
danken» dass es nichts anderes als die Kategorie der Finalität sei,
durch welche in vorbewusster Weise die allgemeinen formal-
logischen Naturgesetze zu dem System der besonderen Natur-
gesetze spezifiziert werden, dass, mit anderen Worten, die Finalität
das Princip der Spezifikation sei. Allerdings versteht Kant diesen
Spezifikationsprozess der Naturgesetze noch wesentlich als einen
subjektiv idealen, lediglich im vorbewussten individuellen Geistes-
leben des einzelnen Menschen sich abspielenden, und die Schel-
lingsche Naturphilosophie ist ganz und gar die Ausführung dieses
Gedankens. Er bedarf der Berichtigung, dass diese unbewusste
teleologische Spezifikation sich nur im absoluten Denken, also in
einer durchaus supraindividuellen, transcendenten Sphäre voll-
ziehen kann, ebenso wie die Determination der Zeitverhältnisse
durch die Kausalität erst durch die Verlegung ihres Schauplatzes
aus dem individuellen ins absolute Denken zur Wahrheit wird.
Zu dieser Berichtigung gelangte aber die Naturphilosophie mit der
Zeit ganz von selbst, indem sie gerade die Fesseln des erkenntnis-
theoretischen subjektiven Idealismus sprengte und ihn in einen
metaphysischen absoluten Idealismus umwandelte. Kant wird für
immer das Verdienst behalten, als der erste darauf hingewiesen
zu haben, dass die Finalität die höchste aller Kategorien des
Weltprozesses ist, durch die allein die Einheit der natürlichen
und sittlichen Weltordnung verständlich wird.
Kant fasst die schöne Kunst und die zweckmässige Organi-
sation der Natur unter dem Ausdruck Technicism zusammen;
so kommt es, dass er die organische Naturphilosophie mit der
Ästhetik in ein Buch vereinigt, zirnial er den Begriff des Schönen
auf eine bloss eingebildete und im Objekte gar nicht vorhandene
Zweckmässigkeit stützt. Die teleologische Urteilskraft ist ent-
weder bestimmend, wenn sie in deduktiver Weise von oben
herunter aus einem apodiktisch gewissen Allgemeinen das Be-
sondere mit logischer Gewissheit ableitet; oder sie ist reflek-
tierend, wenn sie in induktiver Weise von unten hinauf aus
42
Kant.
dem Besonderen über die mögliche Beschaffenheit des All-
gemeinen Betrachtungen anstellt. Die reflektierende Urteilskraft
könnte Wahrscheinlichkeiten liefern, aber diese verachtet Kant
nun einmal schlechterdings; vom Standpunkt des apriorischen
Rationalismus kann der Induktion nur die Bedeutung einer
schlechthin problematischen Reflexion beigemessen werden, durch
welche über die Beschaffenheit des Objekts gar nichts ausgemacht
wird. Da es nun auf dem Gebiete der theoretischen Erkenntnis
offenbar keine allgemeinen Obersätze giebt, aus denen teleolo-
gische Deduktionen des Besonderen möglich wären, sondern alle
teleologischen Deduktionen sich auf induktiv gewonnene Ober-
sätze stützen müssen, so bleibt natürlich für die Finalität auf
theoretischem Gebiet keine konstitutive Bedeutung übrig. Es ist
aber wohl zu beachten, dass dies nur richtig ist, wenn Erkenntnis
mit apodiktisch gewisser Erkenntnis a priori gleichgesetzt und
alle bloss wahrscheinliche, induktive Erkenntnis verächtlich bei-
seite geschoben wird. —
Hiernach ist zu ermessen, was von der so oft wiederholten
Behauptung zu halten ist, dass Kant die Unbrauchbarkeit der
Finalität als Erkenntnisprincip ein für allemal nachgewiesen
habe. Kant betrachtet Mechanismus und Teleologie zunächst als
gleichberechtigte Principien, die beide gleichermassen entweder
bloss regulativ oder bloss konstitutiv sein müssen. In der Ph3rsik
allerdings ist der Mechanismus alleiniges Erklärungsprincip und
die Teleologie bloss heuristisches Hilfsprincip ; in der Metaphysik
aber kehrt sich das Verhältnis um. Hier ist nach Kant der
Mechanismus der Teleologie untergeordnet, wie das mechanische
Mittel dem beabsichtigten Zweck; der Mechanismus ist hier ein
bloss vorläufiges, untergeordnetes Erklärungsverfahren, über dem
sich die Teleologie als das höhere endgültige Verständnis des
Zusammenhanges erheben muss. Bloss regulativ sind beide,
ebenso wie beide bloss subjektive Gültigkeit haben und uns
nichts über die Beschaffenheit der Dinge an sich lehren können.
Die antiteleologischen Anhänger der mechanistischen Welt-
anschauung sehen an Kant nur das, was ihnen passt, aber nicht,
dass sie mit in die Luft fliegen, wenn er recht hat, und dass die
Begründung für beides bei Kant mit einander steht und fällt
Die Wolffsche Schule hatte das Zweckmässige in der Natiur
nur als das für die beschränkten Zwecke des menschlichen Be-
Kanu
45
wusstseins Dienliche und Nützliche aufgefasst; von diesem banau-
sischen UtiHtarismus befreit Kant die Teleologie, indem er die
Naturzweckmässigkeit nur als innere gelten lässt. Innere Zweck-
mässigkeit findet Kant da, wo die Teile ihrem Dasein und ihrer
Form nach nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich
sind» und wo das Ganze sich durch Wechselwirkung seiner Teile
erhält Solche Teile eines Ganzen sind die Organe eines Orga-
nismus; der Organismus ist die reale Wirkung und die ideale
Ursache seiner selbst. Auch die Natur als Ganzes ist ein Organis-
mus oder ein .^System nach der Regel der Zwecke*; aber Kant
verkennt die Zwischenglieder zwisciien dem Naturganzen und
den Einzelindividuen, weil ihm die Relativität des Individualitäts-
begriffes und der schon von Spinoza und Leibniz durchschaute
Stufenbau der ineinander geschachtelten Individualitäten fremd
ist. Er übersieht deshalb auch, dass dieselben Beziehungen
zwischen mehreren Individuen niederer Ordnung» die für diese
Individuen äussere sind, für die sie umspannende Individualitäts-
stufe zur inneren Beziehung wird und deshalb unter den Begriff
der inneren Zweckmässigkeit fallen kann. Nur in Bezug auf die
Natur als Ganzes lässt er die innere Zweckmässigkeit aller Teile
gelten, sofern sie als Glieder der einheitlichen Gesamtnatur be-
trachtet werden.
Die Hoffnung der Materialisten und Mechanisten, jemals
durch bloss mechanische Erklärungen auch nur die Entstehung
eines Grashalms erklären zu können, nennt Kant ungereimt, weil
es unmöglich ist, den blinden Zufall zum Erklärungsgrunde des
Zweckmässigen zu machen, oder die Einheit des Organischen aus
den äusserlichen Beziehungen eines Aggregates von substantiell
getrennten materiellen Elementen abzuleiten, gleichviel ob man
diese im Sinne des Materialismus für leblos, oder im Sinne des
Hylozoismus für lebendig hält Dies ist Kants eigentliche
Meinung; der Analogie zu Liebe konstruiert er aber auch hier
eine Antinomie, Die Thesis behauptet mit Recht, dass alles ver-
mittelst mechanischer Gesetzmässigkeit zustande kommt und
nichts ohne sie, die Antithesis. dass einiges nur unter Mitwirkung
noch anderer Principien zustande komme* Beides widerspricht
sich gar nicht, sondern macht erst vereint die volle Wahrheit aus.
Die Thesis hat aber unrecht, wenn sie die bloss mechanische
Gesetzmässigkeit allein überall für ausreichend erklärt, und nur
A± Kant.
mit dieser falschen Behauptung steht sie mit der Antithesis im
Widerspruch. Wäre bei richtiger Deutung der absichtlich unklar
gefassten Thesis ein Widerspruch vorhanden, so würde er durch
Beschränkung beider Seiten auf bloss regulative Gültigkeit nicht
gehoben, sondern nur aus der Aussenwelt in die Organisation
unseres Geistes hinübergeschoben, also noch verschärft. Da kein
Widerspruch vorhanden ist, so kann auch aus ihm nichts gegen
die konstitutive Gültigkeit beider Seiten gefolgert werden. Kant
selbst kehrt sich an sein Verbot eines konstitutiven Gebrauchs
der Finalität ebensowenig, wie an sein Verbot eines transcenden-
talen Gebrauchs der Kausalität und Substantialität.
Wenn nun auch Mechanismus und Teleologie einander nicht
widersprechen, so bleiben sie doch für unseren Verstand disparate
Betrachtungsweisen, die nicht gleichzeitig, sondern nur nach ein-
ander anzuwenden sind, und von denen keine in die andere über-
greifen darf. Ihre Vereinigung in einem Zeitpunkt ist, obwohl
nicht widersprechend, doch thatsächlich unvollziehbar in einem
diskursiven, abbildlichen Verstände, für den BegrüF und An-
schauung, Mögliches und Wirkliches, Teile und Ganzes, Beson-
deres und Allgemeines, reale und ideale, kausale und finale Ver-
knüpfung auseinanderfallen. Gäbe es einen intuitiven, urbildlichen
Verstand, der alles ideell Gesetzte zugleich auch realisierte, oder
eine intellektuelle Anschauung, die das schauend Gedachte eo ipso
schüfe, dann läge für ihn kein Hindernis vor, auch Kausalität und
Finalität ineinander zu denken. In der subjektiv phänomenalen
Stoffwelt kann freilich ein solcher Verstand ebensowenig gesucht
werden, wie in ihrem intelligiblen Korrelat, der Welt der dyna-
mischen Atome und Individualgeister. Den Spinozismus, der
gerade diesen Verstand seiner Substanz zuschreibt, kennt Kant
so wenig, dass er glaubt, derselbe nehme dem Urgründe der
Naturdinge allen Verstand weg. Kant vermag sich einen solchen
intuitiven Verstand nur in einem persönlichen Gott als ausser-
weltlichem Weltgrunde zu denken. In seiner zweiten Periode
nimmt er ihn als gewiss an; in seiner dritten Periode wird da-
gegen die Existenz desselben völlig problematisch, weil er sie als
apodiktisch gewiss nicht mehr aufrecht erhalten kann und als
bloss wahrscheinlich missachtet. Die Idee des intuitiven Ver-
standes bleibt aber auch da noch bestehen als Princip der Ver-
einigung von Kausalität und Teleologie, und sie giebt die beste
Kanu
45
Ausführung für die auf die moralischen Postulate gestützte Idee
Gottes. —
Wenn irgendwo, so hätte Kant der Finalität eine bloss
regulative Bedeutung da zuschreiben müssen, wo sie auf das
Unbedingte angewendet wird, wo es sich um den absoluten End-
zweck des Weltdaseins und Weltprozesses handelt; wenn irgend-
wo, wäre hier eine skeptische Selbstbescheidung und ein Verzicht
auf den transcendentalen Gebrauch dieser Kategorie am Platze
gewesen. Aber gerade über den Endzweck äussert Kant sich
mit voller Entschiedenheit Er lehnt es ab, ihn in der Glück-
seligkeit oder Selbstbespiegelung zu suchen, und findet ihn aus-
schliesslich in der Moralität der vernünftigen Geschöpfe. Diese
sind bei dem durchaus formalistischen Charakter der Kantschen
Moral bloss dazu da, sich formell korrekt zu benehmen in einer
Welt, die nur dazu da ist, dass Geschöpfe sich formell korrekt
in ihr benehmen können. Das Anstössige dieses leeren Zirkels
sucht er schliesslich doch wieder dadurch zu umgehen, dass er
für das Jenseits die Harmonie von Glück Würdigkeit und Glück-
seUgkeit postuliert, also die Glückseligkeit doch wieder als ein-
zige Erfüllung in den formalistischen leeren Endzweck der Welt
hereinzieht. Hätte er die sittliche Selbstbestimmung als eine zu-
gleich inhaltlich teleologische aufgefasst» so hätte der Stufenbau
der sitthchen Zwecke ihn ganz von selbst zu einem übersittlichen
Endzweck geführt, wie der Stufenbau der natürlichen Zwecke in
einen übernatürlichen Endzweck mündet, freilich nur induktiv,
d. h, mit blosser Wahrscheinlichkeit, da zur Deduktion der ge-
setzmässigen teleologischen Weltordnung der menschliche Ver-
stand auf dem sittlichen Gebiete ebenso unfähig ist, wie auf dem
natürlichen, —
Jedenfalls hat Kant das Verdienst, in seiner vierten Periode
als der erste die Kategorie der Finalität zu einer universellen
Kategorie erhoben und durch die Proklamierung ihrer Einheit
mit der Kategorie der Kausalität im göttlichen Verstand und in
der durch ihn produzierten Welt dem BegriflF der universellen
Entwickelung die ihm bis dahin fehlende philosophische Grund-
lage gegeben zu haben. Gegen diese grossartige Leistung treten
alle Mängel in den Hintergrund» die seiner eigentümlichen
Fassung der Finalitätskategorie noch anhaften. Erst Hegel
konnte das Werk vollenden, das Kants vierte Periode seinen
46 Kaot.
Nachfolgern als wichtigste Aufgabe hinterlassen hatte. Dadurch
aber, dass Kant an dem apriorischen Rationalismus festhielt, ihn
bloss auf das subjektiv phänomenale Gebiet hinüberspielte und
fortfuhr, alle Wahrscheinlichkeit von der Philosophie auszu-
schliessen, brachte er die philosophische Entwickelung in Deutsch-
land für längere Zeit in eine schiefe Bahn, die schliesslich mit
einem Zusammenbruch der ganzen so geführten Spekulation
enden musste.
Seine Nachfolger befanden sich in dem Glauben, dass durch
Kant die Erkenntnistheorie ein für allemal ihre Erledigung ge-
funden habe, dass durch ihn der transcendentale Idealismus in
unerschütterlicher Weise begründet sei, und dass es nun bloss
noch sich darum handeln könne, auf dieser erkenntnistheoretischen
Grundlage die richtige Metaphysik zu errichten. Erst als nach
dem Zusammenbruch der so entstandenen spekulativen Systeme
der Materialismus sich breit machte, griff man auf Kants Er-
kenntnistheorie zurück, um den Materialismus durch den trans-
cendentalen Idealismus zu widerlegen und sich an Kant neu zu
orientieren (F. A. Lange). Dabei zeigte sich dann aber alsbald,
dass die Kantsche Grundlegung der Erkenntnistheorie durchaus
nicht so klar, in sich geschlossen und zweifelfrei war, wie man
bis dahin angenommen hatte. Im Gegenteil bröckelte der so er-
wachsende Neukantianismus in zahllose verschiedene Richtungen
und Nuancen auseinander, von denen jede behauptete, allein das
wahre Verständnis Kants zu besitzen.
Daraus hätte man vor allen Dingen das eine geschichtliche
Ergebnis ziehen sollen, dass Kant die gesuchte Grundlegung der
Erkenntnistheorie jedenfalls noch nicht in deutlicher und zweifel-
loser Weise geliefert hatte, dass sie vielmehr unter Benutzung
der Kantschen Anregungen erst neu zu beschaffen seL Man
hätte zweitens daraus entnehmen sollen, dass die Kantsche Lehre,
über deren Irrgänge sich nicht einmal die Neukantianer zu einigen
vermochten, welche ihr Studium zu ihrer Lebensaufgabe gemacht
hatten, am allerwenigsten für geeignet gelten könne, unreife
Jünglinge in das Studium der Philosophie einzuführen, wie dies
leider heute üblich ist.
Die sonstigen Verdienste Kants auf anderen Gebieten ge-
hören nicht in die Geschichte der Metaphysik. Hier sei nur er-
wähnt, dass er der Begründer der modernen Axiologie, der Vater
Kant.
47
des modernen Pessimismus, der Erlöser der Moral aus den Banden
des Eudämonismus, in denen sie seit der Renaissance geschmachtet
hatte, der Urheber der wissenschaftlichen modernen Ästhetik
und ein Naturforscher war, der seinen Namen durch unvergäng-
liche Leistungen in die Geschichte der Naturwissenschaften ein-
gezeichnet hat.*}
Zum Schlu&s gebe ich eine Zusammenstellung aller bei Kant
vorkommenden Kategorien im weiteren Sinne.
I. Die Kategorien der Sinnlichkeit oder die reinen An-
schauungsformen.
1. Die einfachen:
a. Die Form des inneren Sinnes:
Zeitlichkeit,
b. Die Form des äusseren Sinnes:
Räumlichkeit.
2, Die zusammengesetzten:
Verändenmg, Bewegung.
IL Die Kategorien des Verstandes oder die reinen
VerstandesbegriflFe.
1. Die mathematischen:
a, Quantität (Bcgriffsumfang);
Einheit, Vielheit, Allheit
b. Qualität (Vorzeichen):
Realität, Negation, Limitation.
2. Die dynamischen:
a. Relation:
Substanz, Kausalität, Wechselwirkung.
b. Modalität:
Möglichkeit und Unmöglichkeit, Dasein und Nichtsein,
Notwendigkeit und Zufälligkeit.
•) VergL Kants Erkenotxustbeorie und Metaphysik in den vier Perioden ihrer
Entwickcltiug. — Kritische Grimdlegimg des transcendentAlen Realismus. 5. Anfl. —
Zar Geschichte und Begründung des Pessimismns . 2. Aufl., S. 29 — 137. — PhiL
Fragen dct Gegenwart, S. 112 — 120. — Uns sittHche Bewusstsein* 2. Aufl. /siehe
Register unter Kant)* — Die deutsche Ästhetik seit Kant, S» i — 27, — Gesammelte
Studien und Aufsätze, 3. Aufl«, S. 526 — 529. — Nenkantianisnins, Schopenhauenaois-
nw« und Hegelianismus, S. ij^ig, 45 -ti8. ^ — Phil. Fragen der Gegenwart, S. 244 — 260.
— Prcuss. Jahrbücher, 1893, Heft 2, S. 340—346.
48
Kant.
in. Die Schemata oder die aus reinen VerstandesbegxifFen
und Zeitlichkeit zusammengesetzten Kategorien.
1. Die mathematischen:
a. Zeitliche Einheit, Vielheit, Allheit.
b. Zeitliche Realität, Negation, Limitation.
2. Die dynamischen:
a. Zeitliche Substantialität, Kausalität, Wechselwirkung.
b. Zeitliche Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit.
rV. Die reinen Reflexionsbegriffe.
1. Diejenigen, aus denen die mathematischen Urteilsformen
entspringen:
a. Diejenigen, aus denen der Urteilsumfang entspringt:
Einerleiheit (Ursprung der allgemeinen Urteile),
Verschiedenheit (Urspnmg der besonderen Urteile).
b. Diejenigen, aus denen die Urteilsqualität entspringt:
Einstimmung (Ursprung der bejahenden Urteile),
Widerstreit (Ursprung der verneinenden Urteile).
2. Sonstige Reflexionsbegriffe:
a. Inneres und Äusseres.
b. Bestimmbares und Bestimmung (Materie und Form).
V. Die reinen Vernunftbegriffe oder Ideen.
1. Das Unbedingte im Subjekt (Idee der Seele).
2. Das Unbedingte in einer Reihe (Idee der Welt).
3. Das Unbedingte im System (Idee Gottes).
VI. Die Kategorie der Urteilskraft.
Die Finalität.
VII. Die Prädikabilien a priori oder die abgeleiteten reinen
Verstandesbegriffe :
Kraft, Handlung, Leiden, Gegenwart, Widerstand, Entstehen,
Vergehen u. s. w.
ReinhoM.
2. Die Kantsche Schule.
49
Die Kantsche Schule bemühte sich in erkenntnistheoretischer
Hinsicht, die Widersprüche in der Lehre Kants über die Gel tun gs-
'sphäre der Kategorien zu erkennen und zu beseitigen, in
metaphysischer Hinsicht die Vielheit der Vermögen und die
Mannigfaltigkeit der Kategorien auf ein möglichst einheitliches
Grundvermögen und möglichst einfache Urkategorien zurück-
zuführen. Die entscheidenden Veröffentlichungen erfolgten in
dieser Ordnung: Reiohold 1789, SchuUc 1792, Maimon 1790^1797,
Beck 1796, Bardili 1798 und iBoo» Bouterwek 1799, Krug 1801,
Fries 1807. Deshalb sind sie hier in dieser Reihenfolge erörtert
ie Bedeutung dieser ganzen Schule tritt sehr gegen den Einen
'Fichte zurück, dessen massgebende Veröffentlichungen 1894— 1897
erfolgten; sie ist deshalb auch hier nur ganz kurz behandelt
Einen Einfluss auf die Ent Wickelung nach Fichte hat wohl nur
Bouterwek gewonnen, und zwar dadurch, dass er Schopenhauer
eine Anregung mehr zur Gewinnung seines Princips gab.
I. Reinhold (1758—1823). Reinhold ging von dem Bestreben
aus, ebensowohl die Vielheit der Kantschen Kategorien aus ein-
fachen Urkategorien abzuleiten, wie die Vielheit der Kantschen
intellektuellen Vermögen aus der Einfachheit des Vorstellungs-
vermögens. In der Art dieser Ableitung schloss er sich auf das
'engste an die von Kant gegebenen, aber nicht benutzten An-
deutungen an. Die vier letzten Reflexionsbegriffe spielen schon
?i Kant eine grössere Rolle, als er ihnen ausdrücklich zugesteht;
Leinhold brauchte sie nur ans Licht zu stellen, Stoff und Form,
die bei Aristoteles die praktisch wichtigsten Kategorien in der
Sphäre der realen Existenz gewiesen w^aren, werden nun zu den
Urkategorien in der Sphäre der idealen Vorstellung. Die Vor-
stellung gilt jetzt als eine Einheit von Stoff und Form, wie es
bei Aristoteles das Ding gewesen war. Der Stoff in der Vor-
stellung entspricht dem vorgestellten Objekt die Form dem vor-
stellenden Subjekt. Der Stoff ist durch Affektion gegeben und
durch Rezeptivität aufgenommen; die Form ist durch Spontaneität
hervorgebracht Der Stoff der Vorstellung fällt nicht mit dem
Gegenstande zusammen, denn er ändert sich oft, während der
Gegenstand derselbe bleibt
Erfolgt die Affektion der Rezeptivität von aussen, so ist der
E.V. Hart raa DO, Auiigew. Werke. Bd. XU. 4
50
Reinhold.
Stoff objektiv, erfolget sie von innen, so ist er subjektiv. Auch
diese Unterscheidung ist ganz kantisch; es tritt also nun das
letzte Paar der ReflexionsbegrifFe hinzu, um objektiven und sub-
jektiven Stoff zu unterscheiden. Natürlich ist das Äussere und
Innere hier nicht räumlich zu verstehen; das äussere Affizierende
ist vielmehr das unräumliche Ding an sich, und das innere Affi-
zierende ist das unräumliche Subjekt Ist das Affizierende das
Vorstellungsvermögen selbst, so ist der Stoff a priori oder rein;
ist es nicht das Vorstellungsvermögen selbst, so ist er a posteriori
oder empirisch. Der objektive empirische Stoff der Vorstellung
ist das, was Kant die vom Dinge an sich gegebene Materie der
Empfindung (oder Wahrnehmung) nennt; ihm steht die synthetische
Intellektualfunktion oder die transcendentale Synthesis der Apper-
zeption als Form gegenüber, und beider Ursprung verhält sich
zugleich wie Äusseres und Inneres (Ding an sich und Subjekt).
Indem die synthetische Intellektualfunktion formierend an
den von aussen gegebenen Stoff herantritt, erhebt sie ihn zum
geformten Stoff. Diese Erhebung vollzieht sich aber stufenweise,
und auf jeder höheren Stufe wird dasjenige zum Stoff einer neuen
Formierung, was auf der niederen Stufe bereits geformter Stoff
oder Einheit von Stoff und Form war. So erweist sich der
Gegensatz von Stoff und Form als ein relativer, der auf ver-
schiedenen Stufen in höherer Potenz wiederkehrt; was auf der
niederen Stufe dem Stoff als Form gegenüber stand, fällt auf der
höheren Stufe mit auf die Seite des Stoffs. Auf der untersten
Stufe wird, wie schon Kant es gelehrt hat, der sinnliche Stoff in
räumlicher und zeitlicher Form apprehendiert und dadurch zur
Empfindung und Anschauung formiert. Auf der zweiten Stufe
wird die Empfindung und Anschauung durch verstandesmässige
Verknüpfung und Unterscheidung vermittelst der Kategorien und
Urteile in Begriffe formiert. Auf der dritten Stufe werden die
reinen Verstandesbegriffe zu Ideen formiert. Auf allen Stufen
giebt der Stoff das Mannigfaltige, das durch die Form zur neuen
höheren Einheit verknüpft wird.
Stoff der Anschauung ist der von aussen gegebene sinnliche
Rohstoff; Stoff der Begriffe sind die Anschauungen, Stoff der
Ideen die Kategorien als die von innen gegebenen Begriffe a priori.
Form auf der Stufe der Anschauung ist die Zusammenfassung
des mannigfaltigen Rohstoffs zur räumlich zeitlichen Einheit;
Rdnhold.
5^
Form auf der Stufe des Begriffs ist die Zusammenfassung des
mannig^fachen Anschaiiungsstoffs zur kategorialen Einheit; Form
auf der Stufe der Idee ist die Zusammenfassung des mannig-
faltigen Kategorienstoffes zur unbedingten Einheit. Im Urteil
sind ebenfalls die Begriffe Stoff und Form massgebend, die hier
als logische auftreten; logischer Stoff des Urteils ist das Subjekt,
logische Form das Prädikat, und beider Einheit ist das Urteil.
Diese Einheit kann entweder in Rücksicht auf das Subjekt, oder
auf das Prädikat, oder auf beide zusammen oder auf das Bewusst-
sein verstanden werden; daraus ergeben sich die Unterschiede
der Quantität, Qualität, Relation und Modalität der Urteile und
die ihnen nach Kant entsprechenden Kategorien.
Im einzelnen ist dieser Ableitungsversuch sehr willkürlich
und gewaltsam ausgefallen» indem die drei Quantitätskategorien
(Einheit, Viellieit, Allheit) der Reihe nach an die vier Beziehungs-
■ punkte (Subjekt, Prädikat, Einheit beider» und urteilendes Bewusst-
sein) angelegt werden. In Bezug auf das Subjekt bleiben sie, was
»sie sind. In Bezug auf das Prädikat wird Einheit in Bejahung,
Vielheit in Verschiedenheit oder Verneinung, Allheit in gegen-
seitige Einschränkung der umspannten Glieder umgedeutet. In
Bezug auf die Einheit von Subjekt und Objekt wird die Einheit
als substantielle Einheit des Gegenstandes, die Vielheit als kausale
Verknüpfung, die Allheit als allgemeine Gemeinschaft ausgelegt*
In Bezug auf das urteilende Bewusstsem wird die Wirklichkeit
und Möglichkeit willkürlich mit der Einheit und Vielheit paralleli-
siert, die Allheit als Urteil jedes Bewusstseins oder Apodiktizität
gedeutet.
Die Ideen leitet Reinhold aus den vier Kategorien ab, die in
jeder Gruppe das erste Paar in sich zusammenfassen, d. K aus
der Allheit, Limitation, Gemeinschaft und Notwendigkeit, indem
er sie in die Sphäre des Unbedingten erhebt. So gewinnt er die
unbedingte Totalität, die Grenzenlosigkeit, das Allumfassende und
die absolute Notwendigkeit Hieraus sucht er dann weiter die
Gesetze der Homogeneität, Spezifikation und Formenkontinuität
abzuleiten. Die Erhebung der objektiven Einheit von Stoff und
Form, oder Subjekt und Prädikat des Urteils, zur absoluten
soll endlich bewirken, dass die drei Kategorien der Relation,
welche dieser objektiven Einheit entsprechen, in der Sphäre
der Idee selbst zur absoluten Einheit emporsteigen, d, h, zu dem
4*
52
Schulze. — Maimon.
absoluten Subjekt, der absoluten Ursache und der absoluten
Gemeinschaft. —
2. Schulze (1761— 1833). Schulze hat für die Kateg-orien-
lehre wenig gethan, weil er sich wesentlich skeptisch verhält
Bemerkenswert ist jedoch, dass er den beiden ersten Kantschen
ReflexionsbegrifFen, Einerleiheit und Verschiedenheit, wieder mehr
Bedeutung zuschreibt, indem er sagt, dass durch sie überhaupt
Mannigfaltigkeit zur Einheit zurückgeführt werde. Gerade bei
den sinnlichen Anschauungsformen betont er diese logische
Grundlage, um derentwillen die Sinnlichkeit als ein unvollstän-
diger Verstand erscheint. Raum und Zeit sind sinnliche Vor-
stellungen der Verschiedenheit, oder (logische) Verschiedenheit als
Aussereinander und Nacheinander vorgestellt, und zugleich sinn-
liche Formen für die Zusammenfassung des Verschiedenen zur Ein-
heit auf Gnmd der (logischen) Einerleiheit des Verschiedenen. Den
Widerspruch zwischen Kants Verbot eines transcendentalen Kate-
goriengebrauchs und der Ableitung des Dinges an sich aus der
transcendenten Kausalität seines Affizierens betonte er nach-
drücklich. —
3. Maimon (1754 — 1800). Wenn Jacobi und Schulze (Aene-
sidemus) recht hatten, so konnte das Verbot eines transcendentalen
Gebrauchs der Kategorien nicht zusammen bestehen mit der Be-
hauptung, dass viele existierende reale Dinge an sich den StoflF
der Empfindung durch Affizieren der sinnlichen Rezeptivität
geben. Eines von beiden musste fallen. Die Absicht der deut-
schen Philosophie ging dahin, den Rationalismus als apodiktischen
Urteilsapriorismus aufrecht zu erhalten und sicher zu stellen;
durch diese Absicht war Kant zum transcendentalen Idealismus
hingeführt worden, und dieser Absicht konnte nur Genüge ge-
schehen, wenn das Fundament des transcendentalen Idealismus,
d. h. das Verbot des transcendentalen Gebrauchs der Kategorien
festgehalten und reiner als von Kant durchgeführt wurde. Es
musste versucht werden, wie weit auf diesem Wege zu gelangen
sei, ehe man einen anderen beschreiten durfte. Dazu gehörte
aber vor allem die Ausscheidung des Dinges an sich und seiner
transcendenten Kausalität auf die Rezeptivität; mit ihnen fiel der
Gegensatz des Äusseren und Inneren im transcendenten Sinne
fort, und der sinnliche Rohstoff musste aufhören, als ein von
aussen gegebener zu gelten. Stoff und Form mussten nicht nur,
^[ainion.
53
wie bei Reinhold, als ein innerhalb des Bewiisstseins fa-Uender,
sondern auch als ein ausschliesslich von innen bedingter und be-
wirkter Gegensatz gefasst werden. Wenn Stoff doch nur ein rela-
tiver BegriflF ist in den die Form einer niederen Stufe mit eingeht,
so kann er auch ganz durch intellektuelle Thätigkeit von innen,
durch vorbewusste SelbstafFektion gegeben sein. Dann erst wird
die Intellektualfunktion alles in allem, wenn ihr Gegenstück, das
Ding an sich, hinwegfällt.
Dieser Standpunkt tritt zuerst bei Maimon auf. Zwar hält
auch Maimon ebenso wie Reinhold an der Untrennbarkeit von
Bewusstsein und Vorstellung fest» aber er lehrt die Unbewusst-
heit der Spontaneität des Setzens, durch die das Gesetzte scheinbar
zum Gegebenen wird. Auch diese Unbewusstheit der Spontaneität
versteht er nur im Sinne der Leibnizschen petites perceptions als
dunkle» unklare Vorstellung von geringerem Bewiisstseinsgrade, die
sich zuletzt in lauter Differentiale verhert. Die Unerkennbarkeit
dieser Bewusstseinsdifferentiale, die alle Erfahrung zu einer
irrationalen Reihe machen, tritt bei Maimon an die Stelle der
Unerkennbarkeit des Dinges an sich. Rational ist nur die ihren
Stoff mit dem Bewusstsein der Spontaneität erzeugende Er-
kenntnisthätigkeit, das synthetische mathematische Denken, das
Maimon zugleich als das reelle Denken bezeichnet (während wir
jetzt es bloss als ein formales gelten lassen).
Der rein subjektive Stoff und die ebenso subjektive Form,
oder Subjekt und Prädikat, werden nun durch Maimon zu rein
logischen Abstraktionen ausgehöhlt, wenn nicht gar zu gramma-
tikalischen Schematen ausgedörrt. Sie verhalten sich wie Be-
stimmbares und Bestimmung; das erstere kann ohne die letztere
im Bewusstsein sein, aber nicht umgekehrt, wenn nicht das
Denken entweder bloss willkürlich oder bloss formell sein soll.
Der Grundsatz der (einseitigen) Bestimmbarkeit ist das Grund-
gesetz, nach welchem das -reelle Denken verfährt; aus ihm, als
aus dem transcendentalen Verhältnis, werden nun die sämtlichen
Kategorien abgeleitet. Von den Urteilsformen lässt Maimon nur
die der Qualität gelten; die Urteile der Quantität verwirft er als
abgekürzte Schlüsse, Von den Urteilen der Relation lässt er nur
das kategorische bestehen, das ihm mit dem Urteil der Qualität
zusammenfällt; von den Urteilen der Modalität nur das apodik-
tische. Das assertorische Urteil wird als nicht logisch, sondern
54
Beck.
empirisch ausgeschieden; das apodiktische Urteil besagt, dass das
Subjekt die notwendige Voraussetzung des Prädikats ist, das
problematische besaget ebenso apodiktisch, dass das Prädikat die
mögliche Bestimmung des Subjekts ist.
Die Deduktion der Kategorien aus dem Grundsatze der Be-
stimmbarkeit ist nicht minder gewaltsam wie bei Reinhold. Das
bestimmbare Subjekt vertritt die Einheit, die prädikativischen
Bestimmungen die Vielheit, die Gesamtheit der Bestimmungen
eines Subjekts die Allheit. Jedem Subjekt kommt eins von allen
möglichen Prädikaten oder sein Gegenteil zu (Realität, Negation);
objektive Realität haben aber nur die dem Grundsatze der Be-
stimmbarkeit gemässen Bestimmungen. Bestimmbares und Be-
stimmung verhalten sich wie Substanz und Accidens. Die Kau-
salität ist wie bei Kant die Bestimmung der Zeitfolge, durch
welche erst die Mannigfaltigkeit vorstellbar w^erden soll. Die
gesetzte Bestimmung ergiebt die Wirklichkeit, während Möglich-
keit und Notwendigkeit aus dem Verhältnis von Subjekt und
Prädikat ebenso wie bei den Urteilen folgen. —
4. Beck (1761 — 1842). Beck verwirft ebenso wie Maimon
das Ding an sich,- will aber im Gegensatz zu diesem nicht
Kritiker, sondern Ausleger der Kantschen Philosophie sein, die
er als erster rein und einseitig im idealistischen Sinne deutet
Die Dinge wirken nach ihm nicht wirkUch auf uns, was sie als
unsere blosse Vorstellungen gar nicht können, sondern sie werden
von uns nur so angeschaut, als ob sie auf uns wirkten. Ihre
Kausalität wird zur blossen Einbildung. Das ursprüngliche Vor-
stellen ist eine Thätigkeit, die man vollziehen muss, um sie
kennen zu lernen, aber nicht eine Thatsache, die uns ohne solche
eigene Thätigkeit gegeben wäre. Das ursprüngliche Vorstellen
ist die synthetische Funktion des transcendentalen Verstandes,
giebt aber als solche noch kein Objekt. Damit eine objektiv-
synthetische Einheit zustande kommt, muss eine das Vorstellen
festmachende oder fixierende Anerkennung, eine Subsumtion des
Gegenstandes unter einen Begriff hinzutreten, welche Sache der
transcendentalen Urteilskraft ist So ist z. B. das ursprüngliche
Vorstellen zunächst als Synthesis des Gleichartigen extensiv-
räumliches Anschauen, das als fortlaufendes zugleich zeitlich ist;
ein Produkt aber liefert es erst durch eine Fixierung in be-
stimmter Zeit, und dieses ist dann Figur oder Gestalt Während
Bardili,
55
in dieser ersten Synthesis die Teile dem Ganzen vorausgehen, ist
es in der zweiten umgekehrt; wie die erste extensiv -räumliches
Anschauen (Grösse) ist, so die zweite empirisches Anschauen
(Sachheit oder Realität), und ihre Fixierung liefert die intensive
GrTösse oder den Grad der Empfindung. Auch diese zweite Syn-
thesis ist ebenso wie die erste zeithch; der zeitliche Wechsel ist
aber niu- vorstellbar durch Anknüpfung an eine beharrliche Sub-
stanz und bestimmbar nur durch Kausalität.
Beck schliesst sich ersichtlich eng an Kants Darlegungen
in den Grundsätzen des reinen Verstandes an und sucht in ahn-
lieber Weise auch die übrigen Kategorien aus dem Gegensatz-
paar des ursprünglichen Vorstellens und seiner Fixierung ab-
zuleiten, die demnach als seine Urkategorien zu bezeichnen sind.
Die Untren nbarkeit des Bewusstseins von dem ursprünglichen
Vorstellen und Fixieren hält auch Beck fest, obwohl er diese
ursprünglich objektiv -synthetische Funktion, durch welche die
Gegenständlichkeit erst erzeugt wird, streng sondert von der
analytischen Intellektualfunktion, durch welche Gegenstände
unter Begriffen gedacht werden*
5. Bardili (1761 — 1Ö08). Bardili greift auf die Schulzesche
Lnregung zurück, nach welcher die Reflexionsbegriffe der Einer-
leiheit und Verschiedenheit als die Urformen der synthetischen
Intellektualfunktion» d, h. als die Urkategorien zu betrachten
wären. Der Begriff ist das Identische in den mannigfachen Vor-
stellungen; die allgemeinste Form des Urteils ist die Identität,
die sich in der Verknüpfung durch die Kopula ausdrückt. Sache
des Denkens (Begriffbüdens, Urteilens und Schliesseos) ist es,
den Stoff als solchen zu vernichten und in Form aufzulösen; das
Denken braucht Stoff zum gedanklichen Verknüpfen, aber im
Verknüpfen hebt es ihn als Stoff auf, indem es ihn zu etwas Un-
wesentlichem herabsetzt und die Form als das Wesentliche er-
kennt. So wird das Identitätsgesetz oder der Satz vom Wider-
spruch aus einem blossen Merkmal der formellen Richtigkeit
zum Hauptschlüssel für die Beurteilung des Wahren und Reellen
an unserer Erkenntnis. Es ist dies eine ganz strenge und not-
wendige Folgerung aus dem Standpunkt des Rationalismus und
apodiktischen Urteilsapriorismus, die so lange gelten muss, wie
der Satz vom Widerspruch als oberstes Denkgesetz gilt, aber frei-
lich auch mit diesem zugleich hinfällig wird (in Hegels Dialektik).
56
Bouterwek.
Schwierig bleibt für diesen rationalistischen Standpunkt
zweierlei: erstens, wo kommt der Stoff her, den das Denken
zwar vertilgen soll, ohne den es aber auch gar nicht zum Gre-
dachten kommen kann, und zweitens, wie kommt die Vielheit
und Mannigfaltigkeit, die doch bloss dem Stoffe angehören soll,
in die einheitliche Denkform , so dass diese sich zu einer Vielheit
von Anschauungsformen und Kategorien besondem muss, die
sich nun selbst zu ihr wie ein (allerdings reiner) Stoff zur Form
verhalten? Die Möglichkeit der Anwendung des Denkens setzt
eine Veränderung, einen Anstoss oder Impuls voraus, die von Rein-
hold Affektion genannt wurde und von Maimon in den unerkenn-
baren Differentialen des Bcwusstseins gesucht wurde. Für Bardili
steht es einerseits fest, dass dieser den Stoff gebende Anstoss nur
aus der Identität kommen kann, weil diese das alleinige Urprincip
sein soll; andererseits kann er sich nicht verhehlen, dass dieser
Anstoss aus der bloss log^ischen Identität des Selbstbewusstseins
nicht entspringen könne. Da bleibt ihm nur noch das Zurück-
gehen auf eine metaphysische Identität übrig. In dieser soll der
Stoff als Hypothesis unvcrtilgbar sein, während der Mensch die
Aufgabe hat, ihn denkend zu vernichten. Wo der Stoff in der
absoluten metaphysischen Identität herkommt, wissen wir nicht,
haben wir auch nicht nötig zu wissen. In diesem Rückgang
Hegt zwar die richtige Anerkennung, dass das Selbstbewusstsein
den Anstoss zur Erzeugung des Vorstellungsstoffes von einem
ihm Unbewussten aus erhalten muss, das alle individuellen Be-
wusstseine überragt. und in sich schliesst; aber die Identität als
Urkategorie geht dabei in die Brüche, indem die Differenz als
ursprüngliche in sie hineingelegt, und auf den Versuch, sie aus
ihr zu entwickeln, verzichtet wird. Damit erweist sich der auf
seinen schärfsten Ausdruck gebrachte Rationalismus des Ver-
standes als leerer Formalismus, der sich im Kreise dreht und
über die Grenze des Begrifflichen nicht hinaus kann zum Sach-
lichen oder Realen. —
6. Bouterwek (1766 — 1828). Das Verdienst, die Leerheit
des apodiktischen Rationalismus auf dieser Stufe erkannt und ihn
durch das richtige Realprincip ergänzt zu haben, gebührt Bouter-
wek. Er entlehnt von Maimon und Beck die Nichtigkeit und
Leerheit des transcendentalen Objekts oder X, das der Verstand
notwendig braucht, um seine Begriffe auf etwas beziehen, um
Boulerwek.
57
seinen Synthesen Haltung geben zu können. Aber er durch-
schaut die blosse Subjektivität alles diskursiven Denkens, den
rein zerstörenden Charakter dieser logischen Apodiktik, und sucht
sie deshalb durch eine transcendentale Apodiktik zu ergänzen.
Von Jacobi entnimmt er die Bezeichnung »Veniunftt für das
höhere Princip, das er dem Verstände entgegensetzt, und das er
als eine Vereinigung von Synthesis und Anaiysis betrachtet. Der
Verstand ist bloss Form; die Vernunft ist darum etwas Höheres
als er. weil sie selbst ein Ausfluss des Realprincips ist, weil sie
nicht Form, sondern lebendige Kraft oder Virtualität ist. Diese
Bestimmung des Realprincips entlehnt Bouterwek offenbar von
Leibniz. Die Vernunft ist hier im Jacobischen Sinne Kraft des
unmittelbaren Glaubens nicht nur an das Wirkliche ausser uns,
sondern auch an das übersinnliche absolute Sein als an das Ur-
wirkliche über uns. Weil die Vernunft aus dem absoluten Er-
kenntnisvermögen entspringt und demgemäss absolute Über-
zeugung verleiht, ist die aus ihr folgende Erkenntnis ebenfalls
apodiktisch zu nennen. So ist die Vernunft der gemeinsame
Quell der Sinnlichkeit, der Gefühle und Gedanken; sie ist es, die
den inneren Sinn affiziert und in ihm die Gefühle erzeugt, auf
welche wir reflektieren, wenn wir einen Begriff vom Absoluten
erhalten.
Wenn in dem Bouterwekschen Begriff der t:- Vernunft i der
Gegensatz des Realprincips und Idealprincips bereits zu einer
höheren Einheit verschmolzen auftritt, die ihn der Gefahr des
Verschwimmens aussetzt, so tritt er dafür in der ^praktischen
Apodiktik* desto schärfer hervor. Alles Wissen ist ein un-
bedingtes Anerkennen eines Seins, einer Realität überhaupt, so-
wohl in uns als ausser uns; die einzige Realität aber ist die
Kraft, und ausser dieser oder über sie hinaus können wir keine
denken. Kraft ist nur wirklich, wo sie Widerstand findet; Realität
ist also nur die Einheit von Kraft und Widerstand, welche
Bouterwek mit dem Worte > Virtualität« bezeichnet. Die Seelen-
kraft ist mit der Realität widerstehender Naturkräfte Eine Vir*
tualität Das Wollen ist nur dannfmehr als Einbildung, wenn es
lebendige Kraft ist Wie Realität gleich Virtualität ist, so ist
Kausalität gleich lebendige Kraft. Die Dinge an sich werden
nun wieder, was sie vor Kant und in Kants erster Periode
zweifellos waren, Produkte einer absoluten Virtualität; leider hat
58 Krag-
Bouterwek es unterlassen, in demselben Sinne eine realistiscfae
Auslegung der Kantischen Philosophie durchzuführen, wie Beck
es mit einer idealistischen gethan hat Während der Virtualismus
der realistischen Leibnizianer einen mehr naturphilosophischen
Anstrich hat und zu Newton hin gravitiert, bleibt der Virtualismus
Bouterweks ganz auf den Höhen metaphysischer Spekulation und
darum unfruchtbar.
Subjekt und Objekt sind entgegengesetzte Kräfte, die im
Urg^nde einer absoluten Realität zusammenfallen; denn die
virtuelle Einheit aller Kräfte allein ist das Unbedingte. Vor-
stellung ist die Entgegensetzung oder unmittelbare Wirkung der
Kräfte selbst, die sich in Subjekt und Objekt gesondert haben.
Der Grund der besonderen Virtualität, die unsere menschliche
Natur heisst, oder der Grund der transcendentalen Einschränkung
der allgemeinen Virtualität zur individuellen bleibt Geheimnis.
Gerade hier, wo die Vernunft als absolute Teleolog^ie hätte ein-
greifen können, weiss Bouterwek keinen Gebrauch von ihr zu
machen. —
7. Krug (1770— 1842). Auch Krug hat ebenso wie Bouter-
wek das richtige Gefühl , dass das Idealprincip des Wissens oder
Erkennens der Ergänzung durch ein Realprincip des Seins be-
dürfe, und dass das Sein als das Erste, das Wissen als das
Zweite gedacht werden müsse, weil wohl Sein ohne Wissen, aber
nicht Wissen ohne Sein sein kann. Aber er sucht das Real-
princip nicht in einer supraindividuellen Sphäre wie Beck und
Bardili, sondern in dem existierenden Ich selbst oder dem er-
kennenden Subjekt, das zunächst sein muss, um erkennen zu
können. Er sucht femer das Realprincip nicht wie Bouterwek
in der Energie der Thätigkeit, sondern in der ruhenden Sub-
stanz des unthätigen Subjekts, und rechnet die Thätigkeit zum
Idealprincip.
Bewusstsein zeigt eine Synthesis des Seins und Wissens im
Ich, die auf eine ursprüngliche, transcendentale, apriorische, allem
Bewusstsein vorangehende, unerklärliche und unbegreifliche Ein-
heit des Realprincips und Idealprincips zurückweist Keines
dieser beiden Principien kann von dem anderen abgeleitet werden.
Weil diese erste, allen übrigen Synthesen zu Grunde liegende
Synthese transcendental ist, deshalb nennt Krug seinen Stand-
punkt transcendentalen Synthetism. Weil er das Realprincip und
Friet.
59
Idealprincip in transcendentaler Einheit enthält, nennt er ihn
auch die unzertrennliche Vereinigung von transcendentalem
Realismus und transcendentalem Idealismus, wobei allerdings
diese Ausdrücke in ganz anderem Sinne gebraucht sind als von
Kant. In der näheren Ausfühnmg seiner Ansichten zeigt sich,
dass Krug festhält an der dreifachen Überzeugung vom eigenen
Dasein, vom Sein anderer Dinge und von der Gemeinschaft oder
Wechselwirkung beider. Danach ist er transcendentaler Realist
im Kantschen Sinne des Wortes und nicht transcendentaler
Idealist.
Das Idealprincip zerfällt in Materialprincipien und Formal-
principienj die ersteren umspannen die ganze unendliche Mannig-
faltigkeit der empirischen Thatsachen eines vorgefundenen Be-
wusstseinsinhalts, die letzteren die Anschauungs- und Denk formen
und Denkgesetze. Als oberstes Materialprincip acceptiert Krug
von Beck das ursprüngliche Vorstellen; d. h. die allgemeinste
Bewusstseinsthatsache ist: ich bin tiiätig. Als oberstes Formal-
princip stellt Krug folgendes auf: Die absolute Harmonie des
Ich in aller seiner Thätigkeit (Übereinstimmung des Mannig-
faltigen) ist oberster Zweck, Beide vereinigt lauten: ich bin
thätig und suche absolute Harmonie in aller meiner Thätigkeit.
Die Krugschen Urbegriffe sind demnach Ich, Thätigkeit und
Harmonie; der erste macht das Realprincip, die beiden letzten
das Idealprincip aus, —
8. Fries (1773 — 1843). Fries hält fest an dem Kantschen
Grundgegensatz von erkennendem Subjekt und Ding an sich, an
der Unerkennbarkeit des Dinges an sich durch Verstandes-
erkenntnis Hnd an der Erkennbarkeit desselben durch die Ver-
nunfterkenntnis; aber er nennt mit Jacobi die letztere -Glauben -x
und verwirft mit den idealistischen Kantianern die Affektion der
sinnlichen Rezeptivität durch das Ding an sich. Die Wahrheit
der Erkenntnis liegt nicht in ihrer Übereinstimmung mit dem
Gegenstande, sondern in der Übereinstimmung der mittelbaren,
reflektierten Erkenntnis mit der unmittelbaren intuitiven, die
ebenso wie der Glaube ein Ausfluss der Vernunft ist. Die Form
der Erkenntnis gehört der Reflexion, der Inhalt der Vernunft
und dem aus ihr entspringenden unmittelbaren intuitiven Er-
kennen und Glauben an. Wenn demnach auch die Erkenntnis
Aufschluss über die Dinge an sich giebt» so ist sie doch formell
6o FrfM-
nur Selbsterkenntnis, da sie rein aus inneren Faktoren entspringt.
Ebenso wie die transcendente Kausalität des Dinges an sich ver-
wirft Fries die teleologische Naturphilosophie Kants, und be-
hauptet, dass in der organischen Natur der Kreislauf herrsche,
wie in der unorganischen das Gesetz des Gleichgewichts oder
der Indifferenz, dass aber in beiden die mechanische Erklärung
ausreiche. Die Begriffe der Spontaneität und Rezeptivität be-
halten auch bei Fries ihre grundlegende Bedeutung; ihnen ent-
sprechen einerseits Form und Inhalt, andererseits Denken und
Anschauen, aus deren Kombinationen Fries die vier Gruppen der
reinen Verstandesbegriffe ableitet Man kann demnach sagen,
dass bei Fries wie bei Reinhold die Reflexionsbegriffe Form und
Stoff oder Form und Inhalt die Urkategorien darstellen, aus
deren Anwendung auf die verschiedenen Vorstellungsarten (Den-
ken und Anschauen) die reinen Verstandesbegriffe entspringen,
so dass diese auch hier aufhören, ursprüngliche St<mimbegriffe im
Sinne Kants zu sein.
Ein Hauptunterschied zwischen Fries einerseits und Kant
und seiner idealistischen Schule andererseits ist der, dass Fries
die apriorische synthetische Intellektualfunktion nicht für a priori
erkennbar hält, sondern nur für a posteriori erkennbar. Fries sieht
ein, dass es eine Selbsttäuschung war, wenn Kant und seine idea-
listischen Nachfolger sich einbildeten, die apriorische Intellektual-
funktion auch a priori in ihrer Thätigkeit belauschen und mit
dem reflektierenden Bewusstsein unmittelbar begleiten zu können.
Er begreift, dass wir sie nur hinterdrein a posteriori durch Selbst-
beobachtung zu erfassen vermögen. So wird die Kategorienlehre
ein Stück der inneren Naturlehre und die Pliilosophie zum psycho-
logrischen Empirismus oder Anthropologismus.
Als reine Anschauungsformen bezeichnet Fries die Zeit, das
Ich und den Raum. Die Zeit ist die gemeinsame Anschauungs-
form des inneren und äusseren Sinnes; das Ich dagegen ist die
eigentümliche Anschauungsform des inneren Sinnes, wie der Raum
die des äusseren. Dass die Zeit als allgemeine Form des inneren
und äusseren Sinnes anerkannt wird, ist offenbar eine Berich-
tigung Kants, die es auch zugleich erleichtert, das Verhältnis der
Schemata zu den Kategorien zu erläutern. Dagegen erscheint es
nicht glücklich, das Ich für die Anschauungsform des inneren
Sinnes zu erklären, wenngleich Kants Bemerkung dazu Anlass
Fries.
6i
geben mochte, dass das Jch deoke<> alle meine Vorstellungen
müsse begleiten können. Da der innere Sinn Empfindung und
Reflexion umfasst, so kann er überhaupt keine einheitliche An-
schauungsform haben,
Inhalt plus Anschauen ist gleich inhaltlicher Sinncsanschau-
ung oder Sinneswahmehmung: Qualität, Form plus Anschau-
ung ist gleich reiner Anschauung: Quantität. Inhalt plus
Denken ist gleich logischem, analytischem Denken des All-
gemeinen: Modalität. Form plus Denken ist gleich metaphy-
sischem, synthetischem Denken: Relation, Jede dieser vier
Hauptarten der Bewusstseinsthätigkcit wird gesondert nach
i. Auffassung des Inhalts, 2. Zusammenfassung zur Form, 3. Ver-
bindung des Inhalts mit der Form oder der einheitlichen Ganzheit
Daraus ergiebt sich dann folgende Ableitung der zwölf reinen
Verstandesbegriffe :
Quantität
Qualiült
Relaüon
Modal tat
FBegrUr des Inhalts
Einbdt
Realität
Wesen und
Eigenschailten
WirklieUcett
Begriff der Form
Vielheit
Negativität
Ursaclic und
Wirkung
Möglichkeit
Begpß der G«mheit
Aimdi
Limitadoii
Wechsel.
Wirkung
Notwendigkeit
Aus der Verbindung der zwei besonderen Anschauungsformen
(Ich und Raum) mit den reinen Verstandesbegriffen entwickelt
Fries dann weiter die psychologischen Kategorien einerseits und
die naturphilosophischen andererseits, die wir hier übergehen
können. In Betreff der Ideen, die durch Aufhebung der Be-
schränkung der allgemeinen Kategorien entstehen, sei nur be-
merkt, dass denen der Qualität die Idee des Absoluten, denen
der Quantität die Ideen der Einfachheit, Unermesslichkeit und
Vollständigkeit, denen der Relation die Ideen der Seele, Welt
und Gottheit entsprechen.
Die Friessche Kategorienlehre hält nicht, was ihr methodo-
logisches Princip des psychologischen Empirismus oder der Selbst-
beobachtung verspricht. Die Tendenz zu willkürlichen Konstruk-
tionen und Deduktionen, wie sie in der Zeit lag, drängt sich von
den ersten Schritten an in den Vordergrund^ und giebt etwas für
62 Fries.
Resultate des phänomenologischen inneren Befundes aus, was
doch nur erkünstelte Beziehungen zur Herstellung eines syste-
matischen Zusammenhanges sind. Die Besonderung der synthe-
tischen Intellektualfunktion in die mannigfachen Denkformen ent-
zieht sich durchaus der Selbstbeobachtung; gleichwohl wird die
Ableitung der Kategorien nicht als ein problematisches Hypo-
thesengewebe, sondern als thatsächlicher Befund der inneren
Beobachtung dargeboten.
IL
Der Pantheismus*
I. X G- Fichte (1762— 1814).
richte geht, wie Beck, von dem Begriff der Thätigkeit,
andlung oder Tliathandlung aus. In seiner ersten Periode gilt
dieser Begriff als der letzte Urbegriff, über den nicht hinaus-
zukommen ist; alles Sein soll nur ein von der Thätigkeit ge-
setztes und die Substanz bloss ein räumlichstnnliches Sein sein.
In seiner zweiten Periode besinnt er sich allerdings darauf, dass
die Thätigkeit als solche doch auch etwas Seiendes oder ein Sein
ist» das als solches dem durch sie gesetzten Sein ebenso vorauf-
geht» wie dem aus der Thätigkeit entspringenden Wissen. Bei
der Lektüre des Spinoza findet er sogar, dass die Thätigkeit der
Spinozistischen Definition der Substanz genüge, nämlich als un-
gewordenes Sein keines anderen bedürfe, durch» von und aus
sich selbst sei, und nennt sie deshalb auch die absolute Substanz.
Er hat also nun zwei Arten des Seins, das Sein der Thätigkeit
oder das dem Wissen vorausgehende absolute Sein, und das
durch die Thätigkeit gesetzte, festgemachte, fixierte Sein, das
nur ein Sein im Wissen und für das Wissen ist Allerdings ist
die Thätigkeit an sich blosse Thätigkeit; dass sie als solche auch
ist, soll nur eine Zuthat des Denkens sein, insofern der Philosoph
nicht umhin kann, ihr das Sein zuzuschreiben. An sich ist die
Thätigkeit ebcnsow^enig Sein wie Bew^usstsein ; Sein ist sie nur
1 als gedachte oder in der Form des Gedachtwerdens, Diese Ein-
^Rfcchränkung hängt damit zusammen, dass Fichte ein Sein, das
J nicht Sein für ein Denken wäre, nicht gelten lassen will, also
■ selbst dem unvordenklichen Absoluten ein Sein nur von Gnaden
64 J- G. Fichte.
des philosophischen Denkens bewilligt. Jedenfalls ist dieses Sein
der Thätigkeit ein dem Wissen Voraufgehendes, ein Jenseits des
aus der Thätigkeit entspringenden Wissens oder ein Nichtwissen,
d. h. an sich unbewusstes Sein.
Diese Abweichung der zweiten Periode von der ersten be-
trifft nicht sowohl die Sache als den Ausdruck, insofern in der
ersten Periode die Bezeichnung Sein eindeutig für die im Wissen
fixierte Realität, in der zweiten Periode zweideutig sowohl für
diese als auch für die Urthätigkeit selbst gebraucht wird. Es
findet sich ausserdem in der zweiten Periode auch noch eine
sachliche Abweichung, insofern- er nicht bei der Thätigkeit als
dem rein actu Seienden stehen bleibt, sondern hinter dieses zu-
rückgeht zu dem Vermögen oder der Möglichkeit der Thätigkeit
selbst. Wie die Thätigkeit die Möglichkeit des Wissens und des
fixierten Seins ist, so muss etwas gedacht werden, was die Mög-
lichkeit der Thätigkeit oder des reinen Seins ist. Die Thätigkeit
ist das Dasein des Vermögens, aber doch als Thätigkeit ausser
dem reinen Vermögen, weil es erst seine Folge ist. Manchmal
scheint es, als ob dem Vermögen ausser dem Können auch ein
Sollen beiwohne, dass es zur Bethätigung nötigt durch den idealen
Drang der sittlichen Weltordnung; aber überwiegend ist doch die
entgegengesetzte Ansicht. Nach dieser ist die Thätigkeit eine
schlechthin freie, eine Freiheit, die sich selbst inhaltlich zum Sein
und Wissen bestimmt hat; sie hätte sich aber auch ebensogut
zum Nichtsein und Nichtwissen bestimmt haben können. Hinter
der positiv aktuell gewordenen Freiheit muss es also noch eine
formale Freiheit geben, die zwischen Sein und Nichtsein noch
unentschieden in der Schwebe oder die Indiffierenz beider ist.
Diese erst wäre die reine Möglichkeit des Seins (und Nichtseins),
reines Seinkönnen. Fixiertes oder gegenständliches Sein, reines
Actusein oder urständliches Sein, und reines Vermögen oder reine
Möglichkeit des Seins oder reines Seinkönnen verhalten sich bei
Fichte genau wie bei Plotin Hypostase, Energie und Dynamis,
obwohl Fichte von dieser Übereinstimmung nichts gewusst hat.
Auch die spätere Schellingsche Principienlehre ist durch die
Fichteschen Andeutungen teilweise antizipiert.
Auf keinen Fall hat Fichte die Absicht gehabt, in seiner
letzten Periode ein festes Sein hinter die Thätigkeit zu verlegen,
wie dies von den meisten Auslegern angenommen worden ist.
J. G. Fichte.
6s
Wenn er die Thätigkeit selbst Sein, Realität oder Substanz nennt,
so meint er doch damit nur, dass sie die Stelle dessen zu ver-
treten habe, was in anderen Systemen ein Sein oder eine Sub-
stanz sei. Wenn er von dem reinen Thun auf das reine Thun-
kunnen (und Nichtthunkönnen) als auf die indifferente formelle
Freiheit des Thuns oder Nichtthuns zurückgeht, so denkt er dabei
noch weniger an ein festes substantielles Sein; denn die bloss
mögliche Thätigkeit steht einem solchen noch ferner als die
wirkliche Thätigkeit. Im gewöhnlichen Sinne des Wortes Sub-
stanz hat Fichtes Urthätigkeit keine Substanz zur Grundlage
ihres Seins und Wirkens; sie ist subjektlose Thätigkeit ohne
seienden Hintergrund. Sie selbst als (mögliche oder wirkliche)
Thätigkeit ist das Absolute, das letzte, hinter dem, unter dem
und über dem nichts melir ist Sie schwebt als Thätigkeit in
der Luft und heisst deshalb Sein und Substanz, obwohl sie
beides weder ist noch hat*) —
Die Urthätigkeit muss Intellektualfunktion sein, da es für
Fichte feststeht, dass es kein Sein ausser für das Wissen und im
Wissen giebt. Sie muss aber auch bewusstlos oder vorbewusst
sein, da ja das Bewusstsein erst aus ihr hervorgehen solL Sie
wird sich als synthetische Intellektualfunktion offenbaren, sobald
der Stoff da ist, den sie verknüpfen kann ; da aber nichts Äusseres
da ist, wodurch ihr dieser Stoff zur Synthese gegeben werden
kann, so muss sie ihn selbst erst setzen, also zunächst sich als
thetische und antithetische Intellektualfunktion erweisen, ehe sie
sich als synthetische bewähren kann. Sie muss das, was sie
setzen, statuieren oder aus sich herausstellen (vor-stellen) soll,
erst bilden oder produzieren, muss also produktives Bildungs-
vermögen, oder, da sie nur in sich bildet, Einbildungsvermögen
sein, welches auch schon bei Kant als ein unbewusst wirksames
Seelenvermögen gilt Ihr Setzen, Produzieren oder in sich Bilden
ist eine intuitive, nicht reflexive oder diskursive, Thätigkeit, also
ein Schauen, wenn auch noch unbevvusstes Schauen. Die vor-
bewusste thetisch-synthetische Intellektualfunktion ist also intellek-
tuelles Anschauen in demselben Sinne, wie Kants transcendentale
Apperzeption, aber nicht in dem Sinne wie das, was Kant die
intellektuelle Anschauung eines intuitiven Verstandes nennt
*) Vcrgl. Drews, Die deutsche Si>ektilation sdt KAnt, t S. 153 — 170.
E. V. Hartmiiaii, Atagß^. Werke. Bd. XU. 5
66 J- G- Fichte.
Letztere soll nämlich die Dinge an sich erkennen; da es aber
keine Dinge an sich giebt, so kann es natürlich auch keine An-
schauungsweise geben, die sie erkannte.
Die Urthätigkeit ist das Gegenteil der toten Starrheit, sie ist
absolutes Leben; sie ist das Gegenteil jedes äusseren Zwanges
oder innerer Nötigung, d. h. Freiheit. Sie ist ein ins Unendliche
gehendes Streben, Wille oder praktische Vernunft, die auf die
Produktion eines noch nicht Seienden abzielt, also insofern
ideal ist. Sie hebt von sich selbst an und ist insofern subjektiv;
was sie produziert, projiziert sie von sich weg; ihre Richtung ist
also eine centrifugale, ihr Streben ein expansives, das nach un-
endlicher Entfaltung der in ihr schlummernden idealen Möglich-
keiten drängft. So aber geht sie ins Leere, Widerstandslose, ist
thätig, ohne etwas zu wirken, zerstreut sich erfolglos ins Un-
begrenzte und verliert sich in Nichts, ohne jemals weder zu einem
gegenständlichen Sein noch zu einem Bewusstsein von sich oder
etwas Gegenständlichem zu gelangen. Sie projiziert und produziert
immerfort, ohne eine Projektion oder ein Produkt zustande zu
bringen.
Soll die Thätigkeit nicht schlechthin leer und erfolglos bleiben,
so muss die projizierende Thätigkeit sich in eine reflektierende
umbiegen, die produktive durch eine fixierende zum Produkt
stabiliert werden, die Kraft an einer Gegenkraft einen Wider-
stand finden, die centrifugale Richtung einer centripetalen be-
gegnen, die Expansion durch Kontraktion begrenzt werden. Das
Leben muss, um zum Erleben zu werden, sich selbst Lebens-
hemmungen bereiten, wenn ihm von draussen keine entgegen-
treten. Die thetische ITiätigkeit muss sich zur antithetischen, das
Setzen sich zum Entgegensetzen differenzieren, die subjektive
Thätigkeit sich in eine objektivierende, vergegenständlichende
umwenden, das Streben ins Unendliche sich verendlichen durch
Grenzensetzung, wenn auch diese Grenzen selbst wieder immer
weiter hinausgerückt werden mögen. Die Freiheit, die von
keinem äusseren Zwange belästigt wird, muss sich selbst Gesetze
auferlegen, die als Zwang wirken, um irgend welches Ziel zu er-
reichen. Die ideal gerichtete Thätigkeit, welche unbegrenzt viele
unbestimmte ideale Möglichkeiten aus sich zu entfalten strebt,
muss sich fixieren und stabilieren, um zu irgend welcher Realität
zu gelangen. Da es sich aber hier nur um eine Realität inner-
J. G, Fichte.
67
halb der intellektuellen Thätig-keit und für diese handelt, so dient
als begrenzende, fixierende und realisierende Thätigkeit die
denkende Erkenntnisthätigkeit des Verstandes oder die theore-
tische Vernunft, ebenso wie als projizierende, ideale Thätigkeit
das anschauende Streben oder Wollen des produktiven Ein-
bildungsvermögens oder die praktische Vernunft gedient hatte,
Dass die Objektivität durch die Begriffe des Verstandes gesetzt
werde, hatte ja auch schon Kant gelehrt.
Nun erst kann die intellektuelle Urthätigkeit sich als syn*
thetische bewähren, indem sie die setzende und entgegensetzende
Thätigkeit in Eins zusammenfasst, die subjektive und die objektive
zur subjektiv -objektiven, die ideale und realisierende zur ideal-
realen oder real idealen verschmilzt. Was dabei herauskommt, ist
das Produkt, das Wissen vom Sein und das Sein im Wissen und
fürs Wissen, das Bewusstsein als Einheit von Wissen und Sein
(d. h, genau dasselbe, was bei Plotin der Nus bedeutet). Was so
in der Identität zusammengefasst wird, ist dasselbe, was in der
Indifferenz des ersten Anfangs noch unentfaltet als Keim lag,
bevor es sich in die Differenz des Gegensatzes (Thesis und Anti-
thesis) auseinanderlegte. Das Wissen, das aus der Differenziening
und ihrer Synthese hervorgeht, ist dasselbe, was das intellektuelle
Anschauen im Anbeginn war; aber das intellektuelle Anschauen
ist nun inhaltlich erfülltes, seinumspannendes, gegenständliches»
substantielles Wissen geworden , während das Wissen im Anfang
inhaltloses, formales, leeres, urständliches Wissen war, das so gut
wie Nichtwissen ist —
Der hier geschilderte Prozess hat nun aber als solcher in
formaler abstrakter Selbständigkeit gar keine Existenz, und es
wäre ein grobes Missverständnis der Fichteschen Absichten, wenn
man ihn irgendwo vor der Welt, oder jenseits der Welt, oder
über der Welt, etwa in einem für sich seienden traoscendenten
Absoluten suchen wollte. Das Absolute als solches hat nach
•ichte weder Bewusstsein noch Persijnlichkeit. trägt also als
Lbsolutes auch keinen Prozess in sich, der mit dem Bewusstsein
endet Der geschilderte Prozess als solcher existiert nur im
Kopfe des Philosophen als eine Abstraktion, die er von dem
menschlichen Bewusstseinsprozess abzieht Sieht man von aller
Besonderheit des Seins und Wissens ab, so erhält man die reinen
Begriffe des Seins und Wissens, und nur von diesen war hier die
5*
68 J. G. Fichte.
Rede. Lässt man alle empirischen Besonderheiten des Selbst-
bewusstseins beiseite, so nähert man sich dem reinen BegriflF des
Selbstbewusstseins, oder dem reinen Selbstbewusstsein , das in
allen empirischen Ichs das gemeinsame ist. Der geschilderte
Prozess ist also die allen empirischen Beunisstseinsentstehungen
gemeinsame formelle Schablone, die der Philosoph als solche
heraushebt, da nur sie ihn interessiert und nicht das Besondere,
woran sie haftet.
Das reine Bewusstsein oder reine Selbstbewusstsein nennt
Fichte auch das reine Ich im Gegensatz zum empirischen. Dieses
reine Ich der intellektuellen Anschauung steckt also als imma-
nente Form in allen empirischen Ichs drin; als selbständiges aber
existiert es nur im Kopfe des Philosophen als Begriff und sonst
nirgend. Ganz anders steht es mit dem reinen Ich als praktischer
Idee oder Ideal ; dieses ist das Endziel des Weltprozesses, die sich
selbst realisierende Vernunft, die völlige Unterwerfung des Objek-
tiven unter das Subjektive, die Verwirklichung der moralischen
Weltordnung oder der idealen Thätigkeit. Das reine Ich als Ideal
existiert zwar auch als selbständiges ebensowenig wie das reine
Ich der intellektuellen Anschauung, aber es ist doch Ziel, dem
der Weltprozess sich asymptotisch nähert, und das deshalb je
länger, je mehr approximativ verwirklicht wird. Der Ausdruck
reines oder unendliches Ich wird auf dieses Endziel des Welt-
prozesses nur deshalb übertragen, damit der Kreis völlig ge-
schlossen erscheint durch Deckung des Endpunktes mit dem
Ausgangspunkte. —
Aus derselben Neigung für geschlossene Kreisläufe entspringt
es auch, wenn Fichte innerhalb des thetisch- antithetisch -synthe-
tischen Prozesses das reine Ich vom letzten Gliede, dem Bewusst-
Sein, auf das erste Glied, die unbewusste intellektuelle Anschau-
ung oder die Urthätigkeit zurücküberträgt, ebenso wie er dies in
seiner späteren Periode mit dem Begriff des Seins thut Diese
Zurückübertragung des Ich auf den Ausgangspunkt in der ersten
Periode hat ebenso schwere Missverständnisse veranlasst, wie die
des Seins in der zweiten, und aus dem Schaukelspiel zwischen
diesen beiden Grundmissverständnissen der beiden Perioden ist
die Fichtesche Philosophie überhaupt bis heute nicht heraus-
gekommen. Wenn Fichte das Sein zurückverlegt in die (wirk-
liche oder mögliche) Thätigkeit, so will er damit nicht sagen,
J. G. Fkhte.
69
^ass diese selbst ein substantielles Sein oder ein reales Subjekt
ei oder zur Seinsgrundlage habe. Wenn er das reine Ich hinüber-
trägt in die unbewusste intellektuelle Anschauung, so will er
damit weder sagen, dass ein absolutes Selbstbewusstsein der un-
bewussten Urthätigkeit vorhergehe oder sie durchleuchte, noch
auch, dass ein reales Subjekt der Träger und Produzent dieser
unbewussten Urthätigkeit sei. Er will damit bloss zum Ausdruck
bringen, dass das in der synthetischen Thätigkeit zur Identität
Zusammengefasste implicite schon in der Indifferenz des Anfangs
enthalten sei, dass Ausgangspunkt und Endpunkt wesentlich
identisch seien.
Das Ich des Endpunktes ist das vom Nichtich begrenzte,
und insofern endliche Ich; das sogenannte Ich des Anfangs-
punktes hat noch kein Nichtich sich gegenüber, durch das es
beschränkt würde, ist also insofern unbeschränktes, unbegrenztes,
absolutes Ich. Dieser Gegensatz von begrenztem und absolutem
Ich fällt ganz innerhalb des reinen Ichs, darf also nicht mit dem
Gegensatz des reinen und empirischen Ichs verwechselt werden.
Das absolute Ich setzt das begrenzte Ich, aber das reine Ich setzt
nicht das empirische Ich, sondern wird an, in und mit diesem
vom absoluten Ich gesetzt. Das reine Ich steht dem empirischen
Ich wie das Abstrakte dem Konkreten, wie das logisch All-
gemeine dem Einzelnen gegenüber; das absolute Ich dagegen
steht dem Begrenzten wie das Setzende dem Gesetzten, wie das
Unbewusste dem Bewussten, wie das Schrankenlose dem Be-
schränkten gegenüber. Das empirische Ich ist zwar immer be-
grenztes Ich, aber das begrenzte Ich ist nicht immer empirisches
Ich, und das reine Ich ist nicht immer absolutes Ich; das reine Ich
schliesst vielmehr den Gegensatz von absolutem und begrenztem
Ich in sich. Fichte hat sich dadurch, dass das empirische Ich
zugleich immer begrenztes Ich ist, verleiten lassen, die beiden
Gegensätze mit einander zu vermengen, wodurch seine Dar-
stellung oft unklar wird.
Das absolute Ich ist gar kein Ich, nur das begrenzte Ich
kann so genannt werden. Mit der Übertragung des Wortes
Ich auf die unbewusste unbegrenzte Urthätigkeit wird diesem
Worte ebenso Gewalt angethan, wie in der zweiten Periode mit
der Übertragung der Worte Sein und Substanz von dem fixierten
Sein auf die subjektlose Urthätigkeit. Man muss sich also bei
70
J. G. Ficbte.
Fichtes absolutem Ich stets gegenwärtig halten, dass es sich um
einen eklatanten Wortm issbrauch handelt, der sich aus dem Ent-
wickelungsgange Fichtes erklärt. Er ging von Kants Glei
Setzung der transcendentalen Synthesis der Apperzeption mit dei
reinen Selbstbewusstsein oder dem i^lch denke« aus, und zweifei
deshalb von vornherein nicht an seiner Berechtigung, die Ur-
thätigkeit der intellektuellen Anschauung mit dem reinen Selbst-
bewusstsein oder reinen Ich zu identifizieren. Er wollte wie
Kant die Entstehung des apodiktischen Wissens durch apriorische
vorbewusste Intellektualthätigkeit mit seinem reflektierenden Be-
wiisstsein in statu nascente belauschen, ohne an die Unmöglich-
keit dieses Vorhabens zu denken. Er zweifette so wenig wie
Reinhold und Maimon daran, dass Vorstellung und Bewusstsein
untrennbar seien, und glaubte, die von der Intellektualfunktion
sich selbst bereiteten Überraschungen daraus erklären zu können,
dass sie häufig ohne reflektierendes, auf ihr Thun zu rück gerichtetes
Bewusstsein, wenn auch immerhin mit unmittelbarem Bewusstsein
arbeite. Dieser Standpunkt war es, von dem aus er die erste
Darstellung der Wissenschaftslehre im Jahre 1794 lieferte.
Allerdings erkannte er an. dass die das Bewusstsein er*
zeugenden Thätigkeiten a priori oder vorbewusst, und darum
noch nicht bewusst, also unbewusst sein müssen, und da er sich
die Aufgabe stellte, das Bewusstsein genetisch zu erklären, so
konnte er nicht stehen bleiben bei einer blossen Unterscheidung
von unmittelbarem und reflektiertem Bewusstsein, da mit einer
solchen die Entstehung des Bewusstseins doch nur wieder aus
dem schon vorausgesetzten Bewusstsein erklärt worden wäre.
Aber er machte sich die Umwälzung» die aus dem Rückgang
auf wahrhaft unbewusste Thätigkeiten als Ursprung des Bewusst- I
seins gegeben war, nicht klar. Die betreffende Andeutung beim
Beginn seiner Laufbalin (S.W., I, 71 — 75) bleibt ein vereinzelter
Einfall, ein Keim, der nicht zur Entwickelung gelangt, sondern 1
erst von Schelling wieder aufgenommen wird. Ebenso geht es
mit der anderen Andeutung, dass die Urthätigkeit wohl etwas j
anderes als Vorstellungsthätigkeit {im Sinne der bewussten Vox«^H|
Stellung) sein möchte (ebd., 80 — 81). Er hielt bis an seinen Tod'*^
an dem Glauben fest, mit Hilfe der ititellektuelleo Anschauung
die vorbewussten Thätigkeiten unmittelbar in ihrer Wirkungsw^ei:
verfolgen und mit dem Bewusstsein beobachten zu können.
J. G. Fichte.
7^
So erklärt es sich, dass er die set2ende Urthätigkeit ebenso
wie das gesetzte Ergebnis Ich nennt, und dass er den Gegensatz
des absoluten und begrenzten Ich mit dem des reinen und em-
pirischen Ich vermengt. Fichtes System wird ganz ungerecht
beurteilt, wenn man das produzierende Ich für das empirische
individuelle Ich nimmt, während es doch das absolute Ich sein
soll. Es wird ebenso ungerecht beurteüt, wenn man es als sub-
jektiven Idealismus in dera Sinne charakterisiert, als ob das
individuelle empirische Ich mit seiner beschränkten Subjektivität
die Welt setzte, oder sie auch nur mit seinem Bewusstsein um-
spannte. Nichts liegt Fichte ferner als die Verabsolutierung des
beschränkten empirischen Ich, und sein System ist absoluter
Idealismus in dem Sinne, dass es das Absolute ist, welches als
absolute ideale Urthätigkeit die Welt der empirischen Ichs und
die Welt des Nichtich für alle diese empirischen Iche setzt. Der
Fehler liegt nicht darin, dass Fichte das (empirische) Ich mit
seiner (beschränkten) Subjektivität verabsolutierte, sondern darin,
dass er das Absolute, d. h. die unbewusste ideale Urthätigkeit,
vericht oder zu einem (absoluten) Ich versubjektiviert und dadurch
doch w^ieder den absoluten Idealismus zu einem subjektiven macht,
allerdings nicht zu einem beschränkt subjektiven, sondern zu einem
absolut subjektiven. Kur in diesem Sinne ist der Vorwurf be-
gründet, dass Fichte in einem subjektiven Idealismus stecken ge-
blieben sei. —
Die Vermengung der Gegensätze ^absolutes und begrenztes*,
>reines und empirisches Ich-- macht es ferner erklärlich, dass er
unter der an die Spitze seines Systems gestellten Formel >Ich =
Ich« drei verschiedene Gleichsetz un gen mit einander verwirrt.
»Ich ^^ Ich< bedeutet nämlich erstens die rein logische Identität
von Subjekt und Objekt im Akte des reinen Selbstbewusstseins,
zweitens die reale metaphysische Identität des setzenden absoluten
Ich und des gesetzten begrenzten Ich und drittens die zeitliche
Identität des Ich in zwei rasch auf einander folgenden Zeitpunkten.
Die rein logische Identität in dem »Ich denke mich«: oder »>ich
w^eiss mich<^ hat gar keine metaphysischen Folgerungen, weil
Subjekt und Objekt hier gleichniässig blosse Bewusstseinsinhalte
sind, von denen man zunächst gar nicht weiss, ob sie blosse
Illusionen sind, oder ob ihnen irgend etwas Reales entspricht.
Sobald dem Subjekt eine transcendente und dem Objekt eine
72 J.G.Fichte.
transcendentale Bedeutung beigelegt wird, löst die logrische Iden-
tität sich auf und macht der inhaltlichen Übereinstimmung von
Gegenstand und Vorstellung des Gegenstandes oder der Homo-
geneität von Sache und Begriff Platz, die weder Dieselbigkeit
(numerische Identität) noch Einerleiheit ist Die reale metaphysische
Identität des setzenden und gesetzten Ich ist selbst bei Fichte
unhaltbar; denn das setzende Ich ist das absolute, unbeschränkte
und ungeteilte Ich, während das gesetzte Ich das endliche, be-
schränkte und geteilte Ich ist. Beide können auch dann nicht
identisch sein, wenn man von der Unbewusstheit des ersteren
und der Bewusstheit des letzteren absieht.
Die zeitliche Identität des Ich in verschiedenen Zeitpunkten
ist nur dann wahre Identität, wenn ein mit sich selbst identisches
reales metaphysisches Subjekt dem Prozess zu Grunde liegt und
die Thätigkeit aus sich hervorbringt und trägt. Da aber Fichte
ein solches leugnet, so kann es sich nur um die Identität der
unbewussten setzenden Thätigkeit oder um die Identität des
formellen Ergebnisses in verschiedenen Zeitpunkten handeln. Bei
beiden besteht aber keine numerische Identität, denn man steigt
nicht zweimal in denselben Fluss, wie Heraklit sagt, und der
Fluss wirft auch nicht zweimal dieselbe Welle. Die Thätigkeit
mag kontinuierlich sein, aber inhaltUch identisch in zwei Zeit-
punkten wird sie nur heissen können, wenn sie in beiden gleichen
Inhalt (z. B. A) setzt. Wenn A = A ist, dann wird auch die das
erste A setzende Thätigkeit gleich der das zweite A setzenden
sein, weil und sofern ihre Produkte gleich sind. Die Gleichheit des
Ergebnisses, der reinen Form des Rewusstseins, die Thatsache,
dass A sowohl im ersten als auch im zweiten Zeitpunkt gewusst
wird, mag dazu berechtigen, das begrenzte Ich in beiden Zeit-
punkten, wenn auch nicht numerisch identisch, so doch gleich
zu setzen; aber diese beiden Bewusstseinsmomente sind gesetzte
Ichs und nicht setzende Ichs, nicht sie haben den Vorstellungs-
inhalt (das A) gesetzt, sondern sie sind an und mit ihm gesetzt
Sie können nicht einmal ein A setzen, geschweige denn einander.
Das Ich = Ich auf die Gleichheit der reinen Bewusstseins-
form in zwei verschiedenen Setzungsakten zu verschiedenen Zeit-
punkten bezogen ist also etwas ganz anderes als das Ich = Ich
auf die Gleichheit des logischen Subjekts und Objekts in einem
und demselben Bewusstseinsakt in demselben Zeitpunkt bezog^en
J, G. Fichte-
73
und wieder etwas ganz anderes als das Ich = Ich auf die an-
gebliche Identität des setzenden absoluten Ich und des gesetzten
begrenzten Ich bezogen. Alle diese Verhältnisse haben ver-
schiedene Bedeutung; in keinem besteht Gleichheit in demselben
Sinne wie bei dem anderen, in keinem Identität als numerische
Einheit oder Dieselbigkeit Keines kann das andere stützen, und
wenn alle sich an einander anlehnen» so fallen sie alle zusammen
um, weil die einzige Rückenanlehnung, die ihnen Halt geben
könnte, die Identität eines realen, metaphysischen, transcendenten
Subjekts bei Fichte ausgeschlossen ist. Die unterschiedslose Ver-
mengung dieser drei Gleichsetzungen samt ihren Unterbedeutungen
w^irkt aber so verwnrrend, dass der minder kritische Leser, dem
wohl gar die Identität des Subjekts dunkel als Hintergrund vor-
schw^ebt, sich gefangen giebt. - Auf der vieldeutigen V^oraussetzung
Ich = Ich ruht alsdann der ganze Syllogismenbau der Wissen-
schaftslehre,- mit dieser Voraussetzung wird auch dieser ganze viel-
bewunderte Bau hinfällig, auf den Fichte so stolz war. Kein
Wunder, dass er sich nicht dazu entschliessen konnte ihn preis-
zugeben, selbst dann nicht, als ihm die Bedenklichkeit seiner
Grundlage aufzudämmern begann» dass er sich vielmehr bemühte,
ihn durch neu aufgesetzte Stockwerke und vertiefte Fundamente
zu ergänzen, zu verbessern und in eine höhere Sphäre zu erheben.
Wer jedoch den wahren Sinn der Fichteschen Philosophie ver-
stehen will, der darf sich nicht damit begnügen, die oben an-
gedeuteten Grundmissverständnisse der beiden Perioden zu über-
winden und die Vieldeutigkeit des Wortes Ich und des Satzes
Ich = Ich zu entwirren, er niuss auch die ganze Beweisform und
syllogistische Einkleidung von dieser Philosophie abstreifen und
den eigentlichen Gedankenkern aus ihr herausschälen, ebenso wie
dies bei Spinoza nötig ist Die nächste Aufgabe hierzu ist die
Vermittehin g des einsamen Ficht eschen Ich mit dem gemeiJien
Bewusstsein von einer Vielheit der Ichs und Dinge in der Welt —
Das Nichtich, das Objektive, Gegenständliche ist bei Fichte
das unbedingt Schlechte und Nichtseinsollende, das nur dazu be-
stimmt ist, vom Ich verschlungen und ins Subjektive aufgelöst
zu werden. Da entsteht die Frage, warum denn die Urthätigkeit
ein solches Nichtich erst gesetzt habe, wenn es doch zu nichts
gut ist als zur Vernichtung. Die Frage fällt mit der anderen
zusammen, warum mehr als Ein begreniftes Ich von der absoluten
74 JG. Fichte.
Urthätigkeit gesetzt worden sei. Für jedes empirische Ich be-
steht das Nichtich aus einer Summe von anderen empirischen
Ichs. Diese sollen als Ichs nicht vernichtet, sondern nur alle zu-
sammen von dem, was gar nicht Ich ist, von der schlechthin wert-
losen Besonderheit, geläutert und zu reinen Ichs erhoben werden,
die als reine Ichs sich alle mit einander identifizieren und in
ihrer Totalität das absolute Ich als Idee annähernd verwirklichen.
Kann man begreifen, warum mehrere begrenzte Ichs gesetzt sind,
so wird es dadurch erklärlich, dass sie zunächst als besondere von
einander verschiedene begrenzte Ichs gesetzt werden mussten,
und es ihnen erst als Aufgabe gestellt ist, sich zu reinen Ichs
durchzuarbeiten. Die Lösung liegt eben in dieser praktischen
Aufgabe, der von Fichte ein absoluter Wert als Selbstzweck
beigemessen wird. Die ideale Urthätigkeit oder sittliche Welt-
ordnung soll realisiert werden durch Annäherung an ein absolutes
Ich als einheitliche Totalität aller begrenzten reinen Ichs. Dazu
müssen aber erst begrenzte Ichs als Mehrheit, die in sittliche
Beziehungen zu einander treten können, gesetzt werden, und da
das reine begrenzte Ich zunächst nur eine unwirkliche Abstrak-
tion ist, so kann die Mehrheit begrenzter Ichs nur als Mehrheit
besonderer empirischer Ichs gesetzt werden. Der Anstoss für
die Spaltung der Urthätigkeit in eine thetische und antithetische
Richtung ist also teleologischer, und zwar ethischer Art; wie die
praktische Vernunft den Vorrang (Primat) vor der theoretischen
hat, so ist auch der ethische Idealismus Fichtes das begp-iflFliche
Prius des theoretischen. Auf diese Weise sucht Fichte das
äusserliche Ziel, das er sich gesteckt hat, zu erreichen, nämlich
die Verschmelzung der Kantschen Kritik der praktischen Ver-
nunft mit der der reinen Vernunft durch Ableitung beider aus
einem gemeinsamen Princip. Damit geht er über Reinhold
hinaus, der nur die verschiedenen in der Kritik der reinen Ver-
nunft auftretenden »Vermögen« aus einem einheitlichen Vor-
stellungsvermögen abzuleiten gesucht hatte.
Die absolute intellektuelle Anschauung, die nur Eine ist
(nach Fichtes Ausdrucksweise das absolute Ich), setzt also viele
beschränkte Ichs in sich, die für einander als Nichtich erscheinen,
auch mit Besonderheiten behaftet sind, die in keiner Hinsicht
zum (reinen) Ich gehören. Warum mehr als zwei beschränkte
Ichs nötig sind, um die sittlichen Beziehungen zu einander zu
J. G. Fichte.
75
entfalten , bleibt allerdings unbeantwortet. Die Summe der den
begrenzten Ichs anhaftenden Besonderheiten (Leiber) ist die Natur,
die nichtseinsollende, die überwunden werden soll durch Pflicht-
erfüllung, und insofern versinnlichtes Material der Pflicht ist, wie
die Summe der übrigen Ichs als solche für jedes Ich versinn-
lichtes Personal der Pflicht heissen kann» Die unbewusste Ur-
Ihätigkeit träumt einen Welttraum, in welchem verschiedene
Personen auftreten, deren jede die Würde eines Ich hat, deren
jede aber auch mit Nichtich (Natur) behaftet ist. Eines dieser
begrenzten Ichs ist mein empirisches Ich, und ich weiss, dass
alles nur der Traum des mit meinem Ich identischen absoluten
Ich (d, h. der unbewussten Urthätigkeit) ist. Indem ich mich aber
zur sittlichen Einwirkung auf diese Traumwelt verpflichtet fühle,
muss ich sie wie Wirklichkeit behandeln, obwohl ich weiss, dass
sie nur ein Traumbild ist. —
Die praktische Vernunft zwingt mich, dasjenige fiir wahrhatte
Realität zu nehmen, was meine theoretische Vernunft als traum-
haften Schein durchschaut Der kategorische Imperativ in mir
verbürgt mir den Wirklichkeitscharakter dessen, was meine er-
kenntnistheoretische Einsicht mir als blosse Vorstellung enthüllt
Der praktische Idealismus soll den Traumidealismus oder ideellen
Phänomenalismus der iheorelischen Philosophie durch einen
Machtspruch in sein Gegenteil verkehren, nämlich in transccn-
dentalen Realismus. Allerdings gilt dies nur für die anderen
Ichs als sittliche Personen, mit denen ich in reale sittliche Be-
ziehungen treten soll, nicht für die ihnen anhaftende Natur, welche
blosse Traumvorstellung bleibt. Ich soll auf die realen anderen
Ichs handeln vermittelst Einwirkung auf ihre Leiber durch meinen
Leib, die doch blosse Vorstellungen sind; ich soll aus sittlichen
Gründen die von mir vorgestellten Ziele meines Handelns (die
anderen Ichs meines Welttraums) für transcendent-real halten,
w^ährend ich die Mittel, durch welche ich auf sie wirken soll, für
blosse Traumvorstcllungen nehmen soll. Theoretisch betrachtet
giebt es nur Ein Bewusstsein, das meines empirischen Ich, und
alle übrigen Ichs sind ebenso wie die ihnen anhaftende Natur
blosse Vorstellungen für dieses mein Bewusstsein. Praktisch-
ethisch betrachtet dagegen giebt es so viele Bewusstseine wie
sittliche Personen, und jedes dieser vielen Bewusstseine ist für
jedes der anderen transcendent. Theoretisch ist mein Wirken
7 6 JG. Fichte.
auf die anderen von mir vorgestellten Ichs bloss eine Veränderung
meines Bewusstseinsinhalts, ebenso wie ihr Einwirken auf mich.
Praktisch ist es eine transcendente Wirksamkeit der verschiedenen
Ichs auf einander.
Über diese Widersprüche ist Fichte nicht hinausgelangt. Er
wollte den ethischen Idealismus sicher stellen durch den theore-
tischen Idealismus, aber er stellte ihn vielmehr durch die un-
gelösten Widersprüche gegen letzteren in Frage. Ein ethischer
Idealismus ist nur möglich auf der theoretischen Grundlage eines
unabhängig von ihm gesicherten transcendentalen Realismus;
auf dem Boden eines konsequenten transcendentalen Idealismus
dagegen kann nur ein ethischer Nihilismus oder ein antiethischer
Egoismus erwachsen. Diese Konsequenz wurde auf firischer That
von Fr. Schlegel hauptsächlich zu Gunsten der Emanzipation des
Fleisches von dem Sittengesetz gezogen, später in mehr philo-
sophischer Form und Durchbildung von Max Stirner, und der
Stirnersche Standpunkt würde wieder in populär -geistreichelnder
und dichterisch -grüblerischer Form von Fr. Nietzsche unter An-
lehnung an Schopenhauers Willensmetaphysik und Carlyles
Heroenkultus breiter ausgeführt.
Soll der Widerspruch zwischen Fichtes theoretischer und
praktischer Philosophie gehoben werden, so muss entweder der
theoretische Solipsismus des empirischen Ich oder der ethische
Idealismus einer sittlichen Weltordnung unter vielen gleich-
berechtigten empirischen Ichs gestrichen werden. Entweder ver-
wirklicht die unbewusste Urthätigkeit sich nur in Einem Bewusst-
sein, so dass die Vielheit der Personen nur ein subjektiver Schein
für dieses eine Ich ist, oder sie verwirklicht sich in vielen Be-
wusstseinen, die nach Form und Inhalt für einander transcendent
sind, und deren jedes in den anderen nur durch ideelle Vor-
stellungsrepräsentanten abgespiegelt und mittelbar erkannt wer-
den kann. Im ersteren Falle bleibt der transcendentale Idealis-
mus bestehen, führt aber zum Solipsismus und setzt den ethischen
Idealismus zur psychologischen Illusion herab; im anderen Falle
wird zwar die Wahrheit des ethischen Idealismus gerettet, aber
der transcendentale Idealismus muss dann dem transcendentalen
Realismus weichen, wenigstens in Bezug auf die Personen, zu
denen ich in sittlicher Wechselwirkung stehe. Im ersteren Falle
giebt es nur immanente Kausalität zwischen dem empirischen
J. G. Fkhte.
77
Ich und dem in seinem Bewtisstsein gesetzten (bloss vorgestellten)
Nichtich; im letzteren Falle giebt es nur transcendente Kausalität
zwischen den verschiedenen Ichs oder Bewusstseinen, deren keines
in das andere unmittelbar hineinblicken kann. Im crsteren Falle
ist die transcendentale Projektion des sittlichen Handelns aus der
eigenen Bewusstseinssphäre hinaus auf andere Ichs eine psycho-
logisch bedingte Illusion; im letzteren Falle ist die sogenannte
immanente Kausalität zwischen dem vorgestellten Ich und dem
Vorstellungsrepräsentanten der anderen Ichs eine bloss subjektive
Widerspiegelung der allein wirklichen transcendenten Kausalität
zwischen den verschiedenen Bewusstseinen. Im ersteren Falle
setzt die einheitliche unbewusste Urtliätigkeit oder intellektuelle
Anschauung unmittelbar die Welt als vorgestelltes Nichtich in
dem Bewusstsein des einen empirischen Ich und ausser ihm gar
nicht; im letzteren Falle dagegen setzt sie unmittelbar die Welt
als Gesamtheit der vielen Bewusstseine oder empirischen Ichs in
ihrer transcendentrealen Wechsehvirkung und erst mittelbar
durch diese Wechselwirkung in jedem dieser Bewusstscine eine
ideelle Abspiegelung der übrigen oder eine subjektive Er-
scheinungswelt. —
Fichte blieb sein Leben lang dabei stehen, die Welt theore-
tisch so zu betrachten, als ob nur der erstere Fall mögüch wäre,
sie aber praktisch so anzusehen, als ob ausschliessUch der zweite
Fall in Geltung wäre. Dass er die ürthätigkeit nicht einseitig
als intellektuelle Anschauung im theoretischen Sinne des Wortes
auffasst, sondern zugleich ebensosehr als praktische Vernunft,
Freiheit oder Wille, und dass er der Seite der praktischen Ver-
nunft oder des Willens innerhalb dieser Ürthätigkeit den Vorrang
vor der Seite der theoretischen Vernunft oder Erkenntnis zu-
schreibt, ist bereits oben bemerkt. Es ist also dem Fichteschen
Ideahsmus nicht der Vorwurf eines einseitigen Intellektualismus
oder eines mangelnden Realprincips zu machen» sondern man
kann ihm nur vorwerfen, dass er das Realprincip des Willens auf
die Sphäre sittlicher Beziehungen beschränkt und in der unter-
sittlichen Natur verkennt, so dass diese zum bloss subjektiven
Schein verflüchtigt wird. Die Korrekturbedürftigkeit des Systems
in dieser Hinsicht ist ja auch allgemein anerkannt und von
SchelHng und Schopenhauer vollzogen» Die Auffassung der
Natur muss aber auch nach Eintritt dieser Korrektur davon ab-
78
J. G. Fichte.
hängij^^ bleiben, ob und in welchem Sinne der Widerspruch in
der Sphäre der sittlichen Personen geschlichtet wird, ob er in
der Schwebe bleibt, oder ob er zum konsequenten transcenden-
talen Idealismus oder Realismus führt» Gerade darum aber ist
der Widerstreit zwischen transcendentalem Idealismus und Realis-
mus bei Fichte so lehrreich, weil er sich ganz innerhalb der sitt-
lichen Sphäre geistiger Persönlichkeiten hält und dadurch das
Problem so viel enger und leichter übersehbar stellt.
Was Fichtes theoretische Betrachtung in den Gesichtskreis
des transcendentalen Idealismus bannte, ist lediglich die falsche
Bezeichnung der unbewussten Urthätigkeit mit dem Ausdruck
absolutes Ich, Durch diese wurde er verleitet, alles der un-
bewussten Sphäre der metaphysischen Urthätigkeit Immanente
als ein dem absoluten Ich Immanentes anzusehen; die falsche
Identifikation des absoluten und begrenzten Ich und des be-
grenzten und empirischen Ich verleitete ihn dann weiter dazu,
das dem absoluteo Ich Immanente zugleich für ein dem em-
pirischeo Ich Immanentes zu halten. So kam er dazu, alles er-
kenntnistheoretisch Transcendente schlechthin zu leugnen und die
Einheit der von der unbewussten Urthätigkeit unmittelbar ge-
setzten Welt der vielen Ichs oder Bewusstseine mit dem von ihr
mittelbar im einzelnen empirischen Ich gesetzten Bewusstseins-
inhalt. d. h, die allgemeine objektiv- reale Erscheinungswelt der
Individuation mit einer einzelnen subjektiv -idealen Erscheinungs-
welt zu verwechseln» d. h. die Identität beider theoretisch zu be-
jahen und praktisch zu verneinen.
Hätte er ernst gemacht mit der Unbewusstheit der thetischen,
antithetischen und synthetischen Funktion, so hätte er anerkennen
müssen, dass alle diese Funktionen für jedes Bewusstsein trans^
cendent sind, dass nur die Ergebnisse dieser Funktionen ins Be-
wusstsein fallen oder immanent werden, aber auch filr jedes
Sonderbewusstsein nur der es unmittelbar angehende Teil aller
Ergebnisse der Urthätigkeit, dass dagegen ftlr jedes Einzel-
bewusstsein der übrige, nur die anderen Einzel bewusstseine be-
treffende Teil dieser gesamten Ergebnisse ebenso transcendent
bleibt wie die unbewussten Funktionen selbst Mit dieser An-
erkennung wäre für jedes empirische Ich eine unermesslich
grosse Sphäre des Transcendenten entstanden, welche umfasst
erstens die auf es selbst bezüghchen (intrasubjektiven) unbewussten
J. G. Fichte.
n
Funktionen» zweitens die auf andere Ichs bezüglichen (trans-
subjektiven) unbewussten Funktionen, und drittens die (für dieses
Ich ebenfalls transsubjektiven) bewussten Ergebnisse dieser letzteren
Funktionen in den anderen Ichs, Damit wäre dann das em-
pirische Ich zu einer Monade herabgesetzt worden, in welcher
die Summe der übrigen Monaden sich nur unvollständig und
perspektivisch verschoben durch subjektiv ideale Vorstellungs-
repräscntanten widerspiegelt, d.h. der transcendentale Idealismus
wäre auch aus theoretischem Gesichtspunkt durch einen trans-
cendentalen Realismus ersetzt worden. —
Da die Kategorien die Bethätigungsformen der unbewussten
Urthätigkeit sind, so musste ihnen unzweifelhaft eine Gültigkeit
für alles dem empirischen Ich Transcendente (sowohl Intrasubjek-
tive als Transsubjektive) zugeschrieben werden. Nur der Um-
stand, dass die unbewusste Urthätigkeit mit dem absoluten Ich,
dieses mit dem begrenzten Ich, und dieses wieder mit dem em-
pirischen Ich identifiziert wird, erweckt für Fichte selbst und für
seine Leser den falschen Schein, als ob die Kategorien bei ihm
bloss bewusstseinsimmanente Funktionsformen seien, während sie
in erster Reihe bewusstseinstranscendente Formen der un-
bewussten Intellektualfunktion sind und nur durch diese in den
Bewusstseinsinhalt mit eingeführt werden.
Der wirkliche Bewusstseinsprozess ist immer nur der em-
pirische Bewusstseinsprozess, und dieser ist ein zeitUcher Prozess,
der mit der Empfindung beginnt, von da zur Anschauung, und
von dieser zum Denken fortschreitet. Der schematische Prozess
des reinen Beuaisstseins dagegen ist nur eine Abstraktion im
Kopfe des Philosophen, bei welcher er von den zeitlichen und
räumlichen Verhältnissen und Bedingungen des Prozesses ebenso
abstrahiert wie von den Besonderheiten der Individualität. Es
kommt Fichte zunächst nur auf die Erfassung der typischen
Formen an, in denen die Intellektualfunktion sich bewegt, sofern
sie zu keinem anderen Ergebnis als zum reinen Ich führt. Diese
betrachtet er als ein (zwar nicht zeitliches, aber doch) begriffliches
Prius des wirklichen Bewusstseinsprozesses. So erklärt es sich,
dass er zuerst aus der Genesis des reinen Ichs die zeitlosen Denk-
formen abzuleiten sucht, bevor er sich auf die Betrachtung des
empirischen Bewusstseinsprozesses einlässt, die dann allerdings
mit der Empfindung beginnt. Dabei hegt allerdings der Irrtum
J. G. Fichte.
81
Formen der Urthätigkeit in ihren Verzweigungen und der Kolli-
sion derselben abgeleitet.
Jede der beiden entgegengesetzten Thätigkeiten will sich
ganz und schlechthin realisieren, jede findet aber an der anderen
ihre Schranke, so dass sie sich mit einer teil weisen Verwirk-
lichung begnügen muss. Erst dadurch, dass Ich und Nichtich
sich in die totale Realität teilen, kommt eine eigentliche Realität
zustande. Diese Teilung ist aber eine quantitative» also liegt in
der Kategorie der Limitation bereits die der Quantität ein-
geschlossen. Allerdings entspricht dieser Begriff mehr der von
Kant ausgeschlossenen Kategorie der Quantität als der Kantschen
Gruppenbezeichnung, die von der Quantität oder dem Umfang
der Urteile entlehnt ist, Fichte erklärt seine Lehre für idealen
»Unitismus« (Monismus) in Bezug auf die Eine unbewusste Ur-
thätigkeit, aber für realen »Dualismus^ in Bezug auf das Bewusst-
sein, das aus dem Gegensatze einer Zweiheit von Thätigkeiten
entspringt. Er könnte sie weiterhin für Pluralismus erklären in
Bezug auf den Inhalt des Bewusstseins, das nicht nur Ich und
Nichtich umspannt, sondern auch ein mannigfaltiges ist, das viele
andere Ichs einschliesst So wäre die Kategorie der Einheit
in dem Urprincip, die der Vielheit in der Spaltung der Urthätig-
keit zunächst in zwei entgegengesetzte Thätigkeitsrichtungen und
dann in viele Produkte (Ichs), die der Allheit in der unter Ich
und Nichtich verteilten totalen Realität gegeben. — -
Sobald man die Limitation nicht mehr bloss als logische,
sondern als reale versteht, zeigt sie nicht nur Beziehungen zu den
Kategorien der Quantität, sondern auch zu denen der Relation.
Die wechselseitige Einschränkung der thetischen und antithetischen
Thätigkeit ist zugleich wechselseitige Bestimmung oder Wechsel-
wirkung und wird im Ergebnis vom Bewusstsein als Wechsel-
wirkung des begrenzten Ich und Nichtich angeschaut. Indem
das Ich sich als bestimmt durch das Nichtich anschaut, fasst es
sich auf als ein durch die Kausalität des Nichtich leidendes.
Indem es das Nichdch als bestimmt durch sich anschaut^ fasst es
sich auf als ein auf die Aussen weit wirkendes. Aus der ersten
Art der Kausalität geht die theoretische, aus der letzten Art die
praktische Wissenschaftslehre hervor. Im Erkennen und Handeln
zerlegt sich die Wechselwirkung in die beiden Arten einseitiger
Kausalität, aus denen sie zusammengesetzt ist,
E. V. UarlmafiB« Ausgcw. Werk«. Bd. XU. 6
8o JO. Fichte.
ZU Grunde, als ob ein genetischer Prozess anders als zeitlich zu
denken sei; auch zeigt sich, dass in diesem Prozesse dieselben
Faktoren und Momente vorkommen, von denen im empirischen
Bewusstseinsprozesse die Empfindung abgeleitet wird. Die Ab-
straktion der zeitlosen reinen Denkformen aus diesem Prozess
und die Voranstellung dieser Abstraktion erscheint demnach als
eine willkürliche, im Prozess selbst sachlich nicht gerechtfertigte,
die an Kants zeitlose Kategorien zu enge Anlehnung sucht.
Der tlietischen, produktiven, ccntrifugalen Thätigkeit ent-
spricht im Ergebnis das Ich, der antithetischen, fixierenden oder
centripetalen Thätigkeit das Nichtich. Denn die thetische Thätig-
keit wird von Fichte mit der absoluten Urthätigkeit gleichgesetzt,
diese mit dem absoluten Ich und dieses mit dem begrenzten Ich.
Dass das begrenzte Ich eine affirmative logische Position (Realität
im Wortsinn der Kantschen Kategorientafel) ist, unterliegt keinem
Zweifel, ebensowenig, dass der übrige Vorstellungsinhalt des Be-
wusstseins logisch negativ ist, wenn er in Beziehung auf das Ich
als Nichtich bezeichnet wird. So wird denn aus der thetischen
Thätigkeit die RcaUtät (als logische Affirmation), aus der anti-
thetischen die (logische) Negation abgeleitet. Ist alle Realität in
das (begrenzte) Ich gesetzt, so bleibt für das Nichtich nur die
absolute Nichtigkeit übrig (einseitiger Idealismus); ist dagegen
umgekehrt alle Realität in das Nichtich gesetzt, so ist das Ich
bloss eine nichtige Illusion (Realismus).
Fichte will keinen dieser extremen Fälle annehmen, sondern
den mittleren, dass sowohl Ich als auch Nichtich je einen Teil
der Realität und der Negation enthalten. Nun wird also sowohl
der thetischen als auch der antithetischen Thätigkeit Realitäts-
setzung zugeschrieben, insofern beide bloss verschiedene Rich-
tungen der Urthätigkeit sind. Aber auch die thetische Thätig-
keit erscheint nun ebenso negativ in Bezug auf die antithetische,
wie diese in Bezug auf sie. Der vorher bloss logische Gegensatz
von Bejahung und Verneinung wird nun zum realen Gegensatz
kollidierender Thätigkeiten (Kants Realrepugnanz), zur gegen-
seitigen realen Einschränkung oder Limitation der Thätigkeiten,
und der Gegensatz des einseitigen Idealismus und Realismus wird
synthetisch zum Idealrealismus gebunden, der sowohl dem Ich
als auch dem Nichtich Realität zugesteht. So sind zunächst die
Kategorien der Qualität (Realität, Negation und Limitation) als
J, G, Fichte,
8i
Formen der Urthätigkeit in ihren Verzweigungen und der Kolli-
sion derselben abgeleitet.
Jede der beiden entgegengesetzten Thätigkeiten will sich
ganz und schlechthin realisieren, jede findet aber an der anderen
ihre Schranke, so dass sie sich mit einer teil weisen Verwirk-
lichung begnügen muss. Erst dadurch, dass Ich und Nichtich
sich in die totale Realität teilen, kommt eine eigentliche Realität
zustande. Diese Teilung ist aber eine quantitative, also liegt in
der Kategorie der Limitation bereits die der Quantität ein-
geschlossen. Allerdings entspricht dieser Begriff mehr der von
Kant ausgeschlossenen Kategorie der Quantität als der Kantschen
Gruppenbezeichnung, die von der Quantität oder dem Umfang
der Urteile entlehnt ist Fichte erklärt seine Lehre für idealen
»LTnitismus« (Monismus) in Bezug auf die Eine unbewusste Ur-
thätigkeit, aber für realen ^Dualismus-^ in EJezug auf das Bewusst-
sein, das aus dem Gegensatze einer Zweiheit von Thätigkeiten
entspringt. Er könnte sie weiterhin für Pluralismus erklären in
Bezug auf den Inhalt des Bewusstseins, das nicht nur Ich und
Nichtich umspannt, sondern auch ein mannigfaltiges ist, das viele
andere Ichs einschliesst So wäre die Kategorie der Einheit
in dem Urprincip, die der Vielheit in der Spaltung der Urthätig-
keit zunächst in zwei entgegengesetzte Thätigkeitsrichtungen und
dann in viele Produkte (Ichsj, die der Allheit in der unter Ich
und Nichtich verteilten totalen Realität gegeben. —
Sobald man die Limitation nicht mehr bloss als logische,
sondern als reale versteht, zeigt sie nicht nur Beziehungen zu den
Kategorien der Quantität, sondern auch zu denen der Relation.
Die wechselseitige Einschränkung der thetischen und antithetischen
Thätigkeit ist zugleich wechselseitige Bestimmung oder Wechsel-
wirkung und wird im Ergebnis vom Bewusstsein als Wechsel-
wirkung des begrenzten Ich und Nichtich angeschaut Indem
das Ich sich als bestimmt durch das Nichtich anschaut, fasst es
sich auf als ein durch die Kausalität des Nichtich leidendes.
Indem es das Nichtich als bestimmt durch sich anschaut, fasst es
sich auf als ein auf die Aussen weit wirkendes. Aus der ersten
Art der Kausalität geht die theoretische, aus der letzten Art die
praktische Wissenschaftslehre hervor. Im Erkennen und Handeln
zerlegt sich die Wechselwirkung in die beiden Arten einseitiger
Kausalität, aus denen sie zusammengesetzt ist
E. V. UiiTtmaas, Atufew. Werke. Bd. XÜ. 6
82 J- Cr. Fichte.
Es ist dabei nur zu beachten, dass die wirkliche Kausalität
sich nur zwischen den entgegengesetzt gerichteten unbewussten
Thätigkeiten vollzieht, also bewusstseinstranscendent ist, und dass
die Anschauung einer gegenseitigen Kausalität des Ich und
Nichtich im Bewusstseinsinhalt ein blosser Schein, eine repräsen-
tative Widerspiegelung der unbewussten Vorgänge im Bewusst-
sein und für das Bewusstsein ist. Dieser Schein enthält Wahrheit,
wenn er als Abbild auf die transcendenten Vorgängfe transcen-
dental bezogen wird; aber er wird zum falschen Schein, wenn
den partiellen Bewusstseinsinhalten selbst eine reale Kausalität
zugeschrieben wird, die doch nur passive Ergebnisse der bei der
Bewusstseinsentstehung sich abspielenden kausalen Vorgänge sind.
Fichte hat dies nur deshalb übersehen, weil er beständig das
produzierte begrenzte Ich mit der produzierenden Urthätigkeit
(seinem absoluten Ich) verwechselte und die kausalen Leistungen
des letzteren dem Konto des ersteren gutschrieb. Ebenso ver-
wechselte er die transcendent reale Summe der übrigen Ichs be-
ständig mit dem immanent idealen Widerschein derselben im
Bewusstsein eines einzelnen empirischen Ich. In der praktischen
Philosophie wirken die sittlichen Personen, deren jede für die
andere ein transcendentes Ding an sich ist, wirklich auf einander;
in der theoretischen Philosophie aber, wo es kein Ding an sich
geben soll, wird auf diese transcendente sittliche Wechselwirkung
der Iche unter einander nicht reflektiert, sondern das phänomenale
Nichtich, das ein ohnmächtiger passiver Schein ist, wird (genau
so wie bei Beck) mit dem vollen Bewusstsein der Wahrheits-
widrigkeit so angeschaut, als ob es auf das Ich wirkte.
Wie die Kategorien der Wechselwirkung und Kausalität aus
dem Verhältnis der thetischen und antithetischen Thätigkeit zu
einander, so soll die der Substanz aus dem Verhältnis der produ-
zierenden Thätigkeit zu ihrem Produkt, oder in Fichtes Ausdrucks-
weise des absoluten Ich zum begrenzten abgeleitet werden. Das
absolute Ich setzt das begrenzte als eine Modifikation seiner selbst,
d. h. als ein Accidens seiner selbst, verhält sich also zu ihm als
Substanz. In demselben Verhältnis steht es natürlich auch zu
jedem anderen begrenzten Ich, also zu allen Ichs und nicht
minder zu dem Nichtich, das keinerlei Ichheit mehr an sich hat
(zur Natur). Das absolute Ich oder die Urthätigkeit verhält sich
somit zu allem Sein und Wissen als Substanz zu ihren Acciden-
J, 5. Fichte,
83
tien, woraus aber keineswegs zu entnehmen ist, dass sie selbst
ein substantielles Sein wäre, auch abgesehen von diesem Ver-
hältnis zu dem von ihr Gesetzten. Vielmehr fällt, wie bei Locke»
die Substanz mit der Summe ihrer Accidentien zusammen und
ißt nichts über sie Hinausgehendes, Die Substantialität ist nach
Fichte nur zu denken als Selbstbestimmung der unbestimmten
Thätigkeit zu bestimmten besonderen Thätigkeiten, wie die Kau-
salität nur zu verstehen ist als Wechselbestimmung der besonderen
bestimmten Thätigkeiten, die einander hemmen und einschränken.
Das Verhältnis von Substanz und Accidens ist dc'is Verhältnis der
indifferenten zur differenzierten Thätigkeit; die indifferente Thätig-
keit, welche den ganzen Umkreis aller ReaHtäten umfasst, ist die
Substanz, und jede einzelne differenzierte Thätigkeit ist als eine
der von jener umfassten Realitäten Accidens,
Die Kategorien der Modalität haben in dieser Sphäre der
zeitlosen Abstraktion noch keine Stelle, da sie Beziehungen des
Denkens zu bestimmten Objekten ausdrücken, aber nicht die
Objekte formieren helfen.
Die thetische Thätigkeit liefert das Denkgesetz der Identität:
Ich = Ich, dessen Vieldeutigkeit bereits oben besprochen wurde.
Die antithetische Thätigkeit liefert das zweite Denkgesetz des
Widerspruchs: Nichtich nicht ^ Ich. Der Satz ist in dieser
Fassung eine leere Tautologie, aber nicht ein Denkgesetz. Die
synthetische Thätigkeit liefert das dritte Denkgesetz des Grundes,
dem Fichte folgende Deutung giebt: Alles Entgegengesetzte ist
in einem bestimmten Merkmal gleich, in einem anderen bestimm-
ten Merkmal verschieden; ersteres heisst der Beziehungsgrund,
letzteres der Unterscheidungsgrund. Diese Sätze haben mit dem
gewöhnlich so genannten Satz vom Grunde gar nichts zu thun. —
Gehen wir nun von dieser zeitlosen Abstraktion des be-
wusstseinerzeugenden Prozesses zu dem wirklichen bewusstsein-
erzeugenden Prozess über, so knüpft dieser wiederum daran an,
dass die unbewusste Urthätigkeit sich in eine thetische und eine
antithetische Richtung spaltet, die mit einander in Widerstreit
treten. Wäre die thetische Thätigkeit bewusst, so bedürfte es
keines bewusstseinerzeugenden Prozesses mehr; sie wirkt viel-
mehr als unbewusste Einbildungskraft, Wäre die antithetische
Thätigkeit bewusst, so könnte nicht der Schein des Leidens im
Ich entstehen, sondern der Widerstand würde als selbstgesetzter
84
J. G. Fichte.
und selbstgewoüter gewiisst. Das Bewusstsein kann nur dadurch
entstehen, dass die unbewusste thetlsche Thätigkeit auf eine
unbewiisste antithetische Thätigkeit trifft, und den durch diese
ihr entgegengesetzten Widerstand als ein eigenes Leiden em-
pfindet. Die Gestalt, in der das ursprüngliche Bewusstsein ent-
springt, ist also das Innewerden oder Insichfinden eines nicht
selbstgewollten » nicht mit eigenem Willen und Wissen geset/ten
Gegenstrebens oder Widerstandes» und dieses Gewahrwerden oder
Perzipieren des Leideos ist die Empfindung. Diese Darstellung
der Genesis der Empfindung gehört zu den genialen Lichtblicken
der Fichteschen Philosophie, ebenso wie die Unterscheidung der
thetischen und antithetischen Thätigkeit» welche ihre Voraus-
setzung bildet Sie fordert indes zu einer erläuternden Be-
trachtung auf.
Die antithetische Thätigkeit, welche die Empfindung erweckt
und damit das empirische Ich auf seiner primitivsten Stufe erst
entstehen lässt, ist selbstverständlich nicht in diesem empirischen
Ich und noch weniger eine von diesem empirischen Ich gesetzte
Thätigkeit, da sie nicht von dem und in dem, gesetzt werden
kann, was erst vermittelst ihrer erzeugt werden soll; deshalb
wird sie auch als Thätigkeit des Nichtich und nicht als Thätig-
keit des begrenzten Idi angeschaut Wohl aber ist die anti-
thetische Thätigkeit ebensowohl wie die tlietische eine blosse
Differenzierung, Besonderung, Richtungsvarietät oder Partial-
funktion der Einen absoluten Urthätigkeit (des unbewussten
absoluten Ich); denn wenn sie das nicht wäre, sondern einem
anderen Subjekt angehörte, so käme gar keine Kollision der
beiden Thätigkciten zustande, und diese würden sich gar nicht
treffen. Die Kausalität der beiden entgegengesctHten Thätig-
keiten darf nicht verschiedenen Substanzen oder Vorstellungs-
vermögen oder Intelligenzen zukommen, weil sie sonst transeunt
wäre und bei einander vorbei wirkte; sondern sie muss immanent
sein in einem einzigen absoluten Vorstellungsvermögen (absoluten
Ich), welches nach Fichte wiederum nicht bewusst sein kann.
Für das begrenzte bewusste Ich ist also die antithetische Thätig-
keit, welche die Empfindung erweckt, in der That transcendent
oder transsubjektiv, für das absolute unbewusste Ich dagegen ist
die unbewusste antithetische Thätigkeit ebenso immanent wie die
unbewusste thetische Thätigkeit oder die ebenso unbewusste syn-
J* G. Fichte.
85
thetische, deren unmittelbares Produkt das Bewusstsein in Gestalt
der Empfindung ist Diese Konsequenzen liegen unmittelbar in
den Fichteschen Voraussetzungen vorgebildet, und nur die stän-
dige Verwechselung des unbewussten absoluten Ich mit dem be-
wussten begrenzten Ich hat ihn verhindert, diese Konsequenzen
wirklich zu ziehen und auszusprechen, durch welche sein tlieore-
tischer transcendentaler Idealismus in sein Gegenteil verkehrt
und mit seinem praktischen traiiscendentalen Realismus in Ein-
klang gebracht worden w^äre. —
Fichte hat also die Doppelseitigkeit der Unbew^usstheit und
ßewusstheit an der Urthätigkeit wohl erkannt, infolge deren die
Thätigkeit an sich unbewusst wirkt, aber in dem wirldichen
Wirken, das erst mit der Kollision verschiedener Thätigkeits-
richtungen eintritt, sofort auch bewusst wird. Er hat richtig er-
kannt, dass die Thätigkeit, von ihrer centralen Seite gesehen,
unbewusst ist, von ihrer peripherischen Seite gesehen dagegen
als bewusste erscheint. Er hat begriffen, dass wirkliche Thätig-
keit nur Einheit von Thun und Leiden ist, und dass jede Sonder-
thätigkeit als aktive unbewusst, als passive bewusst ist Er hat
wohl beachtet, dass die wirkliche Thätigkeit sich aus einer Zwei-
heit von Wilknsthätigkeit und Erkenn tnisthätigkeit zusammensetzt,
und dass die Willensseite der Thätigkeit dem Bewusstsein noch
ferner steht und allezeit ferner bleibt, als die Vorstellungsseite.
Er beging aber einen Irrtum, als er die zweifache Doppelseitigkeit
der '^Thätigkeit, die Bipolarität von Unbcw^usstheit und Bewusst-
heit und die Bipolarität von Willensthätigkeit und Erkenntnis-
thätigkeit mit einander konfundierte, also die beiden mit einander
kollidierenden Partialfuiiktionen» aus deren Kollision das Bewusst-
sein entsteht, gleichsetzte mit den beiden Thätigkeitsseiten Wille
und Vorstellung, aus deren Verschmelzung jede der beiden kolli-
dierenden Thätigkeiten entstehet! niuss.
Der Gegensatz des Unbewussten und Bewussten ergiebt sich
gleichsam durch einen Querschnitt der Thätigkeit, der Gegensjitz
von Wille und Vorstellung durch einen Längsschnitt der
Thätigkeit; der erstere bildet einen realen Widerstreit entgegen-
gesetzt gerichteter Partialfunktionen von gleicher Essenz, der
^^Jetxtere zeigt einen idealen Gegensatz gleichgerichteter Thätig-
^H^Eeitsstränge von entgegengesetzter Essenz innerhalb jeder Par-
W tiaUunktion. Das Wollen darf also nicht mit der thetischen
■
86 J. G. Fichte.
Thätigkeit in der bewusstseinerzeugenden Kollision, das Vor-
stellen nicht mit der antithetischen Thätigkeit in ihr identifiziert
werden, wie es von Fichte geschieht, denn beide gehören ganz
verschiedenen Gegensatzpaaren an. Wäre die centrifugale Thätig-
keit vorstellungsloses Wollen, so wäre sie inhaltleer und schlecht-
hin unbestimmt; sie könnte dann gar nicht setzende Thätigkeit
heissen und durch keine bestimmte entgegengesetzte Thätigkeit
reprimiert und restringiert werden. Wäre die centripetale Thätig-
keit willenlose Vorstellung, so wäre sie kraftlos und unwirksam;
sie könnte dann zu einer bestimmten thetischen Thätigkeit wohl
in idealen Gegensatz, aber nicht in realen Widerstreit treten und
könnte niemals als ein realer Zwang, der ein Leiden setzt, em-
pfunden werden. Thetische und antithetische Thätigkeit müssen
also beide gleichmässig Wille und Vorstellung in sich schliessen.
Dass Fichte bei der Neuheit dieser Untersuchungen nicht alle
diese Unterschiede sogleich klar herauszustellen vermochte, wird
ihm kein billig Denkender zum Vorwurf anrechnen; man muss
es vielmehr mit Dank anerkennen, wie sehr er dieses schwierige
Problem der Bewnisstseinsentstehung aus dem Unbewussten ge-
fördert hat, das vor ihm fast nur von Jakob Böhme, und von
diesem mit orakelhafter Dunkelheit berührt worden war. —
Die thetische Thätigkeit ist die centrifugale, die antithetische
ist die centripetale. Es liegt in der Natur der ersteren, dass sie
ins Unendliche strebt und darum über jede zeitweilige Hemmung
und Fixierung durch die letztere hinausstrebt. So wird die Em-
pfindung durch die neu anhebende centrifugale Thätigkeit aus
dem Ich hinausprojiziert und dem Ich gegenübergestellt als An-
schauung, und die Anschauung wieder wird vom Verstände durch
Anwendung der schon besprochenen Kategorien fixiert und
stabiliert zum Objekte. Die Form der Räumlichkeit ergiebt sich
aus der Forderung, verschiedene Empfindungen zugleich als
Anschauungen hinauszuprojizieren , ohne sie mit einander ver-
schmelzen zu lassen, was nur durch ein geordnetes Nebeneinander
und eine Sphäre ihrer synthetischen Vereinigung möglich ist
Wie die wechselseitige Abhängigkeit der Objekte ihr Zugleich-
sein im Räume, so fordert die einseitige Abhängigkeit derselben
ihr Nacheinandersein in der Zeit. Fichte folgt also hier ganz
dem Vorbilde Kants. Darüber ist sich Fichte ganz klar, dass
die Annahme einer wirklichen Vergangenheit, d. h. einer solchen.
J. G. Ftclifr
87
die ich nicht bloss jetzt als Vergangenheit vorstelle, etwas von
meinem Denken Unabhängigem setzen und damit das verpönte
Ding an sich wieder herstellen würde. Auffallend ist dabei nur,
dass Fichte nicht in der fortlaufenden unbewussten Urthätigkeit
eine solche von meinem bewussten Denken unabhängige Reihe
einseitiger Abhängigkeit erkennt, die demgemäss als zeitHche
Reihe vorausgesetzt werden muss.
Die Kategorie der Notwendigkeit entspringt aus dem Gefühl
des Zwanges, mit dem die unbewusst produzierten Objekte sich dem
Bewusstsein aufdrängen, also letzten Endes aus der unbewussten
antithetischen Tliätigkeit, welche die Urthätigkeit zu einer Reihen-
folge von synthetischen und thetischen Reaktionen veranlassen.
Das Gegenteil des notwendigen Leidens ist die freie» durch keinen
Zwang gehemmte Thätigkeit, die als solche unbegrenzte Möglich-
keit ist. Die Einbildungskraft schaut diese Möglichkeit als das
Schweben zwischen dem Verrichten und Nichtverrichten einer
und derselben Handlung an. Das Ding in der synthetischen Ver-
einigung des Notwendigen und Zufälligen in ihm ist das wirkliche
Ding. Hiermit sind die Kategorien der Modalität nachgeholt —
Fichte erhebt nicht mit Unrecht den Anspruch, zu Kants
Kritik der reinen Vernunft ein System der reinen Vernunft
geliefert zu haben. Sein Monismus der absoluten unbewussten
Intellektualfunktion oder des absoluten unbewussten Ich ist gross-
artig angelegt und eigenartig durchgeführt und die Mängel dieser
Durchführung sind wohl durch die kühne Neuheit des Unter-
nehmens zu entschuldigen. Das Absolute ist die substanzlose
und subjektlose, unbewusste, einheitliche Urthätigkeit, die nur
missbräuchlich absolute Substanz, absolutes Subjekt und absolutes
Sein genannt wird. Fichte erneuert damit gegen Spinozas
Renaissance des Eleatismus den Heraklitismus des verabsolu-
tierten Flusses und inauguriert damit eine spekulative Periode
des substanzlosen imd subjektlosen Absoluten, die sich bis zu
Trendelenburg und Wundt hin erstreckt. Gott ist ebensowenig
wie das Absolute ein substantielles seiendes Subjekt hinter der
(möglichen oder wirklichen) Thätigkeit, sondern nur die ideale
Seite dieser Thätigkeit, oder das ihr immanente Gesetz» oder die
ihr immanente Teleologie, welche sich für Fichte ohne Rest mit
der moralischen Weltordnung deckt. Das unendliche Ich der
Idee ist das in eine unerreichbare Zukunft hinausprojizierte Ideal
88
J. G* Fichte*
der verwirklichten moralischen Weltordnung oder des in der
daseienden Erscheinung verwirklichten Gottea Grott als wirken-
des Princip ist unbewusst und unpersönlich; aber in dein appro-
ximativ zu erreichenden Ideal des unendlichen Ich findet er das
KoUektivbewusstsein und die SamtpersOnüchkeit In dem Sj-stem
der gereinigten Ichs (Gottesreich) ist jedes einzelne empirische
Ich durch Abstreifting des Zufälligen und Besonderen annähernd
zum reinen Ich, und damit Eins mit Gott und alle Eins mit ein-
ander geworden; denn das reine Denken oder reine Bewusstsein
ist zugleich die Seligkeit und die wahre Liebe zu Gott, die mit
Gott Eins macht. In dieser intellektuellen Liebe zu Gott als
Endziel und Inhalt des Lebens findet sich Fichte mit Spinoza
zusammen; in ihr wird er zum mystisch transcendentalen Eu-
dämonisten, während er den gemeinen Eudamonismus in noch
heftigerer Weise als Kant bekämpft und moralisch brandmarkt
Indem Fichte die Natur als Gegenteil des Ich zu blossei
subjektiven Schein herabsetzt ond nur die Vielheit der bewussten^
begrenzten Ichs in dem unbewussten absoluten Ich als wahre
Realität gelten lässt, überhebt er sich der Sorge, das innerliche
Bewusstsein und das äusserliche natürliche Dasein identitäts-
philosophisch zusammenzufassen, wie Spinoza und Leibniz es ver-
sucht hatten, und wird einseitig der Bewusstseinsseite der Welt
gerecht. So bildet sein einseitig idealistischer Monismus einen
Gegensatz gegen den identitätsphiiosophischen Monismus des
Spinoza, den Fichte irrtümlich ftir einen einseitig realistischen
Monismus hält. Aber in seiner Einseitigkeit hat er die Probleme
wesentlich gefördert, so dass Schelling, auf ihn gestützt, den
identitätsphilosophischen Monismus des Spinoza auf höherer Stufe
erneuern konnte. Hinsichtlich der Kategorien versagte Fichte sich
jede Kritik der Kantschen Kategorientafel und bemülite sich nur
um die Ableitung derselben aus der einheitlichen Urthätigkeit
der unbewussten intellektuellen Anschauung, immerhin mit mehr
Glück und Geschick» als die übrigen Schüler Kants. Sein Haupt-
verdienst liegt in der Einsicht, dass die Genesis des Bewusstseins
nur in unbewussten Intellektualfunktionen und ihren Kollisionen
gesucht werden kann, sein Hauptmangel in der LTnfähigkeit»
diesen Gesichtspunkt festzuhalten und sicher durchzuführen, und
sich damit gegen die beständige Verwechselung des unbewussten
absoluten Geistes mit dem bewussten begrenzten Ich zu schützen.
et
SchelUfig.
8g
Aus diesem Mangel entspringen alle anderen Mängel seines
Systems, insbesondere der theoretische traoscendentale Idealismus
und sein ungelöster Widerspruch gegen den praktischen trans-
cendentalen Realismus,
Der Fortgang der philosophischen Bewegung konnte nach
doppelter Richtung gehen. Entweder konnte in Fichtes Princip
des absoluten Ich der Ausgangspunkt, das Ich, festgehalten, aber
dann musste es auch da gesucht werden, wo es allein zu finden
war, in dem empirischen, beschränkten Ich, und diesem musste
trotz seiner Beschränktheit die Absolutheit zugesprochen werden,
Oder aber es konnte das Absolute festgehalten werden; aber
dann musste der Charakter des Ich von ihm abgestreift w^erden.
Den crsteren der beiden Wege schlug Friedrich Schlegel, den
letzteren Schelling ein. Schlegel, zu dem wir erst <in späterer
Stelle gelangen, geriet damit auf einen Irrweg, der den eigent-
lichen Zielen Fichtes völlig entgegengesetzt warj Schelling aber
wurde der berufene Fortbildner Fichtes.
2, Schelling (1775—1854)
in seiner ersten Periode von 1794— 1806.
Von 1794 — 1797 will Schelling bloss den Fichteschen Stand-
punkt» den trän scen dentalen Idealismus des absoluten Ich, aus-
bauen und verteidigen; von 1797 — 1799 sucht er insbesondere die
von Fichte vernachlässigte Naturphilosophie in das Fichtesche
System einzufügen. Von 1799^1800 lehrt er einen gekoppelten
Dualismus von Naturphilosophie und transcendentalem Idealismus
als zweier parallel laufender, gleichberechtigter Momente des
Systems, wobei er im letzteren auch die Philosophie der Kunst
und der Geschichte zu berücksichtigen beginnt. Schellin gs Vor-
liebe für die Naturphilosophie begnügt sich aber nicht lange
damit, dieselbe als gleichberechtigten Bestandteil neben den
transcendentalen Idealismus zu stellen, sondern sie schraubt den
Begriff der Natur so hoch, dass sie die andere Seite mit um-
spannt, und dass der Dualismus zum Monismus zurückgeführt
go Schelling.
wird Damit erreicht SchelHng in den Jahren 1801 — 1806 erst
den abschliessenden Standpunkt seiner ersten Periode, welcher
unter dem Namen Identitätsphilosophie bekannt ist.
Während Kant und Fichte noch völlige Laien in der Gre-
schichte der Philosophie sind, ist Schelling der erste bedeutende
Denker, der eine gewisse Kenntnis derselben erwirbt und ver-
wertet. Hauptsächlich verdankt er sie den Anregungen Jacobis.
Schelling denkt niemals selbständig, sondern immer in Anlehnung
an frühere Philosophen, und jedesmal ist derjenige, mit dem er
sich zuletzt beschäftigt hat, tonangebend für die Ausgestaltung
seiner Gedankenreihen. Seine zweite Periode blieb unfruchtbar,
weil er zu wenig neue Anlehnungen mehr fand, die ihm kongenial
gewesen wären; seine erste wurde dadurch so fruchtbar, dass so
viele fast vergessene Denker von ihm in umgewandelter Form
zu neuem I^-eben erweckt werden konnten.
Piatons Ideen versteht er weder als abstrakte Begriffe, noch
als physische Existenzen, sondern als metaphysische Wesenheiten.
Den Dualismus von Gott und Materie sucht er durch Verflüch-
tigung der Materie zu Nichts in Monismus aufzulösen. Dadurch
wird der Piatonismus befähigt, mit dem Spinozismus verschmolzen
zu werden. Wie im ersteren die Selbständigkeit der Materie
neben Gott, so muss in letzterem der Mangel einer Teleologie
berichtigt und die mechanische Naturauffassung durch eine dyna-
mische ersetzt werden. Die dritte Erkenntnisgattung Spinozas
liefert dann die Form, in der die Platonischen Ideen erkannt
werden, nämlich die intellektuelle Anschauung. Schelling miss-
versteht Spinoza dahin, als ob dieser an Stelle des Subjekts, des
Ich oder des Wissens ein blosses Objekt, Dinge oder Sachen oder
Sein setzte, erkennt aber doch an, dass trotz entgegengesetzten
Ausgangspunktes Spinoza ebenso wie Fichte bei dem Absoluten
mündet. So findet er zwischen beiden nur einen praktischen
Unterschied, den von Quietismus und energischer Aktivität, ver-
kennt aber, dass dieser Unterschied mehr in den Charakteren
beider Denker, als in ihren Lehren begründet ist.
Er fasst den Spinozismus richtig als Akosmismus und
logischen Emanationismus auf. Dass die Einzeldinge non-entia
seien, darin giebt er Spinoza recht gegen Leibniz, der die
Monaden als reale entia oder Substanzen festhält. Mit Unrecht
wirft er ihm vor, dass er die Substanz als ein Ding und eine
ScheMing.
QT
Sache behandele, die Notvvendig^keit im Absoluten unlebendig
und unpersönlich auffasse» die Attribute nicht aus der Substanz
deduziere, sondern nur empirisch aufgreife, und sie ohne gegen-
seitige Erregung, Durchdringung und Steigerung neben einander
stehen lasse. In der That ist Spinozas Substanz durchaus Sub-
jekt und lebendig, im intcllectus infinitus erlangt sie sogar Per-
sönlichkeit, und nur die Finalität fehlt ihrer notwendigen Bc-
thätlgung. Die Attribute aus der Substanz zu deduzieren» ist
auch Schelling nicht gelungen, und ist überhaupt eine unlösbare
Aufgabe. Eine gegenseitige Erregung und Steigerung der Modi
kennt auch Spinoza, und der Begriff der Potenz im Sinne von
Stufe ist erst in der zweiten Periode von Schelling mit Unrecht
auf die Attribute selbst übertragen worden. Der Hauptunter-
schied ist, dass nach Spinoza die Attribute in jedem Modus im
Gleichgewicht, nach Schelling aber bald das eine, bald das andere
im Übergewicht ist Dass Spinoza das zweite Attribut als Aus-
dehnung bestimmt, daran nimmt Schelling keinen Anstoss, weil
er selbst die erste» unbegrenzte Thätigkeit Fichtes als Expansion,
Raum oder materia prima betrachtet und schon früh die Analogie
mit dem Platonischen äjieigov erkennt.
Leibniz rühmt er, weil derselbe die Sinnen weit aufhebe und
alle Kräfte des Universums auf vorstellende Kräfte zurückführe.
Die ganze Lehre des Leibniz deutet er idealistisch, so dass nichts
als Gott und Seelen, d.h. Anschauungen Gottes existieren; den
realistischen Dynamismus der Leibnizschen Naturphilosophie
ignoriert er und meint, dass Leibniz die Monadologie, und w^os
daran hängt, gar nicht ernst genommen habe. Nachdem er so
selber das der Vorstellung entgegengesetzte Princip aus der
I-eibnizschen Lehre hinausgeworfen hat, macht er es Leibniz zum
Vorwurf, dass er durch Weglassung des einen Attributs in den
Monaden den Spinozismus zum Unitarismus verkümmert und den
Gegensatz, in dem erst das Leben ist, beseitigt habe. Nur als Idea-
lismus soll der Leibnizianismus wiedererweckt werden können, und
rdies hat Schelling in seinem transcendentalen Idealismus versucht,
wo er die Fensterlosigkeit der Monaden, d. h. die Leugnung
ranscendenter Kausalität, festhält Für Schellings Naturphilo-
>pbie ist die Lcibnizsche Deutung der verschiedenen Naturreiche
schlafender, träumender und wacher Monaden von Einfluss
geworden. Aber in der Auffassung der Monaden als blosser
92
Scheilin^.
Privationeii oder relativer Negationen dos Absoluten wendet sich
Schclling von Leibniz zu Spinoza zurück und den Optimismus
der Leibnizschen Schule erklärt er für eine philosophisch nichtige
und mit der sittlichen Ansicht der Welt sehr wenig überein-
stimmende Meinung,
Den Phänomen alism US Humes billigt Schelling, vermisst aber
in ihm die von innen gesetzte Vorstellungsfolge, d. h. den Aprio-
rismus» und tadelt die Auffassung der Kausalität als einer erst
allmählich durch Erfahrung und Gewöhnung erworbenen.
Kant wird von Schelling anfänglich überschwenglich gepriesen,
später aber um so kühler von ihm beurteilt, je weiter er selbst
sich vom transcendentalen Idealismus entfernt. Die Lehre Kants
von den Dingen an sich ist gänzlich auszuscheiden und die volle
Identität des Dinges mit der Vorstellung an seine Stelle zu setzen.
Das Ding an sich ist ein Ungedanke, ein X, das sich zur Null
verflüchtigt; da ist doch das Schwärmerische noch vorzuziehen,
wie wenn bei Berkeley das X gleich zu Gott wird. Beck ist zu
loben, dass er die Dinge an sich aus Kants Lehre ausgeschieden
hat, und nur darum zu tadeln, dass er ohne irgend welchen über-
sinnlichen Grund unserer Vorstellungen auskommen zu können
glaubte. Die drei Arten des Apriori: Anschauungsformeo, Denk-
formen und Ideen, sind nur Anwendungen der Einen Vernunft
auf verschiedene Aufgaben. Der Unterschied der analytischen
und synthetischen Urteile ist ebenso bedeutungslos, wie der des
Apriorischen und Aposteriorischen; denn alles wird gleichmässi]
zunächst unbewusst a priori produziert und dann bewusst
a posteriori perzipiert. Ohne Raum und Zeit sind die Dinge an
sich nichts; daraus folgert Schelling in seiner ersten Periode,
dass es gar keine Dinge an sich geben könne, in seiner letzten
dagegen, dass es raumzeitliche Dinge an sich geben müsse. Die
Behauptung Kants und Reinhol ds, dass es unräumliche und un-
zeitliche Dinge an sich gebe, erklärt er für ein System, das keiner
Widerlegung bedarf. In Kants Kritik der Urteilskraft erblickt
er mit Recht den Höhepunkt des Kantschen Systems. Eine Ver-
einigung der drei Kantschen Kritiken zu einem Werke versucht
er zum ersten Male in seinem ^System des transcendentalen
Idealismus« herzustellen.
Fichte wird von Schelling dafür gelobt, dass er die tote
starre Substanz Spinozas zum lebendigen, freien Ich
1 fortgebildet|^H
Scheliiiig*
93
habe, aber dafür getadelt, dass er nicht tief genug in die vor-
bewusste Entstehungsgeschichte des Bewusstseins eingedrungen
und sich die Unbewusstheit dieser Vorgänge nicht stets gegen-
wärtig gehalten habe. Daher stamme Fichtes beständige Ver-
wechselung des bewussten empirischen Ich und des noch bewusst-
losen absoluten Princips, das darum eigentlich weder Ich noch
Subjekt genannt werden darf, sondern nur unbewusste Indifferenz
des Subjektiven und Objektiven ist Ungerecht ist der Vorwurf,
dass Fichte das empirische Ich eines jeden ^lenschen für die
einzige Substanz erkläre» und dass seine späteren Versuche, die
Ichlichkeit und Subjektivität des absoluten Ich zu überwinden,
nur Plagiate von Schellings Leistungen seien. Richtig dagegen
ist die Behauptung, dass nach Fichtes Begriffen die Natur etwas
Totes sei, das nur dazu da sei, dem Menschen als nützliches
Mittel und anständige ästhetische Umgebung zu dienen. Freilich
konnte die Natur als subjektive Erscheinung nach den Grund-
sätzen des transccndentalen Idealismus nichts weiter als ein
Produkt des absoluten Ich für das empirische Ich sein; aber
Schelling tadelt Fichte gerade darum» dass er sich nicht zu einer
höheren übersinnlichen, objektiv idealen Auffassung der Natur
emporgeschwungen habe. Scharf verurteilt wird von Schelling
die imperative Form der Fichteschen Moral» untl dieser Sklaverei
des Sitten gesetzes die Autonomie der sittlichen Gesinnung ent-
gegengestellt, —
Wie der gesamte Rationalismus seit Descartes geht auch
Schelling von der Voraussetzung aus, dass die Philosophie nur
dann Wissenschaft ist» wenn sie notwendige» sichere, evidente und
gewisse Erkenntnisse Hefert, dass sie eine Methode braucht» die
nicht irren kann, dass sie aber das Hypothetische» Wahrschein-
liche und bloss Mögliche nicht verträgt. Die einzige Methode,
die Evidenz liefert, ist die Demonstration oder Konstruktion, die
in der Mathematik als sinnlich reflektierte, in der Philosophie als
reine, in sich selbst reflektierte Anschauung der Vernunft auftritt
Der Sinn erfasst a posteriori das Vernunftlose, die Menge des
Einzelnen ohne inneren Zusammenhang» der Verstand a priori
das Allgemeine ohne Besonderung, also in seiner Leerheit; die
Einbildungskraft vereinigt beides auf besondere» die Vernunft auf
unendliche Weise. Konstruktion ist reale Gleichsetzung des All-
gemeinen und Besonderen in der reinen Anschauung, die als
QA Schelling.
Besonderes (z. B. als dieses Dreieck) ein Allgemeines (das Dreieck
überhaupt) darstellt Da die Einheit des Allgemeinen und Be-
sonderen nach Schelling die Idee ist, so werden nur Ideen kon-
struiert und nichts weiter, oder eigentlich nur die Eine, alle um-
fassende Idee, für den Geometer die des Raumes, für den Philo-
sophen die des Absoluten.
Diese Methode hat nur dann Wirklichkeit, wenn es erstens
eine unmittelbare intuitive und einfache (weder negative, noch
disjunktive, noch integrative) Erkenntnis des Absoluten im Men-
schen giebt, wenn zweitens die Idee dieses Absoluten sich pro-
duktiv verhält, d. h. mittelst schöpferischer Intellektualfunktion
sich stufenweise zur Vielheit der besonderen Ideen differenziert,
und wenn drittens diese Produktivität der Idee in statu nascente
vom Bewusstsein belauscht werden kann. Diese drei Voraus-
setzungen sind zusammengesetzt in der intellektuellen oder trans-
cendcntalen Anschauung; d. h. die Wirklichkeit der intellektuellen
Anschauung im Menschen ist die unentbehrliche Vorbeding^ung
für die Möglichkeit der Philosophie im Sinne schlechthin gewisser
Erkenntnis. Hiermit hat Schelling den Anspruch klar hingestellt,
der in verhüllter Gestalt schon bei Kant auftritt, nämlich die
transcendcntale Anschauung der apriorischen Intellektualfunk-
tionen als apriorischer. Wer immer den Begriff der Philosophie
als einer schlechthin gewissen Erkenntnis festhält, muss nunmehr
anerkennen, dass die Wirklichkeit der intellektuellen Anschauung
im angegebenen Sinne allein das Zustandekommen einer solchen
Erkenntnis möglich macht. Wenn auch nur eine der drei Vor-
aussetzungen hinfällig wird, die in dem Begriff der intellektuellen
Anschauung vereiniget sind, dann ist diese so verstümmelt, dass
sie ihrer Aufgabe, evidente Erkenntnis zu vermitteln, nicht mehr
genügen kann. (Schelling fügt in seiner ersten Periode noch
eine vierte Voraussetzung hinzu, nämlich, dass das Absolute kein
Sein und keine Realität habe als durch seinen Begriff und in
seiner Idealität, lässt aber in seiner zweiten Periode diese Voraus-
setzung thatsächlich fallen.)
Angenommen, die erste und zweite Voraussetzung, die An-
schauung der absoluten Idee und die Besonderung derselben in
Einzelideen, wäre erfüllt, so würde doch an der dritten Voraus-
setzung alles scheitern. Die Anschauung der absoluten Idee und
ihrer Selbstdifferenzierung ist nämlich das absolute Erkennen des
Schelling,
95
Absoluten selbst, eine unbewusste, hellsehende, un zeitliche, supra-
indiväduelle Bethätigiing der schlechthin allgemeinen Vernunft;
die philosophische Reflexion verhält sich dabei nur einerseits als
passiver Zuschauer, der den unbewussten Vorgang mit seinem
Bewusstsein auffasst, andererseits als retardierende Kraft dieser
Bewegung, die ihre unzeitlichen Momente stand zu halten, zeit-
lich zu verweilen und keinen zu überspringen nötigt Das indivi-
duelle Bewusstsein ist aber ganz ausser stände, weder dem supra-
individuellen unbewussten Prozess des absoluten Erkennens über
die Achse! zu gucken, noch auch ihn zeitlich zu hemmen oder
sachlich zu leiten. Es kann immer nur die fertigen Produkte,
aber niemals die produktive Thätigkeit selbst perzipieren, die
ihnen vorangeht und etwas ganz anderes ist als sie. Das perzi-
pierende Bew^usstsein hinkt hinterdrein ^ und kommt immer eine
Station zu spät; nur dadurch gelangt es zu der Welt der sub-
jektiven Erscheinung, deren Genesis das ^System des transcen-
dentalen Idealismus^; schildert. Auch die >transcendentale Er-
innerung< vermag hier nicht zu helfen; als Selbstbeobachtung ist
die Rekognition unmöglich, weil das Erinnerte noch gar nicht
zum Bewusstsein gelangt war, als Hypothese aber hört die
transcendentale Erinnerung auf, schlechthin gewisse Erkenntnis
zu sein und wurd zu einer höchstens wahrscheinlichen Rekon-
struktion der Ursache aus der Wirkung*
Auch die zweite Voraussetzung ist unhaltbar, selbst wenn die
erste zugegeben wird. Denn sie schliesst das Problem ein, wie
die ursprüngliche, über allen Gegensätzen stehende, abstrakte,
leere Einheit sich zur Vielheit auseinanderlegen könne. Schelling
musste zuletzt selbst die Unlösbarkeit dieses Problems anerkennen
und wurde gerade dadurch zu einer konkreteren, innerlich ge-
gliederten Einheit hingedrängt, wie er sie in seiner zweiten
Periode ausgestaltet, namentlich zu einem Begriff des Absoluten,
in welchem die Initiative des Prozesses und die Bestimmung
seines Endzieles nicht mehr einseitig und ausschUesslich vom
Logischen ausgeht. —
Während alle intellektuelle Anschauung besonderer Ideen
oder bestimmter Intellektualfunktionen erst abgeleitete Erkennt-
nis darstellt, ist die intellektuelle Anschauung des Absoluten
selbst, als der Einen absoluten Idee, oder der absoluten Identität
von Form und Wesen, Denken und Sein, Wissendem und Ge-
q6 Schelling.
wusstem, Subjekt und Objekt, die ursprüngliche, allgemeine in-
tellektuelle Uranschauung oder Grundanschauung, an der sich
erst alle besonderen ableiten, und damit die Identität des formalen
und inhaltlichen Princips der Philosophie (oder ihres Erkenntnis-
grundes und ihres Gegenstandes). Schon das absolute Ich Fichtes
wird sofort bei Schelling zu einer intellektuellen Selbstanschauung,
die ausserhalb alles Bewusstseins liegt, weder Bewusstsein, noch
Persönlichkeit hat, und deshalb auch im Bewusstsein nicht vor-
kommen kann ; deshalb ist auch die Existenz einer intellektuellen
Anschauung aus dem Bewusstsein weder zu beweisen, noch zu
widerlegen. Diese Thätigkeit des absoluten Ich ist transcenden-
tale Anschauung und transcendentale Freiheit, Erkennen und
Handeln in Einem, und darum auch das unbewusste Princip der
prästabilierten Harmonie zwischen Natur und Freiheit, bewusst-
loser und bewusster Thätigkeit im Menschen. Unbewusst ist
bereits diejenige eingeschränkte intellektuelle Anschauung, welche
den Bewusstseinsinhalt, die sinnliche Erscheinungswelt, vorbewusst
produziert; unbewusst ist ferner die zu Sonderideen eingeschränkte
intellektuelle Anschauung, weil auch in ihr schon der Gegensatz
von Subjekt und Objekt verschwunden ist; erst recht unbewusst
ist die absolute intellektuelle Anschauung, das ewig Unbewusste,
das nie zum Bewusstsein gelangen kann, weil die Bedingung des
Bewusstseins Duplizität ist. Die absolute Identität, die mit der
absoluten, uneingeschränkten intellektuellen Anschauung zu-
sammenfällt, wird also erst dann wahrhaft an sich erkannt, wenn
man sie auch von der Beziehung auf das Bewusstsein befreit.*)
Dass es ein solches unbewusstes Absolutes giebt, welches
zugleich unbewusstes intuitives Erkennen, unbewusstes absolutes
Wissen, oder unbewusste intellektuelle Anschauung ist, soll nicht
bestritten werden, wohl aber, dass ein solches anders in die
Individuen eingeht als in Gestalt eingeschränkter intellektueller
Anschauungen oder spezifisch determinierter unbewusster Intellek-
tualfunktionen, die den Bewusstseinsinhalt vorbewusst produzieren.
Das Individuum als solches hat also mit dem absoluten Erkennen
♦) Schelling hält leider diese Ergebnisse nicht fest, sondern braucht den Ausdruck
»Bewusstseinc auch weiter hin für absolut unbewusste Zustande, wenn sie nur die
Möglichkeit in sich tragen, irgend welches Bewusstsein aus sich hervorzutreiben. So
spricht er von nicht wissendem Wissen und bewusstlosem Bewusstsein, wogegen doch
wohl unbewusstes Vorstellen den Vorzug verdient.
Schilling.
97
dei Absoluten keinesfalls etwas zu schaffen und kann am wenigsten
in ihm den Ausgangspunkt seiner philosophischen Reflexionen
suchen; denn die intellektuelle Anschauung ist nur als ein-
geschränkte produktiv und nur als produktive aktuell Damit
sind denn alle drei Voraussetzungen der Schellingschen Kon-
struktionsmethode als unhaltbar anerkannt; ohne ihre Verbindung
ijur intellektuellen Anschauung ist aber überhaupt keine apodik-
tisch gewisse philosophische Erkenntnis möglich, Die Philosophie
muss demnach entweder sich selbst als Wissenschaft, oder aber
ihren Anspruch auf Gewissheit ihrer Erkenntnisse aufgeben* Da
die Philosophie sich hartnäckig weigerte, das letztere zu thun, so
hat der fortschreitende Zeitgeist das erstere gethan, d. h. die
Philosophie als Wissenschaft aufgegeben. —
Schellings Erkenntnistheorie geht zunächst ganz von Fichte
aus. Danach ist alles Sein als Produkt des absoluten Ich auch
nur ein Sein für das absolute Ich; indem aber das empirische
Ich mit dem absoluten Ich von Fichte verwechselt und vermengt
wird, geschieht dasselbe auch mit demjenigen, was Sein bloss für
das absolute Ich ist» aber als Sein für das empirische Ich be-
handelt wird. Während Schelling die erstere Verwechselung
bald durchschaut, bleibt er doch zunächst noch in der zweiten
stecken, bis er sich ganz allmählich auch von dieser losringt.
Dabei ist ihm die falsche Bezeichnung der unbewussten Vor-
stellungsweise des absoluten Erkennens mit dem Ausdruck Be-
wusstsein hinderlich. Bei Fichte ist alles Sein nicht bloss ideelles
Sein, sondern auch Sein für ein Bewusstsein. nämlich sofern es
nicht Sein für das empirische Individualbewusstsein ist, doch Sein
für das absolute Bewusstseln des absoluten Ich; bei Schelhng
hingegen ist zwar auch noch alles Sein ideelles Sein, aber nicht
mehr alles ideeUe Sein Sein für ein Bewusstsein» nämlich nur
noch Sein im ewig unbewussten Erkennen des absoluten un*
bewussten Subjekt- Objekt. Der nicht ins empirische Individual-
bewusstsein fallende Teil dieses unbewusst idealen Seins ist also
für dieses Individualbewusstsein ein übersinnliches, supraindivi*
duelles, bewusstseinstranscendenteSi metaphysisches Ansich, ob-
wohl es an sich etwas rein Ideales ist
Dieses Ansich ist das Wesen alles Seins, der übersinnliche
Grund der Erscheinungen, das wahrhaft Reale in allen Dingen,
dasselbe, was Piaton Idee nannte. Das Ansich steht nicht unter
E. V. Hartman a, Ausgew. W«rke, Bd. XII, 7
gg Schell ing .
sinnlichen oder Verstandesbestimmungen, d. h. unter Relationen;
das Objektivwerden der Idee für das Bewusstsein des empirischen
Ich ist ihr Geborenwerden unter Relationen und Privationen, die
an sich nichtig sind, oder die Entstehung des Phänomens. Das
Ansich kann nur etwas Lebendiges sein; das »Dingt dagegen
vermag Schelling sich nur als ein totes stoffliches Substrat der
Einbildungskraft zu denken, das nur für das Bewusstsein des
empirischen Ich und nur in den Anschauungs- und Denkformen
existiert. Unter diesen terminologischen Voraussetzungen kann
natürlich kein Ansich ein Ding, und kein Ding ein Ansich sein,
und ist das »Ding an sich« eine widerspruchsvolle Begriffs-
Zusammenstellung. Dass die vorstellenden Monaden des Leibniz
»Ansiehst seien, räumt Schelling ein und bestreitet nur, dass sie
Dinge an sich seien.
Dieses Bedenken gegen den Ausdruck Ding an sich wird
natürlich hinfällig, wenn man das Wort Ding ganz auf ein be-
wusstseinstranscendentes Korrelat des Vorstellungsobjekts bezieht,
die subjektiv idealen Erscheinungen im Bewusstsein aber gar
nicht mehr Dinge, sondern nur noch Vostellungsobjekte, Objekte
oder Gegenstände nennt; denn alsdann hört das Ding ohnehin
auf, tot, sinnlich und stofflich zu sein. Erst durch das Wollen
gelangen die Ideen zu einer mehr als idealen, zu einer realen
Existenz, d. h. werden sie zu Seelen oder Monaden; die mona-
disch verselbständigten oder individuierten Ideen sind stets als
Einheit von Seele und I.eib zu denken. Die praktische Nötigung
zur Anerkennung gleicher oder ähnlicher Wesen hat Schelling
ebensowenig wie Fichte jemals verkannt, sondern hat sie sogar
mit Leibniz auf die Tiere, Pflanzen und niederen Naturwesen
ausgedehnt und hat anerkannt, dass jede Monade nicht die Ideen,
wie sie unabhängig von ihr an sich sind, schaut, sondern nur
deren subjektiv ideale Repräsentanten, wie sie als Bilder im
Spiegel ihres Bewusstseins entstehen. Man mag zugeben, dass
auf Ideen der realistische Ausdruck Dinge nicht passt; aber auf
psychophysische Individuen von menschlicher, tierischer, pflanz-
licher Art, die mit wirkungskräftigem Willen und leiblicher Or-
ganisation begabt sind, scheint seine Anwendung doch kaum
bedenklich. Diese Zugeständnisse Schellings stossen seine an-
fängliche Behauptung um, dass es für unsere repräsentativen
Vorstellungsobjekte keine Originale ausserhalb des Bewusstseins
Schelling.
99
gebe, und es bleibt nur soviel von ihr zunächst bestehen, dass
die wirklich vorhandenen Originale (die seelisch -leibüchen und
lenskräftigen Monaden) nicht unter den Anschauungs* und
enkformen wie ihre Bewusstseinsrepräsentanten stehen, dass es
also insbesondere keinen gemeinsamen allumfassenden Zeitverlauf
für sie und keine Kausalität unter ihnen giebt —
Raum und Zeit sind blosse modi imaginandi; Zukunft und
Vergangenheit sind blosse Imaginationsprodukte, und selbst in der
Gegenwart ist nicht das Zeitliche das Reelle, sondern das Ewige,
d. h, die Idee. Für Gott hat die Natur nur unrauraliche intelligible
Verhältnisse, und im absoluten Erkennen ist keine Zeit, da diese
nicht unabhängig vom Selbstbewusstsein ist Das wahre All oder
intelligible Universum ist unzeitlich, hat also weder angefangen,
noch nicht angefangen; auch ist es unräumlich, ohne Quantität,
also weder quantitativ endlich, noch unendlich. Der Weltkörper
mit den ihm eingegliederten Weltkörpem (Gestirnen) ist un-
körperlich. Die bloss ideelle Selbständigkeit der vielen Sonder-
ideen wird erst für die sinnliche Anschauung in ein räumliches
Aussereinander verwandelt Unter diesem Gesichtspunkt allein
kann die ganze Schellingsche Naturphilosophie verstanden werden.
Unbewusst und aus uns selbst heraus, d. h. a priori, produ-
zieren wir unseren ganzen Bewusstseinsinhalt, sowohl nach seinem
EmpfindungsstoflF, als auch nach seinen Anschauungs- und Denk-
formen; bewusst werden wir uns seiner nur als eines fertig Ge-
gebenen, d. h. a posteriori. Anschauungsformen und BegriflFe
entstehen in der ursprünglichen Anschauung zugleich; erst für
die hinzukommende Reflexion, die den ßcvvusstseinsinhalt in seine
Bestandteile zerlegt, sind die herausgeschälten Begriffe (als Ab-
strakta) später als die Anschauung und blosse Schatten einer von
der Anschauung gelieferten Realität Die Begriffe, die a priori
in den noch einheitlichen Bewusstseinsinhalt vorbewusst hinein-
gewoben werden, sind also nicht als abstrakte Begriffe zu ver-
stehen, sondern als die von der Existenz unabhängigen unend-
lichen Begriffe, die mit dem Wesen oder der Idee zusammenfallen
und machen, dass das Ewige in den zeidichen Erscheinungen als
das sie für die Anschauung positiv Erfüllende geahnt wird. Die
Anschauungsformen sind rein begriff loses Anschauen, die rein
logischen Kategorien aber anschauungslose Begriffe; erst die
Kategorien mit Schema sind wirkliche Anschauungsformen. Kants
7*
I
ehre, dass die Zeit das transcen dentale Schema hinzubringe,
giebt er nicht gerade auf, behandelt aber im Unterschiede von
Kant die Zeit als Vermittlerin zwischen dem inneren und äusseren
Sinne, und denkt sich unter dem Schema die sinnlich angeschaute
Regel zur Her\^orbringung eines empirischen Gegenstandes. —
Alle Kategorien sind bloss subjektive Modi der Reflexion,
die nichts Objektives in die Dinge setzen, Bestimmungen des
Endlichen, und darum Privationen und Relationen, d, h. Imagina-
tionen, die nur bezüglich unseres Verstandes, nicht in Ansehung
Gottes Geltung haben. D^is Ewige allein ist; das Sein des End-
lichen ist so wenig im ideellen wie im reellen Sinne zuzugeben.
Wie die ganze subjektiv phänomenale Erscheinungswelt eine un-
wirkliche Dichtung der Reflexion und gleich Nichts ist, so ge-
hören auch die Kategorien, die es als Endliches bestimmen, der
Nichtigkeit an. Die besonderen konkreten Existenzen oder Dinge
an sich sind so, wie Gott sie anschaut; Gott aber schaut sie nicht
unter den Relationen endlicher Bestimmtheit an, sondern so, dass
jede Sonderidee wieder ein in sich Unendliches ist, und darum
können auch die Kategorien im intelligiblen Universum keinen
Platz finden, weil sie in Gottes Erkennen keinen haben.
In jeder Klasse der Kantschen Kategorien bezeichnet die
erste das, was dem Objekt der äusseren Anschauung angehört
(z. B. Einheit, Position), die zweite das» was der inneren An-
schauung angehört (z. B. Vielheit als Produkt des zeitlichen
Zählens, Negation als produzierende zeitliche Empfindung), die
dritte, synthetische, die Gnindkategorie, die sich bloss für die
Reflexion in die beiden ersten gespaken hat (z. B. Allheit, Limi-
tation). Bei den Relationskategorien tritt innerhalb der beiden
ersten Kategorien dieselbe Spaltung für die Reflexion hervor,
wie bei den mathematischen Kategorien nur zwischen der ersten
und zweiten Kategorie; so spaltet sich z. B. die Inhärenz in
Substanz und Accidens, deren erstere als Raumgrösse dem
äusseren, deren letztere als Zeitgrösse dem inneren Sinn an-
gehört. Die Notwendigkeit soll die Summe von Möglichkeit und
Wirklichkeit sein; ihr soll die Anschauung entsprechen, wie der
Wirklichkeit die Empfindung und der Möglichkeit das ursprüng-
liche (noch unbewusste) Selbstbewusstsein.
Aus der Gruppe der Quantitätskategorien ist der BegrilF der
Unendlichkeit hervorzuheben. Schellin g unterscheidet von der
SchcHing-
lOI
ipirischen, potentiellen, bloss imaginierten Unendlichkeit des
aechanischcn Aussereinander die wahre, aktuelle, dynamische,
ideelle Unendlichkeit. Ersteres ist der Gegensatz des Endlichen,
letzteres steht über dem ganzen Gegensatze des Endlichen und
empirisch Unendlichen, weil es über Quantität, Raum, Zeit und
Zahl erhaben ist. Das wahrhaft Unendhche ist kraft absoluter
Position oder Affirmation oder kraft des Wesens gesetzt, aber
nicht als etwas unbestimmt Formloses, sondern als in sich Ab-
geschlossenes und Vollendetes, wie die Idee als Typus und
System es ist. So fällt die supraqiiantitative Unendlichkeit
eigentlich aus den Kategorien der Quantität heraus und bereits
in die der Qualität hinein» w^eil sie sich mit der der Realität deckt
Denn Realität ist Affirmation oder Position, und zwar als
Affirmiertes, Gesetztes oder Gewusstes oder Objektives oder Sein,
während das Affimiierende , Setzende, Wissende, Subjektive oder
der Begriff ihm gegenüber die Idealität repräsentiert Zuerst auf
dem Standpunkt des transcen dentalen Idealismus ist die Realität
die subjektiv -ideale, phänomenale oder empirische Realität des
individuellen Bewusstseinsinhalts. Dann wird sie in der Identitäts-
philosophie zum absoluten Objekt oder zur objektiven Seite im
absoluten Subjekt -Objekt oder im absoluten unbewussten Er*
kennen oder in der absoluten Idee, während die phänomenale
Realität des Bewusstseinsinhalts zu einer nichtigen Illusion und
Pseudorealität herabgedriickt wird. Dann aber besinnt sich
Schelling darauf, dass der Gegensatz de^ Idealen und Realen
gar kein realer Gegensatz wäre, wenn er nicht in einer höheren
Reaütät wurzelte, dass der absolute Idealismus der absolute Tod
alles Reellen als solchen ist, und dass er als einzige wahre
Realität den Begriff oder die Idee oder das absolute Erkennen
selbst übrig lässt Damit ist dann die dritte Bedeutung der
Realität erreicht, aber nur durch einen Gewaltstreich, indem das
Ideale selbst als das Reale dekretiert und damit der Unterschied
beider Begriffe aufgehoben ist
Alle Kategorien zerlegen nur dasjenige in Reflexionen des
inneren und äusseren Sinnes, was die Kategorien der Relation
anschauend zusammenfassen; die Deduktion der Relationskate-
gorien schliesst also die aller Kategorien ein, zwar nicht für die
anschauende Intelligenz, wohl aber für das rekonstruierende
Denken des Philosophen. Die beiden ersten Relationskategorien
102 Schelling.
sind aber wieder eine reflektierende Zerlegung dessen, was in
der dritten vereinigt ist, deshalb ist diese »die Kategorie der
Relation € schlechthin und kann als Vertreter aller Kategorien
gelten. Denn in der Wechselwirkung ist jedes der aufeinander
wirkenden Dinge als Ursache Substanz, als Wirkung Accidens; also
sind Inhärenz und Kausalität in sie eingeschlossen ; die Kausalität
aber ist hier nicht mehr eine einseitige, herausgeschälte, sondern
allseitige, erschöpfende Relation. So kann die Wechselwirkung,
oder Ursache und Wirkung in ihrer Universalität genommen,
alle Kategorien vertreten; sie ist der einheitliche Ausdruck der
Kategorien hinsichtlich des Ergebnisses, wie die Eine Vernunft,
die sich in allen entfaltet, hinsichtlich ihres Ursprungs.
Unter Substanz denkt sich Schelling ein Substrat, d. h. ein
stabiliertes, fixiertes Sein, und findet dieses zunächst nur in etwas
Stofflichem, Endlichem, Produziertem, in einer realisierten Form
oder einem Objekt. Alles stoffliche Substrat ist aber wieder
bloss eine Projektion der Einbildungskraft für ein empirisches
Ich. Wie in der gemeinen Ansicht die (unbewusste) Produktivität
über dem (bewussten) Produkt verschwindet, so in der philoso-
phischen Ansicht das Produkt über der Produktivität. Die Sub-
stanzen sind also hier bloss illusorische Ruhepunkte in dem nie
stillstehenden Strom der Produktivität, phänomenale Pseudo-
Substanzen, ebenso trügerisch in ihrem Beharren wie in ihrer
Vielheit. In der Identitätsphilosophie wird das Imaginäre dieser
Scheinsubstantialität durchschaut; die Substanz zieht sich zur
Einheit zusammen und wird, objektiv betrachtet, dem All, an
sich betrachtet aber dem Wesen gleichgesetzt. Das Wesen hat
wiederum die doppelte Bedeutung als Wesen im Gegensatz zur
Form und als Wesen, das als absolutes Erkennen über dem
Gegensatz von Wesen und Form steht, und an beiden Be-
deutungen nimmt die Substanz teil. Die Begriffswandelungen
des Wortes Substanz laufen also denen des Wortes Realität
durchaus parallel, ja, genauer besehen, decken sie sich vollständig
mit ihnen. Aber für das Wesen als absolutes Erkennen, Affir-
mieren, reine Produktivität oder Thätigkeit scheut Schelling sich,
den Ausdruck Substanz anzuwenden, weil er in seinen Gedanken
die Nebenvorstellung der Stofflichkeit nicht ganz von ihm ab-
zustreifen vermag, die er an dem im Gegensatz zur Form
stehenden Wesen unbesorg^t haften lässt. —
Sch<?lling.
i03
Nach den Grundsätzen des transcendentalen Idealismus kann
Kausalität nur zwischen VorsteÜungsobjekten ein und desselben
Bewusstseins geben (immanente Kausalität), aber weder zwischen
einem Erscheinungsobjekt und einem Ansich, noch zwischen ver-
schiedenen Ansichs, Demnach ist jede (transcendente) Kausalität
unmöglich sowohl zwischen Leib und Seele, Gehirn und Vor-
stellung, als auch zwischen verschiedenen Intelligenzen. Dass
eine Vorstellung durch eine AJFektion des Organismus verursacht
werde, ist eine Täuschung, die nach Schellin g daraus entspringt,
dass für unser Bewusstsein das Bewusstwerden der Affektion des
Organismus Bedingung für das Bewusstwerden der Vorstellung
und darum auch ihr zeitliches Prius ist. (Freilich zeigt in den
meisten Fällen die Erfahrung das Gegenteil.)
Ebenso ist es eine Täuschung, dass das Ich auf einen äusseren
Gegenstand handelnd einwirken könne; die bewusste ITiätigkeit
des Handelns bestimmt nicht einmal die unbewusste produktive
Thätigkeit des Anschauens zu einer Modifikation, sondern beide
Seiten der Thätigkeit in demselben Subjekt stehen in prästabi-
lierter Harmonie. Um die prästabiÜerte Harmonie der Leib-
nizianer zwischen Leib und Seele zu umgehen, hat Schelling sich
dem transcendentalen Idealismus zugewandt; aber er kann auch
bei diesem die prästabilierte Harmonie des bewussten, freien
Handelns und unbewussten, notwendigen Produzierens der An-
schauungen nicht entbehren.
Ohne dass irgend eine wirkliche Einwirkung zwischen Leib
und Seele, zwischen verschiedenen Leibern in verschiedenen Be-
wtisstseinen und zwischen verschiedenen Intelligenzen stattfindet,
muss jedes Bewusstsein die Sache so ansehen, als ob eine Wechsel-
wirkung der verschiedenen Intelligenzen vermittelst der Wechsel-
wirkung ihrer Leiber stattfände. Objektiv wird jedem die Welt
erst dadurch, dass er viele andere Intelligenzen (Bewusstseine)
annimmt, in welchen die phänomenalen Spiegelungen des idealen
LTrbilds fortbestehen, wenn sie in ihm zeitweilig oder dauernd
verlöschen, und die alle mit einander im Einklang stehen. Da
aber transcendente Kausalität ausgeschlossen ist, so kann dieser
Einklang wieder nur durch eine präsLibilierte Harmonie der Vor-
stellungsabläufe in den verschiedenen Intelligenzen erklärt werden.
Das ist aber gerade die prästabilierte Harmonie zwischen den
Monaden, die Leibniz selbst gelehrt hat; Schelling kann sie nicht
Schilling.
nur nicht entbehren, sondern braucht neben ihr noch eine zweite
zwischen freiem bewusstem Handeln und notwendiger unbewusster
Anschauungsproduktion in jeder Monade. Untersucht man die
prästabilierte Harmonie der Monaden genauer, so führt sie zur
transcen deuten Wechselwirkung zurück.
Jede Intelligenz findet in sich drei Begrenztheiten: erstens
die Endlichkeit des empirischen Ich überhaupt, zweitens das Gre*
stelltsein in einen bestimmten Zeitpunkt der Zeitreihe und drittens
das Behaftetsein mit einem Leibe von bestimmter Beschaffenheit.
Jede Intelligenz schaut alles dasjenige, was nicht ihre Thätigkeit
ist, als die Thätigkeit anderer Intelligenzen an, indem sie die
Negation als Passivität empfindet und jeder den ihr gebülirenden
(intelligiblenj Ort anweist. Die prästabilierte Harmonie der
Monaden soll dadurch gleichsam zu einer bloss negativen herab-
gesetzt werden. Das (unendliche) Quantum der Aktivität, die
das absolute Ich oder das ewig Unbewusste entfaltet, wird
gleichsam über alle Intelligenzen ausgebreitet; alle haben sich
darein zu teilen» und jede kann sich nur so viel davon aneignen,
als die anderen ihr übrig lassen. Die Aneignung der übrigen
ist demnach die transcendente Ursache für das Übrigbleiben
eines bestimmten Teiles des Ganzen für mich. In diesem Sinne
erkennt ScheUing die nie aufhörende Wechselwirkung vernünf-
tiger Wesen, die er Erziehung nennt, und die Bedeutung der
geschichtlichen Tradition und Forlwirkung der früheren Genera»
tionen auf die späteren an.
Der letzte Grund aller prästabilierte n Harmonien liegt also
in der absoluten unsichtbaren Wurzel, von der alle Intelligenzen
nur Zweige sind, in dem Einen Geiste, der in aUen dichtet und
handelt, während die Einzelintelligenzen nur die disjecta membra
poetae sind, in welchen und durch welche der mit ihnen iden-
tische Eine Geist handelt. Wenn die Thätigkeiten, die ver-
schiedenen Wesen anzugehören scheinen, nur Abzweigungen der
Einen Thätigkeit des Absoluten sind, dann ist die prästabilierte
Harmonie aller unter einander begreiflich, aber doch nur in dem
Sinne der ideellen Wechselbedingung der Momente der all -einen
Thätigkeit, die eine zwar metaphysisch immanente, aber erkenntnis-
theoretisch transcendente Kausalität heissen muss. Den Unter-
schied des erkenntnistheoretisch und metaphysisch Immanenten
und Transcendenten , und damit auch den des erkenntnistheore*
*
Schelling.
105
fien und metaphysischen Idealismus hat sich Schelling leider
nicht zum Bewusstsein gebracht, sonst hätte er schon damals den
erkenntnistheoretischen IdeaUsmus fallen lassen, um den meta-
physischen sicher zu stellen. Das aber ist ihm schon beim Über-
gang von seiner ersten zu seiner zweiten Periode klar geworden,
dass die metaphysisch immanente, aber erkenntnistheoretisch
transcendente Wechselbedingtheit der Teilthätigkciten des Abso-
luten, d. h, der Einzelintelligenzen, ein kraftloses ideelles Schatten-
spiel ist, so lange das Realprincip fehlt, das sie realisiert und
dadurch zur reellen Kausalität erhebt.
In der zweiten Hälfte seiner ersten Periode, wo der er-
kenntnistheoretische Idealismus sich zum Illusionismus, der ab-
strakte Monismus sich zum Akosmismus verschärft, wird auch
die Kausalität zur Illusion im höchsten Grade verflüchtigt. Sie
ist nun so nichtig, wie das Endliche, worauf sie sich bezieht,
nichtig vor der Vernunft, der höchste Ausdruck der Negation
und des Nichtseins der Dinge; sie ist ein bloss subjektiver Modus
der Reflexion, der nur fiir das gilt, was ohne Wahrheit ist, der
Ausdruck der Eitelkeit, der das Endliche durch seine Beziehung
auf ebenso nichtiges Endliches unterworfen ist, und seines Zurück-
strebens zur Einheit Damit sind aber nicht die Relationen be-
troffen, in welchen die Principien des Absoluten unter einander
vor seiner Zerspaltung in Individuen stehen, und durch welche
sie sich gegenseitig erregen und steigern* auch nicht der vom
Menschen ausgehende Einfluss, durch den die Natur verschlechtert
wird, so wie der. durch welchen sie wiedererlöst werden soll.
Aus der Erwägung dieser Relationen musste sich für Schellings
zweite Periode eine ganz veränderte Auffassung der Kausalität
ergeben. —
Die * Natur <s: kann nach den Grundsätzen des transcendentalen
Idealismus nur die dem Ich gegenüberstehende subjektive Er-
scheinungswelt im Bewusstsein sein, oder das rein Objektive in
der unbewussten, produktiven, intellektuellen Anschauung. Ihre
Objektivität und All gemeingültigkeit liegt nicht etwa in einem
transcendenten Korrelat, das für alle Individuen dasselbe wäre,
oder gar sie kausal affizierte, sondern» lediglich in der gesetz-
mässigen Gleich mässigkeit und Ähnlichkeit der subjektiv phäno-
menalen Natur für alle Intelligenzen. So ist die Natur nichts
weiter als eine Hilfskonstruktion des Ich zu seiner Selbst-
Io6 Schelling.
anschauung; die Natur oder der Allorganismus und der Leib als
individueller Organismus existieren nur als Vorstellungsobjekte
und als entferntere und nähere Bedingung für das Selbstbewusst-
sein. Das Ich konstruiert sich selbst, indem es die Materie kon-
struiert, und schaut in der Materie nur den eigenen Geist im
Gleichgewicht seiner konstruktiven Thätigkeiten an. Die Auf-
gabe der Naturphilosophie besteht darin, diesen unbewussten
Konstruktionsprozess bewusst zu rekonstruieren, — selbstver-
ständlich nur nach seinen allgemeinen Principien, nicht bis in
seine unendlichen Einzelheiten. Die Naturphilosophie hat es also
nur mit dem Stufengang der Produktivität im Ich zu thun,
während die gemeine empirische Auffassung es nur mit den
Produkten zu thun hat.
Das einheitliche Produkt ist der Allorganismus, und die
Einzelorganismen sind nur seine Glieder; das Unorganische als
solches existiert gar nicht, oder doch nur als Folge der Natur-
verschlechterung durch den Abfall des Menschen, Die Natur-
philosophie ist höhere Dynamik, insofern die produzierenden
Thätigkeiten im Ich als Kräfte aufzufassen sind, nicht aber in
dem Sinne, als ob es vom Ich unabhängige Naturkräfte als trans-
cendente Korrelate des Geschauten gäbe. Die Dynamik von
Leibniz und Kant fasst Schelling durchaus nur so im Sinne des
transcendentalen Idealismus auf und denkt gar nicht daran, dass
sie auch eine realistische Bedeutung haben könnte. Er tadelt
Kants Dynamik, weil sie nur die unterste Stufe der Natur, die
Theorie der Materie, behandle.
Das Absolute gliedert seine Thätigkeit einerseits in eine
Vielheit von Intelligenzen, Monaden, Individual-Bewusstseinen
oder Ichs, oder die Geisterwelt oder ideale Welt, andererseits in
die Vielheit der subjektiven Erscheinungs weiten, deren je eine in
je einem Individualbe wusstsein den Inhalt bildet, oder die Natur.
Die ideale oder Geisterwelt enthält nun aber Monaden von sehr
ungleicher Stufe, nämlich ausser den wachen auch träumende
und schlafende, ausser Menschen auch Tiere, Pflanzen und noch
tiefere Individualitätsformen. Von Herder hatte Schelling gelernt,
dass der Mensch ein Produkt dieses untermenschlichen Monaden-
reichs sei, und dass das geistige Leben erst aus dieser unter-
menschlichen, noch gleichsam im Somnambulismus befangenen
Entwickelungsreihe hervorbreche. Dies giebt nun einen zweiten
ScTielliJit:
107
BegfTiff der Natur, der etwas ganz anderes bedeutet als der erste,
die untere Schicht der idealen Welt oder des Monadenreiches.
Wir nennen jetzt die erste Natur subjektiv -ideal, die letztere
objektiv real; Schelling dagegen nennt die erstere objektiv und
real, letztere aber, als einen Teil der idealen Welt, ideal.
Schellings Interesse geht zunächst nur auf die erstere, die
Fichtesche Nattir als Anschauung im Bewusstsein; wo er diese
Beschränkung als unthunlich empfindet, überspringt er den
zweiten Leibniz-Herderschen Begriff der Natur, um sofort zu
einem dritten Begriff der Natur im Sinne des Platonischen
Reiches der Ideen aufzusteigen. Die Natur im ersten Sinne ist
blosse Erscheinung des Ich im Ich und für das Ich; das em-
pirische Ich ist andererseits blosse Erscheinung der Natur im
zweiten Sinne; beide aber sind an sich betrachtet Eins in der
Natur im dritten Sinne, der ewigen, intelligiblen Natur oder dem
Ideenkosmos. Die Natur im ersten Sinne hat bei Schelling durch-
aus nur eine absteigende Entwickelung vom Allorganismus durch
die höheren und niederen Organisationsstufen und die unorgani-
schen Imponderabilien hindurch zu der wägbaren Materie hinj
die Natur im zweiten Sinne heit nur eine aufsteigende Ent-
wickelung vom unorganischen Stoff bis zum Menschen als
höchstem Organismus; die Natur im dritten Sinne hat gar keine
Entwickelung, überhaupt kein zeitliches Geschehen mehr, sondern
ist nur noch ein ewiges Verhältnis idealer Momente.
Schelling wusste mit der Natur im zweiten Sinne nichts an-
zufangen, weil er nicht veraiocht hatte, sich von Spinoza und
Leibniz den Gedanken anzueignen » durch den dieser Naturbegriff
erst fruchtbar wird, den Stufenbau der Individuation und die
Zusammensetzung der höheren psychosomatischen Individuen aus
niederen psychosomatischen Individuen. Er übersah deshalb auch,
dass die Natur im zweiten Sinne eben das von ihm geleugnete
erkenntnistheoretisch -transcendente Korrelat der Natur im ersten
Sinne sei, und sprang gleich zu dem metaphysisch transcendenten
Korrelat der Natur im dritten Sinne hinüber. Anstatt den wich-
tigen Unterschied und Gegensatz der Natur im ersten und zweiten
Sinne klar zu stellen, verwischte er ihn geflissentlich mit der
Beruhigung, dass doch beide nur Erscheinungen der Natur im
dritten Sinne seien. Der allzueilige Fortgang zur Platonischen
Ideenlehre hinderte ihn, seine im Fichteschen Sinne entworfene
I08 SchellinR.
Naturphilosophie zunächst im Leibniz-Herderschen Sinne aus-
zubauen; beim späteren Altersrückblick auf die Naturphflosophie
seiner Jugend sucht er aber dieselbe der geschichtlichen Treue
zuwider im transcendentalrealistischen Sinne so umzudeuten, als
ob es sich schon damals für ihn um die Natur im zweiten Sinne
gehandelt habe.
So lange Schelling die Natur nur im ersten Sinne auffasste,
musste der transcendentale Idealismus wie bei Fichte die Priorität
vor der Naturphilosophie schlechthin behaupten. Unter dem Ge-
sichtspunkt der Natur als Gesamtheit der schlafenden, träumenden
und schliesslich erwachenden Monaden erscheinen Transcendental-
philosophie und Naturphilosophie als zwei entgegengesetzte Wissen-
schaften, die nie in eine übergehen können; und zwar kommt
nun der Naturphilosophie die genetische und systematische Priori-
tät, der Transcendentalphilosophie aber immer noch die Priorität
der Dignität zu. Unter dem Gesichtspunkt des Ideenkosraos oder
der ewigen intelligiblen Natur wird die Naturphilosophie zum
Ganzen der Philosophie als Lehre vom absoluten All, in welchem
der Gegensatz eines idealen und realen Universums aufgehoben
ist. »Natur« bedeutet dann dasselbe wie vorher »das ewig Un-
bewusste«, nämlich den absoluten unbewussten Geist, in dessen
intellektualer Anschauung alle Gegensätze aufgehoben sind, aber
auch der latente Grund aller Gegensätze enthalten ist. Es ist
klar, dass diese Erweiterung des Begriffes »Natur« ein Miss-
brauch ist, der von der Nachahmung abschrecken sollte. Die
Natur kann wohl ebenso wie der bewusste Geist aus »un-
bewusstem Geiste« entsprungen gedacht werden, aber niemals
kann der unbewusste und der bewusste Geist aus Natur ent-
sprungen gedacht werden, und noch weniger kann einer von
ihnen oder gar beide unter den Begriff »Natur« einfach sub-
sumiert werden. —
Piatons Ideenlehre wird nun mit Spinozas Identitätsphilo-
sophie verschmolzen. In der natura naturans, dem absoluten All
oder dem Einen identischen Subjekt -Objekt, ist Vorstellen und
Hervorbringen, Begriff und That, Idee und Ausbreitung oder
Entfaltung der Idee in die unendliche Vielheit, ideales und reales
All Eins. In der Vernunft ist keine reale und keine ideale Natur,
sondern nur die Eine ewige Natur, die erst für das Bewusstsein
des Ich sich in eine ideale und eine reale Welt (d. h. in ein
Schellio^,
log
Gelsterreich und die subjektiv idealen Erscheinungswelten dieser
Geister) spaltet. Die wahre Natur ist also die urbildHche intelli-
gible Natur, oder die Kategorien für die Konstruktion aller
phänomenalen Natur. Nur dem Bewusstsein erscheint die Natur
als ein Gegenbild der Idee oder als eine bewusstlose Kunst, die
unbewusster Weise die intelligiblen Formen der ewigen Vernunft
in sich ausprägt.
Dabei tritt aber sofort die Frage auf, woher denn der Schein
der Zw^eiheit und des Gegensatzes zwischen der idealen und realen
Seite in der phänomenalen Natur stamme, wenn nicht aus der jen-
seit des Gegensatzes liegenden Einen Natun Das Eine setzt oder
affirmiert sich selbst: in dieser Bethätigung liegt aber auch schon
der Gegensatz des Einen als Affirmierenden (Subjekts) und Affir-
mierten (Objekts), der in die Erscheinung treten muss» wo über-
haupt eine Erscheinung zustande kommt. Die Zweiheit ist schon
in der Einen absoluten Natur vorhanden, aber als latente, ge-
bundene, die erst in der Erscheinung offenbar wird. Diese
Doppelheit drückt ScheUing als Gegensatz der natura naturans
idealis und der natura naturans realis aus. welche den Übergang
zwischen der natura naturans absoluta einerseits und der natura
naturata idealis und realis andererseits machen. Die natura
naturans idealis, oder das System der Ideen als solches, und die
natura naturans realis, oder das aufgeschlossene System der Ideen
oder der unkörperliche, unräumliche, unzeithche Weltkörper, der
alle einzelnen Weltkörper in sich schliesst, sind schwer zu unter-
scheiden, da ein unkörperlicher Weltkörper nicht zu denken ist
und jeder Versuch, ihn zu denken, sofort in das System der Ideen
umschlägt.
Die natura naturans absoluta oder das absolute All deckt
sich hier völlig mit dem unpersönlichen Gott. ScheUing glaubt,
dass die durch ihn %^ollbrachte Wiedergeburt der Natur zum
Symbol der ewigen Einheit eine neue Religion herbeifuhren
werde, die zugleich die christliche Religion vollenden und die
Heiterkeit und Reinheit der griechischen Naturanschauung er-
neuern werde. Will man diesen übersinnlichen Naturahsmus
Atheismus nennen, so bekennt sich ScheUing zu diesem Atheismus.
Nun ist aber in der natura naturata, sowohl der idealen als der
sogenannten realen, keine andere Realität mehr als eine illu-
sorische, und in der natura naturans keine andere als die der
1 1 o Schelling.
Idee; es fehlt also diesem intelligiblen Naturalismus an einem
Realprincip; die Natur ist idealistisch verflüchtigt, als naturata in
erkenntnistheoretischen, als naturans in metaphysischen Idealismus.
Der so gewonnene Gott bleibt ein unbewusster unpersönlicher.
Als Schelling ein Realprincip und einen persönlichen Gott zu
suchen begann, musste er diesen Standpunkt verlassen. —
Die Naturphilosophie im engeren Sinne beschäftigt sich mit
der natura naturans realis als der Produktivität, welche die
natura naturata realis (die subjektiv ideale Erscheinungswelt) zum
Produkt hat. Dieses reale All oder der Allorganismus spaltet
sich zunächst wieder in eine relativ ideale und eine relativ reale
Seite, die Weltseelc und den Allleib, der auch noch unkörperlich
zu denken ist und sich in die Weltkörper (Gestirne) gliedert
Diese sind, wie schon die Alten lehrten, unsterbliche Götter im
Vergleich mit den sterblichen Menschen, oder auch selige Tiere
zu nennen, und verhalten sich zu der Vielheit der einzelnen Dinge
wie Urbilder zu den Erscheinungen, wie eine intelligible Unend-
lichkeit zu der gemeinen. Da alle Sonderwesen Glieder des All-
organismus sind, und dieser ihr allgemeines Apriori ist, so liegt
in ihm auch eine innerliche Verknüpfimg aller Dinge, die sich als
Sympathie und Antipathie, als Vorgefühl des Künftigen und
Fernen, Ahnung, Divination offenbart. Die ganze Natur ist ja
im Somnambulismus. Der Instinkt der Tiere zeigt, dass sie Aus-
druck und Werkzeug der Allvernunft sind, ohne selbst (im sub-
jektiven Sinne und in bewusster Weise) vernünftig zu sein. Die
Instinkthandlungen haben eine objektive Zweckmässigkeit ohne
subjektive und sind mit Notwendigkeit vernünftig, nicht mit Be-
wusstsein. Teleologie im Sinne bewusster Absichtlichkeit eines
Schöpfers annehmen, ist das Grab aller gesunden Philosophie;
Naturteleologie ist zwar zweckmässige Thätigkeit, aber bewusst-
los zweckmässige. Die Organisation in ihrer ganzen Ausdehnung
ist in diesem Sinne ein zweckmässiges, aber nicht bewusst- ab-
sichtlich hervorgebrachtes Produkt; der Allorganismus als Produk-
tivität fällt demnach mit der unbewussten Teleologie zusammen.
Der Natur, die das absolute Produkt, den allgemeinen Or-
ganismus erstrebt, ist das Individuelle zuwider; die Indi\'iduen
sind nur Hemmungen, misslungene Versuche, die absolute Syn-
these der Aktionen darzustellen. Darum steht das Allgemeine
mit dem Einzelnen im beständigen Kampf, in dem das Einzelne
Scbelliny:.
ftl
zuletzt unterliegen muss. Erst durch ein Losreissen vom All-
Organismus wird das Einzelne zum Individuellen. Man sieht, wie
wenig Schelling imstande ist, den Allorganismus selbst als Stufen-
bau von ineinandergefügten Individualitäten zu begreifen, und
wie der abstrakte IMonismus ihn treibt, das Einzelne statt als
teleologisch wertvolles Glied des Ganzen als einen nicht sein
sollenden Auswuchs zu verurteilen. —
Die Wcltseele ist der Allorganismus nach seiner idealen Seite,
oder im Zustande der höchsten Konzentration, oder als Subjekt,
der Geist der organischen Natur, der Geist oder das Princip des
Lebens, die allbewegende Naturseele, der Thätigkeitsquell. Denn
Seele heisst der Geist als Princip des Lebens gedacht, also eine
bestimmte Seite des Geistes, durch die er mit der Natur in Be-
ziehung tritt. Die Weltseele ist also nicht der Geist, sofern er
Quelle des Geisterreiches ist, nicht die natura naturans idealis,
das System der Ideen; sondern sie gehört zum realen All und
wird insofern von SchelUng ein materielles Princip genannt. Als
das den Streit der unorganischen Kräfte Regelnde muss sie
freilich nicht im physikalischen oder chemischen Sinne, sondern
nur in einem höheren Sinne ein materielles Princip sein; es ist
aber wohl zu beachten ^ dass selbst die untersten materiellen
Kräfte nach Schellings Dynamismus die Materie nur zum Pro-
dukt haben, und selbst als immaterielle hinter der Materie liegen,
was also für die Weltseele in noch verstärktem Grade gelten
muss. Sie heisst nur darum ein materielles Princip » weil das
einzige Produkt ihrer Thätigkeit materielle Veränderungen sind.
ScheUing trägt Bedenken, das Lebensprincip '• Lebenskraft^ zu
nennen, weil »Kraftt gewöhnlich bloss auf die niederen mate-
riellen Sphären bezogen wird. Besser scheint ihm schon i^ Bildungs-
trieb* , obschon der vom Individuum gespürte Trieb nur die in-
dividuelle Gefühlsresonanz des ausserhalb der individuellen Sphäre
belegenen Lebensprincips ist. Dieses allgemeine Princip indivi-
dualisiert sich in jedem Einzelwesen nach dem Grade seiner Re-
zeptivität ; der allgemeine Strom des Lebens trifft die Organe, die
für ihn empfänglich sind.
Ursprünglich dachte ScheUing sich den Einfluss der Weltseele
so, dass die Wirksamkeitsweise der niederen materiellen Kräfte
durch ihn gestört und in eine völlig andere umgewandelt werde;
gegen Ende seiner ersten Periode erkannte er aber, dass die
Schell ini:»
I
I
I
Aunifbung und Veränderung der Naturkräfte auch eine solche
[ihrer Gesetze in sich schliessen würde. Er betont nun die Un-
verbrüchlichkeit der Naturgesetze und erkennt an, dass nur das
Gesamtergebnis durch den Hinzutritt des Lebensprincips modi-
fi/Jcrt wird. So wirkt dieses z. B. durch die Nerven auf die
irritablen Organe und befähigt diese unter anderem dazu» das sie
durchströmende Blut auf bestimmte Art zu entmischen, um da-
durch sich selbst auf bestimmte Art zu regenerieren. Eine
zweite Aufgabe des Lebensprincips soll die sein, den Konflikt
der unorganischen Kräfte immer neu anzufachen und vor dem
Zurruhekommen im Gleichgewicht zu bewahren; denn dieser
Antagonismus ist zwar nicht positive Ursache, aber doch unent-
behrliche Bedingung des Lebens.
Schelling verwirft jede mechanische Präformation und In-
einanderschachtelung der Keime und lässt nur eine dynamische
Präformation gelten, d.h. eine bestimmte Mannigfaltigkeit dyna-
mischer Tendenzen mit präformierter Entwickelungsrichtung für
den Fall ihrer Auslösung durch äussere Anlässe. Die Verwandt-
schaft der Naturtypen tasst Schelling nicht als phytogen et isclie
Entwickelung durch Abstammung» sondern lediglich als ideelle
Verwandtschaft durch gemeinsame ideelle Abkunft von derselben
geistigen Produktivität auf. Die dynamische Stufenfolge in der
organischen Fomienwelt ist als Streben der Natur nach Verwirk-
lichung eines Ideals vermittelst einer unendlichen Mannigfaltig-
keit möglicher Abweichungen Naturgeschichte. Eine wissen-
schaftliche Naturgeschichte kann es nicht geben, weil das
Moment der Freiheit in den möglichen Abweichungen nur in-
duktiv zu erfassen ist, die Wissenschaft aber auf Deduktion zu
beschränken ist
Die Äusserungen des Lebensprincips sind dreifach gegliedert
nach den drei Urthätigkeiten des Geistes: die Produktivität (ein-
schliesslich der Reproduktion) entspricht der ersten, positiven,
thetischen, die Rezepti\ität oder Sensibiütät der zweiten, nega-
tiven, antithetischen, die Irritabilität oder das organische (reflek*
torisdie) Reaktionsvermögen der dritten, synthetischen Thätigkeit»
durch welche das gestörte Gleichgewicht wieder hergestellt wird.j
Die Rezeptivntät oder Sensibilität ist eine allgemeine Eiger
der Natur, nicht bloss der organischen, und selbst im Organischen
ist sie früher als ihr Produkt, Gehirn und Ner\en. Somit bat
Schelüng,
113
auch die pflanzliche und unorganische Natur seelische Innerlich-
keit; denn alles ist ichartig, weil in allem die Weltseele flmk-
tioniert Schellings Versuche» die drei Ausserungsformen des
Leben sprincips mit den Imponderabiliea zu parallelisieren , sind
schwankend und wertlos. —
Da sich in der Schellingschen Naturphilosophie alles nur um
ideelle Ableitung der Formen der absoluten Produktivität handelt,
so kann auch die absteigende Entwickelung oder Devolution in
ihr, z. B. die Ableitung des Unorganischen aus dem Organischen
nicht stören, während dieselbe sofort anstössig wird, wenn man
sie auf die reale Genesis im Monadenreich überträgt Aus dem
Allorganismus folgt zunächst im allgemeinen die Einheit aller
organischen und unorganischen Naturkräfte, sodann im besonderen
die der drei organischen (Produktivität, Sensibilität und Irrita-
bihtät) und w^eiter die der drei Imponderabilien oder impon-
derablen Fluida (Magnetismus» Elektrizität, Chemismus). Diese
Sphäre, die zwischen der Organisation und der trägen, bloss den
mechanischen Gesetzen unterworfenen Masse in der Mitte liegt,
nennt Schelüng die dynamische im engeren Sinne. Die Materie
der Imponderabilien ist der Ätlier, IJchtäther, LichtstofiF, oder, da
Schelling Stoff und Wesen vielfach synonym braucht, das Licht-
wesen, von dem d^ts Licht nur eine Erscheinungsform ist.
Schelling setzt aber häufig das licht für das Lichtwesen, wie die
Schwere für die wägbare Materie, und stellt dann Licht und
Schwere einander gegenüber statt Äther und wägbare Materie.
Beide sind immaterielL insofern sie nicht durch ihr substantielles
Dasein, sondern niu* durch ihre dynamische Thätigkeit den Raum
erfüllen, beide sind materiell, insofern sie die Materie zum phäno-
menalen Produkt haben. Licht und Schwere, d. h, Äther und
wägbare Materie, bilden die relativ ideale und reale Seite der
unorganischen Natur. Licht und Wärme, die aus einer Quelle
stammen, stellen die ursprüngliche Einheit der Ätlierfunktion
dar, aus %velcher die drei polarischen Imponderabilien sich erst
herausdifferenzieren.
Die Erw^eiterung der Polarität vom Magnetismus und der
Elektrizität auf den Antagonismus der Anziehung und Abstossung
hatte schon Kant, die auf den organischen Geschlechtsgegensatz
sclion Herder vollzogen. Schelling brauchte sie nur auf den
Chemismus zu übertragen, alle diese Polaritäten in einen Begriflf
L. V. ilArimiinD, Aiugew. Werke, hd. XU, 8
114
SdieUlfl^.
zusammenzufi:tssen und diesen auf den Gegensat/ der beiden
geistigen Urthätigkciten im Sinne des transcendentalen Idealis-
mus zu stützen. Die Polarität ist im (Stab-) Magneten linear
oder eindimensional, in der (Reibungs-) Elektrizität flächenhaft
oder zweidimensional; im Chemismus durchdringt sie dreidimen-
sional die ganze Masse der sich trennenden oder verbindenden
Stoffe. Die Unterschiede der Qualität leitet Schelling anfänglich
aus graduellen Verschiedenheiten in der Intensität der beiden
materiellen Grundkräfte, Anziehung und Abstossung, später aus
dem Mischungsverhältnis der Imponderabilien ab. Während die
Organismen individuell und die Anziehung und Abstossung
atomistisch konkresziert sind, schweben die Imponderabilien ohne
jede monadische Individualion in der Luft als Erscheinungen, die
bloss von den Intelligenzen als illusorische Projektionen für ihre
bewusste Auffassung herausgesponnen werden, aber nicht wie
die Organismen und Atomkräfte als Abbilder von monadischen
Existenzen ausserhalb des Bewusstseins gedeutet werden können.
Dass auch der Äther aus ichartigen Kraftmonaden bestehen
könne, daran hat Schelling noch nicht gedacht —
In Betreff der Theorie der Materie stützt Schelling sich auf
Kants Dynamismus, sucht diesen aber einerseits mit der expan-
siven und kontraktiven geistigen Urthätigkeit des Ich, anderer-
seiis mit der von Ixsage erneuerten Atomistik Epikurs und
Gassendis zu verschmelzen. Er stellt demgemäss einen atomis-
lischen Dynamismus auf, d. h. er lässt die atom istische Gliederung
zwar für die Kräfte gelten, aber nicht für die stofFliclie Masse,
die erst als Produkt aus dem Widerspiel der Kräfte resultieren
solL Die Mechanik erklärt die Bewegung aus Bewegung, die
Dynamik aus Rulie, d. h. aus der ruhenden Kraft. Diese ist un-
zerstörbar nur darum, weil sie als reine Intensität oder Entelechie
jenseits des Raumes liegt. Die Materie, der erfüllte Raum» ist
nur das Phänomen eines Strebens, dessen Princip selbst nicht im
Räume ist, und die Kraft allein ist es, die den Raum von innen
heraus erfüllt. Der bloss von Imponderabilien erfüllte Raum
heisst aber in materieller Hinsicht noch leer; materiell erfüllt
helsst er erst» wenn die ganz bestimmten Kräfte der wägbaren
Materie ihn erfüllen.
Diese Kräfte sind nun Anziehung und Abstossung in Gestalt
von Gravitation und Elastizität. Bloss positive, repulsive oder
:
:
expansive Kräfte wurden ins Unendliche auseinanderfohreti, bloss
negative » attraktive oder kotitraktivc sich auf einen Punkt zu-
sammenziehen. Materielle Raumerfiillung kann also nur im
reellen Konflikte beider Kraftarten entstehen. Eigentlich sind
beide Kraftarten unendlich in ihrer Wirkungsfähigkeit und
wirken in die Feme; denn die Kräfte sind metaphysisch ge-
nommen nirgends, phänomenal genommen aber da, wo sie wirken
(d. h. überall). Die phänomenale Fern Wirkung ist also meta-
physisch erklärt durch die unräumliche Einheit der Kräfte im
Absoluten. Die Ani^iehung wirkt ins Unendliche, die Abstossung
aber erhält eine Begrenztheit, eine zufällig hinzugefügte Schranke,
durch die sie nur bei der Berührung oder doch nur innerhalb
gewisser Grenzen (Molekularentfernungen) wirksam ist Hierbei
ist teils Kants Lehre von der Abstossung als Oberflächenkraft,
teils das Schema des Magneten massgebend, nach welchem die
vom Nordpol aus wirkenden beiden Kräfte sich im Südpol die
Grenze der ganzen Kraftlinie setzen sollen,
Schelling denkt bei seiner Konstruktion niemals an die
Wechselwirkung gleicher oder entgegengesetzter Kräfte in ver-
schiedenen Dingen oder Monaden, wie die Naturwissenschaft es
thut, sondern immer nur an die Wechselwirkung einer positiven
und einer negativen Kraft, die an demselben Punkte ihren ge-
meinsamen phänomenalen Sitz haben, insofern dieser eine Punkt
Ausgangspunkt für die Abstossung und Zielpunkt für die An-
ziehung ist Er geht dabei von der ursprünglichen Einheit eines
thätigcn Subjekts aus, die sich erst ftir den dynamischen Prozess
in eine positive und eine negative Tendenz oder Aktion differcn-
tziert oder polarisiert hat, und hält stets den Gesichtspunkt fest.
dass diese Konstruktion der Materie nur ein subjektiv phänome-
naler Vorgang im Ich ist, dessen Momente sich mit der positiven
und negativen geistigen Urthätigkeit des Ich decken. So wenig
^nach den Grundsätzen des transcendenlalen Idealismus eine trans-
cendente Kausalität möglich sein soll, ebenso wenig eine solche
zwischen verschiedenen Kraftmonaden. Mit solcher Beschränkung
und Isolierung verliert aber der Dynamismus jeden Wert, weil
aus einem einzigen Kräftepaar niemals die Materie zu konstruieren
ist, sondern nur aus dem Gegeneinanderwirken vieler.
Deshalb sind die atomistisch gegliederten Kräfte der An-
ziehung und Abstossung nur »ideelle Erklärungsgründe. , Denk-
st
ii6
Scbcllitig.
notwendigkeiten , deren Gegenstände hinter dem Bewiisstsein
liegen, also nicht reell im Sinne der »empirischen Realität« sind.
Auch ilire Denknotwendigkeit besteht nur unter der unwirklichen,
ja sogar unmöglichen Voraussetzung, dass die Natur ihre Devo-
lution oder absteigende Entwickelung vom Allorganismus bis
zum Einfachen fortgeführt und zu Ende gebracht hätte. Die
einfachen Aktionen oder Entelcchien existieren gar nicht. Vom
Jahre i8oi an giebt deshalb ScheUing diese ganze dynamische
Atomistik preis, und ist auch später auf sie nicht zurück-
gekommen ^ als er die Naturphilosophie auf die Monadenwelt und
ihre aufsteigende Entwickelung umzudeuten versucht, wo sie doch
gerade die tragende Grundlage des ganzen Baues hätte werden
müssen.
An Stelle der intramonadischen Anziehung und Abstossung
tritt in der zweiten Hälfte der ersten Periode die Gravitation
oder Schwere, die nun nicht mehr als identisch mit der Attrak-
tion, sondern als eine dritte, supraatom istische Kraft auftritt und
sich in intermonadischen Erscheinungen äussert Von Baader
entlehnt Schelling einen Begriff der Gravitation» wonach diese
eine Thätigkeit ist, durch welche ein Centralkörper die zu seinem
System gehörigen Trabanten in dynamische Beziehung setzL
Alle Systeme sind zuletzt durch ein gemeinsames Gravitations-
centrum der Welt in dynamische Beziehung gesetzt. Diese Kraft
ist zum ersten Mal eine transitive, wälircnd die Attraktion und
Repulsion intransitive sein solken, und an die Stelle des atomis-
tischen Dynamismus tritt mit ihr ein monistischer. Die allgemeine
Schwere soll sowohl die ursprüngliche Einheit sein, aus welcher
Anziehung und Abstossung sich hcrausdifferenziert haben, als
auch die synthetische Einheit, durch welche und in welche sie
wieder zusammen gefasst werden; sie vertritt also die ganze Sphäre
der wägbaren Materie, wie das Licht die der Imponderabihen, und
ist hier das Band der Einheit, wie jenes dort. In der Schwere
ist das Reale, im Licht das Ideale im Übergewicht, in der Or-
ganisation sind beide im Gleichgewicht; Schwere, Licht und
Organismus sind darum die drei Stufen oder Potenzen der
Natur. Jedes dieser drei 5. Bändern spiegelt die metaphysische
Einheit des Absoluten auf der betreffenden Naturstufe wider. —
In seinem Alter hat Schelling selbst zugestanden, dass seine
Naturphilosophie teils aus empirischen Beobachtungen, teils aus
Schelling.
^«7
Schlüssen von zweifelhaftem Werte bestehe, und hat damit den
Anspruch auf apodiktische Gewissheit seiner Konstruktionen
fallen lassen. Völlig unhaltbar auf dem Boden des transcenden-
talen Idealismus orgiebt sie doch manches Brauchbare, wenn sie
im Sinne eines transcendentalen Realismus umgedeutet wird,
nämlich den Begriff der Natur als eines Allorganismus, den Pan-
psychismus, der die Seele allein als bewegendes Princip in ihm
gelten lässt, die Verllüchtigung der trägen, kraftlosen Stuffmasse
zu einem blossen Nichts, die unbewusste Teleologie als Princip
der Biologie und den atomistischen Dynamismus als innere funk-
tionelle Mann igt altigkeit eines monistischen Dynamismus. Die
Gliederung der Natur bei Schelling wird durch folgende tabel-
larische Übersicht verdeutlicht, (Siehe Seite 118-) —
Über den Kategorien stehen die Principien, In der ersten
Hälfte der ersten Periode betrachtet Schelling die Thätigkeit als
das letzte; da können auch die Principien nur als Thätigkeiten
igefasst werden, und diese haben hier noch nicht einmal die Be-
rzeichnung Prineipien* erhalten. In der zweiten Hälfte der ersten
Periode iiieht die Eine Urthätigkeit sich in die Identität von
Thätigkeit und Ruhe zurück; da werden die Principien zu
ewigen idealen Momenten der absoluten Identität oder zu den
ihr immanenten Keimen einer eventuellen Differenzierung.
Die Urthätigkeit oder Produktivität ist das Sein selbst; nicht
sie ist zu erklären, sondern das Seiende als ihr Produkt Sie ist
zu denken als eine Expansion ins Unbestimmte, die zugleich
Repulsion ist, etwa nach Aj-t der sphärischen Ausbreitung eines
komprimiert gewesenen Gases oder einer Lichtvvelle aus einem
Lichtquell. Deshalb nennt Schelling sie die thetis(^he <»der posi-
tive Thätigkeit, und denkt als ihren Ausgangspunkt das Ich oder
das noch seiner unbew^usste Subjekt des Erkenntnisprozesses. Da
diese Thätigkeit ins Unbestimmte geht, so wird durch sie nichts
bestimmt; wohl aber ist diese nichts bestimmende Thätigkeit be-
stimmbar, wenn eine entgegengesetzt gerichtete Thätigkeit ihr
Schranken setzt Diese zweite, negative, antithetische, kontrak-
tive» attraktive, hemmende und rezeptive Thätigkeit ist bestim-
mend, aber nicht bestimmbar, sie wirkt als ein hemmender Im-
puls von demselben Centrum, dem Ich, aus und bringt die
Expansion ins Unbestimmte zum zeitweiligen Stillstand. Das so
filr eine gewisse Dauer fixierte Produkt erst ist das Seiende im
ii8
Sctielling.
Natura natarans absoluta
oder absolutes All
Natura naturans idealis
oder ideales All
oder System der Ideen
Natura naturans realis
oder reales All
oder Allorganismus
Relativ ideale Seite:
We 1 1 s e e 1 e
Relativ reale Seite:
unräumlicher All-Leib
oder unkörperlicher Weltkörperbau
Imponderabilien
polarische : unpolarische :
Magnetismus Licht- und
Elektrizität Wärme -Äther
Chemismus (Licht)
Wägbare Materie
atomistischer Dyua-
mismus, später
Schwere.
Unorganische Natur
Organische Natur
Th. I : Produktivität
Th. 2: Rezeptive Sensibilität
Th. 3 : Reflektorische Reagi-
bilität oder Irritabilität
Natura naturata idealis
oder Geisterreich oder
geistige Monadenwelt
Natura naturata realis
oder subjektiv phänomenale, sinnlich-
stoffliche Erscheinungswelt
Welt der vollständigen Monaden (mit
Seele und Leib) oder psychophysischen
Individuen
Schclling.
objektiven Sinne, wie der Magnet nach Schelling die Begrenzung
der vom Nordpol ausgehenden Kraft am Südpol durch die eben-
falls vom Nordpol ausgehende Kraft der Hemmung ist.
Die ursprüngliche Thätigkeit ist Wollen als blinde unbcwusste
Thätigkeit, ein Wollen, das erst der Bestimmung und Begrenzung
durch die zweite, antithetische Thätigkeit harrt. Nur das bereits
bestimmte, autonome Wollen ist Quelle des Selbstbewusstscins
und gemeinsames Princip des Erkennens und Handelns; aber so
ist es immer schon Zusammenwirken der bestimmbaren und der
bestimmenden Intellektiialfunktinn. Die zweite Tliätigkeit ist
Anschauen, da Begreir/.en und Anschauen Eins sind; genauer ist
sie das unbegrenzbare Streben, sich in der begrenzbaren Thätig-
keit anzuschauen. Sie steht deshalb der ersten Thätigkeit gegen-
über wie das Anschauen dem Wollen, wie das Ideelle dem
Reellen» wie das Denken dem Sein, wie der auffassende Gedanke
der stofFHchen Emanation, oder in einem gröberen Bilde, wie das
Dünne und Leere dem Dicken und Vollen. Fichte nannte gerade
die erste Thätigkeit ideal und subjektiv» weil sie nicht nur
schlechthin intellektuell ist, sondern auch aus sich die ideale sitt-
hche Weltordnung entfaltet und vom Subjekt ausgeht; ScheUing
nennt sie real und objektiv, weil er nicht auf ihren Ausgangs-
punkt und ihre eigene BeschaflFenheit, sondern ayf ilirc produktive
Leistung, ihr Ziel oder Produkt blickt Fichte nannte die zweite
Thätigkeit objektiv oder rea!, weil sie erst durch ihre Begrenzung
der unendlichen Produktivität ein Objekt setzt und eine Realität
fixiert; ScheUing nennt sie ideal und subjektiv, weil er An-
schauen und Begrenzen gleichsetzt und die mit ihr hinzu-
kommende Anschauungstendenz als subjektiv bezeichnet Bei
Fichte war es die zweite Thätigkeit» bei Schelling ist es die
erste, die als reales Objekt angeschaut wird.
Die tlietische und die antithetische Thätigkeit sind beide
Momente der absoluten Urthätigkeit , beide ideelle Intellektual-
funktionen oder Differenzierungen des unendlichen Erkennens.
Die ursprüngliche Produktivität ist die Identität, die sich in dem
Widerstreit der beiden ThäLigkeiten in die Duplizität spaltet.
Die thetische Thätigkeit fliegst bei Schelling zunächst noch eben-
so wie bei Fichte mit der absoluten Urthätigkeit als der un-
differenzierten Emheit zusammen und hebt sich erst in der
2weiten Hälfte der ersten Periode deuthcher von ihr ab. Der
1 20 Schelling.
Gegensatz von Wollen und Anschauen wird zwar als ein (phäno-
menal-) reeller, aber doch als der Gegensatz zweier gleich ideellen
Intellektualfunktionen aufgefasst; das Wollen ist hier durchaus
nur als erste Bethätigung der Vernunft zu verstehen, die schon
praktisch auftritt, aber noch der Selbstbesinnung crmangelt.
Ursprünglich sind beide Thätigkeiten ebenso unendlich wie
ideell. Die erste Thätigkeit überschreitet deshalb mit ihrer ex-
pansiven Tendenz jede (Jrenze, die ihr zeitweilig von der zweiten
gezogen wird; die zweite aber folgt ihr bei jeder Grenzüber-
schreitung nach und setzt ihr eine neue Grenze. Zu ihnen kommt
dann die dritte oder synthetische Thätigkeit hinzu, welche keinen
neuen Inhalt beibringt, sondern nur den fixierten Streit beider
oder ihr zeitweiliges Gleichgewicht zusammenfassend zum Be-
wusstsein bringt. Sie erst fügt zum Reellen und Ideellen die
Form des Bewusstseins hinzu; sie erst ist die bewusst an-
schauende, oder ihrer Anschauung sich bewusste Thätigkeit.
Erst mit ihr beginnt das Selbstbewusstsein oder das Ich in der
einzigen ihm rechtmässig zukommenden Bedeutung als em-
pirisches Ich. Die zweite Thätigkeit ist die gegen die reelle ge-
richtete ideale oder Anschauen, die dritte ist die gegen sich
selbst gerichtete ideale Thätigkeit, oder Anschauen des An-
schauens. Die ideale Thätigkeit begrenzt die reelle zum Objekt,
sich selbst aber zum Ding an sich; so sind beide für die philo-
sophische Betrachtung verschieden, während sie für das naive
Bewusstsein identisch sind, auch von Fichte im Nicht- Ich ver-
schmolzen werden.
Dem gegenüber ist zu bemerken, dass die drei Thätigkeiten
als Vorgänge innerhalb einer monadischen Intelligenz auf keine
Weise weder ein Nicht-Ich, noch ein Ding an sich liefern können,
als supraindividuelle Vorgänge im Absoluten aber nur dann, wenn
eine transcendente Kausalität zwischen Thätigkeiten stattfindet,
die verschiedenen Monaden oder Individuen angehören. Ein
intraindividueller Intellektualprozess kann nie über das Objekt
hinausführen, das als Bewusstseinsinhalt innerhalb der Sphäre des
empirischen Ich verbleibt. Wenn das empirische Ich das einzig
mögliche, und dieses erst das Produkt oder Kompositum der drei
Thätigkeiten ist, dann gehören zwar die betreffenden Thätigkeiten
derjenigen monadischen Funktionengruppe an, die gerade dieses
Individualich hervorbringt; aber sie dürfen nicht als Attribute
Schelling.
121
an ihrem Produkt, nicht a|s Folgen des Ich, und das Ich nicht
wieder als die ihnen zu Grunde hegende Substanz behandelt
werden. Gleichwohl thiit Schelling dies häufig und fällt damit
In den von ihm an Fichte so streng gerügten Fehler der Ver-
wechsehmg des empirischen und absoluten Ich zurück. Nur das
absolute Ich ist der absolut unbewussten Urthätigkeit oder Ur-
produktivität gleichzusetzen, die der Grund und Quell der drei
Thätigkeiten ist, nicht aber das empirische Ich oder Selbst-
bewusstsein.
Wir haboti somit in der ersten Hälfte der ersten Periode
\'ier Principien zu unterscheiden: i, die noch undifterenziertc Ur-
thätigkeit als reine Identität (Th, o), 2. die thetische, positive,
reelle» objektive, produktive, expansive, repulsive, bestimmbare,
begrenzbare, blinde, bewusstlose, wollende, notwendige Thäügkeit
(Th, i), 3. die antithetische, negative, ideelle, subjektive, rezeptive,
kontraktive, bestimmende, begrenzende, anschauende, freie Thätig-
keit (Th. 2), 4. die synthetische, bewusste, das Anschaoen an-
schauende Thätigkeit (Th. 3). —
In der zweiten Hälfte der ersten Periode rückt der Schwer-
punkt auf die ursprüngliche Identität der Thätigkeiten (Th, o)
hinüber; daher heisst sie mit Recht Identitätsphilosophie. Die
(ursprüngliche) Einheit, der zweigliedrige Gegensatz und die
wiederherge,stellte (Verknüpfungs-) Einheit bilden nun die drei
höchsten VernunftbegriffH und iieissen zusammengenommen die
{synthetische) Einheit der (ursprünglichen) Einheit und des Gegen-
satzes. Die ursprüngliche Einheit heisst in der ersten Periode
»absolute Identität-, die synthetische Einheit * Indifferenz: oder
»Identität- schlechtweg (in der zweiten Periode heisst die ur-
sprüngliche Einheit Indifferenz^t , die synthetische >Identität^).
Die ursprüngliche Einheit oder absolute Identität ist das schlecht-
hin reale Existierende, ausser dem nichts real ist; sie ist das X,
das im Gegensatze sich in A und B spaltet, um auf Grund des
X in A und des X in B auch dasjenige zur synthetischen Ein-
heit zu führen, was in A und B nicht X ist Die synthetische
Einheit ist nicht Einerleiheit. sondern Nexus, organische Einheit,
Vereinigung von Gliedern, die zu Einem Wesen (X) zugehörig
sind. Dass das mathematische Gleichheitszeichen nicht geeignet
ist, diese Verknüpfung auszudrücken, hat Schelling später ein-
gesehen, aber nicht, dass die grammatische Kopula ebenso-
122
Sdhelling.
wenig dazu geeignet ist Auch dass das Wort Identität falsch
angewendet ist zur Bezeichnung einer Einheit, ist ihm nicht
eingefallen.
Das vollständige Absolute ist erst die Einheit der Einheit
und des Gegensatzes; das implicite Absolute vor seiner Entfaltung
in die drei Principien, das Absolute schlechthin, was von sich
selbst und durch sich selbst ist, ist die ursprüngliche Einheit oder
absolute Identität, Letztere ist demnach die substantielle oder
wesentliche Einheit, die über numerischer Einheit und Vielheit
steht und in jeder der vielen Monaden ganz und ungeteilt ist
(d. h, die absolute Substanz im Spinozistischen Sinne des Wortes).
Denken (bewusstes Erkennen) und Sein (objektiv reales Dasein)
sind nur Reflexe des Absoluten in den Gegensatzgliedern, dem
Idealen und Realen oder der Form und dem Wesen, gehören
also der absoluten Identität als solchen nicht an. Diese ist viel-
mehr das über dem Gegensatze des Idealen und Realen stehende
absolut Ideale, das zugleich das einzige absolut Reale ist, oder
das über dem Gegensatze von Form und Wesen stehende abso-
lute Wesen. Aus der Fülle ihrer Absolutheit fliesst ohne ihr
Zuthun als eine bloss ideale Folge die Thätigkeit ab, die gleich
der tiefsten Ruhe ist. Diese Thätigkeit ist zunächst Einbildung
des (übergegensätzlichen) Wesens in die Form, der Übergang
von der Einheit oder dem Centrum zur Vielheit oder der Peri-
pherie, d. h. Sein als Produktivität, und ihr Ergebnis die reale
Welt oder Natur oder das Reale. Die andere, ihr gegenüber-
stehende Thätigkeit ist die Wiedereinbildung der Form in das
Wesen, die Rückkehr von der Vielheit oder Peripherie zur Ein-
heit oder zum Centrum, d. h. Wissen oder Erkennen, und ihr
Ergebnis ist die ideale oder geistige Welt
Das Wesen ist das Allgemeine, der Begriff, das Innere; die
Form dagegen ist das Besondere» die besondere ideelle Bestim-
mung, das Princip der Absonderung und Unterscheidung, die
Gestalt » das Äussere. Wenn die ursprüngliche Einheit mler ab-
solute Identität der Urthätigkeit (Th. o) entspricht, so führt die
thetische reale Thätigkeit (Th. i) vom Wesen als Ausgangspunkt
zur Form als Zielpunkt, die antithetische, ideale Thätigkeit (Th. 2)
von der Form als Ausgangspunkt zum Wesen als Zielpunkt Bei
dieser Wechselbeziehung, aus der das Reale und Ideale ent-
springt , soll das Wesen bloss Grund , Idealgrund oder Möglich-
ScbcUing.
123
keit von Realität, die Form aber die positive Ursache, der Real-
grund oder die Wirklichkeit der Realität sein. Beides sind ideale
PVincipicn, aus deren Zusammentreffen die Realität entspringen
soll; aber nur noch die eine der beiden Thätigkeiten geht dem
Realen voran, die andere folgt ihm nach und von einer Kollision
dieser Thätigkeiten kann nun nicht mehr die Rede sein. Wesen
und Form geben gleichsam die zwei idealen Richte ngspankte
ab, durch Beziehung auf welche bald in diesem, bald in jenem
Sinne die eine Urthätigkeit imstande ist, sich in zwei entgegen-
gesetzte Thätigkeiten zu spalten. Wesen und Form stellen sich
somit als die zwei Principien dar, die der Einheit implicite und
latenter Weise als Keim für die Duplizität der eventuellen Thätig-
keit immanent sind. —
Die dritte synthetische Thätigkeit wird bei dieser Umwand-
lung zu dem Bande der Verknüpfung oder der Kopula zwischen
Wesen und Form als Gegensatzgliedern und heisst als solches
Vernunft, Urvernunft, Xoyo*^, Wort (auch die Ewigkeit); wird aber
darauf reflektiert » dass die Verknüpfungseinheit nicht bloss das
verknüpfende Band ist, sondern auch die Verknüpften einschlicsst,
also das Absolute in seiner Vollständigkeit darstellt, dann heisst
sie die Idee (oder auch das Ewige). Dieser Unterschied zwischen
Vernunft und Idee wird aber nicht streng festgehalten, sondern
die Ausdrücke fliessen öfters durcheinander, ebenso w^ie auch
Wesen und Form häufig statt der Richtungspunkte die zwischen
ihnen hin und her spielenden Thätigkeiten bezeichnen.
Die Vernunft ist nicht die abstrakt diskursive der mensch-
lichen Vernunft, sondern die objektive oder vielmehr absolute
(intuitive) Vernunft, von der die Reflexionsmenschen keine
Ahnung haben. Sie ist die erste Synthesis, aus der alles, die
reale und die ideale Welt entspringt, das völlige fjrleicl ige wicht
des Subjektiven und Objektiven, die unendliche Erkenntnis, die
Gott von sich selbst hat, d. h. die intellektuelle Anschauung des
Absoluten im Absoluten. Da nun aber das verknüpfende Band
desjenigen in den Gegensatzgliedern A und B, was nicht X ist,
doch wieder nichts weiter ist als das X, das in ihnen beiden das
Seiende ist, so ist eigentlich schon dieses X, die ursprüngliche
Einheit oder absolute Identität, das Absolute an sich und vor
sich selbst, die Vemimft, so dass die Vernunft alles und ausser
ihr nichts ist Dieser Gesichtspunkt ist es, der von Hegel auf-
124 Schclling.
gegriflfen und systematisch durchgeführt wurde: als leeres
Formalprincip ist das Absolute Vernunft, in seiner selbstgesetzten
Erfüllung ist es Idee.
Die Idee, das vollständige Absolute, ist ihrer Natur nach
nur Eine, nämlich die des Ewigen, oder der ewige Begriff als
Einheit des unendlichen und endlichen Begriffes, oder des Be-
griffs und der Anschauung. Das Absolute ist dasjenige, welches
unmittelbar durch seine Idee auch ist, das kein Sein und keine
Realität hat ausser seinem Sein als Idee und seiner abso-
luten Idealität. So erneuert der absolute metaphysische Idealis-
mus den ontologischen Beweis a priori, der mit seiner Wahrheit
steht und fällt.
Die zur Einen Idee konkreszierte Vernunft ist Gott oder das
absolute All als die Identität des idealen und realen All.
Keinerlei Differenz ist im absoluten All denkbar, nur im Nicht-
wesen (Schein) als negierte in Bezug auf das All ist sie denkbar,
also als relatives Nichtsein des Besonderen im All, das der Keim
der gesamten Endlichkeit ist. Die Eine absolute Idee umspannt
alles wSein, und edles ist im wahrhaften Sinne nur so, wie es in
der Einen Idee ist. Alles andere, was ausser der Idee ist, oder
sofern es ausser der Idee ist, hat kein Sein, sondern ist blosser
Schein. Selbst die Vielheit der Sonderideen und ihre besondere
Bestimmtheit, z. B. das, was die Idee zur Idee der Pflanze
macht, ist nichts an sich, ist nicht substantiell und nicht reell im
höheren Sinne dieser Worte, sondern bloss ein Schematismus
der Einbildungskraft für eine untergeordnete Reflexion. Durch
Symbolisierung in den Dingen werden die Ideen, die an sich
Formen des Erkennens sind, zu Formen des Seins ertötet, wie
auch die plastische Kunst ihre Ideen tötet, um ihnen Objektivität
zu geben.
Danach wäre alles Besondere, alle Unterschiede, selbst die
der vielen Teilideen und der der geistigen und natürlichen Welt
von einander, blosser Schein der Imagination, eine rein subjektive
Illusion; das Absolute bliebe als starre, unbewegliche, nichts be-
wegende, einfache Einheit stehen, und eine wirkliche Selbst-
differenzierung desselben wäre damit ausgeschlossen. Diesem
akosmistischen Illusionismus will aber der abstrakte Monismus
der Identitätsphilosophie sich doch nicht hingeben, so nahe er
ihn auch streift, und so unentrinnbar diese Konsequenz ist.
Schellin^*
t^5
Schelling- springt von der Einen Idee zu den vielen Ideen hin-
über, indem er behauptet, Gott sei auf unendliche Weise die
Affirmation seiner selbst oder die unendliche Position von un-
endlichen Positionen, oder die Zeugung ewiger Gegenbilder. Er
bemerkt aber nicht, dass er damit schon aus der wahren Unend-
lichkeit in die falsche, von ihm perhorreszierte , hinübergleitet,
gerade wie Spinoza mit der Annahme unendlich vieler Attribute
Gottes. Von einer einfachen Einheit aus lässt sich niclit weiter
kommen» und ein Absolutes» das bloss Vernunft ist, kann niemals
einen vernünftigen Grund haben, seine Einheit in eine Vielheit
zu zerspalten.
Wir haben in der Identitätsphilosophie als vier Principien im
Absoluten zu unterscheiden r i. Die absolute Identität oder das
absolut Ideale oder das Wesen an sich {Pr. o), 2. die beiden
Glieder des Gegensatzes, Wesen (Pr, i) und Form (Pr* 2), 3. die
Idee (Pr. 3) oder den ewigen Begriff oder das Ewige als syn-
thetische Einheit der ursprünglichen Einheit und des Gegen-
satzes» vi^obei die Vernunft die Rolle des verknüpfenden Einlieits-
bandes spielt —
Das Problem, wie sich das Individuum zum Absoluten
verhält, hat Schelling in allen Phasen seiner Entwickelung be-
schäftigt. Von den drei Begrenztheiten, die er im r. System des
transcendentalen Idealismus^^ aufstellt, ist offenbar die dritte, der
singulare Leib, die wichtigste, und kann so gedeutet werden»
dass sie die beiden anderen {Endlichkeit überhaupt und Ein-
gliederung in einen bestimmten Zeitpunkt der Zeitreihe) mit um-
st. Dcmgcmäss machen erst Leib und Seele zusammen die
lonas completa oder substantia completa oder das Individuum
aus, innerhalb dessen sie die beiden Seiten des Realen und
Idealen darstellen. Als Begriff des Leibes oder idca corporis ist
die Seele gleich nichtig und ilhisorisch wie der Leib; nur als
Idee hat sie ihr wahres Leben im Absoluten. Als Begriff des
Leibes gehört sie zu einem Modus des unendlichen Erkennens»
als Idee ist sie das supraiodividuelle unendliche Erkennen selbst,
Begriff der Seele oder idea ideae corporis. Wenn der Leib oder
die Seele zu handeln scheint, so handelt in ihnen und durch sie
das Absolute, und zur scheinbaren Handlung dieser Individual-
seele wird die Handlung nur dadurch, diiss sie von dieser ge-
wusst w^ird, d.h. dass sie in die Sphäre dieses empirischen Be-
126
Schcliintj.
wusstseins fällt. Bei Spinoza ist die idea idcae Bewusstseins-
princip, also individuell» bei Sohelliiig Idee im Absoluten oder
supraindividuelles, unendliches, unbewusstes Erkennen. Schelling
bemerkt nicht, dass beide Deutungen sich ausschhessen , und
sucht sie beide fest zu halten.
Hiermit sind die Individuen samt allem ihrem Vorstellen und
lliun zu unwahrem Schein verflüchtigt. Was wahrhaft ist, ist
nur die Eine absolute Idee, und schon die einzelnen Spezialideen
sind in ihrer Besonderung nicht wahrhaft. Aber wären auch sie
noch, so ist doch nicht abzusehen, wie sie dazu kommen, sich zu
Individuen zu verendlichen, ihre Rehitionslosigkeit unter einander
aufzugeben und sich unter Relationen zu stellen. Die verendlichte,
unter Relationen gestellte Idee oder das Individualich bezeichnet
so den äussersten Punkt der Gottesferne und Entfremdung vom
Centrum; ihre Vielheit besteht ebenso sehr bloss in der Imagina-
tion, wie ihre Freiheit, Persönlichkeit, zeitliche individuelle Un-
sterbhchkeit u. s. w. Die Individuation ist im Akosmismus unter-
gegangen; aber das Problem bleibt bestehen: woher kommt
innerhalb des abstrakten Monismus der nichtige, trügerische
Schein einer Vielheit realer Individuen? Wie ist es möglich, dass
die Idee von sich selbst abfällt, um sich unter den Schein vieler
endlicher Individuen und ihrer nichtigen Relationen zu stellen?
Aus dem Einen, Ewigen, Unendlichen kann er nicht herkommen,
da dieses nicht von sich selbst abfallen kann; wo anders soll da
die Quelle des Abfalls und des Scheins gesucht werden, als in
den Individuen selbst? Das Absolute mag den Abfall zulassen,
damit die endlichen Individuen als solche, die ein selbständiges
Leben in sich heiben, versöhnt zu ihm zurückkehren und dann
ewig in ihm seien; aber ausgehen kann die Gottentfremdung
nicht von ihm, sondern nur von den Individuen. Die Entfrem-
dung kann auch nicht, wie in den Emanationssystemen, als eine
allmähliche, stufenweise oder stetige Verminderung des GöttUchen
gedacht werden, sondern nur als ein plötzliches Abbrechen, ein
einmaliger Sprung, in welchem das Individuelle durch eine centri-
fugale Tendenz sich von dem Allgemeinen losreisst, um ein
eigenes selbständiges Leben in sich mit selbständigem Centrum
zu gewinnen,
Dass hierin ein Widerspruch Hegt, dass unmöglich das Indi-
viduum sich losreissen kann, bevor es existiert, und wenn es
Schelltng.
127
schon existiert, nicht mehr nötig hat, sich durch Losreissung die
Existenz zu geben, ist Schelling nicht deutlich geworden; sonst
hätte er diese ganze Theorie der Individuation durch Abfeil der
Individuen beiseite schieben müssen. Er hat sich nur mit der
sekundären Frage beschäftigt, wie (bei Voraussetzung der
Existenz des Individuums vor seiner Existenz) die Beschaffenheit
des Individuums gedacht werden müsse » damit es fähig sei, sich
vom Centrum los zu rcissen. So fuhrt das Problem der Indivi-
duation zu dem der Freiheit, —
Anfanglich hatte ScheUing unter Freiheit nur Aktivität im
Gegensatz zu passivem Quietismus verstanden; dann hatte er die
absolute, unbcwusste Freiheit des absoluten Ich und die bewusste
transcendentale Freiheit des empirischen Ich oder die Willkür
unterschieden und unter letzterer die Erscheinung des absoluten
Willens unter den Schranken der Endlichkeit verstanden. Weiter-
liin waren ihm dann aber diese beiden Arten der Freiheit unter
der Hand zerronnen, und zwar die absolute darum, weil die
absolute Thätigkeit ebenso über der Freiheit wue über der Not-
wendigkeit steht und der Grund für die prästabilierte Harmonie
beider in den Individuen ist, die bewusste, transcendentale, indi-
viduelle darum, weil sie doch wieder in unbewusster Weise durch
jene prästabilierte Harmonie prädeterminiert ist. In der Identitäts-
philosophie sinkt die Willkür von der sittlichen Freiheit zur Sünde
herab, weil sie darin besteht, das Nichtige als Realität zu er-
greifen; frei heisst jetzt nur noch dasjenige Handeln Gottes durch
das Individuum, welches wissentlich aus adäquaten Ideen folgt.
Hiernach unterscheidet das freie Handeln sich vom unfreien nicht
mehr durch ihre Quelle oder die Art ihrer Motivation, sondern
lur noch durch das Vorhandensein einer sie begleitenden Re-
flexion des wissenden Be\vT.isstseins; sie ist das Wissen von dem
aus Gott Stammen des scheinbar eigenen gottgemässen Handelns,
also als individuelle eine Scheinfreiheit, und selbst das nur zum
rGuten, nicht zum gottwidrigen und der Idee unangemessenen
BD. Die zum Losreissen von Gott erforderliche Freiheit
musste aber eine wirkliche individuelle Freiheit zum Bösen oder
zum Sündenfall sein.
So wurde Schelling durch das Individuations- und Freiheits-
problem dazu gedrängt, seine Principienlehre und Kategorien-
lehrc zu revidieren. Denn wenn es der Wille sein musste, der
128
Solgcr.
dem Individimm die Fähigkeit zum Abfall verlidi, so mussten '
die Individuen als ebensoviel Individuahvillcn angesehen werden,
die von einem Urvvillen unifasst wurden, und niusste demgemäss
der Wille auch im Absoluten eine gesteigerte und veränderte
Bedeutung gewinnen.*) —
Von Anhängern Schellings aus seiner ersten Periode sind
der Ästhetiker Solgcr» der Metaphysiker Johann Jaknb Wagner,
und die Naturphilosophen Oken, Schubert und Planck hervor-
zuheben.
Solger {1780 — 1819) identifiziert göttliches Wesen und Natur,
göttliches Wesen und Dasein, Wesen und Thütigkeit, Denken
und Schaffen, schaflcndc Thätigkeit und Geschaffenes, Produzieren
und Produkt. Er leugnet die Transcendenz und Persönlichkeit
Gottes und behauptet, dass er ohne Offenbarung auch sich selbst
unerkennbar sein würde. Gottes Bewusstscin oder Subjekt- Ob-
jektivität, oder die absolute Erkenntnis, ist der mystische Über-
gang des Wesens in die Existenz, wodurch es sich selbst als
Wesen und Existenz sowohl schafft als aiifliebt Gott hat das
Moment der Negation in sich, wodurch er in die Nichtigkeit der
Existenz und des Erkann tw^crdens tritt; das Einzelwesen, derJ
nichtige Schein des Existierens und Erkenn ens hat aber wieder-"
um die Macht an sich, sich zu opfern und seine Nichtigkeit
aufzugeben. Das Mannigfaltige der gemeinen Welt kann
nur in der Strahlenbrechung, die es durch die getrennten i
Standpunkte der erkennenden Individuen erleidet, als etwas
der Einheit des Wesens Entgegengesetztes aufgefiisst werden.
Der abstrakte Monismus sucht also auch bei Solger den '
Schein der objektiven Vielheit aus der Illusion des subjek-
tiven Erkennens zu erklären, ohne doch die Vielheit der hidi-
viduellen Erkenntnissubjekte erklären zu können. Die Mannig-
ftdtigkeit des Vielen wird als unwesentliche Zußilligkeit beiseite
geschoben, und doch soll diese Zufälligkeit von Gott direkt
bestimmt sein, eine wesentliche Verknüpfung der Notwendig-^M
keit ausdrücken, und mit der Wirklichkeit gleiclizusetzen seia.^^
Er verwnckelt sich mit dem Begriff der Zufälligkeit bereits in
♦) Veirgl. ^Schellings phiJosophisches System« ^Leipzig, Haackc, 1897); »Ges.
Stud. und AiifsÄtze» ♦ 3. Aull.» S. 572 — 6oj; »Über die diidcktische Methode«,
S, iS— 34; iDaa sittliche Bewiisstsein-, 2. Amil., 5^587—389; *Die dfutädie ^\Äthctik
»dt Kant«. S. 27—44, 385—3871 4^3— 4*4. 435—436,462—468,485—486,526—550,
Solger.
129
dieselben Schwierigkeiten, die nachher für Hegel verhängnisvoll
wurden.
All unser Erkennen ruht auf dem Selbstbewusstscin. das
wieder ein allgemeines Bcwusstsein voraussetzt. Mit diesem all-
gemeinen Bewusstsein ist jedes menschliche Bcwusstsein Eins,
und ist von ihm nur eine besondere Äusserung, Es ist dies die
letxtc und tiefste Erfahrung, von der alles Philosophieren ausgeht.
Wir sind uns der Existenz des allgemeinen Bewusstseins, oder
der absoluten Idee oder des Wesens in uns» zugleich bewusst
und nicht bewusst: bewusst, insofern sie als zu Grunde liegende
Thatsache jedem unserer Zustände seine unmittelbare Walirheit
giebt; nicht bewusst, insofern wir sie als solche immer nur in
bestimmten Beziehungen denken. Diese Thatsache haben wir als
göttliche Offenbarung oder absolute Erfahrung hinzunehmen, und
dieses Hinnehmen ist Glaube, oder unmittelbares Wissen, oder
Vernunft. Hiermit nähert sich Solger stark dem Jacobischen
Vernunftglauben. Die Philosophie hat nur ein Bewusstsein
dessen zu vermitteln, was im unmittelbar gewissen Glauben er-
fahren und als Offenbarungsthatsache gegeben ist; sie hat die
Idee in ihren verscliiedenen Beziehungen zu verfolgen, in ilire
Gegensätze zu entwickeln, und dieselben wieder zur Einheit der
Idee zurückzuführen. Dies geschieht durch die Dialektik; das
Ergebnis aber ist die Spaltung der Idee zunächst in die Idee
des Wahren und Guten oder in die theoretische und praktische
Idee, alsdann die Cbcrwindung dieser Spaltung durch die Idee
des Schönen und endlich der Umschlag dieser in die Idee Gottes,
womit die Einheit wieder hergestellt ist.
Bei diesem ganzen Prozess handelt es sich darum, die
niederen menschlichen Erkenntnisarten des geraeinen unvoll-
ständigen Bewusstseins zu der höheren Erkenntnisart des auf
göttUcher Offenbarung beruhenden wesentlichen Bewusstseins
empor zu führen. Dies geschieht, indem die Ideen des Wahren
und Guten zu der des Schonen emporgehoben werden. Denn
jene höhere Erkenntnisart fällt mit der Idee zusammen; in üir
denkt ein dem gewöhnlichen Verstand überlegener künstlerischer
Verstand, ein Abkömmling des göttlichen, und stellt seine Er-
gebnisse als Gestalten der Phantasie dar, wodurch eben die
Phantasieanschauung zur intellektuellen Anschauung wird, Diese
intellektuelle Phantasieanschauung enthält nämhch die Gegen-
E. V llarlcuan n, Autgevr Werke Itil« XII. 9
I30 Solger.
Sätze der schöpferischen produktiven Phantasiethätigkeit und der
sinnlichen Gegenständlichkeit in sich, die dem Gegensatze von
Wesen und Erscheinung in der Idee entsprechen.
Nun ist die Erscheinung als Erscheinung des Wesens oder
der Idee anerkannt. Aber Solger verbietet, bei der Idee an ein-
zelne Gattungsideen oder an Partialideen der Einen absoluten
Idee zu denken; solche erklärt er vielmehr für Produkte der ge-
meinen Einbildungskraft, für eingebildete Abbilder der wirklichen
Dinge, kurz für Gegenstände der unwahren Erkenntnis des
niederen Bewusstseins. In jedem Einzelnen, sofern es schön ist,
soll die ganze Idee als einheitliche Totalität des göttlichen
Wesens gegenwärtig sein; die Erscheinung, sofern sie dem
Wesen entgegengesetzt ist, fällt ins leere Nichts. Dieser Stand-
punkt hebt aber sich selbst auf, weil aus der wechsellosen, selig
ruhenden ewigen Einheit die Mannigfaltigkeit der Erscheinung
in ihrer raumzeitlichen Besonderheit, Veränderlichkeit und Zu-
fälligkeit nicht zu erklären ist. Die ganze Erscheinung ist nur
Erscheinung, sofern sie vom Wesen verschieden und ihm nach
Dasein und Beschaffenheit entgegengesetzt ist, also ins leere
Nichts fällt. Ein Besonderes ist und bleibt vom Standpunkt des
abstrakten Monismus ein unerklärliches Unding, das kein Recht
hat, zu existieren.
Damit zersprengt die Schönheit der Welt sich selbst, wenig-
stens für unsere gemeine Erkenntnisweise, weil das Verhältnis
ihrer Momente zu einander (Wesen und Erscheinung) sich als
unmöglich herausstellt; nur für Gott soll in dem idealen Univer-
sum eine vollendete Harmonie zwischen Wesen und Erscheinung,
d. h. Schönheit, möglich bleiben. Für uns ist der Widerspruch
nur dadurch zu beseitigen, dass die Ironie die Henkersarbeit an
der inkorporierten Idee vollzieht, uns auf die Seite der Er-
scheinung verzichten lehrt, und uns zu einer höheren Art und
Weise der Erfassung des Göttlichen, nämlich zu der religiösen
emporhebt. Dass der Widerspruch in dem idealen Universum,
sofern dieses mehr sein will als die abstrakte Identität von Sub-
jekt und Objekt, ganz derselbe bleibt wie in dieser Well; und
dort ebensogut der Lösung bedarf wie hier, das ist Solger nicht
klar geworden.
Religiös betrachtet stellt sich die beständige Schöpfung und
Vernichtung, das Hervorgehen der Dinge aus Gott und ihr Zu-
J. J. Wagner.
131
rück gehen in ihn darin dar, dass der Vater sich im Sohne be-
ständig zum Schein herablässt und in dem Bewusstsein eines
jeden Frommen sich immer von neuem opfert und vernichtet.
Dies aber ist es» was wir Liebe nennen, das lebendige Gefühl
in uns, dass wir nur sind, weil Gott sich sein selbst entäussert,
und dass wir doch immer bei ihm bleiben, weil er sich in dieser
Entäusserung immer selbst aufhebt imd seinen Schein vernichtet.
So stellt sich das Nämliche, was unter dem ästhetischen Gesichts-
punkt als auflösende Ironie erschien, unter dem rehgiösen Ge-
sichtspunkt als aufopfernde Liebe dar* Die romantische Ironie
Schlegels wird damit zu einer religiösen Bedeutung vertieft, in
welcher bald darauf Weisse sie aufnahm.'*') —
J, J, Wagner (1775 — 1821) sucht eine Kategorienlehre, die
ebenso über die Logik wie über die Mathematik hinausüegen,
aber beide nebst der Sprachphilosophic unter sich begreifen soll,
eine Topik der BegriiFe, die als Architektur des Weltgesetzes
zugleich Heuristik für die Lösung aller Aufgaben der Wissen-
schaft und des Lebens sein soll (» Organ on der menschlichen Er-
kenntnis«, Erlangen 1830, Vorwort, S. XLI— XLIII). Er setzt
die Idee der lebendigen Gottheit als Grundlage der idealen und
realen Dinge voraus» und mit ihr die Idee des Lebens, in welchem
sich Sein und Werden durchdringen. In dem Leben sieht er
das Wesen der Dinge, und in den Dingen die unendUch-endliche
Form dieses Wesens, So ergeben sich ihm .^ Wesen und Form*
als das erste Paar von Urbegriffen, die zu einander in einem
Gegensatze stehen, aber auch durch das Leben vermittelt sind.
Es schiebt sich also als das zweite BegrifiFspaar ^Gegensatz und
Vermitteiung'* in das erste ein; das Wesen geht durch ver-
mittelte Gegensätze in die Form über. Das Urschema lautet
demgemäss:
Wesen
Gegensatz Vermittelung
Form
Nach diesem Urschema spaltet sich nun jeder der vier ur-
sprünglichen Urbegriffe in vier abgeleitete Urbegriffe, so dass
folgende Tafel entsteht:
*) Vergl »Die deutsche Ästhetik seit KaaU, S. 61— 72, und die im Register an-
geführten Slifücn,
132 J.J.Wagner.
Wesen
Endlichkeit
Quantität Qualität
Realität
Gegensatz Vermittelung
absoluter absolute
quantitativer qualitativer qantitative qualitative
relativer relative
F omn r
Thesis
Analysis Antithesis
Synthesis
Die lliesis nennt Wagner die Begründungsstufe, die Analysis
die Entwickelungsstufe » die Antithesis die Verdoppelungsstufe,
die Synthesis die Vollendungsstufe. Diese vier Stufen ent-
sprechen offenbar der ursprünglichen Einheit oder absoluten
Identität, der Thesis, Antithesis und Synthesis bei SchcUing, der
nur der heiligen Dreizahl zu Liebe die Vierheit abwehrte. Die
Schellingsche Schule lässt den auch von Hegel geteilten Aber-
glauben an die Heiligkeit der Dreizahl fallen und erkennt die
Tetraktys als die einzig mögliche Konsequenz der Fichteschen
und Schellingschen Voraussetzungen offen an.
Zu dem Urschema gesellt sich dann ferner ein Schema rein
formaler Begriffe, welche Wagner Prädikamente nennt, nämlich
Identität
Verhältnis Beziehung
Reziprozität
Dieses verhält sich zum Urschema wie Form zum Wesen,
so dass die Glieder beider sich in folgender Art entsprechen:
1. Das Wesen ist identisch.
2. Der Gegensatz ist ein Verhältnis.
3. Die Vermittelung ist eine Beziehung.
4. Die Form ist die Reziprozität der Beziehungen und Verhält-
nisse mit dem Wesen.
Von der Menge von Tafeln, die Wagner über jedes einzelne
Glied aufstellt, seien hier nur einige als Probe herausgegriffen,
nämlich die Tafeln der vier Stufen, in denen Wagner die eigent-
J. J. WairncT, ^^^^^^ 133
liehen Kategorientafeln erblickt. Man sieht daraus einerseits.
wie stark das Bestreben war, die Kategorien systematisch zu
ordnen, und andererseits, wie schlechthin unfruchtbar solches
Hingeben an einen schablonenhaften Schematisierungstrieb bleibt.
Als warnendes Beispiel möge deshalb Wagner hier einen Platz
finden, wie Raimundus Lullus im Mittelalter.*)
I. Die Tafel der thetischen oder Begründungsstufe.
Dasein
Grundwesen
Ursprung Ursache
Wirkung
Faktoren Prozesse
Inhalt Grenze Setzen» aufheben
Positiv, negativ; aktiv, Differenzieren, indiff. Verbinden,
passiv trennen
central, peripherisch durchführen, zurückführen
Produkt
ein-
zwei- drei-
viergliedrig
2, Die Tafel der analytischen oder Entwickelungsstufe.
Substrat
Anlage
Eigenschaften Zustände
Beschaffenheit
Seiten ent Wickelung Fortschreitung
Urpriocipien Beg^ründung
Arten Gattungen Entwickelung Selbstv'^erdoppelung
Gebiete Vollendung
Erscheinung
Grundlage
Natur Geschichte
Totalent Wickelung
•) D.1SS <{uldic Wiirminj^ien auch heute ntich nicht übcrllüssig sind, zeigt Alltrecht
ause, drr in scir>'*n •GcSfft/cn f\c^ menschlichen Heniens* (Lahr tH^fi) die Wagner*
sehe VicTRliedrijjkeit %-rni K;inlscbeiii Ausgangnpmikte aus zu erneuern sucht.
134 J.J.Wagner.
3. Die Tafel der antithetischen oder Verdoppelungsstufe.
Subjekt
Selbstheit
Strebung Zurückdrängung
Äusserlichkeit
Subjektivobjektiv Objektivsubjektiv
Bemächtigen Berühren
Vorbereiten Bearbeiten Erregen Aneignen
Umwandeln Einswerden
Objekt
Widerstand
Wirksamkeit Bildsamkeit
Selbständigkeit
4. Die Tafel der synthetischen oder Vollendungsstufe.
Individualität
Abgesondert
Eigenartig Eigenthätig
Abgeschlossen
Ent Wickelungssystem Individualleben
Aufschliessen Erzeugung
Aufnahme Verwandlung Reproduktion Produktion
Ausscheidung Centralleben
Totalitätsform
Neben-
Mit- Durch-
Ineinander.
Jeder dieser vier Tafeln entspricht ebenso wie der Tafel
der Urbegriffe ein Schema zugehöriger Prädikamente, und diese
vier Schemata ordnen sich zu folgender Tafel der Prädikamente
zusammen :
Oken.
135
I.
Unbestimmt
Bestimmbar Bestimmend
Bestimmt
Mögflich
Räumlich Zeitlich
Wirklich
3-
Innen
Von Innen Von Aussen
Aussen
4<
An sich
Abhängig Gegenseitig
Notwendig,
Diese Topik der Begriffe soll nach Wagners Ansicht das
ewige Weltgesetz enthüllen, die abenteuerlichen Versuche der
philosophischen Spekulation für immer abschneiden, die Empirie
zur Wissenschaft gestalten und dasjenige verwirklichen, was
Raimund Lullus und Giordano Bruno auf abenteuerliche Weise
gesucht hatten, ^
Oken (1779 — 1851) lehrt, dass die Bestimmungen des Abso-
luten sich mit denen des matliema tischen Zero decken, und dass
die Welt aus dem gleich Nichts seienden Absoluten hervor-
gegangen ist, wie die Mathematik aus der Null. Das Absolute
ist weder räumlich noch zeitlich, weder endlich noch unendlich,
weder gross noch klein, weder ruhend noch bew^egt. Dasselbe
gilt von der Null ; sie ist weder Etwas noch Nichts, weder seiend
noch nichtseiend» weder positiv noch negativ, weder Eins noch
Vieles. Absolutes und Zero sind nur verschiedene Benennungen
von den verschiedenen Wissenschaften her; wesentlich sind sie
Eins. Es existiert nichts als dieses Absolute oder Zero oder un-
bestimmte Monas, xmd alle Einzelexistenz ist eine Trugexistenz.
Schelling hatte die absolute Identität des Idealen und Realen in
die Formel A ^ A gefasst, oder vielmehr, da jede Seite schon
wieder eine Identität in sich fasst, in die genauere Formel
(A = A) = {A = A); dabei war aber das durch das Gleichheits-
zeichen ausgedrückte Rand, die Kopula» das allein begrifflich zu
fassende, während das A auch durch ein Fragezeichen, oder
wegen seiner Begrifflosigkeit durch die Null ersetzt werden
konnte. Oken hat den Mut, die Konsequenz auszusprechen, dass
136
Oken.
es eine blosse Null ist, die sich polarisch in Plus und Minus
spaltet oder zur Gegensätzlichkeit differenziert
In der zweiten Auflage seines Lehrbuchs der Naturphilo-
sophie setzt er das Zero mit dem Urakt oder der Schellingschen
Urthätigkeit vor der Spaltung gleich; es ist dann kein absolutes
Nichts, sondern ein Akt ohne Substrat (ein substantielles Nichts,
aber aktuelles Etwas). Auch dies entspricht ganz dem Sinne
der Schellingschen ersten Periode. Aber in der ersten Auflage
seiner Naturphilosophie unterscheidet Oken den Nichts-Gott von
seinem Handeln, seiner Thätigkeit, in der erst sein sich Setzen
und sein Sein besteht; die Null ist, so zu sagen, das Subjekt
dieser subjektlosen Thätigkeit, und als solche ist sie wirklich
reines Nichts, das erst in der noch unbestimmten Urthätigkeit
zum Sein wird. Das Nichts wird ein Etwas, ein Endliches, durch
die blosse Position seiner selbst; die Null, poniert oder bestimmt,
wird zur Eins, oder o einmal als o gesetzt ist = i. Das
Nichts ist die monas indeterminata, das ponierte Nichts die
monas determinata. Die Idee, die als solche gleich Nichts ist,
poniert, ist eine endliche Realität. Das Etwas wird dagegen zu
einem Nichts durch blosse Vernachlässigung seiner Selbstposition.
Die Welt oder die Gesamtheit des Gesetzten ist demnach
wie im esoterischen Buddhismus ein Schein, der auf dem Nichts
ruht, oder in welchem das Nichts das Scheinende ist. Aber es
ist nicht wie dort bloss ein Schein für die Unwissenheit der
Individualbewusstseine, sondern eine Selbsterscheinung des Abso-
luten für sein absolutes Erkennen. Nur als sich erkennender,
affirmierender oder ponierender ist Gott seiend oder Gott, und
das Gesetzte, Reale ist nichts als das Absolute selbst als Er-
kanntes, das seiende Nichts. Das Setzen des Absoluten und die
Gesamtheit des Gesetzten ist gleich ewig mit dem Absoluten
selbst. Die Null wird aber nicht nur positiv gesetzt, sondern
auch negativ, d. h. alles Seiende wird wieder in das Nichts auf-
gehoben oder kehrt in Gott zurück. Wie er aber die einen Indi-
viduen in sich zurückruft, so lässt er andere aus sich ausgehen;
dieses Erscheinen, Verschwinden und Wiedererscheinen von Indi-
viduen ist der Weltprozess. Er ist eine Seelenwanderung, aber
nur in dem Sinne, dass jede Seele sich völlig wieder in Gott
oder das Nichts auflöst und an ihrer Statt eine neue Setzung
aus Gott oder dem Nichts auftaucht.
Schubert»
137
Die ursprüngliche Einheit oder noch undifferenzierte Ur-
thätigkeit der Null nennt Oken das Wesen oder die Usia (wobei
nicht etw-a an ein Substrat, oder eine Substanz zu denken ist);
die synthetische Einheit des durch die Entzweiung hindurch-
gegangenen Wesens nennt er die Form oder Gestalt, Der
Naturprozess ist also bei ihm wie bei Schclling Einbildung des
Wesens in die Form, Die Entzweiung der Thätigkeit in die
polarische Duplizität des Positiven und Negativen nennt er die
Entelechie Gottes; mit ihr erst tritt Zeit, Raum und Bewegung
auf, indem der in jeder Kraft belegene centriperipherische Ur-
gegensatz der centrifugalen und centripetalen Tendenzen die
Kräfte zur räum zeitlichen Erscheinung kommen lässt Das da-
seiende Nichts ist zunächst der Äther, innerhalb dessen die
Schwere die centripetale» das Licht die centrifugale Tendenz, und
die Wärme die synthetische Einheit beider vertritt. Die Form
des Äthers ist das Feuer, als die erscheinende Dreieinigkeit
seiner Momente.
Der Mensch ist ein Einzelding, welches alle Einzelne in sich
aufgenommen hat, und darum in seiner Einzelheit dem Absoluten
selbst gleich ist. Er ist das reale Absolute als bestimmte Monas»
der endlich und leiblich gewordene Gott» oder diejenige Idee
Gottes, in der Gott sich ganz zum Objekt wird. Er ist Gott
vorgestellt von Gott; Gott ist ein Mensch, vorstellend Gott in
seinem Selbstbew^usstsein. Der Mensch ist nur Mensch, sofern
er den Dünkel hat, Gott gleich sein zu wollen; aber des
Menschen Erkenntnis seiner Gleichheit mit Gott ohne die Er-
kenntnis seiner Ungleichheit ist ein hoffärtiger Abfall von Gott
Die Versöhnung oder Rückkehr zu Gott entspringt aus der Er-
kenntnis des Menschen von seiner Gleichheit mit der Natur und
von seiner notwendigen Naturbedingtheit. — Als Schelling zu
seiner zweiten Periode fortging, entstand zwischen ihm und
Oken eine weite Kluft. Oken hat das Verdienst, den abstrakten
Monismus durch seine Formulierung des Absoluten als Null
oder Nichts ad absurdum geführt zu haben; denn um von diesem
Absoluten zur Welt, wenn auch nur zu einer trügerischen Schein-
weit zu gelangen, musste er den Satz beiseite schiebeUp dass aus
Nichts auch nichts werden kann. —
Schubert (1780 — 1860) übernimmt aus der zweiten Hrdfte der
&n Periode SchcUings die Lehre, dass die Natur sich in einem
Zustande der Verschlechterung befinde, und dass es die Aufgabe
des Geistes sei, vermittelst der Wiedergeburt selber in Gott zu-
rückzukehren und die Natur mit zu reinigen und zu erneuern.
Das ihm Eigentümliche liegt darin, dass er den allmählichen
Durchbruch der neuen Natur durch die vorhandene in indivi-
duellen Vorgängen sucht, in denen die Einzclseele sich von den
Schranken der gemeinen Natur und der Sinne losringt und zu
magischem Schauen und Wirken befähigt sind. Der Traum, der
Somnambulismus, der tierische Magnetismus und die Magie sind
die Erscheinungen, in denen das Verständige oder Intelligible der
Natur die Nachtseite derselben durchbricht und das Leben des
von der gemeinen Natur befreiten und nur noch mit seinem un-
sichtbaren Leibe bekleideten Geistes ahnen lässt Dabei bleibt
aber Schubert dem Monismus treu, betrachtet alle Individuen
und Dinge nur als Modifikationen der einen Substanz, und
findet ihre tiefste Sehnsucht in dem Streben nach Vereinigung
mit der Ursiiche alles Seins, wie es sich in dem Zeugungsakt
der Liebenden und in dem Verlangen nach Vermählung mit dem
Welt ganzen oder dem Sterben in der Nähe (jottes ausdrückt
Schubert zuerst nimmt in der neuesten Philosophie die mystisch-
magische Richtung von Paracelsus und van Helmont wieder auf;
durch ihn ist sie einerseits auf Schopenhauer und den transcen-
dentalen Individualismus seiner Schule, andererseits auf Fcchner
übertragen worden, —
Planck {1819 — 1880} steht als ein sonderbarer Anachronis-
mus, als Überrest der deduktiven und konstruktiven Naturphilo-
sophie in dem naturwissenschaftlichen Zeitalter da und ist sich
dabei seiner Abhängigkeit von Schelling und Oken nicht einmal
klar bewusst. Er w^andelt den naturalistischen Pantheismus
Schellings» dessen Absolutes schon bei Oken auf das Nichts zu-
rückgeführt war, in einen schroff ausgesprochenen Atheismus um;
infolge dessen schrumpft ihm die Religion bei dem Mangel eines
religiösen Objekts zur blossen Sittlichkeit zusammen. Er kämpft
ebenso heftig gegen allen Idealismus, den er als Produkt einer
religiösen Weltanschauung verwirft, wie gegen den Materialismus
und die mechanistische Weltanschauung der modernen Natur-
wissenschaft. Er bestreitet, dass aus dem Gedanken zur Wirk-
lichkeit zu kommen sei, wenn man diese nicht von vornherein in
Raum und Zeit, Nebeneinander und Nacheinander voraussetzt
Sdüelermacher.
139
Er bestreitet aber auch, dass die Materie etwas anderes sei als
eine bestiminte qualitative Existenz des Ausgedehnten, die als
Produkt des reinen Wirkens zu betrachten ist, und bestreitet,
dass aus einer Vielheit unabhängiger Stoffteile jemals zu einer
Erklärung der Lebensvorgänge und des Geistes zu gelangen sei.
Planck erkennt nur Eine Substanz, die ausgedehnte, an,
die reine Natur; der Geist ist nur ihre vollendete innerliche
Existenzweise, Diese eine Substanz ist aber wiederum nichts
anderes, als das substratlose reine Wirken, durch welches die
Einheit des Raumes die räumlichen Unterschiede zusammenftisst
und aufeinander bezieht. Ohne den Gedanken als formierende
Norm des Naturprozesses gelten zu lassen, glaubt er doch, durch
abstrakte Begriffe, wie hineingewendete und liin ausgewendete
Intensität, konkrete Naturerscheinungen, wie Schwere, Wärme
u. s. w.. dialektisch konstruieren zu können. Ohne ein Absolutes
zuzugeben, will er doch Monist sein, indem er die Einheit des
Raumes für genügend hält, um die Einheit des Ineinanderwirkens
aller seiner Teile sicher zu stellen. Das reine Wirken und der
Raum sind zwei Phncipien und sollen doch nur Eines sein; des-
halb bleibt auch unklar, auf welchem von ihnen die Realität be-
ruhen soll, ob wie bei Scbelling auf der Intensität des reinen
Wirkens, oder wie bei Spinoza auf der Ausdehnung. Plancks
Selbstvertrauen ist ebenso gross wie die Unklarheit seiner Begriffe
und seiner Darstellung.
3. Schleiermacher (1768^1834).
Aus der Gefühlsreligion der Brüdergemeinde, aus welcher
Schleierm acher hervorgegangen war, hat er die Neigung 1h?-
halten, das Wesen der Religion zuerst in Anschauung und Gc*
fühl, dann im Gefühl schlechthin, endlich in der Passivität des
schlechthinigcn Abhängigkeitsgefühls zu suchen. Von Piaton hat
er die Hochschätzung der Dialektik, in welcher er nicht nur eine
Kunstlehre der Gesprächführung und Streitschlichtung, sondern
zugleich die Kunstlehre der Produktion des Wissens sucht, und
die er deslialb als zusammenfassende Bezeichnung für Erkenntnis-
I40
Schleiermacher.
theorie, Methodologie und Metaphysik benutzt. Der Wolffsche
Rationahsmiis musste ihn ebenso wie die Kantsche Religions-
Philosophie abstossen » der eine, weil er die Religion auf theore-
tische Reflexion, der andere, weil er sie auf das blosse Gesetz
des Wollens zurückführt. Beiden Einseitigkeiten stellt er seine
Gefühlsreiigion als ebenso einseitige Ergänzung gegenüber.
Er verwirft Kants transcendentalidealistische Lehre, nach
welcher auf die Dinge an sich wieder unsere Denkformen, noch
unsere Anschauungsfornnen anwendbar sein sollen, und behauptet
im transcendentalrealistischen Sinne, dass die für alle Subjekte
gemeinsame Welt» welche die Gesamtheit der Individuen sowohl
als Geister wie als leibliche Organismen umfasst, nicht nur unseren
Denkformen gemäss, sondern auch räumlich und zeitlich sei.
Dem gemäss nimmt er auch eine allgemeine Wechselwirkung oder
Gemeinschaft unter den leiblich-geistigen Individuen an, die sich
aus lauter Akten transeunter Kausalität zusammensetzt. Er hat
also keinen Grund, die bei Kant stehen gebliebene Annahme,
dass die Dinge an sich uns kausal affi zieren, zu streichen, sondern
macht sie zum Grundpfeiler seiner Erkenntnistheorie, für die er
auch den Kantschen Gegensatz von Materie und Form der An-
schauung, Sinnlichkeit und Verstand übernimmt. Während Kant
die philosophische Erkennbarkeit des realen Universums oder des
erkenntnistheoretisch Transcendenten leugnet . nimmt Schleier-
macher eine allerdings nur approximative Erkenntnis desselben
an, stimmt aber mit Kant darin überein, die philosophische Er*
kennbarkeit des metaphysisch Transcendenten, oder des gemein-
samen Grundes des Seins und Denkens, der Welt und ihrer Er-
kenntnis zu leugnen, freilich aus abweichenden Gründen. Bei
Kant folgt die Unerkennbarkeit des metaphysisch Transcendenten
einfach aus der des erkenntnistheoretisch Transcendenten, bei
Schleiermacher daraus, dass das erkenntnistheoretisch Transcen-
dente als frei von Gegensätzen vorausgesetzt wird, während das
Erkennen sich lediglich in Gegensätzen bewegt.
Mit Fichte verbindet ihn der etliische Idealismus und die
Autonomie der individuellen Entwickelung zum Mikrokosmos.
Wie Schellin g und Fichte begeistert er sich für die Freiheit im
Sinne einer von innen heraus bedingten Selbstentwickelung, be-
tont aber nach dem Vorgang von T.eibniz, Goethe, Friedrich
Schlegel und Jacobi die individuelle Eigentümlichkeit in dieser
ScHleicnnacher.
141
Selbstent Wickelung stärker als jene beiden. Gleich Schell ing-
sucht er aber zu diesem Subjektivismus des freien sich selbst
Auslebens ein objektives Gegengewicht, eine Gebundenheil des
Einzellebens im allgemeinen Sein, durch w^elchc die individuelle
Freiheit mit der ewigen Notwendigkeit des Ganzen verschmolzen
wird und findet sie gleich diesem bei Spinoza, der durch Lessing,
Herder und Jacobi dem unverdienten Verkannt- und Vergessen -
sein entzogen w^orden war. Spinozistisch ist die Gleichsetzung
Gottes mit dem absoluten Sein, die Ablehnung eines Kraftüber-
schusses in Gott über die in die Welt eingegangenen Kräfte, die
abstrakt monistische Auffassung des absoluten Seins als einer ein-
fachen, leeren, über und hinter allen Gegensätzen stehenden, aber
aUe aus sich heraussetzenden Einheit, die Einheit von Freiheit
und Notwendigkeit in Gott und die blosse Negativität des Bösen,
die zugleich von Leibniz vertreten wird. Nicht spinozistisch da-
gegen ist bei Schleiermacher die begriffliche Un erkennbar keit
dieser absoluten Substanz, die Unpersönlichkeit Gottes, die teleo-
logische und cvolutionistische Auffassung des Weltprozesses, die
stärkere Betonung der individuellen Eigentümlichkeit und Selbst-
entwickclung und die Fassung des GottesbegrifiFes mit Aus-
schluss des attributiven (regensatzes, statt, wie bei Spinoza, mit
Einschluss desselben. Ungerecht ist Schleiermachers Vorwiu^
gegen Spinoza, dass sein Absolutes starr und tot sei, da es viel-
mehr die Quelle ewiger Lebendigkeit ist, diese Quelle der
Lebendigkeit selbst aber bei Schleiermacher ebenso ruhend und
unveränderlich ist, w^ie bei Spinoza. Dieser Vorwurf ist nur
daraus zu erklären, dass Schleiermacher sich gewohnt hatte,
unter Leben freie, teleologische Selbstent Wickelung zu verstehen,
und den Mangel derselben als Tod zu bezeichnen. —
Hiernach ist es genau so unrichtig, Schleiermacher als
Spinozisten, wie als Fichteaner zu bezeichnen, denn er zielte,
ebenso wie Schelling, auf die Synthese beider ak Dabei waren
zwar Lessing und Herder in mancher Hinsicht für den Theologen
Schleiermacher weg^^eisend; in der Hauptsache aber ist es doch
SchelUngs Identitätsphilosophie, welche für den Philosophen
Schleiermacher bestimmend geworden ist. Die Identität des
Idealen und Realen, des Subjekts und Objekts, der Unterschied
von ursprünglicher und Verknüpfungs- Einheit, IndüFerenz und
(synthetischer) Identität, die Relativität aller Gegensätze im be-
142
Schldcrmachcr,
Stimmten Sein und Denken, die sich im Übergewicht der einen
oder anderen Seite ausdrückt, die Umw:indliing des spinozistischen
(iegensatzes von Denken und Ausdehnung in den von Geist und
Natur, Idealem und Realem und die Wiederkehr dieses Gegen-
satzes auf jeder seiner Seiten, das alles hat Schleiermacher von
Schelling übernommen. Deshalb ist er, wenigstens als spekula-
tiver Philosoph, durchaiis nur als ein Schellingianer zu bezeichnen ;
denn er hat von Spinoza kaum so viel übernommen, wie Schelling
und auch das noch in Schellin gscher Umgestaltung und Färbung.
Wie Hegel den Schellingschen Panlogismus von 1801, Schopen-
hauer die Schellingsche Willensmetaphysik von 1807 in Ver-
bindung mit der Schellingschen Identitätsphilosophie auf trans-
cendentaüdealistischer Grundlage, so hat Schleiermacher die
Schellingsche Identitätsphilosophie von 180 1 — 1804 ^.nf transcen-
dentalrealistischer Grundlage als Princip seines Systems an-
genommen und nach einer bestimmten Richtimg durchgebildet.
Was ihn von dem Schelling der Identitätsphilosophie unter-
scheidet, ist nur das eine, dass Schelling in erkenntnistheoretischer
Hinsicht noch ganz in dem transcendentalen Idealismus von Beck
und Fichte stecken geblieben war, ohne zu bemerken, dass er
ihn als Metaphysiker bereits weit überschritten hatte, Schleier-
macher aber die Konsequenzen der Identitätsphilosophie auch für
die Erkenntnistheorie zieht, freilich anscheinend ohne ein deut-
liches Bewusstsein davon» in wie scharfem Gegensatz er sich
damit zu den seine Zeit beherrschenden Ansichten setzt Schel-
lin gs Identitätsphilosophie wird durch den noch unüberwundenen
transcendentalen Idealismus dazu hingedrängt, die reale Welt
mehr und mehr in blossen Schein zu verflüchtigen und damit
sich selbst in abstrakten Monismus aufzulösen. Schleiermacher
rettet die Identitätsphilosophic vor dieser Auflösung in spino-
zistischen Akosmismus und abstrakten Monismus dadurch, dass
er den transcendentalen Idealismus durch den transcendentalen
Realismus ersetzt. Als Schelling später zu dem gleichen Ent-
schluss kam, hatte er sich in seiner metaphysischen Ent Wickelung
von der Identitätsphilosophie seiner Jugend schon weit entfernt.
Schleiermaclier sah von Anfang an die Schellingsche Natur-
philosophie bloss in der transcendentalrealistischen Beleuchtung,
in welche Schelling sie später beim Rückblick auf seine Jugend
auch zu rücken versuchte. Deshalb besteht auch bei Schleier-
Schlcicnnacber.
M3
macher eine reelle Weclisehvirkunjjf zwischen den Gegensatz-
gliedcrn. unbeschadet dessen oder vielmehr gerade darum, weil
auf jeder Seite doch auch schon wieder eine Bindung der Gegen-
saUglicder, wenn auch im Übergewicht hier des einen, dort des
andern, zu finden ist, —
Schelling ging von einem schlechthin und unmittelbar ge-
wissen Wissen» der transcendentalen oder intellektuellen An-
schauung aus und glaubte an ihr den festen Punkt iür seine
philosophisclie Konstruktion zu besitzen, d. h. für die Deduktion
apodiktisch gewisser Erkenntnis, Schleiermachcr weiss, dass der
Mensch über ein solches höchstes, schlechthin gew^isses Wissen
nicht verfügt, und kann deshalb die Deduktion nur auf Induktion
stützen. Auch Schelling- kommt schliesslich in seiner positiven
Philosophie zu einem Kompromiss zwischen Deduktion und In-
duktion, wobei allerdings aller Inhalt auf Seiten der Deduktion
bleibt und die Induktion nur die reale Existenz des Deduzierten
verbürgt. Schleiermacher schliesst das Kompromiss so, dass der
gleiche Inhalt auf beiden Wegen erreichbar scheint, aber die
reale Existenz nur durch ihr Zusammentreffen an einem Punkte
verbürgt ist. Beide suchen also von der einseitig deduktiven
Behandlimgsweise der bisherigen Philosophie loszukommen, beide
bleiben in der Halbheit eines Kompromisses stecken. Dabei hält
aber Schelling den Anspruch der deduktiven Philosophie auf
apodiktische GewMssheit fest, während Schleiermacher sich mit
einer allmählich fortschreitenden Annäherung des Wissens an die
Gevvissheit begnügt. Nichts hat so sehr zur Missachtung des
Philosophen Schleiermacher bei den späteren Resten der speku-
lativen Schulen beigetragen, als dass er den Mut hatte, auf
apodiktische Gewissheit zu verzichten und trotzdem das Philo-
sophieren nicht einstellte.
Aber auch er verkennt noch, dass die Annäherung an das
Ideal des Wissens uns für immer zum Begnügen mit der Wahr-
scheinlichkeit verurteilt; denn er will im Prozess des Denkens
»die richtige Meinung« ebenso ausgeschlossen haben wie ^den
Irrtums und den Durchgang zum wahren Wissen nur durch die
skeptische Annahme und das freie Phantasieren gestatten {Dialek-
tik, S. i88). Damit ist der Mensch auf die Schwebe zwischen
problematischer Ungew^issheit und phantastischem Glauben an-
gewiesen und die Wissenschaftlichkeit der Philosophie auf den
144
Schlciermachcr,
Zeitpunkt vertaget, wo das Ideal duü gewissen Wissens erreicht
sein wird, d. h, aufs Nimmermehr. Schleiermadier ist durch diese
Halbheit seiner Stellungnahme zum Vorläufer des skef)tisch-
phantastischeii philosophischen Neukantianismus und des zugleich
skeptischen und massiv gläubigen theolügischen Neukantianismus
geworden. Bei diesen transcendentLdidcalistischen Richtungen ist
die Schwebe zwischen Skepsis und Phantasie oder Skepsis und
Autoritätsglaube die letzte Zuflucht; bei Schleiermacher aber ist
sie eine Inkonsequenz, die nur daraus entspringt, dass er die
blosse Wahrscheinlichkeit alles menschlichen Wissens noch nicht
als die mitgesetzte Folge seines transcendentalen Reahsmus be-
griff, sondern an dem überkommenen Ideal des schlechthin ge-
wissen Wissens als dem allein wertvollen und wahren Begriff
des Erkenn ens festhielt, —
Schleicrmachers Erkenntnistheorie geht von einer Doppclheit
zweier Thäligkeiten in der subjektiven oder idealen Sphäre aus,
der sensuellen und der intellektuellen, oder der organischen und
der Vernunftthätigkeit. Die erstere allein gäbe die chaotische
Unbestimmtheit der Sinnesaffektion, Denksloff vor aller Formung, ^M
der überall derselbe ist; die letztere allein gäbe einen bloss mög* "
liehen Anfang des Denkens, der aus Mangel eines Denkstoffes
nicht zwt Verwirklichung kommt Nur das Ineinanderscin und
aufeinander Bezogensein beider Thätigkeitcn lässt ein wirkliches
Denken zustande kommen (Dial, S, 38g — 3Q0, 4Q4); wer diese
unbeweisbare Grundvoraussetzung, die Zusammengehörigkeit
beider Thätigkeiten , anfechten will, der muss das Denken auf-
geben (457, 460). Das Cogito ergo sum ist eine ganz leere
Behauptung, so lange nicht zu der Denkthätigkeit durch die
organische ein Denkstoff hinzugefügt wird, der eine Verschieden-
heit in die aufeinander folgenden Denkmoniente hineinbringt;
denn erst mit der Verschiedenheit des Denkinhalts gewinnt die
Reflexion auf die Identität des denkenden Subjekts einen Grund
(52g). Das Selbstbewusstsciii, abgesehen von allem bestimmten
Inhalt, ist nichts anderes, als das Bewusstsein von dem Einssein
und der Zusammengehörigkeit der beiden Thätigkeiten (414),
Das Selbstbewusstsein ist als unmittelbares gleich Gefühl, als
reflektiertes gleich Ich (42g). Beim Erfahningsdenken giebt jeder
zu, dass wir den Stoff durch die Organisation empfangen; aber
selbst die Formen des Denkens (Kategorien) können wir (be-
Sdildennadier.
wusst) nur denken in der Wahrnehmung oder Erinnerung des
wirklichen Denkens, also mit Hilfe der Organisation, des inneren
Ohres (387), welches das innere Sprechen vernehmlich macht (492).
Vernunftthätigkeit ohne organische ist nur in Gott; im Menschen
ist sie immer durch organische bedingt. Das Übergewicht der
ersteren giebt das eigentliche Denken, das der letzteren das Wahr-
nehmen, das oscillicrende Gleichgewicht beider das selbstgenüg-
same Anschauen (60 — 62, 39^), So ist das Wissen ein Oscillieren
zwischen Denken und Wahrnehmen (392). Vom ersten Denken
des Kindes an bis zu dem des höchsten Denkers wachsen beide
Seiten mit einander und entsprechen einander auf jeder Stiife (28).
Alle Indi\nduen haben sowohl in Bezug auf die organische als
auch in Bezug auf die intellektuelle Thätigkeit eine gleiche Or-
ganisation, so dass ihre verschiedenen Thätigkeiten für einander
substituiert werden können (65—67, 387, 390), Dies ist die erste
unerlässliche, innere Bedingung für Übereinstimmung des Denkens
in den verschiedenen Denksubjekten, wie die Identität des Seins,
auf welches sich das Denken aller bezieht, die zweite unerläss-
liche äussere Bedingung ist (485 — 487), Insbesondere muss es die
Eine allgemeine Vernunft sein, die sich in der Vernunftthätigkeit
aller Subjekte äussert (67). Sie ist es, welche zu der durch die
organische Thätigkeit gesetzten verworrenen Mannigfaltigkeit die
Bestimmung, Sonderung, Einheitsetzung und Entgegensetzung,
kurz die *BegrifFsanfänge<^ oder :^ intellektuellen Orter^ hinzubringt
und in dem vorgefundenen Denkstoff ihre Denkformen entfaltet
{492 — 497)* Die Vernunft ist ^der Ort aller waliren Begriffe«
und die lebendige Kraft zu ihrer Produktion; ihr Wesen ist die
lebendige Totalität des Schematismus der Begriffe {104 — 105).
Die Vernunftthätigkeit will das System der Begriffe zum Be-
wusstsein bringen {2^$). Als Begriffe sind sie erst im Bewnsst-
sein, auf Anlass der organischen ITiätigkeit; die Vernunft ist die
transcendente Voraussetzung sowohl des Bewusstseins als der
Begriffe, darf also nicht in das Gebiet des Bewusstseins
hereingezogen werden (105). Die intellektuelle Vernunft-
thätigkeit ist unbewusst und allgemein, strebt aber zum Be-
wusstsein zu kommen mit ?Iilfe der organischen Thätigkeit, die
im Gegensatz zu ihr bewusst und in unbestimmte Mannigfaltig-
keit be&ondert ist (195 — 196)* Die Vernunft ist also das all-
gemeine, einheitliche, unbewusste Princip, das sich in die den
£. «« H ar t m a n n , Auagcw. Werke. Bd. KU. 10
146
Schlererinaclitfr*
DenkstofF formierenden ^ unbewusstcn IntellcktuaUuuktionen (Kate-
gorialfunktionen) entfaltet, oder das dem Denken immanente un-
bcwusste System von Bethätigungsnormen, die aber nur uneigent-
lich Begriffe genannt werden. —
Die zweite unerlitssliche Bedingung fCir gleiche Denkergeb-
nisse verschiedener Subjekte ist die Beziehung ihres Denkens auf
ein und dasselbe (numerisch identische) Sein (67, 4S4— 486). So
lange das Denken in sich bleibt, ohne auf ein identisches Sein
bezogen zu werden» giebt es nur Verschiedenheit der Gedanken
ohne Widerstreit; widerstreitend können die Gedanken mehrerer
nur dadurch werden, dass sie von demselben Sein Ent^t^egen-
gesetztes behaupten (44g, 485 — 486» 584 — 589), Die Überein*
Stimmung des Denkens in vielen Subjekten giebt wohl der Ver-
mutung Raum, dass ihr Denken ein Wissen sein möchte, aber
die Wahrheit des Wissens hängt doch ganz an der Überein-
stimmung des Denkens mit dem Sein, auf das es sich bezieht,
und die subjektive l'berzeugung an der Übereinstimmung der
organischen und intellektuellen Thätigkeit {6, 55, 386, 392 — 393,
396, 487), welche innerhalb des Denkens den Gegensatz des
Realen und Idealen, Objekts imd Subjekts» Seins und Denkens
repräsentieren (75 — 76),
Die intellektuelle Tliätigkeit bezieht sich nicht unmittelbar
auf das Sein, sondern auf die organische Thätigkeit, deren Pro-
dukte ilir das Sein repräsentieren, und erst durch diese vermittelt
auch auf das Sein, Die organische Thätigkeit bezieht sich un-
mittelbar auf ein Sein, entweder auf ein äusseres, oder auf ein
inneres. Wenn der Sinn sich nach innen öffnet, heisst die or-
ganische Thätigkeit Empfindung und bezieht sich auf das eigene
Sein; wenn er sich nach aussen öffiiet, heisst sie Wahrnehmung
und bezieht sieh auf die Aussenwelt, und zwar zunächst auf das
Sein anderer Menschen (123, 453, 491). Auch das Individuelle
im Denken ist auf ein inneres Sein zu beziehen, nämlich auf die
seiende Eigentümlichkeit der individuellen Organisation , aus der
die eigenartige, von anderen abweichende Auft'assung des Indivi-
duums entspringt (490, 287).
Die Beziehung des Denkens nach innen auf das eigene
Sein w^ird auch vom Skeptiker nicht bestritten, dej* zugiebt, dass
die Bilder im Wachen ebenso wie im Schlafe aus inneren or-
ganischen Aflfektionen entspringen; nur die Beziehung der Bilder
Sckleiennadier.
»47
des wachen Bewussteeins auf ein äusseres Sein verwirft der
Skeptiker, indem er den Traum zum Urtypus nimmt (452,
488 — 489). Wir sind denkend und denken seiend; in uns also
ist Donken und Sein als Eins gesetzt. Dem Denken vorher geht
das WissenwoUen, das uns nicht als Denken, sondern als Sein
gegeben ist (488); denn auch als Wollende und Wirksame fühlen
wir uns als Glieder des gesamten Seins (517). Indem der Streit
der Meinungen uns über die Existenz einer Mehrheit denkender
Subjekte belehrt (54), müssen wir anerkennen, dass nicht nur
jeder Mensch für sich, sondern auch alle für jeden ein Sein sind
(460). Zunächst sind die anderen für jeden nur denkendes Sein,
aber indem sie ihr Denken nur durch Reden kund thun, müssen
wir ihnen eine Organisation gleich uns selbst zuschreiben (4H9).
Der Grund davon, dass wir ein Sein ausser uns annehmen,
liegt darin, dass wir uns solcher Einwirkungen auf uns bewusst
sind, die nicht von uns herrühren (48g — 490). In der Empfindung
ist ebenso wie im Denken eine (transccndentale) Beziehung auf
ein ausser ihnen selbst Gesetztes, nämlich auf die sie veranlassende
Ursache (384), die als ein jenseits des empirischen Bewusstseins
Liegendes etwas Transcendentes ist (583). Schleiermachcr unter-
scheidet leider nicht zwischen transccndent und transcen dental (38),
sondern versteht unter beiden Ausdrücken dasjenige, was
dem Formalen oder der Denkthätigkcit gegenübersteht, wie das
Reale dem Idealen (33 — 34) oder mit anderen Worten dasjenige,
was wir niemals unmittelbar anschauen, sondern dessen wir uns
nur (mittelbar) als eines notwendig Anzunehmenden (d, h. einer
unentbehrlichen Hypothese) bewusst werden können (78). Auch
im allgemeinsten Begriff des Dinges ist noch die Fähigkeit, uns
organisch zu affizieren, mitgesetzt; nimmt man ihm diese Fähig-
keit, so bleibt nur der leere Begriff eines beziehungslosen Seins
ohne Thun übrig, der gleich Nichtsein ist (388 — 389). Alles
Thun oder Handeln ist ein transcuntes, selbst dann, wenn es sich
anf das eigene Sein bezieht, also immanent scheint; denn das
Sein, das durch das Handeln verändert werden soll, ist ein anderes
als das Sein des Wollens^ welches die Veränderung hervorbringt
(518—519), Subjekt und Objekt (Ding an sich) sind beide aktiv
und beide passiv (552 — 553). Durch die organische Impression
wird das ausser dem Menschen befindliche Sein in das Sein in
ihm (repräsentativ) übertragen; durch die organische Wirksamkeit
148
Schlciemmcher.
oder das Handeln des Menschen wird das in ihm liegende Sein
in das Sein ausser ihm {abbildlich) gesetzt (460—461). So hängt
der Mensch durch das Gebiet des Organischen mit dem übrigen
Sein zusammen (460); das Korrespondieren des Denkens und
Seins ist vermittelt durch die reale Beziehung, in welcher die
Totalität des Seins mit unserer Organisation steht (54). Sein und
Denken sind beide geteilt, aber nicht in übereinstimmender Weise;
darin liegt der Grund der relativen Nichtübereinstimmung beider,
wie in der Einheit des Wesens auf jeder Seite der Grund ihrer
relativen Übereinstimmung (55). Wahr ist ein einzelnes Wissen,
insofern es zu dem Teile des Seins, den es zum Gegenstand hat,
dasselbe Verhältnis hat, welches im allgemeinen zwischen Weissen
und Sein stattfindet (6).
Das äussere, ausser uns gegebene (transcendente) Sein ist ein
(für alle Denkenden und Wahrnehmenden) Gemeinsames und zu-
sammengenommen mit dem menschlichen Sein (d, h. der Gesamt-
heit der Menschen) eine gemeinsame Welt, die Einheit von
denkendem und nicht denkendem Sein (490—492). Dieses sie
alle affizierende Sein, oder die fär alle identische Aussenwelt
schliesst ein System der gegenseitigen ursächlichen Einwirkung
der Dinge aufeinander ein (123, 125 — 126). Dieses System der
allgemeinen Wechselwirkung oder Gemeinschaft entspricht der
steten Veränderlichkeit der organischen Funktion, ebenso wie das
System der unzeitlichen substantiellen Formen im Sein der Prä-
formation der intellektuellen Funktion entspricht (127 — 130}. Der
organischen Funktion ist deshalb das Sein immer nur in seiner
Aktivität gegeben (324). —
Die Aktivität, den Wechsel des Seins, das Moment der
Thätigkeit und Leide ntlichk ei t (d, h, Veränderung, Vorgang, Ge-
schehen, Prozess), bezeichnet Schleiermacher sonderbarer Weise
mit dem Ausdrucke >Thatsache« (512). So wird das Zeitwort,
der ursprüngliche Ausdruck des Prädikats, zum Repräsentanten
der kausalen Aktivität und Passivität im Urteilen (323); das
Siibstantivum, der ursprüngliche Ausdruck des grammatischen
Subjekts dagegen wird zum Repräsentanten der unzeitlichen sub-
stantiellen Seinsfonnen im Urteilen (200). Das Urteil selbst
repräsentiert die thatsächliche Veränderung des Seins und den
Wechsel der organischen Eindrücke im Denken, weil die Ver-
knüpfung mit dem Prädikat (Zeitwort) den Subjektbegriff mit in
Sckleiemiadier.
149
den Strudel der Veränderung hineinzieht; der Begriff dagegen
repräsentiert die unzeitliche, feste, stehende, substantielle Seins-
form im Denken (509). So kommt Schleiermacher zu der An-
nahme, dass Begriff und Urteil sich zu einander verhalten wie
intellektuelle und organische Thätigkeit (466) oder wie Ideales
und Reales» obschon er daran festhält, dass in beiden beide
Thätigkeiten zusammenwirken müssen und nur immer die eine
im Übergewicht über die andere ist (122). Das System der Be-
griffe bildet im Denken das stehende Gerüst, das dem Sein der
Gattungen und Arten entspricht; das System der Urteile liefert
die lebendige Ausfüllung dazu, die dem System der Aktionen
oder der allgemeinen Wechselwirkung oder der Gesamtheit der
Thatsachen (Veränderungen) entspricht (325, 509).
Die untere Grenze der Urteilsbildung ist das unpersönliche
Erfahrungsurteil. z. B. '»da glänzt's« (561), die erste Heraus-
hebung eines Bestimmten aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit
der Eindrücke oder aus der chaotischen Materie der Empfindung
(116— 117, iiq). Die obere Grenze ist das absolute Urteil: malles
Sein ist Wechselwirkung«, oder »die Einheit des aufeinander
Bezogenseins ist*, oder ^die Welt ist« {261, 562), Die untere
Grenze des Begriffs ist ebenfalls verworrene Indifferenz (409),
die dem Sein mit aufgehobenem Gegensatz, d. h, dem leeren Sein
ohne Thun, entspricht {407, 388 — 389); denn in dem unvoll-
kommenen Begriff ist noch manches in dem Gegenstande Ent-
haltene nicht aufgenommen (408). Die obere Grenze des Begriffs
wäre, objektiv gedacht, nur die höchste Gattung, das allgemeinste
Ding, das cns summum universalissimum. dem die allgemeinste
Kraft im Sein entspräche (121); der Form nach wäre sie kein
Begriff mehr, weil wir keine Mannigfaltigkeit von Merkmalen
davon aufstellen können; da sie aber allen Inhalt des Seins um-
spannte, so entSprüche sie dem absoluten Sein. Die untere Be-
griffsgrenze verhält sich zur oberen wie o zu co oder wie In-
differenz zu Zusammenfassung (465). Nur in der Art, wie das
Denken zu ihnen kommt, ist die untere und obere Grenze, der
Begriff von der unteren und oberen Grenze des Urteils ver-
schieden, sachlich drücken aber beide dasselbe Sein aus, fallen
also in Eins zusammen, nämlich in die verw^orrene Indifferenz einer-
seits und in das allen Seinsinhalt umspannende absolute (gramma-
tikalische) Subjekt andererseits (99 — 101, 506). Das absolute
i^o
Schlei ermadier.
Subjekt ist nicht der leere Gedanke einer Einheit des Seins,
sondern der aus der Vielheit entstandene Gedanke einer die Viel-
heit einschliessenden (synthetischen) Einheit (507—508), Ihm ent-
spricht im Sein einerseits die höchste Kraft oder höchste Gattung
als Inbegriff des substantiellen testen Seins, andererseits die all- ^
gemeine Wechselwirkung als Gesamtheit der Thatsaclien (Ver-
änderungen)» welche beide von einander unzertrennlich sind und
in ihrer Einheit die Welt ausmachen {115, 99, 506). Wäre das
dem Begriff und das dem Urteil zu Grunde liegende Sein nicht i
dasselbe, dann gäbe es keinen wahrhaften Übergang zwischen
Begriff und Urteil {507). —
Alles Erkennen, alles wirkliche Begriffsbilden und Urteilen
liegt zwischen der unteren und oberen Grenze (562), Die untere
Grenze bat eine reale Bedeutung als Ausgangspunkt des Er-
kennens beim Erwachen des Bewusstseins; die obere Grenze
stellt sich als ein Ziel des Erkenntnisprozesses dar» das schon
darum unerreichbar ist, weil es weder Begriff noch Urteil ist,
also überhaupt nicht mehr die Formen des bcwussten Denkens
und Erkennens zeigt. Die obere Grenze ist die Fiktion eines
absoluten Wissens, das die P'ormen des Wissens überwunden hat.
In ihm soll nicht nur der Gegensatz von Begriff und Urteil,
intellektueller und organischer Thätigkeit, der innerhalb des
Idealen liegt, sondern auch der von Begriff und Gegenstand,
Urteil und Thatsache erlöschen (93); das Wissen soll, indem es
seine eigene Form überschreitet, mit dem Sein, auf das es als
Wissen sich bloss bezieht, identisch werden, oder als Ideales mit
dem bisher ausser ihm verbliebenen Realen oder als Formales
mit dem Transcendenten zusammenfallen (397, 3Ö2). Diese Iden-
tität des Idealen und Realen, des Denkens und Seins nennt
Schlei ermacher auch >die Idee des absoluten Seins ^ die nur noch
dem Inhalt, aber nicht mehr der Form nach ein Begriff oder ein
Wissen ist (86 — Üy). Das Ztisammenfallen des Wissens und Seins,
des Formalen und Transcendenten erklärt Schleiermacher aus-
drucklich für die Bedingung ^ unter der allein die Aufgabe des
Erkennens lösbar ist (382), oder für die allem Wissen zu Grunde
hegende Voraussetzung (397), oder für den transcendenten Grund
des Wissens (86 — ^87). Um zu dieser Einheit des Wissens und
Seins eine Brücke zu finden, müht er sich so ab mit der Einheit
des Begriffs und Urteils in ihrer oberen Grenze, und nennt auch
wohl schon diese selbst den transcendenten Grund des Wissens,
insofern sie nämlich auf jene andere Einheit transcendental be-
zogen wird» oder sie für das Bewusstsein repräsentiert (loi). Die
Neigung zur Vermengung beider Gleichsetzungen wurde aber
Schleiermacher später doch wieder bedenklich, so dass er die
obere Grenze und das Transcendentc, das absolute Subjekt in
unserm Denken und das Absolute selbst doch wieder auseinander-
iuhaltcn sucht (500, 503, vergl. die Anmerkungen des Heraus-
gebers S. 80, 115 — 116, 145 — 146).
Die Fiktion der oberen Grcns^e des Begriffs und Urteils ver-
liert aber jede Bedeutung, \venn sie nicht die Identität von Wissen
und Sein, Begriff und Gegenstand, Formalem (Bewusstseins-
immanentem) und Transcendentem unmittelbar einschliesst; denn
eine Ableitung dieser Identität aus der Gleichsetzung von Begriff
und Urteil in der oberen Grenze ist von Schleiermacher nicht
versucht und ist überhaupt gar nicht möglich. Eine blosse
Fiktion k*mn niemals die Brücke vom Wissen zum transcendenten,
realen Sein schlagen; was bloss als Ziel, und noch dazu als un-
erreichbares, also ewig unwirkliches Ziel der Entwickelung des
Wissens hingestellt wird, kann niemals (irund des Wissens sein,
der ein reales Prius des Wissens sein mQsste, Jede Steigerung
des bewussten Denkens muss auch mit einer Verschärfung der
Gegensätze des Denkens verbunden gehen, kann aber nicht zu
ihrem Erlöschen führen; verschwunden können die Gegensätze
nur in einem unbewussten Denken oder in einer unbewussten
Intellektualfijnktit>n sein, w*ie Schleiermacher seihst sie in der
dem Wissen vorhergehenden Vernunftthätigkeit dargestellt hat.
Wäre das bewusste Wissen zu seiner htichsten VoDendung ge-
führt, so würde es sich zwar seinem Inhalt nach mit dem Inhalt
des Seins decken, aber es wäre doch selbst dieser Inhalt im
Wissen und Sein trotz aller Gleichlieit ein numerisch verschiedener
und stellte sich in beiden in verschiedener Form (Bewusstsein
und Dasein) dar. Der von Schleiermacher gew^ihlte Weg, um
zur Identität des Idealen und Realen zu gelangen, erscheint dem-
nach in jeder Hinsicht ungangbar, und seine Fiktion der oberen
(iren/e eine v<»llig verlorene Mühe. Dass die Korre^jiondenz von
Denken und Sein im Wissen nur möglich ist unter der Voraus-
setzung, dass Denken und Sein im Absoluten in gewissem Sinne
identisch sind (530, 532), das kann auch dann bestehen bleiben,
^
152
Schleieniuiiclier.
wenn die Identität von Denken und Sein in der fiktiven oberen
Grenze des Wissens als ein in sich unhaltbarer und leistung^-
unfähiger Vermittelungsversuch wieder ausgeschieden wird. —
Schleiermacher unterscheidet Begriff und eigentliches Urteil
so, dass ersterer nur das beharrende Sein, die unvergängliche
Kraft, die substantielle Form, den Typus der Erscheinung;
letzteres aber die Verteilung auf Zeit und Raum und das je-
weilige Thun und Leiden des Subjekts darstellt (466). Zu dem
Zweck muss er alle begrifflichen Subsumtionsurteile als un eigent-
liche Urteile beiseite schieben. Der Subjektsbegriff muss die
Möglichkeit enthalten, dass das Subjekt hier oder dort sei und
die^ oder das thun oder leide; das Urteil lelirt, dass das Subjekt
wirklich jetzt hier oder dort ist und das oder das thiit oder leidet
{265 — 280). Nur durch die organische Thätigkeit kann festgestellt
werden, dass gerade jetzt und hier dieses Ding ist und das thut
oder leidet; in diesem Sinne bringt das auf die Wahrnehmung
gestützte Urteil etwas zu demjenigen, was im Begriff als bloss
möglich gesetzt ist, nämlich die Wirklichkeit hinzu (122). In
Bezug auf den vollständigen Subjektbegriff giebt es keine syn-
thetischen, sondern nur analytische Urteile; synthetisch kann ein
Urteil nur in Bezug auf den unvollständigen, noch in der Bildung
begriffenen Subjektbegriff scheinen. Der Unterschied zwischen
synthetischen und analytischen Urteilen ist also nicht festzuhalten
und ist überhaupt keiner (89, 563). Nur durch Urteilsbildung
kann auch die Begriffsbildung fortschreiten.
In seiner Methodologie geht Schleier macher von dem rich-
tigen Gedanken aus, dass das Wissen weder einseitig aus der
intellektuellen, noch einseitig aus der organischen Thätigkeit,
sondern nur aus einem Zusammenwirken beider an jedem Punkte
entspringen könne. Es giebt also weder ein Wissen, das bloss
a priori wäre, noch ein solches, das bloss a posteriori wäre;
sondern Wissen findet sich nur da, wo die Vereinigung beider
Seiten gegeben ist (467, 502). Einen Standpunkt, der der orga-
nischen Tliätigkeit die Beteiligung am Wissen abspricht und es
bloss auf Begriffs- und Urt ei Isapriorismus gründen will, nennt
Schleiermacher Idealismus (richtiger rationalistischen Apriorismus);
die entgegengesetzte Einseitigkeit, welche das Wissen bloss aus
der organischen Funktion entwickeln und die Begriffe als leere
Formeln und Zeichen beiseite schieben will, nennt er Realismus
SchlcicmiAcher.
153
(itiger sensualistischen Nominal ismus) (411, 95—97» 467). Er
selbst strebt die rechte Mitte zwischen beiden an, aber er ver-
fehlt sie dadurch, dass er doch noch ein doppeltes Wissen, statt
eines einfachen annimmt, dass er also nicht die Faktoren des
Wissens im einfachen Wissen zu verschmelzen sucht, sondern
zwei Arten des Wissens, die jenen unwirklichen Extremen ent-
sprechen, zu koppeln bemüht ist.
In der Begriffsbildung findet er ein Übergewicht Jlt intellek-
tuellen Thätigkeit, in der Urteilsbildung ein solches der organi-
schen (.|66); dies ist daraus zu erkhlren, dass er einerseits die
fertigen Resultate der intellektuellen Thätigkeit, die bewussten
Begriffe irrtümlicher Weise der intellektuellen Thätigkeit näher
stehend glaubt, als die Urtcilsbildung, mit welcher die Begriffs-
bildung gleichen Schrittes fortschreitet, und d*iss er andererseits
in der raumzeitlichen Bestimmtheit der Urteile die Mitwirkung
der intellektuellen Thätigkeit verkennt. So kommt er dazu, das
spekulative Wissen als ein überwiegend begriffliches und aprio-
risches, das empirische und geschichtliche als ein überwicgcml
auf Urteil beruhendes und aposteriorisches zu betrachten, und in
beiden ein Gemenge von Wahrheit und Irrtum zu sehen (26 — 30,
130 — 131, 467). Eine völlige Durchdringung beider scheint ihm
nur in der Totalität, im einzelnen aber nur eine begleitende Be-
ziehung des einen auf das andere oder eine fortlaufende wissen-
schaftliche Kritik möglich (142 — 144).
Das begriffliche Erkennen nennt er auch Deduktion, das
urteilende Induktion. Unter Deduktion versteht er, was man
sonst Begriffseinteilung (Division) nennt, nämlich eine formelhafte
Ableitimg von Artbegriffen aus einem Gattungsbegriff am Leit-
faden begrifflicher Gegensätze und Unterschiede, die im Gattungs-
begriff gebunden sind und in den Artbegriffen auseinandertreten.
Unter Induktion versteht er dagegen das, was man sonst Ab-
straktion nennt, d. h. die Ilerausziehung allgemeiner Bilder oder
Schemata aus den Wahrnehmungen. So führt die Deduktion
(Division) zur Formel (Definition) des Artbegriffs, die Induktion
(Abstraktion} nur zu seinem Schema (ins allgemeine abgeblasstem
Bilde). Das Ideal der Erkenntnis ist die vollständige Durch-
dringung von Tormel und Schema (Difinition und Bild), deren
er&tere das Wesen, letzteres die Erscheinung des Begriffes giebt
Die Formel wird im Absteigen immer komplizierter, das Schema
154
Schlciermaclicr,
im Aufsteigen immer scbeniatischer und abstrakter. Die an-
nähernde Deckung von Formel und Schema ist deshalb nur in
der Mitte zu finden, und darum muss die Deduktion von der
Mitte anfangen, die ihr von der Induktion geliefert wird (201 — 202,
238—254). Sehr charakteristisch für den Entwickelungsgang des
Schlei er niacherschen Denkens ist es dabei, dass er die Induktion
erst als eine untere Vorstufe des reinen Denkens gelten lässt, dle^J
noch in das Gebiet der gemeinen Erkenntnis gehört und nicht ^^
als stetige Entwickelung von Anfang bis zu Ende fortgehen
kann (220—222, 551), die Deduktit>n (Division) aber für eine be-
sondere begriffliche Art der Erkenntnis halt, obwohl sie ein-
gestandener Massen die Ergcbniisse der Induktion zum Ausgangs-
punkt nehmen (250^251), überall auf di(* Induktion hinsehen und
zurückgehen muss (234, 240), und schliesslich doch nichts weiter
kann, als den von der Induktion bereits zurückgelegten Weg
noch einmal in umgekehrter Richtung durchlaufen. Hier steckt
eben noch ein Rest des alten aprioristischen Vorurteils, als ob
man durch formale Operationen mit reinen Begriffen zu irgend
welcher realen Erkenntnis gelangen könnte, und hernach nur
nötig hätte, das so Erdachte mit den Ergebnissen der empirischen
Erkenntnis zu vergleichen und in Einklang zu setzen. Schleier-
macher hat immer noch zwei relativ selbständige Wissensarten
oder Erkenntnismethoden im Sinne, die verschiedenen, aber auch
gleichen Inhalt haben kuimen, und nur insoweit zu verbürgtem
Wissen fuhren, als sie gleichhaltig sind und einander bestätigen.
In der That giebt es aber nur einen einzigen Erkenntnisweg, der
nur da einen Fortschritt zeigt, wo beide Thätigkeiten , die in
ihrer Einseitigkeit noch gar keine Erkenntnis sind, zur Ent-
stehung von Erkenntnis zusammenw^irken l^()2 — 393, 396). —
So wäre Sclileiermachers Erkenntnistheorie umrissen. Das
Ideale, das Reich des Geistes, ist aber nicht im Erkennen er-
schöpft, sondern umfasst auch Wollen und GefühL Vom Gefülil
steht es für Schleiermacher fest, dass es die relative Identität von
Denken und Wollen ist, und dass die im Denken und Wollen nur
vorausgesetzte (supponierte) Einheit des Idealen und Realen in
ihm wirklich vollzogen ist (151, 152}, Denken und Wollen sind
noch im Gegensatze stehende Funktionen (42S); das Gefühl ver-
mittelt nicht nur den Übergang zw^ischen ihnen, sondern läuft
auch als beständiger Begleiter neben ihnen her {429). Jedes
Schleiemmchcr.
1^55
^Wollen ist nach Massgabe seiner Klarheit in einem Denken»
üämlich in einem ZweckbegrifF gegründet, und jedes Denken ist
als Produktivität auch Wollen; darum muss ihr transcendenter
Gnmd ein einheitlicher sein (427 — 42H). Als gegensätzliche Funk-
tionen müssen sie innerhalb der Sphäre des Geistigen den Grund-
gegensatz des Realen und Idealen, wenigstens im Übergewicht
der einen Seite, dcirstellen, den ihre Einheit, das Gefühl, zum
Gleichgewicht gebunden enthält. Aber Schleiermacher sagt nicht»
welches von ihnen dem Idealen und welches dem Realen ent-
spricht Nach heutiger Auffassung könnte man geneigt sein, im
Wollen das Reale, im Denken das Ideale zu sehen; aber das
würde nicht Schleiermachers Meinung entsprechen. Das Wollen
ist zwar nach ihm ein Glied des gesamten Seins, sowohl als
Kraft wie als Thatsache, aber nicht in anderem Sinne» wie dies
auch vom Denken gilt (517—519). Das Wollen ist bloss das
Denken in seiner höchsten Wirksamkeit oder Aktivität und so in
seinem schärfsten Gegensatz zu dem nichtdenkeoden passiven
Sein (42g); es bildet also den Gipfel des Idealen, wenn das Ur-
bild des Realen in dem letzteren zu suchen ist. Die Kraft wird
ja gleichfalls von Schleiermacher auf die Seite des Idealen ge-
stellt, und ihr Gegensatz, die Thatsache (Veränderung), haftet
dem Denken ebensogut wie dem Wollen an. Das Wollen ver-
steht Schleiermacher noch ebenso wie Kant, Fichte, Schelli ng in
seiner ersten Periode und Hegel als praktische Vernimft oder
ethische Zwecksetzung. Im Ethischen ist aber die Vernunft (das
Ideale) das Ursprüngliche, und der (legenstand (das Reale) bildet
sich erst aus ihr heraus; im Physischen dagegen ist das Objektive
(Reale) das Ursprüngliche und die Vernunft (das Ideale) bildet
sich (als bew^usste) erst aus ihm heraus (327), Daraus kann man
entnehmen, dass bei Schleiermacher in dem Gegensatz von Wollen
und Denken das Wollen (als vernünftige ethische Zweckthätigkeit)
das ideale, das Denken aber (als bewusste präsentative Rekon-
struktion des realen Seins) das reale (Tlied darstellt Das Wollen
eritspricht der intellektuellen, das Denken der organischen
Funktion in dem erkenntnistheoretischen Gegensatze; denn
Wollen und intellektuelle Funktitm formieren die vorgefundenen
äusseren oder inneren Daten nach idealen Normen, Denken
und organische Funktion dagegen spiegeln das reale Sein
in der idealen Sphäre beziehungsweise im Denken wider, und
156
Schleierrnacher,
Kwar um so treuer» je weniger sie das Urbild im Abbilde
verändern. —
Wir kommen nun zu der Seite des Realen, das als Objek-
tives oder Reich der Natur dem Idealen, Subjektiven, oder
Reiche des Geistes g-e gen übersteht und das für unser Bewusst-
sein transcendente Sein umfasst, auf welches wir all unser Denken
(transcendental) beziehen. Unser Denken hätte kein reales Objekt,
durch Beziehung auf welches und durch Übereinstimmung mit
welchem es zum Wissen werden könnte» wenn das Absolute sich
nicht in zwei entgegengesetzte, parallel laufende und aufeinander
bezogene Arten, Formen oder Modi des Seins dirimicrte (77)^
Wie alle Gegensätzlichkeit nur eine relative ist, so auch die
beider Modi (335); das Ideale lässt den Begriff, das Reale das
Objekt heraustreten, oder im Übergewicht erscheinen, während
die Verabsolutierung des Gegensatzes zu reiner Materie und reinem
(bewHssten) Geist beide Glieder mythisch machen würde (333).
Das Reale oder die Natur zerfällt selbst wieder in den rela-
tiven Gegensatz des Realen und Idealen. Dasjenige an ihr, was
der organischen Funktion im Denken entspricht» ist das relativ
Reale, dasjenige, was der intellektuellen entspricht, das relativ
Ideale am Realen, Ersteres Ist dasjenige, was dem Bilde der
Wahrnehmung zu Gronde liegt, als stetig Gegebenes {trag be-
harrende Materie), letzteres das, was dem Begriff zu Grunde liegt
als lebende Entgegensetzung {Divisionstendonz) (,^97). Der be-
harrende Stoff ist aber auch zugleich wieder dasjenige, woran
die Gestaltungskraft des Begriffs sich offenbart und was durch
diese in den Prozess der Veränderung hineingezogen wird;
andererseits ist die Division der Begriffe nach Gegensätzen eine
begrenzte, die sich in einem festen System substantieller Formen
vollzieht und zu konstanten Typen führt, d.h. zu Formen, die
sich im Wechsel des Stoffes erhalten (511). Den Begriffen im
Denken entsprechen im realen Sein die festen, substantiellen
F'ormen, die sich nach Gegensätzen gliedern und reproduzieren,
den Urteilen das System der Ursachen und Wirkungen oder die
Gesamtheit der Thatsachen (Veränderungen) (120, 412, 509}. Die
ersteren sind die Gattungen; die letztere ist das Sein der Ak-
tionen, welches mit dem Sein der Gattungen zusammen die
Totalität des Seins ausmacht (321, 325), Erstere sind als das für
sich Gesetzte die Substanz, letztere als das gemeinschaftlich (im
Schleiermacher.
157
commercium) Gesetzte das Gebiet der Wechselwirkung, erstere
das der Selbstent wickehing oder Freiheit, letztere das der Not-
wendigkeit (514). Erstere sind die Kräfte, letztere die KausaU
Verhältnisse oder Kausalitätssysteme, welche auf die Kräfte zu-
rückweisen» die in ihnen sich auswirken (135). Erstere ent-
sprechen dem festen Sein der Eleaten, letztere dem Heraklitischen
Fliessen des Alls {129—150). —
Schleiermacher , huldigt einem Begriffsreal ismus oder einer
Ideenlehre in dem Sinne, dass das dem Begriff entsprechende
Sein ebenso wie der BegrifiF im Denken nach Allgemeinem und
Besonderem gegliedert ist (in), dass das Allgemeine, die Gat-
tungen, zwar kein Sein ausser dem Besonderen, sondern nur in
und mit diesem hat, dass aber das Besondere, die Arten und
Einzeldinge, doch sein Sein nur durch das Sein des jn ihm
wesenden Allgemeinen hat (320—321). Die Teilung nach Gegen-
sätzen, die wir im Denken als Begriflfsdivision kennen, vollzieht
sich auch im Sein (411—412), aber hier als Verhältnis von Kraft
und Erscheinung (iii — 112, 414, 471). Jede niedere substantielle
Form ist die Erscheinung einer höheren, die sich zu ihr als die
sie produzierende Kraft verhält; sie selbst ist aber wieder die
Kraft» die die unter ihr befassten substantiellen Formen als ihre
Erscheinungen hervorbringt {113, 415). Erscheinung ist bereits
doppelsinnig; einerseits ist sie feste Form des Seins, Species einer
Kraftgattung oder niederer Begriff, andererseits beständig sich ver-
ändernde Mannigfaltigkeit der Kraftäusserungen oder Thatsacben,
also Korrelat des Urteils (510). Die Erscheinung schillert also
bei Schleierm acher zwischen Kraftäusserung in Bezug auf die
höhere, und Kraft in Bezug auf die niedere substantielle Form.
und schlägt in dieser Zweideutigkeit die Brücke zwischen der
substantiellen Form und der Summe kausaler Veränderungen.
Auf allen Mittelstufen ist festes Sein und Aktion, Substanz und
Kausalität vertauschbar, je nachdem man die betreffende Stufe als
erzeugende Kraft der niederen Stufen, oder als Erscheinung der
höheren Stufe ansieht (199, 326). Ganz dem Begriff als höchster
allgemeinster Gattung ohne Urteilsbeimischung oder dem abso-
luten Subjekt entspricht demnach nur die höchste, allgemeinste,
alles aus sich hervorbringende, weltbildende Kraft, deren Er-
scheinungen die Ideen sind, die selbst in keinem Sinne Er-
scheinung sind, ganz dem Urteil nur die Wechselwirkung des
«58
SchltfiermacJiCT.
Einzelnen, die bloss noch Erscheinung, aber nicht mehr all-
gemeine erzeugende Kraft für etwas noch unter ihr Stehendes
ist (155, 121, 512).
Wenn sich auf der Seite der substantiellen Formen der rela-
tive Gegensatz des Idealen und Realen in Kraft und Erscheinung
wiederholt, so auf der Seite der Veränderung in Zeit und Raum
(^qH). Die allgemeine Wechselwirkung oder die Gemeinschaft-
lichkeit (commercium) alles Seins ist die in einander aufgehende
Raum- und Zeit-ErfüUung {468, 463); Raum- und Zeit-Erfüllung
ist auch der bei der Erhaltung der vsubstantiellon Formen wech-
selnde Stoff (511). Die Raumerfüllung entspricht dem Sein, dem
Realen, der organischen Funktion, dem Bilde, die Zeiterfüllung
dem Denken» dem Idealen, der intellektuellen Funktion, dem Be-
gritf (398),"') Raum und Zeit sind nicht bloss die Formen, oder
die Art und Weise zu sein, für unsere Sinnlichkeit und unsere
Vorstellungen, sondern auch für die allgemeinen Dinge, nämlich
für die Verbreitungsart der lebendigen Kräfte auf der Erde, für
ihr Wirkungsmass und ihre Funktionsverhältnisse. Alles, was
Quantum ist oder an quantitativen Verhältnissen teil hat, steht
unter den Bedingungen von Raum und Zeit; das trifft aber nicht
bloss für das Einzelne und Besondere, sondern auch für das All-
gemeinste zu {335). Raum und Zeit sind eben die Formen, in
denen alle Veränderung, d. h. alle Kausalität sich vollzieht
Hiermit sagt Schleiermacher sich ausdrücklich von der trans-
cendentalen Ästhetik der Kantschen Vernunftkritik h:is, deren
Ati sehen damals noch fast unerschütterlich feststand. Er zieht
damit die Konsequenzen seines transcenden taten Rctdismus eben-
so nach Seiten der Anschauungsform eu, wie nach Seiten der Denk-
formen, leider aber ohne diesen erkenntnistheoretischen Fragen
eine eingehendere Erörterung und Begründung zu widmen.
Leeren Raum giebt es nicht; auch wenn er nicht mit Materie
erfüllt ist, ist er mit Aktion erftillt. Zwei Agentia sind sich un-
mittelbar gegenwärtig; , die Aktion vernichtet den Raum (actio
in distans) {336). Diese Andeutungen zeigen, dass Schleiermacher
auf eine dynamische Raumtheorie abzielte, wobei ihn nur einer-
seits die blosse Idealität seines Kraftbegriffs und andererseits der
Begriff der unbestimmten chaotischen Materie behindert hätte.
*) Aof S. 462 ist das Verhältnis umgekelirt angegeben, oflfcnbar nur aus Versehen.
SchJ eiermach er.
159
Zwar weiss Schleiermachcr ganz genau, dass die Materie in
diesem Sinne eine ganz leere, verworrene Vorstellung, ein
leerer Gedanke, nur Abstraktion vom substantiellen Sein, das
Nichts, die Negation von allem ist (121 — 122, 13S, 141); er
weiss, dass sie nur die Totalität unserer organischen Funktionen
ist, abstrahiert von allem» was durch die intellektuelle Funktion
entsteht (ui), also ein blosses Produkt unserer rezeptiven Sinn-
lichkeit unter Ausschluss des Verstandes, ein subjektiver Gedanke
ohne entsprechendes Sein, also reell genommen Nichts ist. Das
Sein als höchste Kraft ist eine dem wirklidien Denken zu Grunde
liegende Voraussetzung, und als solche gilt auch die unbestimmte
Materie (516); aber die erstere muss gemacht werden, die letztere
braucht es nicht (121 — 122).
Trotz alle dem hält Schleiermacher diesen scholastischen Un-
begriff, der zu keiner Erklärung das mindeste beitragen kann
und sich als Trug und \Vahngespenst entlarvt» als untere Grenze
der Regriflfs* und Urteilshildung und als vorhergehende Be-
dingung für das Einzcldasein und bestimmte Urteil fest {riy, 141).
Ja sogar, was noch schlimmer ist, dieser scholastische UnbegriflF
fälirt fort, für ihn das typische Urbild des Realen zu sein, das in
allen seinen Entscheidungen dafür massgebend ist, welches von
zwei Gcgensatzgliedern er als das reale bestimmt Nur darum
rückt in der Natur die Kraft, im Geiste das Wollen auf die
äiisserste Seite des Idealen, weil sie der chaotischen Materie
möglichst fern und entgegengesetzt scheinen; dass aber gerade
in ihnen das Kealprincip zu suchen sein könnte, kommt Schleier-
macher nicht in den Sinn. Damit hat er sich aber den wahren
Gegensatz zum Idealen verschüttet, und der Fehler wird dadurclj
nicht gebessert, sondern verschlimmert, dass er in der Natur zu
einem scholastischen BegrüFsrcalisnius hinneigt, der das Gegen-
stück zu seinem begrifflichen Wissen* bildet. - —
Das Ideale, der Begriff nimmt in der Natur nach unten hin
ab, verschwindet aber nie ganz; was uns als tot erscheint, kann
so nicht für sich gedacht werden, sondern muss nur in eine
höhere Sphäre aufgenommen, als Glied eines grösseren Zu-
sammenhanges aufgefasst werden, um in dieser Beziehung als
Moment einer Einheit von Idealem und Realem begriffen zu
werden (334}. So ist auch das Reale oder die Natur ganz von
der relativen Identität des Realen und Idealen durchdrungen,
wie dies auf der anderen Seite auch das Ideale, oder der Geist
ist Das ganze Sein ausser uns, als Wissen von der organischen
Seite her gesetzt, müsste die ganze Vernunft abspiegehi, wie das
ganze Wissen auch das ganze Sein in sich hätte; beide lassen
sich einander substituieren, müssen also gleich sein (78). Die
Gesamtheit der Dinge und die der Begriffsanfänge (formierenden
Intellektualfunktionen) entsprechen einander, zwar nicht als Aggre-
gate, wohl aber als Totalitäten (497—498). In der Gesamtheit
des Realen ist auch das denkende Sein, die Gesamtheit der
denkenden Individuen samt ihrem Bewusstseinsinhalt mit ent-
halten; in der Gesamtlieit des Idealen ist alles Denken sowohl
als denkendes Sein wie als (repräsentativ) gedachtes Sein gesetzt,
also die Identität beider unmittelbar gegeben {461). Dass diese
Identität auch auf der Seite des Realen gegeben ist, nur nicht
unmittelbar für das Bewusstsein. folgt sowohl aus der überein-
stimmenden Gliederung der substantiellen Formen und Begriffe,
als auch aus der Aufnahmeftihigkeit des äusseren Seins für das
ideale Gepräge des vernünftig -sittlichen Wollens (150).
Fassen wir Reales und Ideales, Natur und Geist, Sein und
Denken (in dem weiteren, das Wollen mit umspannenden Sinne)
zusammen, so haben wir die Welt, d. h, das Ineinander von Natur
und Geist (526) oder das Gleichgewicht von Realem und Idealem,
oder die synthetische, die Gesamtheit der Gegensätze ein-
schliessende Einheit beider (162, 433). Als diese letzte synthe-
tische Einheit des Idealen und Realen ist die Idee der Welt der
terminus ad quem, auf den unser ganzes Wissen abzielt und
dem es sich annähert (434, 164), Von Seiten der Natur ist die
Welt zu definieren als die Identifikation von absoluter Kraft-
einheit und absoluter Erscheinungsfülle, von Seiten des Geistes
als die Identität des absoluten Subjekts und der absoluten Ge-
meinschaftlichkeit (Wechselwirkung) (431, 476). Beides sind aber
einseitige Definitionen, die in eine zusammengezogen werden
müssen. —
Der Prozess muss aber nicht nur einen terminus ad quem,
sondern auch einen terminus a quo haben; wenn die Gegensätze
in dem Gleichgewicht einer synthetischen, sie einschliessenden
Einheit münden, so müssen sie doch aus einer ursprüngUchen in-
differenten, sie ausschliessenden Einheit hervorgehen (434, 164).
Wenn die Korrespondenz von Denken und Sein im Wissen nur
Sclüeicnnficber,
i6[
aus ihrer ursprünglichen Identität im Absoluten ableitbar ist (330,
332), so ist es nicht minder die Korrespondenz der vernünftigen
Formen und des realen Geschehens im Sein. Diese ursprüng-
liche Einheit muss als Grund des sowohl der Natur als auch
dem Geiste einwohnenden Gesetzes aufgefasst werden, d. h. als
Grund dessen, was zusammengefasst eben die Idee der Welt aus-
macht (526). Die passendsten Namen für diese ursprüngliche
Identität sind Gottheit, unbedingtes Sein, höchstes Wesen , Abso-
lutes, TO oi^cot; ov (416, 534). Gott und Welt gehören zusammen;
sie dürfen weder identifiziert werden» da sie sich als gegensatz-
lose ursprüngliche Einheit und gegensatz volle synthetische Ein-
heit begrifflich unterscheiden, noch dürfen sie gänzHch getrennt»
auseinandergerissen und gegen einander isoliert werden (167 — 168,
432 — 434)* Denn die ursprüngliche Einheit ohne die aus ihr aus-
fliessenden Gegensätze, Gott ohne die Welt, wäre gleich Nichts
(416). ein leeres Phantasma (162); die synthetische Einheit der
Gegensätze ohne den ihr immanenten Wesensgrund, aus dem die
Gegensätze erst ausfliessen, wäre unmöglich. Gott nicht ohne
die Welt, die Welt nicht ohne Gott (167, 476, 432); beide sind
Korrelate (162).
Schleiermacher darf hiernach wohl sagen, dass das Absolute
die reine Identität von Sein und Thun (Denken im weiteren
Sinne)> Gegenstand und Begriff sei (326); nur ist dabei fest-
zuhalten, dass ?' reine Identität-- hierbei als das Jenseits aller
Gegensätze {434} oder als die den Gegensatz ausschli essende In-
differenz zu verstehen ist (433). Jede Bestimmung, die wir dem
Absoluten beilegen wollen, ist ihm unangemessen, wenn sie etA\^as
von dem Gegensatze wieder in dasselbe hineinträgt, jenseits dessen
es erst gesucht werden darf. Es darf weder als Natur oder
Materie, noch als bewusster Geist, weder als weltbüdende Kraft
oder natura naturans, noch als vatg (473), weder als naturgesetz-
mässige Weltordnung, noch als Sittengesetz (160, 420 — 428,
519 — 525. 474), weder als kausale Notwendigkeit, noch als fVei-
heit des sich aus sich selbst Entwickeins, weder als Schicksal, noch
als Vorsehung (420—422, 136) aufgefasst werden, weil alle diese
Bestimmungen schon dem Gegensatze von Natur und (bewusstem)
Geist angehören, der von Gott fern gehalten werden muss. —
Das Absolute ist, als das die Gegensätze aus sich Ent-
wickelnde, immer Leben, aber weil zeitlos, geht es nicht in sie
K. V, Hartm^aD, Aufeg«w. Werke. Bd* XU, 1 1
l62
Seh leicmi ach er ,
Über. Das religiöse Interesse geht dahin, Gott nicht bloss als
Lebeiisquell , sondern auch als das Leben selbst zu fassen (531).
Dadurch lässt es sich verleiten, Gott als persönliches Einzelwesen
zu setzen, weil es von der Erfahrung seines Selbstbewusstseins
ausgeht und die bestimmte Form des Lebens, in welcher das
Selbstbewusstsein ist, von derjenigen, in welcher es nicht ist,
nicht scheidet (532 — 533, 529). Die spekulative Richtung nimmt
diese Scheidung vor und setzt den transcendenten Grund alles
Geschehens als einen (ob zwar ohne Selbstbewusstsein) leben-
digen, so dass dem religiösen Bedürfnis genug gcthan ist (530),
Gott als persönhches Einzelwesen zu fassen, ist inadäquat, un-
angemessen, anthropoid {529, 525 — 526); die höchste Lebenseinheit
des Absoluten kann nie als eine persönliche gesetzt werden (155).
Gott als bewusstes absolutes Ich denken, heisst, ihn wieder in
das Gebiet des Endlichen und des Gegensatzes hineinwerfen (158).
Der Spiritualismus, der das Absolute als bewusstes Ich fasst.
bleibt ebenso in einer Seite des Gegensatzes stecken, wie der
Materialismus, der es als Materie fasst (331). Am wenigsten aber
kann das Absolute als synthetische Einheit von beiden Seiten
des Gegensatzes aufgefasst werden; denn in formeller Hinsicht
käme man damit doch nicht zu der ursprünglichen gegensatz-
losen Einheit, und in sachlicher Hinsicht geriete man damit in
den Widerspruch, die Vereinigung von Bewusstlosigkeit und
Bewusstsein vollziehen zu sollen, was eben nicht geht {136}.
Das Leben des Absoluten kann schon darum nicht als ein
bewusstes oder selbstbewusstes angenommen werden» weil das
Selbstbewusstsein nur dtis Bewusstsein von dem Einssein der
beiden Thätigkeiten ist (414), weil die intellektuelle Tbätigkeit
allein ohne die organische nicht zum Selbstbewusstsein füliren
kann (529), und weil in Gott jedenfalls die organische, rezeptive,
sinnliche Thätigkeit fehlt {60), Als jenseits aller Gegensätze
stehend und alle von sich ausschMessend , muss Gott nicht bloss
den des Geistes und der Natur, sondern aucli den des Denkens
und Seins von sich ausschliessen. Er muss ebenso übergeistig
wie übernatürlich, ebenso unvordenklich wie überseiend genannt
werden. Diese Folgerung liegt unmittelbar in den Sclileier-
macherschen Prämissen enthalten, wenn sie auch nicht in diesen
Worten von ihm formuliert wird. Sein Absolutes ist die abso-
lute Substanz mit Ausschluss ihrer Attribute, das ""'Er Plotins,
*
Schleiermocher.
J63
oder das zweiheitlos Eine der Vedantalehre. Denn sobald man
die absolute Substanz mit ihren Attributen zusammendenkt,
schliesst man schon den attributiven Gegensatz in sie ein, den
Schleiemiiicher von ihr fernhalten will.
Die absolute Substanz wird erst zu etwas Lebendigem, wenn
man sie mit Einschluss des abttributiven Gegensatzes, als ein
Vieleiniges auffasst, das vermittelst seiner Attribute funktioniert
und in den Prozess eingeht Sie bleibt dagegen ein selbst un-
lebendiger, unwandelbitr starrer Lebensquell, wenn sie als gegen-
satzlos Eines in ewiger Sichselbst gleichheit hinter der Funktion
stehen bleibt, ohne in den zeitlichen Prozess mit einzugehen.
Während Spinoza den Tadel Schleiermachers wegen eines un-
lebendig starren Absoluten nicht verdient, zieht gerade Schleier-
macher sich denselben durch seine Abweichung von Spinoza und
seinen Rückgang auf Plotin und die Vedantalehre zu. Indessen
selbst wenn Schleiermacher mit der Behauptung recht hätte, dass
sein gegensatzloses Absohites nicht bloss Lebensquell, sondern
selbst Leben wäre, so hätte er doch noch unrecht in der Be-
hauptung, dass ein bloss lebendiges Absolutes dem religiösen
Bedürfnis als Objekt des religiösen Verhältnisses genügen könne.
Das religiöse Bewusstsein verlangt von seinem Gott weit
mehr als Leben; denn das hat auch die Pflanze und das Tier,
Es verlangt ein nicht bloss natürliches, untermenschliches, sondern
ein geistiges übermenschliclies Leben für seinen Gott, und darum
kann ihm nur die absolute Geistigkeit seines Gottes Genüge
thun. Das Leben kennt der Mensch auch in einer nicht selbst-
bewussten und nicht persönlichen Form, aber die Geistigkeit
kennt er zunächst nur in dieser Form, und darum verlangt das
religiöse Bewusstsein zunächst nach einem selbstbewussten und
persönlichen Gott, aus Furcht, bei einem unbewussten und un-
persönlichen Absoluten die Gei&tigkeit einzubüssen und in eine
untermenschliche Stufe des Lebens hinabzugleiten. Schleier-
macher hat wohl einen Anlauf dazu genommen, die übermensch-
liche absolute Geistigkeit als unbewusste, überindividuelle Ver-
nunft aufzuzeigen; aber indem er Gott von jedem Gegensatz
freihalten will, muss er ihn auch von der unbewussten Vernunft
freihalten, die auch nur als Idealprincip das andere Gegensatz-
glied zu dem Realprincip bildet —
Schleiermacher giebt zu, dass er aus der von ihm voraus-
164
Seh leicmiaclier.
gesetzten absoluten Indifferenz der Gegensätze das im Wissen
dargestellte Sein nicht ableiten könne (79); damit ist aber der
Erklärungswert der ganzen Hypothese in Frage gestellt. Er
geht noch weiter und behauptet, dass wir sie weder denken,
noch wahrnehmen, am wenigsten also anschauen können, duss
alle Bilder für sie nur poetische Bedeutung haben, alle Begriffe
nur negative Bestimmungen enthalten, dass wir sie also über-
haupt nicht in Gedanken fassen können (78 — 79). Wir können
das Absolute nicht im wirklichen Denken vollziehen, weil die
Vorstellung desselben weder ins empirische, noch ins spekokttive
Wissen eingeht; wir müssten hierzu die Durchdringung beider
Formen haben und mit ihr die Totalität des Seins erfassen
können (144 — 145), Durch keinen unendlichen Prozess könnten
wir ihr näher kommen, weil das Vieiheitlose nur uno actu zu
erschauen ist, und weil wir nur organisch (rezeptiv sinnlich) er-
kennen können, während sie organisch nicht zu erfassen ist (163),
Einen Begriff von Gott kann es nur geben in der Identität mit
dem Gegenstande, also nur insofern wir Gott sind, oder ihn in
uns haben; nun haben wir ihn zwar nach Seiten der Vernunft,
aber nicht nach Seiten der organischen Funktion in uns, da es
unmöglich ist» dass es eine auf Gott an sich sich beziehende
organische Funktion gebe (328, 158). So sind alle Bezeichnungen
für die gegensatzlose Einheit nur Schemata, die, sobald sie
lebendig werden sollen, wieder in das Gebiet des Gegensatzes
und des Endlichen hineinfallen (156 — 158). Nur das Gefühl als
Einheit von Denken und Wollen hat den transcendenten Grund
wirklich, aber selbst als religiöses Gefühl besitzt es Gott niemals
rein und isoliert für sich, sondern immer nur in und an einem
Anderen, Endlichen. Das rehgiöse Bewusstsein hat auch gar
nicht das Bestreben, Gott zu isolieren; tritt das spekulative
Denken in dieses Bestreben ein, so gerät es in ein leeres, be-
wusstloses Brüten, eine Mystik» die ihren Gegenstand einbüsst
Es ist klar, dass die Unerkennbarkeit Gottes bei Schleier-
maclier lediglich dadurch herbeigeführt ist, dass Gott als das
vielheitlos und gegensatzlos Eine bestimmt ist Denn bei einem
so völlig leeren Begriff muss einem natürlich das Denken aus-
gehen; es bleibt einem dabei ebensowenig zu denken übrig, wie
man etwas daraus ableiten oder erklären kann. Schleiermacher
Schlcicnnacher*
165
hat darin ganz recht, dass diejenigen Gegensätze, welche der
Sphäre der Erscheinungswelt angehören und erst als Ergebnisse
aus dem Weltprozess hervorgehen, von Gott ferngehalten werden
müssen, also vor allem der Gegensatz von natürlichem Dasein
und bewusstem Insichsein, Natur und Geist Aber er verkennt»
dass die ursprüngliche Einheit nur dann als Voraussetzung oder
HyfKjthese einen Wert zur Erlclärung des Weltprozesses hat,
wenn sie, als vieleinige, Gegensätze anderer Art einschliesst,
attributive essentielle Gegensätze» die als gegensätzliche Princi-
pien für die spätere Entfaltung der innerweltlichen Erscheinungs-
gegensätze wenigstens die Möglichkeit in sich tragen. Zu einem
Idealprincip in diesem Sinne hat Schleiermacher mit der un-
bewussten Vernunft einen Anlauf genommen; aber er kam nicht
zur Synthese desselben mit einem entsprechenden Realprincip im
Absoluten, weil er das Realprincip in einer ganz verkehrten
Richtung (im Stoffe) suchte und das hier zu Findende schlechter-
dings nicht in Gott hineinprojizieren konnte.
Was Schleiermacher ebenso wie Hegel fclilt, ist der Fort-
gang zu Schellings zweiter Periode, Beide bleiben bei den Er-
gebnissen von Schellings erster Periode stehen. Hegel setzt das
Idealprincip an Stelle der Identität des Idealen und Realen;
Schleiermacher sucht die Identität als ein dem Idealprincip über-
geordnetes Princip festzuhalten, gerät aber in Ermangelung eines
in Gott erträglichen Realprincips in die leere Identität einer
gegensatzlosen IndiflFerenz, die ebenso unerkennbar, wie praktisch
wertlos ist. Die Hilfe in dieser Not konnte nur von einem
Philosophen kommen, der es sich zur Lebensaufgabe machte, zu-
nächst einmal das Realprincip, mit dessen Auffindung Schelling
in seine zweite Periode eingetreten war. ebenso einseitig durch-
zuarbeiten, wie Hegel das Idealprincip Schellings durchgearbeitet
hatte, und es ebenso an Stelle der synthetischen Einheit zu
setzen, wie Hegel das Idealprincip an Stelle der synthetischen
Einheit gesetzt hatte,*}
Die Hauptergebnisse der Schleiermacherschen Philosophie
lassen sich in nachstehender tabellarischen Übersicht veran-
schaulichen.
^ Vcrgi. »Die Jentscbe AsthcÜk seit KanU, 156—169» 398» 420 — 421, 474—475,
S^J'-SÄS. S40— 542» 559-
i66
Schleiermachcr.
Absolutes Sein oder Gott
Vielheitlose, gegensatzlose Einheit
Transcendeuter Grund des Seins und Wissens
Ideales (Geist)
Denken (im weitesten Sinne)
Reales (Natur)
Sein
Ideal:
Wollen
Real:
Denken (im engeren Sinne)
Gleichgewicht: Gefühl
Ideal:
Vernunftthätigkeit
Real:
Organische Thätigkeit
Selbstbewusstsein:
Gleichgewicht
Übergewicht
der Vernunftthätigkeit
Denken (im engsten Sinne)
Übergewicht der organischen
Thätigkeit :
Wahrnehmen
Gleichgewicht :
Anschauen
Ideal:
Begriffliches
Erkennen,
Deduktion,
Spekulatives
Wissen
Real:
Ur t e il e n
Induktion,
Empirisches
ui^d historisches
Wissen
Ideal:
Real:
Substan-
Prozess
tielle
der allge-
Formen
meinen
(Gattungen
Wechsel-
und Arten,
wirkung
Kräfte und
(Gesamt-
Erschei-
heit der
nungen).
That-
sachen).
Ideal: ZeiterfüUung
Welt.
Synthetische Einheit.
Schopenhauer.
167
4. Schopenhauer (1788 — 1860).
Den ontologischen Monismus, nach welchem das innere
Wesen in allen Dingen schlechthin eines und dasselbe ist, ent-
lehnt Schopenhauer von der Vedantalehre , den Eleaten, Skotus
Erigena, Giordano Bruno» Spinoza und Schelling; aber was
dieses Eine sei, nämlich Wille, das hat er zum ersten Mal als
alleiniges metaphysisches Princip hingestellt und systematisch
ausgeführt» wenn sich auch in Andeutungen dafür eine Menge
Vorgänger finden (Welt als Wille und Vorstellung, 3. Aufl.,
II, 736; Parerga, 2. Aufl., I, 144 — 146). Die Begründung, warum
das Wesen in allen Dingen eines ist» schöpft er aus Kants trans-
cendentalem Idealismus, der dem Ding an sich Raum» Zeit und
Kategorien» also auch die Vielheit, abspricht. Wenn Fichte sich
um des ethischen Idealismus willen, Schelling um des metaphy-
sischen Idealismus willen an den erkenntnistheoretischen Idealls-
mus Kants angeklammert hatte, so thut Schopenhauer es ledig-
lich um des Monismus willen, weit er nur hierdurch die Einheit
des Weltwesens trotz des Scheines seiner individuellen Zer-
splitterung sicher beweisen zu können glaubt. Darum ist es
unrichtig, ihn als Individualisten zu betrachten; er schöpft zwar
aus der individuellen inneren Erfahrung den Fingerzeig für das»
was das Weltwesen ist, aber sein ganzes Interesse geht dahin,
die Einheit desselben zu sichern. —
Schopenhauer will das Ergebnis Berkeleys erneuern» dass
alle Objekte nur Vorstellungen seien (Welt etc., II, 13—14).
Locke hatte die sekundären Qualitäten der Objekte als bloss
subjektiv nachgewiesen; dass aber auch die primären bloss sub-
jektiv sind» hat erst Kant in seiner transcendentalen Ästhetik
streng bewiesen. Von Kant übernimmt er ferner die dynamische
Auffassung der Materie» die Unterscheidung von Erscheinung
und Ding an sich, empirischem und intelligiblem Charakter, die
transcen dentale Freiheit» das Nichterforderlichsein von (bewusster)
Intelligenz und Absicht für die zweckmässige Einrichtung der
Naturerscheinungen» das interesselose Wohlgefallen am Schönen»
den Primat des Praktischen über das Theoretische im Bewusst-
sein, den empirischen Pessimismus und die moralische Gering-
schätzung der Menschen. Während aber bei Kant praktische
Vernunft und iranscendentale Freiheit zusammenfallen» unter-
l58 Schopenhauer.
scheidet Schopenhauer beide scharf, indem er die Vernunft auf
abstrakte diskursive Reflexion und die P'reiheit auf die Fähigkeit
der Vernichtung des ganzen Eigenwillens beschränkt (Nachlass,
herausgeg. v. Grisebach, III, S. loo). Er sieht die Kantsche
Philosophie ganz durch die Brille der idealistischen Schule Kants,
(Parerga, II, 97), nach welcher der Verstand wohl durch seine
Einrichtung genötigt ist, die Sache so anzuschauen, als ob das
Ding Ursache der Sinnesempfindung wäre, thatsächlich aber
weder das Ding an sich, noch das Objekt Ursache derselben sein
kann. Ersteres kann es nicht sein, weil es keine transcendente
Kausalität giebt (Welt etc., I, 516, 529 — 530), letzteres nicht, weil
das Objekt bloss die unbewusste kausale Projektion der Empfin-
dung nach aussen, also das Posterius der Empfindung, ist (W.,
I, 527, II, 26). Von Bouterwek entlehnt er die nähere Aus-
führung des Kantschen Dynamismus, nach welcher die ganze
Welt ein System von Kräften ist, und die Wirklichkeit in der
Virtualität besteht. Nach seiner idealistischen Deutung Kants
fasst er die Kräfte als bewusstseinsimmanente Erscheinungen auf,
setzt sie mit der Materie überhaupt identisch und erklärt es für
falsch, die Materie als ihr Resultat, und die Kräfte als über-
sinnliche Principien zu betrachten, aus denen die Materie erst
wird (Nachl., ed. Grisebach, III, 19—20, 145). In seiner An-
lehnung an Bouterwek aber macht er die mit dem Willen iden-
tischen Naturkräfte allerdings zu übersinnlichen Principien, aus
denen alle Natur und Wirklichkeit, also auch alle Objekte und
Materie erst als ihr Resultat entspringen.*) Die erste Bedeutung
von Kraft ist die erkenntnistheoretisch idealistische, die letztere
die realistische.
Mit Fichtes erstem Standpunkt stimmt Schopenhauer darin
überein, dass der letzte Grund nicht ein Dasein oder auch nur
Sein, sondern ein Thun, eine Thathandlung und zwar ein Thun
bloss um der Thätigkeit willen , d. h. ein ziellos blindes Wollen
ist, während das Deisein und Sein nur ein Produkt der Thätig-
keit für das Bewusstsein (Nachl., III, 56, IV, 195) und die Sub-
stanz nur erfüllter Raum ist (ebend., HI, 15). Wollen und Spon-
taneität sind ein und dasselbe (ebend., III, 112). Er teilt zwar
*) Vergl. über Schopenhauers Verhältnis zu Bouterwek meine Besprechung der
Dissertation von Th. Lorenz in der »Gegenwart«, 1898, No. 27, S. 15.
S€ho))cn1iouer.
i6q
Fichtes Missachtung für die Natur und Wirklichkeit, aber nicht
seinen Glauben an die sittliche Vernünftigkeit der Urthätigkeit
und an die fortschreitende Vergeistigung und Versittlichung des
Natürlichen. Von Kant und Fichte hat Schopenhauer gelernt,
dass die ganze Welt nur dann Sinn und Bedeutung hat, wenn
man sie ethisch auffasst; er erkennt deshalb schon früh eine
Teleologie der Natur in Bezug auf sittliche Zwecke an (Nachl,,
in, 88). Dagegen verwirft er Fichtes Glauben, dass ein seliges
Leben vor dem Tode möglich sei; denn es ist eben die Arbeit
des Lebens, in der langen Reihe der dumpfen, trüben Stunden
das mühsam durchzuführen, was man in den wenigen erhabenen,
hellen Stunden erkannt hat (ebend., 122, 119).
Schopenhauer wirft Fichte vor, dass er das unerkennbare
iubjekt des Erkennens {*Ich*) zum Objekt (»das Ich«) gemacht
habe; aber er thut ihm damit unrecht, indem auch bei Fichte
das absolute Ich unerkennbar für das empirische Bewusstsein, das
empirische Ich aber nur Erscheinung ist. Er wirft ihm ferner
vor» dass er das freie Wollen» die Spontaneität, und jene streng
gesetzmässige unbewusste Thätigkeit verwechsele, durch welche
unser Wahrnehmen produziert wird (99—100), während er selbst
die Sonderung von Wollen (ohne Objekt) und Erkennen {ohne
Trieb) streng durchführen will {99). Am heftigsten richtet sich
rüein Tadel gegen Fichte, weil dieser das Entstehen des empi-
rischen Bewusstseins und seiner Gesetze und Formeti erklären
will. w*obei er sich zu seinen Deduktionen eben jener erst zu er-
riärenden Gesetze bedienen und die Kategorien transcendent
rgebrauchen muss (95, iii). Dieses Verhalten ist offenbar sich
selbst widersprechend, wenn die bloss immanente Gültigkeit
Jieser Gesetze und Formen für das empirische Bewusstsein eln-
lal zugestanden ist, d, h. wenn die negativen Grunddogmen des
transcendentalen Idealismus richtig sind. —
Schelling ist derjenige, der Schopenhauer seine wichtigsten
^Gedanken, soweit sie von denen Kants und seiner Schule ver-
chieden sind, geliefert haL Schopenhauer hat in den Jahren
181 1 — 1813 sämtliche bis zum Jahre 1812 von ihm erschienenen
Schriften sorgfältig studiert (Nachl, III, 123 — 171; Parerga, IL iii^)*
Nach Schelling sind der Verstand (in konstruierender Thätigkeit)
und das Objekt ein und dasselbe (Schellings Werke, I, i, 410);
das Subjekt ist nicht ohne das Objekt aufzuheben und umgekehrt
17°
SchopenliattWt
(I, I, 327}, Die Kausalität kann zugleich als Vertreterin der
Relationskategorien und damit auch aller übrigen Kategorien
gelten (I, 3, 514 fg.; I, 2, 33). Die physikalische Atomistik ist
eine philosophisch ganz unhaltbare Ansicht (I, 2, 200 — 212, vergl.
Schop., Par, II, 118). Der Regriff ist nur der Schatten einer
Realität» die allein von der Anschauung geliefert wird (I, 3, 427),
Alles dies klingt bei Schopenhauer nach und findet nur seine
genauere Ausführung. Auch die intellektuelle Anschauung, den
Centralgedanken der Schellingschen Philosophie, billigt und über-
nimmt Schoi>enhauer ausdrücklich (Nachl., III , 128) und verwirft
nur die Ansicht, als ob die überzeitliche, übersinnliche intellek-
tuelle Anschauung vom empirischen Willen und der Verstandes-
bildung abhängig sein, dem Verstände philosophische Erkennt-
nisse übermitteln, oder als übersinnlicher Erklärungsgrund des
empirischen Bewusstseins und seiner Gesetze und Formen dienen
könne (ebend., 131, 141, 153, 162, 165).
Schelhng tadelt Beck, dass er das Ding an sich nur zu
exterminieren, aber nichts anderes an seine Stelle zu setzen wisse,
da man doch ohne übersinnlichen Grimd der Realität unserer
Vorstellungen nicht abkommen könne; Beck bemühe sich ver-
geblich, das Reale unserer Empfindungen zu erklären, weil er
nur ideale Thätigk ei t kenne {I, 1, S. 423). Das Hinausgehen zum
übersinnlichen Gnmd der Realität unserer Vorstellungen oder zu
dem positiven Ersatz des Kantschen Dinges an sich erfolgt bei
Schelling in doppelter Weise: in seiner ersten Periode durch die
Platonische Idee (I, i, 406—407 und 415), beim Übergang zur
zweiten Periode durch Betonung des Willens als der realen
Thätigkeit neben und hinter der idealen.
Die Platonische Idee, die mit dem Kantschen Ding an sich
zusammenfällt, erfassen wir in der unbewussten Seligkeit der
intellektualen oder transcendentalen Anschauung, in welcher
Subjekt und Objekt mit einander verschwinden (I, i, 317—327)
und nur das reine Subjekt- Objekt, das absolute Erkennen, das
absolute Ich, die Form aller Formen übrig bleibt (I, 4, 327}. In
dieser intellektuellen oder transcendentalen Anschauung werden
die Dinge nicht für die Erscheinung, sondern ihrem ewigen
Charakter nach, oder wie sie an sich sind, bestimmt (I, 4, 326).
Offenbar hat Schelling hier die Platonischen Ideen durch Ver-
schmelzung mit der dritten Erkenntnisgattung Spinozas aus der
Scbopenba
171
nüchternen BegriflFssphäre in dte einer mystischen, unbewussten,
überindividuellen Anschauung erhoben und damit etwas ganz
anderes aus ihnen gemacht Schopenhauer sieht die Platonischen
Ideen lediglich mit den Augen Schellings, ohne seine Quelle zu
nennen; auch bei ilim sind sie unbewusste Intuitionen, die der
bewtissten ästhetischen Anschauung ähnlich gedacht sind und
dieser zu Grunde liegen sollen. Aber die unbewusste intuitive
Vernunft, mit der bei Schelling sich die Besonderung der Einen
absoluten Idee zu Gattungsideen und Einzelideen vollzieht, über-
nimmt Schopenhauer nicht mitj ebenso verwirft er Schellings
Bezeichnung der Ideen als ewiger, unendlicher Begriffe (Nachl.,
in, 136). Schopenhauer unterscheidet Begriff und Idee so, dass
ersterer auch Artefakte und das unter Relationen Steheode,
letztere aber nur Übersinnliches und Naturformen ausdrückt.
(NachL, III, 209 — 210). Er w^eiss auch, dass Pia ton seine Ideen
auch auf Artefakte ausdehnt (Nachl.» IV, 267), also etwas ganz
anderes unter Idee versteht, als er selbst. Trotzdem fahrt er fort,
seinen Begriff der Idee als Platonische Idee zu bezeichnen. —
Schon in seiner ersten Periode sagt Schelling gelegentlich,
dass Wollen die Quelle alles Selbstbewusstseins, und Geist ur-
sprüngliches Wollen sei (I, 1, 401» 3^9); aber er zieht daraus noch
keine Konsequenzen* In der Schrift über die Freiheit dagegen
lehrt er einen realistischen Pantheismus des Urwullens, in dem
alle Einzelwillen begriffen sind (I, 7, 352, 337). Nun ist der posi-
tive Begriff des Ansich die Freiheit (I, 7, 352). Schon bei Kant
entpuppt sich das Ansich des Menschen überall als Freiheit, wo
es positiv auftritt; es blieb also nur der Schritt übrig, diese
Freiheit als Wille zu bestimmen und auf alle Kreatur aus-
zudehnen. Indem Schelling diesen Schritt that, lieferte er
Schopenhauer auch die andere Seite seines Systems, was
Schopenhauer ebenfalls ignoriert (W., I, 595 — 597). Die all-
gemeine Virtualität als Charakter des Daseienden war Schopen-
hauer bereits durch Bouterwek gegeben, der auch den Willen
als eine Art der Kraft bestimmt; es bedurfte nur noch der Ver-
allgemeinerung des Begriffes Wille, um auch die Kraft als eine
Art des Willens zu bestimmen. Indem Schelling diese Verall-
gemeinerung voltzog, lieferte er Schopenhauer die Grundlinien
seiner Willensmetaphysik. Auch als Willensmetaphysiker bleibt
Schopenhauer ebenso wie Schelling ein deduktiver Philosoph;
J?^
ScboppnhÄUcir.
»nicht aus der Erscheinung das Ding an sich, was ewig mis
lingen musste, sondern umgekehrt soll erklärt werden« (Nachl.,
IV, 342). Bei Schopenhauer ist ebenso wie in Schelling^s zweiter
Periode der Wille als wollender ein Nichtseinsollendes, und seine
Erhebung zum Wollen eine Schuld und die Quelle alles Übels,
die zu sülinen und wieder zu verschliessen Aufgabe des Welt-
prozesses ist.
Bei Schelling läuft neben dem principiellen Monismus des
Urwillens eine gewisse individualistische Neigung zur Hyposta-
sierung des Individual willens einher, und über diese anhängende
Inkonsequenz ist auch Scho]>enhauer nicht völlig hinausgekommen.
Die transcendentale Freiheit und den intelligiblen Charakter Kants
betrachtet Schopenhauer gefärbt durch die Schcllingsche Frei-
heitsichre. Auch die Unterscheidung von praeter und extra
scheint er aus Schellings Schriit über die Freiheit entnommen zu
haben, ebenso wie die Ansicht, dass der Mensch die Natur an
sich nehme und erlöse {I, 7, 544» 411). Was er Schelling vor-
zuwerfen bat, ist, dass er das Ideale und Reale zur Identität ver-
schmelzen will, anstatt es auseinanderzuhalten; dabei übersieht
er nur, dass die Identität bei Schelling nur Einheit bedeutet, und
dass er selbst sich letzten Endes der Einheit des absoluten
Subjekt -Objekts mit dem Urwiüen doch ebensowenig entziehen
kann wie der Einheit des Subjekts und Objekts in der Idee. — -
Neben diesen Einflüssen machen sich noch zwei andere
geltend: der französische Materialismus und die indische Reli-
gionsphilosophie, Den ersteren glaubte er ungescheut in sein
System aufnehmen zu können, wofern er nur alle seine Leliren
im Sinne des Berkeley- Hu m eschen Phänomenalismus oder des
Kantschen transcendentalen Idealismus umdeutete, und: dasjenige,
was der Materialismus für eine bew^usstseinstranscendente Realität
hielt, als bewusstseinsimmanente, phänomenale, empirische Reali-
tät auslegte.
Die indische Religionsphilosophie bestätigte ihm nicht nur
die Wesenseinheit des Alls, sondern lehrte ihn auch, den Phäno-
menalismus als Begründung dieses Monismus auffassen. Sie wies
ihn ferner auf den Monismus, das tat twam asi, als die meta-
physische Begründung der Moral, und auf das Mitleid und die
quietistische Askese als die exoterische und esoterische Be-
thätigungsform des monistischen Moral princips unter den ge-
Scliopenbauer.
173
Jaclituri phänonienalistischcn Voraussetzungen hin. Sie zeigte
ihm weiterhin die Vertiefung des Kantschen empirischen Pessi-
misTnus zum metaphysischen, gab ihm ein Vorbild in der falschen
Übertragung ethischer Begriffe (Schuld und Sühne) auf die meta-
physische Sphäre und machte ihm die geschichtslose Weltanschau-
ung des absoluten Illusionismus vertraut. Sie lehrte ilim endlich
die Wiederverk(')rperungsleiire als exoterischen Ausdruck für die
Unzerstörbarkeit des monistischen Wesens durch den Tod bc-
ifen und das Nichtmehrwiedergeborenwerden als Sinnbild der
vollzogenen Verneinung des Willens zum Leben.
Alle diese weit auseinanderliegenden Bestandteile sind in
Schopenhauers Philosophie nur lose mit einander verknüpft und
in keine widerspruchslose und organische Verbindung gebracht
Sehr lehrreich ist die antipodische Stellungnahme Schopenhauers
Hegel gegenüber. Hegel übernahm von Schelüng gerade das,
was Schopenhauer verwarf; die Vernunft als Formalprincip der
Selbstentfaltung, Besonderung und Fortentwickelung der Idee,
wovon Schopenhauer nichts wissen wollte. Er kennt nur eine
bewusste, diskursiv reflektierende, abstrakt begriiFliche Vernunft,
aber keine unbewiisste, zeitlose» intuitive, wie Hegel sie annimmt,
und si^hiebt deshalb Hegel seinen andersartigen Begriff von Ver-
nunft unter Er kennt nur abstrakt allgemeine, aus der An-
schauung abgezogene Begriffe, und bemerkt nicht, dass Hegel
gar nicht von diesen redet, sondern von unbewussten, normativen
Intellektualfunktionen, die ein Prius der Anschauung sind und
als Einheit des Allgemeinen und Besonderen mit den Ideen oder
»unendlichen Begriffen- Schellings zusammenfallen. Er bekämpft
die Hegeische Idee in einer Weise, die, wenn sie berechtigt wäre,
gerade ebenso gut seine eigene Idee als metaphysisches Prius
der Individuen und ihrer bewussten Erkenntnis treffen und nur
die ästhetische Idee als tertiäres Produkt des Willens übrig lassen
würde. Wenn schon seine Urteile über Fichte und Schelling
nichts weniger als unbefangen und gerecht sind, so hat ihn seine
Antipathie gegen Hegel gänzlich verhindert, dessen Absichten
zu verstehen und sachlich zu kritisieren.
Crusius und Rüdiger hat Schopenhauer erst in den Jahren
1821 und 1S28 kennen gelernt, also erst nach der Fertigstellung
seines Systems. Er konstatiert, dass Rüdiger Erkennen und
Wille als mens und anima sondert und dem Willen oder der
«74
Schopenhauer.
anima ausser der Muskelbewi.*giing auch die Formation des
Fötus, Instinkt und Divination zusclireibt» und dass Cnisius dem
Willen die Priorität vor dem Verstände zuspricht und die Gründe
in Ideal- und Realgründe» letztere wieder in Existentialgründc
und Ursachen (der Veränderung) einteilt. Er selbst ist auf seine
vierfache Wuri^el des Satzes vom Grunde dadurch gekommen.
dass er zunächst auf (irund seines Willensprincips zu der üblichen
Unterscheidung von Ursache und Erkenntoisgrund das Motiv als
drittes hinzufügte und die Ursache ratio essendi nannte (Naclil,,
in, 45, 59), dann aber auch die ratio essendi bei mathema-
tischen Sätzen von der ratio fiendi oder Veränderungsursache
sonderte (Nachl., 111, 75 — 76), Wie nahe er damit der Vier-
teilung Wolffs gekommen ist, scheint ihm unbekannt geblieben
zu sein, —
In den Jahren 1811 — 1814 nahm Schopenhauer einen Stand-
punkt ein. der sich noch nicht mit seinem späteren deckt, wohl
aber die Keime zu demselben enthält und insbesondere dem-
jenigen Schellings noch näher steht Er ist als der Standpunkt
des besseren Bewiisstseins^^ zu bezeichnen. Da er von 1811 ab
in Berlin Vorlesungen hörte, so ist es nicht unwahrscheinlich,
dass er auch bei Solgör gehört hat, der bei der Gründung der
Universität Berlin von Frankfurt dorthin berufen war. Der
Standpunkt 6es besseren oder höheren Bewusstseins stimmt so
auffallend mit demjenigen Solgers über ein (vergl. meine ^^ Deutsche
Ästhetik seit Kant«, S. 66 — 67), dass es überaus merkwürdig
wäre, wenn Schopenhauer unabhängig von Solger und doch in
paralleler Gedaokencntwickelung mit diesem aus SchelJing die
nämlichen Konsequenzen abgeleitet haben sollte. In dem curri-
culum vitae, das er seinem Habilitationsgesuch beifügte, nennt
er allerdings Solger nicht imter seinen Lehrern, erwähnt aber
auch Fichte nur nachträglich und anhangsweise.
Es besteht eine Duplizität des Bewusstseins (Nachl., IV, 179,
221); das eine Bewusstsein ist das niedere, gemeine, empirische,
zeitliche, sinnliche, kategoriale, bedingte, persönliche, das andere
das höhere, bessere, ewige, imzeitliche, übersinnliche, kategorien-
lose, unbedingte, unpersönliche, absolute Bewusstsein. Das erstcre
teilt sich in Verstand und Vernunft, das letztere steht hoch über
allem Verstand und aller Vernunft, wie über aller Natur (III, 69 — 70,
86, 96, 142, 155). Nur im Zustande des ersteren wird philo-
Schopenhauer.
175
sophiert, in dem des letzteren nicht; tlenn in üim ist der Gegen-
satz von Unbedingtem und Bedingtem, Gott und Welt ver-
schwunden {III, I IG, 140, 95). Der Philosoph in seinem niederen,
philosophierenden Bewoisstsein hat nur ein bedingtes Wissen vom
Absoluten; sofern er aber sich in den absoluten Zustand des
besseren Bewusstseins oder in die absolute Erkenntnisweise er-
hebt, weiss er nichts vom Absoluten, sondern ist dieses selbst
(NachL» III, 38, 140), Das empirische Bewusstsein besteht m dem
Gegensatze von Subjekt und Objekt und fällt mit ihm hinweg
(160, 161), das bessere Bewusstsein hat keinerlei Objekte mehr,
also auch kein Subjekt (gi). Das bessere Bewusstsein ist als«*
ein Bewusstsein ohne Subjekt {IV, 223), wenn man Subjekt im
immanenten Sinne versteht, wo es das Objekt als sein Korrelat
fordert; versteht man dagegen unter Subjekt das Unerkannte,
das Noumenon, das Ding an sich (111, 47), dann ist das Subjekt
das Absolute selbst und fällt demnach mit dem besseren Be-
wusstsein zusammen. Man könnte den Ausdruck Gott dafür
brauchen, wenn von diesem Begriffe nicht Persönlichkeit und
Kausalität unabtrennbar wären (IV, 236), Der absolute Zustand
des besseren Bewusstseins (HI, 143) Hegt jenseits aller Erfalirung,
so dass er positiv unsagbar ist, und wir nur negativ von
ihm sprechen können (IV, 145). Er ist wieder theoretisch, noch
praktisch (ebend.) und überhaupt nichts meinem jetzigen Be-
wusstsein Analoges (III, 142); er ist über Sündhaftigkeit,
Übel und Tod (IV, 179). Zwischen beiden iVrten des Bewusst-
seins giebt es keine Vermittelung; wo die eine auftritt, muss die
andere zurücktreten (IV, 222 — 223), Die wahre F*hilosophie oder
der Kriticismus hat nur die Aufgabe, alle Äusserungen des
besseren Bewusstseins zw sammeln und es vom gemeinen Be-
wusstsein zu unterscheiden.
Es fragt sich also: welches sind die Äusserungsformen des
besseren Bew^usstseins, wenn doch dieses selbst über und jenseits
aller Vernunft und Erfahrung liegt? Nach der Seite des Willens
sind dies das Sittengesetz, die Heiligkeit und Seligkeit, nach der
Seite der sinnlichen Vorstellung die Anschauung des Schönen
und Erhabenen, nach der Seite des Denkens die Einsicht, dass
der Mensch ein ausserzeitliclies, übersinnliches, freies, unbedingt
seliges Wesen ist (III, 7g). Der Duplizität des Bewusstseins ent-
spricht die Duplizität der Willensrichtung: liedonik und Askese
176
Schopenhauer.
(IV, 2 21, III, 80); der natürliche glücksuchendc Wille wird von
der praktischen Vernunft oder dem Instinkt geleitet, und das
bessere Bewusstscin erscheint ihm dann nur als gebietendes Ge-
setz oder Sollen (IV, 14=1) oder kategorischer Imperativ. Die
Askese negiert das Zeitliche als solches, das von der Moralität
noch bejaht und nur nach Massgabe des besseren BewTisstseins
geregelt wird (111, 80). Für den Standpunkt des gemeinen Be-
w^usstseins Tod und Vernichtung bedeutend, ist doch das bessere
Bewusstsein an sich selbst Quelle aller wahren Seligkeit und
alles echten Trostes (IV, 219). Laster ist Negation des besseren
Bewusstseins (III, 81).
Beim Heiligen herrscht das bessere Bewusstsein so ungestört,
dass ihm die Sinnenwelt verblasst; beim künstlerischen Genie
dagegen ist ein ebenso lebendiges besseres Bewusstsein begleitet
von einem lebhaften Bewusstsein der Sinnenwelt (III» 71), und
das Ergebnis ist die Platonische Idee mit dem Eindruck des
Schönen und Erhabenen- Es ist der P^ehler der Kantschen
Ästhetik, dass sie nur Begriff und Gefühl, aber nicht das bessere
Bew^usstsein kennt» aus dem die Apodiktizität des ästhetischen
Urteils ebenso wie die des kategorischen Imperativs stammt
{III, 68 — 69). Die Platonische Idee ist somit eine Ausserungs-
form des besseren Bewusstseins, aber nicht mit ihm identisch,
weil sie noch Objekt oder Erscheinung ist, das bessere Bewiisst-
sein aber frei von Objekt und Subjekt ist (IV, 26). Das bessere
Bewusstsein im Genie erscheint der theoretischen Vernunft gar
nicht, so dass dieses von seinen eigenen Werken niemals durch
vernünftige Reflexion Rechenschaft geben kann (IV, 145^ — 146).
Will man sich dem besseren Bewusstsein nähern, während man,
wie der Philosoph es muss, auf dem Reflexionsstandpunkte des
empirischen rationalen Bewaisstseins bleibt, so thut man besser,
vom Subjekt auszugehen, statt vom Objekt; deshalb hat auch
Schopenhauer in seiner Schrift *die vierfache Wurzel u. s. w.«
diesen Weg eingeschlagen (IV, 223). Denn der Übergang zum
besseren Bewusstsein, der alle Klassen der Objekte vernichtet,
geschieht am besten von dem Punkte aus, den alle Klassen von
Objekten gemein haben, d. i. vom Subjekt aus (IV, 224). Die
verschiedenen Ausserungsformen, in denen das bessere Bewusst-
sein sich uns zeigt, sollen weder Mischungen des besseren und
gemeinen Bew^usstseins, noch kausale Wirkungen des ersteren
*
177
auf das letztere sein, sondern gleichsam als ma^fischer Einfluss
zu deuten sein (IV, 191). —
Warum sind wir nun nicht in dem Zustande des besseren
Benaisstseins? (III, 145). Warum besteht der Zustand des em-
pirischen Bevvusstseins» wenn er doch aus dem besseren Bewusst-
sein nicht abzuleiten ist? Die Antwort lautet: durch die Schuld
es Willens, der sich erkennen wollte (IV, 343), sich aber durch
3is bessere Be\^aisstscin nicht erkennen kann, sondern dazu des
gemeinen Bewusstseins bedurfte. Es ist die Urschuld des blinden
Willens, dass eine Welt samt Übel und Sünde entstanden ist;
Aufgabe des besseren Bewusstseins ist die Welterlösung und
Wiederherstellung seiner ungetrübten Seligkeit Zwischen dem
Willen zum Leben und dem besseren Bewusstsein besteht also
ein Widerstreit; der erstere stört das letztere in seiner Seligkeit
und schränkt es in seiner Absolutheit ein, und wird dagegen
vom letzteren verneint und aufgehoben. Dieser Antagonismus
macht es unmöglich, dass der Wille etwa eine Erscheinungsform
des besseren Bewusstseins sei; er muss etwas Selbständiges
neben ihm sein* Dann ist aber auch das bessere Bewusstsein,
die absolute Erkenntnisweise, nicht melir das Absolute selbst,
wie es in Schellings Identitätsphilosophie der Fall war (III, 140),
sondern nur ein Moment oder eine Seite des Absoluten, dessen
andere Seite der Wille zum Leben ist.
Auf dem ^ Standpunkt des besseren Bewusstseins^ erscheint
der Wille noch wie etwas Hinzukommendes zu dem eigentlichen
Inhalt des Absoluten, der eben in dem besseren Bewusstsein
besteht. Der Übergang zu dem eigentlichen System Schopen-
hauers vollzieht sich dadurch, dass beide ihre Stelle tauschen,
also der Wille in die erste Reihe als Ding an sich oder Abso-
lutes tritt, und das bessere Bewusstsein als etwas zu Ihm Hinzu-
kommendes sich darstellt. Aus keinem anderen Ausgangspunkte,
auch nicht aus dem besseren Bewusstsein, lässt sich der Wille
gum Leben ableiten; deshalb muss er selbst zum Ausgangspunkt
snommen werden. Und das darf man, denn er ist zwar nicht
"zu erklären, aber auch nicht zu bezweifeln, das seinem Dasein
nach Gewisse {IV, 122), Nach diesem Umschwung werden nun
die transcendentale Freiheit und der kategorische Imperativ mehr
als Erscheinungsweisen des Willens aufgefasst, der den Schleier
der Maja oder den Trug des gemeinen Bewusstseins durchbricht
B» ».Hart mann, AuiKOw. Wtftkö. Dd. XU. 12
178
Sdiofwnlunier.
Für das bessere Bewusstsein bleibt dann eigentlich nur noch das
Gebiet des Schönen übrig, da das empirische rationale Bewusst-
sein des Philosophen sich dem Ding an sich doch nur durch
negative Bestimmungen nähern kann, und das unmittelbare Inne-
werden des eigenen Willens einerseits schon wieder auf die Seite
des Willens fällt, andererseits doch in der Erscheinung stecken |
bleibt. Auf dem Gebiete des Schönen liegt die Bedeutung des
besseren Bewusstseins in der Idee; die Idee, die vorher bloss
eine der Äusserungsformen des besseren Bewusstseins war, tritt
also nun an die Stelle des besseren Bewusstseins selbst, und
dieser Ausdruck verschwindet aus den Schopenhauerschen Schrif-
ten seiner Reifezeit —
Schopenhauer sagt, dass in der transcen dentalen Ästhetik
Kants alle Lehrsätze wirklich bewiesen seien, in der transcenden-
talen Analytik aber als blosse Behauptungen dastehen. Den
Beweis für die ausschHessHche Subjektivität der Anschaimngs-
formen findet er in demjenigen ihrer Apriorität; d.h. er hält die
Frage ihres Geltungsbereichs mit derjenigen ihres Ursprungs für
unmittelbar mit erledigt (W,, 1, 495; 11', 12; F., II, 39), obwohl
doch beide gar nichts mit einander zu thun haben. Kant glaubte die
Geltungsfrage durch die Antinomien in dem Sinne entschieden zu
haben, dass eine doppelte Gültigkeit der Anschauungsformen {nicht
nur im Bewusstseinsinhalt, sondern auch im Bereich der Dinge ^j
an sich) ausgeschlossen sei ; Schopenhauer erklärt aber mit Rech!^^
die Antinomien für haltlose Spiegelfechtereien {W., I, 585^602).
Kant lehnte die doppelte Geltung der Anschauungsformen als
eine blosse Hypothese ab, die keinen Anspruch auf apodiktische
Gewissheit habe und deshalb unter der Würde der Philosophie
sei, die sich mit bloss Wahrscheinlichem nicht zu befassen habe.
Bei Schopenhauer ist aber der Kreis des durch Urteile a priori
zu Bestimmen den so eingeschränkt (W., II, 55), dass der bei
weitem grössere Teil seiner Philosophie sich mit blosser Wahr-
scheinhchkeit begnügen muss. Es fallen also diese beiden
Kantschen Gründe weg, um die doppelte Geltung beiseite zu
schieben.
Für Schopenhauer tritt ergänzend die völlige Diversität von
Objekt und Ding an sich ein, welche es hindert, dass ein dem
einen zukommendes Prädikat jemids dem anderen beigelegt
werde. Nun ist es ja ein grosses Verdienst Schopenhauers, Ob-
Schopenhauer,
179
jekt und Ding an sich streng auseinanderzuhalten und zu zeigen,
dass ein Objekt immer nur Vorstellung oder subjektive Er-
scheinung, aber niemals Ding an sich ist, dass das Ding an sich
niemals Objekt sein kann (W., I, 17, 596 — 597), und dass es
zwischen Vorstellung und Ding an sich nichts Drittes {Kants
transccndentales Objekt oder Objekt an sich) geben könne
(W.» I, 524, 526 — 528}. Aber daraus folgt doch nur die Son-
derung, nicht die verschiedene Beschaffenheit beider. Ihre vöUigc
Verschiedenartigkeit muss doch erst durch den Nachweis der
bloss subjektiven Geltung von Raum, Zeit und Kausalität erwiesen
werden und kann darum nicht als Voraussetzung für deren Be-
weis mit benutzt werden. Hiernach schwebt die blosse Subjek-
tivität der Anschauungsformen bei Schopenhauer ohne jede Be-
gründung in der Luft. —
Dass Kant keinen Beweis für die bloss subjektive Geltung
der Kausalität geliefert habe, zeigt Schopenhauer in ausführlicher
Weise (Vierfache Wurzel, § 23). Die völlige Diversität von Ob-
jekt und Ding an sich kann, wie gesiigt, zum Beweise der bloss
subjektiven Geltung der Kausalität nicht mitbenutzt werden, da
sie selbst erst auf den bereits erbrachten Beweis derselben sich
stützt. Für Schopenhauer liegt nun der Beweis ganz einfach iii
der ausschließlichen Subjektivität von Raum und Zeit und der
Unmöglichkeit der Kausalität, wo Raum und Zeit ausgeschlossen
sind (NachL, III, 35)* Die Kausalität ist die Kette der gesetz-
mässigen Zustands- Veränderungen, die sich an der Materie ver-
rmöge der Naturkräfte vollzieht (W., U, 52; I, 545); diese Kette
der Veränderungen ist aber eine Wechseldurchdringung von
Raum und Zeit (P., II, 287) und findet nur da eine Stätte, wo
Raum und Zeit walten. Was durch die Kausalität bestimmt
wird, ist die zeitliche Succession der Zustände an einem be-
stimmten Ort, und das örtliche Dasein derselben zu bestimmter
Zeit (W,, I, 11). Wären also Raum und Zeit zugleich Daseins-
formen im Reiche der Dinge an sich, so müsste auch die Kau-
salität für dieses Reich Geltung haben. Wäre umgekehrt die
Kausalität als Form des Geschehens im Reiche der Dinge an
sich nachweisbar, so wäre damit zugleich die Nötigung gegeben,
auch Raum und Zeit als dessen Daseinsformen anzuerkennen
und vorauszusetzen.
Demgemäss behauptet Schopenhauer, dass Kausalität nur
zwischen Erscheinungen, Objekten oder Vorstellungen stattfinde,
aber weder zwischen Subjekt und Objekt, noch zwischen Wille
und Erscheinung (W., 1, 13, 15, 601). Ebenso soll der Einfluss,
den das Subjekt des Wollens auf das Subjekt des Erkcnnens bei
der Lenkung der Aufnicrksamkeit und dem Hervorrufen von
Gedanken übt, keine eigentliche Kausalität sein (Vierf. Wurzel,
§ 44). Dagegen soll die Hervorrufung eine^ bestimmten Willens-
aktes durch ein Motiv, das in einer blossen Vorstellung besteht,
eine echte Gestalt der Kausalität, ja sogar die von innen ge-
schehene Kausalität selbst sein (ebend. § 43), während die Ver-
änderungen der Objekte nur ihre Aussenseite darstellen. Werden
die Willensakte als, wenn auch nicht räumliche, so doch zeitliche
Erscheinungen aufgefasst, so bleibt in beiden Fällen gleichmässig
der Übergriff in die Sphäre des Dinges an sich vermieden; wird
aber der Willensakt schon als Ding an sich genommen, so ist in
beiden Fällen der Übergang in ein anderes Gebiet volkogen. Es
liegt also kein Grund vor, beide mit verschiedenem Masse zu messen.
Die Kausalität nach ihrer äusseren Seite stellt sich im un-
organischen Gebiet als mechanische Ursache, im organischen als
Reiz, bei intelligenten Individuen als Motiv dar. Wenn aber
aUe, auch die niederen, Kräfte in der Natur Wille sind, so wird
man auch bei der mechanischen Ursache und dem organischen
Reiz eine niedere Stufe innerlicher Motivation voraussetzen
müssen. Die äussere Kaus^dität und die Motivation im erweiterten
Sinne stellen somit die Aussenseite und Innenseite der realen
ursächlichen Veränderung, oder der realen Seite des Satzes vom
^^^ Grunde dar,
^^l Ausser ihnen giebt es noch zwei bloss ideale Gestalten des
^^^ Satzes vom Grunde, wie sie sich in der Logik und Mathematik
■ darstellen. In ihnen handelt es sich um die unzeitliche Bedingt-
I heit der Begriffe und Urteile, beziehungsweise der raumzeitlichen
■ Grössenverhältnisse durch einander. Insofern letztere die empi-
I rische Realität unseres Bewusstseinsinhalts bestimmen, wird diese
■ Gestalt des Satzes vom Grunde massgebend für das Sein in
I unserer Welt der Objekte oder der subjektiven Erscheinungen.
I Die Kausalität hat es nur mit den vollständigen anschaulichen
I Objekten und ihren thatsächlichen Veränderungen zu thun, nicht
■ mit mathematischen oder logischen Abstraktionen von diesen oder
I mit rein jEfedanklichen Reflexionen, —
i8i
Die Kausalität ist ferner diejenige intellektuelle Urfunktion,
welche die Empfindung zur Anschauung intellektualisiert , indem
sie dieselbe gleichzeitig mit der Verräumlichung und räumlichen
Hinausversetzung auch ursächlich hinausprojiziert (Vierf. Wurzel,
§ 2r). Dieser Akt vollzieht sich ohne Bewusstsein (W., II, 26),
wie ja überhaupt mehr als die Hälfte unseres Denkens unbewusst
ist (R, TL 58; W„ II. 148—149). Diese unbewusste Intellektual-
fiinktion will deshalb Schopenhauer auch nicht 1^ Denken ^ nennen
(W„ I, 564), um ihre Verwechselung mit dem bewussten begriff-
Udien Denken zu vermeiden, die sich durch die ganze Kantsche
Kategorienlehre hindurchzieht (W., I, 565, 519^525)* Das Denken
in dieseiTi engeren Sinne ist Sache der abstrakten, diskursiven
bewusstreflektierenden Vernunft, während die alleinige Funktion
des konkreten» intuitiven, unbewusst projizierenden Verstandes die
Kausalität (als synthetische Kategorialfunktion) ist (W,, I, 46, 13).
Diese unbewusste Projektion der Empfindung soll nun das Objekt
zum Ergebnis haben, so dass das Objekt als äussere Ursache der
Sinnesempfindung angeschaut wird, während es doch nur das
Posterius der Empfindung, nämlich ihre intellektuelle Projektion
in den svibjektiven Bewusstseinsraum ist
Schopenhauer hat die unbewusste apriorische Intellektual-
funktion, welche aus der Empfindung die Anschauung des Ob-
jekts macht, richtig erkannt; er hat ebenso richtig festgestellt,
dass das auf diesem Wege rückwärts Erschlossene für die Ur-
sache der Empfindung vermittelst der Affizierung des eigenen
Leibes gehalten wird. Aber indem er aus der Apriorität oder
dem subjektiven Ursprung der Funktion sofort die ausschliesslich
subjektive Geltung folgerte, hat er dem Intellekt einen schreien-
den Widerspruch in seine Grundfianktion hinein gedichtet. Die
Veränderung im äusseren Objekt soll eine Veränderung in den
Zuständen des unmittelbaren Objekts, d. h. des eigenen Leibes
hervorrufen, die als Empfindung bewusst wird; diese Empfin-
dung soll dann hinausprojiziert werden und das Objekt produ-
zieren, welches den Leib affiziert. So wird das Objekt zum
Produkt der von ihm produzierten Empfindung, und die Empfin-
dung ZMT Wirkung des erst durch ihre Projektion produzierten
Objekts.
Es ist unverständlich, wie Schopenhauer darin einen von
ihm gelieferten Beweis der Apriorität des Kausalgesetzes er-
l82
Schopenhauer,
blicken kann (Vierf. Wurzel, § 23» S. 84), anstatt darin den Beweis
zu sehen» dass in seinen Voraussetzungen ein Fehler stecken
nuiss. Der Instinkt projiziert allerdings die Ursache der Empfin-
dung durch unbewusste Intellcktualfunktlon» aber er sucht sie
auch nicht melir in einer seiner subjektiven Erscheinungen oder
Vorstellungsobjekte, sondern lediglich im Ding an sich, wie auch
Kant noch wusste. D. h. der instinktive Verstand intellektuahsiert
die Empfindung nur durch Anwendung der transcendenten
Kausalität auf dieselbe, nicht der immanenten, die er gar nicht
besitzt und kennt, ebenso wenig wie er das falsche Verbot des
transcendenten Gebrauchs dieser Intellektualfunktion kennt oder
beachtet. Damit entgeht er allen Widersprüchen, in die der
transcendentale Idealismus sich verwickelt. Dieser Ausweg aus
allen Schwierigkeiten war aber für Schopenhauer ungangbar,
weil ihm die bloss subjektive Gültigkeit der Kausalität durch
sein Vorurteil feststand. —
Die Kausalität im engeren Sinne bedeutet bei Schopenhauer
bloss die gesetzmässige Folge von Zustandsändcrungen auf ein-
ander; aus diesem engeren Begriff der Kausalität ergiebt sich
als logische Konsequenz die Unmöglichkeit der Wechselwirkung,
weil die zeitlich frühere Ursache nicht zugleich Wirkung der
zeitlich späteren Wirkung sein kann (W., I, 545 — 549). Der Be-
griff der Kausalität im weiteren Sinne schliesst dagegen auch
die beiden Bedingungen der Kausalität im engeren Sinne mit
ein; diese sind einerseits die Materie als der beharrende Träger
oder die Substanz der an ihr vorgehenden Veränderungen, anderer-
seits die Kräfte, vermöge deren die Veränderungen sich voll-
ziehen. Beide bleiben vom Gesetz der Kausalität unberülirt,
gerade weil erst durch sie die Kausalität zustande kommt
(W., II, 52; I, 545), Die Materie, oder der in Raum und Zeit
beharrende Träger der Veränderungen, oder die Substanz, bleibt
immer noch lediglich Vorstellung (W., I, 527); aber die Kräfte
gehören bereits der Welt als Wille an (W., II, 52), Die Kate-
gorie der Substanz ist eine unentbehrliche zweite Kategorie
neben der der Kausalität, wenn man die letztere im engeren
Sinne nimmt; aber sie ist, ebenso wie die Kraft» nur eines der
Momente der Kausalität, wenn man diese im weiteren Sinne
versteht.
Die einzige Substanz ist die Materie; denn sie ist das, was
«83
Übrig bleibt nach Abzug aller Eigenschaften von den Objekten.
das Unentständliche und Unvergängliche, ewig Beharrende, weil
vom Kaiisalitätsgesetz Unberührte, d. h, das Unbedingte, das
Absolute (W^, I, 580» 560 — 561, 576, 574; R, n, 114; Vierf,
Wurzel, 42). Substanz ist nur eine Abstraktion von der Materie,
gemacht, um als zweite Spezies dieser neu gebildeten Gattung
den Begriff einer immateriellen Substanz zu erschleichen (W., I,
582—585). Nun ist aber die Materie als subjektive Erscheinung
oder raumerfülleiider sinnenfälliger Stoff bloss eine Abstraktion
von den sinnlichen Objekten durch Weglassung ihrer sämtlichen
Eigenschaften (W., I, 580), und die Objekte sind wieder nur
intcllektuale Synthesen und Projektionen von Empfindungen, so
dass die Materie nur eine Abstraktion von Empfindungs- Projek-
tionen ist Als solche kann sie unmöglich Substanz, Unbedingtes
und Absolutes genannt werden, sondern diese Bezeichnungen
können ihr nur in einer anderen Bedeutung zukommen. Als
subjektive Bewusstseinserscheinung ist die Materie wohl raum-
erfüllend, aber schlechthin trag, passiv, energielos, leistungs-
unfähig, unwirksam und kraftlos. Die Vorstellungen in meinem
Bewusstsein haben als solche keine Kräfte zur Verfügung, son-
dern können höchstens Kräften, die ausser meinem Bewusstsein
existieren, repräsentativ entsprechen.
Diejenige Materie, welche Schopenhauer als die Substanz
und das Absolute bezeichnet, ist gar nicht trag und passiv, son-
dern das Wirken, die Wirksamkeit oder Wirklichkeit selbst, das
reine Wirken in abstracto, d, K die reine KausaHtät selbst (W*, I,
10, 14, 561; IT, 53). Das ist also diejenige Materie, von welcher
die dynamische Theorie der Materie gilt, wie Schopenhauer sie
von Kant und Bouterwek übernommen hat, die Materie, die
durch lauter Kräfte konstituiert wird oder selbst nur eine An-
ordnung von Kräften ist. Die Kräfte allein sind es ja. vermöge
deren die kausalen Veränderungen sich vollziehen; sie allein sind
also auch das Wirksame. Die Kräfte sind ebenso wie die be-
wusstscinsimmanente Materie von dem Gesetz der Kausalität
unberührt, also ebenso unwandelbar beharrlich und unbedingt
wie diese. Sie sind aber auch zugleich der Wille, oder das Ding
an sich der bewusstseinsimmancnten Materie, von welchem diese
nur die objektive Sichtbarkeit (W., II, 52) oder subjektive Er-
scheinung ist. Nicht die passive, unwirksame Abstraktion von
184 Schopenhauer.
Empfindungsprojektionen kann das Absolute oder die Substanz
heissen, sondern nur die Gesamtheit der Naturkräfte oder des
Weltwillens, die ihr als Ding an sich zu Grunde liegt. Hier-
gegen sträubt sich Schopenhauer bloss, weil er die Geltung der
Substautialität auf eine subjektive Erscheinung, auf eine Vor-
stellung beschränken möchte; denn er fürchtete mit Recht, dass,
wenn einmal die Kraft oder der Wille als absolute Substanz und
reines Wirken zugestanden sei, damit auch die Kausalität aus
dem bewusstseinsimmanenten in das bewusstseinstranscendente
Gebiet verschoben werde und Raum und Zeit unweigerlich nach
sich ziehen müsse.
Wäre die bewusstseinsimmanente Materie, oder, wie ich
lieber sage, der Stoff, nicht der Bewusstseinsrepräsentant der be-
wusstseinstranscendenten Materie oder des Kräftesystems, dann
wäre sie ein blosses Trugbild, ein leerer Wahn. Dann hätte
Berkeley gegen Schopenhauer recht, dass die philosophische Be-
sinnung die Materie in ein blosses Vorstellungsprodukt ver-
flüchtige und als Realität aufhebe, also zum Immaterialismus
führe. Dann hätte auch Hume gegen Schopenhauer recht, dass
die Substanz bloss ein äffender Spuk hinter den Eigenschaften
der Objekte sei, der von der Kritik in Nichts aufgelöst werde.
Schopenhauers Festhalten an der Materie als Substanz wäre dann
ein Rückfall in einen erkenntnistheoretischen Standpunkt, der an
kritischer Besonnenheit tief unter dem von Berkeley und Hume
läge. Sein Recht, die Materie und die Substanz aufrechtzuerhalten,
stützt sich lediglich auf die Materie als bewusstseinstranscendentes
Kräftesystem, d.h. auf dasjenige Ding an sich, auf welches die
Materie als subjektive Erscheinung (transcendental) bezogen wird.
Er sucht aber diesen Unterschied zu verwischen, um nicht ein-
zugestehen, dass auch die bewusstseinsimmanente Kausalität der
Vorstellungsobjekte unter einander nur ein repräsentatives Abbild
oder eine subjektiv ideale Widerspiegelung der realen bewusst-
seinstranscendenten Kausalität ist, welche sich im Spiel der be-
wusstseinstranscendenten Kräfte oder Individualwillen vollzieht.
Auch die Anerkennung, dass die Motivation die von innen
gesehene Kausalität sei, musste ihn zu der Einsicht führen, dass
die Kausalität lediglich durch eine Kollision von Individual-
willen möglich ist, deren jeder für das Bewusstsein des anderen
transcendent ist, ebenso wie beide für das Bewusstsein eines zu-
schauenden Dritten transcendent sind. Wo Kausalität ist, da ist
Wille, und kein Wille agiert ohne Kausalität (> Wille in der
Natur«, 86), Das Motiv, welches im Bewusstsein eines jeden der
beteiligten Individuen die Willensreaktion vermittelt, ist dann
nichts weiter als der subjektive Bew^usstseinsrepräsentant von der
transcendenten Willensbethätigung des anderen, und besteht in
der Wahrnehmung, die aus der transcendenten Kausalität dieser
Willensbethätigung auf die Sinnlichkeit entspringi:. Damit hätte
aber Schopenhauer gerade die transccndentc Kausalität des affi-
zierenden Dinges an sich zugegeben, die zu leugnen er durch
sein Vorturteil genötigt war. Seine ganze Naturphilosophie hat
nur einen Sinn, w^enn man die transcendente Kausalität der
Naturkräfte auf einander annimmt, seine Mitleidsmoral nur, wenn
man die transcendente Kausalität der Menschen unter einander
als Individualwillen zugiebt. Aber seine falsche Erkenntnistheorie
hindert ihn, diesen Sachverhalt einzugestehen, und nötigt ihn zu
einem fortgesetzten Versteckspielen mit Widersprüchen.
Nachdem Schopenhauer die Kantschen Relation skategorien
unter die der Kausalitätskategorie zusammen gefasst hat, verwirft
er die übrigen gänzlich als Kategorien. Soweit dieselben nicht
Ableitungen von der Kategorie der Kausalität sind, gehören sie
dem begrifflichen reflektierenden Denken der abstrakten diskur-
siv^en Vernunft an (W., I, 539), würden also nach Kantscher Aus-
drucksweise unter die >> Reflex lonsbegrifFe« einzureihen sein. Damit
hört aber auch eigentlich die Berechtigung auf, aus der Ungültig-
keit der Kategorien im bewusstseinstranscen deuten Gebiet un-
mittelbar abzuleiten, dass dem Ding an sich weder Vielheit, noch
auch Einheit im Gegensatze zur Vielheit zukomme. Gleichwohl
stellt Schopenhauer diese Behauptung auf, giebt ihr jedoch zu-
gleich eine anderweitige mittelbare Begründung. Er lehrt näm-
lich mit Recht, dass Raum und Zeit das alleinige principium
individuationis seien. Daraus folgt, dass Vielheit nur da zu finden
ist, wo Raum und Zeit gegeben sind, dass aber da, wo Raum
und Zeit fehlen, auch die Möglichkeit der Vielheit ausgeschlossen
ist. Da nun Raum und Zeit nur im Bewusstseinsinhalt vor-
kommen sollen, aber nicht im bewusstseinstranscendenten Dinge
an sich, so folgt weiter, dass auch Vielheit nur im Bewusstseins-
inhalt anzutrefi*en ist. die Sphäre des Dinges an sich aber der
Vielheit entrückt ist So wird durch das ZusammentrefiFen der
i86
Scliopenliaucr-
transcendentaleri Idealität von Raum und Zeit mit der Lehre,
dass Raum und Zeit das alleinige principium individuationis seien,
der metaphysische oder ontologische Monismus bejt^ündet, der
den Mittelpunkt, Angelpunkt und Schwerpunkt des ganzen
Schopcnhauerschen Systems bildet.
Auch die Teleologie oder Finalität sucht Schopenhauer aus
der vielheitlosen Einheit und Zeitlosigkeit des Dinges an sich zu
erklären, so dass sie ebenso wie die Kausalität zu einer Kate-
gorie von bloss subjektiver Gültigkeit herabgesetzt wird. Indem
die subjektive Auffassung die Einheit des Dinges an sich räum-
lich, zeitlich und kausal auseinanderlegt, muss in dem Gefüge der '
Teile die ursprüngliche Einheit irgendwie durchschimmern, und
dieses Zuein and erpassen der Bruchstücke des ursprünglichen
Ganzen ist es, was die Verwunderung des Beschauers über die
Zweckmässigkeit des Gefiiges und der Anordnung wachruft
(W., I» 186; II, 373—375; Wille in der Natur, 53—54). Nur eine
besondere Art der phänomenalen Auscinanderzcrrung des im
Ding an sich Geeinten ist die Antizipation des Zukünftigen, die
im tierischen Instinkt und im vorausschauenden Hellsehen solche
Verwunderung erregt, während doch für das Ding an sich die
Zeit keine Bedeutung hat (W., II, 397 — 398). Denn alles in der
subjektiven Erscheinung in ein zeitliches Nacheinander Aus-i
einandergezogene ist im Ding an sich als ein ewiges Ineinander, —
Von der (bewussten) Vorstellung muss man als dem Ge-
gebenen oder als der ersten Thatsache des Bewusstseins aus*]
gehen; diese zeigt als ihre Grundform das Zerfallensein in Sub-
jekt und Objekt (W,, I, 30, 40). Nimmt man eines der Glieder
dieses Gegensatzes fort, so hebt man die ganze (bewusste) Vor-
stellung, und damit auch das andere Gegensatzglied, auf
(W., II, 1 7). Das Objekt hat zur Grundform Zeit, Raum und Kausa-
lität oder den Satz vom Grunde in seinen verschiedenen Gestalten
( W,, I, 40) ; sie kommen dem Objekt allein zu, nicht dem Subjekt,
können aber, sofern sie dem Objekt, und dieses dem Subjekt
wesentlich ist, auch von diesem aus a priori gefunden werden
{W., I, 30). Dem Subjekt kommen die Formen des Objekts eben
nicht zu; es steht also auch jenseits des Princips der Individuation,
d, h. jenseits der Vielheit {W., I, 6). Es ist ^dasjenige, was alles
erkennt und von keinem erkannt wird, . . . der Träger der Welt,
die durchgängige, stets vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinen-
den* (W,. I, 5)- Es ist nicht in der Zeit, und die Beharrlichkeit
der Materie ist zu betrachten als der Reflex seiner Zeitlosigkeit
(W., n, i8). Dieses Subjekt bin auch ich selbst, wie jedes Er-
kennende es ist (W., n, 7).
Dieses allgemeine, Eine Subjekt oder Weltsubjekt ist zu-
nächst zu unterscheiden vom erkennenden Individuum (W., II,
7, 21). Die erkennenden Individuen entstehen und vergehen als
lebende Organismen; aber dies ist selbst nur eine Illusion, die
durch den Apparat zweier geschliffener Gläser (Anschauungs-
formen) entsteht, und das Eine unvergängüche, ewige Sub-
jekt wird von ihr nicht berührt (R, II, 287; W., II, 21). Das
allgemeine Subjekt wird zum erkennenden Individuum oder Indi-
vidualbewusstsein dadurch, dass es sich als Bewusstsein auf ein
bestimmtes Objekt als sein nnmittelbares Objekt oder seinen Leib
bezieht (W,, I, 123), (Schellings dritte Begrenztheit). Nur in der
Sphäre des Objekts giebt es Raum, Zeit, Individualität und Viel-
heit; nur in ihr ist deshalb das Objekt zu suchen, durch Be-
ziehung auf welches das Bewusstsein zum individuellen wird.
Dass aber dieses eine Objekt aus allen anderen herausgehoben
wird, ist dadurch bedingt, dass dieses eine Objekt, der eigene
Leib, zugleich als äussere Erscheinung (raumzeit liehe Vorstellung)
und als zeitliche innere Erscheinung (Individualwnlle) bewusst
wird, alle übrigen Objekte aber blosse Vorstellung, d. h. blosse
Phantome sind (W,, I, 124). Somit ist es letzten Endes doch mü-
der Individual Wille, der die individuelle Beschränktheit in das
Erkennen setzt (oder das absolute Subjekt des Erkennens zum
individuellen einschränkt); nicht das allgemeine Subjekt, sondern
der Individualwille ist die Wurzel des Intellekts in den Schranken
der Individualität (W., II, 153 — 155).
Von dem erkennenden Individuum oder dem individuell be-
schränkten Intellekt ist drittens zu unterscheiden das Bew^usst-
seinsich. Dieses ist eine blosse Erscheinung und verhält sich zu
der Basis dieser Erscheinung wie das Bild im Brennpunkt des
Hohlspiegels zu dem abgespiegelten Gegenstände; es ist ver-
gänglich wie das erkennende Individuum, und nicht ein Erstes,
Primäres, sondern ein Tertiäres (W., II, 314). Als subjektive Er-
scheinung, die sich auf ein Ding an sich bezieht, als Vorstellung,
die ein direkt Unerkennbares für das Bewusstsein repräsentiert,
als Abbild des Einen allgemeinen Subjekts des Erkennens in
seiner individuellen Einschränkung, ist das Bewusstseinsich ein
phänomenales Objekt unter anderen Objekten, bloss mit dem
Unterschiede, dass es Vertreter oder Bild des Subjekts fiir die
Vorstellung ist Dieser Zusammenhang schimmert bei wSchopen-
hauer nur unausgesprochen hindurch; er vermengt sogar später
das Bewusstseinsich wieder mit dem Subjekt des Erkennens
(R, TI, 48).
Die ganze Zeit und die in ilir verlaufende kausale Ent-
wickelungsreihe ist nur in der Identität eines Bewusstseins
mögh'ch; andererseits findet das erste erkennende Tier sich be-
reits in diese zeithche Ursachenkette hineingestellt und seine
eigene Existenz mit aller ihrer besonderen Bestimmtheit als ein
Produkt dieser Entwickelung vor. Diese zw^ei einander wider-
sprechenden Ansichten erkennt Schopenhauer als eine Anti-
nomie in unserem Erkenntnisvermögen an, glaubt aber ihre
Lösung darin zu finden, dass die Welt als Vorstellung samt ihren
Formen nur die äussere Seite der Welt ist. der noch eine innere
als Wesen oder Ding an sich zu Grunde liegt {A¥,» I, 36). Da
indes in dieser Innenseite der Welt Raum, Zeit, Kausalität und
Vielheit keine Stätte finden» so ist auch nicht ersichtlich, wie
durch sie die Lösung der Antinomie herbeigeführt werden soll
Ein zeitloses Wesen kann w^ohl von sich aus eine zeitliche Ent*
wickelungsreihe von Anfang beginnen, aber niemals von sich
aus den Zeitpunkt in der Mitte einer zeitlichen Entwickelungs*
reihe bestimmen, in welchen das neu anhebende Bewusstsein sich
gestellt finden soll.
Wenn es keine Individuation im Willen giebt, die von der
Vielheit der Objekte in der subjektiven Erscheinungswelt unab-
hängig ist, so kann es niemals zu einer Vielheit von Individual-
intellekten , Bewusstseinen , subjektiven Erscheinungswelten und
Bewusstseinsichs kommen. Will der Allwille seine Allgemeinheit
durchaus einschränken, so mag er es tliun, aber er kann es ohne
principium individuationis niemals zu einer Vielheit von Individual-
willen bringen, die eine Vielheit von Individualbewusstseinen zur
Folge hätte. Das Höchste, wohin er gelangen könnte, wäre die
Herstellung Eines bewussten Intellekts. Eines Bewusstseins.
Aus den Seh openhau ersehen Voraussetzungen ist deshalb der
Solipsismus oder theoretische Egoismus nicht nur unwiderleglich,
sondern ohne Widerspruch un überschreitbar; wird dieser
^
Schopenhauer.
189
Standpunkt für ToUhäiislerei erklärt, so liegt darin das unbeab-
sichtigte Eingeständnis, dass irgend ein Fehler in den Voraus-
setzungen stecken muss (W., I, 124), —
Könnten wir das den Formen des Raumes, der Zeit, der
Kausalität und der Vielheit entrückte Subjekt erkennen, so hätten
wir das Ding an sich erkannt. Dies ist aber unmöglich» weil es
seiner Natur nach unerkennbar ist; wir können uns ihm nur auf
Umwegen nähern.
Das Subjekt des Erkennens ist eigentlich ein ungenauer
Ausdruck; denn wir wissen, dass, wo das Objekt fehlt, auch das
Subjekt aufgehoben ist. Wir entnehmen Subjekt und Objekt aus
der bewussten Vorstellung, in welcher beide auseinander getreten
sind. Aber die bewusste Vorstellung oder die Thatsache des
Bewusstseins ist erst d^ts Ergebnis des Zerfallenseins in Subjekt
und Objekt; deshalb kann es, genetisch betrachtet, nicht die be-
wusste Vorstellung sein, die in Subjekt und Objekt zerfällt,
sondern nur etwas anderes, in welchem beide noch nicht zerfallen
sind, wohl aber die Möglichkeit ihres Ausein andertretens besteht
»Ein Wesen ist es im Grunde, welches« (als Subjekt) isich selbst
anschaut und« (als Objekt) »von sich selbst angeschaut wird,
dessen Sein an sich aber weder im Anschauen, noch im An-
geschautwerden bestehen kann, da diese zwischen . . . beide*
(Seiten, nämlich Subjekt und Objekt) »verteilt sind* (W., II, 21),
Dies ist offenbaLT das Nämliche, was Schelling als das absolute
Erkennen, das ewig Unbewusste, das nicht wissende Bewusstsein,
das absolute Subjekt -Objekt, oder die absolute Identität (d, h.
ursprüngliche Einheit) des Subjekts und Objekts bezeichnet hat.
Schopenhauer beschreibt es näher als das aus allen Wesen
blickende, ewig mit sich identische Wellauge, das zugleich der
Träger der Welt der beharrenden Ideen ist (W., II, 433), öder
als das überindividuelle und darum auch unbewusste Selbst-
bewusstsein des absoluten Subjekts (W., I, 230, 276, 200; II, 370),
in welchem sich Subjekt und Objekt nicht mehr unterscheiden,
sondern sich gegenseitig vollkommen erfüllen und durchdringen
(W., 1, 212). Er findet aber nicht den Ausdruck des unbewussten
Vorstellens dafür, sondern sucht im Gegenteil zu zeigen, dass das
Einssein von Erkennendem und Erkanntem zwar das Erkennen
aufhebe, welches in der Entgegensetzung beider wurzelt, aber
nicht gerade Bewusstlosigkeit mit sich zu führen braucht (P.,U, 291)*
igo
Er plagt sich also wie Schelling mit einem nicht wissenden
(nicht erkennenden) ßewusstsein, statt von einem nicht bewussteii
Wissen oder unbewussten Erkennen zu reden. Denn das Zu-
sammenfallen von Erkennendem und Erkanntem ist doch gewiss
die höchste Form des Erkennens. Nicht das Erkennen oder
Vorstellen als solches verlangt den Gegensatz von Subjekt und
Objekt, sondern nur diejenige Form des Erkennens, die uns als
bewusstes Erkennen oder Vorstellen bekannt ist Daraus folgt»
dass das überindividuelle Erkennen zugleich eine andere als die
bewusste Form haben müsse, die wir nur als unbewusste und
überbewusste bezeichnen können.
Die Idee steht noch unter der Form des Objekts, wenn man
sie unter Abstraktion von dem Einen Subjekt denkt, und kann
darum so gefasst noch nicht das Ding an sich selber sein, sondern
nur seine unmittelbarste Objektität, die Form des Objektseins für
ein Subjekt (W., I, 206) r aber die ungeschiedcne Einheit von
Subjekt und Objekt in der Idee kann man nicht mehr, wie
Schopenhauer thot (W.» I, 247), die adäquate Objektität des Dinges
an sich nennen, da sie vielmehr über die Form des Objektseins
ebenso liinweg ist, wie über die übrigen Formen der Erscheinung,
Dieses unbewusste Selbstbewusstscin des Absoluten erst ist
die i^eigentliche Welt als Vorstellung^:, die jenseits der Indivi-
duation Hegt (W., I, 212), ^Die Welt der beharrenden Ideen«
(SchelUngs ideales Universum) gliedert sich in verschiedene
Stufen, jede Stufe in Gattungsideen und Artideen, die höchsten
Artideen wieder in Indivadualideen. Diese Partialideen sind die
species rerum, die universaüa ante rem oder unitates ante rem
(W., II, 414, 417; I, 277), die Grundtypen für die Erscheinungen
und Individuen {W,, I, 170), also deren Prius und nicht etwa
durch sie bedingt. Durch den leiblichen Organismus und dessen
Teile (Gehirn) bedingt ist nur der bewusste Individualintellekt, in
welchem Subjekt und Objekt auseinander getreten ist, und die für
das Individualbewusstsein sich entfaltende subjektive Erscheinungs-
welt Die eigentliche Welt als Vorstellung, die Welt der be-
harrenden Ideen, bleibt als ewige, überindividuelle, überbewusste»
Subjekt und Objekt in indifferenter Einheit enthaltende, von jedem
Erklärungsversuch unberührt, der sich auf die Objekte oder die
Materie stützt —
Wie kann nun der Mensch überhaupt Kenntnis erlangen von
Schopenliauer.
ig!
diesem Reich der Idee, wenn es über! ndividu eil und übcrbewusst
ist? Nur dadurch, dass er gleichsam einen doppelten Intellekt
hat, einen subjektiv individuellen, bewussten, und einen objektiv
universellen, genialen, instinktiven, unbevvussten (P., II, 78—79;
I, 2 78). Genauer betrachtet erweist sich dieser scheinbar doppelte
Intellekt nur als das Ineinander des All -Einen Subjekts und des
individuell eingeschrjinkten Subjekts, oder der unbewussten und
bewussten Vorstellungsform, oder der übersinnlichen und sinn-
lichen Anschauungsw^eise. Wenn der Mensch die sinnliche An-
schauung vom Willen als dem Realprincip und von der instin k-
tiven Beziehung auf eine willensartige, dingansichliche Realität
losreisst» und rein als ästhetische Anschauung (ästhetischen
Schein) auffasst, so bleibt sie zw^ar noch sinnlich und darum auch
raumzeitlich und mit kausalen und finalen Beziehungen behaftet,
aber sie tritt aus dem Zusammenhange der Wirklichkeit in rein
kontemplativer Weise als ästhetische Idee heraus. Wenn er dann
von der ästhetisch sinnlichen Anschauung zur transcendentalen
übergeht, so erfasst er die dieser ästhetischen Idee zu Grunde
liegende transcendentale Idee, die von Raum, Zeit und Kausalität
frei ist Freilich kann er das nur, indem er sich über seine Indi-
\idualität und sein Bewusstsein für einen Augenblick erhebt und
das in ihm wesende absolute Subjekt des Erkenoens rein zur
Geltung kommen lässt Als bewusstes Individuum kann er die
transcendentale Idee nur in der ästhetischen Idee implicite und
gefühlsmässig cdmen. Darum zeigt die ästhetische Kontemplation
wohl einen Weg zum Ding an sich, führt ihn aber nicht zu
Ende; indem sie das Bew*usstsein auf halbem Wege stehen lässt,
ändert sie nichts an der Unerkennbarkeit des Dinges an sich,*)
Das Bedenklichste an Schopenhauers Idecnlehre ist der Um-
stand, dass die Ideenwelt als Ding an sich frei von den An-
schauungs- und Denkformen sein solL Unabhängig von dem
zufäUigen Hier und Jetzt der Verkörperung ist schon die sinnliche
Anschauung der ästhetischen Idee; die transcendentale Anschau-
ung der transcendentalen Idee soll aber auch die räumlichen und
zeitlichen Bestimmungen und die kausalen und finalen Beziehun-
gen abgestreift haben. Es ist schwer, zu sagen, welche Bestimmt-
heit dann für die transcendentale Idee noch übrig bleiben könnte,
♦) Vcrgl, meine »Deutsche Ästhetik seit Kant«, S. 47 — 52.
IQ2 Schopenhauer.
um sie zu kennzeichnen, da ihr die sinnlichen Qualitäten erst
recht nicht zukommen können. Aber die Idee zerfliesst nicht
nur in ein unbestimmbares Nichts, wenn ihr Räumlichkeit und
Zeitlichkeit entzogen wird, sondern sie wird auch unfähig, sich
in eine Vielheit von Partialideen zu zerlegen oder in eine Welt
von Ideen zu gliedern. Denn Raum und Zeit sind ja das einzige
principium individuationis, und wenn das Ding an sich vielheits-
los ist, können der transcendentalen Ideen nicht viele sein. Die
Idee schlechthin könnte gleich einem lebendigen, sich entwickeln-
den, zeugungsfähigen Organismus die nicht in ihm eingeschachtelt
liegende Vielheit von Ideen hervorbringen (W., I, 276, 277); aber
wie soll sie ohne Zeit sich entwickeln, ohne Raum und Kausa-
lität ein Organismus und zeugungsfähig sein? —
Vielleicht führt der andere Weg zum Ding an sich besser
zum Ziele; denn auf dem Wege der Vorstellung kann man über
die Vorstellung nicht hinaus (W., I, 596), und die transcendentale
Idee bleibt für das Bewusstsein immer hinter der ästhetisch-
sinnlichen Anschauung verschleiert. Wir brauchen einen Weg,
der unser bewusstes Erkennen zum Ding an sich hinleitet, und
uns nicht zumutet, uns zunächst unserer Individualität und unseres
Bewusstseins zu entäussern, damit unserem unbewussten Wissen
das Ding an sich als die Einheit des absoluten Subjekts mit der
absoluten Idee aufgehe. Dieser andere Weg kann nur nach innen
fuhren, da der Weg nach aussen versagt. Die innere Erscheinung
steht zwar noch unter der Form der Zeit, aber nicht mehr unter
der des Raumes, wie die äussere Erscheinung thut (W., II, 220),
und steht dadurch dem Dinge an sich um eine Stufe näher als
die äussere Erscheinung (P., 11, 100). Die Kausalität haftet ihr
nicht mehr als äussere, sondern nur noch als innere, d. h. als
Motivation an; frei von der Kausalität ist aber die innere Er-
scheinung des Willens nicht, wie denn z. B. jede äussere Ein-
wirkung auf den Leib sofort als innere Einwirkung auf den
Willen empfunden wird (W., I, 120).
Da Schopenhauer alle Gefühle mit zu den Willensakten
rechnet, so kann er nicht daran zweifeln, dass wenigstens die
zeitliche Thätigkeit eines bestimmten WoUens unmittelbar em-
pfunden werde. Unterscheidet man aber Fühlen und Wollen, so
kann man sagen, dass man selbst das zeitliche Wollen nur aus
seiner inneren Erscheinung, den begleitenden Gefühlen, und aus
Schopenliaucr.
193
seiner äusseren Erscheinung, der entsprechenden Leibesbeweg-ung,
erscUiesst, aber niemals sich seiner unmittelbar bewusst werden
kann. Schopenhauer hingegen hält daran fest, dass man die
Willensaktion in ganz unvergleichlicher Weise mit unmittelbarem
Bewusstsein erfiisse (W., I, 122, 135, 598), und dass Willensaktion
und Leibesaktion nicht im Verhältnis von Ursache und Wirkung
stehen, sondern identisch sind (W., I, 119). Er sieht darin die
xoT i^QX^'^v philosophische Wahrheit, also sozusagen die nach
innen gerichtete transcendentale Anschauung, wie die Idee die
nach aussen gerichtete darstellt. Aber eine adäquate Erkenntnis
des Dinges an sich liefert dieser Weg auch nicht, da er unmittel-
bar nur bis rur zeitlichen inneren Erscheinung führt (W», II, 220;
P., n, 99). Immerhin weist er uns einen Weg, auf dem wir
weiter schliessen können, wie das Ding an sich, das hinter dieser
Elrscheinung steht, zu denken sei, wenn wir es auch niemals
direkt erkennen können (W., 11, 221). In Bezug auf alles Wirk-
liche, Existierende, Seiende muss das Ding an sich der Willens-
erscheinung ein relatives Nichts sein (W., I» 483 — 487). An sich
aber muss es, wie a priori einzusehen ist, das wollen und nicht
wollen Könnende sein, die hinter dem Aktus des Wollens stehende
Potenz, die sowohl fähig sein muss, das Phänomen des Woüens
hervorzubringen» als auch dies nicht zu thun (P„ II, 334).
Dieser wollen und nicht wollen könnende Wille oder dieses
Vermögen des Wollens und Nichtvvollens muss zugleich als Sub-
jekt des Wollens oder der Willensbethätigung aufgefasst werden.
Er ist das von allen Erscheinungsformen freie Diog an sich, also
auch frei vom principium iodividuationis und der erst aus ihm
entspringenden Vielheit. Der Wille als Ding an sich ist der All-
wille oder Wcltwille oder das absolute Subjekt alles Wollens in
der Welt, Wenn das Individuum glaubt, dass es als Individual-
subjekt wolle, so täuscht es sich, denn das absolute Subjekt des
Wollens oder der Wille als vielheitloses Ding an sich ist es allein,
was in ihm will. Dass es eine Mehrheit von wollenden Indivi-
duen gebe, ist bloss ein Schein, den uns das Bew^usstsein vor-
spiegelt; denn da die Mehrheit erst mit Raum und Zeit auftreten
kann, so ist eine Individuation vor dem Auftreten des Bewusst-
seins unmöglich und kann nur durch dieses vermittelt sein. —
i Mein Bewusstsein weiss zunächst nur von meinem Wollen
|0|ivas, dem die Bewegungen meines Leibes entsprechen. So
B.Y. H»rtsiaDn, Au«e«w. Werke, bd. XJJ. tS
I
194
SdiDpenhftuer.
lange die übrigen mittelbarea Objekte meines Bewusstscins blosse
Phantome sind {W., I, 124), können sie mich auch nicht veran-
lassen, hinter ihnen Willensakte zu suchen. Der Solipsismus ist
also aus dem Gesichtspunkte des WoUens ebenso unwiderleglich,
wie aus dem des Vorstellens. Bleibe ich im Gebiete der Vor-
stellung, so komme ich über die Grenze meines Bewusstseins-
inhalts nicht hinaus; will ich mich aber eines Anal<>gieschlusses
aus dem Verhältnis von Wille und Vorstellung in dem unmittel-
baren Objekt meines Leibes bedienen, so versagt auch dieser.
Ich kann erstens aus der Zusammengehörigkeit von Vor-
stellung und Wille in meinem unmittelbaren Objekt nicht auf
ihre Zusammengehörigkeit auch in meinen mittelbaren Ob-
jekten schliessen. Ich kann zweitens aus der Korrespondenz
meines Wollens mit einem meiner Vorstellimgsobjekte nicht
auf die Korrespondenz fremden Wollens mit einem meiner
Vorstellungsobjekte schliessen. Ich kann drittens auf die Korre-
spondenz fremden Wollens mit dem unmittelbaren Objekt eines
fremden Bewusstseins nur dann schliessen, wenn ich von der
Existenz eines fremden Bewusstseins mit Wollen und l.eibes-
vorstellung bereits Kenntnis habe. Ich kann viertens aus der
Korrespondenz meines Wollens und meiner Leibesvorstellung in
meinem Bewusstsein und aus der des fremden Wollens und der
fremden Leibesvorstellung in dem fremden Bewusstsein zusammen
keineswegs auf eine Korrespondenz meines WoUens mit einem
bestimmten Vorstellungsobjekt in dem fremden Bewusstsein. oder
auf eine Korrespondenz des fremden Wollens mit einem be-
stimmten Vorstelhuigsobjekt in meinem Bewusstsein schliessen*
Alle solche Schlüsse, die die Grenzen meines Bewusstseins
überschreiten und auf das für mich Transcendente übergreifen,
sind mir vielmehr schlechthin abgeschnitten, wenn es keine reale
Einwirkung des fremden Wollens auf mich und meines Wollens
auf das fremde, d. h. keine die Bewusstseinsgrenzen über-
schreitende (transcendente) Kausalität zwischen den Individuen
giebt, sondern Kausalität nur zwischen Objekten (desselben Be-
wusstseins) möglich ist. Das Bew^usstsein mit seinen Formen
Raum und Zeit ist demnach ganz unfähig, eine Mehrheit von
Individuen zustande zu bringen, wenn der vorbewusste Prozess
sie nicht schon vorher fertig gestellt hat; es muss bei dem Solip-
sismus mit umgebenden Phantomen stehen bleiben. —
Schopenba
195
In der That ist aber auch Schopenhauer weit entfernt davon,
die strenge Einheit des gesamten WiUens jenseits des Bewusst-
seins festzuhalten. Wie Kant sich über sein Verbot des trans-
cendentalen Gebrauchs der Kausalität praktisch hinwegsetzt, so
Schopenhauer über seine Lehre, dass Vielheit nur durch die
Anschauungsformen im Bewusstsein zustande kommen könne.
Nach seinen erkenntnistheoretischen Grundsätzen dürfte Schopen-
hauer keinen Augenblick darüber in Zweifel sein können, dass
die Wurzeln der Individuation nicht tiefer hinabreichen als Raum
und Zeit, d. h. das jenseits des Bewusstseins Belegene gar nicht
berühren. Dass er es als ein Problem hinstellt, wie tief die
Wurzeln der Individuation im Wesen der Welt gehen {W,» U,
734)» gG"ögt schon, um die Richtigkeit seiner Erkenntnistheorie
in Frage zu stellen. Er löst das Problem in dem Sinne, dass
die Individuation nicht bloss dem Intellekt und seiner subjektiven
Erscheinungswelt, sondern auch dem Willen angehört, sofern der
Charakter individuell ist (W,, II, 6g8; P„ II, 243); damit des-
avouiert er aber' geradezu seine Erkenntnistheorie, und das Ge-
fühl dieses Widerspruchs mit seinen eigenen Lehren ist es, was
ihn dem Individuationsproblem gegenüber so zaghaft macht
Das bleibt auch für Schopenhauer zweifellos, dass der Wille
im Zustande der Verneinung (oder der ruhenden Potenz) nicht
von der Individuation und Vielheit berührt wird, dass diese sich
vielmehr nur auf den Willen im Zustande der Bejahung (oder
der aktualisierten Potenz) erstrecken kann (W., ü, 698» 734).
Daraus ist denn zu schliessen, dass auch der Wille, sofern er den
Zuständen der Bejahung und Verneinung {Ruhe und Bethätigung)
als ewig unwandelbares Wesen oder Subjekt zu Grunde liegt,
d. h* der wollen und nicht wollen könnende Wille, ebenfalls von
Individuation und Vielheit unberührt bleibt Was die Welt der
realen Individuation ausmacht und nicht nur Vielheit, sondern
auch ein Mehr oder Minder an Energie zeigt (W., I, 152—153),
das ist die Spaltung oder Gliederung der Aktualität des Welt-
willens in die Naturkräfte verschiedener Stufen und in die Gat*
tungs-, Art- und Individuakharaktere. Diese verhalten sich zu
dem Einen absoluten Willenssubjekt, wie Erscheinungen zum
Wesen; da sie aber das Prius der subjektiven Erscheinungs-
welten sind, die erst in den durch sie gesetzten Individuen ent-
stehen können, so verhalten sie sich zu den subjektiven Er-
Schopenhauer.
Scheinungsobjekten in den Bewusstscinen wie Dinge an sich zu
ihren Erscheinungen.
Die subjektive Erscheinung^ wird dadurch zu einer Er-
scheinung aus zweiter Hand, welche die vorbewusste metaphy-
sische Erscheinung des Wesens nur für das Bewusstscin ab-
spiegelt (W.. II, 698). Dann ist aber auch die Vielheit in der
subjektiven Erscheinungswelt nur eine Abspiegelung der
Vielheit in der realen Welt der Individuation; die imma-
nente Kausalität der kraftlosen Vorstellungsobjekte im Bevvusst-
sein ferner wird zu einer blossen Abspiegelung der realen
bewusstseinstranscendenten Kausalität der auf einander
wirkenden und mit einander kämptenden und ringenden Natur-
kräfte und Individualwillen. Endlich rücken Raum und Zeit in
die reale Welt des Geschehens als Formen ihres Daseins und
Geschehens hinüber, einesteils dadurch, dass die Kausalität der
Individualwillen sich formell in einer Wechseldurchdringung von
Raum und Zeit vollzieht und ohne diese undenkbar ist, anderer-
seits dadurch, dass die Individuation und Vielheit der Individual-
willen ohne Raum und Zeit (oder analoge und korrespondierende
Daseins- und Werde -Formen) nicht vollziehbar ist —
Die Welt der individuation des Einen Willens zu vielen
Naturkräften und Individualwillen ist Eine für alle individuellen
Intellekte gemeinsame Welt der realen, bewusstseinstranscen*
deuten Erscheinung des metaphysischen Wesens; die subjektiven
Erscheinungswelten in den individuellen Intellekten sind so viele
ideale, bewusstseinsimmanente Erscheinungen der realen Er-
scheinungswelt aus zweiter Hand, als es erkennende Individuen
giebt. Damit wäre denn Kants falsche Gleichsetzung des Wesens
und des Dinges an sich wieder aufgelöst; das Wesen bleibt ein
unzeitlich und unräumlich vielheitloses; die Willensindividuen der
realen Individuationswelt bilden hinfort die vielen Dinge an sich,
denen die subjektiv idealen Erscheinungen entsprechen, und auf
welche sie bezogen werden.
So gedeutet stürzt die Schopenhauersche Willensmetaphysik
seinen transcendentalen Idealismus völlig um und setzt an seine
Stelle einen transcendentalen Realismus. Den erkenntnistheore-
tischen Idealismus hält Schopenhauer selbst nicht für das letzte
Wort der Erkenntnistheorie. Wenn das angeschaute Objekt bloss
etwas für andere und nicht auch etwas für sich selbst wäre, so
:
Sc!iopenliftU€r-
197
waSes schlechthin Vorstellung, und wir hätten einen absoluten
Idealismus, der am Ende theoretischer Egoismus würde, bei
welchem alle Realität wegfällt und die Welt zum blossen sub-
jektiven Phantasma wird (W., II, 216). Jede Erscheinung ist auf
ein Ding an sich zu beziehen {P» II, 100), d. h. dem Objekt ist
eine die Bewusstseinssphäre überschreitende, transcendentale Be-
ziehung auf ein Bewusstseinstranscendentes beizulegen. Die end-
lose Mannigfaltigkeit der subjektiven Erscheinungen in den
Naturobjekten und Individualphysiognomien muss überall der
vorsteLlungsmässige Ausdruck oder die sinnliche Abbildung
ebenso mannigfaltiger Modifikationen der Dinge an sich, d, h. der
Individualwillen sein; jeder Verschiedenheit im Objekt muss eine
im Ding an sich entsprechen {P., II, 188 — 189; Frauenstädt:
A. Schopenhauer. Von ihm, über ihn, 594; NachL, ed. Gris.,
IV, 1 64-- 166}.
Die transcendentale Beziehung des Objekts auf das Ding an
sich und die Korrespondenz zwischen den Verschiedenheiten in
*den Objekten und in den Dingen an sich wird also von Schopen-
hauer zugestanden; nur die transcendente Kausalität zwischen
Ding an sich und Objekt, das Kantsche Affizieren der Sinnlich-
keit durch das Ding an sich, wird von ihm principieil geleugnet
(\V,, I, 562—563), weil von Beck bis Schelling diese Leugnung
als Kennzeichen Icritischer philosophischer Besonnenheit gegolten
hat. Trotzdem bleibt er im Konkreten seinen Grundsätzen auch
hierin nicht treu; er lehrt 2. B.: »Der Körper ist rot, bedeutet,
dass er im Auge die rote Farbe bewirktet (Über das Sehen und
die Farben, 20). Und in der That ist schwer begreiflich, wie
eine Korrespondenz der Verschiedenheiten zwischen Dingen an
sich und Objekten, wie eine Abspiegelung der einen realen
Individuationswelt durch die vielen subjektiven Erscheinungs-
welten anders zustande kommen sollte, als durch transcen-
dente Kausalität, So zieht sich bei Schopenhauer ebenso wie
bei Kant unter der transcendentalidealistischen Oberfläche des
Systems eine realistische Unterströmung hin, deren Widerspruch
gegen die offen und feierlich verkündeten Grundsätze unaus-
geglichen bleibt. —
Wir haben nun auf zwei verschiedenen Wegen zwei ver-
schiedene Bestimmungen für die Dinge an sich und das Welt-
1 Wesen erhalten, nämlich einerseits die Gattungs- und Individual-
198
Schopenhauer.
Charaktere und den Willen zum Leben, andererseits die Gattungs-
und Individualideen und die Einheit von Erkenntnissubjekt und
Idee schlechthin. Da entsteht nun die Frage» wie sich beide Be-
stimmungen zu einander verhalten, oder genauer: wie verhält
sich erstens der Individiialcharaktcr zur Individualidee, zweitens
das Wollen schlechthin zur Idee schlechthin und drittens das
Subjekt des Wollens zu dem des Erkennens? Die Antworten
lauten: i. Gattungscharakter und Gattungsidee, Individiialcharak-
ter, Individualwille und Individualidee fallen zusammen (W., I,
184 — ^185); 2. das Wollen schlechthin, oder der Wille zum Leben,
ist Wille zum Erkennen (W., L 323—324), d. h. das Erkennen ist
Ziel des Wollens schlechthin; 3, das Subjekt des Wollens und
das des Erkennens sind ein und dasselbe Subjekt.
Man darf nicht ohne weiteres die Dinge an sich und das
Wesen als ein unbekanntes Drittes ansehen, von w^elchem jene
doppelseitigen Bestimmungen nur subjektiv gefärbte Auffassungen
aus verschiedenen Gesichtspunkten liefern. Die Doppelheit von
Wollen und Vorstellen, Realem und Idealem ist in jedem ein-
zelnen Individuum thatsächlich gegeben, und nur durch diese
verschiedenen Ausgangspunkte wird es möglich, dass das Er-
kennen von zwei verschiedenen Seiten lier zum Wesen gelangt*
Die wesentliche Diversität des Idealen und Realen muss als un-
erschütterliche Thatsache bestehen bleiben und darf nicht in eine
unerklärliche Zweiseitigkeit der bloss subjektiven Auffassung auf-
gelöst werden.
Jeder einzelne Willensakt hat Grand, Motiv, Objekt, Ziel
und Zweck, das gesamte Wollen hat keines von alledem, sondern
ist ein blindes endloses Streben, das durchaus nicht weiss, was
es will (W., I, 194 — iq6). Die einzige, aber auch noch rein
formale Bestimmung desselben besteht darin , dass es Wille zum
Leben, d.h. zum Erkennen oder Vorstellen ist{W., 1,323 — 324);
denn die Welt (als Vorstellung) ist der Spiegel oder die Selbst-
erkenntnis des Willens (W., I, 485), In seiner Besonderung zu
Individual willen oder Individualcharakteren erhält diese rein for-
male Bestimmung {Wille zum Erkennen) einen Inhalt an den
Individualideen, wie die einzelnen Willensakte des Individuums
ihren Inhalt durch die Vorstellungen erhalten, die von den
Motiven geweckt w^erden (W,, I, 194 — 195). Wie der Inhalt des
einzelnen individuellen Willensaktes eine einzelne bewusste (oder
1
Schopenhauer.
199
auch unbewusste) Vorstellung ist, so ist der des Individualwillens
als ständigen Individualcharakters die Individualidee als un-
bewusste Vorstellung, und der Inhalt des Weltwollens ist *die
eigentliche Welt als Vorstellung ä oder ^die Welt der beharrenden
Ideen*. Unmittelbares Ziel dt^ Wollens schlechthin ist die
Idee schlechthin, durch welche erst das blinde, leere und un-
bestimmte Wollen Inhalt und Bestimmtheit erhält j Endziel des
formellen Strebens nach Erkenntnis ist allerdings die bewusste
Selbsterkenntnis, die aber erst durch die Individuation vermittelt
werden kann, wie diese durch die Idee. Denn das Endziel des
Erkenn tntsstrebcns ist diejenige Erkenntnis, welche den Willen
zur Erlösung vom Wollen fiihrt, und das thut unmittelbar nur
die bewusste, durch die Individuation bedingte.
Wie im Individuum, so kommt auch im ganzen dem Wollen
der Primat über die Vorstellung zu* Wie die Welt als Vor-
stellung oder die Aktualität des Erkcnnens erst mit der Be-
jaliung des Willens zum Leben aufgetreten ist, so verschwindet
sie auch wieder mit seiner Verneinung {W., I, 485). Gewöhnlich
fasst Schopenhauer den Willen als Vermögen und das gesamte
Wollen in Eins zusammen und stellt ihnen die Idee als ihre
Objektität unter Absehung von dem Subjekt des Erkennens
gegenüber; dann kann er mit Recht sagen, dass der Wille das
Ansich der Idee sei (W., I, 212), weil das Subjekt des Erkennens
dabei schon unwillkürlich mit auf die Seite des Willens hin über-
geworfen ist. Praktisch und theoretisch steht fiir Schopenhauer
überall der Wille im Vordergrimde; seine Idee leistet fiir Natur-
philosophie, Psychologie und Ethik eigentlich gar nichts, und
läuft nur behufs der Ästlietik als fünftes Rad am Wagen neben-
her. Das kommt daher, weil die Lehre von der unbewussten
Vorstellung im Keime stecken geblieben, die Vernunft auf ab-
strakt diskursive Reflexion beschränkt und die Bedeutung der
Idee für die Teleologie von Schopenhauer verkannt ist.
Seine Nachfolger hatten die Wahl, entweder der Idee die ihr
entzogene Bedeutung zurückzugeben, oder sie auch in der Ästhetik
als übertlüssig zu beseitigen und sich mit der sinnlichen ästhe-
tischen Anschauung und der sinnlichen ästhetischen Idee als
tertiärem Produkt zu bchelfen. Schopenhauers Principien fordern
als systematische Konsequenz die Unterordnung der bewussten
Vorstellung (einschliesslich der relativ unbewussten) als eines ter-
200
SchopenBauer.
tiären Produktes unter den Willen, aber gleichzeitig auch di<
Nebenordnung und Gleichstellung der transcendentalen Idee i
ihrer Einheit mit dem Erkenntnissubjekt (d, h, der absolut un
bewussten Vorstellung) mit dem Willen anzuerkennen» Aber er]
selbst hat durchaus keine klare Einsicht in diese Konsequeni]
seiner Principien, sondern äussert sich an den meisten Stellen s<
als ob auch die Idee etwas Sekundäres und allein der Wille das
Primäre wäre. Daher macht bei oberflächlicher Lektüre sein
System den Eindruck, als ob es nicht zwei koordinierte Principien
Wille und Idee, sondern nur eines, den Willen habe, und dieser,
Eindruck wird verstärkt durch die Unfruchtbarkeit der Idee a
Erklärungsprincip in seinem System, die ihre Aufstellung als eine
unmotivierte Entlehnung erscheinen lässt, so ^^ne durch sein
Schelten auf die metaphysische Idee bei Hegel. Es ist dalier
kein Wunder, dass die meisten Schopenhauerianer dem Grund-
princip ihres Meisters zu reinerem Ausdruck zu verhelfen und
es von einer ebenso inkonsequenten wie wertlosen Zutbat zu
reinigen glaubten, wenn sie die metaphysische transcendental
Idee hinauswarfen und nur die bewusste, sinnliche, ästhetisch!
Idee festhielten. —
Das Subjekt des Wollens und das Subjekt des Erkennens sind
identisch; diese Identität ist unerklärlich, weil unsere Erkenntiiis-
regeln und Erklärungen nur für Objekte gelten, und kann darum
der Wcltknoten oder das Wunder xar i^ox^iv genannt werden
(Vierf. Wurzel, 136; W., I, lai, 296; II, 226). Allerdings bringt
Schopenhauer sich dieses Problem zunächst im Individuum beim
Begriff des individuellen Ich zum Bewusstsein; aber da nach
seiner Auffiissung in allen Individuen Ein Wille will und eil
Erkenotnissubjekt vorstellt, so ist das Subjekt des Wollens und
das des Erkennens zugleich als absolutes Subjekt des Wollens
und Erkennens zu verstehen. Die Identität beider Subjekte im
Individuum wäre nicht nur unerklärlich, sondern geradezu un
möglich, wenn sie nicht vorweg zwischen den beiden, absoluten,'
unvergänglichen, unsterblichen, ewigen Subjekten gälte und von
diesen nur auf die individuell eingeschränkten beiden Subjekte
übertragen w^ürde*
Wir haben also Ein absolutes Subjekt, das wollen und nicht-
wollen, erkennen und nichterkennen kann, das aber, wenn es
will, auch erkennt, und wenn es nicht w^ill, auch nicht erkennt,
I
ScbopenhsLuct,
201
d, h. ein Subjekt mit zwei verschiedenen (realen und idealen)
Thätigkeitsmöglichkeiten, deren zweite aber in ilirer Bethätigung
von der ersten abhängig ist. Die Entscheidung zum Wollen oder
Nichtwollen, zur Bejahung oder Verneinung des Willens zum
_Leben oder Erkennen, ist seine transcendentalc Freiheit, und
grundlose Entscheidung bOdet den einzigen Inhalt seiner
Freiheit Dieses Subjekt mit seinen Fähigkeiten oder Vermögen
ist das unwandelbare, ewige Wesen, das allen Erscheinungen
und ihrem Wechsel zu Grunde liegt, wovon sie alle ausgehen
und in das sie alle zurückkehren, der wirklich beharrende Pol in
der Erscheinungen Flucht, das einzige, was weder quantitativ,
noch quahtativ verändert werden kann. Dies allein kann also
mit Recht das Unbedingte, Absolute, oder die Substanz genannt
werden, nicht das sinnliche Trugbild des räumlichen Stoffes.
Da sowohl das Wollen als auch die Idee ihrer selbst absolut
unbewusst ist, so muss auch das Subjekt beider als absolutes
Subjekt seiner unbewusst sein und kann erst als individuell
eingeschränktes, d, h. in den Erscheinungsindividuen, seiner
mittelbar durch das Spiegelbild des Erscheinungsich bewusst
werden. —
Da Schopenhauer unter Gott nicht das irgendwie beschaffene
Objekt des religiösen Bewusstseins , sondern nur ein persönliches
und selbstbewusstes Absolutes versteht, so lehnt er nicht nur die
Bezeichnung des Theismus mit Recht, sondern auch die des
Pantheismus filr seinen Standpunkt ab. Nach dem Sprach-
gebrauch des neunzehnten Jahrhunderts unterscheidet sich der
Theismus vom Pantheismus gerade dadurch, dass ersterer einen
persönlichen Gott voraussetzt, letzterer nicht. Liesse Schopen-
hauer im Pantheismus einen unpersönlichen Gottesbegriff gelten,
so hätte er keinen triftigen Grund mehr, diese Bezeichnung von
seinem Monismus abzuwehren; denn nur bei einem selbstbewussten
persönlichen Gott wäre es unbegreif heb , wie er sich in blindes
Wollen und durch dieses in alles Leid der Welt verstricken
konnte (R, 11, io6). Schopenhauers Subjekt des Wollens und Er-
kennens fällt ja keineswegs mit der Welt zusammen (R, II, 105),
sondern steht als überweltliches Wesen hinter seiner Erscheinung,
der Welt, hegt ihr zu Grunde und besteht fort, wenn die Welt
verschwindet. Da wir nun den Ausdruck Pantheismus nach dem
heutigen allgemeinen Sprachgebrauch anwenden müssen, nicht
202
Schopenhauer.
nach dem Schopenhauerschen, so sind wir auch genötigt, Schopen-
hauers System trotz seiner Proteste unter ^Pantheismus^ ein-
zureihen. Atheismus ist es nur in dem Sinne, dass es nicht
Theismus ist. d. k keinen persönlichen selbstbewussten Gott
gelten lässt, aber nicht in dem Sinne, als ob es jedes Absohite
leugnete, das zum Objekt eines religiösen Verhältnisses geeignet
wäre. Sein Standpunkt ist nicht mit dem Buddhismus, sondern
nur mit der Vedantalehre in Parallele zu steUen. —
Schopenhauer ist von Grund aus religiös gestimmt; es ist
ihm tiefer ynd beiliger Ernst mit der ethischen Bedeutsamkeit
der Welt, mit tibel und Schuld, Gnade und Wiedergeburt, und
das Centrum seiner Gesinnung ist die Erlösungssehnsucht
Der Weltprozess ist der Heilsweg, und der einzige Heilsweg
führt durch Leiden zur Erkenntnis und Wiedergeburt, während
Selbstmord, Fruchtabtötung u. s. w, nur die Erscheinung an
diesem Ort und zu dieser Zeit zerstören. Die Natur führt eben
den Willen zum Lichte, weil er nur am Lichte seine Erlösung
finden kann. Daher ist der einzige Weg des Heils dieser, dass
der Wille ungehindert erscheine, um in dieser Erscheinung
sein eigenes Wesen erkennen zu können. Durum sind die Zwecke
der Natur auf alle Weise zu befördern (W., I, 474), Nur in der
Menschheit gelangt die Erkenntnis zu solcher Klarheit, dass sie
zur Erb'jsung führen kann; infolge des Zusammenhanges aller
Willenserscheinungen würde aber mit der höchsten Willens-
erscheinung auch ihr schwächerer Widerschein, die Tierheit und
die übrige Welt wegfallen. Daher ist die Menschheit berufen*
der ganzen Natur die Erlösung zu vermitteln (W., I, 449—450),
und zwar dadurch, dass sie den WUlen ungehindert erscheinen
lässt und die Zwecke der Natur auf alle Weise befördert, bis
endlich der nötige Grad der Erkenntnis in der Menschheit er-
reicht ist (W., I, 474).
Dies ist diejenige Stellungnahme Schopenhauers in der Er-
lösungslehre, welche allein seinem metciphysischen Monismus ent*
spricht. Sie bleibt aber auf flüchtige Andeutungen beschränkt,
während seine näheren Ausführungen sich in schroffen Wider-
spruch mit ihr setzen. Zunächst lässt die transccndentalidcal istische
Erkenntnistheorie keine thätige Beteiligung an der Förderung
der Naturzwecke und des allgemeinen Heilsprozesses aufkommen,
sondern verurteilt zu geduldigem Zuwarten und unthätigem Quie-
Schop«DhaiieT.
203
tismus. Denn der transcendentale Idealismus verflüchtigt Zeit,
Kausalität, Finaütät und Vielheit der Erscheinungsindividuen zu
einem bloss subjektiven Schein ohne jede transcendentale Realität»
|Und hebt damit nicht nur jede Möglichkeit einer zweckvollen
.Entwickelung, sondern überhaupt die Möglichkeit einer gescliicht-
lichen Weltanschauung auf. Jeder Versuch, etwas zu fördern,
wäre auf dieser Grundlage die bare Thorheit
Es kommt aber noch eine pliu-aUstische Tendenz hinzu, die
>wohl mit dem metaphysischen Monismus, als auch mit dem
transcendentalcn Idealismus in Widerspruch steht. Von Schelling
übernimmt Schopenhauer die Selbstsetzung des intelligiblen
Charakters durch einen freien vorzeitlichen Willensakt, von den
Indern die Selbsterlösung des Individuums durch Askese, Die
Freiheit der grundlosen Entscheidung zum Wollen oder nicht
Wollen, die nur dem absoluten Subjekt des Wollens beiwohnt,
wird damit auf den Individualwillen übertragen; die bloss
formelle Entscheidung dieser Freiheit zwischen ja und nein wird
zugleich zu einer inhaltlichen Entsrhliessung über die Beschaffen-
heit des anzunehmenden Individualcharakters. Der noch nicht
seiende Individualwille giebt erstens sich selbst die fehlende
Existenz und zw^eitcns wählt er als noch essenzloser sich die ihm
zusagende charakterologische Essenz, Damit wird der Individual-
wille zur causa sui» die doch Schopenhauer selbst durch den Ver-
gleich mit dem sich an seinem Zopfe aus dem Wasser ziehenden
Münchhausen verspottet (Vierf, Wurzel, 14).
Die Absonderung des In dividual willens vom All willen er-
scheint auch deshalb schon unmöglich, weil der letztere als viel-
heitloses Subjekt des Wollens unteilbar ist und in jedem indivi-
duell eingeschränkten Subjekt ganz und ungeteilt gegenwärtig
ist (P., II, 2g6). Was sich aber selbst Existenz und Essenz nicht
verleihen kann, das kann sie auch sich selbst nicht nehmen;
bfreiwilliges Verhungern kann in dieser Hinsicht nicht mehr leisten,
ds eine andere Art des Selbstmords. Auch Keuschheit kann
^ebenso wie Fruchttötung nur die Geburt eines neuen Individuums
an diesem Ort und zu dieser Zeit, d. h. eine bestimmte Er-
scheinung des Willens hindern. Am wenigsten kann das Un-
mögliche möglich gemacht werden durch die Askese, die den
Naturzwecken am meisten zuwiderläuft; denn wenn auch die
Mortifikation des Wollens in dieser Erscheinung gelänge, so
204
Schopeniuiiier.
würden doch dip Wurzeln der Individuation keinenfalls bis über
die Sphäre der Bejahung des Willens zum Leben (die Erscheinungs-
welt) hinausreichen, also das Subjekt des Wollens und Nic&ti^
wollens völlig unberührt lassen. Schopenhauer folgte daher eineni
gesunden Instinkte, wenn er dieses krankhafte indische Pfropfreis
seiner Lehre praktisch für seine Person missachtete, —
Die Freiheit der individuellen Entscheidung zum Wollen oder
nicht Wollen passt nur in ein pluralistisches System, in welchem
alle Individuahvillen ungeworden und unvergängiich, d. h, Sub-
stanzen sind. Die einmalige freie Selbstbestimniiing des Cha-
rakters aber passt selbst in solchen substantiellen Pluralismus
nicht» da in diesem die Essenz jedes Individualwillens als gleich
ewig mit seiner Existenz, also als schlechthin gegeben, ge-
dacht werden muss. Dieser Pluralismus ist ein dem System in
allen seinen Teilen widersprechender und es lediglich verunstal-
tender Auswuchs.
Im übrigen stimmt der Monismus, die Willensmetaphysik*
der metaphysische Idealismus und der axiologische Pe^mismus
des Schopenhauerschen Systems vollkommen zusammen. Der
MateriaHsmus ist auf dem Boden des erkenntnistheoretischen
Idealismus ganz unfähig, irgend etwas zu erklären; auf dem
Boden der Willensmetaphysik und des metaphysischen Idealismus
kann ihm eine gewisse sekundäre Bedeutung zugeschrieben
werden, aber mit einer erheblichen Einschränkung, nämlich der
auf das bewusste Vorstellungsleben. Der erkenntnistheoretische
Idealismus ist mit allen übrigen Teilen des Systems gleich un-
vereinbar, und wird deshalb auch überall, wo es sich um kon-
krete Erklärungsversuche handelt, nicht nur beiseite geschoben,
sondern unvermerkt durch die entgegengesetzte Ansicht ersetzt
Der Monismus, den er stützen soll, ist auch ohne ihn gesichert.
Die Astlietik Schopenhauers ist nur eine Popularisierung der
Schellingschen, die in sein System nicht recht passt; sie als
Mittelpunkt seines Systems und seines persönlichen Interesses
betrachten, ist eine einseitige Übertreibung. Schopenhauers Inter-
esse hatte seinen Schwerpunkt im Erlösungsbedürfnis auf Grund
des gefuhlsmässigen Pessimismus; sein transcen dentalidealistischer
Quietismus liess ihm allerdings kaum ein anderes praktischesi
Verhalten übrig, als einen ästhetisch verfeinerten und ver-
geistigten Epikureismus,
Schopenhauer.
20S
Dcis Entscheidendste und Wichtigste an der Stellung Schopen-
hauers in der Geschichte der Philosophie ist, dass zum ersten
Male in ihm ein Denker mit tiefem ethischen und religiösem Be-
dürfnis sich schroff gegen den Theismus kehrt, weil er seinem
ethischen und religiösen Bedürfnis nicht Genüge tluit Diese
Verurteilung des jüdisch -christlichen Theismus aus ethischen und
religiösen Gründen und die harte Ablehnung jedes Vertrag-
schliessens mit ihm ist in der Geschichte der christlichen Philo-
sophie etwas Neues und Unerhörtes, da alle bisherigen Denker
ausser einem Teile der Materialisten das Christentum in ihrem
Sinne umzudeuten bemüht gewesen waren. Wer ohnehin Theist
war, hiess den Theismus im Christentum willkommen; wer nicht
Theist, sondern Pantlieist war, suchte die Sache so zu drehen, als
^ob auch das Christentum eigentlich pantheistisch sei und zwischen
Theismus und Pantheismus philosophisch gar kein so grosser
Unterschied bestehe. Schopenhauer zuerst findet den Mut, mit der
ganzen christlichen Religionsentwickeiung zu brechen, weil sie
theistisch sei, und auf die pantlieistische indische Religion als die
allein wahre hinzuweisen. Damit hat er in der Religionsphilo-
sophie und in der KuUurgeschichte der europäischen Völker eine
neue Epoche inauguriert und gezeigt, dass man auch als Europäer
religiös sein kann» ohne christlich zu sein. Der pantheis-
tischen Philosophie aber hat er dadurch erst die Augen geöffnet
über die Schärfe ihres Gegensatzes zu aller theistischen Philo-
sophie und hat dadurch auch die philosophische Entwickelung in
eine ganz neue Bahn gedrängt*)
Die vorbewussten, metaphysischen und die bewussten er-
kenntnistheoretischen Zusammenhänge im Schopenhauerschen
System lassen sich folgendermassen tabellarisch veranschau-
lichen:
*) VcrgL Ges. Stud. u. Aufs., S. 569—572, 656—640. 679—695; Phil. Fragptt
Gegenwart, S. 25 — 57; die dcutschr Äsüietik seit Kant, S» 44 — 61, 3S8 — 391,
5—417, 436—430, 453—454, 468—469, 48S— 491, 532—513» 559; clas sittliche
2. Aufi^ S. 49—53' 19*— 202, 225—229, 381—387, 408— 411, 621—626^
J3; krit. Grundlegung des traiisc. Re»listniis, 3. A116., S, 35^ — 36» 49—52,
84 — ^90; Neukantianismus, Schop. u. Hegcüanisnius, ttq — 257; krit WAndcrungen
durcJi die Phil. d. Geg.. S. 26—42 In der Gesamtheit der angeführten Stellen finden
alle Seilen der Schopenhauerschen Philosophie eine ausführliche knlische Durch»
arbeitiing.
2o6
Schopenhauer.
I. Metaphysischer Zusammenhang.
Identisches Subjekt des WoUens und £r-
kennens, als das zu wollen und zu er-
kennen, oder nicht zu wollen und nicht
zu erkennen Fähige.
Das Wollen als Bejahung des Willens
zum Leben oder Erkennenwollen.
Die transcendentale Idee als Einheit
von Subjekt und Objekt.
Die Welt der Willensindividuen, oder
die Vielheit der Charaktere.
Die eigentliche Welt als Vorstellung,
oder die Welt der beharrenden Ideen.
Die Welt der realen Individuen als Elinheit
der vielen Individualwillen (Charaktere)
und entsprechenden Sonderideen.
IL Erkenntnistheoretischer Zusammenhang.
Das reale Individuum als Einheit von
Individualwille (Charakter) und Idee.
Zerfallen der Idee in ihm in:
Mittelbares,
als Summe von Phanto-
men, die auf andere reale
Individuen als Dinge an
sich bezogen werden.
Unmittelbares,
als der eigene Leib, die
unmittelbare Objektität
des eigenen Individual-
willens.
Subjekt,
als das all -eine Subjekt
des Erkennens in dieser
bestimmten individuellen
Erkenntnisthätigkeit.
Materie
als objektive Darstellung von
räum- und zeiterfüllender
Kausalität und Substantialität.
Die Welt als subjektive Er-
scheinung im Bewusstsein
dieses Individuums.
Hegel.
5. Hegel (1770— 1831).
207
Hegel ist der erste Philosoph» der den Anspruch erhebt, die
WahrheitsmoTTiente aller bisher aufgetretenen philosophischen
Systeme in seinem System aufgehoben zu haben. Die Geschichte
der Philosophie ist ihm die Eine Philosophie in ihrer Entwicke-
lung, das sich selbst Erkennen des Einen Geistes in seinen aus-
einandergelegten Momenten, das wahrhafte Geisterreich, das
einzige, das es giebt, die Enthüllung Gottes, wie er sich in seiner
Wahrheit weiss (S.W., XV, 691, 686). Hegel unterscheidet fol-
gende Haupttypen, die sich mit den Hauptabschnitten seiner
Logik decken sollen: 1, Das Sein in der älteren hellenischen
Philosophie, 2, das Wesen in der objektiven, substantiellen Idee
Piatons, 3. den Begriff bei Aristoteles, 4. den Begriff als für sich
werdendes Subjekt in abstrakter Trennung bei den Stoikern,
Epikureern und Skeptikern, 5. die konkrete, aber nicht sich
wissende Idee bei Plotin, 6. den Geist als die sich wissende Idee
in der modernen Philosophie, und zwar zunächst als inhaltliche,
substantielle, äusserliche Anschauimg der Identität von Denken
und Sein bei Spinoza, 7. als reine, unendliche Form des Er-
kennens, als Subjektivität des Selbstbewusstseins oder Ich bei
Fichte, 8, als konkrete Identität des absoluten Inhalts und der
absoluten Form, des Objektiven und Subjektiven bei Schelling
(XV, 686-688).
Spinozas Monismus teilt er, aber nicht seinen Akosmismus.
Er tadelt, dass seine Substanz bloss unthätige, ruhende Substanz
ohne EntWickelung, ohne Böhmesches Quellen, ohne sich Auf-
schliessen, ohne Zweck, ohne Subjektivität, Individualität und
Persönlichkeit sei, und dass er die Individuation nur als Zu-
sammensetzung aus Teilen kenne, also als Gegenteil der Ichheit
P^V, 375, 377, 390, 395). Immer von neuem kommt er darauf
zurück, dass die Substanz, die er als blosse Sache, Gegenständ-
liches, Objekt des Denkens oder bloss Gedachtes auffasst, zum
Subjekt des Denkens, zum Geiste als reiner Thätigkeit, zur Per-
son werden müsse (z. B. VI, 366—367). Dass Spinozas intellectus
infinitus alle diese Forderungen mit Ausnahme der Zwecktliätig-
keit erfüllt, hat er übersehen; es bleibt also nur ein zwiefacher
Unterschied übrig. Einerseits tritt an Stelle der rein formal-
logischen Notw^endigkeit die teleologische, andererseits an Stelle
208
H<^.
des Denkens als Attribut und Funktion der Substanz das Denken
selbst als die Substanz der äusserlichen Dinge wie des Geistigen
(VI, 46, 47, 51).
Was er bei Spinoza und auch bei Piaton vermisst, findet er
bei Aristoteles, den er ganz rationalistisch auslegt. Bei diesem
ist der Zweck nicht nur das Allgemeine (wie die Platonische
Gattungsidee), sondern auch das Bewegende, die Energie und
Entelechic, d, h. das sich selbst Bestimmende und Realisierende.
Die Materie ist nur an sich oder der Möglichkeit nach das Sub-
stantielle, die Form als Entelechie ist es der Wirklichkeit nach
(XIV, 319 — 321). Die höchste absolute Substanz, in der Möglich-
keit und Wirklichkeit vereint sind, ist reine Thätigkeit ohne
Passivität, also auch ohne Materie, der vovg, das reine absolute
Denken, genauer das Denken des Denkens, in welchem das
Denken und das Gedachte Eins ist (XIV, 326, 327, 330 — 332).
Die WolfFsche Metaphysik hat darin recht, dass sie die
Wesenheit des Seienden allein im Gedanken sucht, bleibt aber in
abstrakten und unangemessenen Vorstellungen stecken, so z. B.
indem sie die Seele zu einem sinnlich existierenden Ding mit
einem räumlichen Sitze und Gott zum allerärmsten und leersten
Wesen macht (VI, 65—76).
Der Empirismus trägt im Gegensatz zu den abstrakten Ver-
standestheoricn dem Bedürfnis eines konkreten Inhalts und festen
Haltes Rechnung, aber er leugnet entweder das Übersinnliche
oder doch die MögUchkeit seiner Erkenntnis und gerät so konse-
quenter Weise entweder in Materialismus oder Skeptizismus. Er
treibt selbst Metaphysik, gebraucht aber die Kategorien und ihre
Verbindungen auf eine völlig unkritische und bewusstlose Weise
(VI, 78 — 83, 122). Eigentlich muss er mit IJume die allgemeinen
Denkbestimmungen und Gesetze leugnen, weil sie in der sinn-
lichen Wahrnehmung selbst als solche nicht angetroflFen werden
(VI, 84. 99).
Kant wird von Hegel nur in der Kritik der Urteilskraft als
wahrhaft spekulativ anerkannt, in welcher der Zweck als der
thätige Begriff und das sich selbst bestimmende konkret All-
geraeine aufgefasst wird (VI, 117, 118). Im übrigen lobt er
Kants Entthronung der WolfFschen Metaphysik, erklärt aber das
Warum fiir ganz verfehlt (VI, 101) und spottet über den Versuch
der Erkenntnistheorie, schwimmen lernen zu wollen, bevor man
Hegel.
209
ins Wasser gehe. Richtig ist, dass Kant die Denkformen unter-
sucht, falsch, dass er in ihnen bloss unsere subjektiven, indivi-
duellen Gedanken, nicht das allgemeine und notwendige Ansicb
rder Dinge sieht (VI, 85—89). Indem er das wahrhaft Wirkliche,
pdas Ewige und Göttliche für unerkennbar erklärt und ihre Be-
mühungen auf die Erscheinung, d. h. auf das Zeitliche, Zufällige
itind Eitle beschränkt, erweist er bloss die Eitelkeit und Gehalt-
[losjgkeit seines kritischen Bemühens (VI, S. XXXIX— XL).
Fichte bleibt das Verdienst, daran erinnert zu haben, dass
die Denkbestim mungen in ihrer Notwendigkeit aufzuzeigen und
zu deduzieren oder abzuleiten seien (VI, 90), Aber die Natur des
»Aostosses« der Denkbewegung, des Fichteschen Dinges an sich,
bleibt ein unbekanntes Draussen, ein absolutes Nichtich; damit
bleibt wiederum das Ich ein bedingtes EndUches, das ein Anderes
sich gegenüber hat (VI, 124 — 12$).
Jacobi hat darin recht, dass die endlichen, abstrakten, Ver-
' Standesbestimmungen nicht zur Erkenntnis des Absoluten, wahr-
haft Unendlichen führen, dass es dazu eines Höheren, der Ver-
nunft, bedarf, und dass dieses höhere Wissen die Gewissheit von
dem Sein seines Gewussten in sich schliesst. Aber er hat un-
recht, dieses höhere Wissen als unmittelbares Wissen, Glaube, zu
bestimmen (VI, 127—128, 131). Ein unmittelbares Wissen in
^diesem Sinne giebt es gar nicht; denn das vermeintlich unmittel-
bare Wissen ist ja doch durch Entwickelting, Erziehung, Bildung
vermittelt (VI, 143—144, 135). Das unmittelbare Bewusstsein von
der Existenz äusserer Dinge ist nichts anderes als das sinnliche
Bewusstsein, d. h. Täuschung, Irrtum, Schein ohne Wahrheit
(VI, 144). Was der einzelne in seinem individuellen Bewusstsein
vorfindet, wird dabei, ohne das Besondere und Zufällige abzu-
sondern, zur allgemeinen Natur des Bewusstseins selbst erhoben
und aufgebauscht (VI, 139), Das unmittelbar im Bewusstsein
Vorgefundene muss aber erst durch vernünftiges Denken ver-
mittelt werden, um zu einem Begriffenen und damit wahrhaft
Gewussten zu werden. —
SchelUng stellt die höchste bisher erreichte Stufe der Philo-
^sophie dar. Sein erstes Verdienst ist, dass er das Absolute aus
dem objektiven Sein oder Wesen (Spinozas) zum absoluten Er-
tennen, zur absoluten Form oder zum selbstbewussten Wesen
'erhebt, und damit Wesen und Form, Reelles und Ideelles. Ob-
£.T.HArtmaDD, Auag«w, Werke. Bd.XIL 14
2IO
HegeL
jektivcs und Subjektives, Objekt und Subjekt, Möglichkeit und
Wirklichkeit zur Einheit der absoluten Vernunft oder absoluten Idee
zusanimenfasst (XV» 665; VT, 388). Sein zweites Verdienst besteht
darin, dass er zuerst die Natur als erstarrte Intelligenz, als die
äusserhche Weise auffasst» in der das System des Begriffs oder
der Gedankenformen (d. h. die noch rein logische Idee) ihr Da-
sein hat (XV. 673}. Dem steht aber der Mangel der richtigen
Methode gegenüber.
Das Resultat tritt bei ihm als unmittelbares und unvermitteltes
durch intellektuelle Anschauung hervor, und seine Beweisführungen
für die Identität des Subjektiven sind nur Schein, w^eil sie immer
das zu Beweisende schon voraussetzen (XV, 673). Sein »Kon-
struieren <» ist höchst formell, meist blosse Versicherung, zum Teil
mit sinnlichen Ausdrücken durchgeführt (XV, 675, 676); sein Er-
gebnis ist darum auch nur ein äusserlicher Formalismus nach
einem vorausgesetzten Schema, das den Gegenständen willkürlich
angehängt wird (XV, 679, 683). Schelling hat sich in immer
neuen Formen der Darstellung versucht, weil keine ihn befriedigte
(XV, 649, 674); auch die Schrift über die Freiheit rechnet Hegel
zu diesen Anläufen, ohne zu bemerken, dass ScheUing mit ihr
neue Bahnen einschlug. Weil es ScheUing an einer Methode
der logischen Entwickelung fehlt, vermittelst deren die Idee sich
selbst hervorbringt und in ihrer Notwendigkeit erkannt wird
(XV, 682 — 684), darum sinkt bei ihm die absolute Idee von einer
konkreten, geistigen Einheit, die die Unterschiede in sich hat, zu
biner abstrakten, geistlosen Einheit herab, in der alles Eins ist,
weil alle Unterschiede ausgetilgt sind (VI, S. XV— XVI). So ist
der Name »Identitätsphilosophie« durch Schelling ebenso diskre-
ditiert worden, wie die Naturphilosophie, die noch mehr bei seinen
Nachahmern als bei ihm selbst in ein nichtiges aber anspruchs-
volles Spiel mit leeren äusserlichen Analogien, in einen elenden
Formalismus, in eine gedankenlose Vermischung der gemeinsten
Empirie mit den oberflächlichsten ideellen Bestimmungen aus-
artet {VI, 358; XV, 681—682}.
Schelling ist in seinen Veröffentlichungen nicht an die Philo-
sophie des Geistes gekommen (XV, 680). Wie Schelling ur-
sprünglich nur das Fichtesche System durch eine ihm fehlende
Naturphilosophie ergänzen wollte, so Hegel das Schellingsche
System durch eine ihm fehlende Geistesphilosophie, Wie Schel-
iegcL
2It
ling damit begann» Fichte vorzuwerfen, dass er der Natur nicht
die richtige Stellung zur Transcendentalphilosophie eingeräumt
habe, so tadelte Hegel an Schelling, dass er der Geistesphilo-
sophie nicht die richtige Stellung zur Naturphilosophie gegeben
habe. Nach Hegel darf die Geistesphilosophie der Naturphilo-
sophie weder als gleichberechtigtes Glied nebengeordnet (wie in
Schellings gekoppeltem Dualismus), noch gar ihr untergeordnet
werden (wie in Schellings Naturphilosophie am Ende seiner
ersten Periode); sie muss ihr vielmehr unbedingt übergeordnet
werden (wie in Schellings Schrift von der Freiheit), so dass die
Natur nur als Durchgangspunkt und Mittel zur Entfaltung des
Geistes ihr Recht und ihre Bedeutung hat. — Hegels Phänomeno-
logie des Geistes stellt seinen ersten Versuch dar, Schellings
System des transcendeotalen Idealismus durch Einfügimg kunst-
geschichtlicher, religioosgeschichtlicher und geschichtsphilosophi-
scher Betrachtungen zum Entwurf einer Geistesphilosophie zu
erweitern. Er hält dabei den Gedankengang Schellings fest,
wonach jeder Fortschritt von einer niederen zu einer höheren
Stufe darin besteht , dass derjenige Inhalt, der auf der niederen
Stufe noch nicht für das betreffende Subjekt, sondern nur fiir
uns» die betrachtenden Philosophen, und ausserdem an sich, d.h.
als bewusstlose keimartige Anlage vorhanden ist, auf der höheren
Stufe sich auch für das Bewusstsein des betreffenden Subjekts
entfaltet und damit zu etwas scheinbar anderem wird.
Zugleich enthält hiermit die Phänomenologie auch den Keim
der Hegeischen Logik, die denselben Gang nachahmt, aber in
dem Sinne, dass der ganze entfaltete Gedankengehalt zunächst
ein bloss möglicher bleibt, ein rein logisches Ansich, ein blosses
' Netz von Kategorien , das System aller abstrakten Gedanken-
bestimmungen, die erst in der bewusstlosen Natur und im be-
wussten Geiste ihre Anwendung und Verwirklichung finden
(VII 2, 14, 29; m, 35—36; VI, S. Xm-XIV, 49, 163), in der
Logik stellt sich Hegels principieller metaphysischer Standpunkt
und seine Methode am deutlichsten dar: in seinen späteren Aus-
führungen zur Rechtsphilosophie, Ethik, Ästhetik, Religions-
Philosophie und Geschichtsphilosophie ist dagegen alles enthalten,
worin seine kulturgeschichtliche und litterarhistorische Bedeutung
liegt. Seine Naturphilosophie ist ein Lückenbüsser, der zu den
Leistungen Schellings und seiner Schule nichts neues hinzugefügt
Hcgd-
hat, sondern nur deren schlimmste Auswüchse vermeidet Seine
Logfik ist mit der Form der dialektischen Methode dem Urteil
der Geschichte anheimgefallen, weil ihr Inhalt von ihrer Form
untrennbar ist, und die verfehlte Form die Konsequenz eines in
seiner Einseitigkeit falschen principiellcn Standpunktes ist.
Sein Ruhm als Systematiker und sein weitreichender Einfluss
ruht weder auf seinem einseitigen panlogistischen Pnncip, noch
auf seiner absurden dialektischen Methode, sondern auf seiner
Geistesphilosophie, deren Inhalt von der Wahrheit sowohl des
panlogistischen Princips, als auch der dialektischen Methode pfanz
unabhängig ist. lo einer Geschichte der Metaphysik kann aber
die Bedeutung seiner Geistesphilosophie nicht so voll gewürdigt
werden, wne in einer allgemeinen Geschichte der Philosophie;
hier muss deshalb Hegel das Schicksal der anderen grossen
Systematiker, eines Aristoteles, Thomas, Kant teilen, dass gerade
seine negative Bedeutung, d, h, die Einseitigkeit und Unzuläng-
lichkeit seines metaphysischen Standpunktes zur Betrachtung
kommt und seine vielseitigen positiven Verdienste unberück*
sichtigt bleiben.
Wer an die Lektüre Hegels neu herantritt, dem ist dringend zu
raten, dass er die Phänomenologie und die einbändige Encyklo-
pädie meidet, erstere, weil sie als ein Werk von gährender Unreife
und durch ihre Verwirrung der erkenntnistheoretischen und geistes-
philosophischen Betrachtung das schwerverständliche seiner Werke
ist, letztere, weil sie nur als Diktatheft für Vorlesungen bestimmt,
ohne solche Bekleidung mit Fleisch und Blut ungenlessbar ist
und das unfruchtbare, eintönige Geklapper der abstrakten Hegel-
schen Dialektik in der abschreckendsten Gestalt zeigt. Man lese
zunächst die Ästhetik, Religionsphilosophie und Philosopliie der
Geschichte, die allerdings aus Vorlesungsheften zusammengestellt
sind und darum ermüdende Wiederholungen zeigen, dann die
Rcchtsphilosopliie, und wenn man in Hegels Metaphysik ein-
dringen will, den dritten, und ganz zuletzt den ersten Teil der
dreibändigen Encyklopadie. Die Phänomenologie sollte nur der-
jenige lesen, der sich für die Entstehungsgeschjchte des Hegel-
schen Systems im Kopfe seines Urhebers interessiert. Die erkennt-
nistheoretischen Bestandteile der Phänomenologie sind schärfer
und klarer herausgeschält in dem so betitelten Abschnitt des
dritten Bandes der Encyklopädie, die philosophiegeschichtlichen
HcgeL
213
in der Einleitung zum ersten Bande der Encyklopädie und aus-
führlicher in den drei Bänden Vorlesungen über Geschichte der
Philosophie. Es ist geradezu Hegels Unglück zu nennen, dass
so viele ihn nur aus der Phänomenologie» oder aus der einbän-
digen Encyklopädie, oder aus diesen beiden Büchern kennen. —
Hegel stützt seine Metaphysik nicht auf die unmittelbare Er-
fahrung; diese zieht er vielmehr nur in Betracht, um zu zeigen,
dass über sie hinausgegangen werden müsse durch alle Stufen
des erkennenden Bewusstseins hinauf bis zur begrifflichen Er-
kenntnis. Diesen Prozess muss zwar der einzelne in sich nach-
bilden, aber die Geschichte der Philosophie hat ihn bereits vor-
gebildet, denn sie ist die höchste Gestalt, in welcher die Vernunft
Wirklichkeit gewinnt. So lange der einzelne nur nachdenkt,
was ihm die Geschichte der Philosophie vorgedacht hat, ist er in
dieser bloss reproduktiven Thätigkeit unproduktiv; soll die
Philosophie über die bisher erreichte Stufe hinaus von ihm ge-
fordert werden, so muss er das Problem da aufnehmen, wo die
Geschichte der Philosophie es hat stehen lassen. Für Hegel ist,
wie gezeigt, der Schellingsche Standpunkt der höchste bisher
erreichte, auf dem er fortbauen muss. Das Problem präcisiert
sich also für ihn dahin: Wie muss die absolut konkrete Idee
gedacht werden, wenn sie alles wahrhaft Wirkliche sein soll?
Oder mit anderen Worten: Was muss unter Vernunft verstanden
werden, wenn sie alles, und nichts ausser ihr sein soll? Aus der
Untersuchung dieses Problems ergiebt sich für Hegel sowohl der
Inhalt als auch die Form seiner Metaphysik.
Wenn die absolute Idee schlechthin konkret, absolut, das
allumfassende Wirkliche sein soll, so darf sie kein schlechthin
anderes sich gegenüber haben {VII 2, 4), sondern muss alles,
was ist, die ganze Welt der Wirklichkeit, Natur und Geist, oder
Natur und Geschichte {XV, 684; VII 1, 25), in sich einschliessen.
Als verwirklichte, der Welt immanente Idee ist die Idee einer-
seits die in Raum und Zeit aussereinandcrgelegte natürliche Idee,
andererseits die wieder verinnerlichte geistige Idee, aber sie ist
nicht mehr die bloss logische Idee, die vielmehr erst das Ansich,
oder der Begriff, oder die Möglichkeit der absolut konkreten Idee,
oder die Idee im Elemente des reinen abstrakten Gedankens ist*)
•) Vcrgl. meine »Deabcbe AsibeUk seit KxnU, S, 109—110.
«H
Hegel.
Nun ist aber das Sein der Idee in der Natur ein ilir als logischen
Idee Unangemessenes, ein Anderssein oder Aussersichsein ihrer
selbst, ein ihrer Form Widersprechendes {VII 2, 30)» der unauf-
gelöste Widerspruch (VII i, 28), also etwas Unlogisches, der
Überwindung Bedürftiges. Diese Überw^indung findet das Un-
logische des Andersseins beständig im Geiste, aber doch nur in
dem Sinne, dass es beständig neu gesetzt wird, um immer wieder
überwunden zu werden. Die absolut konkrete Idee muss dem-
nach so gedacht werden, dass sie das Gegenteil ihrer selbst, das
Anderssein oder Unlogischsein nicht aus-, sondern einschliesst-i
wenn sie alle Wirklichkeit sein soll. ■!
Unter Vernunft ist hier das logische Formalprincip, die Essenz
des Logischen, von welcher die Selbstbestimmung der logischen
Idee abhängt, das ewige Gesetz der Selbstbewegung des absoluten
Denkens zu verstehen. Wenn die Vernunft sich zur logischen
Idee determiniert hat, so würde daraus doch niemals eine Welt
entspringen, falls nicht ein Unlogisches entweder ausserhalb ihrer
gegeben wäre, oder aber von ihr selbst als Gegenteil ihrer selbst
gesetzt würde. Gäbe es ausser der Vernunft noch etwas anderes,
das nicht Vernunft wäre, ausser dem Logischen ein Unlogisches,
dann wäre die Vernunft nicht alles, nicht allumfassend, nicht
absolut Sie wäre dann auch kein Unendliches, kein Un-
beschränktes, kein Freies, denn sie hätte an dem Unlogischen
ihr Ende, ihre Grenze, ihre Schranke, durch die ihre Freiheit
beschränkt würde. Soll die Schellingsche Voraussetzung, der
Panlogismus, aufrecht erhalten werden, so muss die Vernunft
selbst es sein, durch welche das Gegenteil ihrer selbst, das
Unlogische, gesetzt wird. Und zwar muss dieses Gegenteil ein
in Bezug auf sie schlechthin Negatives, ein absolut Unlogi-
sches sein, nicht bloss etwas relativ Unlogisches. Die Vernunft
muss im Panlogismus notwendig so gedacht werden, dass sie
das absolute Gegenteil ihrer selbst als etwas von ihr selbst
Gesetztes, wenn auch bloss zur steten Überwindung Gesetztes
einschMesst
Das Wesen der Vernunft muss also darin gesucht werden,
dass sie den Widerspruch nicht etw^a von sich abwehrt, sondern
ihn beständig antithetisch aus sich erzeugt, um ihn synthetisch in
sich zurückzunehmen und ihn als aufgehobenes Moment in sich
zu konservieren. Der Panlogismus muss entweder nicht sein, oder
HegeL
215
er muss dialektisch im Sinne der Hegeischen Widerspruchs-
dialektik sein. Schelling hatte mit keiner systematischen Durch-
führung zustande kommen können, weil er diese Wahrheit ver-
kannte. Hegel gelingt die Systembildung auf Grund des panlo-
gistischen Princips, weil er diese Wahrheit begriffen und den Mut
gehabt hat, in seiner Dialektik ihre Konsequenz zu ziehen. Der
Panlogismus steht und fällt mit der Widerspruchsdialektik und
sie mit ihm. Ist die Widerspruchsdialektik als unmöglich und
absurd erwiesen, so ist damit auch der Panlogismus als alleiniges
Princip ad absurdum geführt; ist der Panlogismus in seiner Ein-
seitigkeit als unhaltbar und ergänzungsbedürftig erwiesen, so fällt
damit auch jede Nötigung hinweg, dem Verstände mit der Wider-
spruchsdialeklik Gewalt anzuthun. —
Bei Schelling ist es ein einfaches Postulat, dass die Einheit des
Gegensatzes von Idealem und Realem, oder von Geist und Natur,
im Idealen zu finden sei, oder dass das über den Gegensatz er-
habene absolut Ideale zugleich das absolut Reale in einem über
den Gegens^itz erhabenen Sinne sei. Es wird von ihm einfach
dekretiert, dass das indifferente absolut Ideale sich zum Gegen-
satz eines Idealen und Realen, oder von Geist und Natur aus-
einanderlege oder spalte. Bei Hegel dagegen liegt es im Wesen
der Vernunft oder des logischen Formalprincips, dass es sich
Jurch eine Antithese das absolute Gegenteil seiner selbst gegen-
überstellt, oder in das Anderssein umschlägt. Dieses Anderssein
äer logischen Idee ist nun ebensowohl das Gegenteil des Logi-
schen, als auch das Gegenteil des Idealen oder Idealprincips; es
ist die Natur, in welcher zuerst die an sich bloss mögliche logische
Idee zur wahrhaften Wirklichkeit gelangt, und vermittelst deren
sie auch in den Stand gesetzt wird, sich durch Insichzurücknahme
aus dem Anderssein als bewusster Geist zu verwirklichen. Das
Realprincip deckt sich also hier mit dem absolut Unlogischen;
das Reale oder das Objekt ist nicht nur dem Geiste, sondern
auch sich selbst äusserlich, d. h. dem Begriff als solchen inadäquat
und mit der Form der Unvernunft behaftet (VII 2, 316. 320).
Wenn es richtig ist, dass das Unlogische als logisch notwendige
Antithese vom Logischen gesetzt wird, dann ist mit ihm auch
das Realprincip logisch deduziert. Wenn dagegen die Ableitung
les absolut Unlogischen aus dem Logischen unmöglich wäre, so
wäre damit zugleich besiegelt, dass auch die Ableitung des Real-
n6
Hegel
princips aus dem Idealprincip unmöglich ist, und der Panlogismus
die wirkliche Welt nicht zu erklären vermag.
Die Natur ist die logische Idee im Zustande des Ausser-
einanderseins der in der logischen Idee ineinander seienden Denk-
bestimmungen, und dieses begriffliche Aussereinander stellt sich
als räumliches Nebeneinander und zeitliches Nacheinander dar.
Das in der Natur sich offenbarende Realprincip ist also das
räumliche und zeitHche ^sich Ausbreitend^, dessen Ergebnis die
raumzeitliche Ausdehnung ist, d. h, das spinozistische Attribut
der extensio. Der Unterschied von Spinoza ist ein zwiefacher.
Einerseits ist das Aussereinandersein oder die extensio nicht ein
gleichberechtigtes Princip neben dem Denken, sondern ein ledig-
lich vom Denken als sein Widerpart Gesetztes, Andererseits ist
sowohl das Denken wie das Aussereinandersein nicht Attribut
einer Substanz, die als unvordenklich seiende metalogisch heissen
müsste, sondern das absolute Denken ist selbst das letzte, hinter
dem nichts anderes mehr zu suchen ist. Wäre es anders, so
wäre das Logische nicht das Absolute, alles Seiende, so hätte es
eine Grenze und Schranke an dem unvordenklichen Sein der
Substanz, so hätte der Panlogismus eine Lücke oder Ausnahme.
Eine Substanz hinter der Vernunft darf weder in dem Sinne
angenommen werden, den Hegel der spinozistischen Substanz
unterlegt, nämlich dem eines Gegenständlichen oder Objekts für
das Denken, noch auch in dem Sinne eines tragenden und aus-
übenden Subjekts der Denkthätigkeit Denn Objekt und Subjekt
sind ja ftir Hegel, ebenso wie für Fichte und Schelling, lediglich
die Produkte der phänomenalen Spaltung des Denkens, bewusst-
seinsimmanente Erscheinungen für das Denken selbst. Der sich
selbst bewegende Begriff, oder die als reine Thätigkeit zu
denkende Vernunft ist sowohl das Objekt wie das Subjekt
(Vn 2, 13; V, 9) und damit die Wahrheit der Substanz (V, 6, 31).
Das Denken wird nur dadurch zum Subjekt, dass es als Denken-
des vorgestellt wird, und der einfachste Ausdruck des existieren-
den Subjekts ist das Ich (VI, 34). Begriff oder Subjektivität und
Objekt sind an sich identisch, weil sie beide das Denken sind;
nur im Fürsichsein, als Erscheinung für das Beuusstsein sind sie
verschieden (VI, 362)* Die Subjektivität beginnt nach Hegel
schon in der organischen Individualität, insofern hier das All-
gemeine bei sich selbst bleibt, in der Berührung und dem Prozess
Hegel.
217
mit der äusseren Welt sich selbst erhält (VII i, 550). Deutlicher
tritt das Subjekt als Selbstgefühl im Tiere hervor, ist aber hier
noch nicht Selbstbewusstsein als sich selbst Denken oder Ich
(VII 1, 551}. Auf allen Stufen bleibt es jedoch bewusstseins-
immanente Erscheinung für das Denken, also ein Produkt des
Denkens, ist aber keinenfalls sein Produzent und Träger, —
Eine Welt der Wirkhchkeit, die nur vom Denken fürs Denken
produziert wird, kann nicht ausser dem Denken sein. Alles Sein
ist nur Gedachtwerden, und was nicht gedacht ist» das ist nicht.
In der Welt der Wirklichkeit ist einerseits kein Inhalt, der nicht
durch Auseinanderlegen der reinen Denkbestimmungen der logi-
schen Idee hervorgebracht wäre, und andererseits ist dieser Inhalt
nur wirklich für ein bewusstes Denken, das ihn auffasst Die
Natur ist nur in dem Geist und für den Geist wirklich; abgesehen
von ihrem Vorgestelltwerden ist sie nicht wirklich, sondern eine
blosse Möglichkeit, die nach allen ihren Bestimmungen in der
absoluten Idee enthalten ist. Wenn sie für irgend einen be-
wussten Geist Wirklichkeit gewinnt, so muss es eine solche sein,
wie sie durch die ewige Vernunft bestimmt ist Da die Indivi-
dualseele nur die individuell bestimmte Weltseelc ist (VII 2, 146»
175 — 176), so begreift sich daraus die Übereinstimmung der Natur
in allen Seelen, vorbehaltlich ihrer individuell verschiedenen Auf-
fassung. Für alle Geister, die sich zur Stufe des begreifenden
Erkennens hindurchgerungen haben, sind die vielen Ichs zur
Einheit des allgemeinen Selbstbewusstseins verschmolzen, und
hat der Geist nicht mehr einen Gegenstand, sondern nur noch
eine Bestimmtheit in seinem selbsterzeugten Wissen (VII 2, 275,
283—287, 291).
So führt der Panlogismus zu einem metaphysischen absoluten
Idealismus (VI, 315), der, wenn er auch den subjektiven Idealis-
mus im Sinne einer subjektiven Besonderheit aufhebt, doch in
erkenntnistheoretischer Hinsicht transcenden taler Idealismus bleibt
Er leugnet jedes von aussen an den Geist kommende Objekt,
jede wirkHche Selbständigkeit und Widerstandsfähigkeit des Ob-
jekts gegen das Subjekt (VIT 2, 289, 295, 271), jede bewusstseins*
transcendente Kausalität (VII 2, 302) und setzt alles, was dem
gemeinen Menschenverstand als wirklich gilt (z. B, die sinnliche
Existenz der Dinge, Materie, Bewegung) zum blossen Schein im
Bewusstsein und für das Bewusstsein herab (II, 104; VII i, 16;
VI. 144). Andererseits erhellt daraus, dass es eine Natur im er-
kenntnistheoretisch transcendenten Sinne, ein System von Kräfte-
verbindungen jenseits des Bewusstseins» durch dessen transcen-
dente Kausalität erst die wahrnchmungsfähigen Individuen zur
Produktion ihrer bewusstseinsimmanenten Erscheinungs weiten ge-
nötigt würden, überhaupt nicht giebt und nicht geben kann. Die
einzige existierende Natur ist diejenige, welche im Bewusstsein
für das Bewusstsein erscheint, und darum hat auch die wirklich
existierende Natur alle diejenigen Eigenschaften, die das Bewusst-
sein ihr beilegt, z. B. die sinnlichen Empfindongsqualitäten.
Der Panlogismus vermengt notwendig das subjektive und
absolute, individuelle und universelle, bcwusste und unbcwusste
Denken, Da alles Objekt nur für den Geist ist, und der Geist
alle Objektivität ohne transcendente äussere Einwirkungen rein
aus sich herauszuspinnen hat, so muss notwendig das unbewusste,
universelle, absolute Denken in allen Individual geistern das aus-
schliesslich Aktive und Produzierende sein, wenn irgend welche
Übereinstimmung der subjektiv idealen Erschcinungswelten in
den verschiedenen Bewusstseinen dabei herauskommen soll. Das
individuelle Bewusstsein schaut passiv dem Schauspiel zu, das
der aktive und produktive Geist vor ihm aufführt Der einzelne
denkt nicht etwa reproduktiv die Schöpfung nach, die von der
absoluten Vernunft ausser ihm vollzogen ist, sondern die un-
bewusste Genesis der Natur und des Geistes aus der Vernunft
vollzieht sich in jedem einzelnen. Das subjektive, bewusste,
individuelle Denken hat nichts weiter nötig, als den falschen
trügerischen Schein der Besonderheit, SinnUchkeit, Zufälligkeit
und Vereinzelung abzustreifen, damit das allgemeine Selbst-
bewusstsein herausspringt, das in seiner Form ebenso universell
ist, wie sein Inhalt die wahre Objektivität, das wahrhaft Wirk-
liche ist.
So lange der Mensch in seinem Meinen dem Schein und der
Unwahrheit verfallen bleibt, ist sein Denken freilich von dem
absoluten Denken verschieden, das die Wahrheit und Wirklich-
keit selbst ist. Sobald er sich aber in seinem Bewusstsein zum
reinen Denken erhebt, ist das vom ihm Gedachte nicht bloss der
Wirklichkeit adäquat, sondern es ist mit ihr numerisch identisch,
weil sein Geist nun als absoluter Geist ist und sein Bewusstsein
jetzt die Eine absolute Persönlichkeit des Geistes darstellt. Der
■
Hegel.
219
Panlogismus Ist also zwar in Bezug auf alle noch unterhalb der
Stufe des reinen Denkens stehen gebliebene Erkenntnis transcen-
dentaler Idealismus, in Bezug auf das reine Denken aber naiver
Realismus. Und zwar ist er naiver Realismus sowohl nach Seiten
des Objekts wie des Subjekts; denn das rein Gedachte ist das
Wirkliche und der rein Denkende ist deis absolute Subjekt, und
beide sind im Akt des reinen Denkens identisch. In Bezug auf
die dem falschen Schein angehörigen, individuell -partikulären
Weltanschauungen ist der Panlogismus erkenntnistheoretischer
Dualismus, weil das Inadäquate und Unwahre in der Vorstellung
etwas anderes ist, als das wahrhaft Wirkliche, welches doch da-
durch für das Bewusstsein vorgestellt werden soll. In Bezug auf
das rein Gedachte aber ist der Panlogismus erkenntnistheore-
tischer Monismus, weil und sofern er naiver Realismus ist. Wer
das bewusste, individuelle Denken mit dem unbewussten, abso-
luten Denken identifiziert, der muss eben auch den Inhalt und
das formelle Subjekt beider identifizieren. —
Hieraus erhellt schon, dass der Panlogismus notwendig zu
einem Universalismus führt, in welchem das Individuelle weder
Wert noch Interesse hat. Es kommt lediglich auf den Prozess
des absoluten Denkens an, der sich vom universellen Ausgangs-
punkt zu universellem Ziel hin vollzieht Dass der Durchgang
durch das Individuelle unvermeidlich ist um von der unbewussten
und unpersönlichen logischen Idee zur selbstbewussten Persön-
lichkeit des absoluten Geistes zu gelangen, ist richtig; aber dieser
Durchgangspunkt ist das der Idee Unangemessene und Unwahre,
das möglichst rasch durchschritteo und wieder abgestreift werden
muss. Der Geist hat sich dieser Durchgangspunkte seiner Ent-
stehungsgeschichte wohl zu schämen, wenn er sich zu lange von
ihnen düpieren lässt, aber er hat keinerlei Grund, mit Schonung
oder gar mit Zärtlichkeit und Rührung auf sie zurückzublicken.
Allen individualistischen Ansprüchen und Interessen muss der
Panlogismus auf das schroffste entgegentreten. Selbst das Ich
kennt er nur als den abstrakten Begriff des Ich, der bei allen
Menschen ein und derselbe ist; die unsagbare Partikidarität
dieses bestimmten Ich, auf welche der Individualismus allen
Wert legt, verwirft der Panlogismus gerade als das Unwahre.
Das Unsagbare am Ich, das sich in die Maschen des Begriffs
nicht einfangen lässt, ist ebenso wie das Unsagbare am sinnlichen
220
Hegel.
-Dieses«» ^Hier« und ^Jetzt^ etwas völlig Vernunftloses, daaj
darum gänzlich der Wahrheit und wahrhaften Wirklichkeit ent-
behrt, und an dem nur das am Scheine und der vernunftlosen
Zufälligkeit haftende sinnliche Bewusstsein ein Interesse nimmt.
Der Panlogismus ist nicht nur Begriffsrealismus im mittelalter-
lichen Sinne des Wortes» er muss sogar allem, was nicht BegriflFI
ist, und soweit es nicht Begriff ist, die Realität absprechen. Nur]
ein logisches Idealprincip, das ein koordiniertes Unlogisches sich
gegenüber hat und von der Beziehung zu diesem Impulse em-
pfingt, kann zu einem anschaulich erfüllten Denken gelangen;
ein Logisches aber, das auf sich allein angewiesen ist. wnrd es.^^j
wenn es überhaupt zum inhaltvoUen Denken kommt, doch sicher^^H
lieh nicht über formale Denkbestimmungen genereller Art, Kate- ^^
gorien, hinausbringen, die, weil sie keinen anderweitigen Stoff
zu ihrer Anwendung finden, ewig formal und generell bleiben
müssen. ^M
Der ganze Reichtum der Erfüllung, durch welche diese^^
Formen erst zur Anschauung werden, ist aus dem logischen
Princip allein nicht abzuleiten. Dies gilt nicht nur für die |
sinnlichen Empfindiiogsqualitäten, mit denen die sinnliche An-
schauung des bewusstcn Geistes den Kategorien zur Konkre-
tion verhilft, sondern auch für die reinen Anschauungsformen']
Raum und Zeit, durch welche die intellektuelle Anschauung
des absoluten Denkens erst konkret wird. Es ist ein gross-
artiger Zug in Hegel, dass er Raum und Zeit mit richtigem
Denk Instinkt aus den Kategorien der rein logischen Idee aus-
geschieden und auf die Seite der unlogischen Existenzweise der
Idee, auf die Natur, verwiesen hat, obwohl er damit die Sphäre
der logischen Idee in bedenklichster Weise ins Schattenhafte ver-
flüchtigte. Dass die logische Idee intellektuelle Anschauung sei,
wird ja offenbar zur unhaltbaren Fiktion, wenn man ihr das
einzige entzieht, wodurch die reinen Denkformen konkret und
damit intuitiv werden können, Räumlichkeit und ZeitlichkeiL
Sein Fehler liegt nicht darin, dass er Raum und Zeit aus der
logischen Idee ausschied, weil er sie als unlogisch erkannte»
sondern darin, dass er alle übrigen Kategorien, die ebenfalls von
der Beziehung zum Unlogischen abhängig sind, in der rein logi-
schen Idee Hess, obwohl er diese ihre Abhängigkeit vom Un-
logischen sich nicht verhehlte. Anderenfalls hätte er aber die
i^
Hegel,
221
absolute Leerheit und Inhaltlosigkcit des rein Logischen an-
erkennen, den Unterschied der logischen von der konkreten
Weltidee aufgeben müssen und die Kategorien nur als die der
konkreten Welt Idee immanenten Denkbestimmungen be-
handeln dürfen.
Der Panlogismus hebt nicht nur den Wert des Individuellen
und der sinnlichen Anschauung auf, sondern auch den der Ge-
fühle, des Gemütslebens und der Willensseite des Geistes. Über
Gefühl und Gemüt kann Hegel sich nicht verächtlich genug
äussern, als über die unmittelbarste und schlechteste Weise, wie
das Wahre ins Bewusstsein treten kann; einer axiologischen
Wertbemessung der Welt, die sich auf Gefühle stützt, spricht
er deshalb jeden Wert und jede Berechtigung ab. Der Schmerz
ist nur der empfundene Widerspruch, das Übel oder das Un-
angenehme ist die Unangemessenheit des Seienden zu dem,
was es sein soll, also ebenfalls ein Widerspruch {VII 2, 25,
564 — 365). Ist nun der Widerspruch selbst ein unentbehrliches
Moment der Vernunft, und die Vernünftigkeit der einzige Wert-
massstab, der im Panlogismus geduldet werden darf, so sind
alle Klagen über das Leid der Welt und ihre Schmerzen
nicht bloss thöricht, sondern eigentlich eine Sünde gegen den
heiligen Geist des Panlogismus. Der Panlogismus kann gar nicht
umhin, einseitiger Intellektualismus zu sein und das Gefühl als
einen des Gedankens unwürdigen Bestandteil des Scheines bei-
seite zu schieben. —
Der Panlogismus muss sich auch darin als Intellektualismus
behaupten, dass er den Trieb, das Begehren und den Willen im
menschlichen Geiste nicht als etwas Selbständiges neben dem
Denken gelten lässt, sondern aus diesem ableitet. Auch hier
hilft der Widerspruch aus, der einmal als Moment ins Logische
hereingenommen ist Was die Welt überhaupt bewegt, ist der
Widerspruch, weil das Logische, das ihn setzt, auch notwendig
die Tendenz hat, ilin durch Aufhebung zu überwinden (VI, 242).
Die aus dem Widerspruch entspringende Tendenz zur Aufhebung
des Widerspruchs ist für die Empfindung Trieb oder Begierde
(VII 2, 270), wie der empfundene Widerspruch selbst Schmerz
oder Übel ist. Der Wille ist nichts als das Insichgchen der
InteUigenz, die sich als das Bestimmende des seienden Bewusst-
seinsinhalts weiss (VII 2, 358), Das Denken ist die Substanz des
Willens; nur fiir die Vorstellung, die den Überg*ang vom einen
zum anderen nicht zu fassen vermag, fallen beide auseinander
(VII 2, 358). Der Wille ist dadurch von der Vielheit der Triebe
unterschieden, dass in ihm die Vernünftigkeit sich in Einem all-
gemeinen Zwecke offenbart, der über die vielen Sonderzwecke
der Triebe übergreift, sei dieser allgemeine Zweck nun die indi-
viduelle Glückseligkeit oder das sittlich Gute (VIT 2, 371 — 373;
VI, 405 — 407). Der Wille wird frei, indem er den Schein durch-
schaut, als ob er et\vas anderes wäre als Denken, und sich als
Selbstbethätigung der Vernunft begreift; denn damit erhebt er
sich über die zufälligen Besonderheiten des individuellen Trieb-
lebens zur Allgemeingültigkeit seines Inhalts. Der Wille fände
freilich nichts zu thun, wenn er nur Widersprüche aufzuheben
hätte und keine neuen setzte: erst im beständigen Setzen und
Wideraufheben der Widersprüche ist Welt vernünftig im Sinne
des Panlogismus und der Wille hat sich ebenso an den Anti-
thesen wie an den Synthesen zu bethätigen, da beide durch die
Lebendigkeit des Subjekts hervorgebracht und erst aus dieser in
die Objektivität übersetzt werden müssen (VII 2, 371, 370).
Das Wollen im weitesten Sinne ist also aus dem Unlogischen
abgeleitet, und jeder Panlogismus, der nicht das Unlogische als
ein vom Logischen Gesetztes in die Vernunft hereinnimmt, ist zu
solcher Ableitung unfähig* Erst durch die Existenz des Un-
logischen wird die logische Tendenz zu seiner Überwindung
wachgerufen. Es begreift sich leicht, dass solche Tendenz sich
als Wollen äussern muss, wo einmal die Vernunft zum Inhalt
eines sie realisierenden WoUens geworden ist, aber schwer, wie
die logische Verurteilung des Unlogischen sich realisieren soll,
wo es an einem Wollen fehlt, dem die Vernunft sich zum Inhalt
geben» und dessen sie sich als Werkzeug zur Vollstreckung ihres
Urteils bedienen könnte. Noch schwerer aber begreift es sich,
wie die Vernunft dazu kommt, von sich aus das LTnlogische zu
setzen, d. h. demjenigen reale Existenz zu geben» was sie sich
sofort bemülien muss, wieder aufzuheben. Der Wille innerhalb
der logischen Idee ist erst der BegriflF, oder das Ansich» oder die
Möglichkeit, oder der reine Gedanke des Willens, aber noch
nicht der wirkliche Wille, Dieser tritt zum ersten Male auf, wo
die logische Idee in das absolute Gegenteil ihrer selbst, in die
unlogische, reale Existenz der Natur umschlägt, wo der Trieb,
^
HegcL
123
ihre blosse Idealität aufzuheben, in ihr erwacht (V, 352), und sie
sich entschliesst, sich als Natur frei aus sich zu entlassen
(VI, 414). Aller Wille in Natur und Geist ist nur Folgeerschei-
nung' dieses ursprünglichen Willensaktes. —
Die Frage ist also, weshalb die Idee die Tendenz hat, sich
in eine ihr widersprechende Form, in ihr Gegenteil zu stürzen
(VII 2, 30). Mit anderen Worten: wie kommt das Allgemeine
zur besonderen Selbstbestimmung, das Unendliche zur Verend-
lichung, Gott zur Weltschöpfung (VII 1, 21)? Warum setzt der
Geist selbst die EndHchkeit, d, h, das Scheinen innerhalb seiner,
jene Schranke, die wieder aufgehoben werden muss (VII 2, 36)?
Die Natur ist ein seiender Widerschein der Idee (VI, 414), ein
Abfall von der Idee und der unaufgelöste Widerspruch, an dem
alles Endliche zu Grunde geht (\^I 1, 28, 27); nicht Freiheit
wohnt in ihr, sondern der Widerspruch zwischen der Notwendig-
keit der Naturgebilde und der begriff losen Zufälligkeit eines
regellosen, zügellosen und ungebundenen Formenspiels (VII i,
^9» 30» 3^)- I" <i^r Natur ist der Begriff zu schwach und zu
ohnmächtig, sich in seiner Ausführung festzuhalten (VII i, 652,
37 — 3^)1 darum ist das Leben des Lebendigen verkümmert, un-
sicher, angstv^oll, unglücklich, krank von Haus aus und mit dem
Keim und der Notwendigkeit des Todes behaftet (VII 1, 654,
652, 691 — 693}, Trotz alledem muss die logische Idee durch
diesen Durchgangspunkt hindurch, den Hegel so wenig über-
einstimmend mit dem Panlogismus scliildert, weil sie sich zum
Geist vollenden und als Geist bewähren will, und dies nur ver-
mittelst der Überwindung ihres Gegenteils vermag (VII 2, 25,
30—31; II, 611).
Es fragt sich also weiter: welche Vorzüge hat der Geist vor
der logischen Idee, dass um ihretwillen die Übelstände der Natur
von der Idee mit in den Kauf genommen werden? Die Antwort
lautet: der Geist ist bewusst und persönlich, während die logische
Idee noch unbewusst und unpersönlich ist. Es ist unrichtig» mit
der gewöhnlichen Logik die logischen Formen nur als Bestim-
mungen des bewussten Denkens aufzufassen, da sie noch frei sind
von dem Gegensatze des Bewusstseins (VI, 318 — 319; III| 37)-
Auch in der Natur darf man nur ein System bei^^sstloser Ge-
danken, oder besser Denkbestimmungen, sehen und darf den
natürlichen Dingen darum, weil das Allgemeine in ihnen Begriffs*
224
HegeL
momente sind, noch kein Bewusstsein zuschreiben (VI, 46, 45).
Auch in der Geschichte des Geistes vollbringt sich der ver-
nünftige Zweck und Plan der Weltgeschichte noch durch einen
bewusstlosen instinktiven Trieb der Individuen, der sie als Mittel
zu einem ihnen unbewussten Zwecke dienen lässt, w^ährend sie
ihren bewussten Zwecken zu dienen glauben (Phil* d, Gesch*, 31, 32).
Ebenso ist die künstlerische Phantasie noch eine Weise instinkt-
artiger Produktion und bewusstlosen Wirkens {Ästh.» I, 53). Erst
dadurch entsteht das Bewusstsein, dass die unbestimmte all-
gemeine Seele sich individualisiert (VII 2» 52), und dieser zum
Ich individualisierten Seele die Gegenstände, die durch Selbst-
teilung des Geistes in Ich und Nichtich gesetzt sind, als nicht
selbstgesetzte, sondern von aussen gegebene, selbständig seiende
erscheinen (VII 2, 252).
Die unbewusste logische Idee geht also durch die unbewusste
Natur hindurch, um als Geist zum Bewusstsein zu gelangen, das
als Wissen von der Identität ihres Gegenstandes mit sich selbst
zugleich Selbstbewusstsein ist (VII 2, 285). Sie muss sich zuerst
zur Natur besondern imd dann in der individuellen Vereinzelung
das Besondere mit dem Allgemeinen wieder zusammenschliessen.
Indem das Selbstbewusstsein reines Denken wird und das All-
gemeine zu seinem Gegenstande nimmt, erhebt es sich selbst
über seine Individualität zur Allgemeinheit, und so w^ird auch
das Ich zum allgemeinen, in allen Individuen identischen Ich
(VII 2, 283 — 284, 275), Das allgemeine Selbstbew^usstsein oder
Ich ist zugleich die absolute Persönlichkeit des Geistes; denn
das Princip der Persönlichkeit ist die Allgemeinheit {VI, 322).
In diesem Selbstbewusstsein des Geistes findet also das Absolute
oder Gott seine Persönlichkeit, d. h. in einem dem reinen Denken
und allen rein denkenden Menschen zukommenden allgemeinen
Gedanken, nicht etwa in einem besonderen empirischen Ich
(VI, 129)*) Gottes sich Wissen ist sein Selbstbewusstsein im
Menschen, d. h. das Wissen des Menschen von Gott, das zugleich
ein sich Wissen des Menschen in Gott ist (VII 2, 448). Als
logische Idee ist das Absolute noch nicht Gott, sondern sie ist
•) Damm kann auch bei Heg^l nicht von der zeitlkhen Fortdauer des empirischeDt
besonderen indmduclk-n Ich, sondern nur von dem cwigeo Leben des allgemeinen Idi,
der absoluten Persütdichkeit des Geisles die Rede sein, die ihre Wirklichkeit nur in
dem gesaroten Reiche der endlichen Geister hat»
HcgeL
225
CS erst als Geist, der sich selbst weiss, also erst nach dem Durch-
gang durch die Natur, Die logische Idee ist erst der an sich
seiende Geist, noch nicht der wirkliche Geist (VII 2, 22, zg), und
alle ihre Kategorien enthalten reine Abstraktionen (VI, 28) oder
nur mögliche Denkbestimmungen, die erst bei der Anwendung
der logischen Idee auf Natur und Geschichte (VI, S. XIII) Wirk-
lichkeit erlangen. In diesem Sinne ist auch die sich wissende
Subjektivität oder I'ersönlichkeit im Bereiche der logischen Idee
als eine bloss mögliche, abstrakte Denkbestimmung zu betrachten,
die erst in der wirklichen Welt realisiert wird und ihre eigent-
liche Erfüllung erst in der Geschichte der Philosophie findet
PCV, 686, 691).
Ohne Zweifel erscheint für den menschlichen Erkenntnistrieb
das Bewusstsein und Selbst bewusstsein der Idee als etwas Höheres»
Vollendeteres als ihr unbewusstes Ansichsein, besonders im Sinne
eines Intellektualismus» der in der Erkenntnis das höchste denk-
bare Ziel der Entwickelung sieht und selbst an der Persönlichkeit
nur das Allgemeine, Intellektuelle zu schätzen weiss, das Indivi-
duelle aber missachtet. Für einen Geist, der so veranlagt ist,
dass der Drang nach Erkenntnis die mächtigste charakterologische
Bcthätigung seines Willens darstellt, ist es ganz begreiflich, dass
er in dem Sich -Wissen dessen, was er an sich ist, die Vollendung
und Bewährung seines Seins erblickt. Aber dabei ist doch immer
schon ein Wille, und zwar ein Wille zum bewussten Erkennen
vorausgesetzt. Die Frage ist nur: welches Recht hat der Mensch,
seinen Erkenntnistrieb der unbew^ussten Vernunft zu unterstellen,
wenn dieselbe zunächst bloss logisches Formalprincip sein soll?
Wie kommt das unbewusste substantielle Wissen dazu, sich als
tdas, was es ist, auch betrachten zu w^oüen, welches Interesse hat
es aus reiner Vernunft an solcher Selbstbespiegelung? Für uns
und unsere Bestimmung mag ja das Bewusstsein das Höhere
sein, aber warum sollte aus reiner Vernunft das bewusste Wissen
einen Vorzug haben vor dem unbewussten?
Kann das wirklich eine Vollendung und Bew^ährung heissen,
wenn die logische Idee sich in die ihr unangemessene, also un-
wahre Daseinsform des Aussereinander stürzen, wenn das Be-
P"Wusstsein mit der Vorspiegelung eines unwahren trügerischen
Scheines erkauft werden muss? Mag immerhin das reine Denken
in seiner theoretischen Abstraktion die Unwahrheit des sinnlichen
£. V UartmADtt, Aa%6w. W«rk«. Bd. XU^ 15
226
HcgftL
Scheines und der Vorstellung überwinden und sich in gehobenen
Augenblicken als das allgemeine Selbstbewusstsein erkennen; in
seiner konkreten Anschauung bleibt das menschliche Bewnisstsein
für gewöhnlich doch dem theoretisch überwundenen Schein einer
selbständigen Aussenwelt und eines individuell beschränkten Ich
verhaftet. Das Sichwissen der Idee ist teuer genug bezahlt mit
einer Entstellung und Verzerrung der Wahrheit, welche von der
Reflexion wohl durchschaut aber nicht vernichtet werden kann.
Erst mit dem Tode des Individuums erlischt der Schein der
Aussenwelt und des empirisch beschränkten Ich und tritt die
Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist (III» 56),
wieder an ihre Stelle; der Tod ist aber die Rückkehr der im
bewussten Geist verzerrten und entstellten logischen Idee zu sich
selbst Die Vernunft, das logische Formal princip ist an und ftir
sich völlig gleichgültig gegen Wissen und Nichtwissen, Bewusst-
heit und Unbewusstheit, ebenso wie sie gleichgültig ist gegen
Ruhe und Thätigkeit, Verschlossenbleiben und sich OfFenbaren»
Nichtsein oder Sein eines Prozesses und einer Welt. Der Panlogis-
mus ist unfähig, das Eintreten der Vernunft in den Prozess zu
erklären, weil er unfähig ist, den Umschlag des Logischen in
das Unlogische zu erklären.
Lassen wir die Erklärung des Umschlags beiseite, so ist es
klar, dass der Prozess darin besteht, das zunächst unbewusste
Absolute zum Bewusstsein zu bringen, oder, wie Hegel sagt» die
Substanz zum Subjekt zu erheben. Die unbewusste logische
Idee ist nur der abstrakte Inbegriff der gedanklichen Möghch-
keiten, die erst in der Natur und im Geiste zu wirklichen
immanenten Denkbestimmungen werden; konkret wird dieses
System der Kategorien erst in der bewusstlosen Natur und dem
bewussten Geiste. Die logische Idee ist also das genetische
Prius der Natur und des Geistes, aber nicht ihr zeitliches Prius.
Der ewige Prozess ist vielmehr ein simultanes Strömen nach
zwei entgegengesetzten Richtungen, die sich schlechtliin in Einem
begegnen und durchdringen (VII 1, 41), Die logische Idee isi
ebensowohl das Omega wie das Alpha, das letzte wie das erste
(VII I, 32); denn in der höchsten Blüte des Geistes ist die
logische Idee das letzte Resultat, zu dem der Geist sich erhoben
hat» indem er sich als sie weiss (VI, 468). Ebenso einseitig ist
es aber auch, den absoluten Geist nur als das letzte zu betrachten,
Hfget.
227
da er ebensowohl das erste, d* h, als der Zweck der Natur ihr,
freilich nicht empirisches, wohl aber Ideelles Priiis ist (VII 1,
^96— 697). In demselben Sinne ist überall das Konkrete das ideeUe,
teleologische Prius des Abstrakten (VII 2, 46, 211 — 212), und es
ist nur das Bedürfnis und die Bequemlichkeit unseres diskursiven
und abstrakten Denkens, wenn wir den Weg vom Abstrakten
und Einfachen zum Konkreten und Verwickelten dem umge-
kehrten vorziehen, um uns die zu setzenden Begriffsbestimmungen
einzeln klar zu machen, ehe wir sie zusammenfassen (VII i, 41).
Genauer ist nicht bloss eine zweifache, sondern eine dreifache
Betrachtungsweise möglich. Erstens ist die logische Idee die Sub-
stanz der Natur wie des Geistes, die beide setzt und durchdringt.
Zweitens ist die Natur die Wirklichkeit, an welcher auch die lo-
gische Idee erst konkrete Wirküchkeit gewinnt, und durch welche
erst der Geist vermittelt ist. Drittens ist der Geist das Ziel, um
dessentwillen die logische Idee sich erst in den Prozess der Be-
sonderung begeben, die Natur gesetzt hat Hegel drückt das in
seiner Weise so aus. dass das Verhältnis der drei Glieder drei
Schlüsse seien, in deren je einem je eines der Glieder die Mitte
bilde, welche die anderen beiden zusamraenschliesst (VI, 353 — 354,
412 — 413; VII 2, 468 — 469), Es geht daraus so viel hervor, dass
Hegel das Verhältnis der drei Glieder des Absoluten durchaus
nicht als einen Prozess im zeitlichen Sinne, sondern lediglich als
ein ewiges logisches Verhältnis aufgefasst wissen will, dessen
Glieder gegeneinander (mit einer gewissen Änderung des Sinnes
ihrer Beziehungen) vertauschbar sind. Dieses Verhältnis kann
demnach auch noch nicht eigentlich Entwickelung genannt werden,
da eine solche ohne zeitlichen Verlauf nicht zu denken ist. —
In der logischen Idee selbst ist keine Entwickelung, denn es
ist keine Zeit und keine Geschichte in ihr. Der BegriflF der Ent-
wickelung als abstrakte Denkbestimmung oder blosse Möglichkeit
für eventuelle Anwendung in der Welt hat in der logischen
Idee allerdings seinen Platz, aber doch auch nur in dem Sinne,
dass die Selbstbewegung des Begriffes hier gleichsam nur ein
Spiel ist, da er in seiner Form Veränderung bei sich selbst bleibt
und nichts inhaltlich Neues hervorbringt (VI, 317 — 318)* Hegel
nennt die logische Idee zwar einen Prozess (VI, 390), bemerkt
aber selbst, dass die Bewegung des Begriffs nicht zeitlich ist
(VI, 389). Das bedeutet aber nichts weiter, als den ewigen Be-
228
Hegel.
griiF des Prozesses oder der Gedankenbewegung im ruhenden
Verhältnis seiner Momente zu einander, oder die Prädetermination
der Art und Weise des Prozesses für den Fall seines wirklichen
Eintretens. Anders ausgedrückt: wenn der menschliche Geist die
logische Idee betrachtet und sich ihre Momente philosophisch
klar machen will, kann er dies nur durch eine subjektive Ge-
dankenbewegung, oder einen Denkprozess. der ihre Momente in
einer Weise durchläuft, welche durch das ewige Verhältnis
derselben zu einander bestimmt ist. Dass dies geschieht, ist
dann weiterhin nichts Zufälliges i sondern im We^en des Geistes
belegen, also auch im Wesen der Idee, da der Geist selbst nur
die für sich seiende Idee, und die Idee nur der an sich seiende
Geist ist (VII 2, 22, 25).
In der Natur ist zwar zeitliche Veränderung, aber nach Hegel
keine Geschichte und darum auch keine Entwickelung zu finden.
Die Natur hat ein Nebeneinander verschiedener Stufen; aber die
Stufen gehen nicht auseinander hervor, und Metamorphose giebt
es nur im Individuum (VII i, 32 — 35), Individuum und Gattung
stehen ganz wie bei Schelling im Widerspruch zu einander; nicht
der Generationsprozess, der w'ieder nur ein Einzelnes hervor-
bringt, sondern nur der Tod, der das Individuum in die AJlge-
meinheit der Gattung wieder aufhebt, löst diesen Widerspruch
(Vn I, 645, 648}. Das Sterben ist die Vollendung des Einzelnen,
das sich damit zum Allgemeinen macht, aber die Allgemeinheit
nicht ertragen kann, und die Gegensatzlosigkeit erst in der Ruhe
des Todes erreicht (VII, 693—694). Aber diese Vernichtung der^
Einzelheit kann nicht ihre erhaltende Aufliebung, nicht die ^H
lebendige Versöhnung des Allgemeinen und Einzelnen hervor-
bringen, die sich im bewussten Geist vollzieht. Der dialektische
Übergang von der Natur zum bewussten Geiste ist Hegel ebenso*
wenig gelungen, wie der von der logischen Idee zur Natur (VTI i,
694^696; VII 2, 18). Das Sterben ist nicht Erwachen des Be-
wusstseins, sondern sein Wiederlöschen; das Bewusstsein entspringt
nur aus dem Leben, nicht aus dem Tode und hat mit der Inkon-
gruenz von Individuum und Gattung gar nichts zu thun.
Die Entwickelung beginnt erst mit dem bewussten Geiste,
weil er allein nach Hegel eine Geschichte hat. Das ganze Ge-
schäft der Weltgeschichte ist die Arbeit, den innersten, bewusst-
Tosen Trieb» in welchem der vernünftige Zweck w^altet, zum
Hegel.
229
iewusstsein zu bringen (PhiL d. Gesch., S. 31). Dies ge-
schieht stufenweise in der Entwickelung des Individualgeistes,
der objektiven sozialethischen Institutionen (Recht, Staat u. s. w,)
und der Kunst, Religion und Philosophie. In der (ieistes-
philosophie allein ist also die Stätte des EntwickelungsbegrifFes
bei Hegel, in ihr hat er ihn aber auch in so glänzender
Weise durchgeführt und zur Anerkennung gebracht» dass seit-
dem die ganze Kulturwelt direkt oder indirekt von diesen
Leistungen des Hegeischen Genius gezehrt hat. Die moderne
Naturphilosophie hatte nur nötig, den Entwickelungsbegriff auch
auf das Gebiet der Natur zu übertragen. Wenn in der Geistes-
geschichte alle, Entwickelung auf einer Erhebung des anfänglich
Bewusstlosen zum Bewusstsein beruht, so tritt die Entwickelung
der Natur aus bewusstlosen Stufen zu solchen, die dem bewussten
Geist als Grundlage dienen können, nun mit in diesen allgemeinen
Entwickelungsprozess ein. In diesem Sinne ist auch die Hegel-
sche Philosophie Philosophie des Unbewussten, und der nächste
Entwickelungsschritt der Geschichte der Philosophie musste darin
bestehen, die^e unbewusste Philosophie des Unbewussten zur be-
wussten Philosophie des Unbewussten zu erheben. —
Wenn nun die logische Idee das genetische Princip ist, aus
dem durch Antithese die Natur und durch Synthese der Geist
entspringt, so kommt es vor allem darauf an, die logische Idee
richtig aufzufassen und zu begreifen, und auf diese Leistung ist
auch Hegel besonders stolz. Die logische Idee muss die Möglich-
keit der Natur imd des Geistes nach allen wesentlichen Denkbe-
stimmungen der beiden letzteren in sich tragen, aber auch wieder
nicht mehr als ihre blosse Möglichkeit, ihr Ansich oder ihren Be-
griflf in der Sphäre des reinen, und zwar unbewussten Gedankens*
Sie nnuss also Natur und Geist gleichsam ideell antizipieren, oder
in einem reinen Gedankenbilde prädeterminieren, das seine Ver-
wirklichung erst dann findet, wenn die logische Idee Uire Sphäre
verlässt und sich ins Anderssein stürzt, um sich als bewussten
Geist zu sich zurückzunehmen.
Die logische Idee selbst braucht in dieser Sphäre der logischen
Möglichkeit nicht mit abgespiegelt zu werden; sie kann es nicht
einmal, weil sie selbst diese ganze Sphäre ist, d. h. der Spiegel,
der alles abspiegeln kann, nur sich selbst nicht Die logische
Idee müsste also eigentlich eine blosse Zweiteilung zeigen in die
230
Hegel.
Möglichkeit oder das Aosich der Natur, wie sie sich ohne Rück-
sicht auf den sie betrachtenden Geist darstellt und in die Mög-
lichkeit des Geistes. Der Geist zerfällt aber nach Hegel in end-
lichen und absoluten Geist; die beliebte Dreiteilung wird also
wiederhergestellt, wenn die logische Idee in das Ansich der Na-
tur, das Ansich des endlichen Geistes und das Ansich des ab-
soluten Geistes gegliedert wird, Hegel nennt diese drei Teile
der Logik die Lehre vom Sein, Wesen und BegriflF. Da er in
dem dritten Teil die Lehre von Begriff, Urteil und Schluss be-
handelt, so nennt er ihn auch die subjektive Logik. Dies ist aber
ungenau und irreleitend, weil nur der erste Abschnitt des dritten
Teils sich mit Begriff, Urteil und Schluss beschäftigt, und oben-
ein sogar es sich zur Aufgabe setzt zu zeigen, dass diese logischen
Formen nicht bloss subjektive Denkformen, sondern zugleich die
Formen sind, in denen das absolute Denken und damit auch das
wirkliche Geschehen in der Welt sich vollzieht, Demgemäss passt
auch die Zusammenfassung der beiden ersten Teile unter den
Namen objektive Logik gar nicht Hegels ganze Logik ist durch
und durch objektiv, ohne darum die Subjektivität einzubüssen. Sie
ist Logologie, d. h. Lehre vom Logos oder vom Logischen, das
sich sowohl in der Objekti\dtät wie in der Subjektivität offenbart,
oder Kategorienlehre (VI, S. Xlll — XIV) ^ d* h, Lehre von den
Kategorien oder Formen oder Denkbestimmungen, in welchen das
Logische sowohl im Okjektiven als auch im Subjektiven sich
offenbart.
Wie die Natur die seiende Idee (VI, 414), so ist das Sein die
Idee der Natur, oder die Sphäre des Seins in der logischen Idee
ist das Ansich der Natur, wenn sie in ihrer Unmittelbarkeit ge*
nommen wird, wie sie als gegeben vom Bewusstsein vorge-
funden wird.
Das Wesen ist zunächst das Ansich des endlichen Geistes,
das Innere, welches sich selbst noch unbewusst ist, aber doch
schon im Gegensatz steht zu dem äusseren Schein, den es aus
sich heraussetzt und diesen auf sich als seine Erscheinung bezieht
Das Wesen ist so zwar noch nicht Fürsichsein (Selbstbewusstsein)»
aber Insichsein (VI, 223, 228); als Identität mit sich im Gegen-
satz zu der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungen (VI» 229) und
als Idealität im Gegensatz zu der Realität seiner Erscheinungen
(VI, 231) ist es die Möglichkeit oder das Ansich oder die Form des
I
H^el.
231
'^ch und damit des endlichen Geistes (VI, 232; VII 2, 247). Als
Ich, d. h. als endlicher Geist, ist der Geist Wesen (VII 2, 252).
Erst mittelbar wird der Begriff des Wesens vom eigenen Ich auch
Inf andere Gegenstände übertragen; indem sie auf eine dem Ich
gleiche Weise bestimmt werden (VII 2. 264), wird auch an ihnen
eine äussere Erscheinung und ein inneres Wesen unterschieden.
Wenn es der Wesen so viele giebt, wie es in sich reflektierte
Existenzen (VI, 250), d, h, Ichs oder als Ichs aufgefasste Gegen-
stände, giebt, so giebt es doch nur Einen Begriff, welcher das
Princip des Lebens, die unendliche schöpferische Form, welche
die Fülle alles Inhalts, alles Sein und alle Wesen in sich beschliesst
und zugleich aus sich entlässt (VI, 324, 315 — 316, 312), Er ist
das schlechthin Konkrete, das Subjekt als solches, das punctum
saliens aller Lebendigkeit (VI, 324, 328), Er ist das Verstehen
seiner selbst und der begrifflosen Gestalt (VI, S. XXVIIIJ und
damit das an und für sich Seiende, wie das an und für sich
Seieode nichts anderes als gewusster Begriff ist (III, 35). Was
in uns denkt, sind nicht wir, sondern der Begriff, und was von
uns gedacht wird, die Gegenstände, sind, was sie sind, nur durch
die Thätigkeit des ihnen innewohnenden und in ihnen sich
offenbarenden Begriffs (VI, 322—323). So ist der Begriff das
Ansich oder die Möglichkeit des absoluten Gebtes oder des Be-
wusstseins von der Einheit des Subjekts und Objekts. —
Hegel versteht dabei unter Begriff nicht die durch Abstrak-
tion vom Besonderen entstandene allgemeine Vorstellung, die er
als hohlen und leeren Schemen und Schatten verachtet, sondern
das sich selbst spezifizierende konkret Allgemeine (VI, 321, 324),
das gleich dem unendlichen oder ewigen Begriff Schellings die
Einheit des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen darstellt
(VI, 323). Der spekulative Hegeische Begriff verhält sich zu den
endlichen Kategorien und einseitigen Abstraktionen des verständigen
Denkens wie bei 'Homer die Sprache der Götter zu der der Men-
schen (VI, S. XVI}. Der Hegeische Begriff ist mit anderen Worten
das logische Formalprincip selbst in seiner dialektischen Bethäti-
gung, während die logische Idee der synthetische Inhalt ist, der durch
diese Bethätigung des Begriffs bis zu dem Umschlag in die Natur
gewonnen wird. Schelling macht diesen Unterschied zwischen
dem sich bethäügenden logischen Formalprincip und der erfüllten
logischen Idee noch nicht, sondern setzt die Ausdrücke unend-
232
Hegel.
licher, ewiger Begriff und Idee einander gleich. Wenn die kon-
krete Idee auch nach Hegel nur die in Natur und Geist ver-
wirklichte Idee ist, und die rein logische Idee nur den Inbegriff
der möglichen Denkbestimmungen darstellt, in welche der BegriflF
oder das logische Formalprincip sich in der konkreten Welt-
idee entfaltet, dann erscheint die inhaltlich erfüllte logische
Idee im Stadium der blossen Möglichkeit lediglich als eine
Zwischenstufe unseres bewussten Denkens, das sich durch ihre
Einschiebung das Verständnis des Zusammenhanges zwischen dem
logischen Formalprincip und der konkreten Weltidee erleichtern
will. In Wahrheit ist auch nach Hegel die logische Idee nichts
weiter als das logische Netz von Kategorien, in welches das
logische Formalprincip bei seiner Entfaltung zur konkreten Welt-
idee deren konkreten Inhalt einspannt, hat aber nirgends eine
selbständige Existenz.
Der Begriff ist dann zu verstehen als das in Natur und Geist
unbewusst thätige logische Formalprincip, wie die logische Idee
als das dem Wcltinhalt unbewusst immanente System der
Kategorien. So verstanden, als unbewusstes Princip der unbe-
wussten kategorialen Intellektualfunktionen in Natur und Geist,
kann man den Begriff mit Recht das konkret Allgemeine nennen.
Aber so geht er nicht in irgend welches Bewusstsein ein. Wenn
das subjektive individuelle Denken sich des Systems der Kate-
gorien und des sich zu ihnen spezifizierenden logischen Formal-
princips bewusst werden will, bleibt ihm nur der Weg der Ab-
straktion und Induktion, auf dem es zuerst die einzelnen Kate-
gorien aus den konkreten Anschauungen herausschält und von
dem System der Kategorien zu dem logischen Formalprincip als
ihrem genetischen Prius aufsteigt. Wenn wir mit unserem Be-
wusstsein das sich spezifizierende konkret Allgemeine denken
wollen, so können wir es nur in der Form eines abstrakt iVllge-
meinen, Was als unbewusst produktives Princip mit intellektueller
Anschauung denkt, das kann vom Bewusstsein nur als ein von
der sinnlichen Anschauung abstraliierter Begriff reproduziert
werden.
Alles dies verkennt Hegel vollständig und hält dagegen mit
Kant, Fichte und Schellin g an dem Irrtum fest, als ob das Be-
wusstsein die unbewussten, intuitiv intellektuellen, logischen Pro-
duktionsvorgänge unmittelbar beobachten könnte. Was bei seinen
Hegel
233
Vorgängern unkritischer Glaube gewesen war, das wird bei ihm
grundsätzliches Postulat, nämlich die Identität des bewussten
und unbewussten, subjektiven und absoluten, individuellen und
universellen Denkens; denn sie ist von ihm, wie oben gezeigt,
als unentbehrliche Voraussetzung der Möglichkeit des Panlogis-
mus begriffen worden. Thatsächlich sind aber auch bei Hegel alle
Bestimmungen, die in der logischen Idee vorkommen, sowohl in-
haltlich aus seiner empirischen Kenntnis der Natur und des
Geistes geschöpft, als auch bestehen sie formell in mehr oder
minder abstrakten Begriffen. Sein Vorgeben, dass in seiner Logik
die Begriffe selbst einander hervorbringen, oder dass der Begriff
sich selbst vom leersten unbestimmtesten Sein bis zur Fülle der
logischen Idee entwickelt, ist offenbare Selbsttäuscliung. Auch
sein Mühlwerk fördert genau nur so viel Mehl zu Tage, wie Korn
aufgeschüttet ist, und wenn es leer ginge, so würde es aus
seinem Räderwerk niemals das kleinste Stäubchen Mehl hervor-
bringen, und wenn es noch so sehr im Takte klapperte. —
Die Logik beginnt mit dem Sein, worunter Hegel die ganz
abstrakte, unmittelbare Realität, d, h. etwas schlechthin Objektives,
Leibliches, Ungeistiges» Natürliches versteht (VII 2, 33, 200, 210)*
Es ist zwar auch so noch ein Moment des Begriffes (VI, 312), das
sich gegenständlich gewordene reine Denken (VI, 168), oder
reiner Gedanke (VI, 166), aber nicht die Aufhebung aller Be-
stimmtheit, sondern die Bestimmuogslosigkeit vor aller Bestimmt-
heit als Allererstes (VI, 166). Dieser Begriff ist die materia prima des
Aristoteles und Plotin, oder der bestimm imgslose Stoff der Natur,
wenn man von ihm noch die beiden Bestimmimgen des in allem
Wechsel Beharrenden und des gegen die Form Passiven abzieht
(VI, 167; IV, 83). Was dann übrig bleibt, ist der reine Begriff des
Gegenstandes, dem alle Bestimmtheiten und Beziehungen abge-
streift sind, d, h. das Kantsche Ding an sich als negativer
Grenzbegriff (VI, 257). Unter Ding versteht Hegel ebenso wie
SchelUng ein nach sinnlichen Verhältnissen Bestimmtes, Natür-
liches und (körperlich und stofflich) Seiendes (VII 2, 50, 199); ein
solches ist» was es ist, natürlich nur durch seine Beziehungen zu
anderen, und wenn ihm diese geraubt werden, so ist es gleich
Nichts (VI, 16S; IV, 131; III, 127). Ohne Zweifel ist der antike
Begriff des Stoffes ebenso wie der Kantsche negative Grenzbegriff
des beziehungslosen Dinges an sich gleich Nichts, weil beide
widerspruchsvoll gebildete Unbegriffe sind und unmögliche
Denkaufgaben stellen. Der Widerspruch steckt somit schon im
Ausgangspunkte» und er muss es, indem dieser Ausgangspunkt
nur die letzte abstrakteste Verflüchtigung des NaturbegrifiFes ist,
der selbst die dem Logischen widersprechende Form des Anders-
seins an sich hat Indem Hegel von dem Sein ausgeht, geht er
von der Kontraposition aus, die das Denken nach panlogistischer
Auffassung sich selbst gesetzt hat Ohne das Unlogische schon
im Ausgangspunkt vorauszusetzen, würde die logische Entwicke-
lung keinen einzigen Schritt thun können.
Wäre bloss das Nichts, so könnte dieses ruhig bei sich be-
harren; wäre das Sein als ein nicht unlogisches, als ein in sich
widerspruchsloses gegeben, so hätte es gleichfalls keinen Grund,
aus sich herauszuschreiten. Nur weil das Sein als ein den
Widerspruch in sich einschliessendes, unlogisches gegeben ist,
wird dieser Widerspruch zum Trieb des Fortschrittes (VI, 170).
Denn dieser Widerspruch ist die Unruhe in sich (VI, 175). das
durchaus Rastlose, ein Feuer, welches in sich erhscht, indem es
sein Material verzehrt (VI, 177). So erweist sich das unlogische
Sein als Werden und Vergehen; das Werden ist das Unlogische
am Sein, das nun, aus dem Sein herausgetreten und sozusagen
abdestilliert ist, das Gegenteil des logischen Gesetzes der Identität
Es liegt hierin die richtige Erkenntnis, dass die Veränderung
einseitig logisch nicht zu erklären ist, sondern als etwas Un-
logisches auf ein Unlogisches zurückgeführt werden muss. —
Wie nun aus dieser rastlosen Unruhe auch nur der flüchtige
Schein eines relativ beständigen Daseins entspringen soll, hat Hegel
nicht deutlich zu machen vermocht. Das unerschöpfliche Material
des Entstehenden müsste zu einem unerschöpflichen Vergehen
führen, ohne dass es in dieser Unruhe auch nur zu dem kleinsten
Ruhepünkte eines Resultates käme. Aber das Dasein ist einmal
in der unlogischen Natur empyisch gegeben , und darum muss
auch sein Begriff in der Entwickelung der logischen Idee vor-
kommen. — Bei jedem weiteren Fortschritt der Logik handelt es
sich wieder um ein Hereinziehen des Unlogischen, durch das
allein der Prozess im Gange erhalten wird. Wie das Sein die
erste noch ganz un bestmimte Weisse der Realität ist, so bedeutet
Realität im engeren Sinne bei Hegel die Bestimmtheit des Seins,
und diese ist auch ihm eine viertache. Das Dasein ist die Realität
Hegel.
235
in der logischen Sphäre des Seins, die Existenz in der des
Wesens» die Objektivität in der des Begriifes und die konkrete
Wirklichkeit der Natur und des Geistes ist die ReaHtät in der
antithetischen Sphäre des Andersseins und der synthetischen
Sphäre des Beisichseins (V. 240, 66, 172 — 177). In jeder der drei
Sphären der Logik muss der Begriff sich genau so in sein Ge-
genteil stürzen, wie die logische Idee es beim Übergang in die
Natur thut; denn nur auf diesem Wege kann die logische Idee
das Abbild oder abstrakte Urbild der wirklichen Welt geben, und
damit ihre Möglichkeit oder ihr Ansich darstellen. — Die Natur ist
auf allen drei Stufen der Hegeischen Logik Gegenstand der Be-
trachtung. Auf der ersten stellt sie sich dar, wie sie unmittelbar
gegeben ist, bevor die Reflexion sich mit ihr beschäftigt hat,
d h. als blosses Sein; auf der zweiten so. wie die denkende Re-
flexion sie nach Analogie des endlichen Geistes auffasst, d. h. als
Gegensatz und Einheit von Wesen und Erscheinung; auf der
dritten Stufe so wie die spekulative Vernunft sie auffassen muss,
d, h, als objektiv gewordener Begriff. Wie das Denken, um zu
einem Ausgangspunkte der dialektischen Entwickelung zu ge-
langen, sich zunächst in das unbestimmte gegenständliche Sein
stürzen und von da zum Werden und Dasein fortgehen muss,
so muss das innerliche ideale Wesen sich in die phänomenale
Existenz entäussern, um als Wirklichkeit zur Einheit des Wesens
und der Existenz zu gelangen, so muss der Begriff aus der ihm
zunächst eignen Subjektivität in die Objektivität umschlagen, um
sich als logische Idee zu sich zurückzunehmen, die in der Einheit
des Begriffes und seiner Objektivität besteht. Diese drei Über-
gänge des Logischen ins Unlogische, des Idealen ins Reale, des
Subjektiven ins Objektive, sind doch nur ebensoviele Abspiege-
lungen oder abstrakte Antizipationen des Überganges der logischen
Idee in die unlogische Natur. Sie sollen die Schroffheit dieses
letzten Überganges mildern und auf ihn vorbereiten, indem sie all-
mählich von Stufe zu Stufe an den Umschlag des Logischen in
sein Gegenteil in abstrakterer Gestalt gewöhnen. Aber sie hätten
gar keine Berechtigung, wenn sie eine solche nicht aus dem Um-
schlag der Idee in die Natur schöpften, indem sie diese in die
Sphäre des reinen Gedankens und der blossen vorwegnehmenden
MögHchkeit zurückprojizieren. Ist jener entscheidende Schritt von
der logischen Idee zur unlogischen Natur im Rahmen des Pan-
logismus unmöglich, dann sind es auch alle seine abstrakten
Widerspiegelungen. Das Unmögliche wird dadurch nicht mög-
licher, dass man es dem Denken allmählich und stufenweise mund-
gerecht zu machen sucht
Bei keinem einzigen Schritt der Hegeischen Logik ist mehr
geleistet als eine geschickte oder ungeschickte Sophistik, Nirgends
wird ein Beispiel von einem Begriffe gezeigt, der» wenn richtig
gebildet, die Tendenz hätte, in einen anderen umzuschlagen, und
die Identität mit sich selbst zu Gunsten einer dialektischen
Flüssigkeit verleugnete. Nirgends wird aus dem Widerspruch,
der sich bei solchem Umschlagen ergiebt, ein Fortschritt zu begriff-
lich höherer Stufe wirklich abgeleitet Überall wird der neue Begriff
willkürlich aufgenommen und durch künsthche Beziehungen an-
geknüpft, die zum Teil äusserst lose sind; überall ist das Ziel, auf
welches der Philosoph den Leser hinführen will, nämlich die lo-
gische Idee mit dem Zweck des Bewiisstwerdens, das geheime Motiv,
welches die Auslese der hervorgezogenen Begriffe regelt, sowohl
beim Umschlag als auch bei dem Fortgang zu höherer Stufe.—
Hegels Kategorienlehre ist nun folgen de rmassen geordnet:
I. Die Lehre vom Sein.
A. Qualität {Sein, Dasein, Fürsichsein).
B. Quantität (Reine Quantität, Quantum, Grad).
C. Mass.
n. Die Lehre vom Wesen,
A* Grund {die reinen Reflexionsbcstimmiingen, Existenz, Ding),
B. Erscheinung (Welt der Erscheinung, Inhalt und Form, Ver-
hältnis).
C, Wirklichkeit {Substaotialität, Kausalität, Wechselwirkung),
III. Die Lehre vom Begriff
A. Subjektiver Begriff {Begriff, Urteil, Schluss).
B. Objekt (Mechanismus, Chemismus, Teleologic).
C Idee (Leben, Erkennen, absolute Idee).
Das aus dem Werden hervorgegangene Dasein ist endliches
bestimmtes, qualitativ und quantitativ begrenztes Sein, also endliches
Sein, i^ Wer gegen das Endliche zu ekel ist, der kömmt zu gar keiner
Wirklichkeit, sondern er verbleibt im Abstrakten und verglimmt in
sich selbst« (VI, 182). Alles Endliche hat ein Anderes sich gegen-
Hegel.
m
und dieses Andere ebenso bis ins Unendliche; diese Un-
endlichkeit des Fortschreitens von einem zum anderen verwirft
aber Hegel ebenso wie Schelling als die schlechte Unendlichkeit,
und setzt ihr als die wahre ein sich Zurückziehen in die Idea-
lität des Fürsichseins entgegen, welche eben dadurch über quali-
tative und quantitative Begrenztheit und Grenzenlosigkeit zugleich
hinaus ist Dass dieses wahre Unendliche auch über jede be-
griffliche und ideelle Bestimmtheit hinaus sei, ist nicht Hegels
Meinung; aber jede begriffliche Bestimmtheit gilt ihm bloss als
logisches oder dialektisches Moment des Einen absoluten Begriffs
und hat nur als solches Wahrheit, wie nach Schelling alle Sonder-
ideen nur als Momente der Einen absoluten Idee Wahrheit haben.
Das Fürsichsein antizipiert schon auf der Stufe des Seins
den endlichen Geist, das Ich (VI, 189), soll aber hier nur dazu
dienen, um zu der Kantschen Konstruktion der Materie aus Ab-
stossung und Anziehung eine spekulative Grundlage zu gewinnen,
von der sie deduziert werden kann (VI, 194). Die Selbst-
unterscheidung des für sich seienden Einen von den anderen
soll zugleich Repulsion des Eins, und diese wieder das Setzen
vieler Eins sein. Andererseits soll die begriffliche Einerleiheit
der numerisch verschiedenen Eins zugleich ihre gegenseitige
Anziehung sein. Durch diese Vermittelung soll die Qualität die im
Eins ihren Abschluss erreicht hat, in die Vielheit der einander ab-
stossenden und anziehenden Eins, d* h. in die Quantität übergegan-
gen sein (VI, 192, 196). Hegel giebt von diesem Übergange, wie
von allen anderen, die er nur durch dialektische Sophistik er-
zwingt, bereitwillig zu, dass er sich nicht in unserem gewöhn-
lichen Bewusstsein findet (VI, 197), Selbst wenn man mit Hegel
alles natürliche Sein und Dasein auf Bewusstseinsinhalt zurück-
führt, so wird seine irrtümliche Behauptung, wenn auch minder
paradox, doch immer noch nicht beweisbar. Wenn man aber
unter dem Dasein gerade die Sphäre ausserhalb und jenseits des
Bewusstseins, die auseinandergefallene und noch nicht zum
Bewusstsein gelangte Idee versteht, dann kommt die Qualität in
ihr überhaupt nicht vor, da dieselbe erst mit der Entstehung der
sinnlichen Empfindung als Inhalt eines Bewusstseins auftritt.
Unter Quantität versteht Hegel diejenige gleichgültige,
äusserliche Bestimmtheit, bei deren Veränderung ein Ding doch
bleibt was es ist (VI, 196). Gewiss bleibt ein Vorstellungsobjekt
Hcg«L
trotz quantitativer Veränderung in qualitativer Hinsicht das. was
es ist; aber ebenso bleibt es trotz qualitativer Veränderung in
quantitativer Hinsicht das, was es ist. Gleichg-ültig für seinen
Bestand sind sowohl qualitative wie quantitative Veränderungen
nur innerhalb gewisser Grenzen; darin hat also keine der beiden
Bestimmungen etwas vor der anderen voraus. Die herkömm-
liche Unterscheidung der Quantität in eine intensive und exten-
sive behält Hegel bei; aber das reine Quantum oder die Zahl,
die er beiden vorangeschickt, ist weiter nichts als das quanti-
tative Verhältnis zweier Quanta, und das Mass ist nicht aus ihr
zu entwickeln, sondern geht ihr (als dasjenige Quantum, womit
das andere verglichen wird) voran. Jedes zum Messen dienende
Mass ist ein qualitatives Quantum, aber nicht jedes qualitative
Quantum wird als Mass benutzt, wenn es auch fähig ist» dazu
benutzt zu werden, Hegel spielt mit einem Doppelsinn des
Wortes Mass als Massstab oder Masseinheit und als bestimmte,
typische Grösse der Abmessungen und der Kraft, die beide
gar nichts mit einander zu thun haben, und zwischen denen es
keinen dialektischen Übergang giebt. Nur der letztere Begriff
giebt ihm die Anknüpfung, um zur innerlichen Bestimmtheit des
Wesens einen Übergang zu gewinnen. —
Die Refiexionsbestimmungen der Gleichlieit und des Unter-
schiedes, der Identität und des Gegensatzes werden von Hegel
zwar schon in der Sphäre des Seins bei jedem einzelnen dialek-'
tischen Schritte benutzt, aber erst in der des Wesens ausdrücklich
erörtert, anknüpfend an die Identität des Wesens mit sieh und
die Unterscheidung seiner selbst (als des Wesens oder Wesent-
lichen) von dem Gegensatz seiner selbst (d, h* dem Schein oder
dem Unwesentlichen). Auch die Steigerung des Unterschiedes
zum polarischen Gegensatze gehört nicht bloss der Sphäre des
Wesens an, sondern ist bereits in der des Seins (z, B, in An-
ziehung und Abstossung) aufgetreten.
Wenn nun der Grund als die Einheit der Identität imd des i
Unterschiedes erklärt und so aus diesen Reflexionsbestimmungen J
abgeleitet wird, so lässt sich dabei gar nichts denken. Die Ver-
wechselung von logischem Erkenntnisgrimd und genetischem
Realgrund geht durch die ganze Hegeische Philosophie hindurch,
und ist hier nicht Versehen, sondern Absicht, um sich das dialek-
tische Spiel mit der Vertauschung des Prius und Posterius in
Hegel.
539
Natur und Erkenntnis offen zu halten. Wenn aber das Wesen
als der innere Grund der phänomenalen Existenz bestimmt wird,
SD kann damit offenbar nur der genetische Realgrund gemeint
sein. Dieser kann und muss für die Erkenntnis allerdings etwas
Vermitteltes sein, aber doch nur insofern aus der wahrgenommenen
Erscheinung auf ihn zurückgeschlossen wird, nicht in dem Sinne,
als ob er aus abstrakten Reflektionsbestimmungen deduziert werden
könnte. Freilich darf der aus der Erscheinung erschlossene Grund
sich nicht darauf beschränken, das in der Erscheinung Gesetzte
noch einmal unter dem Namen eines Grundes, eines materiellen
Fluidums, oder einer spezifischen Kraft zu setzen, denn dann sinkt
das Begründen zur leeren, unfruchtbaren Tautologie und der Grund
zum hohlen Scheingrund, zu blossen Fiktionen des Verstandes
herab {VI, 246, 255 — 256» 270). Aber die Synthese zweier abstrak-
ter Begriffe, wie Identität und Unterschied, mag sie nun vollzieh-
bar sein oder nicht, bringt es nicht einmal zum Scheingrund, ge-
schweige denn zu einem echten Grund, sondern bleibt immer Be-
griffsverknüpfung. Das Wortspiel, dass in der Synthese die ein-
seitigen Gegensätze zu Grunde gehen {VI, 243), hilft hier nichts,
w*eil die Sprache beim zu Grunde gehen keineswegs auf den
Wesensgrund, sondern auf den Meeresgrund abzielt, auf weichen
die untergehenden Schiffe hinabsinken.
Grund ist das Wesen nur, insofern es Grund von etwas, von
einem anderen ist, das aus ihm hervorgeht (VI, 243, 250).
Merkwürdigerweise schliesst aber Hegel dabei jede hervor-
bringende Thätigkeit des Grundes aus und fasst den Grund zu-
nächst als völlig passiven Mutterschoss des Entstehens auf, um
ihn von der später erst hinzuzufügenden Bestimmung der Kraft
zu unterscheiden; ja, er spricht ihm sogar vorläufig jede inhaltliche
Bestimmtheit ab, unbekümmert darum, dass damit jede Möglich-
keit aufhört, eine bestimmte Folge aus ihm abzuleiten (VI, 250).
So schrumpft der Grund zum Ding an sich zusammen, dass sich
mit dem den Raum durch seine Existenz lückenlos füllenden Stoffe
deckt (VI, 252, 257, 259}, Alle Bestimmtheit der Existenz fällt
bei dieser Auffassung auf die Seite der Erscheinung. Dadurch,
dass es das Wesen ist, welches existiert, ist die Existenz Er-
scheinung; die Erscheinung ist dadurch etwas Höheres als das
scheinbar auf sich beruhende Sein, dass sie auf einem anderen, dem
Wesen, beruht, welches eben in ihr sich offenbart (VI, 260 — 262).
240
He^cl.
Wesen und Erscheinung verhält sich wie Inhalt zu Form,,
wie das mit sich selbst identische Ganze zu den Teiloffenbarungen I
seiner Wesenheit in seinen wechselnden Erscheinungen, wie die
Kraft zur Kraft äusserung, also auch wie Inneres und Äusseres
(VI, 264 — 276). Erst durch diese Denkbestimmungen erhält der«
anfangs ganz leere Begriff des Wesensgrundes einen gewissen In-
halt. Es ist aber dabei charakteristisch für die Hegeische Dia-
lektik, dass sie in jedem dieser Paare von Beziehungsbegriffen die
beiden GUeder für schlechthin vertauschbar und von selbst in
einander umschlagend ausgiebt, weil sie bedingungsweise, unter
gewissen Umständen, insbesondere da, wo ein völliger Standpunkt-
wechsel des Betrachtenden möglich ist, ihre Stellung umkehrea. ]
Wenn die Möglichkeit das noch nicht zur Äusserung gelangte
Innere» der Begriff, die leere Abstraktion der Reflexion in sich
ist (Vn 2, 2g; VI, 284, 288;, wenn dagegen die mit der Zufällig-
keit behaftete Existenz das aus dem Grunde Herausgegangene und
Hervorgetretene, die Negation des Grundes, bedeutet (VI, 250 — 251),
so ist die Wirklichkeit oder hiQyua nunmehr die gesetzte Ein-
heit des Wesens und der Existenz, des Inneren und Äusseren, der
bloss innerlichen Möglichkeit des Grundes und der bloss äusser-
lichen ZufäUigkeit der Existenz (VI, 281 — 282, 284, 287). —
Das Denken bleibt aber nicht bei der Wirklichkeit und ihren
beiden Momenten, der Möghchkeit und Zufälligkeit, stehen, son-
dern dringt über sie zur inneren Notwendigkeit der Sache vor,
die allerdings ihrem eigentlichen Kerne nach erst im Begriff er-
fasst wird (VI, 290 — 294). Zunächst stellt sich die Wirklichkeit
als etwas bloss AccidentieOes dar, und die Macht, die in ihr den
Reichtum ihres Inhalts offenbart, ak Substanz (VI, 500)* Die Sub-
stanz wiederum erweist sich bei näherer Betrachtung als Ursache,
und zwar sowohl ihrer selbst als auch ihrer Accidentien; denn
Hegel berücksichtigt an der Ursache nicht sowold (wie Schopen-
hauer) das Moment der Veränderung, als vielmehr das der Be-
harrung, die in Ursache und Wirkung sich gleichbleibende Kraft
oder Materie, z. B. das Wasser im Regen und in der von ihm
bewirkten Nässe (VI, 304), Deshalb erblickt er auch das Kau-
salitätsverhältnis in seiner vollständigen Entwickeln ng gesetzt
erst in der Wechselwirkung, in welcher der schlechte unendliche
Progress von Ursache und Wirkung auf wahrhafte Weise aufge-
hoben sein soll (VI, 308, 306), Die Wechselwirkung ist damit zu-
Hegel,
241
fgteich die enthiillte oder >^esetzte Notu'endigkeit, deren Wahrheit
die Freiheit ist» wie die Wahrheit der Substanz der Begriff ist
(VI, 309—310). —
Wie Hegel unter dem BegrifiF das eine absolute Subjekt des
logisch-dialektischen Prozesses versteht (VI, 324, 327). so unter
dem Urteil die Selbstdiremtion des Begriffes in seine unter-
schiedenen Momente, oder die Urteilung des konkret Allgemeinen
in das abstrakt Allgemeine, Besondere und Einzelne (VI, 328), und
unter dem Schluss das sich wieder Zusammenschliessen der im
Urteil auseinandergetretenen Momente des Begriffs zu der nun-
mehr vermittelten und verwirklichten Einheit des konkret Allge-
meinen (VI, 345). So ist es der ScUu&s, durch den die Subjek-
tivität des Begriffs ihre Schranke dialektisch durchbricht und sich
zur Objektivität oder zum realisierten Begriff erschliesst (VI, 360).
Der lohalt der Objektivität ist die Naturphilosophie nach
ihren letzten Kategorien betrachtet. Als solche bezeichnet Hegel
erstens den Mechanismus^ oder die bloss äusserlichc rein quanti-
tative Beziehung der nach ihrer Innerlichkeit hierbei gleichgültigen
Körper auf einander durch Druck, Stoss, Verschiebung der Teile
u. s. w, (VI, 36g), zweitens den Chemismus oder die qualitative
Beziehung der Korper auf einander nach ihrer spezifischen Be-
schaffenheit und Wirkungsweise (in der Naturphilosophie »Physik«
genannt), und drittens die Teleologie, Die Centralität der mecha-
nischen Kraftwirkung erkennt Hegel ausschliesslich bei der Gravi-
tation an, setzt sie aber hier auch sofort mit Subjektivität gleich
(VI, 371). Dass alle physikalischen und chemischen Vorgänge
bloss ein molekularer Mechanismus von Centralkräften seien» ond
der Schein ihrer qualitativen Bestimmtheit erst durch die sinn-
Uche Empfindung in die rekonstruktive Wahrnehmung hinein-
komme, wäre von Hegel für eine ebenso grundverkehrte An-
sicht erklärt w^orden wie die Annahme von Poren in den Kör-
pern (VI, 259) oder die Behauptung, dass die Eingeweidewürmer
aus verschluckten Eiern entstehen (VII i. 675)- Wird die Physik
und Chemie in Mechanik der Atome und Moleküle aufgelöst, so
hört ihr principieller Unterschied von der Mechanik auf, wogegen
beide mit der Theorie der Materie vereinigt werden müssen, die
Hegel schon in der Lehre vom Sein unter Fürsichsein erledigt hat.
Im Zweck wird das vorausgesetzte Objekt negiert und seine
Realität als eine nur ideelle» an sich nichtige behandelt (VI, 376);
£.T. Uartmaaii, Aiqgev.Wetke. Bd. XU. t<>
242
Hegel.
der Zweck ist die Macht über das Objekt, muss sich aber seiner
wie die Seele ihres Leibes erst bemächtigen, um es zu seinem
Mittel zu machen (VI, 381—382), Darum ist auch das Negieren
des Objekts genauer als blosses Limitieren, Modifizieren, Unter-
werfen oder gemäss Machen zu verstehen {VI, 383). Der Zweck
ist erstens als subjektiver, d. h. nicht etwa als bewusster, sondern
als bloss ideale Tendenz, zweitens als sich vollftihrende, reali-
sierende Thätigkeit und drittens als volllülu-ter, realisierter Zw^eck
(VI, 380). Als realisierter erweist der Zweck die Objektivität als
das was sie ist, als eine blosse Hülle, unter der der Begriff ver-
borgen liegt (VI, 3S4), Dem endlichen Zweck steht das Material,
in welchem er sich realisiert, als etwas Fremdes, Gegebenes
gegenüber; aber dieses Fremde ist nur eine Täuschung, die die
Idee selbst als unendlicher Zweck sich vorgemacht hat, und ihr
Thun besteht nur darin, die Täuschung aufzuheben, als ob der
unendliche Zweck noch nicht vollfuhrt sei (VI, 384), Der unend-
liche, ewig vollführte Zweck, als Einheit des Begriffes imd seiner
Objektivität, ist die Idee (VI, 384), —
Jede Kategorie gicbt eine relativ richtige Definition des Ab-J
soluten, insbesondere jede Thesis und Synthesis, während die
Antithesen dem Gebiete der Endlichkeit angehören (VI, 163); die
Definition des Absoluten, dass es die Idee ist, ist nun selbst
absolut (VI, 385). Denn in ihr ist die Einheit aller Gegensätze,
des Subjekts und Objekts u. s. w. erreicht (VI, 388). Hegel son-
dert die Idee noch einmal in die Idee des Lebens und des Er-
kennens, und fasst die absolute Idee als synthetische EinheitJ
beider. Die Idee des Lebens ist eine abstrakt logische Ab-'
Spiegelung dessen, was Hegel Anthropologie nennt, die des Er-
kennens eine Abspiegelung dessen, w^as er Phänomenologie des
Geistes, Psychologie uud Lehre vom objektiven Geist nennt. Die
Idee des Erkennens zerfällt nämlich wieder in die theoretische^
und praktische Idee, oder in Erkennen und Wollen.
Dieses Flereinziehen der Idee des Guten in die Fog-ik ist
selbst von strengen Hegelianern gemissbilligt wurden. Freilich
ist es unmöglich, den Begriff des Zweckes ohne den des WoUens
zu fassen; aber dann muss man dies auch offen eingestehen und
das Wollen als Vorbedingung des Zweckes anerkennen, anstatt
es hintennach aus dem Zweck hervorzuziehen (VI, 405), in den
man es vorher unvermerkt hineingestopft hat. Auch ist nicht
HegcL
243
abzusehen, was dem Wollen vernünftiger Weise noch zu thiin
übrig l>leibt, wenn alles Wirkliche ohnehin schon vernünftig, und
der unendliche Zweck ewig realisiert ist. Der Ausführung eines
endlichen Zweckes kann die Setzung weiterer endlicher Zwecke
nachfolgen; aber die realisierte absolute Finalität hebt sich selbst
als Finalität auf. Im Endlichen können wur es nicht erleben oder
.sehen, dass der Zweck wahrhaft erreicht wird (VI, 384); auch
der unendhche Zweck besteht nur durch den Prozess, indem er
sich beständig hervorbringt und in der geistigen Welt sogar fort-
schreitet (\T, 407). Dieses Fortschreiten ist nur denkbar, wenn
zwischen vollkommener und unvollkommener Verwirklichung des
unendlichen Zweckes unterschieden, und in der ziuiehmendcn Ver-
vollkommnung die schlechte Unendlichkeit des endlosen Progresses
wiedereingeführt wird, die Hegel bei Fichte so scharf bekämpfte. ^ —
Hegel schwankt zwischen einem Begriff des Wirklichen, der
sich mit dem Wahren, der Idee, Gott, deckt (VI, 9--10, 30—32)
und alles Unwahre, dem Begriff Unangemessene, Endliche, Zu-
fällige als nichtigen und der Vernichtung verfallenen Schein von
sich ausschliesst (VI, 52, 385; V, 238 — 239), und einem Begriff des
Wirklichen, der die Zufälligkeit der äusserllchen Existenz ebenso
in sich einschliesst wie die Möglichkeit des Wesens und die innere
Notwendigkeit des BegriiFs (VI, 287 — 290), Nur für den ersten
Begriff der Wirklichkeit trifft es zu, dass alles Vernünftige wirk*
lieh und alles Wirkliche vernünftig ist, weil alles nur wirklich in
(diesem Sinne ist, sofern es vernünftig ist (VI, 10). Für den
zweiten Begriff der Wirklichkeit gelten aber diese Sätze nicht,
da von ihm die Zufälligkeit der begriflFlosen und begriffwidrigen
Existenz mit umspannt wird. Es geht nach Hegel nicht an, die
Zufälligkeit der Existenz bloss in den falschen Schein einer sub-
jektiven Betrachtungsweise zu werfen (VI, 290); es hilft auch
nichts, sie als eine bloss oberflächliche Entstellung der
Welt beiseite zu sckieben, die in ihrem wesentlichen Kerne
rdoch Verwirklichung der Vernunft ist (VII, 100), denn dazu dringt
rdie Zufälligkeit doch viel zu tief in die Natur und das natorbe-
dingte Geistesleben ein (VEL i, 29, 30, 37^38. 652). Es ist viel-
lehr anzuerkennen, dass der erste BcgrifT von Wirklichkeit ein
"tinwahrer, abstrakter Begriff ist, der aus dem Verkennen ent-
springt» wie unentbehrlich dem Begriff und der bloss logischen
Idee das Hineinstürzen in die unlogische Endlichkeit, Zufälligkeit
l6«
244
Hegel.
und Äusserlichkeit der Existenz ist, um zu einer Wirklichkeit zu
gelangen, die über das Ansichsein einer bloss ideellen Möglich-
keit hinausgeht. —
Weil es Hegel an einem selbständigen unlogischen Princip
fehlt, weiss er sich die Alogicität der Existenz nicht anders vor-
zustellen , als in einer begrifFwidrigcn Vernunftlosigkeit des Ein-
zeldaseins, die eine Ohnmacht und Schwäche der Vernunft anzeigt.
Eine solche darf aber nicht einmal in einem System mit zwei
koordinierten Principien vorkommen. Die Existenzform als solche
mag unlogisch sein, weil das Logische als solches an ihr kein
Interesse hat; aber das Einzelne muss selbst dann noch streng
logisch bestimmt und bis ins Kleinste durchgebildet sein, wenn
die Vernunft sich im Ganzen zum Inhalt eines unlogischen Real-
princips daliingegeben hat Im Panlogismus, wo die begrifF-
widrige Seinsform der realen Existenz bloss die dialektische
Antithese sein soll, die das Logische selbst sich gesetzt hat, ist
noch viel w-enigcr abzusehen, woher eine begrifFwidrige Zufällig-
keit des Einzelnen kommen, und wie die Vernunft in eben der
Antithese im Einzelnen schwach werden soll, die als Ganzes ge-
rade ihre Stärke offenbaren soll. Der Begriff der Zufälligkeit bei
Hegel ist denn auch von jeher als die Achillesferse seines Systems
erkannt worden, als eine Verlegenheitsausflucht des Panlogismus,
die das Unlogische im Einzelnen und an der Oberfläche ein-
schmuggeln soll, diis im Ganzen nicht zu erklären ist.
Die Hegeische Logik ist der imponierende Versuch eines
grossen Geistes, eine unmögliche Aufgabe zu lösen. Keinem
Schüler und Anhänger Hegels hat diese Lösung voll genügt;
fast jeder hat versucht, sie zu verbessern, ohne damit dem un-
möglichen Ziele näher zu kommen, und uhne den Meister an
formeller dialektischer Gew^andtheit zu erreichen. Diese Versuche
sind nicht nur von reinen Panlogisten ausgegangen, sondern auch
von solchen spekulativen Theisten, welche die dialektische Methode
Hegels als die einzig w^ahre Methode anerkannten. In der That
ist Hegels Logik nur ein Versuch, dem viele andere in ganz
anderer Stoffanordnung zur Seite treten könnten, wenn mehrere
gleich gewandte Talente sich mit der Lösung derselben Aufgabe
befassten, ohne die von Hegel eingeschlagenen Wege zu kennen
und durch sie voreingenommen zu sein. Als nebensächlich erscheint
es dabei, dass Hegel Spezialkategorien aus der Naturphilosophie
Uegsl
245
und Ethik in die allgemeine metaphysische Kategorienlehre herein-
gezogen hat, und dass die Gliederung in das Ansich der Natur, des
endlichen und des absoluten Geistes in den drei Hauptabschnitten
der Logik nicht rein durchgeführt ist, sondern Stoffverschiebungen
in allen Teilen, unnötige Anticipationen, Wiederholungen unter
anderem Namen, Zerreissungen des Zusammengehörigen u, s, w.
.vorkommen. Das Hauptbedenken muss sich dagegen richten»
dass die logische Idee überhaupt als Sphäre eines eigenen Pro-
zesses von der absoluten Idee abgetrennt ist und alle Kategorien
in ilir ohne Beziehung auf Raum und Zeit gedacht werden sollen.
Das Logische oder der Ilegelsche Begriff als Subjekt des
Prozesses ist in sich selbst aktuell inhaltleer, und sogar die in
ihm eingesclilossenen Möglichkeiten sind selbst als reine Möglich-
keiten von ihrex Anwendung und Beziehung auf das absolut Un*
logische abhängig. Es ist nun eine unhaltbare Fiktion Hegels,
dass das Logische irgendwo anders in das Unlogische hineinstürze,
als da, wo die logische Idee in das Anderssein der natürlichen
Existenz übergeht. Die vielen Antizipationen dieses einmaligen
Schrittes, die in der Logik vorkommen, schöpfen ihre Denkbar-
keit nur aus dem Hinblick auf diesen einen Schritt, den sie im
voraus abspiegeln; dass aber eine solche Abspiegelung im voraus
möglich sei, hängt wieder von zwei Bedingungen ab. Erstens
muss das Unlogische nichts weiter sein als die vom Logischen
selbst gesetzte Antithese, und zweitens muss im Logischen vor
dem Eintritt dieser endgültigen Antithese, d, h. vor dem Über-
igang in die Natur ein Prozess möglich sein. Keine dieser Be-
I dingungen kann als erfüllt zugegeben werden. Die erste ist die
Ipanlogistische petitio principii; die zweite ist nicht erfüllt, weil
ein zeitlicher Prozess in der logischen Idee ausgeschlossen, ein
ewiger Prozess aber ein sich selbst widersprechender Begriff ist.
Die Kategorien lehre darf selbst im Panlogismus nicht als
Lehre von dem Inhalt der logischen Idee behandelt werden, son-
dern nur als Lehre von der absoluten Weltidee, nicht als Lehre
von den formellen Müglichkeiten, die im Logischen an und für sich
enthalten sind, sondern nur als Lehre von den formellen Möglich-
keiten, die das Logische in Bezug auf das Antilogische bei der
Aufgabe der Setzung einer Welt aus sich entfaltet. Bei einer
solchen aber muss Zeitlichkeit und Räumlichkeit mit in erster
Reihe stehen, da ohne sie keine Vielheit, die über abstrakt be-
246
HegcL
grifFliche Verschiedenheit hinausginge, keine Individuation, und
keine Veränderung, kein Werden möglich ist Schon dem unbe-
stimmten Sein Hegels Hegt unausgesprochen die Räumlichkeit
des Stoffes, dem Werden die Zeitlichkeit der Veränderung zu
Grunde. Das Eine und Andere, Eins und Viele, Abstossuiig und
Anziehung, Ganzes und Teile, Inhalt und Form, Inneres und
Äusseres, Kraft und Kraftäiisserung. Objekt, Mechanismus, Che-
mismus und Zweck tliiitigkeit sind sämtlich undenkbar, wenn mit
der Ausschliessung von Zeit und Raum Ernst gemacht wird.
Deshalb ist die unentbehrlichste Verbesserung der Hegclschen
Kategorienlehre die Wiederhereinnahme der Zeithchkeit und Räum-
lichkeit, was auch von Trendelenburg, Weisse und Gustav Engel
anerkannt worden ist. Aber diese Verbesserung ist nur dann
ohne Widerspruch durchführbar, wenn dies System der Kategorien
nicht mehr auf die rein logische Idee, sondern auf die absolute
Weltidee bezogen wird; die logische Idee Hegels erweist sich
damit als eine unberechtigte fiktive Einschaltung zwischen dem
sich entfaltenden logischen Formalprincip und der absolut kon-
kreten Weltidee, zu welcher das an sich leere logische Formal-
princip sich in seiner Anwendung auf das unlogische Realprincip
entfaltet.
Man kann Hegels Irrtum in der Stellung, die er dem Logi-
schen zum Unlogischen gegeben hat, offen kennzeichnen und doch
seinen Verdiensten um die Metaphysik vollauf gerecht werden.
Ihm bleibt vor allem das negative Verdienst, mit diesem Irrtum
die Konsequenzen des Schell in gschen Panlogismus gezogen und
damit zugleich ihn als Princip ad absurdum gefülirt zu haben.
Ihm bleibt aber auch das positive Verdienst, auf die entscheidende
Wichtigkeit einer systematischen Kategorienlehre für die Meta-
physik hingewiesen und gezeigt zu haben, dass das zunächst
inhaltleere Logische nur in Beziehung auf irgendwelches Un-
logisches einen Inhalt in sich entfalten kann.*) —
■
♦) Vt?rgL Krit Wanderungen durch die PhiL der Gegenwart» S, 45— 751 ^*i*^
deutsche Ästhetik seit Kant, S. 107 — ^129 und die im Namenregister angegebenen
Stellen; Kalegorienlelire, S. X — Xllj Ges. Studien u. Aufsätze, S. 604—635, 661—662,
603—669; Das sittliche Bewusstsrin, 2. Aitli, S. 442—443, 524, 5/8—579» ^^^ — ^»22
(vcrgl, auch das Naiiieuregistcr) ; Fhil. des ITubewussten, 10. Aufl.» 1, S. 2} — 24, 280,
327—328, 343; 11, S. 168—169, 180 Anui., 253—254, 419—423; ÜbtT die dinkk tische
Meihodc» S, 35 — 124; Schdlings phü, System^ S. 25 — ij.
Rochtc und liiik€ Seil* «Irr Iftgelstben Scluik
Hegel hatte behauptet» mit seiner Philosophie den wahren
Gehalt der christlichen Religion zur Stufe des Begriffs erhoben ^
zu haben. Dieses Erheben von der Stufe des Gefühls und der
Vorstellung- zu der des Begriffs schloss aber eine völlige Um-
deutung des Gehalts ein. Megel hatte sowohl sich selbst als auch
seine Zeitgenossen durch dialektische Zweideutigkeiten darüber
hinwegzutäuschen gewusst; aber alsbald nach seinem Tode ent-
brannte gerade hierüber der Streit in seiner Schule, Der rechte
Flügel suchte Hegels Lehre so auszulegen, dass sie mit den
Ilauptdogmen des Christentums, der selbstbewussten Persönlich-
keit Gottes, der Menschwerdung Gottes in dem einzigen Jesus
Christus und der individuellen Unsterblichkeit des Menschen ver-
träglich wurde, verkehrte aber damit den Sinn des Hegeischen
Panlogismus in sein Gegenteil. Der hnke Flügel suchte die wahre
Bedeutung der Hegeischen Lehre scharf herauszustellen, geriet
aber damit über die Grenze hinaus, wo die Übereinstimmung mit
dem christlichen Theismus noch aufrecht zu erhalten war. Wenn
er trotzdem das Christentum auf ihre Wahrheit zurückzufuhren
behauptete, so war dies doch nur im Sinne einer völligen Um-
gestaltung seiner Grundlagen möglich. Gerade der rechte Flügel
sorgte dafür, klarzustellen, dass diese pantheistische LTmgestaltung
des Christentums etwas ganz anderes sei als das historisch über-
lieferte christliche Dogma, und der radikalere Teil des linken
Flügels richtete nun um so schärfere Angriffe gegen dieses über-
lieferte Dogma, entfernte sich aber gleichzeitig dal>ei mehr und
mehr von dem panlogistischen Mr>nisnms, den Hegel gelehrt hatte,
nach der Seite eines naturalistischen oder gar materialistischen
Monismus. —
Nur einer war es. unter seinen philosophischen Jüngern, der
streng an der Hegeischen Lehre festhielt, sich aber dabei nicht
scheute, sie in liezug auf ihr Verhältnis zum Christentum von
jeder Zweideutigkeit zu befreien und ihre Konsequenzen in aller
Folgerichtigkeit und Deutlichkeit offen zu entwickeln. Michel et
(1801 — 1894) fasste die genannten drei Probleme in das Problem der
ewigen Persönlichkeit des Geistes zusammen. Die Individualität
ist die besondere, zufällige Einzelheit, die mit dem Aufhören ihrer
natürlichen Bedingungen verschwindet; die Persönlichkeit dagegen
ist die dem Geiste angemessene Form der Einzelheit, welche
lediglich die Verwirklichung des Allgemeinen darstellt und sich
daher auch bei dem Untergange der einzelnen Persönlichkeit er-
hält. Alles, was ein Individuum an Leistungen von bleibendem
Werte herv^or gebracht hat, fällt unter die Allgemeinheiten des
Rechts, der Sittlichkeit, der Kunst, Religion» Wissenschaft u. s. w.
und damit unter diesen Begriff der Persönlichkeit. Alles was ein
Individuum an Leistungen von allgemeinem Werte, oder was es
als Persönlichkeit hervorgebracht hat, gehurt zu dem bleibenden
unverlierbaren Schatz des geistigen Besitzes der Menschheit, und
ist insofern als Moment der Persönlichkeit des Geistes unsterblich.
Gott ist keine besondere Person, weder im juridischen, noch
im ethischen, noch in sonst einem Sinne. Er ist nicht eine durch
Naturbestimmtheiten individualisierte Seele, nicht Eigentümer, der
seine Besitzsphäre von der anderer abgrenzte, nicht ein Ich, das
ein anderes Ich als ein Du von sich unterscheiden könnte; über-
haupt hat er kein Bewusstsein , weil dieses die Trennung von
Subjekt imd Objekt voraussetzt, während Gott ihre Identität ist.
Gott ist vielmehr die Denksubstanz imd das Denksubjekt aller
einzelnen Selbstbewusstseine, das allgemeine Band der Geister, in
welchem sie alle Ein Geist sind, die allgemeine geistige Substanz,
aus welcher die Individuen die Thaten schöpfen, die ihnen die
Unsterblichkeit als Moment der allgemeinen Persönlichkeit sichern.
Gott ist nicht eine Person, sondern die allgemeine ewige Persön-
lichkeit schlechthin, der wahrhafte Begriff der Pers<'3nlichkeit , die
nicht ausser den besonderen Personen, sondern in ilinen und ver-
mittelst ihrer sich verwirklicht und allseitig entfaltet Die Idee
dieser Persönlichkeit ist das zweite Moment der Dreieinigkeit, das
aber seine Wirklichkeit nicht im transcendenten Jenseits, sondern
im Diesseits in der Menschwerdung Gottes findet. Das Abso-
lute ist Persönlichkeit in dreifachem Sinne, erstens als zu ver-
w^irkUchender Begriff (Ansich, Möglichkeit oder Kategorie) der
Persönliclikeit, zweitens als sich personifizierende absolute Substanz
oder absolutes Subjekt, drittens als Kollektivum alles allgemein
Wertvollen in den Geistesprodukten der besonderen Personen.
Die Ewngkeit dieser göttlichen Persönliclikeit bleibt unberührt
davon, dass dem menschlichen Bewusstsein der Prozess, in dem
ihre Verwirklichung besteht, als ein zeitÜch begrenzter erscheint,
weil die zeitliche Anschauungsform nur für die phänomenale Auf-
fassungsweise des Bewusstseins, aber nicht für das Absolute als
solches Geltung hat
i
Vfttke.
249
Es ist klar, dass der blosse Begriff der Persönlichkeit noch
keine wirkliche Persönlichkeit ist, dass das sich personifizierende
absolute Subjekt als solches noch unpersönlich sein muss, denn
sonst brauchte es nicht erst zu personifizieren, und dass das Kol-
lektivum der Geistesprodukte der Menschheit von allgemeinem
bleibenden Wert am allerwenigsten dem entspricht, was man sich
unter Persönlichkeit denkt. Das Ergebnis ist also» dass nur die
besonderen, endlichen Geister selbstbewusste Personen heissen
können, dass aber das Absolute des Panlogismus nicht nur kein
Bewusstsein und Selbstbewusstsein , sondern auch keine Persön-
lichkeit in einem mit dem Sprachgebrauch zu vereinbarenden
Sinne hat Dieses Ergebnis wird aber dadurch verschleiert, dass
dem Worte Persönlichkeit ein aus drei Bedeutungen zusammen-
geschweisster Sinn beigelegt wird, die alle drei gleich wenig zu
dem Worte passen.
Der Versuch Michelets, die absolute Persönlichkeit Gottes
durch ihr Hinüberspielen in eine abstrakte KoUektivpersöolich-
keit des Menschheitsgeistes zu retten, konnte bei den tlieologischen
Hegelianern ebensowenig Beifall linden, wie bei denjenigen, die
nach der Seite des Atheismus und Materialismus hinneigten. Es
musste jemand den Mut finden, es zum erstenmale in der christ*
liehen Kulturwelt auszusprechen, dass die Religion von der Per-
sönlichkeit Gottes unabhängig sei.
Vatke (1806 — 1882) verwirft die Bezeichnung Gottes als
Substanz, als (bewusst) zwecksetzende Intelligenz und als^absolute
Idee, wie sie nach ihm aus dem kosmologischen, physikotheo-
logischen und ontologischen Beweise folgen sollen, als ungenügend.
Den Substanzbegriff beschränkt er willkürlich auf das dem
Wechsel und der Veränderung unterworfene endliche Dasein ; die
bewusst zwecksetzende Intelligenz schliesst er aus als eine
anthropopathische Übertragung aus dem endlichen Geiste in den
absoluten, und die absolute Idee, weil sie den Substanzbegriff
zu ihrer Voraussetzung hat und aus ihm dadurch entsteht, dass
die abstrakten Formen unseres bewussten logischen Denkens auf
ihn abgelagert werden. Dagegen hält er daran fest, dass das
Unbeding-te Einheit des Idealen und Realen, Einheit der be-
harrenden Identität mit sich und der Evolution, oder Einheit von
Potenz und Aktus sei. Idee oder Logos nennt er es nur, sofern
es sich in der Natur offenbart und als xoofjog vojßus^ der natür-
250
Vfltke,
liehen Erscheiniingswelt zu (xrunde liegt, Geist, sofern es sich zum
Bewiisstsein und Selbstbewusstsein erhebt, wobei er das Geister-
reich keineswegs wie Miehelet auf die Menschheit beschränkt
denkt.
Gott als die der zeitlichen Entwickelung vorausgehende Ein-
heit, als Logos und als Princip des Selbstbewusstseins müssen
vom bewusstcn menschlichen Denken als Vater, Sohn und heiliger
(leist unterschieden werden. Denn dem menschlichen Denken
steht der Logos ebenso objektiv gegenüber, wie die natürliche
Welt, aus welcher er auf ihn als ihr Princip zurückschliesst.
Aber es ist eine irrtümliche Übertragung, anzunehmen, dass auch
für Gott der Logos etwas Objektives sei, da er für ihn doch nur
die Bethätigung der absoluten Einheit selbst ist. Wo kein Ob-
jekt ist» da ist auch kein Subjekt. Die Trinität ist also nur eine
Unterscheidung vom menschlichen Standpunkt aus. Gott ist
darum als solcher auch wieder bewusst noch persönlich zu nennen.
Es giebt für das Absolute keinen Gegenschlag, an dem sich seine
subjektive Thätigkeit brechen und s:um Bewusstsein imd Selbst-
bewusstsein entzünden könnte. Der bewusste subjektive Geist
kann in Bezug auf die oLijektive Welt nichts schaffen, sondern
nur umgestalten; das Absolute aber muss Einheit der schöpfe-
rischen Macht und des Idealen sein, und kann schon darum nicht
bewusst wirken. Welche Form diese absolute Thätigkeit mit
ihrer Ineinsfassung von schöpferischem Vermögen und vernünf-
tiger Idealität hat, vermögen wir nicht positiv zu denken, weil
sie für unser Bewusstsein überschwenglich und unbegreifbar ist
Wir können nur sagen, dass sie weder bewusst noch persönlich
sein kann» aber nicht etwa unter, sondern über diesen uns be-
kannten Formen stehen muss. Sie muss nicht unterpersönlich,
sondern überpersönlich sein, und demgemäss nicht als unter-
bewusst, sondern als überbewusst angesehen werden. Vatke
kennt also weder einen einpersönlichen, noch einen dreipersön-
lichen, sondern nur einen überpersönlichen, überbewussten Gott,
der zugleich unpers^julich und unbewusst gedacht w^ erden muss.
Vatke wurde natürlich von den christlichen Theologen aller
Richtungen auf das Heftigste angegTiffen, so dass er sich, des
Streites überdrüssig, in vornehmes Schweigen zurückzog. Diese
Angriffe hatten darin völlig Recht, dass ein solcher Gottes-
begriff nicht mehr mit dem christlichen Theismus vereinbar
sei. Erst sein Schüler Biedermann verschaffte seinen Gedankc-n
Beachtung, aber auch nur dadurch» dass er dem Theismus erheb-
liche Konzessionen machte,
Haller (gest. 1887) ist zwar ein treuer Anhänger der Hegel-
schen Widerspruchsdialektik, benutzt sie aber wie SchelUng haupt-
sächlich dazii, um die Nichtigkeit alles Endlichen als solchen zu be-
weisen, und um alles in den Abgrund des Einen Ahsohiten zu ver-
senken, in dem alle Unterschiede verschwinden und alle Gegen-
sätze zusammenfallen. Das Irationale der Dialektik erkennt er
ausdrücklich an, und zwar als eine ebenso berechtigte Seite an
ihr wie das Rationale; die Dialektik ist ihm das Zusammenfallen
dieser Gegensätze sowohl im Denkprozess wie im Seinsprozess.
Den Fehler der Hegeischen Dialektik sieht er in ihrem Anspruch,
durch eine Stufenfolge dialektischer Fortschritte eine dialektische
Entwickelung vom Niederen zum Höheren hervorzubringen. An
Stelle dieses spiraligen Aufsteigens setzt er den ewigen Kreis-
lauf alles Besonderen und Einzelnen innerhalb des ewig still-
stehenden Ganzen. Haller zeigt, was aus dem dialektischen Pan-
logismus werden muss» wenn man die Teleologie, durch die allein
ein objektiver Wertunterschied begründet werden kann, aus ihm
wieder ausscheidet. Dann schwindet jeder Wert und Sinn des
Einzelnen, aller ihm beigelegte Wert sinkt zur Illusion herab,
die ganze Welt wird wieder wie in Schellings Identitätsphilo*
Sophie zum nichtigen Schein, der konkrete Monismus fällt in ab-
strakten Monismus zurück, und dieser entpuppt sich zuletzt als
Akosmismus,
Haller ist ein fanatischer Gegner der Substantialität, und um
den >Substantialitätswahn/ gründlich zu überwinden, dazu hält
er die Überwindung des >Fnoritätswahnes* in jeder Gestak für
un erlässlich, obwohl der Zusammenhang beider v^on ihm nicht klar
gemacht wird. Zum Prioritätswahn gehört aber auch die Mei-
nung, als ob es andere als endliche Zwecke gäbe» als ob die
Welt als Ganzes und der absohite Prozess einen Zweck haben
könne. Vor dem Absoluten schwinden die Gegensätze Stillstand
und Fortschritt, Ruhe und Bewegung ebensogut dahin, wie die
Gegensätze Sein und Nichtsein ♦ Wirklichkeit und Schein, Wahr-
heit und Irrtum, Gutes und Boses, Lust und Schmerz. Das
Weltgesetz besteht darin, dass alle Lust und LTnlust in der Welt
sich ebenso ausgleicht, wie alle Bewegung; jede Veränderung
252
Haller.
im Einzelnen wird durch eine entsprechende Veränderung an
einem anderen Einzelnen sofort genau aufgewogen, so dass die
Welt als Ganzes in jeder Hinsicht immer sich selbst gleich bleibt
Sie ist ein ruhendes System von in sich rotierenden Kreisen,
die wieder rotierende Kreise in sich haben, u. s. f. Die ewige
Sichselbstgleichheit der Welt folgt a priori aus den beiden Prä-
missen, der ewigen Identität Gottes mit sich und der ewigen
Identität der Welt mit Gott, Der Prozess ist das ewige Spiel
der Selbstentlassung des Unendlichen in die unendliche Zer-
splitterung des Endlichen und der Selbstvernichtung des End-
lichen ins Unendliche. Gott ist die Identität, die sich als wech-
selnd, und im Wechsel sich fühlt.
Diese esoterische Einsicht erklärt Haller für den Tod sowohl
der Wissenschaft als auch der Ethik, ■ — mit Recht, denn mit dem
Unterschied von Wahrheit und Irrtum, Wirklichkeit und Schein
hört die Möglichkeit der erstcren, mit dem von gut und b6se die
der letzteren auf Dieser Standpunkt ist theoretischer und prak-
tischer TndiflFerentismus; denn wie der Mensch es auch anfange, im
Guten oder im Bösen, es ist ihm wegen des Ausgleichsgesetzes
unmöglich, in dem Zustande der Welt irgend eine Veränderung
hervorzubringen. Libertinage und Quietismus ist auf dieser Vor-
aussetzung v(>llig gleichberechtigt, und die Wahl zwischen ihnen
bloss noch Sache des zufälligen Beliebens, da es vernünftige Mo-
tive ftir irgend welche praktische Entschliessung nicht mehr
geben kann.
Nur in einem Punkte hat Haller einen Rest des von ihm
bekämpften Prioritätswahnes stehen lassen: er schreibt Gott trotz
seiner Identität mit der Welt die Priorität vor dieser zu. Obwohl
das Gesetz des Ausgleichs doch fiir Gott noch in höherem Sinne
als für die Welt gelten müsste, also nicht nachzuweisen ist, was
beim Übergang aus der Welt zu Gott für ein Gewinn heraus-
kommen könnte, mündet seine Lehre doch in die Sehnsucht
nach mystischer Vereinigung mit Gott, die doch in dem Sinne,
wie sie während der Lebensdauer des Endlichen erreichbar
ist, schon jederzeit besteht, in dem Sinne aber, wie Haller sie
anstrebt, überhaupt nur durch den Tod des Endlichen zu er-
reichen ist,*) —
Was die Hegeische Logik betrifft, so haben einige seiner
Schüler versucht, die eigentümlichen Verschiebungen und Schief-
Karl Rosenkranz.
253
heilen in ihrer Gliederung grade zu rücken, ohne damit gerade
viel Glück zu haben. Am weitesten geht darin Karl Rosen-
kranz (1805 — 1Ö79), der die subjektive Logik, oder die Lehre von
Begriff, Urteil und Schluss von der Ideenlehrc sondert, wie Hegel
dies bereits in seiner philosophischen Propädeutik versucht hatte.
Die I-ehre vom Sein und Wesen fasst er als ontologische oder
metaphysische Logik zusammen, und fügt ihr als dritten Ab-
schnitt die aus der Lehre vom Begriff herausgenommene Lclire
vom Zweck hinzu. Die objektive oder metaphysische Logik
gliedert sich demnach bei Karl Rosenkranz in die Lehre vom
Sein , Wesen und Zweck , oder, da er die Lehre vom Wesen als
Aetiologie bezeichnet, in Ontologie, Aetiologie und Teleologie,
Hiermit ist dann die gesamte Kategorienlehre in die metaphysische
Logik oder Metaphysik zusammengelegt und dort untergebracht
Was für die Ideenlehre übrig bleibt, gliedert er unter die Ab-
schnitte »Princip, Methode und System«, so dass sich ihm die
Ideenlehre eigentlich in Methodc^logie umwandelt* Die gesamte
Logik im Hegel&chcn Sinne zerfällt danach in drei Hauptteile,
deren erster die Kategorienlehre oder Metaphysik, deren zweiter
die Logik im vorhegelschen Sinne, und deren dritter die Methoden-
lehre enthält. Die Logik und Methodologie, die Hegel mit der
Kategorienlehre verschmolzen hatte, ist damit wieder von ihr ge-
trennt; aber ihre Verbindung mit der Phänomenologie des er-
kennenden Bew^usstseins zur Erkenntnislehre im weiteren Sinne
erfolgt noch nicht Dass Rosenkranz zum erstenmale Ontologie,
Aetiologie und 1 eleologie in eine Reihe nebeneinander stellt, darf
als ein wirklicher Fortschritt betrachtet werden, insofern hierdurch
mm erstenmal die Koordination und Zusammengehörigkeit der
Kategorien der Substanz, der Ursache und des Zwecks anerkannt
ist Sein Irrtum besteht nur darin, dass er durch diese drei Ab-
schnitte den ganzen Inhalt der Kategorienlehre erschöpfen zu
können glaubt; denn dadurch wird er genötigt, in diese drei
Rubriken den ganzen übrigen Inhalt der Kategorienlehre mit
hineinzustopfen, der gar nicht in sie hinein gehört, —
Einen Versuch, die dialektische Methode Hegels und die
architektonische Schleiermachers mit einander zu verbinden, hat
*) VergL Kritbche WAnderungcD durdi die Philosaphie der Gegenwart,
S, 142—181.
George (iSii — 1874) mit allerdings sehr unzulän|k(lichen Kräften
unternommen. Kr stellt wie Oketi das Nichts an die Spitze,
welches das Sein als seinen Gegensatz fordern solL Wenn Hegel
nur das Werden» nicht das Entwerden oder Vergehen in seinem
Aufbau des Systems der Kategorien eine Rolle spielen lässt, so
misst George beide mit gleichem Masse. Er gewinnt somit zu
den drei Gliedern der ersten Ilegelschen Triade (Nichts, Sein,
Werden) eine zweite Triade (Eotsteheii. Vergehen, Dasein) hinzu,
und bringt durch eine dritte (Anfang, Bestehen, Ewigkeit) die
Zahl der Glieder auf neun. Er legt Wert darauf, auch die Be-
ziehungen der senkrecht unter einander stehenden drei Glieder
zu betrachten, und setzt die Gleichungen an: Nichts -f Ent-
stehen ^Anfang; Sein -f Entstehen -= Vergehen; Werden -| Da-
sein = Ewigkeit. Worin Anf^mg mehr besagt als Entstehen ist
nicht ersichtlich; die erste der drei Gleichungen erscheint daher
als leere Tautologie. Die zweite ist sich selbst widersprechend
und die dritte hat überhaupt keinen Sinn. Ebensowenig ist die
dritte horizontale Gleichung haltbar: Anfang + Bestehen ^Ewig-
keit; denn der Anfang hebt jedenfalls nach rückwärts hin die
Ewigkeit auf, und das Bestehen, das einen Anfang gehabt hat,
wird wohl auch wieder einmal ein Ende nehmen. Nach dem
neunteiligen Schematismus dieser Kategorien des Seins werden
nun analog auch die der Qualität und Quantität, des Wesens,
der Erscheinung und der Wirklichkeit angeordnet und endlich
die des Subjekts, des Objekts und des Geistes angefügt. Das
giebt dann die Tabelle I von neun Enneaden in drei Kolumnen.
Liest man die Kolumnen senkrecht, aber so, dass man immer
nur eine Kategorie von gleicher schematischer Stellung aus je
einer Enneade aufnimmt, so erhält man die Tabelle 11 von neun
neuen Enneaden, welche nun jedesmal die neunte und letzte
Kategorie als allgemeinen Titel vorgesetzt erhalten, nämlich:
I. Ideelles, 2. Reelles, 3. Idee, 4, Abstraktion, 5. Konkretion,
6. Begriff, 7. Transcendenz, 8, Immanenz, 9. Geist So ergeben
sich aus den 81 Kategorien je nach der Anordnung zwei Tabellen,
die als warnendes Beispiel vor unfruchtbarem und geistlosem
Schematismus hier Platz finden mögen.
^M
1
George. ^|
1
^m ^^^ 1
^^^^IP
m
Ta
ibell
e l.
m
^^^^^^^^^^P
i
Kicbls
Sein
=
Werden, ^M
^^ftj. Sein . . .
Entstehen
-
Vergehen
=
Dasein, ^^H
^^^^K
Anfang
---
Bestehen
=
Ewigkeit. ^^M
^^^^^
i
VicUieit
—
Einheit
==
^1
^^^V 2, Quarilitai , .
■
Gaiucs
—
Teil
=
Quantum, ^^H
^^^^K
l
Grad
—
Mass
=
Totalität. ^H
^^^HF
l
Manoigfaltigkeil
t
Eintachbdt
=^
Übergang, ^^|
^^r^T Qualität ,
Etwas
Anderes
===
Bestimnuheit, ^^M
^^^^-
Identität
Unterschied
=
Vermittlung. ^^M
^^^lp
■{
Position
Negation
=
Verhüknis, ^H
^^^^Wc»cn - .
Auraktion
—
Repulsion
=
Indüleren/, ^^^M
^L
Tnhärenz
—
Acddenj!
=
Substiinjü, ^^M
^H
j
Äusseres
—
Innere»
=
Erscheinung» ^^M
^^^H 5. Erschcüuiii^ .
Inhalt
—
Form
=r
Existente, ^^M
^H
Dinghcit
—
Eigenschaft
=^
Realität, ^H
^^
(
l
iMögUchkcit
—
Notwendigkeit
--
WcchscKvirkung, 1
^^^ t». Wirklichkeit
Ivaiijolitäi
— -
Zulillügkcit
=^
Wirklichkeit, ^J
^H
Gmud
-
Bedingtheit
=
Selbständigkeit. ^|
^H
1
Spontaneität
—
Rezeptivität
^=
Thütigkcit, ^H
^^K^. Subjekt
l
Thun
—
Leiden
=
Zustand, ^H
^^^■r
Kraft
—
r=
^M
^^^^^
1
i
Zusammenhang
—
Für sich
=
Relnti^ntät, ^H
■ 8. Objekt . .
Allgt^meines
—
Besond«fes
=:
Einzelnes, ^^H
^K
Uneadliches
—
Endliche»
=
Absolutes. ^^M
^^r
f
Ideellefi
--
Reelles
=
^M
V 9. Geist . . ,
Abstrakt
Konkret
.=
Begriff, ^H
k^
Transcendcnz
~~
Immanenjc
^
GeisL ^H
^k
Tel
bell
e 11
■
^^^B
l
Nichts
Vielheit
Mannigfaltigkeit, J
^^^^IdeeUes .
Pf^siti'iu
Äusseres
M^:)glichkeit, ^J
^H
Spontaneität
Ncxtis
Ideelles. ^^M
^H
.{
Sein
Einheit
Einfachheit, ^^M
^H 2. Reelles . .
Negation
Inneres
Notwendigkeit, ^H
^H
1
Rc/xptiviyit
P ür sich
ReeUes. ^1
^^
1
Werden
Zahl
Übdgang, ^1
^1 3. Id^e . , .
Verhältnis
Erscheinung
Wechselwirkung, ^J
^^ft
Thitigkeit
Relativität
^1
^^"
r
Entstehen
Ganzes
Etwas, ^H
K 4. Absirakütm .
■{
Attraktion
ThiiD
Inhalt
Allgemeine*
Kausalität, ^H
Abstnüction. ^H
256
George.
/ Vergehen
Teil
Anderes,
Konkretion . .
l Repulsion
Form
Zufälligkeit,
l I-ciden
Besonderes
Konkretion.
/ Dasein
Quantum
Bestimmtheit,
Begriff . . .
l Indifferenz
Existenz
Wirklichkeit,
l Zustand
Einzelnes
Begriff.
i Anfang
Grad
Identität,
Transcendenz
l Inhärenz
Dingheit
Grund,
[ Kraft
Unendliches
Transcendenz.
/ Bestehen
Mass
Unterschied,
Immanenz . .
l Acddenz
Eigenschaft
Bedingung,
[ WidcrsUnd
Endliches
Immanentes.
/ Ewigkeit
Totalität
Vermittlung,
Geist ....
l Substanz
Realität
Selbständigkeit,
[ Ich
Absolutes
Geist.
6. Der Pantheismus mit unpersönlichem aber selbst-
bewusstem Absoluten oder der Pseudotheismua
Das Unterscheidungsmerkmal zwischen Pantheismus und
Theismus ist die Unpersönlichkeit oder Persönlichkeit des Abso-
luten als solchen. Es giebt echte Theisten, die Gott kein Selbst-
bewusstsein zuschreiben, sondern seine Persönlichkeit auf Grund
ethischer Willensbestimmungen annehmen. Ob sie sich damit im
Rechte oder im Irrtum befinden, ist eine Frage für sich; aber
man kann ihnen nicht das Recht absprechen, sich auf Grund der
von ihnen angenommenen Persönlichkeit Gottes Theisten zu nennen.
Andererseits g^iebt es Denker, die dem Absoluten die Persönlich-
keit absprechen, aber sich trotzdem Theisten nennen, bloss darum,
weil sie dem Absoluten ein eigenes Selbstbewusstsein zuschreiben
und dieses Merkmal auch ohne das der Persönlichkeit für aus-
reichend erachten, um den Theismus sicher zu stellen. Weil sie
selbst sich zu den Theisten rechnen, werden sie meist auch von
anderen dafür gehalten, ohne dass die Berechtigung dieser Sub-
sumtion näher geprüft würde. Man kann der Ansicht sein, dass
ein absolutes Selbstbewusstsein nicht bloss Bedingung der Per-
sönlichkeit ist, sondern allein genügt, eine solche zu konstituieren,
Cfaamktenstik des Paeudathewraus.
257
SO dass die absolute Pers<'»nlichkeit nicht fehlen könne, wo einmal
t das absolute Selbstbewusstsein in Gott gegeben sei. Aus diesem
Gesichtspunkt kann man die Unterordnung des Standpunktes
jener Denker unter den Theismus zu rechtfertigen versuchen.
Allein damit ändert man doch ihren Standpunkt schon in einer
Weise ab. die ihren ausdrücklichen Intentionen widerspricht, und
deshalb ist die Berufung auf eine von ihnen bestrittene Konse-
quenz unzulässig.
Wollte man das Selbstbewusstsein des Absoluten allein ohne
Persönlichkeit schon als ein genügendes Merkmal des Theismus
gelten lassen, so würde es schwer sein, im Lager des idealisti-
schen und spiritualistischen Monismus überhaupt noch zweifellose
Pantheisten aufzuzeigen. Fichtes absolutes Ich und Schellings
absolutes Erkennen wenigstens wollen zweifellos absolutes Selbst-
bewusstsein und absolutes Selbsterkennen sein, und auch bei
Hegel ist die formelle Subjektivität des Begriffs ein reines Den-
ken, das nichts anderes zum Gegenstand hat als sich selbst Die
Form dieses absoluten Erkennens schillert bei allen, auch bei
Schopenhauer, zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit; d, h, sie
wird zwar bewusst genannt, aber so beschrieben, dass die Be-
wusstheit zugleich wieder verneint wird. Dasselbe ist aber auch
bei den Denkern der jetzt zu besprechenden Gruppe der Fall;
sie behaupten mit Worten das Bewusstsein und Selbstbewusstsein
des Absoluten, beschreiben und begründen es aber so, dass die
Beschreibung eher auf ein unbewusstes intellektuelles Schauen
hinweist, und die Begründung des Bewusstseins und Selbstbe-
wusstseins keine ist
Während bei den naiven Pantheisten von Fichte bis Hegel
ch jede Reflexion auf den Gegensatz ihres Standpunktes zum
eismus fehlt, ist den Denkern der nun folgenden Gruppe durch
die theistische Bewegung ein Licht über diesen Gegensatz auf-
: gesteckt worden. Sie wünschen, ihren Platz innerhalb des christ-
lichen Theismus einzunehmen, obwohl sie die absolute Persönlich-
keit ablehnen müssen, und betonen nun um so schärfer das ab-
solute Selbstbewusstsein im Gegensatz zu allem Unbewussten, in
welchem sie einen Gegensatz des Theismus nicht mehr zu ver-
kennen vermögen. Trotzdem gelingt es ihnen nicht, das verab-
solutierte Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu begründen oder
seinen Begriff vor dem Zerfliessen in unbewusstc, intellektuelle
E.V. Hart maoa, Aiu(«nv. Werke. Bd. XU. I?
^58
Wirth,
Anschauung zu bewahren. Ihr Theismus bleibt blosse Velleütat,
und als solche ein Pseudoüieismus, der nicht nur zu ihrem
Schmerze von den strengeren Theisteo als Pantheismus verurteilt
werden muss, sondern auch von der unbefangenen historischen
Kritik nur als ein verfehlter Anlauf zum Theismus oder als eine
im Pantheismus stecken gebliebene Übergangsstufe zum Theismus
beurteilt werden kann.
Diese Denker sind die Schellingianer Wirth und Steudel, der
Hegelianer Biedermann und der an Spinoza, Leibniz und Schel-
ling anknüpfende Fechnen —
Wirth (1810^1879) ist ein naturalistischer Pantheist, der aber
als christlicher Ethiker und Theologe mit J. H. Fichte und Uhici
zusammen die damals theistische Zeitschrift für Philosophie heraus-
gab. Für die mangelnde eigene Persönlichkeit Gottes sieht er,
ähnlich wie der Hegelianer Michelet einen ausreichenden Ersatz
in dem ewigen Vorhandensein phänomenaler Persönlichkeiten.
Das Selbstbewusstsein des Absoluten lässt er durch dessen Be-
ziehung auf den ihm wie ein Objekt gegenüberstehenden ewigen
ätherischen Spharencyklus des Weltgebäudes zustande kommen.
Aber er bestimmt dieses so entstandene SeIbstbe\^Tisstsein des ab-
soluten Geistes doch wieder nach Art der ansichseienden logischen
Idee Hegels bloss als ein potentielles Ineinander des möglichen
Inhalts, das erst in der Summe der endlichen phänomenalen Per-
sönlichkeiten zur entfalteten Selbstanschauung Gottes auseinander-
gelegt wird. Während Michelet die Summe dieser endlichen
Persönlichkeiten nur in der zeitlich entstandenen Menschheit sucht
und sich mit der blossen Subjektivität der Zeitanschauung über
die zeitliche Endlichkeit dieses Vertreters der ewigen Persönlich-
keit trösten muss» behauptet Wirth, dass immer, ohne Anfang
und Ende, auf irgend einem Planeten irgend eines Sonnensystems
ein Geisterreich in seiner Blüte stehe, in welchem Gott seine ent-
faltete Selbstanschauung finde. In diesem Sinne kann er dann
die zeitliche Endlosigkeit der phänomenalen Persönlichkeit Gottes
festhalten, oder, wie er es ausdrückt, seine zeitlich-ewige Persön-
lichkeit. Es ist aber offenbar eine Verhöhnung der theistischen
Forderung einer absoluten Persönlichkeit Gottes, wenn man sie
durch die Persönlichkeit der Menschen oder ähnlicher Geschöpfe
auf anderen Himmelskörpern für erfüllt ausgiebt
Wirth beginnt mit dem reinen unbestimmten Sein, das er
SteudeL
259
dem Plotinischen Einen oder der reineo Einheit gleichsetzt Das
Unbestimmte lässt er durch Identität mit sich zum Bestimmten
werden, wie Oken die gesetzte Null gleich Eins setzt, und das
Unbestimmte und Bestimmte verknüpft er dann synthetisch zum
Sein. Die Hegeische Repulsion des Eins zum Vielen und die
Attraktion der Vielen wird bei Wirth zur Diskretion und Kon-
tinuität, und die Einheit der Diskretion und Kontinuität nennt er
die ewige Wesenheit. Indem die unsinnliche Wesenheit er-
scheint, wird sie zur allgemeinen Materie oder zum Äther, und
der Äther wird, indem die Diskretion und Kontinuität sich in
ihm als Expansions- und Kontraktivkraft darstellt, zum ätheri-
schen Sphäros oder zum Leib der Wesenheit. Dann fahrt der
Naturprozess weiter durch das Leben und die unbestimmte Viel-
heit von ätherischen Sphären zur Schelliiigschen Weltsccle, und
von dieser zum Centralgeist des Sphärencyklus^ der als Einheit
von Selbstbewusstscin und Wille nunmehr Gott heisst Gott ist
eine Vierheit von Substanzen, aber nur Ein Selbst. Die Wesen-
heit dient ihm dabei gleichsam als Subjekt, der ätherische Sphä-
rencyklus als Objekt, das Leben (die Zoe) und die Welt- oder
Centralseele als Vermittelung, um zum Selbstbewusstsein zu ge-
langen. Alle diese Faktoren sind selbst noch unbewusste. Diese
trübe Phantastik bewegt sich noch ganz in Okcnschen Bahnen,
wenn sie auch gelegentlich LIegelsche und Plotinische Gedanken-
bestandteüe mit verwertet. —
Steudel {1805 — 1887) ist in methodologischer Hinsicht moder-
ner, knüpft aber doch ganz an die Schellin gsche Identitäts-
philosophie an und sucht das Urpriocip in der absoluten und
unmittelbaren Identität des Idealen und Realen, des Geistes und
der Materie, die er ohne weiteres postuliert und für die er jede Ver-
mittelung verschmäht. Die Materialität fällt ihm einerseits mit
Substantialität , andererseits mit Räumlichkeit zusammen; nach
der Seite seiner Realität oder Materialität ist also das Absolute
die räumliche Substanz oder der substantielle Raum von unend-
licher Dauer, der ganz wie bei Planck nicht etwa Kräfte hat,
sondern zugleich die zusammenfassende und bildende Kraft ist.
Dass ein einfaches Absolutes zu keiner Differenzierung und zu
keiner Welt kommen könne, wird von Steudel bestritten; von
einer Konstruktion der Materie aus Kräften als eines phänome-
nalen Produktes derselben kann auf diesem Standpunkt natürlich
'7*
löo
Steudd.
keine Rede sein, da die Materie selbst die ursprüngliche Einheit
ist, die sich zu allem gestaltet
Steudel bekämpft die von allen Pantheisten in der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts gehegte Ansicht, dass das Absolute
actus purus, reine Thätigkeit ohne ein Thätiges, ohne ein hinter
der Thätigkeit stehendes Subjekt sei; aber er bekämpft sie nur
in dem Sinne, dass er das Objekt» das Produkt der Thätigkeit, die
Materie oder den stofflich erfüllten Raum an die Stelle der Sub-
stanz set2t, d, h. das Posterius der Thätigkeit zugleich zu ihrem
Prius macht Das ist ein offenbarer Widerspruch. Soll diesem
Widerspruch dadurch ausgebogen werden, dass die stoffliche Sub-
stanz aufhört, Produkt der Thätigkeit zu sein, und ihr Träger und
Produzent wird^ dann schlägt Steudels Identitätsphilosophie in
Planckschen Materialismus um. Soll aber die stoffliche Substanz
mit der Thätigkeit identisch gesetzt werden, so löst sie sich ent-
weder in eine Erscheinung der subjektlosen Thätigkeit auf, oder
es lässt sich überhaupt nichts mehr dabei denken; denn das mit
der Thätigkeit Identische zum Subjekt der Thätigkeit machen,
heisst doch nichts anderes als die Thätigkeit rein auf sich selbst
stellen.
Durch ihre bildende Kraft wirkt die Materie alle Dinge aus,
und diese sind nur darum real, weil sie aus dem absoluten Real-
prinzip der Materie herstammen. Da Gott schon als materielle
Substanz die Fülle aller Realität ist, so kann sein Denken keine
Vermehrung dieser Realität herzubringen. Gott ist nach seiner
geistigen Seite Denken» ja nicht etwa auch Wille, was eine anthro-
pomorphische Verunreinigung seines Begriffs wäre. Sein Denken
ist schrankenlos, darum kann es keine Realität schaffen; denn
wenn die göttlichen Gedanken als solche schon reale Dinge wären,
so hätte Gottes Denken eine Schranke daran ^ dass es nichts den-
ken könnte, ohne es zugleich als Reales zu setzen. Das gött-
hche Denken ist demnach ein fünftes Rad am Wagen, da es für
die Welt nichts leistet; es wird nur postuliert, um die Identitäts-
philosophie aufirecht zu erhalten und nicht in einseitigen Materia-
lismus zu verfallen, wie Planck*
Da Steudel alles bewusstlose Geschehen für ein absichtsloses,
zufälliges, grundloses Geschehen und einen bewusstlosen Gedan-
ken für keinen Gedanken erklärt, so bleibt ihm gar nichts übrig,
als das Denken Gottes als ein bewusstes aufrecht zu erhalten.
*
26l
Die Beschreibung aber, die er von dem absoluten Selbstbe\%^sst-
sein Gottes giebt, entspricht durchaus dem substantiellen Selbst-
bewusstsein oder nicht wissenden Wissen bei Schelüng, d. h. der
unbewussten intellektuellen Bethätigung seines »ewig Unbewuss-
ten«. Die scheinbare Rechtfertigung des göttlichen Selbstbew^usst-
seins liegt bei Steudel nicht darin, dass er etwa wie Wirth den
absoluten Geist als Subjekt seiner Erscheinung als Objekt gegen-
überstellt, sondern darin, dass er beide identifiziert, wie er Geist
und Materie, Denken und Raum identifiziert. Da muss der Stand-
punkt Plancks doch klarer und folgerichtiger genannt werden.
Steudel beliauptet, dass vom Standpunkt der Religion als
Gemütssache Gott gar nicht anders als persönlich vorgestellt
werden könne; er scheint also von pantheistischen Religionen
nichts zu wn'ssen. Da er es für unter der Würde der Wissen-
schaft erachtet, das vom Denken Verworfene durch die Hinter-
pforte des Glaubens wäeder einzuführen, so bleibt ihm keine
andere Schlussfolgerung übrig, als die Bekämpfung der Religion
überhaupt vom Standpunkte der Wissenschaft, um die bessere
Einsicht an die Stelle von Illusionen zu setzen, in deren Namen
die Völker imd die einzelnen sich schon so lange fanatisch be-
kämpft haben. —
Biedermann (1819 — 1885) unterscheidet sich dadurch von
seinem Lehrer Vatke, dass er nicht nur das von diesem verwor-
fene Selbstbewusstsein des Absoluten wieder annimmt, sondern
auch die Persönlichkeit Gottes wenigstens als bildliche Redeweise
duldet und empfiehlt, wenn er auch die begriffliche Unverträg-
lichkeit der Persönlichkeit mit der Absolutheit sowohl in Bezug
auf den Gottesbegriff selbst als auch in Bezug auf sein Verhält-
nis zur Welt weit strenger und ausführlicher als einer seiner
Vorgänger beweist. Das Festbalten des Wortes Persönlichkeit
für die gemeine Gottesvorstellung trotz ihrer begrifflichen Wider-
legung erinnert bedenklich an die Lehre von der doppelten
Wahrheit Das Selbstbewusstsein Gottes ist dem Theismus un-
entbehrlich, aber doch nur, w^eil es conditio sine qua non der Per-
sönlichkeit Gottes ist* Wird die Persönlichkeit Gottes einmal
preisgegeben, so ist der Boden des Theismus doch ohnehin ver-
lassen und es hat dann im theistischen Interesse gar keinen Wert
mehr, das Selbstbewusstsein Gottes weiter festzuhalten»
Die Selbstbewusstheit des Absoluten erachtet Biedermann für
selbstverständlich, indem er sie mit dem Insichrefleküertsein sei-
nes begrifflichen Inhalts gleichsetzt, das er aus Hegel übernimmt
Bei Hegel bedeutet aber das Insichreflektiertsein eines Begriffs
oder sein Scheinen in sich durchaus nicht eine subjektive Be-
wusstseinsreflektion, sondern lediglich ein objektiv logisches Ver-
hältnis der Momente des Begriffs zu einander, den dialektischen
Umschlag des Begriffs in sein Anderes und den Rückschlag aus
dem Anderen in ihn selbst. Das sich Reflektieren des Begriffs
ist die Form des objektiven dialektischen Prozesses auf der Stufe
des Wesens« wie das Übergehen in Anderes oder die Verände-
rung auf der Stufe des Seins und die Entwickelung auf der
Stufe des Begriffs (Hegels Werke, VI, 317). Es ist ein blosses
Miss Verständnis Biedermanns, dieses Hegeische Reflektieren mit
dem Bewusst werden zu verwechseln.
Biedermann entfernt sich von Hegel dadurch, dass er die
Hegeische Widerspruchsdialektik mit der Aristotelischen Dialektik
vertauscht und die Erkenntnis von der Erfahrung zur Spekulation
hinaufzuführen sucht. Dadurch wird er genötigt, Hegels reinen
Monismus in einen gebrochenen zu verwandeln; weil ihm das
Unlogische der widerspruchsvollen Antithese abhanden gekommen
ist und er die in der Materie wirksame Kraft nicht als selb-
ständiges Prinzip gelten lassen will, muss er zu dem Cartesianisch-
Spinozistischen Aushilfemittel zurückgreifen, das Prinzip der ma-
teriellen Realität in der Ausdehnung zu suchen. Er definiert
also das ideale Sein oder das Geistige als blosse Verbindung von
logischen Kategorien, das reale Sein oder das Materielle als eine
Verbindung logischer Denkformen mit sinnUchen Anschauungs-
formen. Da er aber nicht subjektiver Idealist, sondern erkenntnis-
theoretischer Realist sein will, so kann er dieses reale raumzeit-
hche Dasein nicht als blosses Produkt des empirischen Indivi-
duums gelten lassen, sondern muss es in naivrealistischer Weise
als ein von demselben Unabhängiges hinstellen. Andererseits
kann er aber das Sinnhche oder Materielle auch nicht als blosse
Funktion oder Manifestation des absoluten Geistes behandeln, da
dieser noch schärfer als der endliche Geist auf logische Kategorien
beschränkt ist.
Dadurch wird er genötigt, es als caput mortuum eines
früheren Schöpfungsaktes auszugeben, also in Bezug auf die ma-
terielle Welt die theistische Schöpfungslehre anzunehmen, während
F€?chner.
263
er für die rem geistige Seite der geistigen Welt die funktionelle
lanifestation im Sinne des panlogistischen Monismus festhält
FAber da alle endlichen Geister sich vom absoluten Geist durch
ihre Abhängigkeit von ihren materiellen Leibern unterscheiden
und alles persönliche Geistesleben sich auf dem Grunde materieller
Individualitäten erhebt, so ist auch für alles endliche persönliche
Geistesleben der Biedermannsche Standpunkt kein reiner Monis-
mus, sondern ein dualistisch gebrochener. Durch diesen halben
Abfall von Hegel hat er trotzdem nicht erreicht, was er erreichen
wollte, die Annehmbarkeit seines unpersönlichen Gottesbegriffs
für den christlichen Theismus. Niemand hat bis jetzt darthun
können, dass ein Standpunkt, wie ihn Michelet, Vatke und Bieder-
mann vertritt, mit den Bedürfnissen des religiösen Bewusstseins
unvereinbar sei; aber es ist eine Täuschung, zu glauben, dass er
mit der historisch überlieferten Form der christlichen Religiosität
vereinbar sei. Denn für das religiöse Verhältnis, auf das es der
Religion doch ankommt, bleibt auch bei Biedermann Gott unper-
sönlich und der Menschengeist nicht eine von ihm geschaffene
Substanz, sondern eine funktionelle Manifestation Gottes, In dem
entscheidenden Punkte bleibt auch Biedermann Pantheist, allerdings
im Sinne eines panlogistischen konkreten Monismus. Seine Be-
merkungen gegen den Pantheismus zielen nur auf den naturalis-
tischen und abstraktmonistischen Pantheismus, treffen aber den
konkretmonistischen gar nicht, zu dem er sich selbst bekennt und
den er nur mit missbräuchlicher Bezeichnung konkreten Monotheis-
mus zu nennen beliebt*) ^
Fechner (iBoi — 1887) ist ein Ausläufer der Identitätsphilo-
sophie, der von Oken starke Anregungen empfing, aber zugleich
in der Methode der modernen Naturwissenschaften wurzelte. Seine
Bemühungen, naturphilosophische Spekulationen und exakte Na-
turwissenschaft mit einander zu verbinden, lassen zw*ischen beiden
schliesslich doch eine klaffende Lücke. Von Schelling übernimmt
er den erkenntnistheoretischen Idealismus, die identische meta*
physische Wurzel der inneren seelisch-geistigen Selbsterscheinung
und der äusseren, körperlichen, materiellen Erscheinung, und den
*) VgL Kritische Wanderungen durch die Philosophie der G^enwarit S. 200<-»d3i;
Mc Krisis des Chrifitentiims in der modernen Theologie, S. 17 — 20, 87 — 97; Plulosopbie
Ünbewussten, 10. Aufl., Bd. IL, S. 489 — 495.
Fechner.
Glauben an die Beseeltheit der Gestirne, die ihm mit den Engeln
zusammenfallen, wie den Alten mit den Gottern. Von Herbart
entlehnt er den Begriff der Bewusstseinsschwelle, mit Hilfe dessen
er ein Gesamtbewusstsein der Gestirngeister und des Weltgeistes
zu konstruieren sucht. Mit den Pantheisten stimmt er darin iiber-
ein, dass alle Individuen aller Stufen blosse Erscheinungen des
Absoluten sind und keinerlei eigene Substantialität im Sinne der
Monadologie, des Pluralismus und der theistischen Schöpfungslehre
haben.
Dem Atomismus trägt er darin Rechnung, dass die letzten
Elemente der äusseren körperlichen Erscheinung ausdehnungslos
punktuelle Atome sein müssen. Aber er verwirft die Ansicht, dass
diese diskreten Punkte blosse Kraftsitze, stofflose Centralkräfte
seien, weil er keine Vielheit von Kräften gelten lassen will und
keinen anderen Dynamismus kennt, als einen, der den Raum
kontinuierlich durch Kräfte erfiillt denkt. Er geht darüber hinweg,
dass in einem ausdehnungslosen Punkte kein Stoff mehr Platz
hat, in einem stofflichen Atome aber auch noch stoffliche Teile
unterscheid bar sein müssen, also keine punktuelle Konzentration
erreicht ist. Er bestreitet nicht, dass die Bew^egung einen Grund
haben müsse, und man diesen Grund Kraft nennen könne; aber
er bestreitet die Selbständigkeit dieses Grundes der Bewegung und
verlegt sie in das Gesetz hinein, sucht also den Träger des
Konkreten in einer blossen Abstraktion. Auch das giebt er zu>
dass alle materiellen Impulse im Wcltprozess an psychische Im-
pulse oder Strebungen des ordnenden Weltgeistes gebunden sind,
aber er gelangt nicht dazu, diese gesetzmässigen diskreten Strebun-
gen des Weltgeistcs als die diskreten Atomkräfte anzuerkennen,
durch welche die Stofflichkeit der Atome überflüssig gemacht
und ihre Punktualität erst ermöghcht wird.
Die Atome sind nach Fechner noch nicht mit einem atomis-
tjschen Sonderbewusstsein verknüpft Sie wären überhaupt nicht,
wenn sie nicht in dem un reflektierten schöpferischen Bewusstsein
des Weltgeistes wären; denn für das menschliche Bewusstsein
sind sie bloss unentbehrliche Hypothesen, aber nicht phänomenale
Anschauungen. Was weder in ein niederes noch in ein höheres
Bewoisstsein fällt, ist überhaupt nicht nach dem Grundsatz des er-
kenntnis-theo retischen Idealismus, den auch Fechner sich aneignet.
Die Atome sind demnach nur als Bestandteile des Gedanken-
*
FechDer«
265
bildes im Weltgeist, und nur als solche liefern sie Zusammen-
setzungen (Körper), die auch in die phänomenale Anschauung
niederer Bewusstseine eingehen. Bei den Atomen entspricht also
der äusseren Erscheinung für andere keine Selbsterscheinung in
ihnen selbst; der psychophysische Parallelismus zeigt bei dieser
untersten Grenze der Individuation eine Lücke. Das kann nur
daher rühren, dass die Bewusstseinsschwelle für die Atome sehr
hoch Hegt, nämlich so hoch, dass durch keinen sie treffenden
Reiz die Empfindung über die Bewusstseinsschwelle gehoben
wird. Sie schlafen immer, und so tiefi dass kein Reiz ausreicht,
sie zu wecken. —
Bei den Pflanzen und niederen Tieren tritt schon ein Wechsel
von Schlaf und Wachen ein, wenn sich auch das Erwachen noch
nicht auf die höheren und höchsten Vermögen des Geistes bezieht.
Das Erwachen der höheren Geistesverniögen kommt erst bei den
höheren Tieren, das der höchsten erst beim Menschen zustande*
Die Bewusstseinsschwelle scheint somit nach Fechners Ansicht um
so tiefer zu sinken, zu je höheren» centralisiertercn Organisations-
formen und Individuationsstufen man aufsteigt. Die Folge da-
von ist, dass das Individualbewusstsein höherer Ordnung zwar
allen Inhalt der von ihm umspannten Individualbe wusstseine
niederer Ordnung und dazu noch eine Menge von dem, was für
diese unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleibt, in sich schliesst,
dass aber jedes Individualbewusstsein niederer Ordnung nur einen
kleinen Teil von dem auffasst» was das Individualbewusstsein
höherer Ordnung in sich schliesst. Dies gilt nun auch für den
Erdgeist, der den Bewusstseinsinhalt aller Menschen, Tiere und
Pflanzen der Erde in sich schhesst und dazu noch vieles, was
für diese unter der Bewusstseinsschwelle bleibt Es gilt im
höchsten Masse für das Universalbewusstsein des Weltgeistes;
denn dieses umspannt nicht nur den Inhalt aller Ciestirngeister,
sondern auch noch alles dazu, was dem materiellen Geschehen in
der Welt entspricht, aber ftir diese noch unterhalb der Bewusst-
seinsschwelle liegt. Die Bewusstseinsschwelle des Universalgeistes
ist also so niedrig belegen, wie sie überhaupt liegen kann, so
niedrig, dass jedem materiellen Vorgang eine geistige Bethätigung
entspricht, die ins ßewusstsein fällt, d. h. sie liegt auf NulL Hier
erst, im Universalbewusstsein, ist der psychophysische Parallelis-
mus ein vollständigen
266
Ferlincr.
Da wir von dem Bewusstseinszustande der Atome und der
Individualbewusstscine höherer Ordiiiing über den Menschen hin-
aus unmittelbar nichts wissen, so können w^ir nur auf denselben
zurückschliessen aus dem uns bekannten Verhältnis eines Central-
bewusstseins zu dem Sonderbewusstscin der von ihm umspannten
Individuen, z. B. in einem Wurme oder Insekt oder im Menschen.
Tierv^er&uche, Traum, Hypnotismus und teleologische Betrachtungen
stellen es nun aber ausser Zweifel, dass das Verhältnis innerhalb
dieser Grenzen gerade umgekehrt sein muss, wie Fechncr ange-
nommen hat Das Centralbewusstsein entfaltet nur darum eine
höhere geistige Bethätigiing, weil ihm mehr Erfahrungen als jedem
einzelnen der von ihm umspannten Individuen und höhere synthe-
tische Intellektualfunktionen zu Gebote stehen, aber nicht, weil
seine Schwelle tiefer läge. Im Gegenteil rückt proportional mit
dem Grade der Centralisation die Schwelle immer höher hinauf, und
wenn dem nicht so wäre, so würde das Centralbewusstsein von
der Masse der auf es einstürmenden Reize verwirrt und über-
wältigt. Es verhält sich also in dem uns übersehbaren Gebiet
der Individuationsstufen mit der Schwelle gerade umgekehrt wie
Fechner annimmt. Nur weil ihm diese Möglichkeit niemals in den
Sinn gekommen ist, lehnt er für sich die Annahme der Atom-
empfindung ab, deren Möglichkeit er zugicbt; denn er glaubt,
dass dann alle Atomempfindungen auch in das Bewusstsein der
höheren Individuationsstufen eintreten müssten.*)
Nun muss man aber doch zunächst annehmen^ dass das Stei-
gen der Schwelle mit dem Steigen der Individualitätsstufe und
das Sinken der Schw^elle mit dem Sinken der Individualitätsstufe,
welches wir bei Pflanzen, Tieren und Menschen feststellen, auch
über diese Grenzen hinaus nach oben und unten hin Geltung
haben dürfte, D. h. man muss annehmen, dass die Schwellcnlage
auf der untersten Individualitätsstufe der Atome ein Minimum,
auf der obersten des einheitlichen Universums ein Maximum
sein wird. Die entgegengesetzte Annahme würde einschliessen,
dass die Veränderung der Schwelle mit der Individualitätsstufe
eine Kurve sei, welche zweimal ihre Richtung umkehrt. Dann
gewinnen aber nicht nur die Atome das Bewusstsein aller mit
♦) WissensdmftJidje Briefe von Kecliner und Prcyer (Hoinbuig und Leipzig,
VoBS» 1890), S. 126, fo; — 108.
Fechner.
267
ihnen vorgehenden Veränderungen, sondern das Universum ver-
liert es. Die innere Schwelle innerhalb eines Individuums hängt
von der Güte der Leitung ab; diese ist aber zwischen den Gang-
lienzellen eines Gehirns durch die Verbindungsfasern besser her-
gestellt als zwischen zwei Gehirnen durch Erde, Luft und Äther.
Deshalb muss die Schwelle für die Kommunikation zweier Gang-
lienzellen in einem Gehirn niedriger liegen als die für die Kom-
munikation zweier Gehirne (Telepathie, Vorstellungsübertragung).
Für die Erde als Ganzes muss sie noch tiefer liegen, als für je
zwei Menschen, wahrscheinhch so tief, dass keiner der wirklich
vorkommenden Reize sie jemals überschreitet Für ein zusam-
menfassendes Bewusstsein des Erdgeistes fehlt also die Grund-
lage, und noch mehr für ein solches des Weltgeistes, dessen Sen-
sorium das ganze materielle Universum wäre. —
Aus dem zusammenfassenden Bewusstsein des Weltgeistes
leitet nun Fechner auch dessen Selbstbewusstsein ab. Wie der
Künstler aus der sinnlichen Anschauung des vollendet vor ihm
dastehenden Kunstwerks auf sich als den Urheber des Kunst-
werks zurückblickt, so soll der Weltgeist aus der zusammen-
fassenden phänomenalen Anschauung der Welt auf sich als ihren
Urheber reflektieren* Es ist klar, dass mit der zusammenfassen-
den phänomenalen Weltanschauung des Weltgeistes auch der
Anlass zu der Reflex^ion auf sich selbst wegfällt.
Nun schreibt aber Fechner dem Weltgeist ein zwiefaches
gegenständliches Bewusstsein zu, ein intelligibles, schöpferisches,
produktives L^rbewusstsein und ein phänomenales, sinnlich ge-
färbtes, rezeptives Nachbewusstsein. Beide verhalten sich wie das
Gedankenbild des genialen Künstlers, nach welchem er das
Kunstwerk schaflFt und die sinnliche Anschauung, die er von dem
vollendeten Kunstwerk empfängt Nur die phänomenale An-
schauung ist von der Zusammenfassung aller Son derbe wusst seine
und aller sie hervorrufenden Reize abhängig; die intelligible, die
der Setzung der Erscheinung vorhergeht, ist dagegen von der
Zusammenfassung und der Schwellenfrage unabhängig. Aber
nur die phänomenale, zusammenfassende Anschauung der Welt
im Absoluten kann Anlass zum Rückblick auf den Welturheber
und damit zum göttlichen Selbstbewusstsein geben; das intelli-
gible Urbewusstsein , das der Schellin gschen intellektueUen An-
schauung entspricht» kann es als ganz vom Centrum weggewen-
268
Fcchncr.
detes nicht. Das intelligible Gedankenbild der eventuell zu schaf-
fenden Welt genügt offenbar dem Weltgcist nicht; er stürzt sich
in die Erscheinung, um durch sie zum phänomenalen Bewusstsein
und Selbstbewusstsein zu gelangen. Gott ist »bewusst von An-
fang an, jedoch nicht mit Bewusstsein sich wendend rückw^ärts
aufs Bewusstsein«, Jenes Urbewusstsein ist also das substan-
tielle, unmittc4bare, unreflektierte, nicht wissende Bewusstsein
Schellings, welches mit dessen >ewig Unbewussten* zusammenfällt
Fechner wehrt jede Beziehung des Geistes zu Unbewusstem
ab; er lässt das Unbewusste nur als einen an und für sich un-
geistigen, materiellen Niederschlag früherer bewusstgeistiger Pro-
zesse gelten, der unter Umständen durch sein zweckmässiges
Funktionieren den falschen Schein der Geistigkeit vorspiegelt
Deshalb kann er der schöpferischen Intelligenz des Weltgeistes
nicht dcis Bewusstsein absprechen, ohne ilir die Geistigkeit abzu-
sprechen. Aber dieses Urbewusstsein muss ein schlechthin gegen-
ständliches bleiben, das seine Objekte als Erscheinungen setzt, in-
dem es sie denkt, und es fülirt nie zu einem Selbstbewusstsein,
wenn das zusammenfassende phänomenale Bewusstsein im Abso-
luten nicht zustande kommen kann. *-
Was an Fechners Metaphysik gegenw^ärtig am meisten ge-
schätzt wird» ist das Stichwort des psych ophysischen Parallelis-
mus, oder die Lehre, dass jeder äusseren, körperlichen Erschei-
nung eine innere, seelische entsprechen muss und umgekelirt Es
ist dies nur eine Erneuerung des Spinozismus in modernem Ge-
wände, die auch bei Fechner auf identitätsphilosophischem Grunde,,
d. k auf gemeinsamer Wesenswurzel beider Erscheinungsarten
ruht Die heutige, metaphysikscheue Philosophie hat die identi-
tätsphilosophische Grundlage beiseite geschoben und nur den
psychophysischen Parallelismus beibehalten als einen bequemen
Ausdruck für thatsächlich gegebene Beziehungen beider Erschei-
nungsarten, vermittelst dessen die Frage nach der Wechselwirkung
zwischen beiden aus der Welt geschafft wird.
Da ist nun zunächst daran zu erinnern, dass der psych ophy-^^
sische Paralielisnms nur für ein solches Bewusstsein lückenlotf^H
vollständig ist, dessen Schwelle auf Null liegt. Für alle anderen '
Bewusstseine fehlt die psychische Resonanz bei materiellen Rei-
zen, die unter der Schwelle liegen. Da nach Fechner nur beim
Weltgeist die Schwelle auf Null liegt, so gilt auch eigentlich
Fedmen
26g
nur für diesen der psychophysische Parallelismus im ganzen Um-
fang der Erscheinungen. Für das menschliche Bewusstsein gilt
er jedenfalls nur äusserst lückenhaft, mag nun die Schwelle im
Weltgeist oder im Atom auf Null liegen.
Aber auch für den Weltgeist ist nach Fechner der psycho-
physische Parallelismus nichts weniger als eine prästabilierte
Harmonie, sondern ein Produkt seiner produktiven und rezeptiven
geistigen Thätigkeit. Er ist darum aucli nicht einfach, sondern
doppelt. Die äussere Erscheinungswelt muss dem intelligiblen
Urbevvusstsein entsprechen, durch das sie geschaffen wird, und
das phänomenale Bewusstsein muss der äusseren Erscheinungs-
welt entsprechen, die als ihr Reiz w^irkt. Die äussere Erschei-
nungswelt ist das Posterius des intelligiblen Urbewusstseins
und das Prius des phänomenalen Bewusstseins ; sie ist mit
anderen Worten das Produkt unbewusster Geistesthätigkeit und
der Hervorrufer der bevvussten Geistesthätigkeit. Damit löst
sich der psychophysische Parallelismus selbst bei Fechner in eine
zwiefache Kausalität auf Für uns Menschen kommt hauptsäch-
lich die zweite Hälfte derselben in Betracht, die Abhängigkeit
des Erapfindungslebens von der Körperwelt, da wir in das intelli-
gible Urbewusstsein Gottes nicht hineinblicken können. Die
andere Seite, die Abhängigkeit körperlicher Erscheinungen von
geistigen Vorgängen, kann nur dann in uns herv^ortreten , w^enn
Teilfunktionen des produktiven absoluten Urbe\ivnisstseins in un-
ser Geistesleben ohne unser Vorwissen hineinragen, die unserem
menschlichen Bewusstsein freilich dann unmittelbar unbewusst
bleiben müssen. —
Da es Dinge an sich hinter der phänomenalen Körperwelt
nach Fechner nicht giebt, so ist dasjenige, wodurch die Körper-
welt für mich bestimmt ist, lediglich die Körperwelt im absoluten
Bewusstsein. Meine Vorstellung von diesem Dinge und die Vor-
stellung Gottes von ihm sind nicht zwei Vorstellungen, sondern
eine und dieselbe, numerisch identische Vorstellung, unbeschadet
dessen, dass die Vorstellung Gottes von ihm reicher ist als die
meinige und viele Einzelheiten einschliesst, die für mein Bewusst-
sein unter der Schwelle liegen. Dasselbe gut aber auch von der
Vorstellung eines anderen Menschen von diesem Dinge; seine
und meine Vorstellung von diesem Dinge stimmen eben darum
mit einander überein, weil beide mit der Vorstellung Gottes von
270
Fechner.
dem Dinge übereinstimmen. Wie die Vorstellungen zweier Be-
wusstseine numerisch identisch sein können, ohne dass auch die
Bewusstseine numerisch identisch sind, bleibt dabei uner«'jrtcrt,
ebenso wie es verhindert werden soll, dass meine Vorstelhmg
und die eines anderen von dem Dinge numerisch identisch seien,
wenn sie beide mit derjenigen Gottes numerisch identisch sind.
Diejenige Leistung, durch welche Fechner einen dauernden
Platz in der Geschichte der Philosophie einnehmen wird, ist die
Aufstellung des von ihm sogenannten Weberschen Gesetzes, wel-
ches die Abhängigkeit der Empfindungsstärke von der Reizstärke
innerhalb gewisser Grenzen und unter gewissen Vorbehalten be-
stimmt, und die Durcharbeitung dieser Entdeckung auf den ver-
schiedensten Gebieten in seiner ^ Psychophysik * . Durch sie hat
er den Grund gelegt zur physiologischen Psychologie, Seine
Gestirngeister hat niemand ernst genommen, und mit seinem phä-
nomenalen Bewusstsein Gottes als einer Summe aller phänome-
nalen Bewusstseine in der Welt kann dem Theismus ebensowenig
gedient sein, wie mit Michelets ewiger Persönlichkeit des Geistes
als dem Komplex und dem Abstraktum aller endlichen Persdn-
liclikeiten in der Welt. Aber durchaus modern ist Fechner in
methodologischer Hinsicht, indem er nur induktiv philosophiert
und bloss auf Wahrscheinhchkeit der Resultate ausgeht*) —
Alle in diesem Abschnitt aufgeführten Denker sind Monisten
oder Pantheisten in dem Sinne, dass das Absolute oder Gott
Alles ist, nicht etwa in dem untergeschobenen Sinne, als ob bei
ihnen die Summe des Endlichen oder gar jedes Einzelnen Gott
wäre. Sie haben aber mit Ausnahme Schopenhauers auch das
mit einander gemein, dass sie sich des Gegensatzes dieses Pan-
theismus gegen den christlichen Theismus und der Unvereinbar-
keit beider nicht bewusst sind. Den älteren unter ihnen ist noch
*) VcrgL »Fechuers Univcrsalbewusslsein« in der Monatssdmil »Sphinx«, 1891,
Junilieft. Über Fectners Atomlehre »Gcs, Stud. u. AiifsaUec, S. 541 — §45, Über die
Fsycliophysik »Phil. d.Unb.., 10. Aufl., Bd. I, S. 29—32, Bd. IH, S. loS— logr ^Kate-
gorienlclire« I S* 25 — 31, 50^ — 63. Über Pflanzenbescetung »Phil. d. Unb.*» 10, Aiifl»,
Bd, n, S, 65 — 95, Über den psychopbjsiscben Parallelisnujs »KategoriL^nlebrec,
S. 401 — 414 und »Die aDotrope Kausalität« im »Archiv für System. Phil.*, Bd. V,
Heft I. Über das Unbewusste als Niederschlag früherer Bewiasstseinsthatigkeit >Preuss.
Jahrbücher«, Bd. 66, Hft 2, S. 127 — 129. Über Fedmers Ästhetik >Dic deutsche
ÄsthetilE seil Kanu, S. 328—357 (vergl. auch Namenregister).
Übergang jcnm Thebmus.
271
gar nicht in den Sinn gekommen, dass ihr Standpunkt rait seinem
unpersönlichen, zwischen Bewusstheit und Unbewiisstheit schillern-
den Absoluten zu dem christlichen llieismus in einem Gegensatz
stehen könne; man kann sie deshalb naive Pantheisten nennen,
die da glauben, den wahren Gehalt des Christentums zum philo-
sophischen Ausdruck gebracht zu haben. Selbst Schopenhauer
erhebt diesen Anspruch (P, 11,, 336), wenn er auch gegen Theis-
mus und Pantheismus Stellung nimmt und demgemäss eine
atheistische christliche Philosophie für ebenso möglich hält wie
-eine atheistische buddhistische. Auch Michelet sucht sich rait
dem Eiertanz seines Begriffes der ewigen Persönlichkeit des
Geistes noch über den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem
persönUchen, selbstbewussten Gott des christhchen Theismus und
dem unpersönlichen, unbewussten Gott des Pantheismus hinweg-
zutäuschen. Die jüngere, oder doch später mit ihren Hauptwerken
hervorgetretene Gruppe der Pseudotheisten hat zwar den Gegen-
satz zwischen Pantheismus und Theismus begriffen, bildet sich
aber ein, sich dadurch allein von allem Pantheismus scheiden und
dem Theismus zugesellen zu können, dass sie dem unpersönlichen
Absoluten ein eigenes absolutes Selbstbewusstsein zuschreibt Man
kann sie nicht mehr naive, wohl aber in ihrer theistischen Selbst-
täuschung versteifte und verhärtete Pantheisten nennen. An diesem
.Punkte musste notwendig eine christlichromantische Reaktion ein-
setzen mit dem Versuche, die philosophischen Ergebnisse der
spekulativen Pantheisten für einen christlichen spekulativen Theis-
mus nutzbar zu machen, der seinen Namen verdiente.
Sämtliche Denker dieses Abschnittes haben aber auch das mit
einander gemein» dass sie die absolute Thätigkeit als ein auf sich
selbst beruhendes Letztes betrachten, das Subjekt nur in der als
Thätiges vorgestellten Thätigkeit suchen und die Substanz als
ein von der Thätigkeit hervorgebrachtes Produkt behandeln.
Selbst bei Schopenhauer tritt gewohnHch der Wille an die Stelle
des Subjektes des Wollens und das Subjekt des Erkennens schillert
zwischen dem Ich als einem phänomenalen Produkte des Er-
kennens und dem Willen als Subjekt aller vorbewussten Be-
thätigung. Nur bei tieferem Eindringen in die von ihm selbst erst
geahnten Zusammenhänge seines Systems macht sich das Be-
dürfnis nach einem einheitlichen absoluten Subjekt des absoluten
Wollens und der unbe^voissten Idee geltend, während im gewöhn-
2^2
Übergang zum Theisnuis,
liehen Ausdruck der Wille selbst als Subjekt figuriert. Es gilt
diesen spekulativen Pantheisten als Zeichen eines ganz unkritischen,
naiven Denkens, wenn hinter der Thätigkeit noch nach einer
Substanz oder einem Subjekt gesucht wird, und dies ist allerdings
richtig, so lange unter der Substanz ein sinnlicher StoflF, unter
dem Subjekt ein selbstbewusstes Ich verstanden wird.
Aber so recht sie auch gehabt hatten, die stofiFliche Substanz
und das Ich für Produkte der imniateriellen und unbewussten
Thätigkeit zu erklären, so schütteten sie doch das Kind mit dem
Bade aus, indem sie an eine immaterielle absolute Substanz und
an ein unbewusstes absolutes Subjekt als Träger und Produzenten
der Thätigkeit gar nicht dachten. Sie muteten dem menschlichen
Denken etwas zu, wogegen seine geistige Organisation sich em-
pörte, nämlich die instinktive Kategorialfunktion der Substantia-
lität für eine illusorische Prellerei zu halten, gerade gut genug,
um Pseudosubstanzen vorzuspiegeln oder Produkte der Thätig-
keit zu solchen zu stempeln. Auch hiergegen musste notw^endig
eine Reaktion eintreten, um der mit Füssen getretenen Kategorie
der Substanz wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen und die in
der Luft schw^ebende Thätigkeit von ihrem Thron als letztes meta-
physisches Prinzip herabzustürzen. Diese Reaktion musste eine
doppelte sein, je nachdem sie sich auf das selbstbewusste absolute
Subjekt, oder auf eine sinnlich stoffliche absolute Substanz, oder
auf viele übersinnliche, ungeschaiFene Substanzen stützte. Im
ersten Falle fiel sie mit der christlich-theistischen Reaktion gegen
den Pantheismus zusammen^ im zweiten Falle trat sie als materia-
listischer Gegenschlag sowohl gegen den spekulativen Pantheismus,
als auch gegen den Theismus auf, im dritten Falle zog sie sich
auf eine atheistische und pluralistische Willeosmetaphysik zurück.
Mit diesen beiden Reaktionen ist die Signatur der Meta*
physik dieses Jahrhunderts ausgesprochen, soweit sie sich von
dem spekulativen Pantheismus unterscheidet Insofern es sich um
eine blosse Reaktion ideell überwundener Standpunkte handelt,
hat ihre Betrachtung etwas Trübseliges; denn es sind zwei gleich
unwahre Extreme (Theismus und meist materialistischer Atheis*
mus), die mit einander ringen und nur darin einig sind, den
spekulativen Pantlicismus zu bekämpfen. Dennoch war diese
doppelte Reaktion eine historisch notwendige Zwischenstufe. Die
vom spekulativen Pantheismus ideell überwundenen Standpunkte
■
■
Obergang zum Theismus.
273
miissten noch einmal ihre ganze Kraft zusammenrafFen , um zu
zeigen, wieviel sie im Kampfe mit dem neu erstandenen Gegner
zu leisten vermöchten. Es musste der Beweis geliefert werden,
dass sie bei allem Aufwand von Scharfsinn nicht imstande seien,
die durch den spekulativen Pantheismus vollzogene Auflösung
ihrer Principien in phänomenale Produkte der Thätigkeit zu ent-
räften. Es musste aber andererseits auch durch den Theismus
fder Beweis erbracht werden, dass der spekulative Pantheismus
sich mit Unrecht für christliche Philosophie ausgebe, von dem
Materialismus der andere, dass die Methode des spekulativen
Pantheismus unbrauchbar und sein Anspruch auf notwendige und
gewisse Erkenntnis unhaltbar sei. Es musste femer durch die
gesamte Reaktion dargethan werden» dass es dem Menschengeist
unerträglich ist, die Vergewaltigimg geduldig hinzunehmen, die
ihm vom spekulativen Pantheismus angethan worden war, und
die Thätigkeit für ein Letztes zu halten.
Alle diese Aufgaben hat die doppelte Reaktion wirklich ge-
löst Sie hat ferner die erkenntnistheoretische Untersuchung,
die von Fichte bis Hegel geruht hatte, wieder aufgenommen,
die Kantsche Grundlage des transcendentalen Idealismus genauer
geprüft und so den späteren Umschlag in transcendentalen Rea-
lismus vorbereitet. Nur eines vermochte sie nicht, die metaphy-
sichen Wahrheitsmomente des spekulativen Pantheismus heraus-
zuheben, ihre positive Bedeutung zu erkennen, sie in die richtige
Verknüpfung mit einander zu bringen, und sie in dem Sinne zu
berichtigen und zu ergänzen, wie ihr Zusammenhang und die be-
rechtigte Kritik der Reaktion es verlangte. Am nächsten ist
diesem Ziele noch Schelling in seiner späteren Periode getreten,
deshalb kann er noch am ehesten als Wegweiser fiir die Lösung
dieser Aufgaben dienen. Aber er bleibt prinzipiell auf dem Bo-
den der theistischen Reaktion, kommt aus der falschen Auffassung
der Methode und Ziele der philosophischen Erkenntnis noch nicht
recht heraus und verhüllt seine richtigen Leitgedanken unter
einem Wust unbrauchbarer mythologischer und theosophischer
Spekulationen, Schopenhauer hat er offenbar nicht gekannt und
Hegels System mit P^eindseligkeit behandelt; er ist darum wohl
imstande, die Prinzipien Hegels und Schopenhauers, die diese
beiden von ihm überkommen haben, zu verknüpfen, aber nicht
dazu, ihre Systeme zu verschmelzen.
E. Y, Hart mann, Attigow.Wofke. Bd. XU. l8
274
Übeaigiiig
Theismus.
Da Schellin g- niemals ein Princip zum System durchgebildet
hat, so müssen die Systeme Schopenhauers und Hegels als die
beiden Gipfel gelten, zu denen die produktiv-metaphysische Spe-
kulation sich erhoben hat Sie ergänzen einander wie Gegenstücke
in allen Punkten, in denen sie nicht auf gleichem Boden stehen.
Schopenhauer stellt gewöhnlich die Idee als eine erste Objektivation
des Willens dar, also als ein sekundäres Produkt des unlogischen
Realprincips; Hegel dagegen behandelt den Trieb oder Willen,
oder die unlogische Existenzweise der Natur als ein Produkt der
logischen Idee. Schopenhauer betont an der Idee die Intuitivität,
Hegel die Vernünftigkeit Schopenhauer fasst das Subjekt der
Thätigkeit als Willen, Hegel als das logische Formalprincip od
den Begriff auf. Schopenhauer ist Willensrealist, Hegel Begriffs-
realist während, davon abgesehen, beide transcendentale Idealisten
sein wollen. In erkenntnis- theoretischer Hinsicht muss deshalb
Schleiermacher zu ihrer Ergänzung und Berichtigung heran-
gezogen werden, wie denn auch Schelling in seiner letzten Periode
sich zum transcendentalen ReaUsmus hingewandt hat
Die Theisten und Materialisten stehen im Grossen und
Ganzen an spekulativer Kraft hinter den Leistungen des speku-
lativen Pantheismus erheblich zurück* Ihre Leistungen sind in
der Hauptsache negativ, sowohl in Bezug auf die unzulängliche
Begründung ihres grundsätzlichen theistischen eigenen meta-
physischen Princips und materialistischen Standpunktes, als auch
in Bezug auf ihre Kritik des spekulativen Pantheismus. Daneben
aber bringen sie viele schätzenswerte Beiträge zur Erkenntnis-
theorie, Methodologie, Kategorienlehre und Principienlehre hinzu
und fördern dadurch die Metaphysik in vieler Hinsicht
Zur Übersicht, wie der Theismus und Atheismus zeitlich in
einander greifen, diene folgende Tabelle der Erscheinungsjahre der
wichtigeren Schriften. Die bereits erörterten Pseudotheisten sind
unter Theismus in Klammern eingeschaltet.
276 Übeigang zum Theismus.
dass hier zunächst die Grruppe der Theisten und dann erst die
der Atheisten zur Darstellung gelangt, obwohl von den vierziger
Jahren an beide in Wechselwirkung treten. Da die theistischen
Philosophen den Kernpunkt ihrer Metaphysik und den ent-
scheidenden Unterschied ihres Standpunktes von allen anderen
in ihrer Lehre von Gott sehen, so ist es unvermeidlich, dass auch
die Geschichte der Metaphysik bei der Darstellung der theistischen
Philosophen ihrer Gotteslehre besondere Aufmerksamkeit zu-
wendet.
t)er Theismus.
I. Die Begründer des neuesten Theismus,
Jacobi and Baader sind als die Begründer des spekulativen
Theismus zu betrachten, weil sie zuerst die Unvereinbarkeit
der pantheistischen Metaphysik mit dem christlichen Theismus
gegen die spekulativen Pantheisten hervorhoben und die Forde-
rung einer rein theistischen Metaphysik aufstellten. Und zwar
ist Jacobi der Begründer des unitarischen, Baader der des trini-
tarischen Theismus.
Jacobi (1743 — 1819) entiehnt von Hume den Grundsatz, dass
die Ergebnisse des verstandesmässigen Erkennens im notwen-
digen Widerspruch stehen mit dem gefühlsmässigen Glauben,
dessen wir uns praktisch nicht entschlagen können, von Reid
die Lehre, dass in diesem Widerspruch allein der Glaube das
Recht habe» unsere philosophische Überzeugung zu bestimmen.
Von Kant entnimmt er den Ausdruck Vernunft zur Bezeichnung
für das Organ der Vernehmung des Übersinnlichen, lehnt es
aber ab, den Vemunftglauben an das Übersinnliche wie Kant
auf sittliche Postulate und Forderungen zu stützen. Jacobi hat
zuerst die Achillesferse des Kantschen Systems klar erkannt und
ausgesprochen, den Widerspruch, dass das Ding an sich unsere
Sinnlichkeit kausal affizieren und doch die Kausalität nur imma-
nente Geltung haben soll. Er nimmt an, dass nach Kants Lehre
diese Affektion der produktiven Einbildungskraft einen formellen
Anstoss zur Bethätigung gebe, aber keinerlei qualitativ bestimmten
Einfluss übe, so dass die Bestimmtheit in den Produktionen der
Einbildungskraft bei Kant völlig unerklärt bleibe. In Raum und
278
JacobK
Zeit kann die Einbildungskraft schon darum nicht hinausschreiten,
weil sie beide erst produzieren soll Aus reinem Raum* reiner
Zeit und reinem Bewusstsein lässt sich aber noch nichts gestalten,
weil die Synthesis der Verstandesfunktionen erst dann einsetzen
kann, wenn etwas Bestimmtes zum Verknüpfen da ist Wenn
die Vernunft Gegenstände gebiert, so sind es Himgespenster,
und der Verstand vernichtet selbst die wahrgenommenen Gegen-
stände in ihrer unmittelbaren Realität, indem er sie durch seine
Reflexionen in Gedanken auflöst. Nur die unmittelbare Wahr-
nehmung kann objektive Realität verbürgen, nicht der Verstand
kann sie aus sich hen^orbringen» Bei Kant löst sich die objek-
tive Realität ganz in Nichts auf, indem sie zu einem unbestimmten
unerkennbaren X verflüchtigt wird, das uns immer fremd bleibL
So wird seine Lehre zum absoluten Idealismus oder zur Un*
Wissenheitstheorie.
Diese Polemik Jacobis gegen Kant hat nicht wenig dazu
beigetragen, die idealistischen Schüler Kants in der Überzeugung!
zu bestärken, dass sie mit ihrer gänzlichen Beseitigung des Dinges'
an sich die wahren Ausleger ihres Meisters seien. Denn die ent-
gegengesetzte Auslegung, nach welcher das Ding an sich nicht
bloss Anstoss gebend ist, sondern die Materie der Empfindungen
auch inhaltlich bestimmt, wurde als mit der Erfahrung im Wider-
spruch stehend von Jacobi bekämpft. Dieser betont mit Recht» dass
wir uns keiner kausalen Beziehung unserer Vorstellungsobjekte auf
Dinge an sich, keines Schlusses von jenen auf diese, überhaupt
keiner vorstellungsmässigen Vermittelung zwischen beiden be-
wusst sind, und hält es dadurch für erwiesen, dass alle solche
Zwischenglieder auch nicht existieren. Diese Schlussfolgerung
muss so lange für bündig gelten, als unbewusste Mittelglieder
ausserhalb des philosophischen Gesichtskreises liegen oder ge-
leugnet werden. Jacobi hat also in dieser Polemik gegen Des-
cartes die Konsequenz für sich, da beide keine unbewussten
Intellektualfonktionen kennen.
Auf diesen Beweisgrund gestützt bleibt er auf dem Boden
des naiven Realismus stehen und behauptet, dass die Dinge sich
unseren Sinnen mitteilen, wie sie an sich sind, dass sich uns im
Wahrnehmen das Wesen der Dinge »offenbart«, und ihr »Wahres«
zu unserer »Wahrheit« wird. Die sinnliche Aussenwelt vernehmen
wir so durch den äusseren Sinn, die übersinnliche Welt durch
Jacobi,
279
den inneren Sinn. Bei dem Wahrnehmen der ersteren entsteht
Empfindung, bei dem der letzteren Gefühl. Der Verstand ver-
arbeitet beide, wobei ihm im ersteren Gebiete die Sinne» im
letzteren die Vernunft - weisen ^ Die Gewissheit des sinnlichen
und übersinnlichen Vernehmens des zur subjektiven Wahrheit ge-
offenbarten objektiv -Wahren ist eine unmittelbare, durch instink-
tiven Glauben verbürgte. Alle Demonstrationen müssen sich auf
unmittelbare Gewissheit stützen, und diese gewährt nur der Ge-
fühlsglaube. Wie dieser Standpunkt einerseits an Reid anknüpft,
lehnt er sich andererseits an den religiösen Glauben an, wenn
auch die spätere Bezeichnung des Glaubens als »Vernunft« der
Theologie nicht zusagen konnte. —
Das Gefühl, das uns die übersinnliche Welt aufschliesst, soll
nicht so bestimmt sein» wie die Empfindungen, welche uns die
sinnliche Welt kundmachen. Zwar offenbart uns das Geftihl Gott,
unsere Freiheit und Unsterblichkeit, auch die Persönlichkeit und
andere Eigenschaften Gottes; indessen bleiben wir sonst doch über
die nähere Beschaffenheit der offenbarten Ideen im Unklaren.
Jacobi übersieht, wie viel Niederschläge verstandesraässiger Re-
flexion er hier in seinen Gefühlsinhalt hi nein pro] iz iert , und wie
sehr der vermeintliche Gefühlsiohalt bei jedem Menschen indivi-
duell durch seinen Büdungsgang und kulturgeschichtlich durch
den Zeitgeist und seine Umgebung bestimmt sind. Er verkennt,
dass solcher Gefühlsglaube immer nur eine subjektive Geltung
behaupten, aber niemals den Anspruch erheben darf, anderen
Individuen objektive und allgemeingültige Normen für ihre Über-
zeugungen vorzuhalten, oder gar der Wissenschaft Vorschriften
zu machen und Grenzen zu ziehen. So kann z. B. der Inhalt
seines individuellen Gefiihlsglaubens vom Standpunkte des christ-
lichen Glaubens nur als schlechthin ungenügend und falsch er-
scheinen, da er jede äussere Offenbarung, die Trinitätslehre, die
Erbsünde, das heteronome Sittengesetz, die objektive Erlösung
durch Christus und die Göttlichkeit Christi ausschliesst
Wenn er trotzdem von christlicher Seite hoch gefeiert worden
ist, so ist dies darum, weil er den Theismus einerseits gegen den
platten Deismus und Materialismus der Aufklärung und anderer-
seits gegen den spekulativen Pantheismus auf den Schild erhoben
hat und dadurch zum Begründer eines spekulativen Theismus,
allerdings in unitarischer Gestalt, geworden ist In Jacobi erwacht
28o JtcobL
zum ersten Mal in der Geschichte der Metaphysik das deutliche
Bewusstsein, dass der Theismus etwas wesentlich anderes ist als
der spekulative Pantheismus, dass der letztere sich mit Unrecht
über die Schärfe dieses Gegensatzes täuscht und hinwegsetzt, und
dass das entscheidende Merkmal des Theismus im Gegensatz zum
Pantheismus die Persönlichkeit Gottes ist Dadurch hat er nicht
nur den Anhängern des Theismus, sondern der Philosophie über-
haupt einen nicht hoch genug zu veranschlagenden Dienst ge-
leistet Die Wirkung dieser Unterscheidung konnte natürlich
nicht mit einem Schlage hervortreten. Die pantheistischen Philo-
sophen seiner Zeit, welche das richtige Gefilhl hatten, dass auch
ihr Standpunkt dem religiösen Gefühl etwas Ausreichendes und
vielleicht etwas Besseres zu bieten habe als der Jacobische Theis-
mus, verwahrten sich mit Recht gegen die Jacobische Übertrei-
bung, als ob aller Pantheismus schlechthin Atheismus sei. Aber
sie suchten mit Unrecht die Grenze zwischen Pantheismus und
Theismus zu verwischen, um dadurch den Vorwurf des Atheismus
um so wirksamer abzuwehren.
Die spekulativen Pantheisten bis zu Hegel waren noch naive
Pantheisten, insofern sie den Gegensatz zwischen Pantheismus und
Theismus nicht anerkannten, um die Fiktion einer Übereinstim-
mung ihrer Philosophie mit dem wahren Inhalt des Christentums
aufrecht zu erhalten. Erst die spekulativen Theisten, welche als
Nachfolger Jacobis sich diesen spekulativen Pantheisten polemisch
entgegenstellten, brachten die Schärfe des Unterschiedes zur all-
gemeineren Geltung und riefen dann als Gegenschlag die völlig«
Lossagung auch der spekulativen Philosophie vom Christentum her-
vor. Diese philosophische Revolution ist in kulturgeschichtlicher
Hinsicht vielleicht die folgenschwerste, die je in der Geschichte
der Philosophie vorgekommen ist, und in dieser Scheidung der
Geister hat Jacobi den massgebenden Anstoss gegeben. Er hat
mit seinem Aschen Vorwurf der Gottlosigkeit auch den speku-
lativen Pantheismus zum Bewusstsein seiner Unchristlichkeit ge-
führt, während bis dahin nur der unphilosophische Materialismus
zur Einsicht in seine Unchristlichkeit gelangt war. —
Als Prototypen des spekulativen Pantheismus betrachtet
Jacobi das Spinozistische System, und deshalb richten sich gegen
dieses seine wuchtigsten AngriflFe. Er hat durch die Hochstellung
Spinozas nicht wenig dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit
28 1
Fichtes, Schellings und Schleiermachers auf diesen so lange un-
gebührlich missachteten Denker hinzulenken und die Epoche
seiner positiven Wiirdigiing anzubahnen. Ebenso ist durch ihn
Schelling, wie er selbst bekennt, auf Bruno aufmerksam ge-
macht worden. Auch diese Verdienste sollen ihm unvergessen
sein. Wie seine Kritik zuerst an Kants System den Fundamen-
talwiderspruch erkannte, so hat er auch in der Polemik gegen den
Naturalismus und abstrakten Monismus treflFliche^ geleistet und
deren schwächste Punkte ausfindig gemacht. Dass er den Pan-
theismus nur in diesen beiden Formen kannte, dass der konkrete
Monismus, gegen welchen seine Kritik unwirksam wird, zu seiner
Zeit noch nicht existierte, dass er für die Ansätze zu einem solchen
und für die Keime zu einer Würdigung des unbewussten Geistes
in Fichte und Schelling keinen Blick hatte, das kann man ihm
wahrlich nicht zum Vorwurf anrechnen»
Unter Natur versteht Jacobi das Reich einer blinden mecha-
nischen Kausalität, in welchem die bewusste Intelligenz, so weit
solche vorhanden ist, nur die Rolle eines unthätigen Zuschauers
spielt. Objektive Vernunft in der Nattir vermag er sich nicht zu
denken, weil ihm der Begriff einer unbewussten Vernunft oder
Geistesthätigkeit widersinnig und alle Vernunft an Freiheit und
Persönlichkeit geknüpft scheint. Dass unter diesen Umständen
von innerer Naturzweckthätigkeit keine Rede sein kann, ist klar.
Jacobi hat von der Würde seiner realistisch verstandenen Natur
einen nicht minder geringen Begriff als Fichte von derjenigen
seiner idealistisch verstandenen. Wird nun einer solchen natura
naturata gemäss der Begriff einer natura naturans gebildet, so kann
dieser gleichfalls nur eine nach starrer Notwendigkeit blind-
wirkende mechanische Kraft, das Gegenteil eines vernünftigen
Geistes, sein. Dass er diesen in der That atheistischen Naturbe-
griff dem Spinozismus und der Schelüngschen Naturphilosophie
unterlegt, darin hat Jacobi natürlich unrecht Ebenso hat er
unrecht, wenn er jede Demonstration des Unbedingten für un-
möglich erklärt, weil durch sie das Unbedingte zu einem durch
seine Gründe Bedingten herabgesetzt würde; denn dieser Einwand
entspringt aus einer Verwechselung von Realgrund und Erkennt-
nisgrund.
Dagegen hat er recht, wenn er Spinoza tadelt, dass er trotz
seiner Leugnung aller Teleologie von göttlichen Ratschlüssen
a82
Jacobi.
und Weltregierung rede und dadurch sein blindes Schicksal als
Vorsehung auslege. Er hat recht, dass erst mit der Vorsehung
oder vernünftigen Teleologie das Absolute zu einem Gott werde,
d. h. zu einem möglichen Gegenstande eines religiösen Verhält-
nisses für den Menschen, und dass diese Bedingung bei Spinoza
nicht erfiiUt ist Er hat recht, dass bei Fichte und Schelling trotz
der behaupteten Zweckmässigkeit des Weltprozesses doch kein
haltbarer Zweck desselben anzugeben ist, weil in einem ewigen
Prozess kein wirkliches Werden möglich ist und nichts heraus-
kommt, was nicht schon da wäre. Die That einer unendlichen
Produktivität, der Wert und Gegenstand ihrer unendiichen Ge-
schäftigkeit ist gleich Null; da immer alles Mögliche gleichzeitig
ist trotz aller Veränderungen, so wird bei der ganzen Produk-
tivität nichts produziert als die leere Form der Zeit. Werden
aber, wie bei Schelling, Epochen der Selbstaktualisierung Gottes
unterschieden, so muss nach geschehener vollkommener Aktuali-
sierung Gottes auch der Prozess der Welt aufhören, der nur
Mittel zu diesem Zwecke war. Dauert dagegen der Kampf be-
ständig fort, so tritt die vollkommene Aktualisierung nie ein und
der Zweck bleibt ewig unerreicht. Diese Polemik gegen die
Unendlichkeit eines teleologischen Weltprozesses, durch welche
Jacobi sich veranlasst fand, einen zeitlich endlichen Weltprozess
zu behaupten, hat weder bei seinen Zeitgenossen, noch bei den
nachfolgenden Philosophen bisher die rechte Würdigung gefunden,
obwohl sie sich im Einklänge mit der christlichen Weltanschauung
befindet,
Ist die Selbstaktualisierung des Absoluten zur Vollkommen-
heit der letzte Zweck des Weltprozesses, so folgt daraus, dass
das Absolute als solches, und abgesehen vom Weltprozess, das
schlechthin Unvollkommene sein muss, das seine Vollkommenheit
erst erstrebt und sucht Dieses richtige Argument verwertet
jedoch Jacobi nicht gegen die Positivität des letzten Weltzwecks,
sondern gegen die Immanenz des Absoluten in ihm* Er will in
Gott nicht den immanenten Weltgrund oder das innere Welt-
princip, sondern die äussere Weltursache oder den transcendenten
Schöpfer sehen. Wegen ilirer Transcendenz und Übernatürlich-
keit soll diese äussere Weltursache jeder Begreiflichkeit entrückt
sein, weil unser Begreifen nur innerhalb des Natürlichen am
Faden der mechanischen Kausalität verläuft. Der Grund dafür.
Jftcobt
283
dass gerade die Kausalität Gottes nicht auch rückwärts vom Ver-
stände durch Aufsteigen von der Wirkung zur Ursache begriffen
werden kann, liegt darin, dass sie eine freie Thätigkeit ist, und
alle Kausalität durch Freiheit etwas Unbegreifliches ist, an das
bloss noch geglaubt werden kann. »Das Gebiet der Freiheit ist
das Gebiet der Unwissenheit.* —
Wenn diese aus der Freiheit geschöpften Einwendungen
ebenso unhaltbar sind, wie der Jacobische Freiheitsbegriff selbst,
der von Willkür nicht zu unterscheiden ist, so sind dagegen seine
Einwendungen gegen den abstrakten Monismus von bleibendem
Wert. Er zeigt, dass die Welt im abstrakten Monismus ein
blosses Nichts ist, das aus einer Gestalt des Nichts immer in die
»andere übergeht, aber niemals zu wahrer Wirklichkeit gelangt.
Das Absolute aber ist wiederum nichts als bhnd aktuose Produk-
tivität, deren ganzer Wert und deren Reahtät nach dem Werte
und der Realität ihres Produkts beurteilt werden müssen. Ist
nun das Produkt eigentlich Nichts, so ist auch das Absolute, da
es nur in diesem nichtigen Produzieren des Nichts besteht» so gut
wie Nichts, das schlechthin Unvollkommene, das im Produkt seine
Vervollkommnung sucht, aber niemals findet» weil der ewige
Weltprozess in Wahrheit nichts gebiert als die Zeit.
Der abstrakte Monismus ist gar nicht imstande, das End-
liche aus dem Unendlichen abzuleiten. Bei Spinoza tritt dies
deutlich hervor, indem alle Kausalität nur von Endlichem zu
Endlichem und sofort ohne Ende leitet, aber niemals zum Un-
endlichen hinführt Spinoza muss deshalb mit dem Eingestand»
nis schliessen, dass das Endliche gleich ewig mit dem Unend-
lichen sei. Auch Fichte hat auf irgend welche Ableitung des
Endhchen oder Indi\nduellen aus dem Unendlichen oder Absoluten
von vorn herein verzichtet, und was SchelUng an Stelle derselben
zu bieten versucht, sind doch nur Ideen der Natur oder Kate-
Lgorien der ewigen, intelligiblen Natur. Der abstrakte Monismus
[kann dem Endlichen schon darum keine wahrhafte Wirklichkeit
[zugestehen, weil er der Zeit die wahre Wirklichkeit abspricht
AUes Endliche bleibt verschwindendes Moment im Unendlichen
und gelangt zu keiner Selbständigkeit des Daseins, zu keinem
wahren Fürsichsein, ebenso wenig wie zu wahrer Wirkliclikeit
Diese Kritik des abstrakten Monismus schiesst nur dadurch über
ihr Ziel hinaus, dass sie für das Endliche nicht selbständige, für
a84
Jftcobi»
sich seiende Wirklichkeit, sondern auch Freiheit fordert. Im
übrig-en sind alle Einwendungen Jacobis gegen den Pantheismus
in Gestalt des Naturalismus und abstrakten Monismus völlig zu-
treffend und zwingen zur Aufsuchung eines Standpunktes, der
diese F'ehler vermeidet. Jacobis Irrtum lag nur darin, dass er
ausser der naturalistischen und abstrakt monistischen Gestalt des
Pantheismus keinen anderen Standpunkt für möglich hielt als den
des Theismus. Wäre diese Alternative richtig, so wäre seine
Kritik des Pantheismus in der That ein indirekter Beweis für
den Theismus. Ein dritter Standpunkt wird nur dann an Stelle
des Theismus treten könoeii, wenn er die von Jacobi mit Recht
gerügten Mängel des Naturalismus und abstrakten Monismus
ebensogut wie den Theismus vermeidet. —
Jacobis Bedeutung liegt nicht nur in seinen eigenen philo*
sophischen Ansichten und in seiner Kritik zeitgenössischer Denker,
sondern vor allen Dingen auch darin, dass er der erste ist, der
in jener spekulativen Epoche sich eine philosophiegeschichtliche
Bildung angeeignet hat Nicht nur Kant, sondern auch Fichte
war noch völlig unwissend in der Geschichte der Philosophie;
erst mit Schelling beginnt die philosophiehistorische Bildung ein
notwendiger Bestandteil des modernen Philosophen zu werden.
Schelling aber verdankt seine philosophiegeschichtliche Bildung
fast ausschliesslich Jacobi; teils hat er sie aus dessen Schriften
geschupft, teils ist er wenigstens durch sie zu weiterem Studium
bestimmter Philosophen angeregt worden, Jacobi ist es gewesen.
der Spinoza und Leibniz, die beiden fast vergessenen Grössen»
gleichsam wieder entdeckt und in die neueste Philosophie einge-
führt hat Er hat zwar keine richtige und erschöpfende Würdi-
gung beider besessen, aber doch eine der Wahrheit ungleich näher
kommende, als sie bis dahin üblich wan Er hat die hohe Be-
deutung Spinozas erkannt, den echten Leibniz den Entstellungen
der Wolffschen Schule als etwas ganz anderes gegenübergestellt
und auf die Bedeutung Humes nachdrücklicher als irgend ein
deutscher Philosoph vor ihm hingewiesen. Auch Giordano Bruno
hat er aus der Vergessenheit hervorgezogen. Durch alles dies hat
er die deutsche Philosophie in ganz neue Bahnen gelenkt, und
dieses Verdienst wird ihm ungeschmälert bleiben, auch wenn der
Wert seiner eigenen Aufstellungen die Anlegung eines strengeren
philosophischen Massstabes nicht gestattet, —
Bimder.
285
Baader (1765 — ^1841) suchte vor allem die Vollkommenheit
und Selbstgenügsamkeit des lebendigen persönlichen Gottes sicher
m steUen, und glaubte diese nicht nur durch den Deismus des
achtzehnten Jahrhunderts bedroht, der Gott zu lebloser jenseitiger
Ruhe und Unthätigkeit verurteilte, sondern auch durch den Pan-
theismus von Schelling und Hegel, der ihn erst vermittelst der
Schöpfung werden und sein Selbstbewusstsein und seine Persön-
lichkeit erst in den Geschöpfen finden liess. Er tadelt Schelling
und Hegel, dass bei ihnen die Natur als etwas vor dem Geiste
Bestehendes, der Geist als etwas erst nach der Natur Auftretendes
erscheine. Als Katholik hasste er den Rationaüsmus als eine
Folge der revolutionären Reformation und bemühte sich, eine
katholisch-christliche Philosophie im Sinne der mittelalterlichen
Scholastik und Mystik aufzustellen, wobei er aber doch im ein-
zelnen am meisten Jacob Böhme folgte und in seiner Naturphilo-
sophie auch Paracelsus mit heranzog. Wenngleich er mit Fichte
annimmt, dass jedes wahre Sein Selbstbewusstsein sei, so will er
doch die beiden erkenntnistheoretischen Extreme gleich sehr ver-
meiden, nämlich den Subjektivismus, der von der bloss geschöpf-
lichen Selbstgewissheit aus Gott erkennen will, und den (abstrakt-
monistischen) Pantheismus, der das geschöpfliche Erkennen als
Teil des göttlichen Selbsterkennens auffasst Die richtige Mitte
■ rieht er darin , dass unser Wissen ein Mitwissen mit Gott ist, so
dass das göttliche Wissen entweder es bloss durch wohnt» oder
ihm beiwohnt, oder ihm inwohnt Im ersten Fall ergiebt sich
ein bloss erzwungenes geschöpfliches Wissen von Gott {wie das
der Teufel), im zweiten Fall empirisches Wissen oder Autoritäts-
glauben, im dritten Fall freies, spekulatives Wissen. —
Da der Mensch als Ebenbild Gottes geschafifen ist, so kann
man aus ihm Rückschlüsse auf das Wesen Gottes machen ; dabei
ist nur immer in Betracht zu ziehen, dass der Mensch sowohl in
theoretischer wie in praktischer Hinsicht nicht spontan, sondern
nur rezeptiv thätig ist und eines in ihm wirksamen Höheren be-
darf, während Gott selbstgenugsam ist. Wenn der Mensch be-
sonnen etwas hervorbringt, so bildet er sich erstens einen Plan
oder Gedanken des Hervorzubringenden ein, nimmt zweitens
diesen Gedanken als Entschluss oder Willensvorsatz an, und er-
greift drittens die Mittel (Werkzeuge und Stoflf) zu seiner Dar-
I Stellung. Dem gemäss ist in Gott zu unterscheiden: erstens der
immanente, esoterische, abstrakt ideelle, oder rein logische Prozess
des Denkens, zweitens der emanente, exoterische, reale Prozess
des Willens, und drittens der diese beiden vermittelnde Prozess
des Geistes» Die beiden letzten fasst Baader meistens unter
dem Namen des exoterischen oder realen Prozesses zusammen,
unterscheidet aber strengstens von diesem in sich dreifältigen
ewigen Prozess den zeitlichen Vorgang der Schöpfung,
Der logische Prozess des göttlichen Denkens gliedert sich Iq
fünf Momente, die aber Baader meist auf drei oder vier zu-
sammenzieht. Das erste ist die ungeformte Monas oder un-
gefasste, iin aufgeschlossene Weisheit und entspricht dem Plotini-
schen Einen und dem Hegeischen Begriff als substantiellem,
noch leerem logischen Formalprincip. Das ftinfte ist die auf-
geschlossene, gefasste Weisheit, Sophia, die jungfräuliche Idee,
der Spiegel oder das Produkt des logischen Prozesses, in welchem
die ganze Fülle seiner Momente offenbart ist. Es entspricht der
Platonischen Idee, dem Schellingschen idealen Universum, der
Hegelschcn absoluten logischen Idee. Das erste Moment ist bloss
schauend, aber von sich selbst nicht geschaut; das fünfte ist bloss
geschaut, aber nicht wieder schauend. Das erste ist deshalb noch
unpersönHch und entspricht der einen Substanz der trinitarischen
Gottheit; das letzte ist nicht mehr persönlich, ein bloss passives
Produkt des Prozesses, was Baader nicht hindert, es mit der
Jungfrau Maria, der passiven Gottesmutter, gleichzusetzen.
Zwischen dieses Anfangs- und Endglied des logischen Pro-
zesses schiebt nun Baader drei weitere Glieder ein, die den drei
Personen der Trinität entsprechen sollen, freilich zunächst als
bloss ideelle Möglichkeiten, die erst im dritten Prozess, dem des
Geistes, ihre Verwirklichung finden. Das zweite Moment, der
Vater, entspricht dem Hegeischen Begriff als Subjektivität oder
als dialektischer Triebkraft des logischen Prozesses, das dritte
Moment, der Sohn, soll dem Hegeischen Urteil, das vierte, der
Geist, dem Hegeischen Schluss entsprechen, weil er Vater und
Sohn synthetisch zusammenschliesst Der Vater oder der Anfang
»fasst sich* als Selbstbegriff, Wort, Sohn oder als einheitliche Central-
form für die Fülle des in der unaufgeschlossenen Weisheit Enthalte-
nen, Aus dieser magischen ersten Selbstan schau uog entfaltet sich
dann weiter der Sohn oder Selbstbegriff zur Selbstformation oder
(inneren, rein logischen) Offenbarung, und dies ist der Geist Das
Büuidef.
287
Wort nimnit so eine Mittelstellung zwischen dem Subjekt (Vater)
und dem Objekt ein. etwa wie das Band oder die Kopula in
Schellings Identitätsphilosophie; dem Urteil bei Hegel entspricht
es, insofern sich der als Begriff gefasste Begriff durch Urteilung
aufschliesst und entfaltet. Der Geist geht wiederum nach
doppelter Richtung von sich aus, einerseits nach innen, wodurch
er den Wiedereingang vermittelt, andererseits nach aussen, wo-
durch er zu der Idee führt.
Jedes der drei mittleren Glieder des logischen Prozesses soll
schauend und geschaut zugleich sein, indem jedes die vom Vor*
ganger empfangene Thätigkeit nicht nur weiter leitet, sondern
auch reflektiert. Darum wird es Person genannt, obwohl weder
ersichtlich ist, wie ein solches Reflektieren der Thätigkeit in der
rein logischen Sphäre möglich ist, noch wie es genügen kann,
das Prädikat der Persönlichkeit zu rechtfertigen. Genauer
betrachtet zeigen die drei mittleren Momente nichts als müssige
Wiederholungen desselben Gedankens, der Reflexion und Weiter-
leitung der Thätigkeit, so lange sie von dem ersten und fünften
Moment sorgsam getrennt gehalten werden. Dies fühlt auch
Baader und unterscheidet darum praktisch die drei mittleren
Glieder dadurch von einander, dass er das zweite mit dem ersten,
das vierte mit dem fünften, d. h. je ein persönliches mit einem
unpersönlichen, verschmilzt Dann bleibt nur das Wort als
mittleres, reflektierendes und weiter leitendes, bestehen, und dar-
um sieht Baader auch in diesem das eigentlich persönliche
Princip, das auch die anderen personifiziert.
Dieser ganze Prozess mit all seinen Momenten bleibt rein in
potentia, wenn nicht zum Gedanken die Macht oder das Vermögen
zum logischen Princip das schaffende hinzutritt, welches sein »Es
werde« ausspricht Dieses schaffende, verwirklichende Princip
nennt Baader mit Böhme die ewige Natur in Gott Sie verhält
sich zum logischen Idealprincip wie der Feuergeist zum Licht-
geist, wie der Willensprozess zum Vorstellungsprozess. Die Idee
wirkt als Motiv auf den Willen, weckt seine Zeugungskräfte und
setzt sie in Spannung, bis mit der Lösung der Spannung die
Produktion vollendet ist Als die gegensätzlichen Spannungs-
momente des Willens bezeichnet Baader die passive, weibliche
Lust (ira Sinne von Gelüst), die zunächst durch die Imagination
geweckt wird, und die aktive, männUche Begierde, die erst durch
288
Bnader.
die Lust entzündet wird. In diesen Willensprozess trägt Baader
den Forma tionsstreit und die sieben Natiirgestalten Böhmes hin-
ein ; dadurch bekommt derselbe einen scheinbar selbständigen und
vom logischen Prozess unabhängigen Inhalt Wird dagegen der
Willensprozess nach Art des Motivationsprozesses aufgefasst» wie
dies Baaders eigener Meinung entspricht, so ist er selbst schon
die Einheit und Vermittelung von Denken und Wollen, weil das
Wollen nur durch die Idee als Motiv geweckt und nur durch
die Idee als Inhalt bestimmt werden kann.
Nun soll auch in der That nach Baader der logische und
der Willensprozess in Gott durchaus identisch und nur durch die
menschliche Abstraktion geschieden sein. Andererseits soll in
Gott Idee und Natur, Gedanke und Wille zwar gleich ursprüng-
lich sein, aber doch einer Vereinigung und Vermittelung bedürfen.
Diese finden sie im geistigen Prozess, Indem der an sich seiende,
ungestalte Wille durch die Idee Gestalt gewinnt, gebiert er sich
zum für sich seienden Geiste aus. So ist Gott als Vater oder
Wille der Anfang und Machthaber, als Sohn oder Idee der Ver-
mittler, Versöhner, als heiliger Geist der Vollender der Totalität
der göttlichen Qualitäten. Die drei Personen, die im logischen
Prozess nur abstrakte Kategorien waren, im einseitigen
Willensprozess aber gar nicht zu finden waren, treten erst im
kombinierten Geistesprozess als konkrete Personen in die
Wirklichkeit; durch diese ewige Selbsterzeugung ist Gott in sich
ewig vollendet als ein dreipersönliches Individuum. Die Indivi-
dualität und Persönlichkeit, die im Menschen zusammenfallen,
sind in Gott getrennt. —
Die Welt dagegen ist von Gott nicht gezeugt, sondern ge-
schaflFen, nicht ewig, sondern zeitlich. Der Stoff, aus dem sie ge-
schaffen ist, ist die ewige Natur in Gott, in der zugleich die
Möglichkeit des Bösen liegt, wenn auch noch nicht seine Wirk-
lichkeit Der Fall konnte ein doppelter sein, aus Hoffart, und
aus Niedertracht; aus ersterem Grunde fiel Lucifer, aus letzterem
der Mensch, der sich in die unter ihm stehende Natur vergafft
hatte und damit tierisch wurde. Die Materiahtät, Räumlichkeit und
Zeitlichkeit der Welt sind nicht der Grund des Bösen, sondern
seine Folge und Strafe. Die sichtbare Materie ist nur das Produkt
immaterieller Principien, kann also auch mit der Aufhebung des
Bösen wieder verschwinden, Das Böse, das durch vorzeitlichen
SchelÜDg.
zBg
Fall entstanden ist, kann im zeitlichen Leben allmählich wieder
aufgfehoben werden, indem die Ichheit oder Selbstsucht successiv
durch Gebet und Sakrament in der Peripherie abgetötet wird.
Es ist Baader ebenso wenig im Geistesprozess wie im
logischen Prozess gelungen, die Möglichkeit einer Entstehung
mehrerer göttlicher Personen verständlich zu machen; sogar zur
Entstehung eines Selbstbewusstseins an irgend einer Stelle eines
ewigen, rein innergöttlichen Prozesses fehlt die unerlässliche Be-
dingung, der Widerstand, an dem sich die absolute Thätigkeit
stauen und reflektieren könnte. Die Aufstellung des »Spiegels«
im logischen Prozess zeigt das richtige Gefühl für dieses Er-
fordernis, aber nicht die Fähigkeit, die Behauptung seines Vor-
bandenseins zu begründen. Da Wollen und Denken in Gott
ewig Eins sind, so kann auch die Beziehung des Denkens
auf das Wollen diese fehlende Konstellation nicht herbeiführen.
Dagegen ist es als ein Verdienst Baaders anzuerkennen, dass
er die Böhmesche Einsicht von der Unentbehrlichkeit des
Willens in Gott neben der Idee und von der ewigen Gleich-
berechtigung beider erneuerte und damit Schelling auf den Weg
hinwies, auf welchem allein die Überwindung des Panlogismus
zu erreichen war.*)
2, Schelling in seiner zweiten Periode (1806— 1854),
Die zweite Periode der Schellingschen Wirksamkeit hat zwei
Unterabteilungen. In der ersten hält er an seiner früheren Me-
thode des Philosophierens fest, konzentriert aber sein Interesse
auf den persönlichen Gott, die individuelle Unsterblichkeit und die
Willensfreiheit; in der zweiten sucht er diesen Interessen durch
eine veränderte Methode gerecht zu werden und gelangt zu dem
Bewusstsein, dass auch sein erkenntnistheoretischer Standpunkt
ein entgegengesetzter wie in seiner Jugend geworden ist. In der
ersten Unterabteilung gährt es noch unklar bei ihm, und die
neuen Gedanken ringen sich erst allmählich hindurch; in der
•) Vgl. Gcs, Studien u. Aufa&tze, S. 565—566.
S.v. HArEm«nn. Ausg«!w. Werke, Bd. XU.
19
290
Scbciling.
zweiten erst erhalten sie eine bestimmte methodologische und
erkenntnistheoretische Grundlage. Beide Abschnitte erläutern sich
gegenseitig und bilden in der Hauptsache ein Ganzes. Die Roman-
tik wirft sich in Schellin gs zweiter Periode ebenso auf Religions-
Philosophie, wie in der ersten auf die Naturphilosophie; da er aber
die indischen Religionen noch gar nicht kennte so vermag er
sich Religionsphilosophie nur als eine spekulative Restauration
des christlichen Theismus zu denken » während die heidnische
Mythologie nur Vorstufen zeigt* Er bleibt Monist, insofern er
daran festhält, dass Gott alles in allem ist. und bleibt Gegner
des seichtrationalen Theismus; aber er will Gott als persönlichen,
weil der Mensch als Person auch das Bedürfnis habe, einem per-
sönlichen Gott gegenüberzustehen.
Dieser Umschwung ist bei ihm angebahnt durch Eschen mayer
und Jacobi, herbeigeführt durch Baader und vollzieht sich zu-
nächst in den Formen der Böhmeschen Mystik oder Theosophi
Schelling glaubt, dass diese eine Form des Empirismus sei und
mit dem Rationalismus gleichen Inhalt habe, dass es aber Auf-
gabe des Verstandes sei, den Menschen vom unmittelbaren Schauen
zum vermittelten Wissen zu führen. Jacobi behandelt er geradezu,
illoyal; anstatt i* J. 1Ö12 einzugestehen, dass er Jacobis Einwand*
gegen den Standpunkt seiner ersten Periode als gegründet an-
erkennen müsse und eben darum zu einem veränderten Stand-
punkt fortgeschritten sei, der diese Fehler vermeiden solle, weist
er Jacobis Kritik als unbegründet zurück, weil sie auf seinen
jetzigen Standpunkt nicht passe, der Jacobi noch gar nicht be^^M
kannt geworden war. Ihm war an Jacobi die Unlebendigkeit dei^^f
Materie, die Ungeistigkeit der Natur, der Zwiespalt zwischen
Glauben und Wissen, der Missbrauch des Wortes Vernunft für
das Gefühl des Übersinnlichen, das Steckenbleiben im seichten
Aufklärungsrationalisraus, vor allem aber der unitarische Charakter
der göttlichen Persönlichkeit abstossend. Deshalb hielt er sich
Heber an die Trlnitätslehre Baaders, so wie an dessen Lehre vom
Bösen, vom idealen Urmenschen und von der durch seinen Fall
bewirkten Natur Verschlechterung,
Während er über Raum, Zeit, Kategorien und Ding an sich
zu ganz entgegengesetzten Ansichten gelangt wie Kant, benutzt
er Kants Lehre vom Bösen als einer Umkehrung des rechten Ver-
hältnisses zweier einander bekämpfenden Triebfedern, wandelt
Schelling.
2gi
aber die Selbstliebe (oder den Glückseligkeitstrieb) und das Moral-
gesetz, die bei Kant einander bekämpfen, unter dem Einfluss
Baaders in die OiFenbarungslust (oder den Willen des Grundes)
und das mässigende Idealprincip um. Dem Substanzbegriff Spino-
zas lässt er schliesslich Gerechtigkeit widerfahren und erkennt
ihn als den höchsten und letzten Begriff an, der auch noch über
der Ursache steht, wenngleich er daneben seinen falschen Sub-
stanzbegrifF (als Substrat) immer noch festhält Gegen Ende
seines Lebens sucht er Fühlung mit Aristoteles und bemüht sich»
seine vier Principien in gewaltsamer und erkünstelter Weise so
umzudeuten, dass sie sich mit den vier Ursachen des Aristo-
teles decken; obwohl er seine eigene Lehre damit entstellt, miss-
lingt ihm doch diese Deckung vollständig.
Gegen Hegel ist Schelling noch ungerechter als gegen
Spinoza, indem er das Verdienst verkennt, das darin liegt, einen
Standpunkt systematisch durchzuführen. Aber er war erbittert
gegen Hegel, weil er sah, dass die Welt diesem die Anerkennung
zu teil werden Hess, die er für seinen über Hegel hinaus fort-
geschrittenen Standpunkt vergebens ersehnte. Seine Kritik des
Hegeischen Standpunkts bleibt für immer lehrreich; wenn er
auch Hegel in manchen Punkten unrecht gethan hat, so hat
er doch gerade in der Hauptsache recht. Unrecht thut er Hegel
z. B. mit dem Vorwurf, dass er an Stelle der konkreten (intellek-
tuellen) Anschauung den abstrakten Begriff gesetzt und sich der
von Schelling erfundenen Methode bedient habe. Denn der
Hegeische Begriff ist durchaus dasselbe, was Schelling die Idee,
oder den unendlichen oder ewigen Begriff nennt, die Einheit des
Allgemeinen und Besonderen, und die Hegeische Dialektik, die
den Widerspruch als unentbehrliche Bedingung der Wahrheit
einschliesst, ist etwas ganz anderes als die SchelHngsche Dialek-
tik, die in ihm das Merkmal der Unwahrheit zu sehen fortfährt
Dagegen hat er recht, wenn er dem Panlogismus Hegels vor-
wirft, dass er ein Dogmatismus der Vernunft sei, der vor dem
Unvernünftigen in der Welt die Augen schliesse und dais Zu-
fällige und Wirkliche nicht erklären könne, und dass das Entlassen
der Idee zur Wirklichkeit ausserhalb des Panlogismus falle. Die
Hegelsche Selbstbewegung des Begriffs bezeichnet Schelling mit
Recht als eine doppelte Täuschung, insofern die Bewegung nicht
aus dem Begriff selbst stammt, sondern einerseits aus der Leben-
19*
Sehe Hing.
digkeit des denkenden Subjekts, andererseits aus dem Ziel, zu
welchem dieses die Gedankenbewegimg hinleiten will. —
Die Vernunft hat kein Vorrecht vor der Unvernunft, wenn
es sich bloss um das Sein handelt. Ihr einziges scheinbares Vor-
recht besteht darin» dass ihr Sein unerlässUche Bedingung für
die Möglichkeit einer Wissenschaft im Sinne einer apodiktisch
gewissen Erkenntnis ist; aber es ist wieder ein blosser Dog-
matismus, dass eine solche Erkenntnis sein müsse. Wenn auch
einerseits in allem etwas Vernünftiges zu finden ist, so bleibt
doch andererseits auch in allem ein irrationaler Rest, der sich
nicht völlig in Vernunft auflösen lässt, die unbegreifliche Basis
der Realität, zu der von der Vernunft keine Brücke führt. In
der Vernunft hat Freiheit und Zufälligkeit keinen Platz; ohne
Freiheit und Zufälligkeit ist aber aus der Vernunft kein Über-
gang zur Wirklichkeit zu finden, EHe Idee muss erst ihrer reinen
Vernünftigkeit untreu werden und von sich selbst abfallen, um
sich an die Natur zu entlassen und zu entäussern; denn solche
EntSchliessung hat nichts vernünftig Notwendiges an sich, son-
dern kann nur als frei auftreten.
Die Vernunft kann es höchstens so weit bringen, zu be*
stimmen, wie eine Sache, z. B. ein Dreieck, sein muss, wenn sie
ist, aber sie kann niemals machen, dass sie ist, oder von sich
aus a priori ausmachen, ob eine solche Sache existiert oder nicht
Denn die Existenz, das »Dass^^ , ist etwas Positives, das zur
Essenz, dem »Wass hinzukommt; höchstens das Was kann durch
Vernunft erkennbar sein, aber niemals das »Dass«, welches nur
durch Erfahrung konstatiert werden kann. Die recht verstandene
Identität des Denkens und Seins besteht darin, dass das Sein,
wenn es ist, nur so und nicht anders sein kann, wie das Denken
es denkt. Da das Denken ein höchstes Wesen denken muss, so
muss Gott, wenn er ist, als höchstes Wesen sein; aber ob er ist
kann nicht die Vernunft, sondern nur die Erfahrung lehren*
Wenn es dem Panlogismus gelungen wäre, die ganze Welt a priori
aus reiner Vernunft zu konstruieren, so hätte er doch nur das
Was der Welt erkannt, für den Fall, dass sie ist, aber nicht ob
sie ist oder nicht. So ist der Panlogismus eine bloss negative
Philosophie, die das wahrhaft Positive, die Wirklichkeit oder
Existenz, ausser sich lässt; er bedarf darum der Ergänzung durch
eine positive Philosophie, die höherer Empirismus ist, und insofern
SdieUing,
293
diese Seite die wichtigere ist, heisst nach ihr dieser ganze Stand-
punkt »positive Philosophie'i. —
Diese positive Philosophie schliesst die negative, rein rationale
Philosophie und den positiven, höheren Empirismus als ihre
beiden zusammengehörigen und einander ergänzenden Seiten in
sich. Jeder, auch der roheste Empirismus hat eine rationale
Tendenz; andererseits ist auch der reine Rationalismus oder Pan-
logismus selbst wieder bloss ein Empirismus, indem er sich auf
die innere Erfahrung des vernünftigen Denkens stützt. Er ist
von unten aufsteigend und führt somit induktiv zu den höchsten
Principien, aber nur zu den Principien in der Idee, Der speku-
lative Empirismus der positiven Philosophie dagegen ist von
oben herabsteigend, indem er die rein rational gewonnenen Be-
griflfe von Principien in hypothetischer Weise als wirklich exis-
tierend annimmt, den Bestand der Welterfahmng aus ihnen
deduziert, und durch das Übereinstimmen des so Deduzierten
mit der wirklichen Erfahrung seine Hypothesen bewährt, bestätigt
und sie so aus a priori unbegreifUchen in a posteriori begreif-
liche verwandelt.
Hiermit ist erstens der apodiktisch gewisse Charakter der
Philosophie aufgegeben, da er für ihren wichtigeren Teil nicht
mehr zutrifift. Zweitens kann auch für eine bloss negative Philo-
sophie der Anspruch, den ganzen Weltinhalt aus der inneren
Erfahrung des Denkens als rein ideellen und bloss bedingungs-
weise gesetzten konstruieren zu wollen, nicht aufrecht erhalten
werden. Drittens ist die Spaltung der Philosophie in einen in-
duktiven, aufbauenden, und einen deduktiven, verifizierenden Teil
nur dadurch entstanden, dass bei ersterem die empirische Basis
auf die innere Erfahrung des reinen vernünftigen Denkens will-
kürlich beschränkt worden ist. Wäre statt dessen die gesamte
Erfahrung in ihrem vollen Umfang als Ausgangspunkt der In-
duktion benutzt worden, so hätten sich dabei die höchsten Prin-
cipien sogleich als wirklich existierende herausstellen müssen,
und die ganze Bewährung durch den deduktiven Rückweg von
den Principien zu der Erfahrung w^äre als überflüssig w*eggefallen.
Der induktive Empirismus in seiner Vollständigkeit wäre dann die
ganze Philosophie und alle Zwiespältigkeit und Doppelheit in der
Methode käme in Wegfall Schelling hat wiederholentlich dies als
die denkbar vollkommenste Lösung für die Aufgabe der Philosophie
294
Schelling.
anerkannt (Werke I 7, 64—65; II 3, 104, 107); aber er :
konnte von dem einmal eingeschlagenen Wege sich nicht mehr
völlig losreissen. Es war genug, dass er die Bedeutung der Er-
fiihrung und der Induktion anerkannte, wenn er sie auch aus-
einanderriss in eine Induktion von einseitig beschränkter Er-
fahrung aus und in eine Deduktion, die die volle und ganze Er-
fahrung nur als Berwährung ihrer Principien benutzen sollte*
Während Schopenhauers subjektiver Idealismus sich in
schroffem Gegensatz zu jeder geschichtlichen Weltanschauung
stellt, bemüht sich Hegel, sie sich anzueignen; aber der Panlogis-
mus rechtfertigt eigentlich die historische Weltanschauung nicht.
Er kennt einerseits ein ewiges Verhältnis der Momente des Ab-
soluten zu einander, das keine Ent Wickelung ist» sondern nur
von uns in Gestalt einer diskursiven Entwickelung nachgedacht
und zum Verständnis gebracht wird; er kennt andererseits die;
Gedankenentwickelung im Kopfe des Philosophen, die das ewig
zugleich Seiende in zeitlicher Gedankenbewegung in sachlich auf-
steigender Ordnung durchläuft. Aber wo er eine reelle Ent-
wickelung im geschichtlichen Sinne annimmt, da behauptet er
etw^as, das nicht nur aus seinem Princip nicht folgt, sondern sich,
streng genommen» nicht einmal mit ihm verträgt. Erst durch den
unlogischen freien Entschluss der unlogischen Entäusserung durch-
bricht das Absolute den ermüdenden Kreislauf zur gradlinigei
Fortschreit ung, und darum kann es nur in einer positiven Philo*^
Sophie, die das Unlogische als ein empirisch Gegebenes anerkennt,
wirkliche Geschichte geben. Aller reine Idealismus, gleichviel
ob er als subjektiver, objektiver oder absoluter verstanden wird,
darf nur ein ewiges Absolutes und einen unendlichen Schein-
kreislauf der Scheinwelt anerkennen; erst eine positive Philosophie
kann an Stelle des unendlichen Scheinprozesses einen endlicherf
realen Prozess vom Weltanfang bis zum Weltende setzen, und
nur in einem solchen kann es wirkliche Geschichte geben. —
Was ist nun das Positive, w^odurch die blosse Idealität des
absoluten Ideaüsmus überschritten werden soll? Wcls ist das
irrationale Princip, durch welches das Vernunftprincip des Pan-
logismus ergänzt werden soll? Was ist das Realprincip, dessen
Hinzutreten zu dem logischen Idealprincip erst die wahre Realität,
die ausser dem Begriff stehende Wirklichkeit setzen soll?
Urzufall und absolute Freilieit sind Eines; das Princip d^
I
Schellmg.
295
schlechthinii^en Zufälligkeit muss also zugleich das der absoluten
Freiheit sein; die Vernunft kennt nur logische Notwendigkeit,
Princip der Freiheit aber ist der Wille, die Fähigkeit zu wollen,
oder auch das Wollen zu unterlassen. Nur der Wille in seiner
schlechthin igen Unabhängigkeit von logischer Determination ist
das schlechthin Irrationelle oder Unlogische; er ist also auch der
irrationale Rest, der für den logisch begreifenden Verstand in
allen Dingen übrig bleibt, oder wenigstens dasjenige, worauf
dieser irrationale Rest als auf seinen Ursprung hinweist. Das
Reelle ist dasjenige, was einem andern seinesgleichen Widerstand
entgegensetzen, mit ihm in Kollision oder Konflikt geraten und
es überwinden, oder auch ihm unterliegen kann; das Reelle ist
also das Widerstandsfähige, und das einzige Widerstandsfähige
ist wiederum der Wille, ebensogut wie er das einzige Irrationale
ist. Den Anfang aller Realität bildet das Ergreifen der eigenen
Selbstheit, die Charaktergründung, die freiwillige Annahme eines
intelligiblen Charakters, eine inteiligible That des Eigenwillens,
durch welche die Ideen zu einer mehr als idealen, zu einer realen
Existenz gelangen, d. h. zu individuellen Seelen oder Monaden
werden. Die Realität stammt ebenso wie die Individualität,
Selbstheit oder Egoität aus dem sich erigierenden Eigenwillen» der
sich über das Ideale erhebt, anstatt ihm unterworfen zu bleiben;
diese Selbstheit oder Egoität ist aber wieder die unentbehrliche
Grundlage der Persönlichkeit, zu welcher sie durch die Erhebung
in die Geistigkeit gelangt Weder der Mensch noch Gott könnte
Persönlichkeit werden, wenn er blosse Geistigkeit w^äre und ihm
das Real princip, der Wille, fehlte.
Durch alles dies w^urde Schelling dahin gedrängt, das irratio-
nale Realprincip als Willen anzusprechen. Auch in seinem System
des transcendentalen Idealismus hatte er bereits die erste, un-
bestimmte, bestimmbare, bewusstlose notwendige, expansive Thä-
tigkeit mit Fichte als wollende und im Gegensatz zu Fichte als
reale bestimmt; er hatte also nur nötig» das Wollen aus einer
rationalen in eine irrationale Thätigkeit umzugestalten, um sein
früheres, innerhalb des Idealismus stehendes Realprincip in sein
späteres, ausserhalb des absoluten Idealismus stehendes zu ver-
wandeln. In der Identitätsphilosophie hatte er das erste Princip
als Wesen im Gegensatz zur Form, als esse substantiae. als
blossen Grund von Existenz, als überwindungsbedürftiges Sub-
strat, Substanz oder subjectum {v:ftoKeifiirov) bestimmt, ohne dabei
ganz vom Begriff des Stoffes loszukommen; nun stellt sich der
Gnind von Existenz als Potenz des Aktus, das überwindungs-
bedürftige Substrat als Wille des Grundes oder Natur in Gott
dar. Denn alle Potenz, alles Können, setzt einen Willen voraus
oder ist selbst Wille ^ und der blinde, vemunftlose Wille ist zu-;
gleich Offenbarungslust oder ungebändigt sich ausbreitende Kraft,
die zur Natur führt und ebenso sehr an die erste expansive
Thätigkeit, wie an Piatons ojTHnor oder v).r] erinnert —
Das zweite Princip bleibt in Schcllings zweiter Periode
wesentlich unverändert. Es ist die bestimmende, beschränkende,
Grenze gebende, ideale Thätigkeit aus dem »System des trans-
cendentalen Idealismus«, die Form aus der Identitätsphilosophie,
die zu der masslosen Expansion des ersten Princips zugleich
das Mass herzubringt. Die ideale, rationale und geistige Be-
schaffenheit des zweiten Princips brauchte in dem absoluten
Idealismus nicht besonders betont zu werden; jetzt wo das erste
Princip irrational aufgefasst wird, erweist sich das zweite als ein
rationales, das die Irrationalität und Ungeistigkeit des ersten
überwindet und zur synthetischen Einheit des Geistes vermittelt
Jedes Wollen muss etwas wollen, denn ein leeres Wollen wäre
nur die Sehnsucht, sich selber zu gebären; das, was das Wollen
w^ollcQ kann, das Wort oder den Verstand des Willens, findet es
eben in dem zweiten Princip. Dieses ist als absolute Intelligenz
das ideale Ebenbild Gottes; es enthält zumal und auf ewige Weise
auch alles das, was aus dem ersten Princip sich zeitlich ent-
wickelt. Die rein rationale negative Philosophie erkennt die
Principien nur so, wie sie im zweiten Princip sich spiegeln; das i
zweite Princip ist also das spezifische Princip der rein rationalen I
Philosophie, des Panlogismus oder absoluten IdeaHsmus, d. h. es *
ist das logische Idealprincip im Gegensatz zum unlogischen Real-
princip.
In der Identitätsphilosophie waren dem zweiten Princip die
Bezeichnungen Vernunft und Idee vorenthalten worden, um sie
der synthetischen Einheit beider Principien, dem dritten Princip,
vorzubehalten. Hegel hatte ebenfalls die Idee als synthetische
Einheit, aber als letztes Ergebnis aus allen Thesen, Antithesen
und Synthesen der absoluten idealen Begriffsbewegung, und die
Vernunft als das Band aller dieser Synthesen oder als die imraa-
Schelltng.
297
nente logische Triebfeder dieses ganzen Prozesses aufgefasst, hatte
dafür aber die ersten beiden Principien Schellings ganz fallen
lassen. Jetzt konnten die Bezeichnungen Vernunft oder Idee
Scheiling nicht mehr dazu dienen, um die synthetische Einheit
des irrationalen Realprincips und des rationalen Idealprincips, des
Willens und Verstandes auszudrücken; jetzt konnte dies nur noch
die Bezeichnung Geist» genauer der absolute Geist oder der Geist
der Ewigkeit. Dadurch, sollte man meinen, wären die Bezeich-
nuDgen Vernunft und Idee für das zweite Princip wieder frei
geworden: aber Scheiling macht von ihnen keinen Gebrauch,
vielleicht aus Scheu, mit seinem früheren Sprachgebrauch in Kolli-
sion zu kommen. Er nennt das zweite Princip gewöhnlich das
rein Seiende, d. h. das potenzlos Seiende im Gegensatz zu dem
aus der Potenz hervorgegangenen Wollen, —
Die Urthätigkeit vor aller Spaltung in The^is und Anti-
thesis, das ewig Unbewusste, das Wesen vor seiner Differenz
zierung in Wesen und Form rückt nun endlich zu dem ge-
bührenden Range der absoluten Substanz auf, zu der sich die
übrigen Principien als Attribute verhalten» jener wahren Substanz,
die von der falschen Substanz des untergeordneten Substrats zu
unterscheiden ist Dieses Princip o ist das Über wirkliche, durch
Teilnahme, woran alles erst seine Wirklichkeit empfangen kann,
Überseiende, welches alles Seiende ist, das Einzelwesen, das
lies ist, das wahrhaft unendliche Subjekt, das immer Subj^^kt
bleibt und niemals Objekt wird, die urpsrüngliche Einheit der
Principien, die immer Herr des Seins bleibt, das Göttliche oder
vielmehr die Übergottheit in Gott
Insofern die Principien als ewige Momente eines innergött*
Uchen Verhältnisses aufgefasst werden, sind sie reine Attribute
der absoluten Substanz, ohne Spannung und Selbständigkeit gegen
einander, in vollkommener Ruhe, also auch ohne transitiven
Charakter nach aussen. Gott ist — vor allem Wollen und ewiger
Weise — der Inbegriff aller Möglichkeiten als Einheit von Dass
und Was; so ist er die Einheit der absoluten Substanz und ihrer
beiden Attribute, des unlogischen Realprincips oder Willens und
des logischen Idealprincips. Wirklicher Geist ist er v^or der
Schöpfung im Ruhezustand noch nicht; das dritte Princip, der
absolute Geist, schlummert noch als blosse Möglichkeit in ihm.
und tritt erst mit der Bethätigung oder Spannung der Attribute
298
Schcllmg.
ins Sein, Gott vor der Schöpfung ist der auch von seinem Sein
als Geist freie Geist. Nur er kann den Principien rufen, dass sie
auch als transitiv und selbständig ausser ihm seiende seien, aus
der Ruhe in Spannung treten, d. h, aus ewigen Principien zu
Potenzen im Sinne von Stufen oder kosmogonischen Mächten
werden. Dasjenige aber in Gott, was zu diesem Prozess dii
Initiative giebt, kann nur das erste Princip in ihm sein; dem
der freie Entschluss, der zugleich der Urzufall ist» ist allein Sachi
des Willens.
Die absolute Substanz oder das absolute Subjekt, das die
beiden Principien, das unlogische Realprincip des Willens und
das logische Idealprincip, zu ewigen immanenten Attributen hat,
und das bei der eventuellen Bethätigung sich zum absoluten
Geist entfaltet, stellt die spekulative Synthese eines einseitigen
Panlogismus und Pantheismus dar und erhebt den Begriff der
Identitätsphilosophie zu einer höheren Stufe, Wenn Hegel ein-
seitig das logische Idealprincip, Schopenhauer überwiegend das
unlogische Realprincip des blinden Willens zum System aus-
gebaut hatte» so ist Schellings späterer Standpunkt in der That
die Möglichkeit einer Wiedervereinigung dieser antipodisdien
Systeme, denen er selbst ihre Principien geliefert hatte. Wenn
Schelling in seiner Identitätsphilosophie die des Spinoza zu er-
neuern versucht hatte, so war ihm dabei der wahre Substanz-
begriff Spinozas unter den Händen zerronnen; jetzt erst ergreift
er ihn wieder, weiss jetzt aber auch, was Spinoza noch nicht
wusste, dass das mit dem Idealprincip zu verknüpfende Real-
princip ein zugleich unlogisches und dynamisch - thetisches ist
Dadurch, dass er den wahren Substanz begriff wieder als höchste
Kategorie an die Spitze des Systems stellt, bricht er mit dem die
spekulative Epoche von Kant bis Hegel beherrschenden Irrtum,
als ob die Thätigkeit an sich selbst ein letztes sein und auf sich
selbst rohen könne.
Leider hat er den echten, Spinozistischen Substanzbegriff
auch in seiner letzten Periode nicht ausschliesslich vertreten, son-
dern hält daneben den Platonisch- Aristotelischen Unbegriff des
metaphysischen Stoffs fest, in welchen sich ihm das sinnliche
Trugbild des subjektiv- phänomenalen Stoffes aus seiner ersten
Periode allmählich umgewandelt hatte. Der Wille ist an Stelle
des Wesens getreten, das im Gegensatz zur Form steht, und an
n
]
SchcUing.
299
diesem hatte ihm immer die Vorstellungsassociation des StoflFes
gehaftet. Der Wille ist aber auch das Realprincip; als Reales im
Gegensatz zum Idealen hat es im Absoluten nunmelir dieselbe Stel-
lung wie anfänglich die Natur zum Idealen und hcisst darum auch
die Natur in Gott. Als der dunkle zu überwindende Naturgrund
nennt er es auch vjtoxdii^vov oder Substrat, und er kann sich
nicht davon losreissen, dieses mit Substanz zu identifizieren. Wie
aber schon in der Identitätsphilosophie die wahre Substanz und
Realität in dem über dem Gegensatze stehenden idealen Wesen
und nicht in einem Gegensatzgliede lag, so auch hier in noch
deutlicherer und nachdrücklicherer Darstellung. Diese Substanz
ist ein Einzelwesen von höchster Wirklichkeit, das in seinem Sein
von aller Idee unabhängig und insofern Ding an sich ist, das
von Kant gesuchte, aber nicht erreichte. So restituiert er hier
auch das Ding an sich» das freilich als erkenntnistheoretische
Kategorie ungeeignet ist, die metaphysische Kategorie der Sub-
stanz oder des Wesens auszudrücken und zu ersetzen.
Diese Einheit des Dass und Was, des Willens und der Idee,
in der sie vereinigenden und bindenden Substanz» ist das Letzte,
und über sie kann das Denken nicht hinaus, Sie enthält einerseits
das reine Vermögen, die mera potentia, andererseits den InbegriflF
aller Möglichkeiten (vor ihrer Entfaltung zur Idee), und hinter
beiden die ursprüngliche Einheit, zu der beide sich als Attribute
verhalten. Die synthetische Einheit, der absolute Geist ist in dem
Ruhezustand der Principien noch nicht vorhanden; er besteht
erst in der vereinten Bethätigung beider. Hiermit ist nun der
Begriff des *ewig Unbewussten« genauer bestinmit und der des
»absolut Idealen vor dem Gegensatze« berichtigt. Die Einheit der
ruhenden Principien ist der bejahende Begriff der unbedingten
Ewigkeit, die stille Innigkeit, die sich selbst nicht kennt, ihres
Seins nicht gewahr wird und an nichts denkt. Sie ist ein Nichts,
wie die lautere Freiheit oder ein nichts wollender Wille, und
nicht sowohl Gott, als was in Gott selbst die Gottheit, also über
Gott ist, das unpersönliche Wesen der Gottheit, aus dem erst im
iheogonischen Prozess ein dreipersönlicher Gott werden soll, —
Soll nun aus dem ruhenden Wesen Gottes ein Prozess her-
vorgehen, so bedari' es dazu eines Aktes der Freiheit, der nur
durch den immanenten, innergöttlichen, sich selbst bewegenden
Willen gesetzt werden kann. Denn der Wille ist das Vermögen
300
SchelMng.
der Initiative, oder das Vermögen, etwas aus sich anzufangen."
Die göttliche Freiheit hat zu entscheiden zwischen blossem
Können und Wirken, zwischen Potenzbleiben und Aktuswerden;
diese Entscheidung ist indeterminiert motivlos (da sonst das sie
bestimmende Motiv ihr vorherginge), d. h. sie ist der UrzufalL
Durch die Erhebung des Willens zum Wollen Ist der Prozess
eingeleitet; er ist nun nicht mehr das wollen und nicbtwollen
Könnende, sondern das Blindwollende, das von selber nicht
wieder in den Ruhezustand der reinen Potenz zurückkann. Das
blinde W^ollen ist aber zugleich zielloses, inhaltloses, leeres Woliei
eine unruhige Sucht, die als soUizi tiefendes Moment auf d
andere mit ihm substantiell verbundene Princip wirkt und den
Inbegriff der Möglichkeiten zur Entfaltung veranlasst, zu der dieser
in sich sonst keinen Antrieb verspürt hätte. Das erste Princip
zieht also das zweite mit in die Aktualität und den Strudel des
Prozesses hinein, oder aktualisiert das potenzlose zweite Princip
{Schelling sagt: er potentialisiert es).
Dem zweiten Princip leiht Schelling bildlich »die überfliessend©^
Güte eines sich gleichsam nicht versagen könnenden Wesens«;
sucht das erste, das aus dem Frieden der gelassenen Wonne heraus-
getreten ist, zum Zustande der blossen Potentialität zurückzu-
führen, und das Mittel dazu ist eben der Weltprozess. Der Wüle
ist das stärkere Princip, aber er wird von dem zweiten Princip
durch dessen überlegene Klugheit und Erkenntnis überwamdea,
Ihre Vereinigung, der absolute Geist, bringt nichts neues hinzu;
denn der Wille in ihm stammt aus dem ersten, der Verstand
oder die Idee in ihm aus dem zweiten Princip, und das einigende
Band beider Seiten in ihm ist eben die* Substanz (Pr. o). Der
absolute Geist ist also nichts anderes als Pr. o + Pr* i + Pr. 2
im Zustande des Aktus; es ist nicht gerechtfertigt durch die ge-
machten Voraussetzungen, dass Schelling ihn als Pr. 3 neben
Pr. I und Pr. 2 stellt, da er noch nur ihre synthetische Einheit
im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen darstellt. Die absolute
Substanz wird zu dem >Einzelwesen das alles ist«, erst durch den
Prozess, denn erst durch den Prozess wird alles; im Vergleich
mit der durch den Prozess gewordenen Wirklichkeit ist das ab-
solute Wesen das Über wirkliche und Übersciende,
Der Prozess kann nun nicht darin gesucht werden, dass
Wille und Idee einander bekämpfen; nur zwei Willen können
asV
:
Schelling.
301
mit einander in realen Widerstreit geraten. Indem sich nun die
absolute Idee in eine Mannigfaltigkeit von Partialideen entfaltet
und der Urwille sich auf Grund der Partialideen in eine Vielheit
von Individual willen gliedert» ist die Gelegenheit zu Konflikten
der Individual willen mit einander gegeben, die verschiedene
Partialideen zu realisieren streben. Dabei wäre nicht abzusehen,
warum nicht der absolute Wille und die absolute Idee inner-
göttliche Principien sollten bleiben können, während die Produkte
der Kollisionen zwischen iliren Teilfunktionen aus dem göttlichen
Sein ihrer phänomenalen Existenzweise nach heraustreten. Aber
Schellings Interesse richtet sich in dieser Phase nicht mehr darauf,
die wirkliche Welt aus dem Absoluten abzuleiten, sondern nur
noch darauf, den dreipersönlichen Gott aus ihm abzuleiten. Dazu
kann ihm nun freilich der reale Weltprozess zwischen den Teil-
funktionen der absoluten Thätigkeit nichts helfen. ^
Persönlich ist nur, was einerseits Selbstheit hat, was nach
eigenem Willen ist, was andererseits aber sich mit seinem Wollen
auch zur Stufe der Geistigkeit erhoben hat. Sollen also durch
einen realen theogonischen Prozess aus dem unpersönUchen gött-
lichen Wesen drei göttliche Personen hervorgehen, so müssen
einerseits drei Willen angenommen werden, deren jeder gegen
den andern selbständig ist, und andererseits muss jedem dieser
Willen ein Verstand beigegeben werden, durch den er zur Geistig-
keit erhoben wird. Da diese drei mit Verstand begabten Eigen-
willen oder Geister etwas anderes darstellen sollen als das un-
persönliche Wesen der Gottheit, so müssen sie aus diesem heraus-
gesetzt werden. Da aber aller Wille und alle Idee nur aus den
Attributen der absoluten Substanz herstammen kann, so muss
jedes dieser beiden Attribute dreimal aus dem Wesen Gottes
herausgesetzt werden. Diese Heraussetzung soll aber nicht bei
beiden Attributen in gleichem Masse erfolgen, sondern so, dass
im ersten Falle ein Übergewicht des Willens, im zweiten ein
Übergewicht des Verstandes oder der Idee, und nur im dritten
Falle ein Gleichgewicht beider Attribute entsteht. Denn auf
diese Weise werden die herausgesetzten Mischungen von Prin-
cipien zu Potenzen im Sinne von Stufen, wie es Schellings
Naturphilosophie und Identitätsphilosophie verlangte. So wird
das herausgesetzte Princip i zur Grundlage Gottvaters (zugleich
aber auch als Nichtseinsollendes zur Grundlage des Satans), das
$02
Sdielling.
herausgesetzte Princip 2 zu der des Gottsohnes, und Pr. 3 zu der
des heiligen Geistes. Princip 1 empfängt bei dieser Heraus-
setzung einen rudimentären Verstand, die Imagination. Princip 2
einen rudimentären Willen.
Es ist klar, dass diese Lehre von den zu Potenzen heraus-
gesetzten Principien lediglich einen entstellenden Auswuchs an
der Schellingschen Metaphysik der letzten Periode bildet, da sie
durchaus nicht durch philosophische, sondern lediglich durch
theologische Motive hervorgerufen ist. Das Gleiche gilt von dem
Princip 4, dem idealen Urmenschen, der in einem Exemplar rea-
lisierten Gattungsidee des Menschen, dem Einen Menschen, der
in uns allen fortlebt. Dieser hypothetische Urmensch, in welchem
erst der theogonische Prozess seinen Abschluss und die Gesamt-
gottheit ihre Wirklichkeit finden soll, hat nur den Zweck, Träger
des Abfalls von Gott zu sein, durch welchen die Naturverschlechte-
rung und die Zerteilung der Gattungsidee Mensch in viele In-
dividualideen und reale Individuen eintritt. Das »nichtwissende Be-
wusstsein^ in dem unpersönlichen Wesen der Gottheit vor Beginn
des Prozesses ist reine, ruhende Identität ohne Aktus; nach Er-
hebung des Willens aber, vor seiner Heraussetzung zur kosmogo-
nischen Potenz, ist es der actus purissimus des götthchen Lebens
oder die (von Baader übernommene) rotatorische Bewegung der
Principien; im erhobenen Willen» sofern er zur Potenz heraus-
gesetzt ist, ist es ein traumhaft visionäres Innewerden der Idee durch
die Imagination; im idealen Urmenschen allein ist es substantielles
Wissen geworden, dass sich aber zu dem wirklichen Bewusstsein
immer noch als nicht wissendes, bloss wesentliches Bewusstsein
verhält. Hätte sich SchelUng klar gemacht, dass zur Persönlich-
keit vor allem ein auf wirklichem Bewusstsein ruhendes Selbst-
bew^usstsein gehört, so hätte er sowohl den drei herausgesetzten
Potenzen als auch dem potenzlosen Urmenschen die Persönlich-
keit absprechen müssen, —
Der ideale Urmensch greift dadurch in die Majestätsrechte
Gottes ein, dass er, was Gott allein sich vorbeliielt, die in ihm
zur Ruhe gekommenen Potenzen neu in Spannung versetzt und
dadurch von Gott trennt. Was im Grunde und unterworfen
bleiben sollte, das erste Princip, macht er wiederum zum herrschen-
den; durch diese Verkehrung des richtigen Verhältnisses der
Principien vollzieht sich der Zerfall des idealen Universums in
Schellfnjj.
303
ein raumzeitliches Nebeneinander und Nacheinander, d. h. in die
wirkliche Welt, Die ursprüngliche Hypothese, dass jeder Indivi-
dualwille sich selber seinen Charakter wählt und selbstthätig den
Fall vollzieht, ist damit aufgegeben zu Gunsten der auf allen
lastenden Erbsünde, Die Freiheit oder der motivlose Zufall der
Entscheidung ist von den vielen Individual willen auf den einen
fingierten Urmenschen zurückverlegt.
Würde diese Urschuld wieder aufgehoben, so müsste auch
ihre Folge, die Natur Verschlechterung und Individuation, \vieder
aufgehoben werden, also die individuelle Unsterblichkeit höchstens
so lange dauern wie die Naturverschlechterung. Hätten aber gar
die Individualideen sich einzeln eigenmächtig von ihrem Sein in
Gott losgerissen, dann müssten sie auch mit der Erlösung in den-
selben Zustand der Eingliederung in das göttliche Sein zurück-
kehren, indem sie sich vor dem Abfall befanden. In beiden Fällen
scheint ein ewiges Leben der Individuen als solchen ebenso wenig
aufrecht zu erhalten, wie eine individuelle Freiheit derselben.
Schelling bemüht sich trotzdem, den Individuen ein, wenn auch
sehr verdünntes, besonderes Dasein nach ihrem Wiedereinswerden
mit der Gottheit zu retten, und braucht dazu als Gleichnis die
offenbar falsche Behauptung, dass auch der im Ozean versunkene
Tropfen ein Tropfen bleibe, auch wenn er nicht als solcher unter-
schieden werde.
Die durch den Abfall verschlechterte Natur und Geistesw^elt
ist die einzige, die wir kennen; diejenige aber, aus deren Ver-
schlechterung sie hervorgegangen sein soll, ist eine ebensolche
Fiktion wie die dort personifizierten Potenzen, der ideale Ur-
mensch und sein Abfall. Die Gründe, aus denen Schelling
schliesst, dass die jetzige Natur ein Zerfallsprodukt sei, sind ihm
verwischte Gesetzmässigkeit und Unruhe, die Störung ihrer
notwendigen Ganzheit durch den hereingebrochenen Zufall und
die Existenz des Bösen. Die Unruhe des Prozesses, die Zufällig-
keit und die Möglichkeit des Bösen sind aber schon durch den
ersten innergöttiichen Urzufall, die Initiative des absoluten
Willens zum Wollen, gegeben und bedürfen keines zweiten Zu-
falls, während die Verwischtheit der Gesetzmässigkeit nicht zuzu-
geben ist
Die Förderung, die Schelling der Lehre vom B<:^sen ge-
"geben hat, liegt nicht in seiner Lehre von der transcendentalen
304
ScheUing»
Freiheit, nicht in der Verkohriing- des richtigen Verhältnisses der
Prinzipien und nicht im Sündenfall des Urmenschen, sondern in
folgenden Punkten. Das Böse ist nicht Mangel oder Beraubung,
sondern etwas Positives, das nicht aus dem Gegensatz zwischen
einem Willen und einem Verstände, sondern nur aus dem zwischen
zwei Willen, dem Eigenwillen und dem allgemeinen Willen zu
erklären ist. Die Wirklichkeit des Bösen ist gegeben, wo der
Eigenwille seine Sonderzwecke über die Zwecke des allgemeinen
Willens Stellt, der seiner Seele als sittliches Gesetz immanent isL
Die Möglichkeit des Bösen aber niht auf der Irrationalität des
Eigenwillens, die auf die Irrationalität des absoluten Willens in
Gott zurückweist Hierin liegt eine wertvolle Erneuerung der
Böhmeschen Lehre vom Bösen. —
Da die verschlechterte Natur nach dem Falle des idealen
Urmenschen die einzig wirkliche ist, und diese Raum und Zeit
zu ihren Formen hat, so sind damit auch Raum und Zeit zu
Formen des wirklichen Daseins ausser dem Begriff erklärt, die
nicht mehr von einem endlichen Subjekt, sondern vom absoluten
Subjekt gesetzt werden. Die sinnlichen Formen der subjektiv
idealen Erscheinungs weiten in menschlichen Bewusstseinen ver-
halten sich zu diesen Formen der realen Existenz wie Erscheinung
zum Ansich, wie phänomenale zur intelligiblen Raumzeitlichkeit
oder wie Nichts zur Realität Die Zeit ist darüber hinaus noch
Form des realen Geschehens im Absoluten selbst, und entsteht
nach Schelling dadurch, dass die Überwindung des ersten Princips
durch das zweite von Seiten des dritten retardiert wird; durch
den Sündenfall dringt nun die Zeit auch in das ideale Universum
oder das System der Ideen ein, das vorher in simultaner Ein-
heit und Sichselbstgleichheit ruhte. Die erkenntnistheoretisch
transcendenten , intelligiblen Formen der Räumlichkeit und Zeit-
lichkeit schweben als wirkliche, begrenzte Daseinsformen in korre-
spondierenden Möglichkeiten. Den bloss möglichen, metaphysisch
transcendenten . imaginär intelligiblen "Raum nennt Schelling
Himmel, die bloss mögliche Zeit Ewigkeit; beide sind, reell ge-
nommen, Nichtraum und Nichtzeit So gelangte Schelling im
Alter dazu, die erkenntnistlieoretischen Voraussetzungen seiner
Jugend völlig umzustossen und das Gegenteil an üire Stelle zu
setzen. Er bestätigte damit den tr^nscendentalen Realismus
Schleiermachers, gelangte aber leider nicht mehr dazu, die er-
Trewler. — von Berger. — Steffens,
305
kenntnistheoretische Begründung des Kant -Fichteschen transcen-
dentalen Idealismus ausfuhrlich zu revidieren und damit seinem
transcendentalen Realismus eine kritische Grundlegung zu ver-
schaffen.*) —
Unmittelbare Anhänger Schellings in seiner zweiten Periode
waren solche Naturphilosophen, die sich von den theosophischen
Spekulationen der Schrift über die Freiheit angezogen fühlten, oder
doch die Vereinigung des Vernunftprincips mit dem Willensprin-
cip annahmen. Die späteren Vorlesungen Schellings hatten es
schwerer, unmittelbare Anhänger zu gewinnen, weil sie erst
nach seinem Tode gedruckt wurden» als der Zeitgeist eine ganz
andere Richtung eingeschlagen hatte.
Troxler (1780^ — 1866) übernimmt von J.J.Wagner die Vier-
teilung, hält aber die persönliche Unsterblichkeit für die wichtigste
Frage und gründet die Philosophie auf Anthropologie, um aus
den Gesetzen des Gemüts auf die des Alls zurückzuschliessen,
die ihnen parallel laufen sollen. Auch von Berger {1772 — ^1833)
spürte diesem Parallelismus des anschauenden Geistes und des
Alls nach, Steffens (1773 — 1845) ist nicht nur von Schelling,
sondern auch von Baader, Oken, Schubert, J. J. Wagner und
Schleiermacher beeinflusst; seine eigentümliche Leistung besteht
darin, im Gegensatz zu der geschichtslosen Naturphilosophie
Schellings und Hegels die Natur als geschichtliche Ent Wickelung
zu begreifen, wozu er als Geologe besonders vorbereitet war.
Mit Wagner und Troxler hat er die Vierteilung gemein, mit
Schleiermachers früheren Schriften die starke Betonung der indi-
viduellen Eigentümlichkeit und geistigen Persönlichkeit. Während
aber bei Schleiermacher dieselbe ein bloss für den Weltprozess
bestimmtes und mit ihm seinen Zweck verlierendes Moment ist,
erscheint sie bei Steffens als letzter bleibender Zweck der
Schöpfung, unbeschadet des Zusammenschlusses aller persönlichen
Geister durch die Liebe zu einer Einheit. Der Zweck der Natur-
geschichte ist die Entwicklung der geistigen Persönlichkeit in
der Menschheit, die die Aufgabe hat, sich mit der Natur zugleich
durch Aneignung der Gnade ira Glauben von der durch eine
*) Vgl. »Schellings phüosophiscbes System«; »Ges. Stud. u. Aufsätze« D. V.:
»Schellings positive Philosophie«, . S. 650 — 720; »Über die dialektische Methode«,
S. 28-34.
E.1P. Hart mann. Ati^r^w.Wttrk«. fid. XU. lO
3o6
Oerated,
Katastrophe über die Natur hereingebrochenen Verfinsterung und
Verderbnis zu retten. —
Ein viel klarerer Kopf als alle übrigen Schellingianer ist der
Physiker Oersted (1777^1851}, der als Popularphilosoph und
Ästhetiker auch fiir die Geschichte der Philosophie in Betracht
kommt. Er ist völlig frei von der naturphilosophischen Schematik
und der mystischen Theosophie Schellings und seiner Schule und
steht in seiner Denkweise Leibniz in mancher Hinsicht näher als'
Schelling. Gleichwohl hat er doch wohl von diesem sowohl den
Panlogismus der ersten Periode, als auch den Panthelismus der
zweiten und das Bestreben übernommen, beide Seiten in Gott» in
der Natur im allgemeinen und in jedem einzelnen Individuum
und Naturdinge vereinigt zu finden. Wenn Steffens aus der
zweiten Schellin gschen Periode die richtige Konsequenz zieht,
dass die Natur geschichtlich aufgefasst werden müsse, so Oersted
die, dass sie im Sinne eines realistischen Dynamismus zu verstehen
sei. Alle Materie löst sich in Kräfte auf» da wir sie nur aus
ihren dynamischen Wirkungen kennen; das Dasein der Natur ist
ein ^unaufhörliches Werk«, ein Produkt des stetigen loeinander-
wirkens und Gegenein anderwirkens der Kräfte.
Das Wirken geschieht nach Naturgesetzen; alle Naturgesetze
aber sind Vernunft gesetze, d. h. Gesetze, die aus Vernunftnot*
wendigkeit bestimmt sind. Dem Nachweis dieses Satzes ist der
Inhalt der vier Bände »der Geist in der Natur« gewidmet. Der
Vernunft gemäss ist der Aufstieg vom Niederen zum Höheren, 1
der Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren, und ein solcher
findet thatsächlich in Natur und Geschichte statt, wenn auch in
osciüatorischem Rhythmus. Vor dem Lichte des Bewusstseins
wird die vernünftige Gesetzmässigkeit der Veränderungen zum
Denken und die mit ihr verbundene Kraft zum Willen. Die
Eine, allgemeine Naturkraft oder der götthche Wille steht hinter
aller Vernunft als das unbegreifliche, aber für jedes Wirken un-
entbehrliche Princip der Realität da, das nicht in Gedanken auf-
gelöst werden kann. Begreifen und erforschen lässt sich nur das
Vernünftige der gesetzmässigen Veränderungen in der Welt
Abgesehen von dem dynamisch-thelischen Realprinzip, das im
Hintergrunde bleibt, ist die Vernunft das alles bestimmende
Princip und Wesen der Welt. Die Vernunft in der Natur ist
unbewusst und unfehlbar; unbewusst wirkt sie auch in der Phan-
Roscnkumtz,
307
tasie, dem Gefiihl, Gewissen, dem geistigen Schöpfertrieb, der
Wahrnehmungsweise, dem Schönheitssinn u, a w. des Menschen,
Erst mit dem freien Gebrauch ihrer selbst im bewussten Denken
tritt die Möglichkeit des Irrtums zu der Vernunft hinzu. Die
ewige, unendliche, unbewusste Vernunft kann nur stückweis» all-
mählich fortschreitend von der menschh'chen bewussten Vernunft
erfasst werden, ihr Rest bleibt das höchste und einzige Mysterium
der Welt; alle einzelnen Mysterien, z. B. das der Schönheit, haben
in diesem einen ihren Ursprung. Im Gefühl der Schönheit wird
die Übereinstimmung zwischen der unbewussten Vernünftigkeit
der Dinge und der unbewussten Vernünftigkeit der äusseren
Sinne und der inneren Geistesorganisation aJs wohlthuende Har-
monie empfunden.
Gott ist Einheit von Vernunft und Wille. Die ewige Sich-
selbstgleichheit der göttlichen Vernunft drückt sich in der Zeit
als Unveränderlichkeit der Naturgesetze, der göttliche Wille im
Raum als schaffende Naturkraft aus. Die Schöpferkraft und
Schöpfervernunft Gottes sind nur für unser Denken zu unter-
scheiden. So hält Oersted einerseits den panlogistischen Pantheis-
mus der Naturphilosophie der ersten Schellin gschen Periode fest»
fügt aber andererseits aus der zweiten Periode den erkenntnis-
theoretischen Realismus, die geschichtliche Weltanschauung und
das dynamisch -thelische Realprincip hinzu und gestaltet in
diesem Sinne den naturphilosophischen Dynamismus der ersten
Periode zu einer der modernen Naturwissenschaft gemässen Welt-
anschauung um. Wenn aber die Einheit des Idealprincips und
des Realprmcips bei Schellin g unter theosophischen Phantasma-
gorien erstickte, so tritt sie in Oersted wieder nur in populär-
philosophischer Gestalt ohne zusammenhängende oder gar syste-
matische Durchführung auf, und deshalb hat bisher noch keine
Geschichte der Philosophie Oersteds Leistung Beachtung ge-
schenkt.*) —
Wilhelm Roscnkrantz (182 1 — 1874) ist von allen Schel-
lingianern der am meisten systematische. Nicht die Naturphiloso-
phie ist es» an die er anknüpft, sondern die Principienlehre in
Schellings System des transcen dentalen Idealismus, in seiner
Identitätsphilosophie und in seiner positiven Philosophie. Diese
•) Vgl. »Die deutsche Ästhetik seit Kant«, S> 198 — 211.
3o8
Rosenkiiintz«
drei sucht Rosenkrantz mit einander zu verschmelzen, durch eine
ausführhche Kategorienlehre zu ergänzen, die bei Schelling fehlt,
und die so gewonnene Metaphysik zum System auszubauen.
Dabei fiisst er ganz auf den SchelUngschen Voraussetzungen^
dass die Philosophie eine konstruktive Wissenschaft von untrüg-f
lieber Gewissheit sei, dass der vorbewusste Entstehungsprozess
des Bewusstseins und seine Faktoren vom Bewusstsein selbst un^
mittelbar erfasst werden können, und dass die metaphysischeii'
Principien zuletzt zu den Personen der Trinität hinführen müssen.
Den Hinweis des alternden Schelling auf die Prlncipienlehre de^
Aristoteles sucht Rosenkraotz weiter auszuführen, berücksichtigt
vielfach die mittelalterliche Scholastik und schickt seiner Kate-
gorienlehre eine geschichtliche Betrachtung dieses Gegenstandes
von Kant bis zu Trendelenburg und Ulrici voran. Die Problem-
stellung der positiven Philosophie, wie vom Denken zum Sein zu
gelangen sei, nimmt er auf, sucht indessen das Problem auf andere
Weise als Schelling zu lösen. Er folgt Schelhngs zweitem System
weder in seiner doppelseitigen Methodologie, noch in seiner trans-
cendentalreahstischen Erkenntnistheorie, noch in der Verwertung
des Willens als metaphysischen Realprincips. Vielmehr hält er
an der einseitigen Konstruktion des Besonderen aus dem Allge-
meinen und an dem transcendentalen Idealismus fest und lässt
den Begriff des Willens nur als den letzten Abschluss der meta-
physischen Principienlehre gelten, der zu der theologischen Per-
sonenlehre die Brücke schlägt, ohne in der Metaphysik irgend
welche Dienste zu leisten,
Rosenkrantz geht aus von den Principien als Thätigkeiten,
der unbestimmten aber bestimmbaren, stoffgebenden, positiven
und der sie bestimmenden^ form gebenden, negativen, welche in
der dritten, verbindenden, synthetischen ihre Verknüpfungseinheit
finden und eine ursprüngliche Einheit sich voraussetzen. Diese
ursprüngliche Einheit muss der Quell sein, aus dem sie ent-
sprungen sind und sich herausdifferenziert haben, das Vermögen
unseres Geistes, das dem seienden Produkt der Thätigkeiten wie
das Subjekt seinem Objekt gegenübersteht, aber den Gegensatz
von Subjekt und Objekt in sich selbst noch nicht enthält. So, als
Indifferenz oder ursprüngliche Identität von Subjekt und Objekt
ist die ursprüngliche Einheit Princip der Identitätsphilosophiet
Als Quell eines individuellen, subjektiven Denkens würde diese
:
Rosenkran tj!»
309
ursprüng-liche Einheit nicht über den Begriff hinaus zur Wirk-
lichkeit führen; da sie aber ebensowohl Quell aller objektiven
Seinselemente wie aller subjektiven Denkbestimmungen ist, so
wird sie zu einem universellen, unbedingten, göttlichen Sein» und
die von ihr ausgehenden Thätigkeiten zugleich zu objektiven
Seinsfaktoren oder Mächten (den Schellin gschen Potenzen). Man
sieht leicht, dass die ursprüngliche Einheit nur hypothetisch er-
schlossen und als Voraussetzung der Thätigkeiten supponiert,
aber niemals unmittelbar vom Bewusstsein erfasst werden kann,
wie Rosenkrantz behauptet, und dass der Übergang vom indivi-
duellen Geistesvermögen oder Intelligenzgrund zum unbedingten
göttlichen Sein ein Sprung ist, der aus der Verwechselung zweier
Bedeutungen des Objektiven, nämlich des für mein Bewusstsein
immanenten Objektiven mit dem für es Transcendenten , an sich
Seienden, entsteht. Da Rosenkrantz zugiebt, dass ein bewusstes
Wissen ohne den Gegensatz von Subjekt und Objekt undenkbar
sei, widerspricht er sich selbst, wenn er der Indifferenz beider
Bewusstsein und Selbstbewusstsein zuschreibt. Selbst da, wo es
in den Prozess eingetreten ist, handelt es sich doch noch lange
nicht um Subjekt und Objekt des Bewusstseins , sondern nur um
Subjekt und Objekt der Thätigkeit, Produzent und Produkt
Wenn die Thätigkeiten als Mächte und Ursachen gefasst
werden, so ist die ursprüngliche Einheit weder Macht noch Ur-
sache zu nennen, sondern nur die Substanz, welche die Mächte
oder Ursachen als ihre Accidentien (besser Attribute) an sich hat
und zum Wirken aus sich entlässt. Demnach nennt er das Potenzlose
die potentia pura oder das rein Mächtige, und das, was nicht Ur-
sache sein soll, die vierte Ursache wie Aristoteles. Die Wirkung
oder das Produkt der Mächte, das doch offenbar durch diese be-
dingt und in der Summe des endlichen Seins zu suchen ist, ver-
tauscht er dann mit dem unbedingten Sein, als welches er vorher
die ursprüngliche Einheit selbst bezeichnet hatte. Die Einheit
der reinen Macht und des unbedingten Seins sagt dann dasselbe
wie Einheit des Subjekts und Objekts, da die Macht die subjek-
tive, das Sein die objektive Seite am Wesen darstellt. Ursprüng-
liche Einheit von Macht und Sein ist aber nach Rosenkrantz zu-
gleich Wille, also ist das Wesen Wille, Da es drei Mächte sind,
in welche die ursprüngliche Einheit sich teilt, sollen es nun auch
drei Willen sein, oder drei getrennt subsistierende Subjekte, deren
310
Der Rückgang auf I>ibniz.
jedes das gleiche Objekt, das unbedingte Sein hat, d h, drei
Personen.
Die Kategorien oder objektiven reinen VerstandesbegrifiFe teilt
Rosenkrantz zunächst in einfache und zusammengesetzte. Die
einfachen Kategorien scheidet er in Formen des Denkens an sich
selbst und Formen des Denkens im Verhältnisse zu den Be-
wegungen der objektiven Elemente, die erstereo wieder in solche ^m
in der Gedankenwelt und in solche im Verkehr mit der Aussen- ^|
weit, d. h. in Denkformen und Anschauungsformen {Raum und
Zeit). Die Denkformen sondert er in Kausalität und Substantiali-
tät, und behandelt Bedingung und Bedingtes, Materie und Form
als Nebenkategorien der Kausalität, Position und Negation, Ein-
heit und Vielheit als Nebenkategorien der SubstantialitäL Die
Formen des Denkens in seinem Verhältnisse zu den Bewegungen
der objektiven Elemente gliedert er in Kategorien des Erkennens
und des Handelns, d, h. in Grund und Folge und in Mittel und
Zw^eck. Als Nebenkategorieo der Begründung behandelt er
Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit, als solche der
Finalität: Absicht, That und Erfolg. Rosenkrantz briogt zu seiner
Aufgabe viel Kenntnisse, Fleiss, Scharfsinn und Systematisierungs-
drang, aber kein ausreichendes Talent mit.
3, Der Rückgang auf Leibniz.
Krause, Herbart und Beneke sind drei Denker, die seitab
von dem gradlinigen Entwickelungsgang der neuesten Meta*
physik stehen und keinen nennenswerten Einfluss auf ihn ge-^l
Wonnen haben. Immerhin hat der ordentliche Professor Herbart J
einen weiteren Anhängerkreis gefunden als der ausserordent-
liche Professor Beneke und der verunglückte Privatdocent Krause,
Krause geht von Schellings erstem System aus, Herbart von
Fichte und dem Fichteschen Jugendstandpunkt Schellings» Beneke
von dem Sensualismus, Alle drei wenden sich von dem speku-
lativen Pantheismus zum Standpunkt der Aufklärungsphilosophie
zurück» zu der Ideentrias von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit,
und schöpfen ihre wichtigsten Anregungen aus Leibniz.
KxÄttse.
3"
K. Ch. F. Krause (1781 — 1832) ist bis etwa zum Jahre
1810 vollständiger Pantheist und Schellingianer. Seine Absicht
geht dahin, die Selbstbewusstseinslehre Fichtes und die Natur-
philosophie Schellings synthetisch zu verschmelzen, wie dies
Schelling selbst in seiner Identitätsphilosophie durch Synthese
de5 Systems des transcendentalen Idealismus und der Natur-
philosophie angestrebt hatte. Die beiden Gegensätze des Idealen
und Realen, der Vernunft und Wirklichkeit, des Geistes und der
Natur, die im Urwesen vereinigt sind» sucht Krause auf die
Begriffe Selbheit und Ganzheit zurückzuführen, indem er als
charakteristisches Merkmal des Geistigen die Selbheit des Ich
oder Selbstbewusstseins und als das der Natur die stetige Ganz-
heit in Raum, Zeit und Kraft auffasst. Das Urwesen ist also ein
Verein wesen von Selbheit und Ganzheit, wie es bei Schelling
die Identität des Idealen und Realen ist Krause bekämpft den-
jenigen Pantheismus, nach welchem das Endliche oder die Welt
als Gott gesetzt wird (Fetischismus und Naturalismus), ist aber
selber bis 1810 Pantheist in dem Sinne, dass er das Urwesen
ohne Willen, Freiheit und Bewusstsein als ein notwendig Thätiges
und die Welt nicht als seine Schöpfung, sondern als ewige
Entfaltung und notwendigen Ausdruck seines Wesens annimmt
Ja sogar er betrachtet das Verhältnis des Urwesens zu den end-
lichen Individuen als das des Ganzen zu seinen Teilen (Teil-
wesen), das er merkwürdiger Weise wieder mit dem des Grundes
zu den Begründeten gleichsetzt Ein Unterschied zwischen dem
Wesen, das die Welt in und unter sich befasst» und dem meta-
physisch transcendenten Wesen als Urwesen oder Überwesen, das
über jeder Beziehung und Relation zur Welt in reiner Absolut-
heit für sich besteht, wird hier noch nicht gemacht*
Dieser Unterschied tritt erst in seinen späteren Schriften auf,
vielleicht mit veranlasst durch die im Jahre 181 1 erschienene Aus-
einandersetzung Schellings mit JakobL Zwar hält er sein lebelang
daran fest, dass Gott alles ^ist* , sowohl sich selbst als auch das,
was er in und unter sich hat, die Teilwesen, und dass seine Welt-
setzung nicht Schöpfung, sondern Entfaltung des eigenen Wesens
ist Aber seine Alleingottlehre oder sein Panentheismus, der sich
vorher nur durch die Silbe en von dem SchelUngschen PanUieis-
mus unterschied, sucht nun in dem transcendenten Überwesen
eine theistische Spitze zu gewinnen, also die pantheistische
312
Krause.
iTiimaoenxIehre mit der theistischen Gotteslehre zu vereinigen.
Krause nimmt damit die Bemühungen von Leibniz, Lessing und
Herder wieder auf. Er schreibt Gott im Unterschiede von seinem
firülieren Standpunkte jetzt Bewusstsein, Willensfreiheit und Per-
sönlichkeit zu und stellt sich damit in die Gruppe der Theisten.
Er eröffnet die Reihe der Theisten des neunzehnten Jahrhunderts,
die wegen ihres Festhaltens an der pan theistischen Immanenzlehre
und ihrer Gegnerschaft gegen den theistischen Schöpfungsbegriff
Halbpan theisten oder Persönlichkeitspantheisten genannt werden.
Von allen anderen Vertretern dieser Tendenz unterscheidet er
sich dadurch, dass er gleich Spinoza und Schellings Identitäts-
philosophie Geist und Natur als gleichberechtigte und nebenge-
ordnete Seiten in Gott betrachtet» nicht gleich Fichte und Hegel
die Natur als ein dem Geiste untergeordnetes und dienendes
Princip auffasst. Er lehrt also einen persönlichen, aber nicht
einen rein geistigen Gott. —
Der aufsteigende Lehrgang fiilirt von der subjektiven Selbst-^—
anschauung des Ich zur Wesenschauung empor, der absteigendd^H
deduziert in objektiver Weise aus der intellektuellen Anschauung
oder absoluten Idee des Wesens das ganze System der Wissen-
schaften. Das eigentliche System Krauses ist also deduktiv, und
der aufsteigende Lehrgang verhält sich nur als Einleitung zu ihm,
etwa wie bei Hegel die Phänomenologie des Geistes. In der
Selbstanschauuog findet der Mensch sich als eine Vereinigung
von Leibwesen und Geistwesen vor und muss sich als ursprüng-
lich einheitliches Individualwesen dieser Vereinigung voraussetzen.
Zugleich findet er sich begrenzt durch andere solche individuelle
Verein wesen, seinen Leib als Teil der Natur, seinen Geist als
Teil des ebenso einheitlichen Geisterreichs oder der Vernunft. Er
steht also im Verhältnis des Teiles zu zwei Ganzen, d. h, im Ver-
hältnis des Begründeten zu zwei Gründen. Diese wiederum, Na-
tur und Vernunft, sind als durch einander begrenzte endlich und
stehen in einer Wechselwirkung; sie weisen darum auf ein Ur-
wesen zurück» dessen Teile oder Seiten sie sind, und durch Zu- .
gehörigkeit, zu welchem sie in durchgängiger Ü berein stimmungj^B
oder prästabilierter Harmonie stehen, ^^
Der Selbstanschauung des Ich kommt Gewissheit zu, und
durch diese auch allem anderen Wissen. Die Wesenschauung
oder intellektuelle Anschauung Gottes ist keines Beweises fähig
KmuMv
31*
ind bedürftig, denn sie ist die notwendige Voraussetzung, die
allem erst die Wirklichkeit verbürgt, weil es ohne sie proble-
matisch wie ein Traum bliebe. Dass das am Ich Gewisse kein
Wesen, sondern blosse Erscheinung» und das hinter ihr ange-
nommene Wesen nur Hypothese von irgendwelcher Wahrschein-
lichkeit ist, kommt Krause ebensowenig in den Sinn, wie dass
das universelle Urwesen eine über lauter Hypothesen errichtete
Hypothese ist. aber nicht unmittelbar geschaut w^erden kann.
Der absteigende Lehrgang Krauses zerfällt in drei Gruppen^
die inhaltlichen Teile des philosophischen Systems, die formalen
Teile desselben und die Verbindung von Philosophie und Ge-
schichte. Die erste Gruppe gliedert sich in die reine Wesenslehre
oder Grundwissenschalt (Kategorienlehre und Gotteslehre), die
Vernunftwissenschaft (Geistesphilosophie) , die Naturwissenschaft
(Naturphilosophie) und die Verein wesenslehre (Anthropologie).
Die zweite Gruppe der formalen Disziplinen umfasst Mathematik,
Chronologie, Mechanik, Dynamik, Logik, Ästhetik und Ethik. Die
letzte Gruppe beschränkt sich auf Philosophie der Geschichte. —
In der Kategorienlehre stellt Krause Selbheit, Ganzheit und
Vereinheit (Verknüpfungseinheit, Vereinigung) als Momente der
Wesenheit hin, und koordiniert mit ihnen die Momente der Satz-
heit (Position, Affirmation), nämlich Richtheit, Fassheit (oder Um-
fangheit) und Satzheitvereinheit Die Verbindung beider giebt
die Kategorien der satzigen Wesenheit oder Seinhelt (Existenz),
in welcher die Selbheit und Richtheit zur Verhaltseinheit die
Ganzheit und Fassheit zur Gehaltseinheit oder Inhaltheit, die
Wesenheiteinheit und Satz vereinheit zur Sein vereinheit ver-
schmelzen. Zu jeder dieser Kategorien giebt e-s dann noch eine
entgegengesetzte und eine, welche die Gegensätze verbindet, wo-
bei sich weitere Wortungeheuer ergeben.
Die Gotteslehre Krauses stützt sich wesentlich auf die Über*
tragung der in der Selbstanschauuog des Ich von ihm gefun-
denen Bestimmungen auf das Absolute, über deren Berechtigung
er sich keine Skrupel macht Er behauptet, dass aus der Ver-
einigung von Selbheit und Ganzheit sich das Selbstinnesein un-
mittelbar ergebe, dass das Selbstinnesein nach Seiten der Selb-
heit Selbstbewusstsein, nach Seiten der Ganzheit Selbstgefühl sei,
und dass Selbstbewusstsein und Selbstgefühl nicht durcheinander
verursacht, obwohl in voll wesentlicher Übereinstimmung, seien.
SH
Krause.
Alle diese auf Gott übertragenen angeblichen Selbstbeobachtungen
sind psychologisch völlig unhaltbar. Da auch der Individualgeist
ebensogut wie der Leib Teil eines einheitlichen Ganzen (des
Geisterreichs) sein soll, und der Leib auf seine Weise eben-
solche Selbständigkeit und individuelle Diskretion zeigt wie das
Ich, so ist nicht einmal der Gegensatz von Selbheit und Ganzheit
als haltbar oder als charakteristisch für den Gegensatz von Geist
und Natur anzuerkennen.
Ausser dem Selbstbewusstsein und Selbstgefühl wird mm
Gott noch Wille zugeschrieben» insofern er sich als Vermögen
zur Gestaltung seines Lebens unbedingt frei bestimmt. Krause
verhehlt sich nicht, dass diese Behauptung mit der anderen in
Widerspruch steht, wonach die Schöpfung der Welt nur die not-
wendige Ausgestaltung seines Wesens ist. Er bekennt sich un-
fähig, diesen Widerspruch zu lösen, bleibt aber dabei, dass beides
vor der Wesenschauung gewiss sei. Selbstbewusstsein, Selbst
gefiihl und freier Wille im Verein liefern dann die gesuchte Per-
sönlichkeit Gottes. —
In der Naturphilosophie schliesst Krause sich ziemlich engf
an Oken an. Über den Menschen lehrt er, dass die Menschheit
des Weltalls eine unveränderliche Zahl umfasse, von der wir in
der Erden menschheit nur einen Teil kennen. Die Wiederver-
körperung der Individualwesen führt über die verschiedensten
Himmelskörper und stellt den Ausgleich her, wenn auf einem
die Zahl der Menschen zeitweilig zu- oder abnimmt Wie Zahlen-
operatiooeo der Mathematik so drücken auch die Begriffs-
operationen der Logik reale Verhältnisse aus, wie dies schon
Wagner und Hegel behauptet haben. In der Geschichtsphilosophie
legt er Gewicht auf die Lebensalter, die durch Keim leben und
Wachstum zur Reife und von da durch das Hochalter der Reife
und die Greisenhaftigkeit zum Tode führen. Diese Phasen gelten
nicht bloss für die Einzelnen, sondern auch für die Völker und
die Menschheit. Der Tod ist aber nur der Übergang zu neuer
Geburt, deren Lebensgang sich auf höherer Stufe entfaltet. Der
Menschheitsbund wird sich nicht bloss über die Erdenmenschheit
erstrecken, sondern schhesslich aUe Glieder der Weltmenschheit
umfassen» vielleicht erst, nachdem alle zu Sonnenmenschen ge-
worden sind. Wenn die Sonnenmenschheit ihre fünf Lebensalter
durchlaufen haben wird, muss auch sie sterben» um etwa auf einem
t-
'■4
Herbart.
315
anderen Sonnensystem wieder ein neues Keimlebensalter zu be-
ginnen, und sofort ins Unendliche.
Krause nimmt demnach eine doppelte Entwickelung an, eine
individuelle durch die Reihe der Wiederverkörperimgen und eine uni-
verselle durch den Fortschritt der sozialethischen Institutionen und
der Geistesbildung- Beide sollen einander unterstützen. Die
Gedanken von Leibniz, Lessing und Herder sind hier mit einander
verbunden. Da aber die Entwickelung ins Unendliche keine Ent-
wickelung wäre, wenn nicht ihr Endzweck in jeder Phase in
irgend welchem Masse bereits erfüllt wäre, so muss ebenso wie
bei Hegel das Ziel eigentlich schon immer erreicht sein, und alles
Leben selbstzwecklichen Eigenwert haben. Aber während in
Hegels Panlogismus dieser Eigenwert lediglich in der Verwirk-
lichung der Vernunft an jeder Stelle liegt, hat Krause durch-
aus nur einen eudämonistischen Selbstzweck im Sinne, dem auch
die Sittlichkeit nur als Mittel dient. Darum muss er eudäraono-
logischer Optimist sein; die Bedenken wegen des Übels und des
Bösen wehrt er durch blosse Wiederholung der Leibnizschen Argu-
mente ab, der blossen Negativität, der teleologischen Unentbehrlich-
keit zum Kontrast und der relativen Unerheblichkeit*
Wenn das Freimaurertu m den Aufkläningsrationalismus des
achtzehnten Jahrhunderts zum treuesten Ausdruck bringt, so ist
es nur folgerichtig, dass Krause in ihm den Gipfel der sozialethi-
schen Institutionen und den Keim des künftigen Menschheits-
bundes sieht. Die Religion wird dabei völlig ausgehöhlt und
entleert, die Tiefe des Sünden bewusstscins verflacht, die Sehnsucht
nach Erlösung von L^bel und Schuld optimistisch verflüchtigt.
Der Unitarismus der göttlichen Persönlichkeit hebt die Gottheit
Christi und damit die Möglichkeit seines objektiven Erlösungs-
werkes auf und drückt ihn zu einem weisen Menschen herab,
der von der Krauseschen Weisheit einige dunkle Vorahnungen
hatte. In allen diesen Beziehungen hätte Krause mehr Erfolg
bei dem Publikum des neunzehnten Jahrhunderts finden können,
wenn nicht seine Sprache ihm hinderlich gewesen wäre, und wenn
seinen Segeln nicht später Lotze den Wind abgefangen hätte,*) —
Herbart (1776 — 1841) verbindet den eleatischen Begriff des
*) Vgl. Ges. Studien und Au&ätze, S. S6s— 5^;; Die Deuticbe Ästhetik teit
Kjifit, S. 71 — 85 und die im Namenregister angegebenen SteUen.
vf>
Herbart
Starren unveränderlichen Seins nicht wie die Pantheisten mit
Herakiitischen des Werdens oder der Veränderung oder Bewe-
gung, sondern mit dem vielheitlichen Sein der Demokritischen
Atomenlehre, das er im Sinne der Leibnizischen Monadenlehre
auffasst. Während aber Krause die Leibnizische Lehre im Sinne
von Lessing und Herder deutet, also auch ihre Verwandtschaft
mit Spinoza verwertet, stellt Herbart sie in schroffen Gej^ensatz
zu allem Monismus und schliesst sich in seiner Auslegung an
Wolff an. Seinen Ausgangspunkt bildet Fichte und die Schellin g-
sche Jugendschrift \'nm Ich. Während aber hier vom empirischen
Ich zum absoluten fortgegangen wird, das Schelling später zu
Spinozas Substanz zurückführte, verwirft ?Ierbart das absolu
Ich gänzlich, deutet das empirische Ich als phänomenales Produkt
des Vorstellungsprozesses und geht von ihm auf die Monade
zurück auf die Individualseele als metaphysischen Punkt od(
einfaches reales Wesen. Mit Leibniz und Fichte nimmt er gegen
Kant an» dass die Seele alles» nicht nur die Form, sondern auch
den Stoff ihrer subjektiv idealen Erscheinungswelt aus sich hervor-
bringt, mit Wolff und Kant gegen Fichte, dass sie zu diesem
Hervorbringen durch den Einfluss anderer Monaden in bestimmter
Weise veranlasst wird, gegen Kant, dass nicht nur der von der
Seele produzierte Stoff der Empfindung, sondern auch die voi
der Seele produzierten Formen der Anschauung und Vorstellun;
in jedem Falle in der Art und Weise ihrer Reaktion durch dv
Art der Störung von aussen bestimmt sind. —
Herbart ist, wie Kant, Fichte und Schelling in seiner ersten
Periode, transcenden taler Idealist in Bezug auf Zeit, Raum und
Bewegung, wie sie uns als Anschauungsformeu unmittelbar be-
kannt sind; aber er ist wie Kant transcenden taler Realist ii
Bezug auf die Dinge an sich, welche durch ihre Störungen di<
Seele zur produktiven Reaktion nötigen. Er geht sogax darin
über Kant hinaus, dass er einen intelligiblen Raum als die Form
des Zusammenseins der Monaden annimmt, welcher eine Verände^
rung der realen Beziehungen der Monaden zu einander, eine
Annäherung, Entfernung, Durchdringung, Zwischenlagerung u.s.w*,
kurz ein intelligibles Analogen der Bewegung zulässt. Nur die
Kontinuität oder Stetigkeit spricht er diesem Raum ab und denkt
ihn ebenso wie die Zeit als ein starres Nebeneinander diskreter
Punkte, wobei dann freilich die Stetigkeit der Bewegung und
zu
Ltefll
de ^
la4
I
d
y
Herbart,
317
Veränderung unbegreiflich wird. Die gegenseitigen Störungen
der Monaden, die nicht nur den stets wiederholten Anstoss zur
Vorstellungsproduktion überhaupt geben, sondern zur Produktion
ganz bestimmter Vorstellungen nötigen, sind offenbar eine reale
Kausalität von einem realen Wesen auf das andere, d. h, eine
interindividuelle, transeunte Kausalität, die für das Bewusstsein
jeder einzelnen Monade sich als erkenntnistheoretisch transcen-
dente KausaUtät geltend machen muss. Auch die Zweckmässig-
keit in der Einrichtung des Systems der realen Beziehungen unter
den Monaden erkennt Herbart als eine wirklich existierende
Organisation an, verwirft die blosse Subjektivität der FinaUtät,
und schliesst aus ihrer objektiven Realität auf eine göttliche
Intelligenz als ihren Urheber.
Herbart ist also mit dem transcendentalen Idealismus darin
einverstanden, dass unsere sinnliche Wahmehmungswelt ein von
der Seele selbst produzierter Schein ist; aber er ist nicht mit ihm
darin einverstanden, dass das etwa hinter diesem Schein belegene
Sein oder Wesen unerkennbar sei. Er giebt nur zu, dass es un-
mittelbar unerkennbar sei, behauptet aber seine mittelbare
Erkennbarkeit Indem das Sein notwendig dem Schein voraus-
gesetzt und eine mittelbare Abhängigkeit des Scheines vom Sein
angenommen werden muss, nötigt auch die Verschiedenheit und
Mannigfaltigkeit des Scheins dazu, auf ein verschiedenes und
mannigfaltiges Sein zu schliessen. Hiermit hat Herbart dem
transcendentalen Realismus principiell die Bahn eröffnet. Sein
Irrtum war nur, dass er die mittelbar erschlossene Kenntnis
vom Sein für ein apodiktisch notwendiges und gewisses Wissen
im Sinne der älteren Metaphysik hielt, und dasa er die Kantsche
Verw*echselung von metaphysischem Wesen und erkenntnis-
theoretischem Ding an sich festhielt Wenn Kant durch diese
Verwechselung dazu gelangt war, wegen der Einheit des Wesens
die Vielheit der Dinge an sich in Frage zu stellen, so wurde nun
Herbart durch sie dazu getrieben, wiegen der Vielheit der Dinge
an sich die Einheit des Wesens zu bekämpfen.
Herbart hält an dem logischen Denkgesetz der Identität oder
des Widerspruchs streng fest, so streng, dass er nicht nur im
Inhalt des Seienden, sondern auch in seiner Form jeden unlogischen
Bestandteil für unmöglich erklärt. Für in sich widerspruchsvoll
und darum unlogisch erklärt er aber einerseits den Übergang
3i8
Herbart
vom einen zum andern oder die Veränderung, andererseits das
Zusammensein von Einheit und Vielheit in demselben einheitlichen
Wesen , die Inhärcnz vieler Attribute an einer Substanz oder vieler
Eigenschaften an einem Dinge. Die Unmöglichkeit der Ver-
änderung im Sein verurteilt das Sein zu völliger Erstarrung und
lässt allen Veränderungsschein in die subjektive Auffassung fallen,
wo das Vorhandensein des Widerspruchs nicht minder anstössig
und unerklärlich bleibt als im Sein. Die Unmöglichkeit der Viel-
einigkeit eines Wesens schliesst den Monismus aus, da aus einem
abstrakt Einen ohne innere Mannigfaltigkeit niemals eine reale
Vielheit entspringen kann, und zwingt dazu, die \aelen realen
Wesen oder Monaden als schlechthin einfach zu setzen,
Dass die Inhärenz des Vielen am Einen einen Widerspruch
einschliesse, ist falsch, da Einheit und Vielheit nur in verschie-
denen Beziehungen behauptet wird. Dass Veränderung in der
Zeit einen Widerspruch einschliesse, ist ebenso falsch, weil das
Identitätsgesetz nur für zeitlose Verhältnisse oder für ein Subjekt
in einem und demselben Zeitpunkt gilt Richtig ist nur, dass
das Zusammensein mehrerer Attribute in einer Substanz meta-
logisch, d. h, von der Logik nicht a priori gefordert ist, und
dass der Übergang eines zeitlos ewigen in einen zeitüchen Zu-
stand (aus Ruhe in Prozess) antilogisch ist Aber das Meta-
logische und Antilogische darf vom Sein nicht a priori aus logi*
sehen Gesichtspunkten ausgeschlossen werden, da ja das Logischoi
vielleicht nur eine Seite des Seins sein könnte. Es darf um so
weniger vom Sein ausgeschlossen werden, wxnn es im Schein
vorhanden ist und in diesem ohne seine Annahme im Sein un-
erklärlich bleibt —
Die Kategorien sind nach Herbart nur Formen der gemeinen
Erfahrung, Produkte des Vorstellungsmechanismus, die durch
wiederholtes Zusammen treflfen verwandter aber ungleicher
Vorstellungen und durch gegenseitige Auslöschung des Un-
gleichen und Übrigbleiben des Gleichen ins Bewnisstsein er-
hoben werden. Sie geben keine metaphysische Erkenntnis, weil
sie noch mit allen Widersprüchen der Erfahrung behaftet sind,
und die Metaphysik richtet deshalb strenge über sie. Sie zerfallen
in Kategorien des inneren Gescliehens oder der inneren Apper-
zeption und in dingliche Kategorien der äusseren Erfahrungu
Die Kategorien des inneren Geschehens sind folgende:
Herbart.
319
Empfinden
Sehen
Hören
Fühlen
Schmecken
Riechen
Wissen
Erfahren
Verstehen
Denken
Glauben
Wollen
Begehren
Verabscheuen
Hoffen
Fürchten
Handeln
Sich bewegen
Etwas machen
Nehmen u, geben
Suchen u. finden.
Die dinglichen Kategorien dagegen entfalten sich nach den
vier Hauptrubriken: Ding, Eigenschaft, Verhältnis und Verneintes
folgendermassen :
»tag
Gegebenes
Gedachtes
YorhaitTils
Ort und Lage
Bild und dessen Gegenstand
Ähnlichkeit {bei gegenseitigem
Abbilden)
Gleichheit
Besitz u. dessen Gegenstand
Wirken und Leiden
Reizbarkeit
Selbstbestimmung
Eigenseliaft
Qualität
Quantität
Bestimmte Quantität
Einheit
Allheit
Das Ganze u. die Teile
Unbestimmte Quantität
Vielheit im Ganzen
Vielheit ausser dem Ganzen
Verneintes
Gegensatz
Veränderung
Unmöglichkeit (nebst ihren Gegenteilen).
Einen Fortschritt der Kategorienlehre wird man in diesen Tafeln,
die das Verschiedenartigste willkürlich durcheinandermengen,
3»o
Mm^mt
schwerlich finden können. Herbart behandelt sie auch gar nicht
in der Metaphysik, sondern in der Psychologie. Zur Metaphysik
gelangt man erst durch eine Bearbeitung dieser Begriffe nach
der Methode der Beziehungen, wonach nichts weiter bestehen
bleibt als einerseits die Vielheit einfacher seiender Wesen» anderer-
seits die Beziehungen oder Verhältnisse derselben untereinander. —
Herbart rühmt Kant, w^eil er gezeigt habe, dass der Begriff
des Seins gar kein Was enthalte, blosse Position sei» und ver-
steht demgemäss unter Sein absolute Position unter Ausschluss
aller Negation und Relation. Absolute Position bedeutet hier
ebensowenig Setzung durch ein absolutes» wie Setzung durch ein
philosophierendes Denken, sondern Selbstsetzung oder Aseltät;
damit ist aber der Begriff der Position wieder aufgehobent weil d
noch nicht Seiende sich nicht setzen kann, und das schon Seiend
sich nicht mehr zu setzen braucht, und das Sein bleibt als un-
definierbarer Begriff stehen. Wenn der Begriff des Seins gar kein
Was enthält, sondern nur ein Dass, so ist nicht ersichtlich, wo-
her den einfachen Seienden eine Qualität kommt, die doch ein
Was wäre. Die Qualität oder das Was wäre ja sofort ein Zweites
neben der Position oder dem waslosen Dass, also das Reale
wieder nichts Einfaches mehr. Es ist ebensowenig verständlich,
woher die Verschiedenheit der Qualität in den verschiedenen
Monaden stammt, und wodurch ihre Zahl, die nicht unendlich
sein soll, bestimmt ist Es ist ferner nicht klar, w^as unter einer
einfachen Qualität zu denken sei, da wir nur Qualitäten kennen,
die auf vorbewussten oder bewussten Synthesen einer Mannig-
faltigkeit beruhen. Es ist überhaupt unbegreiflich, was im Gebiete
des metaphysischen Seins die Kategorie der Qualität für einen
Sinn haben soll, da wir nur sinnliche Empfindungs- Qualitäten
oder Zusammensetzungen aus solchen und verwickelte geistige
Qualitäten kennen, die letzten Endes auf sinnlichen fussen. Der
philosophische und naturwissenschaftliche Atomismus ist darum
mit Recht von jeher bestrebt gewesen, die Qualität aus seinen
einfachen Realen auszuschliessen und nur Unterschiede der Grösse
und Gestalt, oder der Kraftintensität und des Wirkungsgesetzes
übrig zu lassen.
Die Beziehungen der Monaden untereinander erläutert Her-
bart durch das Bild elastischer Kugeln, deren jede beim Zu-
sammentreffen teilweise in den Raum der andern eindringt und
in.
m
Herbart.
321
[.dadurch die elastische Reaktion derselben hervorruft. Mit diesem
Jude ist die Teilbarkeit der metaphysischen Punkte angenommen;
da diese aber undenkbar ist, so hat auch das aus dem Bilde Ab-
feleitete keine Beweiskraft, wie Herbart sie ihm zuschreibt, und
ie Konstruktion der Anziehungs- und Abstossungskraft aus den
Störungen und Selbsterhaltungen der Realen muss als miss-
glückt gelten.
Auch die Statik und Mechanik der Vorstellungen innerhalb
derselben Monade, die Herbart mathematisch entwickelt, ist w^ert-
>s, weil sie auf der willkürlichen Voraussetzung beruht, dass die
Summe der gegenseitigen Hemmung bei zwei Vorstellungen
jleich der Intensität der schwächeren, bei mehreren gleich der
5urame der schwächeren Vorstellungen sei. Auch die von dem
lerbartianer Steinlhal an Stelle der Herbartschen gesetzten
Formeln verdienen nicht mehr Glauben. In der Bekämpfung der
vielen Seeleo vermögen, wie sie bis zu Kant angenommen wurden,
stimmt Herbart mit den Pantheisten überein, in seinem Intellek-
tualismus mit Hegel. Wie Hegel das Streben, die Begierde, den
Tillen aus der Dialektik des Begriffs ableiten will, so Herbart
^aus der Mechanik der Vorstellungen. Er legt zu dem Zweck
in die Vorstellung das Streben oder die Intensität hinein, das ihr als
reiner Vorstellung gar nicht zukommt , und hat es dann freilich
nicht schwer, dieses vorher hineingelegte Streben oder die Intensität
nachträglich aus dem Spiel der Vorstellungen wieder herauszu-
holen. Zu den Ungeheuerlichkeiten der Herbartschen Psycho-
logie gehört, dass er die Seele nicht nur als metaphysischen
Punkt im intelligiblen Räume denkt, sondern ihr auch einen
mathematischen Punkt im phänomenalen Räume als Sitz anweist,
Dass dieser Punkt von ihm an irgend einer Stelle des Gehirns
gesucht wurde, ist dann nicht weiter verwunderlich, desto mehr
aber, dass noch Lotze sich mit der umständlichen Erörterung
einer solchen Verirrung aufhalten konnte.
Betrachtet man den Herbartschen Pluralismus von der einen
rite, nämlich unter dem Gesichtspunkte, dass alle Veränderung
blosser Schein, zufällige Ansicht, und das Sein wandellos ist, so
erscheint er als ein Illusionismus, der vor demjenigen des abstrak-
ten Monismus nichts voraus hat. Denn wenn doch alles Ge-
schehen und der ganze Weltprozess bloss ein subjektiver Schein
ist^ in welchen das Sein nicht eingeht, so ist es auch gleichgültig,
£, V, Hartm&sD, Auagiew, Werko* Bd. XII. 21
322
^albaat.
ob das hinter ihm stehende tote und starre Sein eines oder vieles
ist. Betrachtet man ihn dagegen von der anderen Seite, nämlich
unter dem Gesichtspunkte, dass der Weltprozess ein beständig
wechselndes System teleologisch bestimmter realer Beziehungen
zwischen den Monaden, intelligible Bewegung im inteUigiblen
Räume ist, dann stellt er sich als transcen dentaler Realismus dan
Thatsächlich hat Herbart den Übergang vom transcendentalen
Idealismus zum transcendentalen Realismus versucht, ist aber auf
allen Punkten auf halbem Wege stehen geblieben, und hat sidi
zwischen zwei Stühle gesetzt.
Wenn das Sein der Monade unwandelbar ist, so kann es g^^^j
nicht gestört werden, und hat nicht nötig, sich selbst zu erhalteqi^H
oder gar reaktive Anstrengungen zu seiner Selbsterhaltung zu
machen. Wenn transeunte Kausalität durch den ihr anhaftenden
Widerspruch der Veränderung vom Sein ausgeschlossen ist, dann
ist keine Monade, ja nicht einmal die Summe aller imstande,
eine einzelne Monade zu stören oder irgend sonst wie zu beein-
flussen und sie dadurch zu Reaktionen zu veranlassen. Wenn
die Monade schlechthin einfach ist, so kann sie sich weder selbei^H
in die Zweiheit eines beharrenden Seins und einer veränderlichen^^
Thätigkeit spalten, noch von anderen in eine solche Zweiheit ge-
spalten werden. Nur wenn die Monade von vornherein nicht
einfach ist, sondern mit einem einfachen konstanten Seinskern
eine Schale mannigfaltiger und wechselnder Thätigkeit verbindet,
bleibt die Möglichkeit offen, dass verschiedene Monaden mit ihren
Thätigkeiten kollidieren und einander beeinflussen. Dann muss
aber in jede Monade von vornherein die Inhärenz des Vielen im
Einen und die Veränderhchkeit der Accidentien verlegt werden,
zu deren Ausschluss gerade die Herbartsche Metaphysik er^^M
dacht ist. — ^H
Fasst man Herbarts System als einen Pluralismus des starren
Seins mit bloss subjektivem Schein von Veränderung und Wechsel-
beziehung auf, dann ist auch der Pluralismus sein letztes Wort,
d. h, dann muss ein Gott schlechthin geleugnet werden, da für
einen solchen gar nichts zu thun übrig bleibt» und jeder Versuch,
ihm eine Leistung zuzuschreiben, den Begriff des Seins in den
Widerspruch der Veränderung und des vieleinigen Wesens zurück-
würfe. Fasst man es dagegen im Sinne des transcendentalen
Realismus als reales Beziehungssystem der Monaden auf, dann
Herbart.
3^3
bleibt allerdings ein gewisser Platz für eine Gottheit übrig» näm-
lich die Stelle des weisen Weltbaumeisters, der die teleologische
Einrichtung dieses realen Beziehungssystems angeordnet hat. Ist
erst einmal das Dasein eines Gottes durch den teleologischen
Beweis wahrscheinlich gemacht, dann hat der moralisch-praktische
Beweis freien Spielraum zur Entfaltung, um diesen Gott mit allen
den weiteren Eigenschaften auszustatten, die das sittliche und
reUgiöse Bewusstsein verlangt.
Allerdings hat Herbart die Religionsphilosophie nicht selbst
^bearbeitet, weil sie nur eine wahrschein Uche Erkenntnis zulässt,
ind er für die wissenschaftliche Philosophie noch eine völlig
gewisse Erkenntnis forderte. Wenn er sich aber klar ge-
lacht hätte, dass sein Rückschluss vom Schein auf das Sein
and seine nähere Bestimmung des so erschlossenen Seins
durch rein logische Reflexionen doch auch nur eine mittel-
tbare Erkenntnis von blosser Wahrscheinlichkeit liefern konnte,
iann wäre diese Unterscheidung für ihn hinfäliig geworden.
)ie Rückschlüsse, die auf Gott fuliren, sind nur noch um eine
itufe mittelbarer, als die zu den vielen Dingen an sich führen.
J'edenfalls konnte aber Herbart seinem Gott keine Absolutheit
zuschreiben, da derselbe die Monaden nicht schafft^ oder setzt, son-
dern vorfindet, und selbst nur Eine Monade neben und über den
anderen ist, also durch sie begrenzt ist Um so wichtiger war es
für ihn, die Selbstbewusstheit und Persönlichkeit Gottes zu
behaupten, um dem sittlichen und religiösen Bewusstsein einen
Ersatz für die mangelnde Absolutheit und Immanenz zu bieten.
Das Selbstbevvusstsein durfte auch schon darum Gott nicht fehlen,
damit der Weltprozess sich als »zufällige Ansicht« oder sub-
jektiver Schein in seinem Bewusstsein darstellen konnte, ebenso
wie in den anderen Monaden. Wenn dann angenommen wvird,
|dass erst durch die göttliche Einrichtung des kosmischen Be-
ziehungssystems die Beziehungen zwischen den Monaden und da-
mit der Schein in den Monaden beginnt, so hebt Gott durch diese
That allerdings die Monaden aus einem bewusstlosen, verände-
rungslosen Zustande in einen bewussten. lebendigen empor, oder
da das Sein im ersteren gleich Nichts ist, so rückt damit die Leis-
tung Gottes dem theistischen Schöpfungsbegriff nahe, wenn auch
die Absolutheit Gottes für immer abgelehnt werden muss.
Wie Michelet die Konsequenzen der Hegeischen Religions-
iH
Herbart.
Philosophie gezogen und im Zusammenhange offen dargelegt hat,
so Drobisch (geb. 1802) die der Herbartschen. Alle Herbartianer
sind ebenso wie ihre Meister gläubige Theisten, und es sind alle
Schattierungen vom Liberalismus bis zur Orthodoxie unter ihnen
vertreten. Daraus lässt sich schon entnehmen, dass es ihnen mit
den vorangestellten Grundsätzen der Herbartschen Metaphysik,
dem Ausschluss der Vieleinigkeit und Umänderung vom Sein,
nicht ernst ist. Aus der konsequenten Durchführung der von Her-
bart vorangestellten Grundgedanken hätte eigentlich nur ein
schlechthin atheistischer Pluralismus entwickelt werden können.
Es ist charakteristisch, dass Herbart, weil er sich im Widerspruch
mit seinen Principien zum Theismus bekannte, ausschliesslich theis-
tische Jünger, Schopenhauer aber, der sich im Widerspruch mit seinen
Principien zum Atheismus bekannte, lauter atheistische Jünger
gehabt hat Man sieht daraus, wie leicht das persönliche Bekennt-
nis in der Meinung der Anhänger das Übergewicht über die
eigentlichen Konsequenzen der für gewiss ausgegebenen philo-
sophischen Principien gewinnt —
Dass die Herbartsche Philosophie noch immer Anhänge]
zählt, verdankt sie wesentlich dem Umstände, dass Herbart
einer der wenigen namhaften Philosophen gewesen ist, die
sich mit Vorhebe mit Pädagogik beschäftigt haben, und dass
die Lehrerkreise, die in Herbart den Pädagogen verehren, eben-
so geneigt sind, ihn als Philosophen zu feiern, wie sie meist
ausser stände sind, seine Philosophie zu beurteilen. Mit
seiner Pädagogik haben wir es hier ebensowenig zu thun, wie
mit seiner Ethik und Ästhetik. Seine Metaphysik aber ist
durch Trendelenburg und Lotze genügend widerlegt und bietet
nichts Haltbares, was nicht ebensogut und besser aus Leibniz und
den Leibnizianern zu entnehmen wäre. In der Erkenntnistlieorie
hat Herbart einen nicht zu unterschätzenden Anstoss zur Über-
windung des transcendentalen Ideahsmus gegeben, in der Metho-
dologie zur Überwindung des apriorischen Konstruierens, in der
Psychologie zur Überwindung der Lehre von den vielen Seelen-
vermögen. Aber was er selbst in diesen Zweigen dargeboten hat,
erscheint teils als unzulänglich, teils als verfehlt und unhaltbar.*) —
*) Vgl. »Ges. Studien und Aufsäue«, S. 562 — 565^ »Das sittliche Bcwussuseuic»
2. Auß., S* 100—108, 12! — 122» 140—141,429, 617; »Die deutscbe Ästhetik seil Kanu,
S. 267—269. 548—549-
-j
-t^
Bcnekc*
325
Beneke {i7q8 — 1854) verbindet einen spiritiialistischen Sen-
sualismus mit der Leibnizschen Monadenlehre und mit einem *kriti-
schen Theismuss der wesentlich! durch Jacobi beeinflusst ist Er be-
kennt sich zu einem entschiedenen Empirismus und zu einer induktiven
Methode» indem er den mathematischen und logischen Deduktio-
nen nur eine abstrakte formale Geltung zuerkennt und für jede
Behauptung einer Existenz die Anknüpfung an etwas in der Er-
fahrung Gegebenes verlangt. (System der Metaphysik und Re-
ligionsphilosophie, 1840, S. 134 — 136.) Sonderbarerweise hält er
aber dabei an dem dogmatischen Vorurteil der Metaphysiker
fest, dass auf diesem empiristisch induktiven Wege strenge Er-
lkenntnis von allgemein geltender und bleibender Ausbildung und
(eine blosse Wahrscheinlichkeit zu erreichen sei, dass dagegen
in BetreflF des Übersinnlichen keine strenge Erkenntnis, sondern ein
blosser Glaube, d, h. Wahrscheinlichkeit von verschiedenem Grade
zu erlangen sei (ebd. S. 22^ 362. 378, 381)* Als Grund giebt er
den Übergang vom Endlichen und Beschränkten zu einem wahr-
haft vollendeten Unendlichen an (373), ohne zu bemerken» dass
dieser Übergang zu etwas in sich Widerspruchsvollem bereits eine
unsinnig gestellte Aufgabe ist, die dadurch noch unmöglicher
wird, dass er das Übersinnliche zugleich als Übergeistiges bestimmt
(361). So scheiden sich ihm zwei Gebiete des Erkennens von
einander ab, weil er verkennt, dass alle empiristische und in-
duktive Erkenntnis nicht mehr als Wahrscheinlichkeit verschiedenen
Grades zu bieten vermag, dass aber eben dieser Induktion auch
alle Sphären des Seins und Wesens in gleicher Weise erreichbar
sind bis auf die in sich widerspruchsvollen Fiktionen eines voll-
endet-Unendlichen und Über geistigen. —
Der Ausgangspunkt des ganzen Benekeschen Philosophierens
ist das Cartesianische Cogito ergo sum, welches er für die regelnde
Grundidee der neueren Philosophie hält, die im Laufe der Zeit
immer bestimmter durchgebildet worden ist {122 Anm.), Wir
stellen uns vor, wie wir an uns selber sind, nicht bloss wie wir
is erscheinen; das ist Benekes unerschütterhches Dogma (S. X»
75, 122). In uns haben wir Sein und Vorstellen zugleich; im
Selbstbewusstsein fallen beide in einem Akte zusammen (69, 73),
Ohne ein irgendwo gegebenes Sein w^ürden wir aus unseren Vor-
stellungen gar nicht herauskommen, ja sogar nicht einmal von
solchen reden können, da sie nur im Gegensatz zu einem Sein
326
Beneke.
Vorstellyngen heissen können; wir würden ganz -in subjektiven
Zuständen und Modifikationen stecken bleiben (14, 65). Kants
Nachweis für die Behauptung, dass wir uns nur als Erscheinung
kennen, findet er irrtümlicherweise lediglich darin, dass der >innere
Sinn* dem Ich an sich die apriorische Zeitform und der Verstand
die apriorischen Denkformen der Einheit und Substantialität über-
stülpe und es dadurch in eine Erscheinung verwandle. In dieser
Fassung wird die Argumentation allerdings hinfällig, wenn Kants
»innerer Sinnt eine blosse Einbildung ist und die Formen der
Zeitlichkeit, Einheit und Substantialität nicht a priori aus dem^H
Vorstellenden, sondern a posteriori aus dem Vorgestellten entsprin-^^
gen, wie Beneke annimmt (71 — 73, 411).
Diese Selbstwahrnehmung des Ich erhält nun sogleich eine
Anwendung im Sinne der Leibnizschen Monadenlehre. Wir ver-
stehen von allem, was ausser uns selber ist, nichts, als was wir
durch Analogie mit uns selbst erschliessen , wohinein wir uns
innerlich versetzen können» wozu wir selber (in der Phantasie)
werden können, so dass wir wissen, wie ihm zu Mute ist {10 1 — 102,
123 — 125). Wir steigen von unseres Gleichen einerseits zu den
höheren und niederen Tieren, ;?u den Pflanzen und unorganischeai
Dingen hinab, andererseits zu den geglaubten höheren Geiste:
empor (102—105), indem wir die von Kind auf gewöhnte Ass*
ciation der äusseren Wahrnehmung des eigenen Leibes mit der inne-
ren Selbstwahrnchmung auch auf die äusseren Wahrnehmungen
anderer Leiber übertragen und ihnen nach Analogie ein seelisch
Innere beilegen {79^85), Nur das Seelensein ist substantielles
Sein oder wahres Ansichsein (205); die äusseren materiellen Wahr-
nehmungen sind nur Erscheinungen oder Reflexe im Subjekt, und
was ilmen als wahres Ansichsein entspricht, ist nur das innere
Seelensein derselben (120, 146). So ist auch der eigene Leib in
seinem Ansichsein ein unbekanntes X, eine Seele niederer Art
(194 — 196); die phänomenale äussere Stofflichkeit und das innere
ansichliche Seelensein sind nur zwei verschiedene Auffassungen
eines und desselben (199). Die Naturwissenschaften, die bei der
ersteren Auffassung stehen bleiben, bringen es darum zu keinem
rechten Begreifen und Verstehen (177); denn sie kennen gar nicht
die wahren, wirklichen» ansichseienden Eigenschaften der Dinge,
und darum auch nicht ihre Gesamtheit, ihre Substanz, sondern bloss
ihren Reflex für das subjektive Vorstellen (174). Nur die Psy-
Beneke.
327
chologie ^ebt wahre, ansichliche Erkenntnis, und ihr allein miiss
deshalb auch die Metaphysik untergeordnet werden (23), Beneke
ist also reiner Spiritualist und steht dem Materialismus so fern
wie möglich.
Während somit Beneke in Bezug auf die scheinbar stoflFlichen
Wahrnehmungen ebenso wie in Bezug auf das übersinnliche Ab-
. solute mit dem naiven Realismus gebrochen und eine bloss mittel-
bare, erschlossene, unvollkommene Erkenntnis eingeräumt hat,
ist er in Bezug auf die eigne Seele im naiven Realismus, d, h.
im Glauben an eine unmittelbare Erkenntnis des hier mit dem
Subjekt zusammenfallenden Objektes stecken geblieben. Während
die nächste Aufgabe der neueren Philosophie darin bestand, den
naiven Realismus auf allen diesen drei Gebieten gleiclimässig zu
überwinden, insbesondere aber ihn aus seiner letzten, am
Ischwersten einnehmbaren Stellung, dem Glauben an die unmittel-
bare Selbsterfassung der Seele zu vertreiben, hält Beneke grade
die Versteifung auf den naiven Realismus in diesem einen Punkte
für die Hauptleistung der neueren Philosophie, Auf die Irr-
tümlichkeit dieser Ansicht im allgemeinen kann hier nicht näher
eingegangen werden,*) sondern nur gezeigt werden, wie wenig
ieneke selbst imstande ist, diese Behauptung aufrecht zu er-
halten und wie sie ihm unter den Fingern zerrinnt —
Was ist jenes 'Ich«, das uns vollkommener bekannt sein soll,
als irgend ein anderes Sein? {189). Die Vorstellung des Ich ist
nicht ursprünglich gegeben oder angeboren, sondern muss erst
gebildet werden durch eine lange Reihe von Entwickelungen
und die von diesen zurückbleibenden Spuren (420)» Das Ich deckt
sich nicht mit unserm individuellen Sein, sondern wird begründet
durch eine bestimmte Form und Verbindung an diesem Sein,
ohne deren Erhaltung selbst die individuelle Fortdauer dieses
Seins für uns kein Interesse hätte (397). Schon bei der Rück-
gängigmachung der Entwickelung, aus der es herv^orgegangen
ist, ginge das Ich verloren, auch wenn die IndividuaÜtät dabei
bestehen bliebe. Das Ich ist aus Spuren zusammengewachsen
(189, 210), in jedem Augenblick verändert (igo), konstant nur als
*) In erscböpfeoder Weise ist diese Frage behandelt worden von A. Drews in
seinem Werket iDiks Ich als Grnndprobleiu der MeUphysik« (Freiburg i. B?.,
obr, 1897).
328
Beneke.
Beziehung der einheitlichen Zusammengehörigkeit aller es zu-
sammensetzenden Bestandteile (191). Das Ich soll doch das unmittel-
bar Wahrnehmbare des inneren Seelenseins sein; wahrnehmbar
ist aber vom Psychischen nur das Bewusste» die Entwickelung der
bewTJSsten seelischen Akte (203), nicht das unbewusste innere
Seelensein selbst, welches allein Substanz genannt werden kann,
und welchem die bewussten Akte nur als Accidentien angehören
{206}. Die bewusste Entwickelung des Seelenlebens und mit ihr
das Ich kann in Verfall übergehen, ohne dass die unbewussten
seelischen Spuren und Anlagen darunter zu leiden brauchen
(447 — 448). Aus alledem sollte man doch schliessen, dass das Ich
nur eine Erscheinung des unbewussten Seelenselns sei. Da wir
nun bloss die Summe der bewussten Seelenthätigkeiten unmittel-
bar wahrnehmen können , das innere Seelensein aber nur mittel-
bar, durch Schlüsse oder Konstruktionen, in den Bereich unserer
Erkenntnis ziehen können (173), so sollte man meinen, dass damit
die unmittelbare Wahrnehmbarkeit des inneren Seelenseins bereits
durch Beneke selbst widerlegt sei.
Beneke erkennt wohl die Schwierigkeit, glaubt ihr aber ent-
gehen zu können. Zunächst behauptet er, dass die unmittelbare
Erkenntnis der Accidentien zwar keine unmittelbare Erkenntnis
der ganzen Seelensubstanz, aber doch eines Teiles derselben ein-
schliesse, so dass nur die Vervollständigung der Erkenntnis durch
mittelbare Schlüsse zu bewirken sei. Nach seinem Substanz-
begriff sind nämlich auch die seelischen Accidentien Teile des
Seelendinges und in ihrer Gesamtheit dieses Ding selbst, oder
beide decken einander (171); die bewussten Accidentien sind also
die bewussten Teile der Seelensubstanz (173). Alsdann glaubt
er den Übergang von den unmittelbar walirgenommenen be\mssten
Akten zu den unbewussten Accidentien in dreifacher Weise
machen zu können. Erstens sind die bewussten Akte aus unbe-
w^ussten inneren Anlagen entsprungen, so dass diese in sie ein-
gehen, sich in ihnen erhalten, und mit ihnen zugleich als in sie
eingehüllte wahrgenommen werden (412). Zweitens erhalten wir
die unbewussten Accidentien rein als solche, wenn wir die steigen-
den Elemente abziehen, welche sie zu bewussten erhoben haben,
d. h. wenn wir in Gedanken in Abzug bringen, was der Aus-
bildung zum Bewusstsein angehört (412 — 413, 181). Drittens
können wir dasjenige von den bewussten Akten abziehen, was
Beneke,
329
von ihnen entschwindet, wenn sie aus bewussten Akten zu un-
bewussten Spuren werden (182).
Die Substanz aus der Summe der Accidentien zusammen-
setzen und jedes zu dieser hinzukommende synthetische Band
leugnen, heisst den Substanzbegriff selbst leugnen und ihn in
Eigenschaften und Thätigkeiten auflösen. Die unbewusste Seelen-
thätigkeit erkennen wollen, indem man das Merkmal der Bewusst-
heit von den wahrgenommenen bewussten Akten abzieht» heisst,
den so allerdings zu gewinnenden Begriff der unbewussten
Seelenthätigkeit mit dieser unbewussten Thätigkeit selbst ver-
wechseln. Was hiernach noch übrig bleibt, sind hypothetische
Schlüsse von bekannten Wirkungen (bewussten Akten) auf die
unbekannten Ursachen (unbewusste Anlagen), oder von be-
kannten Ursachen (bewussten Akten) auf ihre unbekannten Wir-
kungen (hinterlassene Gedächtnisspuren). In allen Fällen handelt
es sich nicht mehr um unmittelbare Wahrnehmungserkenntnis,
sondern um mittelbar erschlossene Erkenntnis; d. h. das innere
Seelensein ist bei Beneke thatsächlich ebensosehr ein bloss mittel-
bar erschlossenes, wie das Ansich der stofflichen Erscheinungen
oder das Absolute, Er widerlegt damit thatsächUch sein naiv
realistisches Dogma von der unmittelbaren Selbsterfassung der
Seele in ihrem Ansichsein. j^ Wir können die« (unbewussten) »Acci-
dentien des inneren Seelenseins ebenso wenig unmittelbar auf-
fassen, wie das innere Seelensein selbst* (173). Wenn wir Vor-
stellen, Fühlen und Streben wohl als Hauptfunktionen in der aus-
gebildeten Seele, aber auch sie nicht einmal als ursprüngliche,
angeborene Elementarfunktionen betrachten dürfen, sondern sie
auf tiefer liegende, mehr elementarische und ursprünglichere Grund-
funktionen zurückführen müssen (356), so rückt die Erkenntnis
des wahren Ansich der Seele der unmittelbaren Selbsterfassung
immer ferner. Dieses unbewusste innere Seelensein ist ferner
nach Beneke etwas ganz anderes, als man sich gewöhnlich darunter
vorstellt, was auch gegen die unmittelbare Selbstwahrnehmung
spricht. Denn es könnte doch über etwas unmittelbar Wahr-
nehmbares nicht so verschiedene Ansichten und so viel Streit
geben.
Nur das Seelensein soll Substanz sein, dieses soll aber auch
durch seine Substantialität sich von dem bloss phänomenalen
stofflichen Sein unterscheiden. Gleichwohl ist nichts in der Seele,
330
Beneke.
was mit voller Gewissheit als absolut beharrend zu behaupten
wäre- Denn die Seele ist zwar immateriell und einheitlich (414);
aber sie ist nicht einfach, sondern aus Hunderttausenden von
Spuren oder Anlagen oder Urvermög-en zusammengesetzt (415
bis 416). Sie ist also ein geistig zusammengesetztes Wesen (441),
das als geworden auch nicht schlechthin unteilbar ist (419). Sie
wird immer stärker, je zahlreicher die Spuren sich ansammeln
(453). Ihre Wiederauflösung nach dem Tode kann unterbleiben,
kann aber auch eintreten {441), obschon sie aus moralischen
Gründen im höchsten Grade unwahrscheinlich ist (465, 458). Alle
bisher sogenannten Seelen vermögen, wie Verstand, Urteilskraft,
Vernunft u. s. w.» sind nur hypostasierte KlassenbegriflFe sehr ver-
wickelter Erscheinungen und Ergebnisse aus langen Entwicke-
lungsreihen. Es giebt vielmehr soviel Urv^ermögen, als es spezi-
fische Reize giebt, also viele Hunderttausende. Sie entstehen
aus den in die Seele eintretenden sinnlichen Reizen; denn diese
sind ebenso wie die Urvermögen selbst Kräfte, d. h. Substanzen,
brauchen also nur eine Umbildung einzugehen, um aus substan-
tiellen Reizen zu substantiellen Urvermögen zu werden. Die
gleichartigen Gebilde ziehen sich dabei gegenseitig an, übertragen
ihre Kräfte auf einander, gleichen sie aus und verschmelzen sie
mit einander zu Systemen, z. B. den Vermögen der fünf einzelnen
Sinne, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft u. s. w. (319, 156 — 157,
282 — 2S3, 2g), Aus dieser Verschmelzung entspringt endlich auch
die bewusste Einheitsbeziehung aller Akte, die der Zusammen*
gehörigkeit aller Urvermögen in derselben Seele entspricht, d, L
das Ich.
Diese rein sensualistische Konstruktion der Seele aus den
zufliessenden substantiellen Reizen, die in Urvermögen umge-
bildet werden, verträgt sich nun offenbar weder mit Leibniz*
Monadologie, noch mit Descairtes' Cogito ergo sum. Sie ist eine
rein hypothetische Vermutung, die das induktive Denken ergrübelt
hat. die aber niemals durch Selbstbeobachtung bestätigt werden
kann. Die Selhstwahrnehmung weiss schon nichts von Spuren
und Urvermögen. nichts von Entstehung des Vorstellens, Fühlens
und Strebens aus ursprünglicheren Thätigkeiten, geschweige denn
von der Entstehung und Verschmelzung der Urvermögen. Das
wahre Ansich des Seelenseins wird durch Benekes Psychologie
in unbewusste Tiefen entrückt, in die keine Selbstwahrnehmung
Beneke.
je vor/udrinp^en vermag:. Was wir wahrnehmen, ist nur der die
Bewusstseinsschwelle überrag-ende Teil der Wiederbethäligung
jener verwickelten Spiirensysteme. Ist diese Psychologie Benekes
richtig, so ist der/ Ausgangspunkt seiner Metaphysik, die Selbst-
wahrnehmung der Seele in ihrem Ansich, falsch, und umgekehrt.—
Das Eigentümliche an Benekes Sensualismus ist dass er den-
selben als immaterialistischen Spiritualismus durchführen lu können
glaubt. Gedächtnis, Gewohnheit, eigentümliche Angewohnheiten,
besondere Bewegungen oder Gesichts Verzerrungen. Neigungen,
Leidenschaften, Laster, intellektuelle Befähigung u. s. w. führt er
richtig auf > Spuren« zurück (io8, 196)» Aber diese Spuren sind
nicht irgendwo» nicht an ein leibliches Organ geknüpft, sondern
ebenso rein psychisch wie die Akte, aus deren Unbewusstwerden
sie entstehen. Selbst in der absteigenden Organisationsreihe bis
zu den unorganischen Dingen hinab sucht Beneke das abnehmende
Mass von Aufbewahrungsfähigkeit des Erlebten immer nur in der
psychischen Innerlichkeit nach Analogie des Menschen, weil nur
dort das Ansichsein oder substantielle Sein zu finden sein soll
(log). Sogar die leiblichen Spuren, wie sie in den Fertigkeiten
u. dgL auftreten, kann er nur als psychische Spuren niederer Art
deuten, wie er ja auch den Leib als eine Seele niederer Art be-
handelt; denn sie gehen dieselben Associationsverhältnisse ein,
wie die psychischen Spuren, sowohl mit diesen, als unter sich (197).
Weit entfernt also, die psychischen Anlagen auf materielle Spuren
im Organismus zurückzuführen, vermag er sogar die materiellen
Dispositionen des Leibes nur aus der Analogie psychischer Rück-
stände zu erklären. Man erkennt daraus, einerseits, dass Beneke
schrieb, als die materialistische Strömung noch ausser Gesichts-
bereich war, andererseits aber auch, wie unentbehrlich der Durch-
gang durch diese materialistische Strömung für die Metaphysik
war, um die Nebelhaftigkeit ihrer Begriffe zu festen Gebilden zu
verdichten. -
Die Kategorien sind nur durch sorgsam umblickende Induk-
tion zu ermitteln (351). Beneke tadelt Kant, dass er sie durch De*
duktion, und lobt Aristoteles, dass er sie durch Induktion zu ge-
wannen versucht hnbe {155). Damit stellt er sich der noch heute
massgebenden Ansicht schroff entgegen. Wenn einmal erst die
Ansicht durchgedrungen sein wird, dass auch die Kategorien
(unbeschadet ihrer unbewussten Apriorität) für unser Bewusstsein
332
Beneke*
nur durch Abstraktion und Induktion aus der Erfahrung des
Wahrnehmens und Denkens gewonnen werden können, dann
wird man sich auch dessen erinnern, der zuerst diese methodo-
logische Wahrheit klar erfasste und deutlich ausgesprochen hai
Freilich vermochte er dies nur, indem er zugleich die Aprioritäl
der Kategorien verkannte und bestritt.
Als Kategorien des wahren oder Ansichseins stellt Benek«
folgende auf (354—358):
1. Dinge (Substanzen) nebst Eigenschaften (Accidentien) und
deren Ineinander.
2. Verhältnisse.
a) Das Nebeneinander (das intelligible Korrelat der Räum-
lichkeit),
b) Die zeitliche Folge.
c) Das Kausalverhältnis.
3. Quantität (sowohl für Dinge als für Verhältnisse gültig).
Substanz und Dynamis, Ding und Kraft ist ein und dasselbe
(321^325); darin ist Beneke ganz Leibnizianer. Umgekehrt ist
aber auch far Beneke alles substantiell, was dynamisch ist oder
Kraftäusserung zeigt, z. B. die seelischen Reize und Spuren, die
Eigenschaften des Dinges und die Accidentien einer Substanz,
So setzt sich ihm jede Substanz, die noch Accidentien hat, wied<
aus Substanzen zusammen, da jedes Accidens substantiell ist. und
die Substanz sich mit der Summe der Accidentien deckt ohne
jeden Überfluss (171). Hierin ist Beneke ganz Humeaner; alle
Substanzen sind zusammengesetzt aus umgebildeten sinnlichen
Reizen, so dass diese allein die eigentlichen Ursubstanzen sind.
Beneke ist transcendentaler Idealist in Bezug auf die An-
schauungsform der Räumlichkeit, obwohl er ihre Apriorität leug-
net und alle Versuche, sie abzuleiten (z, B. den Herbartschen) für
verfehlt erklärt. Er giebt zu, dass die Mehrheit der Substanzen
die Form eines Nebeneinander haben müsse, behauptet aber, dass
dieses Nebeneinander mehr dem Zugleichsein mehrerer unräum-
licher Vorstellungen im Bewusstsein als dem mehrerer räumlicher
Anschauungen im Vorstellungsraum entsprechen müsse. Er fol-
gert dies daraus, dass das wahre oder Ansichsein nur das Seelen-
sein sei, welches unräumlich sei, dass hingegen das räumliche
Sein nur das stoflFliche Sein sei, welches bloss Erscheinung sei.
Die Form der Räumlichkeit hafte erst an dem phänomenalen
iz,
ne V
Beneke.
333
Produkt aus dem subjektiven und objektiven Faktor, aber an
keinem dieser Faktoren (64, 233 — 235» 355. 178). Das unräumliche
Nebeneinander der Substanzen hat Beneke nicht näher ausge-
führt; sonst wnirde er sich überzeugt haben, dass ein solches
Nebeneinander der Substanzen, welches sowohl ihre Wirkungen
auf einander gestatten als auch die Veränderungen unserer
Wahrnehmungen erschöpfend erklären soll, mit einer stetigen
dreifach veränderlichen Mannigfaltigkeit ausgestattet werden muss,
dass dann aber auch ihr Unterschied von der subjektiven» mathe-
matisch gereinigten Raumform unangebbar wird. —
In Bezug auf Zeit, Kausalität und Quantität ist Beoeke trans-
cenden taler Realist. Die Zeit ist die wesentliche Grundform in
dem einzigen für uns wahrnehmbaren Ansichsein. und wir ver-
mögen überhaupt kein anderes Sein vorzustellen, als in der Zeit
(259), während wir ein unräumliches Sein sehr wohl vorstellen
können und in unserem Seelensein kennen. Die Kausalität er-
kennen wir mit voller Gewissheit in unserer inneren Erfahrung,
z. B. bei dem Hervorrufen einer Erinnerung, der Verstärkung
eines Gedankens, der Bewegung eines Güedes durch den Willen,
der Erweckung einer Vorstellung durch die andere, der Verän-
derung eines Gefühles durch hinzutretende entgegengesetzte.
Hier haben wir die unerschütterliche Überzeugxmg, dass nicht
bloss zeitliche Aufeinanderfolge, sondern Bewirken oder Hervor-
bringen stattfindet, und zwar genügt ein einzelner Fall zu dieser
Gewnssheit, so dass Häufigkeit und Gewöhnung nicht mehr hin-
zubringt (284 — 285), Da wir in uns das Sein an sich wahrnehmen,
so ist damit sichergestellt, dass im wahren Ansichsein, welches
das Seelensein ist, das Kausal Verhältnis Gültigkeit hat (290). Ob
es auch ausserhalb der eigenen Seele Gültigkeit habe, können
wir freilich nur nach Analogie erschliessen, so dass diese An-
nahme immer Hypothese bleibt, ebenso gut, wie die Annahme
eines wahren Ansichseins ausserhalb der eigenen Seele. Darin
hat also Humes Skeptizismus recht, dass wir ausserhalb des
eigenen Seins Kausalität nicht wahrnehmen; aber wir denken sie
hinzu vermittelst einer Association, die wir an der inneren Er-
fahrung erworben haben, und diese Unterlegung findet in der
Erfahrung so viele Bestätigungen, dass es lächerlich sein würde,
an ihrer Gewissheit zweifeln zu wollen (287 — 294),
Die Konstruktion des Aufeinanderwirkens von Seele und
334
Bendce^
Leib macht keine Schwierigkeit, sobald man nur sich dessen er-
innert, dass ihre Ungleichartig-keit lediglich für unsere Auffassung
besteht, dass aber der stofflichen Erscheinung des Leibes als ihr
Ansich gewisse Systeme von Kräften zu Grunde liegen, die sich
den seelischen Kräftesystemen in stetiger Abstufung anschliessen
(303). Das Kräftesystem des Leibes und das der zugehörigen
Seele sind wahrhaft und reell in Einem Sein mit einander ver-
bunden, und es bedarf für diese Verbindung keines anderen
Bandes als zwischen den psychischen ürundsystemen unter sich
(igSX So ist es denn auch kein Wunder, d^iss die Dinge gewisse
Eindrücke auf uns ausüben und dadurch zu uns in eine gewisse
Beziehung treten (transcendente Kausalität), wenngleich die
Seele, die sie wahrnimmt, sich dabei nicht bloss passiv verhält,
sondern zugleich aktiv wird (63). Die Folgerung, dass die imma-
nente Kausalität zwischen stofflichen Erscheinungen ebenso wie
diese selbst ein bloss subjektiver Reflex, der zwischen den Dinge
an sich vorgehenden Kausalität sei, liegt für Beneke sehr nahe
wird aber nicht direkt von ihm ausgesprochen. Wie verschiedene
Individualseelen höherer oder niederer Stufe, oder substantiell
verschiedene Kräfte, es anfangen, auf einander einen Einfluss zu
üben, wird von Beneke nicht erörtert. Ob Kräfte oder Vermögen.
die zu einer und derselben Seele verbunden sind, auf einander
wirken, oder ob es solche thun, die verschiedenen Individualseelen
angehören, das macht für ihn darum keinen Unterschied aus, weil
ja auch die Kräfte oder Vermögen > die zu derselben Seele ge-
hören, ursprünglich substantiell getrennte Reize gewesen
sind, die nur durch ihre Wechselwirkung in eine gewisse Einheits-
beziehung getreten sind und sich zu einem psychischen System
verbunden haben, —
Beneke behauptet mit Entschiedenheit die ausnahmslose, all-
umfassende Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes; d, h. er leugnet
sowohl den Zufall, als auch die indeterministische Willensfreiheit,
als auch die tramscendentale Freiheit der Selbstbestimmung des
Individuums zum Guten und Bösen, sei es vor» sei es in diesem
Leben, Er lässt nur eine deterministische Freiheit der sittlichen
Selbstbestimmung durch zureichende Motive gelten, und hält diese
mit Recht für ausreichend für die Begründung der sittlichen Ver-
antwortlichkeit (333^349). Danach bezieht sich ihm die Freiheit
auf gegebene Verhältnisse, und es bleiben ihm nur die Ideen der
Beneke.
335
Unsterblichkeit und Gottes als solche übrig, die sich auf nicht
gegebene Verhältnisse beziehen und darum ausserhalb der wissen-
schaftlich strengen Erkenntnis ins Bereich des Glaubens oder der
blossen Wahrscheinlichkeit fallen.
Die wahre Unsterbhchkeit bezieht sich niclit auf die unzer-
störbaren Kraftelemente der Substanz, sondern auf diejenige
spezifische Form, welche unser individuelles menschliches Seelen-
sein charakterisiert (399). Im reiferen Alter zieht sich das Be-
wusstsein immer mehr nach innen hin und von dem Ausseren,
Sinnlichen ab; dann vermindert sich das bis dahin gewachsene
Quantum der Bew^usstseinselemente w^ieder (455 — 456), aber wahr-
scheinlich nicht das innere Seelensein oder das System der unbe-
vvussten Spuren und Anlagen (447 — -448, 456). Der Tod wird
durch das Versiegen des Bewusstseinsquells herbeigeführt; es
kann sich aber für das fortdauernde Individualsystem der unbe-
wussten Seelenvermögen ein neuer Bewusstscinsquell eröffnen
(45g). Die Seele kann in einen neuen leiblichen Boden verpflanzt
werden (Wiederverkörperung}, oder selbst in höhere psychische*
Systeme eingegliedert werden, von denen sie dann Anregungen
empfängt {460 — 461). Diese Lösung des Problems steht und
fällt mit der Annahme, dass die die Seele konstituierenden Spuren
unräumlich und immateriell sind und in der psychischen Inner-
lichkeit ihre Stätte haben. Sobald diese einseitig spiritualistische
Auffassung in eine materialistische umschlctgt, d. h. sobald die
Spuren in den räumlichen Lagerungsverhältnissen der das leib-
liche 2^ntralorgan konstituierenden Kj-aftelemente (in der An-
ordnung ihres Nebeneinanderseins) gesucht werden, kann an eine
individuelle Fortdauer der Seele ohne Erhaltung des Organs, in
welchem ihre Gedächtnis- und Charakter -Spuren niedergelegt
sind, nicht mehr gedacht werden. —
Bei der Gottesidee hält Beneke an einer positiven, zumal be-
stehenden Unendlichkeit Gottes fest, und kommt dadurch an jedem
Punkte zu Widersprüchen zwischen dieser Unendlichkeit des gött-
lichen Seins und der Endlichkeit und Beschränktheit des mensch-
lichen Verstandes. Er beruhigt sich aber dabei» dass diese Wider-
sprüche nur scheinbare für unseren endlichen Verstand seien, statt
zu erwägen, ob sie nicht vielmehr Folgen eines in sich wider-
spruchsvollen Vorurteils seien, nämlich der aktuellen Unendlichkeit
Gottes, während doch das religiöse Bewusstsein nur eine uner-
336
Beneke.
messliche aktuelle Überlegenheit Gottes über den Menschen und
das metaphysische Denken nur eine potentielle Unendlichkeit des
Absoluten mit endlichem Aktus erfordert. Er verwirft den
Pantheismus, weil derselbe die reelle Einheit der Welt mit Gott
oder ihr naturnotwendiges Hervorgehen aus Gott behaupte. Er
kennt keinen Pantheismus, bei welchem die Welt reell verschieden
von Gott oder gar durch eine freie Entscheidung des göttlichen
Willens ins Dasein gerufen wäre; vielmehr nennt er einen solchen*
Standpunkt sogleich Theismus. Seinen eigenen Standpunkt nennt
er allerdings mit Recht so, weil er die Eigenschaften, mit denen
er Gott» wenn auch nur gleichnisweise, ausrüstet, aus dem persön*
liehen, menschlichen Geistesleben entlehnen, also Gott als Person
denken zu müssen glaubt (545 — ^547, 522)* Er nennt aber seinenJ
Standpunkt kritischen Theismus (543) im Gegensatz zu allem dog-l
matisehen Theismus, weil er keine strenge Gewissheit Gottes,
sondern nur eine Wahrscheinlichkeit desselben lehrt, weil er keine
gewisse Erkenntnis, sondern nur einen spekulativen Glauben er-
reichbar findet. Dieser Glaube ist aber weder bloss moralisch
und praktisch» noch bloss subjektiv, sondern zugleich auch theore-
tisch und objektiv (565—567).
Es ist klar, dass Benekes Gotte^glaube zu seinem Sensualis-
mus ebenso wenig passt, wie sein Unsterblichkeitsglaobe. Wenn
aller persönliche, menschliche Geist letzten Endes das Produkt aus
dem Zusammenwirken substantieller sinnlicher Reize ist, so kann
auch der Geist Gottes nur ein solches Produkt sein, und wenn
er dies aus naheliegenden Gründen nicht sein kann, so kann er
überhaupt nicht sein. So führt Benekes Spirituahsmus folgerichtig
zum Atheismus, weil er auf dem Boden eines sensualistischen
Pluralismus ruht Es sind nur Gründe des Gemütslebens, nicht J
wissenschaftliche Erwägungen, die ihn von dieser Konsequenz
zurückhalten. Sobald die von Beneke spiritualistisch verstandenen
»Spuren« materialistisch umgedeutet werden, bricht auch sein
spiritualistischer Gottesglaube in sich zusammen und muss dem
materialistischen Atheismus Platz machen. Der utilitarische Eu-
dämonismus Benthams, dem Beneke huldigte, konnte einen solchen
Umschlag nur erleichtern. Während Benekes Psychologie nicht 1
unbeachtet geblieben ist, hat man seine Metaphysik bisher nochi
niemals nach ihrer geschichtlichen Bedeutung gewürdigt* Aber
nicht bloss seine Methodologie und Erkenntnistheorie, auch seine
Günther.
337
Untersuchungen über den unbewussten metaphysischen Hinter-
grund des bewussten Seelenlebens sollten diesen Denker vor
einer unverdienten Vergessenheit bewahren (vergL >Über die Be-
wusst werdung der im Unbewusstsein angelegten Seelenthätig*
keiten* in Benekes »Psychologischen Skizzen«, Bd. 1, S, 335 — 492,
und Lehrbuch der Psychologie, S. ji — 83).
4. Der strenge Theismus.
anther (17B5 — 1862) hat wohl von allen Theisten das
klarste Be\\'nsstsein darüber, dass der Pantheismus in jeder Ge-
stalt mit dem Theismus unvereinbar ist, und dass vor allem die
Riesenschlange des Pantheismus bekämpft werden muss, wenn
der Theismus gerettet werden soll. Während alle anderen Theisten
mit Ausnahme Herbarts dem Pantheismus mehr oder weniger
Zugeständnisse machen, oder gar mit Bewusstsein darauf ausgehen,
ihn mit dem Theismus synthetisch zu verschmelzen, weist Günther
jedes Zugeständnis an den Pantheismus auf das Schärfste zurück.
Entschiedener als irgend ein anderer Trinitarier betont er den
Satz, dass Gott nur dann an und für sich persönlich sein kann,
wenn er es nicht nur unabhängig von seinem Verhältnis zur Welt
ist, sondern auch, wenn er in sich nicht einfach, sondern vielfach ist,
und in dem Gegensatze der ihm immanenten Momente zur ewigen
Personifikation in einem jeden derselben gelangt. Abweichend
von allen anderen spekulativen Theisten des neunzehnten Jahr-
hunderts vertritt er die durchaus folgerichtige Ansicht, dass, wenn
Gott das Ich ist, die Welt sein Nichtich, d. h, die reale Negation
und Kontraposition Gottes sein muss, und nicht etwa eine affir-
mative Setzung Gottes in Gott selbst sein darf Wenn seine
trinitarische Persönlichkeitslehre nur eine vereinfachte Modifikation
des trinitarischen Theismus darstellt, so ist seine Schöpfungslehre
durchaus originell und zugleich diejenige Zuthat, durch welche
er den Theismus zur strengsten Konsequenz durchgebildet hat.
Der schroffe Dualismus zwischen dem Gottschöpfer und der
von ihm aus nichts geschaffenen, aussergöttiicheu Welt ist dem
£. ir. H«rtm&an. Aui<{ew, Werke. Bd. XII. 33
338
Günther.
Theismus wesentlich. Dagegen ist es ein Irrtum Güntliers, als
ob der Cartesianische Dualismus zweier verschiedener Substanzen
innerhalb der geschaffenen Welt ebenfalls für den Theismus
wesentlich seL Vielmehr ist dieser für den Theismus völlig^™
gleichgültig; der atavistische Rückfall in den Cartesianischeif^^H
Dualismus der beiden Substanzen, der philosophisch längst über-
wunden war, ist deshalb gerade das Wertlose an der Günther-
schen Philosophie, obwohl Günther selbst und seine Schule den
höchsten Wert darauf legt. Diese anachronistische Restauration
einer längst überwundenen Stufe wird dadurch nicht besser, dass
Günther der ausgedehnten Natursiibstanz Innerlichkeit, Empfin-
dung, Leben, Beseeltheit, Selbstgefühl, sinnliche Vorstellungen,
Begriffe, Willen, ein gewisses verständiges Denken, ja sogar ein
uneigentliches Analogon des Selbstbewusstseins zuschreibt und
ihr nur das eigentliche Selbstbewusstsein des Ichgedankens und
die Ideen abspricht. Er entgeht damit allerdings der Carte-
sianischen Zumutung, die Tiere für seelenlose Maschinen ansehen
zu sollen; aber er kann sich dann gar nicht mehr der Folgerung
entziehen, dass die Vorzüge des menschlichen Geistes vor dem
tierischen nur noch Steigerungen eines und desselben Princips
über einen kritischen Punkt hinaus sind, wodurch sie als etwas
qualitativ anderes erscheinen, ohne es dem Wesen nach zu sein.
Der Dualismus in der Welt könnte richtig, und doch der Dualis-
mus zwischen Schöpfer und Welt falsch sein; umgekehrt könnte
der Dualismus zwischen Schöpfer und Welt richtig, und doch der
Dualismus in der Welt ein falscher Schein sein. Beide Dualismen
haben gar nichts mit einander zu thun. —
Den Ausgangspunkt seines Philosophierens nimmt Gilnther
ebenso wie Beneke von dem Cartesianischen cogito ergo sum*
Aber während Descartes und Beneke das Ich als real seiendes
unmittelbar im Denkakt selbst erfassen zu können glaubten, ist
Günther besonnen genug, zuzugestehen, dass dies unmöglich ist
Im endlichen Selbstbewusstsein wenigstens kann das Ich sich
niemals unmittelbar als Objekt erfassen, sondern liegt als unver-
mittelte Substanz aller Vermittelung zu Grunde, durch die d
Geist sich aus dem Stande des Unbewusstseins zum Bewussl
w^ erden emporringt. Der Geist findet sich zuständlich bestimmi
indem durch Anregungen von aussen seine Rezeptivität und
spontane Reaktivität geweckt wird; seine eigenen inneren Zustände,
Gtmth«r,
139
deren er inne wird, erfasst er als das Seinige, zugleich aber auch
als verschieden von sich selbst als ihrem substantiellen Träger
und erzeugenden Grund, d. h. als Objekte. Der Fortgang von
den inneren Zuständen und Erscheinungsobjekten zum Subjekt
als dem sie erzeugenden substantiellen Grunde ist demnach ein
Rückschluss von der gegebenen Wirkung auf ihre hypothetische
Ursache. Das Ding an sich ist genau in demselben Sinne sub-
stantieller Realgrund der vom Ich rezipierten äusseren Ein-
wirkungen, wie das Ich Realgrond der Reaktion ist. Beide sind
also nur hypothetische Annahmen zur Erklärung des unmittel-
bar Gegebenen und Vorgefundenen» aber nicht Gegenstände eines
unmittelbaren oder apodiktisch gewissen Wissens.
Nun sucht aber Günther gerade darin den Gegensatz des
absoluten Ich vom endlichen, dass die bei letzterem unentbehr-
liche Vermittelung für das erstere in Wegfall kommt Was
nach der menschlichen Erfahrung für das Ich nicht gilt, das ge-
rade soll für das göttliche Ich gelten» die unmittelbare Selbst-
erfassung des denkenden Subjekts im Akte des Selbstbewusst-
seins. Während das endliche Selbstbewusstsein ein bloss formales
länomenales, reflektiertes) ist, soll das absolute Selbstbewusst-
'sein eine reale Selbstanschauung sein. Während das endliche
Selbstbewusstsein das Ich nur erschliesst, soll das göttliche es
unmittelbar setzen. Der Einfluss Fichtes ist hier unverkennbar;
im absoluten Ich soll in Wahrheit realisiert sein, was Descartes
irrtümlich schon ins beschränkte Ich des Menschen verlegte.
Lber wie Günther zu dieser Erkenntnis gelangt ist, hat er nicht
angegeben, obwohl er sie für eine apodiktisch gewisse ausgiebt.
Ob das endliche, bloss erschlossene Ich einer solchen Verabsolu-
ierung ohne völlige Aufhebung seines Begriffs fähig ist, diese
Frage hat er sich gar nicht vorgelegt, weil ihm feststand, dass
das Bewusstsein und Selbstbewusstsein im Menschen eine Voll-
kommenheit sei, und dass alle Vollkommenheiten Gott im höchsten
Masse zukommen müssten. —
Wenn das Selbstbewusstsein in Gott kein bloss formales,
sondern ein realem sein soll, so muss dieser Akt ein zugleich
idealer und realisierender sein, wie es die Einheit von Denken
und Wollen, Wollen und Setzen in Gott verlangt; d. h. das
Denken seiner selbst ist in Gott notwendig zugleich ein Setzen
seiner selbst. Nicht als ob er vor diesem Setzungsakt noch nicht
340
Güntbcr.
wäre und erst durch ihn entstünde, sondern in dem Sinne, dass
er als seiend Denkender und denkend Seiender sich selbst, indem er
sich denkt, noch einmal setzt, oder sich durch totale Emanation
verdoppelt. Hiermit hat Günther bloss einen Lessingschen Ge-
danken ausgeführt, der die Zeugung des Sohnes als zusammen-
fallend mit dem realen Sichselbstdenken Gottes auffasst Das Ge-
setzte ist, weil Gott sich selbst denkt, völlig Gott gleich, also nicht
bloss Objekt, sondern Identität von Subjekt und Objekt oder ab-
solutes Sebstbewusstsein* Sowohl der Vater als auch der Sohn
hat sowohl eine reale Wesenschauung, als auch ein formales
Wissen der Unterscheidung des anderen von sich selbst; erst
durch das letztere wird jeder von ihnen zur Person. Ihre Per-
sonifikation ist also durch ihre Zweiheit und ihren Unterschied
als Setzender und Gesetzter. Zeugender und Gezeugter bedingt
und wäre ohne diesen nicht erreichbar.
Hiergegen ist folgendes zu bemerken. Entweder ist der Sohn
dem Vater gleich, dann muss auch er sein Selbstbewusstsein erst
in einem realen Selbstsetzungsakt haben, durch den er sich ver-
doppelt, also etwas setzt, was vorher noch nicht da war; dann
geht die Selbstverdoppelung der Gottheit ins Unendliche, weil der
Vater, als schon seiender, nicht erst Produkt der Setzung des
Sohnes sein kann, Oder aber der Sohn ist bloss Gesetzter und
nicht wieder Setzender; dann ist er weder dem Vater gleich, noch
kann er ein absolutes Selbstbewusstsein haben, wenn dieses bloss
in der realen Selbstverdoppelung zu finden ist. Also entweder
unendlich viele Personen in der Gottheit oder gar keine. Das
Subjekt oder der Vater will sich selbst anschauen als Subjekt-
Vater; dies misslingt ihm aber vollständig; denn was es anschaut
ist eben nicht es selbst, nicht das Subjekt oder der Vater, sondern
das Objekt oder der Sohn. Was dem Vater misslingt, die Selbst-
anschauung, kann dem ihm gleichen Sohn erst recht nicht gelingen.
Er kann aber auch nicht sich im Vater anschauen, wie dieser sich
im Sohne anschaut Denn der Vater schaut sich nur deshalb im
Sohne an, w^eil er den Sohn setzt; der Sohn könnte sich also nur
dann im Vater anschauen, wenn er ebenso den Vater setzte, wie
dieser ihn setzt Das wäre aber ein Widerspruch in sich selbst
Wenn jeder von beiden sich selbst nur im andern erkennt, so
kann er nicht den andern mit sich vergleichen; denn dazu müsste
er sich ebensowohl in sich selbst wie im andern erkennen. Könnte
Günthen
341
er sich unmittelbar in sich selbst erkennen > so brauchte er sich
nicht erst zu verdoppeln» um durch das gesetzte Objekt zur Selbst-
erkenntnis zu gelangen. Wenn aber die Selbsterkenntnis in sich
selbst ausgeschlossen ist, so ist auch der Vergleich unmöglich
zwischen sich selbst und dem andern. Mit der Möglichkeit des
Vergleichens fällt auch die Möglichkeit sowohl des Gleichsatzes,
als auch der Unterscheidung fort. Mit der Möglichkeit der
f Selbstunterscheiduog des Subjekts vom Objekt und umgekehrt
verschwindet wiederum die Möglichkeit eines doppelten Selbst-
bewusstseins im Vater und im Sohne und damit die Möglich-
keit einer Personifikation, Mit der Möglichkeit des Gleichsatzes
des andern mit sich selbst in jedem der beiden Selbstbewusstseine
hört endlich auch die Möglichkeit auf, aus der Glcichsetzung
dieser beiden Gleichsetzungen die dritte Person der Gottheit ab-
leiten zu wollen. —
Günther personifiziert in der That den Gleich satz, das Gleich-
heitszeichen, die rein formale Beziehung der Identität, zu einem
dritten Selbstbewusstsein, obwohl nicht einzusehen ist, wie die
^doppelseitige logische Reflexion auf die Gleichheit einer logischen
'Beziehung im Bewusstsein des Vaters und in dem des Sohnes
aus diesen beiden Bewusstseinen heraustreten und sich zu einem
dritten Bewusstsein verselbständigen soll. Die so zu einer realen
Selbständigkeit aufgebauschte doppelseitige Reflexion auf eine in
zwei Bewusstseinen gleichartig gesetzte formal legi sehe Beziehung
wird dann wiederum gleichgesetzt mit den Beziehungen, aus
denen sie erwachsen ist, und aus der Gleichsetz ung der drei
formalen Beziehungen in den drei Bewusstseinen soll das ein-
heitliche Gesamtbewusstsein Gottes entspringen, das über die drei
Sonder bewusstseine übergreift und sie in sich befassL Dieses
einheitliche Gesamtbewusstsein Gottes hält Günther für nötig, um
dem Vorwurf des Tritheismus vorzubeugen. Er bezeichnet dieses
ausdrücklich als ein bloss formales, um nicht mit ihm eine vierte
Person als gegeben anzuerkennen.
Nun ist aber klar, dass die Gleichsetzung des Gleichsatzes
lim ersten und zweiten Selbstbewusstsein und die Gleichsetzung
fdes Gleichsatzes im ersten, zweiten und dritten Selbstbewusstsein
in durchaus gleicher Weise gebildet sind. Kann die letztere
wegen ihrer bloss formalen Beschaffenheit keine vierte Persön-
lichkeit m Gott konstituieren, so kann auch die erstere eben des-
34^
Gfindiar.
halb keine dritte konstituieren. Wird durch die letztere nur ein
formales einheitliches Gesamtbewusstsein der drei Personen her-
gestellt, dann wird auch durch die erstere nur ein formales ein-
heitliches Gesamtbewusstsein der zwei Personen gewonnen. Wird
dagegen wirklich durch die erstere Gleichsetzung eine dritte
Person konstituiert, dann muss nicht nur durch die letztere eine
vierte Persönlichkeit entstehen, sondern es muss dieser Prozess
bis ins Unendliche weiter gehen und unendlich viele Personen
in der Gottheit zustande bringen. Es ist anzuerkennen, dass
Günther im Beginn des innergöttlichen Prozesses den idealen
und realen Prozess Baaders in einen verschmilzt, wie die un-
trennbare Einheit von Denken und Wollen in Gott es verlangt; i
aber er kommt mit dieser Identität des idealen und realen Pro-
zesses nicht weiter, indem die Setzung der dritten Person zwischen
einem bloss idealen und einem idealrealen Vorgang schillertt |
und die Entstehung des einheitlichen Gesamtbewusstseins den
Verzicht auf die reale Seite zur Voraussetzung hat. —
Dass Günther genötigt ist, die Realität des Vorganges an
der vierten Phase des inner göttlichen Prozesses nach der positiven
Seite hin zu leugnen, ist um so bedenklicher, als er sie nach der
negativen Seite hin aufrecht erhält. Wenn das einheitliche Ge-
samtbewusstsein Gottes oder sein absoluter Ichgedanke aus dem
Zusammenschluss dreier Affirmationsakte oder der Gleichsetzung
dreier Gleichsetzungen entspringt, so soll die Idee der Welt oder
der absolute Nichtich- Gedanke aus dem Zusammenschluss der
drei Negationsakte oder aus der Verschmelzung der drei Selbst-
unterscheidungen der drei Personen von einander hervorgehen.
Wenn der erstere das absolute Sein^ so ist der letztere das abso-
lute Nichtsein oder das Nichts. Das Nichtich ist ein ebenso not-
wendiger Gedanke wie das Ich, denn es ist sein Supplement; es
ist daher auch gleich ewig mit diesem. Indem der Wille diesen
Gedanken ewig realisiert, schafft er ewig die Welt aus Nichts.
Damit ist der Defekt ausgeglichen» dass vom heiligen Geist nichts
Innergöttliches emaniert, wie vom Vater der Sohn und vom
Vater und Sohn der heilige Geist
Erkünstelt und verzwickt erscheint die Zusammenschweissung
dieses Nichtich im Absoluten aus den drei negativen Unterschei-
dungen der Personen von einander, unmöglich die Gleichsetzung
des Nichtich mit dem Nichts. Die drei Personen dürften einander!
Günther,
343
nur für »andere Ichs« oder »Ichnichtf erkennen, wie Günther
es von den Menschen behauptet, und aus drei anderen Ichs kann
niemals ein absolutes Nichtich werden, das die Neg^ation des Ich
überhaupt einschliessen soll. Wenn das absolute Sein im Ich
liegt, dann bleibt freilich für das Nichtich nichts mehr übrig, als
das absolute Nichtsein oder Nichts; die Realisierung des Nichts
kann aber niemals Etwas, niemals eine Welt liefern. Wenn die
Welt mehr als Nichts, wenn sie auch nur blosser Schein, oder
wenn sie gar, wie Günther behauptet, geschaffene Substanz sein
soll, so kann sie nicht aus der Realisierung der Idee des Nichts
entsprungen sein. Wenn sie mehr ist als absolutes Nichtsein,
wenn irgend etwas von Sein in ihr ist, so ist sie entweder eine Er-
scheinung des göttlichen Seins, oder Gott ist nicht mehr das
_absolute Sein, das alles Seiende umfasst und in sich schliesst
>er das Dilemma, entweder die Aussergöttlichkeit der Welt
^der die Absolutheit Gottes einzubüssen, kommt also auch die
Günthersche Schöpfungslehre nicht hinaus.
Die Günthersche Behauptung, dass die Welt nur das reali-
sierte Nichtich Gottes sein könne, ist insoweit durchaus richtig.
dass die zu realisierende Weltidee etwas anderes sein muss, als
ein göttliches Selbstbewusstsein, oder als eine Reflexion Gottes auf
sich selbst als absolutes Subjekt Es ist richtig, dass, wenn Gott
seinen Ichgedanken hätte und realisierte, dabei niemals etwas
anderes herauskommen könnte als ein zweiter Gott, aber niemals
eine Welt. Daraus folgt, dass Gott einen anderen idealen Inhalt
geschaut und realisiert haben muss als sein Ich, als er die Welt
schuf. Dieser ideale Inhalt seiner Anschauung kann auch nicht
bloss in inneren Zuständen und näheren Bestimmungen seines
Ich bestanden haben; denn sonst wären sie auch als willensreali-
sierte innere Momente seines Ich blosse Bestimmungen seiner
eigenen göttlichen Existenz geblieben und nicht zu einer anderen
Existenz, nicht zu einer relativen Selbständigkeit phänomenalen
Daseins aus seinem Ich hinausprojiziert worden. Andererseits
betont Günther selbst, dass in Gott keine Negation gesetzt werden
darf, weil in ihm keine abstrakte diskursive Reflexion anzunehmen
ist; darum ist die Günthersche Auffassung verfehlt, als ob aus
einer bewussten Negation des Ich in Gott die Welt entspränge.
Ebenso unmöglich ist es. dass bei der Realisation eines bloss
negativen Gedankens ein Positives herauskommen sollte, wie die
S44
Günther.
LSSt-
Welt doch ist. Die zu realisierende Wellidee muss also einen
positiven Inhalt haben, der zwar nicht das absolute Subjekt selbst
ist, aber auch von Gott nicht von sich als dem absoluten Subjekt
unterschieden, nicht sich entgegengesetzt und nicht als Negation
seines Ich gedacht wird. Daraus folgt, dass für das Denken der
Weltidee das Denken des Ichgedankens in Gott ganz bcdeutun
los ist^ da beide doch nicht zu einander in Beziehung gesetzt'
werden, d. h. dass die Annahme eines göttlichen Selbstbewusst- .
Seins zur Erklärung der Weltentstehung nichts beitragen kann^^H
Der Ichgedanke in Gott kann immer nur die Zeugung des Sohnes^*
oder die Selbstverdoppelung Gottes erklären und nichts weiter:
er kann aber auch gar nicht supponiert werden, ohne diese Selbst-
verdoppelung Gottes als seine Konsequenz mit sich zu führen.
Wem alles daran gelegen ist, die immanente Zeugung des Sohnes
zu erklären, der wird das Selbstbewusstsein Gottes nicht ent-
behren können; wer nur auf die Erklärung der Weltentstehung
ausgeht, für den ist es eine überflüssige Annahme, die gar nichts
leistet, eine ungerechtfertigte Komplikation, die nur stört.
Wie Gott ein Ternar von drei absoluten Persönlichkeiten,
so ist die Welt ein solcher von drei nichtabsoluten Persönlich-
keiten: Geist, Natur und Menschheit, die sich wie Thesis. Anti*
thesis und Sytithesis verhalten. Wie Gott Einheit des Wesens in
der Dreiheit der Form ist, so ist die Welt Dreiheit der Wesen in
Einheit der Form. Da die Menschheit nur Synthesis von Natur
und Geist ist» so rechnet Günther nur diese beiden letzteren als
Substanzen* Jede von ihnen ist ursprünglich eine Einheit, die
sich erst im Prozess in eine Vielheit zerspaltet; jede stellt ein
zunächst unbewusstes Princip dar, das erst im Verlauf des Pro-
zesses sich allmählich zum Bewusstw erden emporarbeitet. Worin
ursprünglich der Unterschied beider Substanzen bestanden hat,
dürfte nicht leicht anzugeben sein. Die Bezeichnung Substanzen
scheint offenbar missbräuchlich auf etwas angewendet» das doch
nichts weiter sein soll, als das durch Gottes Willen ewig reali-
sierte Nichts» d. h. ein zum falschen Schein des Seins aufgeblähtes
Nichts, Was nicht nur beschränkt durch seinesgleichen, sondern
auch fortdauernd bedingt ist durch das Unbedingte, das kann
nicht Substanz heissen, da es gar keine Subsistenz in sich hat.
Den Widerspruch der »geschaffenen Substanz^ hat Günther nicht
beseitigt, sondern geradezu auf die Spitze getrieben* —
Günther.
345
Günther erörtert eingehend die Kate^orienlehre von Kant,
Fries, Hegel, Weisse, Beneke und George, aber merkwürdiger*
weise nicht die von Fichte, Schelling und Schleierm acher, an die
er sich doch am engsten anlehnt Denn er geht gleich ihnen bei
der Entwickelung der Kategorien von der Betrachtung des Selbst-
bewusstseins, von der Wechselwirkung zwischen Subjekt und
Objekt aus, macht die Relation zur Ur- und Grund -Kategorie
und unterscheidet im Ich eine passive und aktive, eine fezeptive
und reaktive Thäiigkeit, Das Ich ist nicht eine Idee oder Kate*
gorie unter anderen Ideen oder Kategorien, sondern die Idee
schlechthin, und die Gesamtheit der Kategorien sind nur die ge-
danklich rekonstruierten Momente des unbewussten Prozesses.
vermittelst dessen der Geist sich aus seinem ursprünglich unbe-
wussten Zustande zum Bewusstsein seiner selbst hindurchringt
Unter dem Gesichtspunkte der Immanenz des Erscheinenden
(beschränkten Ich) in der Erscheinung, des sich Offenbarenden in
der Offenbarung differenziert sich die Urkategorie der Relation
zu derjenigen der Substantialitätj unter dem Gesichtspunkt der
Thätigkeit bestimmt sie sich als ein rezeptives Erleiden und
reaktives Hervorbringen von Wirkungen. Die Teleologie end-
lich, die Gündier Finalkausalität nennt und sonderbarerweise mit
der Wechselwirkung der Kantschen Kategorien ta fei gleichsetzt,
ergiebt sich ihm erst auf einem Umwege, durch den Schöpfimgs-
begriff, welcher aus dem Widerstreit zwischen der Kausalität und
Nichtkausalität des beschränkten Ich folgen soll; indem das Ich
das in es gelegte Gesetz seiner Bestimmung findet und befolgt,
macht es sich zum Mittel für den absoluten Zweck, Alle übrigen
Kategorien sucht Günther bei einer dieser drei Relationskate*
gorien unterzubringen, so dass sich (nach Knoodt) aus Günthers
zerstreuten Darlegungen folgende Tafel ergiebt:
I, Substantialität
Substanz und Accidenz (Substanz und Inhärenz, Wesen und
Eigenschaft, Realität und Formalität, Inneres und Äusseres);
Subjekt und Objekt; Einheit, Vielheit und Allheit — Zahl — ;
kontinuierHche und diskrete Grösse (Quantität), Teil grosse; Quali-
tät; Raum.
2. Kausalität
Ursache und Wirkung (Grund und Folge), Princip und
Kräfte (Vermögen); Möglichkeit und Unmöglichkeit, Wirklich-
346
Günther,
keit und Nichtexistenz» Notwendigkeit und Zufälligkeit, Zwang
und Freithätigkeit (unwillkürliche und wnllkürliche), Gesetzlich-
keit; Zeit
3. Final kausalität
Zweck und Mittel; Urbestimmung und Endabsicht; Unbe-
stimmtheit und Bestimmtheit; Ansichsein und Fürsichsein, und
Anundfürsichscin und Füranderessein ; Wechselwirkung; Bewe*
gung, Werden und Veränderung; Beschränktheit und Unbe-
schränktheit , Bedingtheit und Unbedingtheit (Endlichkeit und
Unendlichkeit); Realität und Negativität; Zeiträumlichkeit. —
Die so abgeleiteten Kategorien beziehen sich zunächst nur auf
die Entstehung des Selbstbewusstseins im empirischen, beschränk-
ten Ich, innerhalb dessen die Objekte nur als subjektiv -ideale
Erscheinungen figurieren. Nun aber kann das Ich sich nicht als
alleinigen Realgrund seiner Doppelthätigkeit setzen, sondern
muss ein Nichtich als Realgrund der auf es einwirkenden Thätig-
keit annehmen, welche es seinerseits als Leiden perzipiert. Dieses
fremde Thätige wird demnach in derselben Weise wie das eigene
Ich durch Anwendung der beiden Kategorien s Substanz c und
»Ursachen gewonnen. Es zerfällt in andere Ichs und ungeistiges,
natürliches Sein. Auf die anderen Ichs sind die am eigenen Ich
gebildeten Kategorien ohne weiteres übertragbar; dagegen müs-
sen sie bei der Anwendung auf ein ungeistiges Sein in der Natur
gewisse Modifikationen erfahren, die nicht a priori zu bestimmen,
sondern a posteriori durch den Stand der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis bestimmt sind. So ist z. B. die spontane Reaktivität
in notwendige, das immaterielle Nebeneinander der Vorstellungs-
objekte im Bewusstsein in ein materielles Nebeneinander der
Naturdinge abzuändern.
Aber eine noch einschneidendere Modifikation ist erforderlich
bei der Anwendung der Kategorien des beschränkten Selbst-
bewusstseins auf Gott, oder das absolute Selbstbewusstsein; hier-
bei ist jede den Kategorien anhaftende Negation abzustreifen und
ihr positiver Gehalt zu verabsolutieren. Nur was sich dieser
Modifikation unterwerfen lässt, ist auf Gott übertragbar; ohne
solche Übertragbarkeit aber wäre Gott das schlechthin Unerkenn-
bare für den menschlichen Geist, und wir dürften von seinem
Sein gar nicht reden. Alle Kategorien sind Modifikationen der
Günther.
347
Urkategorie der Relation. Hätte das Absolute Relationen zu
etwas Anderem ausser ihm» so hörte es damit auf, absolut zu sein;
hätte es keine Relationen in sich, so wäre auch keine von allen
Kategorien auf dasselbe anwendbar und seine Erkennbarkeit hörte
schlechthin auf. Es muss also immanente Relationen zu sich
selbst haben, und diese Relationen müssen unbeschadet ihres
Relationscharakters absolut werden, d. h. das Absolute muss das
absolute Relativum sein.
Das Sein (an sich) ist als absolutes erstens frei von jeder
Kausalität nach rückwärts (hat Aseität) und frei von jeder Be*
dingtheit oder Abhängigkeit von einem anderen (koordinierten)
Sein neben ihm (hat allumfassende Alleinigkeit). Es ist zweitens
rein affirmativ ohne jede Negativität» und es hat drittens die
ursprüngliche Unbestimmtheit seiner selbst von Ewigkeit her
durch affirmative Selbstbestimmung überwunden, so dass keine
faktische Potentialität vor der Aktualität bestehen bleibt.
Das Dasein ist zu verabsolutieren, indem die Möglichkeit
eines Füranderesseins im Absoluten wegfällt und bloss die des
Fürsichseins übrig bleibt. Das Fürsichsein ist die Angewiesen-
heit auf sich selbst, d. h. die Beziehung der Momente des gött-
lichen Selbstsetzungsprozesses auf einander. Die Substanz ist
ganz sowohl im Subjekt wie im Objekt, aber ohne Accidentien,
in denen sie sich auf endliche Weise zersplittern würde. Ebenso
ist die reale Kausalität oder absolute Selbstverwirklichungsmacht
ganz und ungeteilt im Subjekt und im Objekt; sie ist ihrer
QuaUtat nach absolute Selbstbestimmung oder absolutes Wollen,
jedoch nicht im Sinne eines aus dunklem Urgründe entspringen-
den blinden WoUens. sondern als lichtes wissendes Wollen. Die
Kategorie der Zufälligkeit fällt in Gott fort, weil jede Abhängig-
keit von anderem ausgeschlossen ist, die der Möglichkeit, w^eil sie
durch seine Selbstverwirklicbung ewig aufgehoben ist Da Gott
kein Gesetz über sich hat, so kann von Notwendigkeit im Abso-
luten nur in dem Sinne die Rede sein, dass es eine bestimmte
Setzungsweise ist, durch welche es sich als den absolut persön-
lichen Gott realisiert (essentielle Notwendigkeit). Nur die Wirk-
lichkeit ist von den modalen Kategorien ohne weiteres zu ver-
absolutieren; denn Gott ist die absolute Wirklichkeit.
Den inneren Widerspruch eines zeitlos ewigen Prozesses in
Gott, das Dilemma zwischen ewig unveränderlicher Starrheit des
Günther.
Seins und zeitlicher Wandelung in bewegtem Leben und Werde*
prozess hat Günther ebensowenig wie ein anderer Theist zu lösen
vermocht. Er erkennt an, dass Gott als der sich selbst setzende
ein Nacheinander und Nebeneinander seiner Momente in sich
haben müsse, d. h. Zeit und Raum zu Formen haben müsse, die
aber als verabsolutierte: Ewigkeit und Unermesslichkeit heissen
sollen. Absolute Zeit ist aber nicht zeitlose Ewigkeit, in der
jedes Nacheinander aufhört, sondern unendliche Zeit; verabsolu-
tierter Raum ist nicht raumloses Insichsein, sondern unendliche
Extension nach drei Dimensionen,
Die Finalkausalität hat im beschränkten Ich das Negative
an sich, dass ihm von einem andern ein Ziel gesetzt ist, dem es
nachstreben soll, ohne doch es in irgend welcher Gegenwart ganz
erreicht zu haben. Diese Negation fällt im Absoluten fort, weil
das Ziel, die absolute Selbstverwirklichung, sowohl ein selbst ge-
setztes, als auch ein ewig erreichtes ist. Diese Unbeschränktheit
des Daseins macht in Verbindung mit der Unbedingtheit des
Seins die Unendlichkeit des Absoluten aus.
Günthers Kategorienlehre bleibt darin Kant und seinen Nach-
folgern treu, dass sie die Kategorien im eigenen Selbstbewusstsein
als die Stufen seiner Entstehungsgeschichte belauschen und für
das Bewusstsein festhalten zu können glaubt, Sie macht aber
einen wichtigen und entscheidenden Schritt über alle Vorgänger
hinaus, indem sie feststellt, dass die aus der subjektiv-idealen
Sphäre des bewussten endlichen Geistes geschöpften Kategorien
zunächst auch nur für diese Sphäre eine apodiktisch gewisse
Geltung haben, aber nicht darüber hinaus. Ob und inwieweit sie
auch in der objektiv realen Sphäre des Naturdaseins und in der
metaphysischen Sphäre des universellen absoluten Geistes Gültig-
keit haben, oder welche Modifikationen bei der Übertragung auf
diese Sphären mit ihnen vorzunehmen sind, ist nicht mehr a priori
zu deduzieren, sondern nur noch a posteriori auf induktivem
Wege zu bestimmen. Damit ist für die Kategorienlehre ein ganz
neuer Kreis von Aufgaben erschlossen. Das Verdienst dieser
Unterscheidung und neuen Problemstellung bleibt bestehen, auch
wenn die von Günther beigebrachten Lösungen zunächst miss-
lungen sind. Als Kriterien für die Anwendbarkeit der Kate-
gorien auf das Absolute stellt Günther z. B. die Möglichkeit hin,
jede Negativität auszuscheiden und ihren Inhalt zu verabsolutieren.
Weber.
349
Er selbst hält aber sowohl in der Erklärung der göttlichen Per-
sonen aus ihrem formalen Wissen von ihren Unterschieden und
^Gegensätzen , als auch in der Zusammenfassung dieser Negationen
l^um Nichtich die Negation im Absoluten fest. Und seine Annahme,
•dass eine Relation unbeschadet ihres Relationscharakters ver-
absolutiert werden könne, wird schwerlich jemand teilen.
Der Günthersche Anspruch auf apodiktisch gewisse Erkennt-
nis wird bei der bloss a posteriori erschlossenen Anw^endbarkeit
der Kategorien in Bezug auf die Sphäre der Natur und des Ab-
soluten ganz von selbst hinfällig. Aber auch in Bezug auf die
subjektiv ideale Sphäre des endlichen bewussten Geistes ist eine
ipodiktisch gewisse apriorische Erkenntnis der Kategorien nicht
aufrecht zu erhalten. Denn Günther giebt zu, dass sowohl das
Ding an sich als auch das Ich an sich nur indirekt erschlossen
sind, dass alles Erleiden und Thätigsein in der Menschenseele
auf Wechselwirkung zwischen diesen beiden (ihr unmittelbar un»
bewussten) Faktoren beruht, dass die Kategorien sich erst aus
dieser Relation der vorbewussten Faktoren entwickeln, und dass
das endliche Geistesleben ein sehr allmähliches Emporringen aus
dem Unbewusstsein zum Bewusstwerden ist. Wie können da die
fdem Bewusstseinsinhalt implicite immanenten Kategorien anders
als durch nachträgliche Abstraktion aus dem lertigen Resultat
des Bewusstge Wordenseins zum ßewusstsein gebracht werden?
Und wie kann dieses Herauslösen aus dem Vorgefundenen an-
ders genannt w^ erden als eine Erkenntnis a posteriori, die keines-
jWegs irrtumshrei zu sein braucht! —
Th. Weber (geb. 1836, altkatholischer Bischof) hat sich be-
müht, die rerstreuten Gedanken Günthers zu einem System der
letaphysik zusammenzufassen, wobei er die Fehler seines Meisters
'so steigert, dass sie um so leichter als Fehler erkennbar werden.
Den Dualismus zwischen Gott und Welt und zwischen Natur und
Geist hält er fest und kämpft gegen den Monismus und die Iden-
titätsphilosophie als gegen die Ursünde der Philosophie und den
Giftbaum der Erkenntnis. Dem modernen Materialismus, Natura-
lismus und Hylozismus trägt er im weitesten Umfang Rechnung,
schreibt den Atomen Rezept! vität und Reaktivität, der Materie
Empfindungsfähigkeit und Vorstellungsvermögen, den reinen
Naturwesen Fühlen, Denken, Wollen und die Anfänge logischer
Begriffisbildung zu, und lässt auch in den geistigen Wesen das
350
Weber.
Geistesleben ans dem sinnlichen Vorstellungsleben erwachsen, das
er als ein blosses Summationsphänomen der Gehirnbethätigung
betrachtet. Andrerseits behandelt er auch den Geist als eine
räumliche, raumerfüllende Substanz und erkennt an, dass beide
Substanzen als einheithche und ganzheitliche Principien vor ihrer
Zersplitterung in Atome und Individualgeister qualitativ oder
wesentlich einander vollkommen gleich sind. Damit löst der so
eifrig verteidigte Dualismus der Substanzen sich in essentielle
Identität auf, die nur durch eine verschiedene Art der Spaltung
und Zersplitterung zu existentiellen Unterschieden geführt wor-
den ist
Der existentielle Unterschied des Geistes von der Natur soll
nun allein darin bestehen, dass das Naturwesen gar nicht nach
Kategorien denkt, sondern bloss der Geist. Diese Annahme
widerspricht der Intellektualität aller Anschauung, wie schon
Schopenhauer sie nachgewiesen hat, d. h. dem Hervorgehen der
Anschauung aus unbewussten kategorialen Empfindungssynthesen,
das ebensogut im Tier und im Kretin, wie im Philosophen statt-
findet. Der Unterschied ist also auch in dieser Hinsicht nicht
vorhanden.
Wenn das Seelenleben des Tieres als blosses Summations-
phänomen aus den materiellen Bestandteilen seines Centralnerven-
systems entspringen könnte, so wäre kein Grund mehr erfindlichy
das Gleiche beim Menschen nicht auch für ausreichend zu haltend
Wenn die Materie überhaupt denken kann, so ist nicht a priori
abzusehen, wie hoch ihr Denken sich bei verfeinerter Organisa-
tion erheben kann. Wenn im Tiergehirn die Vielheit der thätigen
Teile kein Hindernis filr das Zustandekommen eines einheitlicheil|
Bewusstseins bildet, so ist nicht zu verstehen, warum im Menschen
noch ein neues Princip hiozogezogen werden soll, um diese Be-
wusstseinseinheit zu ermöglichen. Wenn die Einheit des Realen
und Idealen, des materiellen, äusserüchen Daseins und des
geistigen, innerlichen Bewusstseins, in der Natur durch eine
petitio principii als gegeben vorausgesetzt wird, so ist der Dualis-
mus bereits durch diesen Machtspruch aufgehoben, und es hat
keinen Sinn, ihn* durch einen zweiten Machtspruch wieder
herzustellen-
Günther schreibt den Tieren ein Selbstbewusstsein zu, das
er allerdings als uneigentliches bezeichnet; Weber reserviert
Weber.
351
das Selbstbewusstsein dem Geiste, unbekümmert darum, dass das
sogenannte eigentliche Selbstbewusstsein des Menschen nur eine
graduelle Steigerung, Abklärung und abstrakte Konzentration
des »uneigentlichen* Selbstbewusstseins der Tiere ist, und dass
beide durch das Selbstbewusstsein des intelligenten, aber sprach-
losen Taubstummen mit einander verknüpft sind. Denn der Ich-
gedanke im Unterschiede vom Selbstbewusstsein ist sprachlich
vermittelt, insofern die sprachliche Fixierung der Abstraktions-
ergebnisse die Wiederholung des Abstraktionsverfahrens erleichtert
»und abkürzt. Dieser Ichgedanke ist also nur ein letztes Resultat
der Abstraktion aus kategorialen Synthesen, die selbst nur phä-
nomenale Anschauungsinhalte im Bewusstsein sind, und darum
eine subjektiv ideale Erscheinung in zweiter Potenz, die mu- als
Vorstellungsrepräsentant eines unbewmsst seienden Subjekts für
das Bewusstsein figuriert.
Günther erkennt dieses Verhältnis an, indem er das Ich
an sich ebenso wie das Ding an sich als etwas mittelbar Er-
schlossenes, aber nicht unmittelbar Vorgefundenes und Erfasstes
behandelt. Weber hat das richtige Gefühl davon, dass bei sol-
chem mittelbaren Erschliessen des Ich an sich nicht nur jede
Sicherheit des Wissens fehlt, sondern auch jede Bürgschaft
dafür mangelt, dass dasjenige vorbewusst Seiende, was dem
.subjektiv idealen Ichgedanken als bewusstseinstranscendentes
Korrelat entspricht, auch w^irklich essentiell und substantiell ver-
schieden sei von der Substanz, die der objektiv realen Erscheinung
des Naturdaseins zu Grunde liegt. Weber hat eine richtige
Witterung davon, dass dieser Weg zum Monismus zurückführt,
und deshalb verleugnet er die beste erkenntnistheoretische Ein-
sicht seines Meisters, stürzt sich Hals über Kopf in das cogito
ergo sum, in die unmittelbare Erkennbarkeit des Ich an sich als
Substanz zurück und tadelt (ebenso wie Beneke es thut) Kant.
[dass er das Ich für eine Erscheinung gehalten habe. Nor wenn
der Mensch im Ichgedanken eine Substanz selbst, und nicht etwa
' bloss deren Vorstellungsrepräsentanten erfasst, hat er die Gewiss-
heit davon, erstens, dass diese Substanz geistig und zweitens,
dass sie monadisch, d. h. nicht bloss Bestandteil oder Moment
einer universellen Substanz, sondern individuell in sich abge-
schlossen und als Substanz selbstständig ist*
Der Dualismus zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Ge-
352
Deutinger,
schöpf ist bei Weber lediglich eine Konsequenz von der unmittel-
baren Selbsterfassung der monadischen Substanz im Ichgedanken
und steht und fällt mit dieser. Dasselbe gilt von der individuellen
Unsterblichkeit. Mit alledem findet nur die Metaphysik der Leib-
nizschen Schule des achtzehnten Jahrhunderts eine Restauration
und der Grundgedanke des gesamten Theismus seine schärfste
Zuspitzung. Dabei wird die Unhaltbarkeit dieser Spitze, auf
welcher der ganze Theismus balancieren soll, recht deutlich,
während sie bei anderen Theisten in Phrasenschwall verhüllt und
durch allerlei Zuthaten mehr oder weniger verschleiert ist. Nur
wenn das Ich des endlichen beschränkten Geistes irrtümlich für
die Substanz dieses Geistes angesehen wird, kann man auf den
Gedanken kommen, die Identität von Substanz und Ich von dem
beschränkten Individuum auf das Absolute zu übertragen. —
Deutinger (1815 — 1864) ist ein persönlicher Schüler Schellings
und Baaders» aber fast noch mehr durch Günther und Hegel be-
stimmt. Von Baader entlehnt er die Betonung des Willens, von
Schellin g die Art seiner Dialektik und die Identität des Idealen
und Realen, des Denkens und Seins im Absoluten, von Günther
die Konstruktion der Trinität, von Hegel den Hang zum syste-
matischen Ausbau der Philosophie und das Streben nach synthe-
tischer Überwindung der in den Vorgängern aufgetretenen Ge*
gensätze. Deutinger ist der abgeschlossenste Systematiker des
spekulativen Theismus, der alle Gebiete der Philosophie bearbeitet
hat; aber er ist ein mehr feiner als starker Geist, der bereits
einen eklektischen Zug aufweist und die Philosophie eigentlich
nur auf dem Gebiete der Ästhetik erheblich gefördert hat Mit
Baader, Günther und Weber teilt er den Glauben an die Ver-
söhnbarkeit des katholischen Dogmas mit der philosophischen
Wissenschaft und die altkatholische Tendenz. Von Baader unter-
scheidet er sich durch sein systematisches und abgeklärtes Denken,
von Güntlier dadurch, dass er den Cartesianischen Duahsmus der
zw^ei Substanzen verwirft und durch die Schellingsche Identitäts-
philosophie überwindet An Hegel bekämpft er die Widerspruchs-
dialektik, den einseitigen Intellektualismus und den alle wahre
Individualität vernichtenden Absolutismus.
Die Einheit von Sein und Denken ist nach Günther ver-
mittelt durch das Wollen; Sein, Erkennen und Wollen sind in
ihrer Einheit erst die ganze und eigentliche Hypostase d^ Be*
Deutmger«
353
wusstseins. Wie das Sein die Voraussetzung des Erkennens» so
ist dieses die Voraussetzung des Wollens. Nur das Seiende ver-
mag zu erkennen, nur das Erkennende vermag zu wollen. Das
dn ist der ewige Grund der geistigen Persönlichkeit; dieser
^ersönlichkeitsgrund heisst Geist. Das Dasein dagegen ist nur
der notwendige Grund für die Vermittelung der geistigen Per-
sönlichkeit, weil das Erkennen und Wollen eines ihm gegenüber-
stehenden Objekts bedarf; dieser notwendige Grund heisst Natur,
und hat weder Fürsichsein noch Selbstbestimmung, sondern nur
ein unselbständiges Sein für Anderes» ein Sein der Erscheinung.
Damit ist der Natur die Substantialität abgesprochen; sie ist wie
in Schellings erstem System nur eine subjektiv ideale Erschei-
nung für den Geist, in welcher dieser sich vergegenständlicht
anschaut, wie der individuelle Einzelgeist in dem Vorstellungs-
objekt seines Leibes. Die Wechseldurchdringung des Seins und
Daseins, des Geistes und der Natur, des Wesens und der Er-
scheinung ist die lebendige Bewegung. Wie dem ewigen und
dem notwendigen Grund im Individuum Geist und Leib ent-
sprechen, so entspricht der lebendigen Bewegung und Wechsel-
durchdringung beider die Seele.
Im Menschen kommt das Bewusstsein erst durch einen zeit-
lichen Vorgang zustande, nämlich durch die Unterwerfung des
Naturgrundes unter den Persönhchkeitsgrund in der vermittelten
Subjekt -Objektivität. Hier stehen Sein und Erkennen ebenso
wie Sein und Wollen sich als relative Gegensätze gegenüber, die
erst eine Vermittelung suchen und finden; das Bewusstsein ent-
springt hier aus dem Zusammenwirken von lauter an sich selbst
unbewussten Faktoren. Im Absoluten soll das anders sein, d. h.
Gottes Erkennen und Gottes freies Wollen sollen absolut identisch
sein mit dem Sein. Das ist aber nur möglich, wenn er über alle
Gegensätze erhaben ist Das Absolute steht >über dem Denken« ^
und ausserhalb aller Kategorien ; es ist deshalb auch unbegreiflich,
dem Denken unergründlich und nur soweit Gegenstand des Nach-
denkens, als es sich geoffenbart hat »Das wirklich Erkennende,
die Erkenntnis Vermittelnde und die vermittelte Erkenntnis als
Bewusstsein Besitzende steht über dem Bewusstsein, * Dies
gilt schon für den endlichen Geist, wie viel mehr muss es für den
absoluten gelten. Aber Deutin ger zieht daraus nicht die Folge-
rung, dass im Absoluten das Erkennen und Wollen ebenso wie
£. ?. HartmaDD, Ausg««. Werk«. Bd. XU. 23
354
Deutingcr.
das Sein als ein über die Gegensätze erhabenes auch über dem
Bewusstsein bleiben muss und nur in den endlichen Geistern in
die Gegensätze und durch sie auch ins Bewusstsein eingeht Er
verkennt, dass das Absolute nach seiner eigenen Darstellung ira
endlichen Geiste das Ich oder Selbstbewusstsein keineswegs un-
mittelbar setzt, sondern nur die uobcwussten Bedingungen, aus
deren Zusammenwirken das Bewusstsein entspringt. Er kann
sich von dem Gedanken nicht losreissen, dass das Absolute, um
im endlichen Geiste ein Ich oder durch Gegensätze vermitteltes
Selbstbewusstsein setzen zu können, selbst ein Ich oder Selbst-
bewusstsein schon sein müsse ^ wenn auch ein über die Gegen-
sätze erhabenes. Diese Ansicht hebt aber den Unterschied
von Ursache und Wirkung und damit jedes wirkliche Wer-
den auf.
An der Güntherschen Trinitätslehre bringt Deutinger nur
die Modifikation an» dass er das ewige Wechselgespräch des
Vaters und des Sohnes nicht bloss als einen logischen Prozess
des Gleichsetzens zweier Gleichsätze, sonderri im Anschluss an
Augustinus zugleich als Wechselliebe auflFasst Damit kommt
allerdings zu dem logischen Verhältnis eine reale Gefühlsbeziehuog
hinzu; aber es ist schwer zu verstehen, was das abstrakte Subjekt
und Objekt an einander Liebenswertes finden sollen. Höchstens
könnte die Liebe der Ausdruck einer Sehnsucht danach sein, die
durch den Erkenntnisprozess herbeigeführte Verdoppelung und
Entzweigung des Absoluten als etwas NichtscinsoUendes w^ieder
aufzuheben und zur einfachen Einheit zurückzuführen. Aber das
würde nicht zu einer Auffassung passen, welche die Verdoppelung
als ewig, also unauf hebbar ansieht So anerkennenswert das
Bemühen ist, auch der dritten Person ein Realitätsmoment zuzu-
führen, so wenig kann es statthaft scheinen, in die innergöttlichen
Beziehimgen der drei Personen anthropopathische Gefühle wie
die Liebe hineinzuverlegen.
Die Welt als das Nichtich Gottes zu behandeln, diesen Ge-
danken von Günther hat Deutinger nicht übernommen. Er ent-
geht damit allerdings allen den Schwierigkeiten, in die sich
Günther durch diese Behauptung verwickelt, büsst damit aber
auch die Schärfe des Gegensatzes zwischen Gott und Welt ein,
durch die sich der Günthersche Theismus vor allen anderen Ge-
stalten des Theismus auszeichnet. Deutinger stellt hiernach eine
Die Vertreter der Phantasie.
355
Vermittelung zwischen dem strengen Theismus Günthers und
dem semipantheistischen Theismus oder Persönlichkeitspantheisraus
der Krause» Weisse, I. H. Fichte u, s, w, dar.*)
5* Die Vertreter der Phantasie.
Im Gegensatz zu der rein logischen Auffassung des absoluten
Denkens bei Hegel hatte Schelling von jeher eine mehr ästhe-
^ tische Ansicht von der intellektuellen Anschauung festgehalten
und schon in der Abhandlung über die Freiheit im Anschluss an
Böhme von einer Imagination in Gott gesprochen, die er als den
dem Willensprincip eigentümlichen Verstand ansah. Im Anschluss
an die Baadersche und Schellin gsche Erneuerung Böhmes suchte
Weisse die rein logische Idee Hegels durch eine ästhetische Phan-
tasieanschauung in Gott zu ergänzen. L H. Fichte behandelte die
[objektive Phantasie als die Haupteigenschaft der unbewussten
I Individualseele und suchte in ihr den Erklärungsgrund des or-
ganischen Lebens, der Naturheilkraft, des Instinkts ebensogut wie
den des künstlerischen SchafiFens. Frohscham mer fasste diese
beiden Leistungen seiner Vorgänger in Eins zusammen, indem er
die Phantasie sowohl im Ein zelleben als auch im ganzen Welt-
lauf als alleiniges Erklärungsprincip hinstellte und die Weltphan*
tasie mit der Weltseele Giordano Brunos gleichsetzte. Deshalb
schien es mir geboten, diese drei Theisten in eine Gruppe zu-
sammenzufassen.
Erst bei Frohschammer wird die Phantasie zum Weltprincip
erhoben, wobei sich dann aber auch sogleich zeigt, dass auf dieser
Grundlage der Theismus nur durch einen Machtspruch des reli-
giösen Bewusstseins aufrecht erhalten werden kann. Bei Weisse
und Fichte wird die Phantasie nur als ein Princip neben anderen
und unter anderen betont; aber es ist doch zu beachten, dass in
ihr gerade das relativ Neue und Bedeutungsvolle liegte das Weisse
und Fichte herzubringen, und dass die beiden Werke, in denen
die Bedeutung der Phantasie herausgestellt ist, Weisses Ästhetik
*) Vgl Die deutsche Ästhetik seit Kant, S. 169 — ^t^.
356
WebK.
und Fichtes Anthropologie, diejenigen Werke ihrer Verfasser ge-
blieben sind, die am meisten Verbreitung und Wirksamkeit erlangt
haben. Weisse ist wohl der tiefere Denker von beiden, aber auch
der schwerfälligere, und ist durch den Glauben an die methodO'
logische Richtigkeit der Hegeischen Dialektik gefesselt Inhalt-
lich stehen Weisse und Fichte einander bis zum Jahre 1846 in
ihren theosophischen Spekulationen sehr nahe und dem heutigen
Zeitgeist gleich fern. Weisse hat nach der Mitte des Jahrhunderts
sich immer tiefer in ein Mittelding von christlicher Theologie und
theosophischer Religionsphilosophie eingesponnen und sich damit
dem Zeitgeist immer mehr entfremdet, während Fichte unter dem
Einfluss von Fechner, Lotze und Ulrici seine überlegene schrift-
stellerische Gewandtheit immer mehr in den Dienst moderner
Strömungen stellte. Frohscham mer trat mit seinen philosophischen
Schriften zu Gunsten der Weltphantasie erst von 1877 ab hervor,
als die Philosophie des Unbewussten bereits in sieben Auflagen
ihre Wirksamkeit auf die Zeitgenossen entfaltet hatte. —
Weisse {löoi— 1866) bezeichnet die Dialektik der drei Ideen
der Wahrheit, Schönheit und Gottheit, durch welche die erste in
die zweite und diese wieder in die dritte umschlägt, als das
Grundaper^u, welches ihn über Hegels Panlogismus iiinaustrieb.
Diese drei Ideen hat er aber von Solger entlehnt, indem er die
zweite Solgersche Idee, die der Güte, zunächst beiseite schob,
oder in der dritten, der Idee Gottes, enthalten dachte. Später
kehrt auch Weisse dazu zurück, die Idee der Güte neben der der
Wahrheit und Schönheit festzuhalten, aber nun als dritte, an der
Stelle, wo vorher die Idee Gottes gestanden hatte. Gott erhebt
er dann als realen über die drei Ideen. Weisse entlehnt auch das
von Solger, dass es die Liebe ist, worin sich die Selbstaufopferung
der Erscheinung in das Wesen bekundet; nach Weisse ist es die
Liebe, in welcher der Geist selbst sich und anderen zum schönen
Gegenstande wird und damit über die ästhetische Idee zu Gott
als dem LTrquell der Liebe hinüberführt. Dagegen macht Weisse
keinen Gebrauch davon, dass bei Solger der Umschlag der Idee der
Schönheit in die der Gottheit sich unter ästhetischem Gesichtspunkt
als die ironische Selbstauflösung der Erscheinung in das Wesen dar-
stellt Darin, dass er die ästhetische Auffassung über die wissen-
schaftliche, die konkrete Schönheit über die abstrakte Wahrheit
stellt, folgt er den Bahnen des jugendlichen Schelling, darin, dass
I
Weisse.
357
Sie religiöse Auffassung wieder über die ästhetische, die Idee
ier absoluten Liebe, oder Güte, oder Gottheit über die der Schön-
heit stellt, denen des reiferen Schelling, in beiden den Spuren der
Romantik. Der Übergang der Idee der Wahrheit in die der
Schönheit fällt ihm mit der Überwindung des Hegeischen Pan-
logismus zusammen, den er mit Recht als eine Übertreibung des
Kantschen Apriorismus bezeichnet
Er wirft Hegel vor, dass er die denkende Selbstthätigkeit
des freien Geistes nach logischen Denk formen und dialektischer
Denknotwendigkeit mit einer dialektischen Selbstbewegung des
Begriffs verwechsle, dass er die noch unwirkliche und unpersön-
liche rein logische Idee schon als das Wahre und als Gott be-
handle und in dem Übergang der abstrakt logischen Idee zur
konkret realen Weltidee einen Abfall, ein sich untreu Werden,
ein Herabsinken der Idee in eine niedere, ohnmächtigere und
unlebendigere Sphäre sehe, anstatt in ihr eine positive Evolution,
eine Entfaltung ihrer abstrakten ewigen Möglichkeiten zur kon-
kreten Lebendigkeit zu erblicken. Die Fülle der raunizeitlichen
Unendlichkeit ist nicht, wie Hegel meint, etwas Schlechteres,
sondern etwas Besseres und Reicheres als das ewige Ineinander
der blossen Alöglichkeiten , in welchem die logische Idee sich
erschöpft, Soll Gott in dem absoluten Prius des Weltprozesses,
in der Totalität der reinen Denkbestimmungen gesucht werden,
so bleibt er eine unzeitliche und darum unpersönliche blosse Mög-
lichkeit Soll er dagegen in demjenigen gesucht werden, was aus
dem realen Weltprozesse resultiert, dann sinkt er zu einem Pro-
dukt des raumzeitlichen Aussereinander in der Welt herab. Die
Sehnsucht der Theisten aber verlangt nach einem Gott, der schon
als Prius des Weltprozesses persönlich ist, und da der Hcgelsche
Panlogismus diesen nicht zu bieten hat, muss er überwanden
werden.
Mit Schelling stimmt Weisse darin überein, dass die Welt sich
nicht in ein System von objektivierten Gedanken auflösen lässt^
sondern überall ein dunkler Rest bleibt, der auf eine andere
Quelle als die logische Idee zurückweist, dass der rationale
Apriorismus nicht weiter als bis zum Begriff eines möglichen
Absoluten führt, der sich gegen den Begriff des wirklichen Gottes
negativ verhält, und dass dieser positive Begriff des w^irklichen
Gottes erst aus der Erfahrung geschöpft werden kann, d. h. aus
358
Wdsse.
der Welt, in der Gott sich als wirklicher offenbart. Es muss also
wie bei Schelling- Apriorismus und Ausgang von dem a posteriori
Gegebenen sich verbinden, um zu Gott zu gelangen. Der onto-
logische Beweis führt nur zu dem Inbegriff der logischen Mög- ^
lichkeiten, dem ewigen Ineinander der reinen Denkbestimmungen
und Denkgesetze, die zugleich den Rahmen ausspannen, inner-
halb dessen sich jede verwirklichende Freiheit tummeln muss.
Denn auch dasjenige ist durch die Beschaffenheit des Logischen
vorher bestimmt, was logisch unmöglich ist. und damit indirekt
auch dasjenige, dessen Gegenteil logisch unmöglich ist, das also
selbst logisch notwendig ist So greift der Inbegriff der logischen
Möglichkeiten über das System der Vernunftformen hinaus und
konstituiert zugleich das System der ewigen apriorischen Wahr-
heiten, die von Gottes Willen unabhängig sind, weil sie das Prius
des wirklichen Gottes sind. Aber das so Gewonnene ist einer-
seits nichts Wirkliches» andererseits könnte es ebensogut der
Teufel wie Gott sein, d, h. es hat noch keine ethische Beschaffen-
heit Dass ihm Wirklichkeit zugeschrieben werden muss, lehrt
der kosraologische Bew^eis. dass ihm auch ethische Beschaffenheit
zugeschrieben werden muss, lehrt der moralische oder ethikolo-
gische Beweis. Den teleologischen Beweis hingegen lässt Weisse
nur als eine sekundäre Ergänzung und nähere Bestimmung desJ
kosmologischcn gelten, und wirft L H, Fichte vor, dass er nach]
Art der Popularphilosophen dem teleologischen Beweis viel zu
viel Gewicht beimesse. Andererseits wirft er ihm vor, dass er
den rationalen Apriorismus unterschätze, der zur Feststellung des
Systems der ewigen Wahrheiten als des eigentlichen Inhalts des
Absoluten unentbehrlich sei.
In diesem methodologischen Dualismus von rationalem Aprio-
rismus und empirischer Induktion ist Weisses System ein Seiten-
stück zu Schellings positiver Philosophie, die er nur aus den
seiner Zeit veröffentlichten Andeutungen kannte. Auch in Bezug
auf den Grund der positiven Wirklichkeit stehen Weisse und
Schelliög auf gleichem Boden, indem sie ihn in der Freiheit eines j
absoluten Willens suchen; aber während bei Schelling die Imagi- ^
nation nur eine untergeordnete, wenig beachtete Rolle als Moment
innerhalb des Willens spielt, tritt sie bei Weisse als vermittelndes
Glied zwischen den Inbegriff der logischen Möglichkeiten und
die Freiheit des absoluten Willens, indem die abstrakte logische
Weisse,
Idee der M^ahrheit sich erst zur konkreten intuitiven Idee der
Schönheit räum zeitlich entfalten muss, ehe diese durch die Liebe
in die ethische Idee der Güte umschlägt
Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht strebt Weisse paraUel
mit Schelling die Einseitigkeit des transcendentalen Idealismtis
zu überwinden. Er bestreitet, dass es Kant gelungen sei, die
Vernunftformen vollständig und in ihrem wahren Zusammenhange
darzulegen» wenn ihm auch das Verdienst bleibe, sie als Formen
von ihrem Inhalt gesondert und die blosse Formalität des wahr-
haft Apriorischen zuerst nachgewiesen zu haben. Seine Sonderung
in Anschauungsformen, reine Verstandesbegriffe und Vernunft-
ideen sei falsch und von ihm selbst thatsächlich umgestossen.
Denn in den Anschauungsformen nehme er die Unendlichkeit und
unbedingte Notwendigkeit vorweg, die er doch für das Merkmal
der Vernunftideen erklärt, den Kategorien des Seins und der
Kausalität gestehe er eine innere, nicht bloss äussere Beziehung
auf die Vernunftidee des Absoluten oder durch sich selbst Seien-
den zu. und in der Kritik der Urteilskraft lasse er eine organische
Einheit der drei Gruppen wenigstens von ferne ahnen. Kant habe die
relative Unerkenn barkeit des eigentlich Realen der Dinge durch
apriorische Vemunfturteile mit der absoluten Unerkennbarkeit
der Dinge an sich durch die Verbindung einer gereinigten Vernunft-
und Erfahrungserkenntnis verwechselt und habe irrtümlich
geglaubt, diese Unerkennbarkeit der Dinge an sich, die ihm vor
der Untersuchung schon feststand, seiner Untersuchung der Er-
kenntnisformen als Ergebnis zu verdanken. Schon die auf Kant
folgenden Systeme hätten durch Hereinziehung der geschicht-
lichen und geistigen Empirie unsere Erkenntnis w^esentlich um-
gestaltet und nur eine entsprechende Einwirkung der natur-
wissenschafth'chen Erfahrungserkenntnis auf die Philosophie sei
zur Zeit noch bestritten. —
In dem festgehaltenen Subjektivismus der Kantischen Lehre
von den Anschauungsformen findet Weisse eine Hauptwurzel
selbst noch der neuesten spekulativen Irrungen; denn der Sub-
jektivismus der reinen Denkformen war von Fichte, Schelling
und Hegel längst überwunden. Ihm steht es fest, dass die Per-
sönlichkeit nicht ohne Leben oder realen Prozess und dieser nicht
ohne Zeitlichkeit möglich ist, dass daher die reale Zeit- und
Raumerfüllung in Gott selbst schon vor der Weltschöpfiing er-
36o
Wdiw.
folgen muss, wenn Gott als Prius des Weltprozesses eine reale
Person sein soll. Danach ist es Bedingung für die Persönlichkeit
Gottes, dass die Idee der Wahrheit in die Idee der Schönheit
dialektisch umschlägt, dass die Schönheit die »aufgehobene Wahr-
heit« oder die höhere Wahrheit der Idee der Walirheit ist. Die
nächste Wirklichkeit der Idee der Schönheit ist aber die Phan-
tasie, Einbildungskraft, Bildkraft oder Imagination.
Die richtige Einsicht, die Weisse damit zur Geltung bringt
lässt sich dahin zusammenfassen» dass das logische Formalprincip.
oder das Logische schlechthin ohne Jeden aktuellen Inhalt ist
und in seiner zeitlosen Ewigkeit die blosse logische Möghchkeit
alles dessen in sich schliesst, was eventuell bei der Entfaltung zur
aktuellen konkreten Idee oder intellektuellen Intuition an Inhalt
hervortreten kann. Dasjenige, was erst in Wahrheit die Be-
zeichnung Idee verdient, ist die inhaltlich erfüllte, intuitive, kon-
krete, aktuelle Idee, die als solche schlechterdings auch eineiig
räumlichen und zeitlichen Inhalt haben muss, zu welchem sich"
die Kategorien als bloss formale Denkbestimmungen verhalten.
Da das Logische als Inbegriff der ewigen logischen Möglich-
keiten und Unmöglichkeiten oder die göttliche Vernunft von Hegel i
missbräuchlich bereits als Idee (wenn auch als rein logische odef j
abstrakt logische Idee) bezeichnet w^ar, so lag es Weisse nahe«]
die aktuelle, konkrete, mit raumzeitlichem Inhalt erfiillte Idee ihrer
Anschaulichkeit wegen als Idee der Schönheit oder als ästhetische
Idee der Phantasie zu bezeichnen.
Ob diese Bezeichnung haltbar ist, das ist eine andere Frage;
denn schön und ästhetisch darf nur die sinnliche, subjektiv-ideale
Anschauung, das rezeptive Abbild der Idee heissen, aber nicht die un-
sinnliche, übersinnliche, intellektuelle» intelligible Anschauung der
absoluten Idee, das ideale Urbild allen Scheins. Eine zweite
Frage ist, ob Weisse darin recht hat, mit Schelling die raum-
zeitlich erfüllte, aktuelle, konkrete Idee als ein intelligibles Um*J
versum vor die Schöpfung der Welt an einen gleichsam über-^
himmhschen Ort zu versetzen und so dem abstrakten Idealismus
zu verfallen, oder ob nicht beiden gegenüber Hegel recht hat,
der sie sogleich als die der Welt immanente Idee auffasst. Wenn
Schelling an einem über weltlichen intelligiblen Ideenkosmus fest-
hielt, so war es, weil er ihn als ein intelligibles, ewiges, raum-
und zeitloses Ineinander der räum- und zeitlosen Ideen ansah:
36i
wenn aber Weisse diesen Ideenkosmos raumzeitlich ausgebreitet
und in Gott realisiert denkt, so durfte es schwierig sein zu be-
greifen, wie der jeweilig aktuelle und realisierte Inhalt der Idee
davon abgehalten w*erden soll, zugleich jeweiliger Weltinhalt zu
sein, wie Hegel es annimmt. Wenn Weisse sich dieser Konse-
quenz widersetzt, so ist es nur aus Scheu gegen den Pantheismus,
Wenn das Logische oder die göttliche Vernunft erst die
Möglichkeit der Ideen enthält, so enthält die ästhetische Idee
oder die göttliche Phantasie erst das inhaltliche Princip, die
innergötthche Natur, das Was der Wirklichkeit; die P'orm der
aussergöttlichen und kreatürlichen Existenz, das Dass des Daseins
hingegen muss erst der Wille herzubringen, der als göttlicher
Schöpferwüle frei ist. Wenn aber erst der Wille die Form der
Realität, das Dass der Existenz zur Idee herzubringt, wie kann
dann dem Inhalt der ästhetischen Idee schon vor der Schöpfung,
also vor Eintritt des sie realisierenden Willens Realität zuge-
schrieben werden? Hat Weisse da nicht ideelle Aktualität mit
Realität verwechselt? Kann die Aktualität der Idee in Gott an-
genommen werden, so lange keine Aktualität des WoUens in ihm
besteht? Und kann die Aktualität der Idee in Verbindung mit
der Aktualität des Wollen s eine andere Wirklichkeit ergeben, als
die der Welt, die dann freilich eine innergöttliche bleibt» ebenso
wie die Idee als aktuelle eine rein innerweltliche ist?
Weisse setzt irrtümUch die göttliche Vernunft oder das noch
unentfaltete Logische mit Schellings Urgrund gleich, der doch
vielmehr dem Willen, also seinem dritten Princip, entspricht.
Femer bezeichnet er, ähnlich wie Eckhart, das intelligible Uni*
versum oder die aktuelle Idee als die ?• Natur in Gott«, während
Böhme, Baader und Schelling den blinden Willen meinen, wenn
sie von der Natur in Gott sprechen (vgL Band I dieses Werkes
S, 254, 256, 335 — 336). Diese terminologischen Abweichungen
mnd der Grund, weshalb die Anhänger Böhmes, Baaders und
Schellings und diejenigen Eckharts und Weisses einander gar
nicht verstehen: denn sie verbinden mit denselben Worten einen
ganz verschiedenen Sinn. Ferner nennt Weisse das intelligible
Universum der göttlichen Phantasie auch die Materie oder den StoflF
in Gott» weil sie der Inhalt ist, zu dem sich der ihn realisierende
Wille als Form verhält, und weil er inhaltliches und stoffliches
Princip identifiziert Die Idee wird also erstens real, zweitens
362
WeiÄSt»
Natur und drittens Materie genannt und als reale, materielle
Natur in das Gegenteil ihrer selbst verkehrt.
Auffallend ist ferner » dass Weisse der göttlichen Phantaae
Empfindung, Gefühl, Gemüt und Charakter zuschreibt Empfin-
düng soll allerdings hier unsinnlich» Gefühl nicht rezeptiv, sondern
spontan und rein geistig» Gemüt als die Fülle der durch den
Liebewnllen an die Geschöpfe mitteilbaren Gestalten verstanden
werden. Aber alle diese Begriffe lassen sich gar nicht von der
Beteiligung des Willens isoheren und verlieren Uire Bedeutung im
Absoluten» wo die Rezeptivität ausgeschlossen ist. Richtig ist da-
gegen, dass in der Idee die Stätte eines noch unbewussten teleolo-
gischen Prozesses ist, der die unentbehrliche Vorbedingung für eine
etwaige bewusste Teleologie bildet In der göttlichen Vernunft
soll un bewusste logische Notwendigkeit, in der göttlichen Phan-
tasie unbewusste Freiheit (d, h. unbewusste Teleologie) und erst im
göttlichen Willen bewusste und selbstbewu&ste Freiheit herrschen. —
s^ Gott kann nur Person sein, wenn er nicht bloss eine Person
ist; denn die Person ist nur dadurch Person, dass sie andere
Personen gleichen Wesens und gleicher Substanz sich gegenüber
hat« Nur der Beweis der Dreieinigkeit und Drei persönlichkeit
Gottes kann den Beweis seiner Persönlichkeit liefern. In dieser
Einsicht erhoben sich die trini tarischen Theisten weit über die
unitarischen. Weisse setzt Gott -Vater mit dem Logischen vor
seiner Entfaltung zur Idee, Gott -Sohn mit der entfalteten Idee,
Gott- Geist mit dem Willen gleich. Er knüpft dabei an Augustins
Dreiheit: memoria, intelHgentia, amor an, und setzt memoria mit
dem unbewussten Wissen im Inbegriff der unentfalteten Möglich-
keiten, intelHgentia mit Gemüt und amor mit dem ethischen
Willen oder der Güte gleich. Merkwürdigerweise schreibt er
die Potentia oder Macht nicht dem Willen, sondern dem logischen
Formalprincip zu. Der Beweis der Persönlichkeit Gottes hängt
also davon ab, ob sich Vernunft, Phantasie und Willen in Gott
als drei Personen nachweisen lassen.
Zunächst muss der Umstand auffallen » dass Vernunft , Phan-
tasie und Wille in Gott nicht drei gegen einander selbständige
Principien sind. Denn Vernunft und Phantasie, Logisches und
aktuelle Idee, sind ein und dasselbe Principe nur das eine Mal im
Zustand der Ruhe, Potentialität, unentfalteteo MögUchkeit, das
andere Mal im Zustande der Spannung, Bethätigung, entfalteten
Weisse,
363
Aktualität, Potenz und Aktiis desselben Princips dürfen nicht als
zwei verschiedene Principien behandelt, nicht als zwei verschie-
dene Personen einander gegenübergestellt werden. Wenn dies
aber bei dem einen Princip geschieht, warum dann nicht auch
bei dem anderen, dem Willen? Das gäbe dann freilich vier Per-
sonen statt drei.
Die Vernunft ist 3>die Nacht der Negativität, die zwar nicht
Bewusstlosigkeit aber Unbewusstsein genannt werden kann<Cp
in ihr ist ewig starre Identität. Die Phantasie zeigt zwar die
Lebendigkeit der unbewussten Teleologie, aber noch keine be-
wusste Freiheit Dem Willen wird zwar bewusste Freiheit zuge-
schrieben, aber nicht gezeigt, woher das Bewusstsein zu der Frei-
heit hinzukommen soll Die göttliche Vernunft ist also offenbar
unbewusst und unpersönlich, und der Vater soll auch erst im
Sohne Leben, Antlitz und Person im eigentlichen Sinne gewinnen.
Die Phantasie, oder der Sohn, soll ein Selbstbewusstsein dadurch
gewinnen, dass sie die Fülle ihrer Gestalten zur Einheit wieder
zusammenfasst, und diese Annahme wiederum scheint Weisse un-
erlässlich, wenn die Phantasie nicht zu einer mittelpunktlosen und
einheitlosen Substanz werden soll, die sich im Sinne eines ema-
natistischen Pantheismus unendlich expandiert. Dabei ist aber
übersehen, dass schon die Einheit des anschauenden Subjekts» die
Einheit des Anschauungsaktes und die Idealität des Anschauungs-
inhalts die innere Mannigfaltigkeit desselben genügend vor einem
Auseinanderfallen und sich Zerstreuen schützen, dass also für eine
nachträgliche Wiedervereinigung desselben ebensowenig ein Be-
dürfnis wie eine Möglichkeit vorliegt. Der Wille endlich hat
weder als Moment der freien Initiative, noch als das die Existenz-
form hinzubringende, die Idee realisierende Princip irgend etwas
mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu thun.
Hiernach ist der Beweis für das Bewusstsein bei allen drei
Principien misslungen, damit auch der für ihre Persönlichkeit,
und damit auch der für die Persönlichkeit Gottes überhaupt.
Bei der ewigen Vernunft oder Gott -Vater hat Weisse selbst da-
von ein Gefühl, weil er selbst ein zeitlos ewiges Selbstbewusst-
sein so nachdrücklich für die schwerste Täuschung erklärt hat.
Um ihm trotzdem zu einem Scheinbewusstsein zu verhelfen, fügt
er die willkürliche Hilfshypothese hinzu, dass auch in der ewigen
Vernunft eine leise aber stetige Spiegelung des wechselnden In-
a64
Weisse.
haltes der aktuellen Idee stattfinde, und dass sein Bewusstsein
an diesen zeitlichen Wechsel anknüpfe. Offenbar ist damit der
ganze Unterschied von blosser Möglichkeit und Entfaltung.
Potentialität und Aktuahtät wieder aufgehoben, auf dem die
Unterscheidung von Vernunft und Idee, Vater und Sohn beruhte.
Da die Persönlichkeit Gottes auf der Zeitlichkeit seiner vor-
weltlichen und ausser weltlichen Phantasieanschauung beruht, so
muss eine unendliche Zeitspanne vergangen sein, während deren
Gott sich an den »ätherischen Lichtgebilden« seines idealen Uoi-
versums seiner selbst bewusst wurde, ohne den Entschluss zu
einer Weltschöpfung zu fassen. Wenn dieser Entschluss dann
auf die Liebe und Güte seines sittlichen Willens zurückgeführt
wird, so bleibt es auffallend, wie diese Liebe und Güte eine halbe
Ewigkeit mit ihrer Bethätigung zögern konnte. —
Dass der dialektische Umschlag der Idee der Wahrheit in
die der Schönheit und dieser in die der Güte oder Gottes, auf
dessen Erfindung Weisse sich am meisten zu gute that, heute
noch ernstlich als eine reale Genesis der Gottheit aufgefasst werden
könnte, ist nicht zu befürchten. Ebcnsow^enig wird aber seine
^Metaphysik« oder genauer Kategorienlehre heute noch daruiti
Beifall finden, weil sie eine Denkbestimmung aus der anderen
dialektisch abzuleiten sucht und an der apriorischen Erkennbar-
keit der apriorischen Vernunftformen festhält Der Inhalt der
Weisseschen Kategorienlehre schliesst sich ebenso eng wie ihre
Form an die Hegeische Logik an, aber so, dass die subjektive
Logik ganz ausgeschieden, Raum und Zeit hereingezogen und
vieles umgestellt wird. Die Hegeische Dreiteilung in Sein,
Wesen und Begriff wird demgemäss durch eine Dreiteilung in
Sein, Wesen und Wirklichkeit ersetzt, indem aus Hegels Lehre
vom Wesen der dritte Abschnitt ausgeschieden und zum dritten
Teil der Metaphysik verselbständigt wird. Da nun doch wieder
alles in das triadische Schema der Dialektik gezwängt werden
muss, so ergiebt sich folgende Stoffverteilung:
L Die Lehre yom Sein,
Die Kategorien der Qualität.
a. Sein; b. Dasein; c. Unendlichkeit
Die Kategorien der Quantität
a. Zahl; b. Grösse; c. Verhältnis.
Weisse.
365
Die Kategorien des Masses.
a. Individuum, Art und Gattung; b. spezifische Grösse, Regel
und Gesetz; a Form und Inhalt,
II. Die Lehre Yom Wesen.
1. Die spezifischen Grundzahlen der Wesenheit
a. Identität — Einheit; b, Zweiheit — Gegensatz; c. spezi-
fische Dreiheit.
2. Die Kategorien des Raurabegriffs,
a, Ausdehnung; b. Ort; c. Raum.
3. Die Grundbestim mungen der Körperlichkeit.
a. Schwere; b. Polarität und Kohäsion; c. Chemismus.
ni. Ble Lehre toii der Wirkllelikeit.
1. Die Kategorien der Reflexion.
a, Substantialität — Möglichkeit; b. Kausalität — Wirklich-
keit; C.Wechselwirkung — Notwendigkeit.
2. Die Kategorien des Zeitbegriffs.
a, Bewegung; b. Dauer; c. Zeit
3. Die Gniodbestim mungen der Lebendigkeit
a. Teleologie und Organismus; b. Leben; c. Freiheit.
Die Bezeichnung »Wirklichkeit« fiir den dritten Abschnitt
ist hier nur als ein möglicher Begriff der Wirklichkeit zu ver-
stehen, ebenso wie die rein logische Notwendigkeit der Kategorien
als Formen des Seienden von der realen konkreten Notwendigkeit
des eigentlich Wirklichen zu unterscheiden ist. Bei der »Körperlich-
keit« und »Lebendigkeit« ersetzt Weisse den Ausdruck »Kategorien«
durch den anderen: »Grundbestimmungen«, offenbar weil erfühlt,
dass die Grundbestimmungen der unorganischen und organischen
Naturphilosophie nicht in demselben Sinne allgemeine metaphy-
sische Kategorien sind, wie die objektiv logischen Funktions-
formen. Bei Hegel ist der Ausdruck Lehre vom Wesen« da-
durch gerechtfertigt, dass das Wesen das dem unmittelbaren Sein
zu Grunde liegende ist; bei Weisse aber, der Substanz und Ur-
sache samt allen Reflexionskategorien aus der Lehre vom Wesen
ausgeschieden hat» bleibt eigentlich gar keine Rechtfertigung für
die scharfe Sonderung der Sphären des Seins und des Wesens
übrig. Die spezifische Dreiheit, welche Weisse im Sinne der
366
WefiHie.
Hegeischen Dialektik zu Identität und Gegensatz hinzugefügt
hat, soll etwa im Sinne pythagoreischer Zahlenmystik in die drei
Dimensionen des Raumes umschlagen.
Räumlichkeit und Zcithchkeit treten erst in der ästhetischen
Idee der göttlichen Phantasie als wirkliche Inhaltsbestimmungen
auf; in der Metaphysik haben sie ebenso wie Wirklichkeit und
alle übrigen Kategorien nur die Bedeutung von Möglichkeiten,
die sich eventuell bei wirklicher Entfaltung zu keinen anderen
Formen als diesen ausgestalten können. Nun hat Weisse zwar
darin ganz recht, dass auch die übrigen kategorialen Denkformi
sich gar nicht entfalten können, ohne sich an raumzeitUdn
Bestimmungen zu entfalten, und dass die eventuelle Entfaltung
der Raum- und Zeitformen bei gegebenem Anlass zur Bethätigungj
des Logischen ebensogut logisch determiniert ist, wie die irgend
welcher anderen Kategorien, Sein Irrtum liegt nur in der An
nähme, dass die Idee der Wahrheit, oder die Vernunft von selbst
in die Idee der Schönheit oder die absolute intelligible Phantasie-
anschauung umschlage, dass das an sich inhaltleere Logische si<
zu dem System der Kategorien und zu einer von ihm geformten
aktuellen Idee entfalte, ohne dazu eines unlogischen Anstossefi^
und eines unlogischen ßeziehungspunktes als Gegenstand sein
Selbstanwendung zu bedürfen. Der Umschlag des an sich seien-
den Logischen in eine konkrete intuitive Idee aus eigener Kraft
und eigenen Mitteln wird dadurch um nichts begreiflicher» wenn
man an Stelle des unmittelbaren Umschlags des Logischen in die
immanente Weltidee, welche die Aporie des Hegeischen Panlogis-
mus bildet, zunächst den Umschlag des Logischen in eine über-
weltliche konkrete Idee oder in ein raumzeitliches ideales Uni-
versum setzt, wie Weisse thut Giebt man ihm aber einmal diese
eingeschobene Zwischenstufe zu, dann ist auch gegen die Gleich-
stellung der Kategorien der Räuoilichkeit und Zeitlichkeit mit
den übrigen Kategorien nichts mehr zu erinnern.
Dagegen scheint es nicht richtig, die Kategorien der Räum-
lichkeit und Zeitlichkeit auf ganz verschiedene Sphären zu ver-
teilen, und die ersteren dem Wesen, die letzteren der Wirklichkeit
zuzuweisen, da doch beide gleichermassen der Erscheinung des
Wesens in der Wirklichkeit angehören. Ferner scheint es eine
Umkehrung, dass die einfachere der beiden Kategorien, die Zeit,
erst lange nach der komplizierteren, dem Raum, statt vor ihm,
rar
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I. H. Fichte.
367
afegäiandelt wird. Endlich scheint es unstatthaft, die Bewegung
zwischen Raum und Zeit einzuschieben und einseitig zu den
Kategorien der Zeitlichkeit zu rechnen, anstatt entweder beide
aus der Analyse der Bewegung oder die Bewegung aus der
Synthese beider abzuleiten, oder aber die Veränderung an die
Zeit und die Bewegung an den Raum anzuschliessen.
Als wertvoll hervorzuheben sind Weisses Erörterungen über
die Teleologie und manches in denen über KausaHtät. Lotze hat
diese Ansichten Weisses übernommen und durch populäre Aus-
fuhrung weiteren Kreisen zugänglich gemacht, während er Weisses
Ansicht heftig bekämpft, als ob hinter dem wirklichen Absoluten
ein System ewiger Wahrheiten stände. Er hat aber dabei wohl
dem Umstände nicht genug Rechnung getragen, dass diese Lehre
Weisses bloss ein allerdings irreleitender Ausdruck dafür sein
soll, dass die absolute Vernunft, wenn sie sich einmal bethätigt,
sich auch nur in logisch determinierten Formen bethätigen kann,
die unser diskursives Nachdenken sich in Gestalt von Urteilen
und Gesetzen vergegenwärtigt, denen es eine ewige Wahrheit
zuschreiben muss» Wie im absoluten Denken die Kategorien die
inamaneoten und impliziten Formbestimmungen sind, die die Ur-
Vernunft der entfalteten Idee geben muss, so sind sie auch im
Menschen bei Weisse (ähnlich wie bei Schleiermacher) »die be-
wusstlos bildende schöpferische Macht, welche die Welt der sinn-
lichen Anschauung und Vorstellung als einen Kosmos zu schöner
lebendiger Gesetzlichkeit geformt und gestaltet dem Geiste ent-
gegenbrachte-. (Weisses Metaphysik. S, 64).*) —
I. H. Fichte (1797 — 1879) ist ein entschiedener Gegner alles
Herausspinnens realer Erkenntnisse aus reinen Begriffen, Wie
Schelling sieht er den Grund der Wirklichkeit in einer Freiheits-
that des Absoluten ; was aber aus der Freiheit stammt, ist nicht
a priori zu bestimmen, sondern kann nur auf Grund der Erfahrung
bestimmt werden. Darum lobt er den analytisch-induktiven Lehr-
gang in dem ersten Teil des Krauseschen Systems. Die Dialektik
hält er einerseits als negative Dialektik fest, um das System der
Kategorien in apriorisch gewisser Weise aus der Unzulänglich-
keit jeder einzelnen in ihrer Isolierung zu entwickeln, anderer-
•) Vgl >Dic deutsche Ästhetik seit K&nt*, S. 85—103, 364—366, 39?— 398,
474, 5*3* 539— S40-
368
t. H, Fichte
seits als positive Dialektik, um aus dem vollendeten Begriff des
Absohlten den ganzen Inhalt seines Wesens zu entwickeln. Aber
dieser ganze dialektische Apriorismus bleibt formal, d. h, er fuhrt
nicht über die Erkenntnis des Wesens Gottes hinaus (Schellings
negative Philosophie). In Bezug auf das Wirkliche und Geschicht-
liche, das aus der Freiheit Gottes folgt, versaget der Apriorismus:
hier bedarf es der Induktion aus dem empirisch Gegebenen. In
seiner ersten Periode sucht er das Dasein Gottes, oder dass das
Absolute ist, aus dem j Erkennen als Selbsterkennen« zu beweisen,
das Wesen Gottes aber negativ in der Kategorienlehre seiner
fiOntologie«, positiv in seiner ^spekulativen Theologie« zu ent-
wickeln. In seiner zweiten Periode stützt er sich ganz auf die
Erfahrung und sucht aus dieser den Inhalt des Wirklichen und
die dafür anzunehmenden Erklärungsgründe zu erforschen* In
dieser zweiten Periode erscheint er infolge dessen in methodo-
logischer Hinsicht als der erste Moderne unter den Theisten des
neunzehnten Jahrhunderts*
Inhaltlich entlehnt er die Kategorienlehre seiner Ontologie
und die teleologische Weltanschauung von Hegel, den Panen-
theismus von Krause, die trinitarische Gotteslchre von Baader,
das System der Monaden von Leibniz, die anthropologische Rich-
tung seines Philosophierens von Troxler, die Urpositionen und
den intelligiblen Raum von Herbart. Den intelligiblen Raum
versteht er aber in dem von Herbart abweichenden Sinne, dass
er Urposition oder absolute Position nicht als Aseität oder Selbst-
setzung, sondern als ursprüngliche Position durch das Absolute
auffasst Die Selbst gewissheit des Ich und den absoluten Wert
der sittlichen Persönlichkeit übernimmt er von seinem Vater,
dessen späteren Standpunkt er mit HUfe der angegebenen Ge-
danken in dem Sinne weiter auszubauen sucht, dass die Idee der
Persönlichkeit in allen Teilen der Philosophie zur Geltung gelangt
und in einem konkreten ethischen Theismus gipfelt. Der spezifisch
christliche Theismus soll dadurch zu einem universalen humani-
tären erweitert werden, der sich zur Weitreligion eignet. —
Nach dem Angegebenen kann es nicht die Aufgabe der
Philosophie sein, ein eigenes neues, originelles System der Philo-
sophie auszudenken, sondern nur das von Gott urgedachte Welt-
system im eigenen Geiste nach Anleitung des a posteriori Vor-
gefundenen nachzudenken. Fichte stellt die Erkenntnislehre an
I. H. Fichte.
369
den Anfang des Systems. Er lehnt sich dabei an seinen Vater»
an Schellings transcendentalen Idealismus und Hebels Phäno-
menologie des Geistes an und verfolgt zugleich die Absicht, die
subjektive Logik aus der Kategorienlehre auszuscheiden und diese
ganz auf objektive Logik zu beschränken. Dem Raum und der
Zeit, wie sie uns als empirischer Schein gegeben sind, spricht er
jede Realität und Wahrheit ab; hinter ihnen aber supponiert er
im göttlichen Allbewusstsein einen wahren Raum und eine wahre
Zeit In diesem wahren Raum sind die Monaden zwar verschie-
den, jedoch ohne Undurchdringlichkeit und Verfinsterung gegen
einander, und die wahre Zeit ist beharrende, gegenwartsvolle
Dauer ohne beständig sich selbst aufhebende Verneinung und
Vergänglichkeit. Der wahre Raum ist demnach von einem be-
ziehungsvollen Ineinandersein» die wahre Zeit von der Ewigkeit
nicht zu unterscheiden. — Im höchsten Selbsterkennen wird das
Ich seiner als eines endlichen bewusst und wird durch die Dia-
lektik dieser Endlichkeit dahin getrieben, zu erkennen, dass es
seinen wahrhaften Grund und Halt nur in einem Absoluten ge-
winnen kann, das es selbst nicht ist, sondern erst als der Grund
der Identität des Subjekts und Objekts zu denken ist. —
Hegels Logik spaltet er in Kategorien lehre und Ideenlehre.
Erstere umfasst die Lehre vom Sein und Wesen, nimmt aber
unter Kausalität und Wechselwirkung bereits Finalität. Organis-
mus, Seele und Geist, und zwar die drei letzteren sowohl in ihrer
individuellen als auch in ihrer universellen Gestalt mit hinein.
Damit hatte Fichte sich den Stoff zur künftigen Ideenlehre eigent-
lich schon vorweggenommen, und er ist deshalb auch niemals zu
einer Ausführung der Ideenlehre als solcher im Sinne seiner posi-
tiven Dialektik gelangt. Vielmehr hat er in seiner spekulativen
Theologie sofort den induktiven Weg eingeschlagen und die Er-
forschung Gottes auf die gegebene Weltwirklichkeit gestützt.
In der »Lehre vom Sein* nennt Fichte diejenigen Kategorien,
die Hegel unter Qualität befasst, die »Urkategorien«, zieht das
»Mass« als begrenzte und bestimmte quantitative Grösse in die
Kategorien der Quantität herein, und hängt dann als dritten Ab-
schnitt die Position, Negation und Limitation an, die er wie Kant
als Kategorien der Qualität bezeichnet Die ? Lehre vom Wesen <
nennt er auch die »Sphäre der Verhältnisbegriffe«. Im allge-
meinen folgt er auch hier Hegel in seiner Auffassung, nimmt
E. V. fi ar tAan n, Auifew. Wedie. Bd. XII. I4
370
T. H, Fichte.
aber in der Anordnung des Stoffes vielfache Umstellungen vor.
Fichtes System der Kategorien zeigt folgendes Bild:
A. Die Lehre yom Sein.
L Die Urkategorien.
1, Setzen (a. Sein; b. Nichts),
2, Gegensetzen (a. Etwas; b. Anderes).
3, Bezugsetzen (a. Dies; b. Dies zu Anderem),
IL Die Kategorien der Quantität
1. Quantitative Grösse (a. stetige; k diskrete Grösse; c, Zahl),
2. Begrenzte quantitative Grösse (a, Mass; b. Massbestimmt-
heit; c. Mass- und Zahlen Verhältnis).
3. Bestimmte quantitative Grösse (a. extensive, b. intensive
Grösse; c, spezifisches Quantum).
IIL Die Kategorien der Qualität
1, Position (a. Bestimmtheit; b. Beschaffenheit; c, Endlichkeit).
2, Negation (a. Negation der Bestimmtheit; b. Unterschied;
c, Veränderlichkeit oder Werden).
3, Limitation (a. Beziehung auf anderes; b. auf sich; c. innere
Unendhchkeit des Bestimmten).
B. Die Lehre jom Wesen.
L Die Kategorien des Grundes und der Folge.
1. Inneres und Äusseres (a. Gegensatz beider; b. Ideales und
Reales; c. Einheit beider).
2. Gehalt und Form (a. Gegensatz beider; b. spezifischer Gehalt
in spezifischer Form; c. unendlicher Gehalt in ewiger Form).
3. Vermögen und Vollziehung (a. Gegensatz beider; b. reales
Vermögen in einem System von Vollziehungen; c. Einheit
beider).
II. Die Kategorien der Wirklichkeit
r. Zufälligkeit (a. durch Vereinzelung; b. als Ursache; c, als
das Grundlose).
2, Möglichkeit (a. negative oder formelle; b. reale; c. bedingende
Möglichkeit).
3. Notwendigkeit (a. abstrakte oder formelle; b. reale Not'
wendigkeit; c, das bedingend-unbedingte Wesen.
I
I. H. Fichic,
57 ^
ni. Die Kategorien der Substantialität
1, Substanz und Accidenz (a, Ding und Eigenschaften; b. Ganzes
und Teile; c. Monas und ihre Totalität).
2, Kausalität und Dependenz (a, Ursache und Wirkung; b. Kraft
und Produkt; c. Mittel und Zweck).
3, Wechselwirkung (a. Organismus; b. Seele; c. Geist).
Soweit die apriorische Erkenntnis reicht» soweit ist unsere
Erkenntnis des Absoluten völlig gewiss und erschöpfend, aber so
weit ist sie auch rein formal. Von Gott als dem Urquell der
Wirklichkeit dagegen können wir zwar eine mittelbare, auf
Rückschlüssen beruhende Kenntnis haben, aber diese ist weder
erschöpfend nach apodiktisch gewiss. —
Endlich sein heisst den Grund seiner Existenz in einem
Anderen haben, oder durch Anderes sein. Die Summe der End-
lichen ist ein System von qualitativ bestimmten Urpositionen des
Absoluten, die als solche ewig beharrlich und unveränderlich für
sich sind, zugleich aber auch in wechselnden Beziehungen zu
einander stehen und für einander sind. Diese Beziehungen unter
einander sind nur dadurch möglich, dass das Absolute» welches
sie als seine Urpositionen gesetzt hat und das allein Wirksame
und Wirkliche in ihnen ist, sie im Setzen zugleich vereint und
im Erhalten zusammenschliesst, dass es für sie nicht bloss Welt-
wesen, sondern auch Weltgesetz, teleologische Weltregierung und
Vorsehung ist Fichte lehnt den Ausdruck »Weltseele« für das
Absolute ab, weil Seele wohl zweckvoll, aber nicht zwecksetzend
und zweckmächtig sei, nur instinktartig, d. h. bewusstlos ver-
nünftig wirke und den Instinkt nicht besitze, sondern von ihm
besessen werde. Indessen, wenn diejenige unbewusste Vernunft,
die sich im Endlichen als Instinkt darstellt, sich mit der absoluten
Vernunft deckte und in eins zusammenfiele, so könnte man doch
nicht mehr sagen, dass die letztere von der ersteren besessen
wäre. Es liegt hier offenbar die Furcht zu Grunde, Gott durch
Zuerkennung einer unbewussten V^ernunft herabzusetzen; wenn
aber Fichte selbst in seiner zweiten Periode die instinktartige
Vernunft der bewusstlosen Phantasie als das Höhere der bewussten
Vernunft im Menschen nachweist, so hätte er daraus doch Anlass
chöpfen sollen, die Grundlagen zu revidieren, auf denen sein
Beweis für das Selbstbewusstsein und die PersönHchkeit Gottes
37^
I. H. Fichte.
in seiner ersten Periode beruht. Dies thut er jedoch nicht, son^^j
dem beruft sich in seiner zweiten Periode einfach auf den in deo
Schriften der ersten Periode erbrachten Beweis, als auf eine
erledig^te und unerschütterUche feststehende Sache.
Später erkennt Fichte an, dass das Bewusstsein nichts Neues
hervorbringt, sondern nur einen Teil der realen Vorgänge in der
Seele mit seinem Lichte begleitet, dass es innerhalb dieses Kreises
sogar Irrtum und Unsicherheit, Thorheit und Schuld mit sich
bringt» während alles gut und recht bestellt ist, so lange nur die
bewusstlosen oder halbbewussten instinktiven Regungen den
Menschen beherrschen. Jetzt aber hält er es noch für unumgänglich,
dass das Absohite die vielen Endlichen nicht nur durch sein Sein,
sondern auch durch sein Wissen einige, dass dieses Wissen ein
Allbewusstsein sei, und dass ihm als unentbehrliche Bedingung
ein Selbstbewusstsein, ein Urich, eine absolute Persönlichkeit
vorhergehe. Nun kann sicherlich das Endliche vom Absoluten
nicht gesetzt werden ohne eine ideelle Intuition seiner besonderen
Bestimmtheit, und ebenso können die vielen Endlichen nur da-
durch geeint werden, dass sie die innere Mannigfaltigkeit eines
und desselben Intuitionsaktes ausmachen. Dass aber dieser abso-
lute Intuitionsakt ein bevvusster sein müsse, ist eine blosse petitio
principii, die sogar unmöglich wird, wenn Fichtes spätere Ansicht
richtig ist, dass das Bewusstsein eine unproduktive Begleiterschei-
nung realer Vorgänge, und die unbewussten Geistesthätigkeiten
allein produktiv sind.
Gewöhnlich nimmt man an, dass gegenständliches Bew^usstsein
und Selbst bewusstsein erst mit einander entstehen und dabei das
erstere die Bedingung für die Entstehung des letzteren bildet
Fichte kehrt ohne Begründung dies Verhältnis um. Er giebt zu,
dass Selbstbewusstsein die Unterscheidung des Selbst von einem
Anderen erfordere, behauptet aber, dass dieses Andere ebensoguC|
in dem Wesen der eigenen Persönlichkeit liegen könne, wi€
ausserhalb. Auch das scheint unhaltbar, von einem »Anderen*'
innerhalb des Absoluten zu reden, da seine produktive An-
schauung für es nichts Andres ist, sondern nur eine BethätigungJ
seiner selbst» die spontan aus ihm entsprungen, und nicht, wie im
endlichen Geiste, durch Einwirkung eines ausserhalb stehenden
Anderen aufgenötigt ist. Selbst wenn ein Allbewusstsein im
Absoluten bestände, könnte es doch nicht zu einem Selbstbewusst-
L H. Fidite.
373
sein in ihm kommen, weil unter den gegebenen Umständen kein
Anlass zur Unterscheidung des thätigen Subjekts von seiner
Thätigkeit und zu einer von der Thätigkeit auf das Subjekt zurück-
blickenden Reflexion vorhanden wäre. —
Hinter dem Denken Gottes muss der Wille angenommen
werden, welcher mit dem Denken in Einheit ihätig ist. das Denken
erst zu einem schöpferischen macht und dadurch den Träger und
die Substanz in allen Geschöpfen ausmacht. Der Wille ist nicht
wie bei Schelling mit dem Denken wie ein Attribut mit dem
anderen durch eine sie tragende Substanz verbunden, sondern er
fungiert selbst als Realprincip und Substanz zugleich nicht nur in
den Geschöpfen, sondern auch in Gott selbst. Er ist die objek-
tive oder reale Seite oder die Natur in Gott, wie das Wissen die
subjektive oder ideale Seite darstelh, Fichte unterscheidet nun
mit Baader einen dreifachen Prozess in Gott, den realen Willens-
prozess» den idealen Denkprozess und den geistigen Prozess, der
beide in sich zusammenschliesst; er führt aber dabei die Fünf-
teilung Baaders innerhalb eines jeden auf eine Dreiteilung
zurück.
Im Willen sprozess ist das Erste der noch unaufgeschlossene
Urgrund, die noch gegensatzlose Einheit, die Indifferenz Schellings,
der Ungrund Böhmes, das Stillschweigen oder die Finsternis
der Gnostiker u. s. w. Das Zweite ist dann die aus jenem er-
zeugte Unendlichkeit des göttlichen Seins, die intensiv und exten-
siv unendliche Realität und Machtfülle, das Dritte die verwirk-
lichte Einheit, die bereits in die ideale Seite hinüberweist, weil
sie nur möglich ist im Geiste Gottes. — Im idealen Prozess
ist das Erste das Urich, das mit sich ewig identische Ursubjekt,
das unbewegte Auge, die stille noch un aufgeschlossene Weisheit,
noch nicht das Bewusstsein selbst, sondern erst das Grundlegende
desselben. Das Zweite ist das Allbewusstsein, das Objektive in
Gott, worin der Reichtum des im Ersten noch potentiellen Lebens
in die eigene Schiedlichkeit auseinandergelegt wird. Das Dritte
ist die zur Offenbarung gekommene laute Weisheit oder die
Selbstanschauung oder das Selbstbewusstsein Gottes, das also
hier doch erst als Folge des Allbewusstseins auftritt — Der
Geistesprozess endlich ist nur die Einheit der beiden vorigen,
indem jedes Moment des einen mit dem ihm entsprechenden Mo-
ment des anderen verschmolzen wird. Von den Personen der
374
I H. Fichte.
Trinität entspricht der Vater dem ersten Moment sowohl im
Willensprozess als auch im idealen Prozess, der Sohn dem zweiten
Moment, am meisten im idealen Prozess, der heilig-e Geist dem
dritten Moment im idealen Prozess und im Geistesprozess.
Es liegt auf der Hand, dass das erste und zweite Moment
im Willensprozess den Unterschied von Potenz und Aktus, von
ruhendem Willens vermögen und gespannter Willensbethätigung
ausdrückt, und dass das erste und zweite Moment im idealen
Prozess dem Unterschied des logischen Formal princips und deri
entfalteten Idee oder dem Unterschiede von Vernunft und Phan- '
tasie bei Weisse entspricht. Die ersten Momente zeigen die Prin-
cipien in Ruhe, die zweiten Momente zeigen sie in Spannung»
wie Schellin g es nennt Die Frage ist nur» was das dritte Mo-
ment bedeutet. Beim idealen Prozess ist dies klar, nämlich das
reflektierte Selbstbewusstsein ; aber beim Willensprozess ist es
desto unklarer; es ist hier offenbar nur um eine Füllung der
triadischen Schablone zu thun» welche die Korrespotidenz mit dem
dritten Gliede des idealen Prozesses herstellt. Fällt dieses dritte
Glied im idealen Prozess als etwas im Absoluten UnmÖglicbeaJ
und Überflüssiges hinweg, so schwindet damit auch jeder Grund J
es im Willensprozess festzuhalten. Der G eiste sprozess ist nichts^
zu den anderen beiden neu Hinzukommendes, sondern ist lediglich
ihre Wirklichkeit und Wahrheit, von der sie nur begriffliche Ab-
straktionen und künstliche Ausschnitte darstellen. Die Principien-
lehre macht also hier zwar einen Fortschritt gegen Baader und
Weisse, wird aber wieder durch die Einmischung des Selbstbe-
wusstseins verdorben und ermangelt der den Attributen zu Grunde
hegenden Substanz» wie sie Schelling als unentbehrlich erkannt hat
Die intellektuelle Persönlichkeit im abstrakt logischen Sinne
kann erst mit dem Selbstbewusstsein eintreten, also frühestens
auf der dritten Stufe des idealen Prozesses; die konkrete ethische
Persönlichkeit aber mit Einschluss von Gemüt und Liebe, auf
welche Fichte alles ankommt, kann frühestens auf der dritten
Stufe des Geistesprozesses gesucht werden, weil erst dort Wille
mit Selbstbewusstsein verbunden auftritt. Im Willensprozess fehlt
die Intelligenz, im idealen Prozess der Wille, Der Wille des
Willensprozesses und der des Geistesprozesses sind nicht zwei
Willen, sondern einer und derselbe. Ebenso ist die Intelligenz
und das Selbstbewusstsein ein und dasselbe im idealen Prozess
L H. Fichte.
375
und im Geistesprozess, Von drei konkreten Personen in der
Gottheit kann hiernach bei Fichte gar keine Rede sein» da es sich
bei ihm nur um Ein Selbstbewusstsein und um Eine ethische
Persönlichkeit in der Gottheit handelt- Fichtes Trinitarismus ist
demnach ein blosser Modalismus, der stark zum Unitarismus hin-
neiget. Auch hierdurch unterscheidet er sich von Weisse und
rückt näher an Krause heran, —
Weisse hatte richtig erkannt, dass ohne Zeit und Raum keine
Lebendigkeit und Wirklichkeit in Gott möglich sei. Fichte hatte
dies dem Wortlaut nach zugegeben; aber er entstellt es dem Sinne
nach, indem er die empirische Raumzeitliclikeit als wahrheitlosen
Schein behandelt und die wahre Raumzeitlichkeit, die er Gottes
Bewusstsein sin halt zuschreibt, in einer Weise beschreibt, dass sie
sich von einem ewigen Ineinander aller Teile nicht mehr unter-
scheidet Damit wird dann wieder alle Vergangenheit und Zu-
kunft in die ewige Gegenwart des Allbewusstseins mit hinein-
gepackt. Hierdurch wird einerseits die behauptete Lebendigkeit
Gottes zu einer unhaltbaren Vorspiegelung, und andererseits die
Möglichkeit aufgehoben, aus dem ewig unwandelbaren Ineinander
dieses Allbewusstseins irgend eine der zeitlichen Veränderungen
zu erklären, deren Gesamtlieit den Weltprozess im gewöhnlichen
Sinne des Worts ausmacht. Über die erstere Schwierigkeit setzt
Fichte sich hinweg, um nicht mit dem Einla&s der empirischen
Zeit in den lohalt des Allbewusstseins dem Pantheismus zu ver-
fallen, steht also in diesem Punkte zu Weisse in entscliiedenem
Gegensatz. Der zweiten Schwierigkeit trägt er dadurch Rech-
nung» dass er ein doppeltes gegenständliches Bewusstsein in Gott
annimmt, nämlich ein zeitliches Weltbewusstsein oder eine Welt-
allwissenheit Gottes neben sein ewiges Allbewusstsein stellt.
Das Allbewusstsein entspricht dem Willen ad intra, der nur
den ewig konstanten Inhalt des Allbewusstseins in ewiger Weise
in Gott realisiert. Die WeltalUvissenheit entspricht dem Willen
ad extra, der den zeitlich wechselnden Inhalt der Weltallwissen-
heit als wechselndes Beziehungssystem der Monaden schöpferisch
realisiert und so erst die Welt im Sinne des Weltprozesses setzt.
X)ie Gesamtheit der Monaden ist bereits als ewiges Ineinander der
ipealen unwandelbaren Urpositionen vor der zeitlichen Welt-
schöpfung gegeben; der Schöpfungswille ad extra hat nichts
weiter zu thun, als das einende temperierende Band aufzulösen«
376
I. H, FicBte.
welches das Realuni versum in Gott zusammenhält, und die Mo-
naden dem falschen Schein des raumzeiilicben Beziehungswechsels
zu überlassen. Die ewigen Monaden sind schon vor der Welt-
Schöpfung völlig real, nämlich durch den Willen ad intra realisiert,
der in ihrer Gesamtheit seine Wirklichkeit hat. Die innergött-
liche Welt oder das ewige System der Urpositionen in Gott ist
von jeher als eine reale Welt fertig, die in ihrer höheren wahren
Räumlichkeit und Zeitlichkeit zugleich ein ewig vollendetes, un-
wandelbares Beziehungssystem der Monaden darstellt, also ebenso
vollkommen, wie real ist
Indem durch den Willen ad extra das einigende Band dieser
vollendeten Welt gelöst wird, gewinnt sie an Realität nichts hinzu,
büsst aber an Vollkommenheit ein, da sich mit der illusoriscbea
empirischen Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Wechsel, die Ver-
finsterung der Monaden gegen einander, das Übel und das Böse
einstellt. Da liegt doch die Frage nahe, warum der Wille ad
extra zu dem Willen ad intra hinzutreten musste, Anfangs weist
Fichte diese Frage als bedeutungslos ab; später beantwortet er
sie dahin, Gott habe seine Liebe den Geschöpfen miueilen wollen,
um dadurch selbst seine Liebe gegen die Geschöpfe tiefer 21
empfinden. Nun ist aber nicht abzusehen, warum die Monadei
im Zustande der Zerstreuung und Un Vollkommenheit mehr Gegen
liebe gegen Gott empfinden sollen, als in dem schon ebenso realen
Zustande der vollkommenen Welt vor der Schöpfung, Ebenso-
wenig ist verständlich, inwiefern Gottes Liebe zu den Monaden
dadurch erhöht werden könnte, dass sie aus einem vollkommeneren
in einen unvollkommeneren Zustand versetzt werden. Am wenigsten
ist es begreiflich, wie eine Erhöhung des Genusses der Liebe in
einem allgütigen Gott die Verschlechterung des Weltzustandes
rechtfertigen könnte, bei der die Geschöpfe nur verlieren, aber
nicht gewinnen. —
In dieser ersten Periode Fichtes spielt die Phantasie keim
Rolle; dafür wird sie aber in seiner zweiten Periode zum Central-
begriff, aus dem er in der Anthropologie die Erscheinungen des
leiblichen und instinktiven Lebens, in der Psychologie die d'
bewusstgeistigen Lebens ableitet. Hätte Fichte bloss die Schriften'
seiner ersten Periode herausgegeben, so wäre er heute völlig ver-
gessen und hinter Weisse zurückgetreten; aber durch die Schriftei
seiner zweiten Periode hat er sich zu dem wichtigsten Anthro-'
i
T. H. Fichte.
377
Dlogen und Psychologen des spekulativen Theismus aufge-
schwungen und als solcher einen bemerkenswerten Einfluss
ausgeübt.
Unter Phantasie v^ersteht Fichte ein individuelles Seelen ver-
mögen, das zwar nicht bewusst im gewöhnlichen Sinne des
Wortes, aber auch nicht völlig bewusstlos im Sinne einer totalen
Negation des Wissens ist, sondern ein relativ unbewusstes Ver-
mögen, das einen Mittelzustand zwischen Bewusstlosigkeit und
wachem Bewusstsein darstellt. Die Phantasie äussert sich im
Traum bewusst sein , in der unbewussten schöpferischen Thätigkeit
des künstlerischen Genies und am deutlichsten in den verschiedenen
Stufen des somnambulen Bewusstseins, das sich bis zum Hell-
sehen steigern kann. Die Phantasie äusserst sich ferner im In-
stinkt der Tiere und Menschen, in der organischen Bildungs-
kraft und Naturheilkraft. Überall wirkt sie vernünftig, zweckvoU,
wie eine individuelle Vorsehung, und doch ohne klares Bewusst-
sein des Zweckes und findet ihren Weg mit der Sicherheit eines
Nachtwandlers. Als »plastische« Phantasie bewährt sie sich im
Aufbau des eigenen Organismus ebenso wie in den Bauinstinkten
der Tiere und den Kunsttrieben der Naturvölker und ist als
solche nur dem Grade, nicht der Art nach von dem Genius des
Künstlers verschieden. Sie ist gar nicht reflektiert und doch
höchst vernünftig in ihrer Intuitivität. Sie ist aber auch mehr
als ein blosses, relativ unbewusstes Schauen und Erkennen, sie
ist Trieb, das plastisch Geschaute auch plastisch zu realisieren,
und nur als Trieb vermag sie gestaltend, erhaltend und umge-
staltend in die materielle Welt einzugreifen. Sie ist aber auch
nicht bloss Trieb nach Verleiblichung und Verkörperung des Ge-
schauten, sondern zugleich auch Trieb, ihre relative Unbewusst-
heit aufzuheben und sich zum Bewusstsein hindurchzuringen, d. h,
Potenz des bewussten Erkennens.
So ist die Phantasie die ursprüngliche Einheit des unbewussten
Erkenn ens und unbewussten Triebes, aber beides durchaus indivi-
duell verstanden» und die einheitliche Quelle des organischen wie des
bewusstgeistigen Lebens, In ihr ist sozusagen die Urqiialität der
Monade oder Urposition zu suchen. Aber sie ist auch nicht ohne
einen substantiellen Träger zu denken, und dies ist eben die Monade
oder individuelle Seele. Die Seele ist unbewusst vernünftiges Trieb-
wesen, und als solches weder subjektiv noch objektiv, sondern
378
I. H. Fichte.
vor- und jenseits dieses Gegensatzes. Die bewusste, abstrakte,
diskwrsive reflektierte Vernünftigkeit des menschlichen Denkens
ist erst ein sekundäres Produkt der durch die Sinnlichkeit hindurch-
gegangenen unbewussten Vernunft, die dadurch einerseits ver-
endlicht, verdunkelt und in den Irrtum verwickelt, andrerseits
aber auch erst fähig wird, die spezifisch menschliche Gestalt der
geistigen Persönlichkeit zu vermitteln. Aber wenn auch das
Apriorische der Phantasie in jeder Monade etwas Individuelles
ist, so kann sich Fichte doch der Einsicht auch nicht entziehen,
dass dieses vorbewusste Apriorische letzten Endes den Grund des
Weltzusammenhanges und der ewigen Harmonie der Dinge aus-
machen muss. Denn w^enn auch jeder Seele der Zweck als indi-
viduelle immanente Vorsehung eingebildet ist, so müssen doch zu-|^tf
letzt alle diese individuellen Vorsehungen Momente einer univer-^^
seilen, dem Weltganzen immanenten Vorsehung sein. Aber diesen
Gedanken, der ihn zur Weltphantasie einer Weltseele hinführen
würde, hütet Fichte sich wohl zu verfolgen und verweist statt
dessen auf seine spekulative Theologie.
Auch in Bezug auf die Unbewusstheit der Monaden und
ihrer Phantasie vor Eintritt in die Wechselbeziehungen der ge-
meinen Zeit und Raum weit weicht Fichte der Konsequenz aus
und lässt sich dadurch in die Irre führen, dass er an ein leib-
freies Zustandekommen des hellsehenden somnambulen Bewusst-
seins glaubt Denn er hält sich nun für berechtigt, dieses relativ
unbewusste anschauende Bewusstsein als ein höheres Bew^usstsein
oder j* Voll bewusstsein ' den Monaden vor Eintritt in diese Welt
und nach dem Wiederaustritt aus ihr zuzuschreiben. Allerdinga
hält er vorsichtshalber dabei doch an dem * ätherischen Leibe«
Grundlage der seelischen Bethätigung fest Wenn die Monaden
in der vollendeten inner göttlichen Welt schon ein hellsehendes
Vollbewusstsein von ungetrübter Vernünftigkeit besitzen» so wird
es um so unbegreiflicher, w^arum Gott sie durch den Schöpfungs-
wnllen ad extra aus diesem vollkommeneren Zustande heraus in
einen soviel unvollkommeneren versetzt hat, und warum jede
Monade trotz ihres Vollbew^usstseins noch den Trieb zur Er-
w^ erbung eines sinnlichen, reflektierten Bewusstseins besitzt Wenn
erst das letztere imstande ist, zu einer wirklichen Persönlichkeit
zu verhelfen, und die Monade vorher noch nicht Persönlichkeit,
sondern nur den Keim oder die Anlage zu einer solchen besitzt^
Frohscbammer,
379
so lässt sich der Trieb zur Erlangring' eines sinnlichen Bewusst-
seins verstehen. Aber wie soll es zugehen , dass das hellsehende»
ung^etrübt vernünftige» an die Schranken der empirischen Raum-
sitlichkeit nicht gebundene Vollbewusstsein es nicht über den
[eim einer Persönlichkeit hinausbringt, und erst das sinnliche,
getrübt vernünftige in die illusorischen Zeit- und Raunischranken
gebundene fragmentarische Bewusstsein zu dieser Leistung be-
fähigt ist?
Es ist kein Wunder, dass Fichte durch seine Ansichten über
"den Ätherleib der Monade dahin geführt wurde, mit dem modernen
Spiritismus Beziehungen anzuknüpfen und diesem seine theoretische
Unterstützung zu leihen. Er erscheint in dieser Hinsicht als ein
Fortsetzer der Naturphilosophen der Schellingschen Schule» die
sich mit Vorliebe mit den Nachtseiten der Natur beschäftigten.
Nach drei verschiedenen Richtungen wurde sein Standpunkt fort-
gebildet. Erstens berührte sich seine Ansicht von der Seelen-
lonade aln einem ewigen individuellen Triebwesen mit der indi-
vidualistischen Willensmetaphysik, die sich in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts aus Schopenhauer entwickelte. Zweitens
wurde die alte Annahme, dass die Seelen Wirksamkeit auf einem
astralen oder ätherischen Leibe beruhe, von den transcendentalen
Individualisten zur Identität der Seele mit diesem Ätherleibe ge-
steigert und dadurch der Fichtesche Spiritualismus in einen über-
sinnlichen Materialismus umgewandelt Drittens endlich wurde
von Frohschammcr die Urqualität des Fichteschen Seelenwesens,
die Phantasie, zum substantiellen Seelenwesen selbst erhoben und
mit der Weltphantasie als Weltseele Ernst gemacht. —
F r oh seh am m er {i 821 — 1893) entlehnte von Weisse das System
der ewigen Walirheiten als ein vor und hinter Gott liegendes
Reich der logischen Möglichkeiten und Gesetze, nach denen sich
Gott im Fall seiner Aktualität richten muss, die aber auch erst
durch ihn Lebendigkeit und Wirksamkeit erhalten, und die Phan-
tasie als die Form der absoluten Aktualität Von I. H. Fichte
übernahm er die Phantasie als teleologisch-plastisches Princip im
Einzelwesen wie im Weltganzen, die Unbewusstlieit dieses Prin-
cips, und die Verschmelzung des unbewussten produktiven Triebes
oder unbewussten Willens mit ihm. Beide Konzeptionen fasste
er zu der unbewussten Weltphantasie als alleinigem metaphysischem
Erklärungsprincip zusammen. Er zog also den absoluten Willen,
38o
Frohscharainer.
der bei Weisse neben der Phantasie steht, in die Phantasie mit
herein, wie Fichte es in der Monade gethan hatte. Andrerseits
liess er das Fichteschc «Vollbewusstsein* der relativ unbewussten
monadischen Phantasie hinter dem gemeinen Bewusstsein fallen,
und fasste dieselbe schlechthin als absolut unbewusste auf. Nur bei
dem Absoluten machte er darin eine Ausnahme. Als gläubiger
Katholik (später Altkatholik) hielt er an dem persönlichen Gott
als etwas Selbstverständlichem fest, das hinter und über der un-
bewussten Welt Phantasie stehe. Das Verhältnis beider entspricht
dem von Gott und Weltseele bei Giordano Bruno. Mit Beweisen
für einen Gott hinter der Weltphantasie hat er sich als mit etwas
Überflüssigem in seinen früheren Schriften nicht abgegeben; erst
in seiner letzten Schrift (ii:^9i) ist er dieser Frage näher getreten
und hat sie als wissenschaftlich unlösbar anerkannt, da die Welt-
phantasie allen Ansprüchen der Wissenschaft genüge. Aber auf
Grund des religiösen Bedürfnisses hält er auch hier an einem per-
sönhchen Gott fest^ der freilich in, reiner Geistigkeit nicht vor-
stellbar sei. —
Phantasie ist die Fähigkeit des Geistes» Bilder zu gestalten;
die subjektive Phantasie wirkt sinnliche, bew^usste Anschauungen»
die objektive übersinnliche, unbewusste.
Die Phantasie ist zugleich Bildungs- und Schaffenskraft; ins-
besondere produziert die objektive Phantasie reale, stoffliche und
innerlich selbständige Gestalten. Sie ist das organisierende Princip
in der Natur und die herrschende und leitende Macht in der
Geschichte, kurz das einheitliche teleologfisch plastische Form-
princip des Weltprozesses.
Der Phantasie steht als das von ihr zu Gestaltende der Stoff
gegenüber. Das ganze Wesen des Stoffes besteht nach Froh-
schammer in der Ausdehnung oder Räumlichkeit, genauer in
der Anwendung der ICraft und der ewigen Gesetze auf die
Räumlichkeit. Nun hat aber die Phantasie sowohl die Kraft der
Verwirklichung als auch die ewigen Gesetze potentiell in sich»
und ist in Bezug auf beide dem Stoff nicht entgegengesetzt,
sondern verwandt In Bezug auf die Räumlichkeit bleibt ihr
Verhältnis etwas unklar. Die subjektive sinnliche Phantasie ist
zwar ohne Zweifel räumlich; aber die objektive Phantasie ist über-
sinnlich, und da nach PVohschammers Ansicht der Raum eine
Form der Sinnlichkeit ist, so muss sie als un räumlich angesehen
FrohschjimTncr.
381
werden. Andererseits ist ihre Wirksamkeit im Weltprozess, so-
wohl in der Natur wie in der Geschichte zeitlich; denn Froh-
schammer findet es gerade wegen der Zeitlichkeit der Welt-
entwickelung nicht angänglich, die Schöpfung als einmaligen
Akt Gottes zu betrachten. Wenn aber die unbewusste Phantasie
zeitlich wirkt, so sollte sie doch auch wohl räumlich wirken
können. Zumal da Frohschammer selbst annimmt, dass sie den
Raum setzt» dürfte der letzte Grund wegfallen, den Stoff als
etwas nicht von der Weltphantasie Gesetztes, von ihr Vorge-
fundenes stehen zu lassen. Dies wird aber von Frohschammer
nicht beachtet; er bleibt in dem Dualismus von weltbildender
Phantasie und Stoff (Demiurg und Hyle} stecken und hält ihn
für unüberwindlich. Ausschliesslich dieser von ihm unbewusst
schon überwundene Dualismus ist es auch, der ihn nötigt, hinter
dem Gegensatz von Weltphantasie und Stoff noch wieder ein
Absolutes oder einen Gott anzunehmen. Die Weltphantasie ist
der unbewusste immanente Gott der Wissenschaft; der absolute
Gott hmter ihr ist wissenschaftlich nicht näher zu bestimmen, ist
aber jedenfalls metaphysisch transcendent zu denken.
Das Bewusstsein entwickelt sich in den Individuen erst aus
der unbewussten Phantasie und ihrem instinktiven Triebleben,
indem aus der organischen Verinnerlichung der Phantasie ihr
sich Innefinden oder die Empfindung hervorgeht, und aus dieser
an einerseits die Gefühle, andererseits die Vorstellungen. Im Vor-
stellungsleben der höheren Individuen gelangt dann die Phantasie
zum Bewusstvverden der ihr immanenten ewigen Wahrheiten in
Gestalt logischer Gesetze, während dieselben in der Natur nur
als ewig notwendige physikalische Gesetze dem Stoff eingeprägt
sind und die Bethätigungsweisen der physikalischen Kräfte be-
stimmen. Frohschammer betont es fast noch stärker als L H,
Fichte, dass das Bewusstsein nicht bildend, schaffend, erzeugend,
hervorbringend, produktiv ist, sondern nur den ruhenden Schau-
platz darstellt, auf dem sich das wechselnde Spiel der Gefühle
und Vorstellungen vollzieht, nur einen beharrenden Zustand der
inneren Belichtung der unbewussten Produkte. Die unbewusste
Phantasie steht als das eigentlich Produktive diesen Vorgängen
im Bewusstsein ebenso gegenüber wie den Vorgängen in der
Natur. Der logischen Gesetzmässigkeit beider gegenüber ist sie
das Princip der freien Zweckthätigkeit, das teleologische Princip,
382
FVobsduumn^r.
das zu Stoff und Kraft die Normen des Bildens herzubringt, oder
das Urwesen. das über Ursein und Urkraft waltet —
Alle Erfahmng weist darauf hin, dass die teleologischen Vor-
gänge und Produkte in der Natur, im persönlichen Menschengeist
und in der Geschichte nicht einer bewussten Verstandesthätigkeit,
sondern einem unbewussten teleologischen plastischen und dirii
gierenden Princip entspringen. Wissenschaftlich liegt also kein
Grund vor, über das unbewusste immanente Weltprincip der
Phantasie hinauszugehen, vielmehr erscheint aus wissenschaftlichem
Gesichtspunkte die Annahme eines bewussten persönlichen Gottes
hinter der unbewussten Weltphantasie unnötig, überflüssig und
ungerechtfertigt. Da das Bewusstsein doch bloss ein unproduk-
tiver Zustand ist, kann es auch in Gott nichts zur Erklärung seiner
Werke beitragen. Auch wäre es unbegreiflich, wie aus einem
bewussten absoluten Grund dies Unbewusste hervorgehen sollte,
aus dem allein die Welt zu erklären isL Endlich sind wir nicht
einmal fähig, uns von einem reinen Geist als einem persönlichen
Wesen eine Vorstellung zu bilden; wir dürfen ihn nur nicht etwa
unterpersönlich, sondern müssen ihn üb er persönlich denken. Aus
alledem sollte man folgern, dass, wenn doch hinter Weltphantasie
und Stoff noch ein Absolutes oder ein Gott angenommen werden
soll, dies wieder nur ein unbewusster und unpersönlicher absoluter
Geist sein dürfte.
Diese Folgerung zieht aber Frohschammer nicht, sondern nur
die andere, dass das Problem wissenschaftlich unlösbar sei, und
dass deshalb hier allein das religiöse Bewusstsein zu entscheiden
habe. Die ganze Menschenseele, Gemüt und Verlangen, wird
von dem unbewussten unpersönlichen Gott, den die Wissenschaft
allein zu bieten hat, nicht befriedigt; sie verlangt nach dem per-
sönlichen, und die subjektive Phantasie bedarf der Persönlichkeit
Gottes zur Vorstellung Gottes. Frohschammer hat nicht unter-
sucht, ob diese auf dem Boden des ihm gewohnten christlichen
Vorstellungskreises unzweifelhaft richtige Erfabrungsthatsache auch
unabhängig von dieser Gewöhnung durch autoritative Lehre und
Erziehung noch richtig ist, und ob nicht vielmehr für ein ge-
läutertes religiöses Bewusstsein ein unpersönlicher Gott Postulat
und ein persönUcher unzulänglich sein könnte. Er hat die nach*
wirkende Macht seiner christlichen Erziehung für ausreichend
gehalten, um dieses philosophische Problem zu entscheiden. Er
Frohschammer.
383
hat damit die gerade entgegengesetzte Entscheidung getroflfen wie
Steudel, Wenn Steudel aus dem vermeintlichen Widerstreit zwi-
schen den Fordenmgen des wissenschaftUchen und des rehgiösen
Bewusstseins die Folgerung zieht, dass das religiöse Bewusstseio
unterdrückt werden müsse, so Frohschammer vielmehr die, dass
das wissenschaftliche Bewusstsein sich zu bescheiden habe und
dem religiösen den Vorrang lassen müsse. Deshalb gehört wohl
Frohschammer, aber nicht Steudel unter die Theisten, obwohl
Frohschammer als wissenschaftlicher Philosoph ein unbewusstes,
Steudel aber ein bewusstes und selbstbewusstes Princip lehrt;
denn Steudel leugnet, Frohschammer behauptet einen persönlichen
Gott —
Überblicken wir im Zusammenhange, was diese drei Ver-
treter der Phantasie geleistet haben, so wird der Fortschritt, der
durch sie in der metaphysischen Principienlehre herbeigeführt ist,
nicht gering zu veranschlagen sein. Der Unterschied zwischen
dem Logischen als reinem Formalprincip und der aktuellen Idee,
die Unbewusstheit nicht nur des Logischen, sondern auch der
aktuellen Idee, die einheitliche Immanenz der logischen Gesetz-
mässigkeit und der teleologischen sogenannten Freiheit in der
Idee, die Unbewusstheit der aktuellen Idee im Gegensatz zu
aller bewussten Absichtlichkeit, ihre Intuitivität im Gegensatz zu
aller diskursiven und abstrakt logischen Reflektiertheit, ihre Über-
sinnlichkeit im Gegensatz zu aller sinnlichen Anschauung, die
Zeitlichkeit und Räumlichkeit ihres wechselnden Inhalts, die un-
lösbare Einheit der unbcwussten Idee mit dem ebenso unbewussten
Willen, die Immanenz dieser Einheit von unbewusster Idee und
unbewusstem Willen in der Welt als ganzen und in allen ihren
Gliedern — das alles dürfte als bleibender Gewinn der Metaphysik
zu betrachten sein. Ob die Bezeichnung Phantasie oder Imagination
glücklich gewählt ist, das ist eine andere Frage. Da mit der
objektiven unbewussten Phantasie kein anderer Sinn verknüpft
wird, als den Schelling und Schopenhauer mit dem Worte Idee
und Hegel mit der verwirklichten konkreten Weltidee bezeichnen
wollte, so wäre es wohl besser, zu dem Worte Idee zurückzukehren,
dafür aber die *Idee^ — als konkrete, aktuelle, übersinnliche
Intuition mit räum zeitlichem Inhalt — von dem »Logischent —
als ewigem logischen Formalprincip — strenge zu unterscheiden,
Dass die Koordination des Wülens und der Idee, wie Weisse und
384
FrobicbAiiimer.
Fichte sie von Baader und Schelling übernommen haben, bei
Frohschammtn" aufgegeben ist und in die Phantasie alles Mög-
liche hineingestopft wird, was ihr nicht zukommt, ist eine offen-
bare Verschlechterung, die wieder beseitigt werden muss, D^lss
es aber gerade drei Theisten sein mussten, die die Lehre von der
Phantasie ausbilden mussten, erscheint als eine Ironie des Schick-
sals; denn damit untergruben sie gerade dem Theismus, dem sie
zu dienen wünschten, den Boden unter seinen Füssen. —
Günther, Deutinger, Weisse und I. H. Fichte in seiner ersten
Periode stellen den Höhepunkt des Theismus dar. Aus dem
Grundgedanken des Theismus, dem selbstbewussten persönlichen
Gott als der ewigen Urwirklichkeit, ist alles das entwickelt, was
sich aus ihm herausholen lässt. Was bei Baader und Schelling
noch in gährender Unklarheit auftritt, stellt sich hier in abge-
klärter Gestalt dar. Die aphoristischen Exkurse Baaders, der bei
Schellings Lebzeiten erschienenen Schellingschen Schriften und
Günthers gewinnen bei Weisse, Deutinger und Fichte systematische
Gestalt. Die Fortschritte, welche die Kategorienlehre von Kant
bis Hegel gemacht hatte, und die Vertiefung, welche die Pnnci-
pienlehre durch Baader und Schelling gewonnen hatte, werden
konserviert, nach Kräften verbessert und dem Theismus an-
geeignet So wird der systematische Theismus in der That zum
Erben der ganzen philosophischen Vergangenheit
Es ist nicht etwa zufällig, dass Baader, SchelHng, Günther,
Deutinger, Weisse und Fichte sämtlich Trinitarier sind. Sie
alle sind von der Überzeugung beherrscht dass der Theismus in
unitarischer Gestalt sein Ziel verfehlen muss , und dass er. wenn
er überhaupt fähig sein soll, seine philosophische Aufgabe zu
lösen, dies nur in trinitarischer Gestalt vermag. Die unitarischen
Theisten, welche diese Wahrheit verkennen, sind Denker, die an
spekulativer Begabung ohne Ausnahme hinter den (Tenannten
zurückstehen. Die trinitarischen Systematiker schufen ihre Haupt-
werke in der Zeit zwischen Hegels Tode und dem allgemeineren
Bekanntwerden der Schopenhauerschen Philosophie und füllten
gleichsam die zeitliche Lücke aus, die zwischen der geistigen
Vorherrschaft Hegels und derjenigen Schopenhauers in der speku-
lativen Philosophie bestand. Die Unitarier dagegen fallen teils
noch in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts (wie Jacobi,
Neuere Uni tarier.
385
Krause und Herbart), teils treten sie mit ihren massgebenden
Werken und ihrem Einäuss erst in der zweiten Hälfte dieses
Jahrhunderts hervor und stehen bereits mit dem Einfluss der
Schopenhauerschen Philosophie in Wettbewerb. Wie die erstere
Gruppe mehr oder minder verfehlte Anläufe des Theismus dar-
stellt, so die letztere die Stufen seines Verfalls und seiner Selbst-
auflösung. Schon I. H. Fichtes zweite Periode gehört mit zu
diesem Verfall des Theismus als solchen; wenngleich Fichte in
ihr noch immer auf seine erste Periode zurückweist und von
deren Ergebnissen nichts zurücknimmt, so stellt er doch gleich-
sam stillschweigend die Trinität ausser Gebrauch. In Froh-
schammers Philosophie ist die Trinität ganz und gar verschwun-
den und mit ihr auch die Persönlichkeit Gottes völlig verblasst
und problematisch geworden.
6. Neuere Uni tarier.
Trendelenburg, UWci und Lotze stellen die Hauptvertreter
der Gruppe von Unitariem dar, welche den Verfall des Theismus
vollziehen. Die Gotteslehre schieben sie entweder, wie Trendelen-
' bürg, gleichsam verschämt beiseite, oder sie bringen doch nichts
Neues zu ihr hinzu und schwächen bei ihren Versuchen» den
Theismus zu vereinfachen und zu popularisieren, seinen speku-
lativen Gebalt nur ab. In der Principienlehre verzichten sie ent-
weder auf Eigenes, oder sie machen damit verfehlte Versuche;
in beiden Fällen erweisen sie sich unfähig, das, was ihre Vorgänger
in der Principienlehre bereits geleistet haben, recht zu würdigen
und das Gold von den Schlacken zu sondern. Wo jene tief
waren, erscheinen sie oberflächlich.
Trotzdem haben diese Philosophen einen nicht zu unter-
schätzenden Einfluss auf ihre Zeit gewonnen. Und dies erklärt
sich nicht bloss daraus, dass die Zeit der tieferen Spekulationen müde
war und nach seichterer Kost verlangte, auch nicht bloss daraus,
dass sie gefälliger und leichtverständücher zu schreiben wussten.
Sondern die Hauptsache ist, dass sie in methodologischer Hinsicht
moderner waren, sich einer exakteren Forschung befleissigten
£. V. HdirtEDaoeii, Auigew. Werke. Bd. XII.
25
386
Nenere TJoitarier.
und den Anspruch fallen Hessen, ihren Theismus als eine Lehre
von apodiktischer Gewissheit auszugeben. Trendelenburg^ suchte
die Exaktheit hauptsächlich in einer philologischen Sorgfalt der
historischen Quellenforschung, in strenger Beobachtung der
logischen Gesetze und in einer auf beide gestützten Kritik der
massgebenden Vorgänger. Ulrici und Lotze dagegen bemühten
sich, die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft philosophisch
zu verwerten und die Philosophie mit ihnen in Einklang zu
bringen.
Die historisch -philologische Schule Trendelenburgs trat in
Wechselwirkung mit den historischen Schülern Hegelsund dieses^
Zusammenwirken im Wettstreit führte zu einer Blüte der philc
sophiegeschichtlichen Studien, wie sie noch zu keiner Zeit vorher
erlebt war. Ulrici und Lotze wirkten in ähnlicher Richtung, wie
I. H. Fichte in seiner Anthropologie und Psychologie und Fech-
ner, und von ihnen ging jenes Interesse der Philosophie an den
exakten Naturwissenschaften aus, das ein Merkmal der gegen«
wärtigen Philosophie im Unterschiede von der aller frühere
Zeiten bildet Sie alle haben die Herrschaft der induktiven
Methode in der Philosophie herbeiführen helfen, und darum muten
sie den modernen Leser so ganz anders an, als ihre spekulativen
Vorgänger, die noch an die deduktive oder dialektische Kon-
struktion glaubten. Niemand hat so sehr dazu beigetragen, das
Ansehen der Hegeischen Dialektik zu erschüttern, wie Trendelen-
burg und Ulrici, niemand energischer die falschen Spitzfindig-
keiten der Herbartschen Metaphysik und Psychologie bekämpft,
als Trendelenburg und Lotze.
Alle diese Leistungen und Vorzüge sind aber doch nur neg
tiver oder formaler Art, und würden kaum ausreichend scheinen,"
den Ruf dieser Denker zu begründen und ihr Manko in Bezug
auf den Grundgedanken des Theismus und die Principienlehre aus-
zugleichen. In der That haben sie aber auch positive Leistungen
für die Geschichte der Metaphysik aufzuweisen, und zwar liegen
diese bei allen dreien auf dem Gebiet der Kategorienlehre. Tren-
delenburgs > Logische Untersuchungen« (1840), Lotzes Logik und
Metaphysik (erste Bearbeitung 1843 und 1841, zweite 1S74 und
1B79) und Ulricis System und Kompendium der Logik (1852 und
1860) sind schätzenswerte Bearbeitungen der Kategorienlehre,
durch w^elche dieser Zweig der Metaphysik ohne Zweifel gefördert
II
worden ist Sie stehen an Bedeutung der Metaphysik Weisses
(i835), der Ontologie Fichtes {1836) und den bezüglichen Arbeiten
Günthers und Deutingers (beide 1843) nicht nach, sondern voran,
und bilden seit Hegels Logik die wichtigsten Werke dieses Ge-
bietes. Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint es gerecht-
fertigt, diese drei Unitarier zu einer Gruppe zusammenzufassen. —
Trendelenburg {1802 — 1872) ist ein Schüler des Schellingia-
ners von Berger, nach welchem die Dinge oder Wesen nur ^die
in ihren Produkten angeschauten Entwickelungsstufen der Einen
unendlichen Thätigkeit — die gleichsam aufgehaltene oder ver-
lende ewige Idee« sind (Logische Untersuchungen, 2. Auf-
e, n, 468). Er sucht die Identitätsphilosophie auf ihren ein-
fachsten Ausdruck zurtlckzuführen, indem er die Thätigkeit unter
dem Namen Bewegung als ein Letztes und zugleich als das im
Denken und Sein Identische hinstellt Obwohl Theist, gehört er
somit doch zu denjenigen Philosophen, welche wie G. Fichte, Schel-
ling und Hegel in der Thätigkeit selbst das letzte Princip und
den Produzenten der Substanz erblicken. Auch in methodologi-
scher Hinsicht gehört er noch zu der älteren Richtung der speku-
lativen Philosophie» sowohl in seiner Auffassung der Aufgabe der
Erkenntnis» als auch in seinem Versuch einer genetischen De-
duktion alles Endlichen aus dem Urprincip. Nur in Bezug auf
das Unendliche, Unbedingte, Absolute erkennt er die Unmöglich-
keit einer direkten, deduktiven » genetischen Erkenntnis an und
bescheidet sich mit einer indirekten, die aus den Beziehungen des
Unbedingten zum Bedingten geschöpft ist
Trendelenburg hat hauptsächlich eine historische und kritische
Wirksamkeit entfaltet, auf philologisch exakte Behandlung der
älteren PhUosophen gedrungen und mit Schärfe und guten Grün-
den Hegel und Herbart bekämpft. Aber während er sich gegen
Herbart, den er erst nach Abschluss seiner eigenen Entwickelung
kennen lernte, lediglich negativ verhielt, steht er mit Hegel in
sachlicher Hinsicht wesentlich auf gleichem Boden und bekämpft
an ihm eigentlich nur das Formelle, die dialektische Methode.
Auch ihm ist der Gedanke, die ewige Idee, das letzte Princip,
das Prius von allem, und die That, die im Ursprung der Dinge
ist, deckt sich ihm mit dem Logos, der im Ursprung war. >Der
Akt des götthchen Wissens ist in allen Dingen die Substanz des
Seins« (ebenda 46g). Er verwirft alle Systeme, die die gedanken-
388
Trendelenburg.
lose Materie oder blinde Kraft zum Princip erheben, oder dieses
Princip mit dem Gedanken zur Identität zu verschmelzen suchen,
und bekennt sich damit zum absoluten Idealismus oder Panlogis-
mus im Sinne von SchelHngs erstem System und von Hege
Er nahm die objektive Teleologie des Aristoteles» die durch Hegi
wieder zu Ehren gebracht war, auf, und bemühte sich darzuthun,
dass sie ebensogut und besser auf der Grundlage der Aristoteli^
sehen Logik als auf der der Hegeischen Dialektik bestehen könne.
Nach dem Vorgange Wilhelms von Occam hob er die Beziehung
der Aristotelischen Kategorien zu den grammatischen Formen
der Sprache herv^or.
Wenn er so die Aristotelischen Studien neu belebte, so
brachte er auch die Bearbeitung der Erkenntnistheorie wieder in
Fluss, indem er, ganz im Sinne des Schleiermacherschen trans-^^^J
cendentalen Realismus, die Kantsche Begründung des transcen^^H
dentalen Idealismus angriff und als nichts beweisend darthat
Aber obwohl er sich von dem erkenntnistheoretischen Idealismus
ebenso entschieden abwendet, wie er die Möglichkeit eines reinen
Denkens leugnet, beharrt er doch dabei, das Endliche genetisch
konstruieren zu wollen, uneingedenk des Aristotelischen Grund-
satzes, dass das der Natur nach Frühere für uns, d.h. für unser
Erkennen, das Spätere sei* —
In der richtigen Einsicht, dass die Bewegung in der Natur
die Räumlichkeit und Zeitlichkeit erst setzt, meint er deshalb
irrtümlich, sie auch als Erkenntnisprincip beiden voranstellen zu
müssen, Raum und Zeit sind also die beiden ersten Kategorien,
die er aus der Bewegung ableitet. Da er keine abstrakt logische
Idee hinter dem Weltprozess, sondern nur eine konkrete Weltidee
im Weltprozess kennt, so hat er ebenso recht, Raum und Zeit
als Kategorien in die Idee einzuschliessen, wie Hegel von seiner
entgegengesetzten Annahme aus recht hatte, sie von der logischen
Idee in ihrem Ansichsein auszuschUessen. Von Aristoteles ent-
lehnt Trendelenburg den Satz, dass Veränderung nur qualitative
Bewegung sei, und hält, darauf gestützt, die Bewegung für den
allgemeineren Begriff, von dem die Veränderung nur eine Unterart
bilde. (Bewegung ist vielmehr als diejenige Art der Veränderung
zu bestimmen, durch welche die räumlichen Beziehungen ver-
ändert werden.) Ja, er identifiziert sogar Bewegung mit der aktiven
Thätigkeit, welche der erzeugende Grund der passiv verlaufenden
TrendeJenburg.
389
Veränderung ist, obwohl doch diese Thätigkeit noch weniger
räumlich zu sein braucht, als die Veränderung, die aus ihr folgt.
Je nach Belieben hebt er die eine oder die andere dieser Bedeu-
tungen hervor» oder lässt sie wieder fallen, unbekümmert darum,
dass er sich damit in einer beständigen quaternio terminonim
bewegt. Da Bewegung ausserdem noch bald die Bedeutung
.eines realen Naturprozesses, bald diejenige einer subjektiv idealen
Anschauung annimmt, so kann man nicht weniger als zw^ölf ver-
schiedene Bedeutungen des Wortes Bewegung unterscheiden, die
bei Trendelenburg wirr durcheinander fliessen.
A. RSiumltelie Veränderung oder Bewegoiig lin eigentliclien
Sinne,
1. Die reale Bewegung im Naturprozess.
2. Die subjektiv ideale Perzeption einer im Wahrnehmungs-
bilde vor sich gehenden Bewegung, die vom Subjekt nicht
bewusst gewollt ist, und bei der es sich deshalb völlig passiv
zu verhalten glaubt (z. B. der fliegende Vogel).
3. Die willkürliche Beweg^ung des realen Blickpunktes,
der über ein Wahrnehm ungsbÜd hingleitet, verbunden mit
dem Gefühl aktiver Bewegung und bedingt durch reale
physische Bewegung des Augapfels (z. B> das Durchw^andern
der Umrisse eines grossen Gebäudes).
4. Die unwillkürliche Bewegung, welche sich scheinbar ohne
subjektives Zuthun in einem Phantasiebilde vollzieht (z. B.
der Vogel, den man im Traume fliegen sieht),
5. Die willkürliche Bewegung des idealen Blickpunktes,
der über ein Phantasiebild (ohne entsprechende physische
Bewegung des Augapfels) hingleitet (z. B. das Durchwandern
der Umrisse eines geträumten Gebäudes).
6. Die reale konstruktive Bewegung, durch welche der
menschliche Leib oder seine Glieder eine reale Figur hervor-
bringen (z. B. Zeichnen, Abschreiten),
7. Die ideale konstruktive Bewegung oder die konstruktive
Phantasiethätigkeit (Zeichnen oder Abschreiten einer Figur
im blossen Phantasiebilde),
390
Trendeleaburg.
B. Unräiimllclie Vi^rUnderunü: oder B(*wegiiiig Im neefgeatlieheii
Siiiiie.
8. Die uobewusste Geistesthätigkeit, welche die Absicht einer
realen Bewegfung der zeichnenden Hand oder des Augapfels
oder die Absicht einer idealen Bewegong durch Veränderung
gen im Phantasiebilde oder Verschiebung des idealen Blick-
punktes der Phantasieanschaniing vermittelst Einwirkung auf
die Moleküle der Centralorgane des Nervensystems zustande
bringt
9, Die unbewusste Geistesthätigkeit welche die unwillkürlich
auftretenden Bewegungen in Wahrnehmungs- und Phantasie-
bildern setzt.
10. Die unwiUkürhche unräumliche Veränderung der wahrge-
nommenen Empfindungen und die unwillkürlichen und wül-^
kürlichen Änderungen der Phantasieempfindungen, sowoh
die bewusst gewollten, als auch die unwillkürlich ein trete ndeofl
11. Die successive Durchwanderung der Teile eines andauern-
den Empfindungskomplexes mit der Aufmerksamkeit
(z. B, der Töne eines Akkordes oder der Bestandteile einer
Mischfarbe).
12. Die unbewusste Geistesthätigkeit, welche die unwillkürlicheo
Veränderungen der wahrgenommeöen Empfindungen und die
willkürlichen und unwillkürlichen Veränderungen der Phan-
tasieempfindungen hervorbringt und das Wandern der Auf-
merksamkeit innerhalb der Bestandteile eines EmpfinduJigs»J
komplexes zur Ausführung bringt
Sondert man diese Bedeutungen, so liegt es auf der Hand,
dass die Bewegung weder ein allgemeines, noch ein ursprüng-
liches, noch ein für die Gebiete des Seins und Denkens identische
Princip heissen kann, dass sie als solches eine verfehlte Hypothese
ist Aus der Bestimmung der Räumlichkeit der Bewegung sucht
Trendelenburg die meisten Kategorien abzuleiten; aber ein aUj
meines und ursprüngliches Princip ist die Bewegung nur, wenn man
die Bestimmung der Räumliclikeit von ihr abscheidet, und wenn
man das gethan hat, so findet man von der unräumlichen Verände-
rung nicht so leicht den Rückweg zur räumlichen Bewegung,
Die subjektiv ideale Bewegung im Inhalt der Wahrnehmung ist
Trendelenburg,
391
ceineswegs identisch mit der realen Bewegung in der die Wahr-
nehmung hervorrufenden Natur; beide sind nicht nur zwei
numerisch verschiedene Bewegungen, sondern auch in ihrer nähe-
ren Beschaffenheit so verschieden wie das Abbild und Urbild.
Die Sinneserapfindiingen und ihre unräii mlichen Veränderungen
haben nicht einmal Ähnlichkeit mit den realen Bewegungen und
Bewegungsänderungen, denen sie subjektiv entsprechen, und
durch welche sie veranlasst sind. Das Identische in den Gebieten
des bewussten Denkens und des Seins, des bewussten Geistes
und der Natur darf nicht in der räumlichen Bewegung, sondern
erst in derjenigen xmräumlichen Thätigkeit gesucht werden, wel-
che hier die reale Bewegung des Seienden, dort die subjektiv
ideale Bewegung des Bewusstseinsinhalts produziert. In einer
solchen unbewussten und nnräumlichen psychischen Thätigkeit
wäre dann aber nicht nur die Queile der Bewegung, sondern
auch die unmittelbare Quelle aller Kategorien zu suchen, die
Trendelenburg erst aus der Bewegung ableiten will. —
Trendelenburg nimmt die wesentliche Identität des Idealen
und Realen als eine überlieferte Grundvoraussetzung des Philo-
sophierens auf; ihre Bewährung findet er lediglich darin, dass es
ihm nach seiner Meinung gelingt, aus dem einen, mit sich iden-
tischen Princip der Bewegung alle Kategorien des Realen und
Idealen abzuleiten. Wenn diese Ableitung misslungen ist, so
schwebt auch die identitätsphilosophische Voraussetzung in der
Luft. Nun ist aber das, was Trendelenburg die »Ableitung« der
Kategorien aus der konstruktiven Bewegung nennt, weiter nichts
als der Nachweis, dass die konstruktive Bewegung uns durch
ihre Art und Richtung Sinnbilder oder graphische Illlustrationen
für mancherlei rein intellektuelle Thätigkeiten , und durch die
von ihr produzierten Formgebilde ebensolche für mancherlei Pro-
dukte der Denkfunktionen liefert Aber es fehlt viel daran, dass
durch blosse Unterschiede der konstruktiven Bewegung und der
von ihr hervorgebrachten Gestalten das Eigentümliche der un-
räumlichen InteÜektual Funktionen und ihrer Gedankenprodukte
bestimmt und deuthch gemacht werden könnte für jemand, der
sie nicht aus unmittelbarer Beschäftigung mit ihnen kennte.
So kann z. B. das Verbinden zweier Begriffe unter dem Bilde
einer konvergierenden Bewegung, das Trennen eines Begriffes
in seine Bestandteile (nicht aber, wie Trendelenburg meint, das
39«
Trendelenbtirg.
zu I
Unterscheiden zweier Begriffe) unter dem Bilde einer diver-
gierenden Bewegung angeschaut werden, ohne dass jedoch mit
solchen versinnlichenden Bildern das begrifFliche Wesen der Sache
getroffen wäre. Figur und Zahl können oline Zweifel mit Hilfe
der Bewegung erzeugt oder aufgefasst, sie können aber auch als
ruhende gegeben sein und so percipiert werden, selbst ohne nach-
helfende Bewegung des Blickpunktes, Dass Kausalität imrtu
Veränderung und Bewegung in sich schliesst, ist gewiss; dai
aber die Bewegung ausreici^cn sollte, um das verständlich zu
machen, was in der Kausalität zur Veränderung und Bewegung.
noch hinzukommt, ist undenkbar. Wer die Figur lediglich als
Produkt einer konstruktiven Bewegung auffasst, wird auch von
der Form das gleiche behaupten, aber die Beziehung von Form
und Inhalt und der Begriff des Inhalts entzieht sich jeder Ab-
leitung aus der Bewegung,
Insbesondere gilt dies von dem dynamischen Inhalt, der die
rein formalen Bewegungsgesetze in der Natur erfüllt, und durch den
die blosse räumliche Gestalt zur Materie, die aus der Bewegung
abgesetzte und zu einem Ganzen abgeschlossene Form zur Sub-
stanz werden soll. Durch diese vermeintliche Ableitung der
materiellen Pseudosubstanz wird aber der walire Substanzbegriff
noch gar nicht einmal berührt. Nicht das wandelbar Produzierte
kann Substanz im eigentlichen Sinne heissen, sondern nur das
unwandelbare Urprincip und Subjekt des Froduzierens, Wenn
dieses aber die Bewegung ist» so müsste entweder die Bewegu;
selbst als Substanz hingestellt oder der ganze Substanzbegriff
eine unwahre, illusorische Kategorie bekämpft werden, Trea^
delenburg tliut keines von beiden, sondern lässt die Substanz
gelten» aber nur als Produkt der Bewegung.
Die Kategorie des Zweckes soll ebenfalls aus der Bewegung
folgen, genauer aus der bewusst beabsichtigten » idealen Bewegung.
Da scheint es aber doch auf der Hand zu liegen, dass es nicht
die Bewegung ist, aus der die Kategorie des Zweckes abgeleitet
wird, sondern die bewusste Absicht des konstruierenden Subjekts,
welches die konstruktive Bewegung nur als Mittel zur Verwirk-
lichung seiner Absicht benutzt. LTberall da, wo die Bewegung'^J
nicht im Dienste einer bewussten Absicht steht, müsste demnach^^
kein Grund vorliegen, ihr eine teleologische Bedeutung zuzu-
schreiben; dies wird aber von Trendelenburg übersehen. Er tritt
Trendelenbujg*
393
^wa^ für die bewusstlos wirkenden Naturz wecke ein, wenn auch
noch nicht im g-esamten Weltprozess, so dcxrh in der organischen
Natur, und erkennt Ira Zweck den Wendepunkt der Weltansicht;
aber er denkt nicht daran, dass der bewusstlos wirkende Zweck
ebensowenig aus einer bewusst absichtHchen Bewegung, wne aus
einer bewusstlos unabsichtlichen Bewegung abzuleiten ist. —
So schwankt der Trendelen burgsche Begfriff der Bewegung
zwischen einer rein phorononiischen, einer dynamischen und einer
teleologischen Bedeutung. Trendelenburg weiss, dass eigent-
lich nur die phoronomische, rein formale Bedeutung dem Begriffe
gemäss ist, die sich in dem Reiche der reinen, abstrakten, mathe-
matischen Form erschöpft; aber er strebt von dieser ersten Stufe
hinaus zunächst zu der zweiten des materiellen, substantiellen
Daseins, in welcher das Mathematische sich dynamisch erfüllt,
von dieser zu der dritten Stufe des die Bewegung teleologisch
bestimmentien Gedankens, und von dieser weiter zu einer vierten
des mit dem Zweckgedanken sich eins wissenden ethischen Sub-
jekts oder der Person HchkeiL Nicht daraus ist ihm ein Vorwurf
zu machen, dass er über den abstrakt formalen Begriff der Be-
wegung zu höheren Stufen hinausstrebt, sondern daraus, dass
er beim Fortgang zu jeder nächsthöheren Stufe die Aufnahme
der neu hinzukommenden Gedankenelemente nicht bemerkt und
sich dem Glauben hingiebt, es sei immer nur das Frincip der
Bewegung, was sich aus eigener Kraft so von Stufe zu Stufe
steigert Er gleicht darin noch ganz den von ihm bekämpften
spekulativen Dialektikern, die auch den Gedankengehalt des
dialektischen Fortschritts von aussen aufnehmen und dabei sich
einbilden, ihn aus der niederen Begriffsstufe selbst entwickelt
zu haben,
Trendelenburg hält es endlich für folgerecht, zu einer fünften
und höchsten Stufe, nämlich zu der des Unbedingten oder Abso-
luten aufzusteigen; aber er folgt auch hier wieder den von ihm be-
kämpften Dialektikern darin, dass er die Kategorien ihrer Rela-
tivität berauben, in ihrer Begrenzung aufheben und verabsolu-
tieren zu müssen glaubt, um sie auf das Absolute anwendbar zu
machen (vergl. Trendelen bürg, Historische Beiträge zur Philo-
sophie^ Bd. I, S. 373—374). Aus Trendelenburgs Grundprincip ist
niemals zu einem anderen Unbedingten zu gelangen, als das
Grundprincip selbst besaget. Die Bewegung selbst oder die ewige
3Q4
Ulrici.
Urthätigkeit ist bei ihm nicht nur die Substanz und das teleo-
logische Subjekt, sondern auch die sittliche Persönlichkeit und
das Absolute, und sie kann sich nicht aus eigener MachlvoD-
kommenheit zu einem Absoluten erheben, das mehr oder etwas
Besseres wäre als sie selbst. Indem aber Trendclenburg einmal
annimmt, dass die Bewegung oder Urthätigkeit sich von selbst
zum Absoluten erhebt, nimmt er auch weiter an, dass das Abso-
lute auch die vorher von der Bewegung durchlaufenen Stufen in
sich konserviert, also nicht nur teleologisches Subjekt, sondern
auch sittliche Persönlichkeit ist.
Durch den Nachweis einer objektiven Teleologie oder durch
aine »organische Weltanschauung« glaubt Trendelenburg mit
Recht den physikotheologischen oder teleologischen Beweis als
wieder in Kraft gesetzt ansehen zu dürfen. Die Übertragung eines
unbewussten Bildungstriebes oder plastischen Lebensprincips auf
das Absolute lehnt er als eine ungereimte Analogie ab, xäa schliess-
lich der Bildungstrieb doch auf den richtunggebenden freien Ge-
danken zurückweist. Damit scheint üim die Bewusstheit des
Absoluten als Zwecksubjekts gesichert. Die Schwierigkeit, dass
auch im Absoluten erst in der Entzweiung oder im Gegensätze
eine Zweckthätigkeit möglich wird, erkennt er an, und sucht sie
durch das ethische Motiv der freien Liebe in Gott zu lösen, das
sich zur Weisheit als zweites hinzugesellt , wie das Schaffen zum
Erkennen. So w^ird das Absolute zur absoluten Persönlichkeit
im Sinne des moralischen Gottesbeweises, Trendelenburg ver-
kennt zwar nicht »die Schwierigkeit, den endlichen Begriff der
Person so umzubilden, dass er dem Absoluten gemäss wird«;
aber anstatt die Berechtigung dieser Übertragung zu untersuchen,
spricht er den menschlichen Verstand mit seiner Endlichkeit und
mit dem Hinweis auf eine ästhetische Weltbetrachtung zur Ruhe
und mündet bei dem Satz: nesciendo deus scitur, —
Ulrici (1806—1884) knüpft in seiner Kategorien lehre an
Hegel, Weisse, L H. Fichte und Trendelenburg an; in seiner
Naturphilosophie und Psychologie stützt er sich auf L H. Fichtes
Anthropologie und Lotzes Mikrokosmos. In seiner Gotteslehre
sucht er aus seiner Kategorienlehre, Naturphilosophie und Psycho-
logie das Facit zu ziehen. Seine Polemik richtet sich in seinen
früheren Schriften hauptsächlich gegen Hegels Dialektik und
einseitigen Idealismus, in seinen späteren Schriften Vorzugs-
Ülrid,
395
weise g^eg-en den Materialismus und dessen mechanistische Welt-
anschauung.
In methodologischer Hinsicht vertritt er in metaphysischen
Fragen den Standpunkt eines »wissenschaftlichen Glaubens^ der
auf einem objektiven Übergewicht der Gründe beruht Apodik-
tische Gewissheit ist für eine Behauptung nur da zu erlangen,
wo es als undenkbar nachgewiesen werden kann, dass die Sache
sich anders verhalte, d, h. durch einen indirekten Bew^eis, der alle
möglichen anderen Fälle überschaut und jeden von ihnen als
logisch unmöglich darthut. Ein solcher Beweis ist aber bei den
meisten Fragen der Metaphysik nicht zu erbringen, teils weil
man nicht sicher ist. ob man alle möglichen Fälle lückenlos über-
schaut, teils weil sich nicht immer die Unmöglichkeit der anderen
Fälle darthun lässt. Wo Ulrici einen solchen Beweis geführt zu
haben glaubt, z. B. für die unterscheidende Thätigkeit als Ur-
und Grundkategorie, da hat er sich getäuscht.
In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist Ulrici ebenso wie
Trendelenburg, Schleiermacher und Schelling in seiner positiven
Philosophie transcen dentaler Realist. Denknotwendig ist sowohl
die idealistische Ansicht, dass unser Wissen und Erkennen Selbst-
thätigkeit ist, als auch die realistische, dass es durch Einwirkung
von aussen her bedingt ist. Das Denken kann sich nicht er-
fassen ohne ein nicht denkendes (materielles) Sein sich gegenüber-
zustellen, und es muss, um sich als beschränkt und bedingt zu
erfassen, ein es Beschränkendes und ein Nichtbedingtes, also andere
Ichs, die nicht Ich sind, und ein Absolutes sich voraussetzen.
Diese zunächst negativen Bestimmungen erhalten aber ihre posi-
tive Ergänzung erst durch die Kausalität, die sie auf das Ich
ausüben. Freilich entspricht meine Vorstellung von dem jenseits
meines ßewusstseins Seienden diesem Seienden nur, ist ihm aber
nicht gleich. So sind die idealistische und realistische Ansicht
auf einander angewiesen; jede kommt, einseitig durchgeführt, an
einen Punkt, wo sie die andere zu ihrer Ergänzung heran-
ziehen muss, —
Das Denken ist einerseits produktive Thätigkeit. andrerseits
von allen anderen Arten der produktiven Thätigkeit dadurch unter-
schieden, dass es unterscheidende Thätigkeit ist. Aus der unter-
scheidenden Thätigkeit will Ulrici einerseits alle Kategorien,
andrerseits das ßewusstsein und Selbstbewusstsein ableiten. Ge-
39^
ITIrid.
wiss hat er darin recht, dass ein inhaltloses Denken kein Denkeo
ist, imd dass das Denken einen wirklichen Inhalt nur durch eine
inoere Mannigfaltigkeit und durch eine spezifische Bestimmtheit
jedes dieser Mannigfaltigen gewinnen kann. Auch das ist zuzü-
geben» dass das reflektierende Denken, wenn es sich mit diesem
mannigfaltig-en Inhalt beschäftigt, seine Glieder aus ihrer ge-
gebenen Einheit heraustrennt, einander gegenüberstellt, mit einan-
der vergleicht und auf einander bezieht» zum unterscheidenden
Denken werden muss und Unterschiede festzustellen genötigt ist
Aber daraus folgt doch, dass vor dem Zustandekommen der
Unterscheidung zunächst der mannigfaltige Inhalt als ein spezifisch
bestimmter durch die produktive Thätigkeit gegeben sein muss, dass
alsdann vor Eintritt der unterscheidenden Thätigkeit die trennende,
vergleichende und beziehende Thätigkeit sich entfalten muss, als
deren Resultat erst die Unterscheidung auftreten kann, und dass
endlich die unterscheidende Thätigkeit nur da zustande kommen
kann, wo eine diskursive Reflexion, die den Blickpunkt der Auf-
merksamkeit von einem zum andern wendet, und eine abstrakte
Betrachtungsweise, die die Glieder aus der Einheit des Ganzen
herauslöst, möglich sind. Ulrici fasst unter Hmterscheidender
Thätigkeit* zwei ganz verschiedene Begrifi"e zusammen, die ab-
strakt diskursive Reflexion, die nachträglich an den fertigen Inhalt
herankommt und über ihn nachdenkt, und die produktive Thätig-
keit, welche den mannigfaltigen Inhalt der Vorstellung in seiner
spezifischen Bestimmtheit setzt. Aber nur die erstere verdient
diese Bezeichnung, die letztere nicht; denn sie liefert für die
eventuell hinzukommende unterscheidende Thätigkeit nur die
fundamenta relationis, aber nicht die Relationen selbst, welche die
Reflexion erst herzuzubringen hat. Wie Trendelenburg der Be-
wegungsanschauung die reale Bewegung unterschiebt und mit
produktiver Thätigkeit gleichsetzt, so schiebt Ulrici der unter-
scheidenden Thätigkeit die bestimmende Thätigkeit unter und
identifiziert diese mit hervorbringender Kraft.
Die Kategorien der Einheit, Vielheit und Beziehung müssen
jedenfalls der Kategorie der Verschiedenheit vorausgesetzt werden,
um die unterscheidende Thätigkeit im eigentlichen Sinne des
Wortes verständlich zumachen; aber die unterscheidende Thätig-
keit im uneigentlichen Sinne des Wortes, d. h. die bestimmende
Thätigkeit beim Produzieren eines einheitlichen und doch in sich
Ulriö.
397
mannigfaltigen Inhalts* muss freilich wiederum dem Trennen, Be-
rielien und Vergleichen vorausgehen, dessen Ergebnis die Unter-
scheidung ist. Wenn dann weiterhin von Ulrici ebenso wie von
Trendelenburg der produktiven, bestimmenden ITiätigkeit der
Reihe nach alle kategorialen Bestimmtheiten beigelegt werden,
so w^ird hier der Schein erregt, als ob sie aus der unterscheidenden
Thätigkeit, w^ie dort aus der Bewegung, abgeleitet wären. Aber
sie sind nicht einmal aus der produktiven Thätigkeit wirklich ab-
geleitet, geschweige denn aus der unterscheidenden Thätigkeit,
die mit jener unrechtmässig identifiziert wird. Wenn die hervor-
bringende Thätigkeit eine unbewusste. konkret intuitive, positiv
bestimmende Thätigkeit ist, in der weder diskursive Reflexion,
noch Abstraktion, noch Negation möglich ist, dann ist auch die
unterscheidende Thätigkeit in ihr unmöglich. Letztere bleibt als-
dann allein dem subjektiven, bewusstcn Nachdenken des Menschen
Ober das unbewusst Gesetzte vorbehalten.
Nicht besser als mit der Ableitung der Kategorien steht es
mit der Ableitung der Denkgesetze und mit der des Bewusstseins
auft der unterscheidenden Thätigkeit Indem die produzierende
Thätigkeit die innere Mannigfaltigkeit des Produzierten von
einander unterscheidet, soll das Bewusstsein von derselben ent-
stehen; indem sie femer das ganze Produkt und Jeden Teil des-
selben von sich als der produzierenden Thätigkeit unterscheidet,
soll das Bewusstsein ihrer selbst im Gegensatze zum Produkt,
oder das Selbstbewusstsein entstehen. Was so erklärt werden
soll, ist aber nicht das einfache, unmittelbare Bewusstsein, sondern
nur das reflektierte, vermittelte Bewusstsein. Das unmittelbare
Bewusstsein wird vielmehr von Ulrici als anregender Reiz für
die Entfaltung einer unterscheidenden Thätigkeit vorausgesetzt
Es umspannt nach ihm den ganzen Umfang des der Perzeption ge-
gebenen Bewusstseinsinhalts, Schmerz- und Lust-Gefühle, Triebe,
Strebungen und Begehrungen, Sinnesempfindungen, Wahrneh-
mungen und Erinnerungen, ja sogar das unbestimmte Gefühl
des Unterschieds dieser Perzeptionen ohne reflektiertes Wissen
von der Bestimmtheit dieser Verschiedenheit (Compendium der
Logik, S. 18, 25, 27). Die Tiere sollen über das blosse Gefühl
des Unterschiedes, d. h. über die Perzeption, nicht hinauskommen
und darum nach Ansicht aller besonnenen Forscher auch kein
Bewusstsein habetL Wenn so das unmittelbare Bewusstsein einer-
39»
Ulrid,
seits und die Kategorialfunktionen andererseits vorausgesetzt
werden, so ist es freilich nicht schwer, das reflektierte Bewusstsein
abzuleiten; aber das, worum es sich handelt, ist gerade die Er-
klärung des unmittelbaren Bewusstseins der Perzeption, und auf
diese verzichtet Ulrici gänzlich. —
Was Ulrici in kurzer und zusammenhängender Darlegung
über das Wesen und die Bedeutung der Kategorien sagt (Comp,,
S. 49 — 63), ist das Beste, was die Litteratur bis dabin über diesen
Gegenstand aufzuweisen hat, und giebt eine Zusammenfassung
dessen, was sich aus der neueren Entwickelung der Kategorien-
lehre als bleibendes Ergebnis herausgestellt hat. Die Kategorien
sind leitende Gesichtspunkte für die Denkthätigkeit im Fall ihres
Eintretens, tertia comparationis oder gemeinsame Beziehungspunkte
für die beziehende Thätigkeit. So z. B, vergleichen wir nicht die
Grösse eines Dinges mit der Qualität eines anderen, sondern mit
seiner Grösse. Die Kategorien sind also rein formale Gesichts-
punkte; d. h. sie sagen nichts aus über die bestimmte Grösse
oder Qualität eines Dinges, sondern nur, dass auf dieses Ding
wie auf alle übrigen der gemeinsame Gesichtspunkt der Grrösse
oder Qualität anwendbar seL Insofern bilden sie nicht sowohl
bestinunte Aussagen oder Prädikamente, sondern vielmehr blosse
modi praedicandi. Jeder solcher Gesichtspunkt ist von allen an-
deren Gesichtspunkten verschieden, z. B. Quantität von Qualität,
umfasst aber alle unter ihn gehörigen Bestimmtheiten, wie das
Allgemeine das Besondere und Einzelne umfasst
Insofern die Kategorien als allgemeine modi praedicandi be-
griflFen werden, werden sie als BegrifiFe aufgefasst; an sich aber
sind sie nicht Begriffe, sondern Normen der Denkthätigkeit. Sie
werden erst als Begriffe für das Bewusstsein entwickelt, insofern
dieses auf die Normen oder Gesichtspunkte seiner Denkthätigkeit
reflektiert und sie als allgemeine, d. h. vielen Denkhandlungen ge*
meinsame, sich vergegenständlicht. Nicht als Begriffe sind sie
uns angeboren — denn als Begriffe müssen wir sie erst mühsam
aus unseren Denkhandlungen und deren Ergebnissen entwickeln —
wohl aber als Normen unserer Denktliätigkeit, welche wir
anzuwenden gar nicht umhin können. Nur als Normen sind sie
allem unserra Denken in ursprünglicher unbewusster und apriori-
scher Weise immanent; bewiisst werden sie uns erst hinterdrein
als Begriffe, wenn wir sie durch reflektierende Abstraktionsthätig-
Ulrici.
399
ceit als das Gemeinsame aus unseren verschiedenen Denkhand-
lungert herausgeschält haben.
Sowenig die Kategorien in unserem Geiste ein Ansichsein
haben, welches der Denkthätigkeit voranginge, ebensowenig kann
ihnen ein solches im ontologischen oder metaphysischen Sinne
zugeschrieben werden, denn das wäre eine unstatthafte Hyposta-
sierung dieser leeren Formen. Auch dem absoluten Geiste dürfen
sie nicht als präexistente Formen oder bereit liegende Schubfächer
zugeschrieben werden, sondern höchstens als Normen oder formale
Gesichtspunkte einer etwaigen logischen Bethätigung, Erst in
und an und mit der Funktion können sie als Formen gesetzt
werden.
Der Wert dieser Darlegungen wird nur dadurch beeinträch-
tlgt, dass Ulrici unter ^unbewusst« nur die Verneinung des
reflektierenden Bew^usstseins. aber nicht die des Bevvusstseins
überhaupt versteht, Da er die Kategorienlehre unter dem Titel
»Logik« behandelt und ein Buch T>zur Benutzung für Vorträge
auf Universitäten und Gymnasien < liefern will, so nimmt er nach
Hegels Vorgang auch die subjektive Logik wieder mit herein,
aber nicht bloss nach ihren logischen Formen, sondern auch als
Kunstlehre des Denkens. Weisse und Trendelenburg folgt er
darin, dass er die Anschauungsformen wieder in die Kategorien-
lehre mit hereinnimmt. In seiner Einteilung schliesst er sich am
nächsten an L H, Fichte an, —
Diese Abhängigkeit von I. H. Fichte zeigt sich gleich zu
Anfang darin, dass er mit primären oder Urkategorien beginnt
und diese von den Qualitätskategorien abtrennt. Aber während
Fichte sie nur als erste Gruppe in der Sphäre des Seins behandelt,
scheidet Ulrici sie ganz und gar aus den drei Hauptabteilungen
der Hegeischen Logik aus und stellt sie als besondere Gruppe der
Gesamtheit aller übrigen Kategorien voran. Er behandelt gleich
Fichte als solche Urkategorien die erste Triade Hegels (Sein,
Werden und Dasein), schaltet aber zwischen Sein und Werden
noch die Kategorien der Thätigkeit, Veränderung und Bewegung
ein, etwa in dem Sinne, den bei Trendelenburg die Kategorie
der Bewegung umspannt Dieser ganzen Gruppe von primären
Urkategorien hängt er dann die Kategorien der Anschauung:
Raum und Zeit, als eine Art von Zwischenkategorien an, die
den Übergang von den primären Urkategorien zu den sekundären
400
UMd.
konkreten Kategorien vermitteln. Für die Gruppe der letzteren
behält er dann die Hegeische DreiteÜnng in die Sphären des
Seins, des Wesens und des Begriffes bei, nennt sie aber Be^
schaffenheits-, Wesenheits- und Ordoungskategorien* Die Be-
schaffenheitskategorien gliedern sich wie bei Hegel in Qualität,
Quantität und Mass» die Wesenheitskategorien in die der Sub-
stantialität, Kausalität und Modalität, die Ordnungskategorien
in zweckvolles Gesetz, BegriflF und Idee,
Den Übergang von den Beschaffenheitskategorien zu den
Wesenheitskategorien bildet das Ding» den Übergang von diesen
zu den Ordnungskategorien der Zweck» der unter den Wesen-
heitskategorien als das der Endursache immanente Thätigkeitsziel,
unter den Ordnungskategorien als ordnendes Gesetz erscheint
Unter Idee versteht Ulrici die normative Harmonie des besonderen
Individualzwecks und des allgemeinen Gattungsbegriffs, Die
Wesenheitskategorien nennt er auch Verhältniskategorien, weil sie
reciproke Begriffsglieder, oder, wie er sagt: »Gegensätze« aus sich
heraussetzen, und weil er unter * Verhältnis* die reciproke Beziehung
zweier Glieder versteht. Deshalb werden alle solche reciproken
Begriffspaare, w^ie z. B, Ganzes und Teil, Inneres und Äusseres»
Inhalt und Form» nicht, wie man denken sollte, den Ordnungs-
kategorien, sondern, wie bei Hegel und seiner Schule und bei
L H. Fichte, den Wesenheits- oder Verhältniskategorien zuge-
rechnet In der Lehre vom Urteil verwirft er die Kantsche Ein-
teilung bis auf den Unterscliied der allgemeinen und ein2elnen
Urteile. Mit diesem Unterschied der AI Ige mein Subsumtion und
Einzelsubsumtion kreuzt sich bei ihm ein zweiter Unterschied,
nämUch der der Totalsubsumtion und Teilsubsumtion, der auf
dem Unterschiede der Gattungsbegriffe und Beschaffenheitsbegriffe
beruht. Diese Kreuzung ergiebt dann vier Arten von Urteilen.
Urteil und Schluss als bloss j* ordnende« Denkthätigkeit hinzu-
stellen, lässt ausser acht, dass sie bereits eine nach Massgabe der
Denkgesetze bestimmende, oder logisch determinierende Thätig*
keit bilden; für eine solche hat aber Ulrici keine Rubrik.
Wie Trendelenburg kennt er die Substanz nur als beschränkte,
singulare, und betrachtet sie gleich jenem als Produkt einer
Thätigkeit. Selbst die göttliche absolute Substanz soll nur als
zusammenfassende Thätigkeit Substanz sein können, und auch die«
nur, sofern sie sich von anderen bedingten Substanzen unter-
ülrid.
401
scheidet. Das stimmt mit Lotzes Ansicht überein, nach welcher
die Substantialität nur im Fürsichsein beruhen soll. Hinter der
Thätigkeit nimmt Ulrici ein ruhendes Vermögen an, das sich
nur bedingungsweise als aktuelle Energie äussert. Somit gilt
ihm die Substanz bloss als ein sekundäres Produkt des Ver-
mögens durch Vermittelung der eventuell aus dem Vermögen
hervorgehenden Thätigkeit, nicht als die Subsistenz des Ver-
mögens selbst oder als das Subjekt, das bei der Aktualisierung
des Vermögens sich bethätigt. — Grund und Ursache unter-
scheidet er so, dass » Grund '^ eine Thätigkeit heisst, die in ihrem
Produkt aufgeht, »Ursache-^ eine solche, die in ihrem Produkt
nicht aufgeht, sondern neben ihm fortbestehen bleibt. Er re-
flektiert also nur auf den Unterschied, dass Grund etwas der Er-
scheinung Immanentes, Ursache etwas ihr Transcendentes ist,
aber nicht auf den andern, dass der Grund ein unzeitliches Wesen,
die Ursache eine zeitliche Veränderung ist
Aus dem Umstand, dass eine Thätigkeit, die hinreichend be-
stimmt ist, um etwas auszurichten, gleich der Bewegung eine be-
stimmte Richtung haben, oder zu einem bestimmten Ziel hinge-
wendet sein muss, schöpft Ulrici ebenso wie Trendelenburg das
vermeintliche Recht, den terminus ad quem der Thätigkeit als
»Zwecke zu bezeichnen. Beide fragen nicht danach, ob die
Thätigkeit nicht etwa im besonderen Falle eine solche ist, die
blind wirkend und teleologisch zufällig in der Verlängerung ihrer
einmal eingeschlagenen Richtung auf ein dort gerade befindliches
Objekt trifft (wie die Kugel eines ins Blaue abgefeuerten Gewehrs
einen Feldarbeiter treffen kann). Beide setzen vielmehr voraus,
dass schon die thatsächliche Erreichung des Ziels dazu ge-
nüge, um aus ihr die selbstthätige Zielstrebigkeit oder den teleo-
logischen Charakter der Thätigkeit zu folgern, Ulrici folgert
dann weiter aus der Zielstrebigkeit der 'Thätigkeit, dass diese
eine sich in sich selbst unterscheidende, also (nach seiner Er-
klärung der Bewusstseinsentstehung) eine mit Bewusstsein (und
sogar mit reflektiertem Bewusstsein) vorstellende sein müsse. —
In seiner Naturphilosophie wendet Ulrici grossen Fleiss an,
sich die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften anzueignen.
Indessen hat er mit diesem Bemühen erst in einem späteren
Lebensalter begonnen, so dass es ihm nicht mehr recht gelingen
woUte, sich in den Geist der naturwissenschaftlichen Denkweise
£• V. Hartm&ao. Attif^ew. Werke. Bd. XIL
26
402
tjlrict.
hineinzuversetzen. In seiner Theorie der Materie bemüht er sich,
die Kantsche Lehre so zu modifizieren, dass sie den Ansprüchen
der modernen Naturwissenschaft genügt, gelangt aber damit nicht
zum Ziele. Da er die actio in distans verwirft und der Kraft
einen punktuellen Siu innerhalb endlich grosser Raumelemente
von besonderer Gestalt (Atome) anweist» so kann auch er zu
einem eigentlichen Aufeinand erwirken der Atome nicht gelangen,
sondern niuss, ebenso wie Kant, dieses vermittelt denken durch
ein kontinuierliches, nicht atomistisch gebrochenes Medium, welches
die Wirkung eines Atoms auf das andere überträgt. Ein solches
Medium, dessen Wirkungsw^eise auf die Atome und dessen Ver-
mittlerrolle unverständlich bleibt» führt allemal zur Vorstellung
eines stetigen, den Raum durch sein blosses Dasein stetig er-
füllenden Fluidums, d* h. eines wenn auch noch so fein gedachten
Stoffes zurück. Durch seine Annahme wird also das lobenswerte
Bestreben, die Elementarkräftc der Materie atomistisch gegliedert
zu denken vergeblich gemacht. Verfehlt ist auch die Annahme,
dass in jedem Kraftcentrum mehrere Kräfte durch eine sie ver-
einigende Kraft verbunden seien, weil es dann wieder einer neuen
Kraft bedürfte, um diese vereinigende Kraft mit den vereinten
zu verbinden u. s. f. ins Unendliche. Unverträglich mit der natur-
wissenschaftlichen Anschauungsweise ist endlich seine Behaup-
tung» dass die Atomkräfte selbst während des Weltprozesses
veränderlich seien. (Vgl meine ^Ges. Stud u. Aufis.«, 5 Aufl.,
S. 529—541.)
Während Ulrici sich bemüht, die Materie bis zu einem ge-
wissen Grade zu entstofflichen, d, h. aus unstofFlichen Atom-
kräften aufzubauen, verfällt er bei der Seele gerade umgekehrt
in den alten Fehler des naiven Realismus, sie zu verstofFlichea
Er denkt sie als ein kontinuierliches ätherisches Fluidum, das
von einem Centrum aus den ganzen Leib gestaltend durchdringt
und im unterscheidenden ßewusstsein die eigentlich psychische
Thätigkeit entfaltet Ulricis Seele deckt sich ungefähr mit
L H. Fichtes Ätherleib; beide sind auf Grund dieser Ansichten
zu eifrigen Verfechtern des modernen Spiritismus geworden.
Während aber bei Fichte hinter dem Ätherleib noch das leibfireie
Vollbewusstsein steht, nähert Ulrici sich durch seine Identifikation
der Seele mit einem ätherischen Stoff bedenklich dem über-
sinnlichen Materialismus seines Freundes Wirth und dem Natura-
Ulrici.
403
lismus der naturphilosophischen SchuJe Schellings, Beim ge-
wöhnlichen Materialismus ist es der Stoff als die sinnlich gegebene
Substanz, was die Kräfte an sich hat; beim übersinnlichen Ma-
terialismus werden sowohl die Kraft als auch die Seele als Stoffe
gedacht, die sich bloss wegen ihrer Feinheit der sinnUcben Wahr-
nehmung entziehen, —
Aus dem ontologischen Beweise wird Gott als die mit dem
Urstoff zusammenfallende Naturkraft bestimmt» die aber nur die
Naturseite in ihm bildet. Aus dem kosmologischen Beweise wird
er als schöpferischer Urheber des Naturganzen und seiner ge-
' setzmässigen Ordnung, Harmonie und Zweckmässigkeit bestimmt.
Instinktive, unbewusste Thätigkeit lässt Ulrici nur als realisierende,
ausfuhrende Thätigkeit gelten, behauptet aber, dass die ideale
Norm dieser Thätigkeit immer von einem bewussten Verstände
gesetzt sein müsse, sei es von dem Verstände des ausführenden
Individuums selbst, sei es von dem seines Schöpfers, der ihm
diese Norm eingeprägt hat. Dies hängt damit zusammen, dass
Ulrici unter unbewusster Thätigkeit immer nur eine solche ohne
reflektiertes Bewusstsein versteht, die aber des unmittelbaren Be-
wusstseins darum doch nicht entbehrt.
Wenn das Setzen eines mannigfaltigen Inhalts ohne Bewusst-
sein überhaupt unmöglich ist. so muss auch Gott wenigstens die
spezifische Bestimmtheit der verschiedenen Kategorien mit Be-
wusstsein gesetzt haben. Aber da er dieser Kategorien bedarf,
um zu einem reflektierten Bewusstsein zu gelangen, so kann er
sie nur mit unmittelbarem Bewusstsein gesetzt haben. Dasselbe
ist aber fiir den mannigfaltigen Weltinhalt anzunehmen, auf den
er die Kategorien anwendet; denn wenn er nur durch Anwendung
der Kategorien auf einen bestimmten mannigfaltigen Weltinhalt
zum reflektierten Bewusstsein gelangen kann, so muss die Setzung
dieses Inhalts seinem reflektierten Bewusstsein vorhergehen. Das
Setzen des Systems der Kategorien als der möglichen Formen
fiir einen etwaigen konkreten Weltinhalt, und das Setzen des
letzteren oder der konkreten Idee der Welt reisst Ulrici willkür-
lich auseinander. Mit Recht verschmilzt er die ideale Setzung
der konkreten Weltidee mit ihrer Verwirklichimg durch den
schöpferischen Willen, aber mit Unrecht trennt er die Setzung
des idealen Weltinhalts von der Setzung ihrer logischen Formen
ab, da diese beiden, der idealen Thätigkeit angehörigen Seiten
26»
404
noch weit unauflöslicher mit einander zusammengehören, als die
ideale und die reale Seite der absoluten Thätigkeit
Diese Sonderung soll dazu dienen, das unmittelbare Bewusst-
sein Gottes, das er bei der Setzung der logischen Kategorial-
formen bethäügt, vermittelst dieser Setzung zum reflektierten
Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu erheben, um den Akt der
Schöpfung als einen selbstbcvvusst freien hinstellen zu können«
im Gegensatz zu der Setzung der Kategorien» die noch unwill-
kürlich und notwendig ist. Es ist aber ein ganz unmöglicher
Gedanke, dass Gott, der selbst nach Ulrici nur begreift, nicht
urteilt, an den inhaltlceren Formen der Kategorien sich vom
unmittelbaren zum reflektierten Bewusstsein und Selbstbewusst-
sein hindurcharbeiten, und dann erst aus diesem heraus den
idealen Inhalt zu den leeren Kategorialformen hinzufügen soll
Da die Setzung der logischen Formen und des idealen Inhalts
nur in einem und demselben Akt erfolgen kann, so muss ent-
weder die ganze (formale und inhaltUche, ideale und reale)
Schöpfung absolut unbewusst, oder mit unmittelbarem oder mit
reflektiertem Bewusstsein erfolgen; es kann aber nicht von einem
ersten und einem zweiten Gedanken in Gott vor dem ^Veltprozess,
nicht von der Unterscheidung einer bloss möglichen und einer
wirklichen Welt die Rede sein.
Es ist verfehlt, die Freiheit des göttlichen Entschlusses aus
seinem reflektierten Selbstbewusstsein abzuleiten; denn wenn Gott
nicht urteilt und nicht reflektiert, so giebt es gar kein reflek-
tiertes Bewusstsein und Selbstbewusstsein in ihm. Die Freiheit
in Gott kann nur das primum movens des ganzen innergöttlichen
Prozesses, also auch das Prius einer etwaigen Bewusstseinsent-
stehung in ihm sein. Bei dem beschränkten Individuum wissen
wir, was das unmittelbare, noch nicht durch die Reflexion hin-
durchgegangene Bewusstsein ist, nämlich die passive PerzeptioB
des idealen Inhalts, der unter dem Zwange einer transcendenteo
Kausalität in unwillkürlicher reaktiver Weise von ihm selbst vor-
bewusst und unbewusst gesetzt worden ist. Aber was im Abso
luten ein solches unmittelbares Bewusstsein sein könnte, wissen
wir nicht, da das Absolute nicht auf äusseren Zwang reagiert und
darum auch keinen Anlass hat, den vorbewusst und unbewusst
von ihm selbst aktiv gesetzten Inhalt noch einmal passiv zu
perzipieren. Wenn es aber weder zu einem reflektierten noch
LoUe.
405
m einem unmittelbaren Bewusstsein im Absoluten als solchen
kommen kann, so wird man wohl annehmen müssen, dass aus
dem idealen Geschehen im beschränkten Individuum nichts ande-
res auf das Absolute übertragen werden darf, als die sogar dem
unmittelbaren Bewusstsein vorhergehende, also absolut unbewusste
Setzung des idealen Inhalts. —
Lotze (1817— 1881) zeigt in seiner schriftstellerischen Thätig-
keit drei Perioden. Die Werke der ersten, bis 1852 reichenden
Periode hat er nicht wieder neu aufgelegt, sondern später ent-
weder völlig neu verfasst oder ihren Inhalt, so weit er ihn noch
aufrecht erhalten wollte, in andere Werke mit hinein verarbeitet
In seiner zweiten Periode, die bis 1868 reicht, legt er seinen
Standpunkt in abgerundeter halbpopulärer Fassung dar, in seiner
dritten erst gelangt er zu einer abschliessenden wissenschaftlichen
Behandlung, die für die Würdigung seiner Metaphysik allein
massgebend sein kann. Nur für seine Religionsphilosophie, Ethik
und Ästhetik bleibt man darauf angewiesen, die Schriften der
zweiten Periode und die nachgelassenen Diktathefte zu Grunde
zu legen, weil Lotze sein System der Philosophie nicht über den
zweiten Band hinausgeführt hat.
Lotze gehört nicht zu den Philosophen, welche tiefere philo-
sophiegeschichtliche Studien getrieben haben. Er lehnt sich an
die mündlich gehörten Vorlesungen seines Meisters Weisse an,
ohne sich in dessen Werke genauer zu versenken, und setzt sich
polemisch nur mit Herbart, dessen Einfluss ihm in Göttingen be-
sonders spürbar wurde, und mit L H. Fichte auseinander. Leibniz,
Lessing, Herder und Krause steht er näher als er selbst weiss,
weil er ihre Philosophie wenig oder gar nicht kennt. Seine
Stellungnahme zu Kant entspricht ganz derjenigen Weisses. Den
Naturalismus eines Teiles der Schellin gschen Schule verwirft er,
weil ihm als Sein gelte, was doch nur die Bedeutung einer {sub-
jektiv idealen) Erscheinung habe, nämlich die räumlich ausge-
dehnte, stoffliche Welt, und weil er das schöpferische Selbst-
bewusstsein zu einer unbewussten Vernunft abschwäche, die
zugleich der sich bildende Stoff selbst sein solle. Wo er gegen
den Pantheismus kämpft, hat er immer nur diesen Naturalismus,
aber niemals weder den abstrakten, noch den konkreten Monis-
mus im Sinne.
Vor der dialektischen Methode bezeugt er seine Hochachtung,
4o6
LoCze,
ohne sie sich anzueignen ; nur seine Dreigliederung erinnert nc
daran. In Hegel bekämpft er erstens die Ableitung alles Kon-
kreten aus Abstraktem, zweitens die Auflösung alles Geschehens
in logische Notwendigkeit, der gegenüber er Schellings und
Weisses Freiheitslehre als den höheren Standpunkt anerkennt,
drittens die Annahme einer unbewussten Zweckthäticfkeit. viertens
den kalten Intellektualismus und evolution istischen Formalismus,
der zu keiner gefiihls massigen Befriedigung bewusster Subjekte
führt, und fünftens die Überschätzung der Vernunft und des
Logischen, die niemals die nur zu erlebende Wirklichkeit zu er-
fassen vermögen (also den Mangel eines Realprincips),
Schopenhauer hat Lotze wohl erst in späteren Jahren ober-
flächlich kennen gelernt. Schellings nachgelassene Werke scheint
er gar nicht gelesen zu haben, Lotze räumt ein, dass der Opti-
mismus unbeweisbar, und dass die Existenz des Übels und des
Bösen das entscheidende, vollkommen unQberstei gliche
Hindernis für seine Weltanschauung sei. In der absoluten Hoch-
schätzung des eudämonologischen Wertmassstabes ist er mit
Schopenhauer ebenso einverstanden, wie in der Gegnerschaft gegen
den idealen teleologischen Evolutionismus Hegels; auch erkennt
er die unbefriedigende Beschaffenheit des irdischen Daseins an
und steht der Einsicht in die Antinomie von Entwickelungsfort-
schritt und Glückseligkeit nicht gar so fern. Aber Schopenhauers
eudämonologischen Pessimismus zu teilen, verbietet ihn der
hoffnongsfreudige Stimmungsoptimismus seines gläubigen Ge*
müts, der auf einen Ausgleich im Jenseits rechnet, die ewige Er-
haltung der Welt verlangt und die Frage als eine Verirrung
verwirft, warum überhaupt eine Welt sei und nicht lieber keine.
Gegen Herbart hat er eine lebhafte Antipathie, trotzdem er
den von ihm weit überschätzten Verdiensten dieses Denkers seine
Achtung nicht versagen will. Er bedient sich vielfach der Her*
bartschen Terminologie auch da, wo sie zu seinen eigenen Voraus-
setzungen nicht recht passt und übernimmt von ihm mancherlei,
z- B. die Sonderung der Welt des Seienden von der Welt der
Werte, den Begriff der Selbsterhaltung in der Psychologie uq
in der Lehre vom Absoluten, den intelligiblen Raum und
innerliche Spüren und Merken als Vorbedingung einer kausalen
Wirkung. Während Herbart die persönliche Fortdauer du
die Unzerstörbarkeit der Seelensubstanz für sichergestellt hä
LoUe.
407
die Gottheit aber dem Gebiet des Glaubens überlässt, verweist
Lotze die Unsterblichkeit der nur relativ festen, pseudosubstan-
tiellen Seelen ins Bereich des Glaubens, zieht aber Gott in die
Metaphysik herein, als das Unbedingte, das für die Beziehungen
der von ihm gesetzten Seelenwesen unentbehrlich ist In diesem
Sinne will Lotze nach Weisses Vorbild die höhere Synthese Hegels
und Herbarts geliefert haben, obwohl er anderwärts erklärt, sich
nichts von dem haben aneignen zu können, wodurch Herbarts
Realismus über den physikalischen hinausgeht. —
Lotze vereinigt die Fechnersche Atomenlehre und den Fichte-
Ulricischen Dynamismus zu einer höheren Synthese, nämlich zu
einem wirklich allgemeingültigen dynamischen Atomismus oder
atomistischen Dynamismus* Dagegen zieht er in seiner lehr-
reichen Polemik mit L H. Fichte in zwei anderen Punkten den
kürzeren: in seiner Bestreitung des kausalen Einflusses der Seele
auf den Leib und der unbewusst zweckmässigen Beschaffenheit
dieses Einflusses, Einen unmittelbaren influxus physicus des in
der Seele gefühlten Wollens auf den Organismus darf er Fichte
nicht zugeben, wenn er nicht damit das Wollen zugleich als das
Wirkende^ die Vorstellung Realisierende, also den Willen als das
eigentliche Realprincip anerkennen will» Dagegen sträubt er sich
aber mit allen Kräften, weil er dann das Fürsichsein oder Selbst-
bewusstsein als Realprincip aufgeben müsste» d. h. den ganzen
Halt seines theistischen Systems verlöre. Er kommt statt dessen
lieber auf einen Okkasionalisraus zurück, der von dem des Male-
branche nicht wesentlich verschieden ist.
Derselbe Grund ist es letzten Endes auch wohl, der ihn ver-
anlasst, sich gegen die Anerkennung einer unbewussten psychi-
schen Zweckthätigkeit so heftig zu sträuben, da die von ihm an-
gegebenen Gründe von seinem eigenen Standpunkt aus unhaltbar
sind. Dass eine unbewusst thätige Seele aufhören würde» ein
freier Faktor zu sein, kann nicht ins Gewicht fallen, weil Lotze
selbst die durchweg streng geordnete Gesetzlichkeit sowohl im
bewussten Seelenleben, als auch im vorbewussten Triebleben,
sowohl in der Entwickelungsgeschichte der Seele, als auch bei
ihrer Wechselwirkung mit dem Leibe betont. Auch damit kann
es Lotze nicht ernst sein, dass die Begriffe eines unbewussten
Triebes oder Willens und einer unbewusst zweckmässigen InteUek-
tualfunktion in sich widerspruchsvoll seien; denn er selbst be-
4oS
Lotse,
dient sich ihrer fortwährend und setzt sie voraus bei der An-
wendung der Denkformen und sittlichen Principien. bei der Pro-
duktion der Raumanschauung, beim Wirken der poetischen
Phantasie und vielen anderen Vorgängen,
Wie Lotze in diesen Punkten mit Unrecht gegen I.H.Fichte
streitet, so bekämpft er auch mit Unrecht Fechners Lehre von der
Pfianzenbeseeltheit , die ihm, der die fürsichseiende Innerlichkeit
und Beseeltheit aller Dinge zur Grundlage seiner Metaphysik
machen wollte, doch gerade recht sympathisch hätte sein müsseo^H
Daigegen verwirft er mit Recht Fechners Identifikation von Seele^
und Leib als eine Vorwegnähme letzter Ergebnisse» die, an den
Anfang gestellt, nur Verwirrung stiftet und die Untersuchung vor-
zeitig abschneidet.
Mit Weisse stimmt er nicht nur in der Grundanschauung
überein» sondern entlehnt von ihm auch vieles im Einzelnen,
z, B. die hohe Bedeutung, die er dem Fürsichsein beilegt, die
ganze Behandlung der Kausalität und Teleologie, die Ausdrücke
immanente und transeunte Wirkung. Aber indem er die Weisse-
schen Gedanken aus dem Zusammenhange ihrer dialektischen
Entwickelung herausnimmt, isoliert und popularisiert, büssen sie
vielfach von ihrer spekulativen Tiefe und Folgerichtigkeit ein,
Lotzes Metaphysik ist eine in mancher Hinsicht bis an die Grren*
zen der Trivialität gehende Verflachung der Weisseschen, und,^j
gerade diesem Umstände verdankt sie eine Verbreitung undl^l
einen Einfluss, wie sie Weisse versagt blieben. Diese Verflachung
tritt am deutlichsten zu Tage in der Reiigionsphilosophie.
Von Weisses Trinitätslehre bleibt bei Lotze nur ein matter
Nachhall übrig, die Dreiheit von Weltgesetz, gestaltendem Formen-
spiel und Endzweck, die aber mit dem Selbstbewusstsein und
der Persönlichkeit Gottes nichts mehr zu thun hat Lotze ist
ebenso entschiedener Unitarier, wie Weisse Trinitarier. Die Voran-
stellung des Reiches der ewigen Wahrheiten und Gesetze vor
die gestaltende Formenentfaltung bei Weisse bekämpft Lotze;
offenbar nur darum , weil er gar nicht verstanden hat, dass der
Inbegriff" der logischen F'ormen und Gesetze bei Weisse gar
nichts Aktuelles und Wirkliches, sondern bloss etwas Potentiell
und Mögliches bedeutet, das erst in der gestaltenden Entfaltunj
seine Aktualität an und mit dem intuitiven Inhalt gewinnt. Dai"
Übel und Böse lässt Lotze grundsätzlich unberücksichtigt, findet
LoUc,
409
alle Spekulationen darüber nutzlos, und gesteht, dass wir nicht
einmal die Richtung ahnen können, in welcher die Versöhnung
des Zwiespalts zwischen Gottes Güte und dem Dasein des Übels
zu suchen wäre. Deshalb muss er auch alle Versuche, Inhalt
und Wert der Erlösung durch Christum theoretisch festzustellen,
ergebnislos finden. Wie den Denkern des achtzehnten Jahrhun-
derts kommt es Lotze nur auf die drei Glaubensartikel: die Per-
sönlichkeit Gottes, die individuelle Unsterblichkeit und die Willens-
freiheit an ; wie jene hält er an dem Glauben fest, dass das Glück
aller Geschöpfe der alleinige Schöpfungszweck sei, dass dagegen
die geschichtliche Entwickelung ergebnislos bleibe. Ein solcher
eudämonistischer Theismus, der mit allen christlichen Central-
dogmen. mit der Erlösung von Übel und Sünde, mit der Idee
Christi und der Trinität so gar nichts anzufangen weiss, kann
heute höchstens noch für einen Reforrajuden oder einen rationa-
listischen Namen Christen religionsphilosophischen Wert haben. Es
ist ein Zeichen, wie bescheiden die Regierungen und die Theo-
logie am Ende dieses Jahrhunderts in ihren Ansprüchen an die
Universitätsphiiosophie geworden sind, wenn man es jetzt schon
als ein besonderes Glück preist, einen Lotzeaner zur Besetzung
eines offenstehenden Lehrstuhles zu finden. — -
Zum grossen Teil ist das Ansehen Lotzes dadurch bedingt,
dass er zwei naturwissenschaftliche Werke Über Pathologie (1842)
und Physiologie (1851) veröffentlicht hat, die bei den Natur-
forschern einen Achtungserfolg hatten. Später hat Lotze sie nicht
wieder aufgelegt und selbst von der »medizinischen Psychologie«
(1852) nur einen kleinen Teil ihres philosophischen Inhalts in die
zweite Metaphysik (1879) verarbeitet. Überhaupt hat er sich in
den letzten 2g Jahren seines Lebens nur noch auf philosophischem
Gebiete bethätigt, ohne die Fortschritte der Naturwissenschaften
zu verfolgen; insbesondere hat er die Umwälzung der Biologie
durch Darwin, Häckel u* s. w, als eine ihm unbequeme Zeit-
erscheinung ignoriert. Da nun Lotze selbst die Bemerkung macht,
»dass die grossen positiven Entdeckungen der exakten Physio-
logie eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa vier Jahren
haben«, so sind auch seine naturwissenschaftlichen Leistungen
völlig veraltet Gleichwohl verdankt er ihnen ein Ansehen, wie
kein anderer Philosoph vor ihm es in dem naturwissenschaftlichen
Zeitalter besessen hat, und es hat sich auf seine Doppelthätigkeit
4IO
Lotze.
die Annahme des Publikums gestützt, dass er zuerst die natur-
wissenschaftliche und philosophische Weltanschauung mit einander
versöhnt habe.
Daran ist nun soviel richtig, dass Lot^e unter allen Theisten
am besten mit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung ver-
traut ist, dass er das alleinige Recht der mechanistischen Er-
klärungsweise innerhalb des Bereiches der exakten Naturwissen-
schaften vertritt, dass er die physikalische Atomistik gegen den
verschwommenen naturphilosophischen Dynamismus verteidigt,
und dass er den Vitalismus sowohl in seiner älteren naturalisti*
sehen, als auch in der neueren psychologisch -individualistischen
Gestalt (I. H, Fichte) bekämpft. Aber Lotze vertritt selbst einen
entschiedenen Vitalismus in metaphysischer, universalistischer Ge-
stalt. Gott erweitert nach ihm durch seinen Beistand oder sein
Eingreifen in jedem Augenblick die Natur und Geschichte, so
dass durch diese höhere Gesetzlichkeit die niedere mechanische
Naturgesetzlichkeit beständig ergänzt wird. Ihm ist die ganze
materielle Welt mit der scheinbaren Unverwüstlichkeit ihrer Ge-
setze ein blosses Mittel für die Welt der geistigen Innerlichkeit,
nur der ephemere Ausdruck eines unendlich viel Höheren und
wird mit dem Untergang dieser Schöpfung verg^en. Darin Kai
Lotze als Philosoph ganz recht, und die Naturwissenschaft, die
sich gegen eine solche Auffassung sträubt» ist noch nicht reif zur
Versöhnung mit der Philosophie.
Aber Lotze sucht auch den Begriff des Wunders und durch
ihn die göttliche Freiheit zu retten, die er wiederum als Hinter-
grund der ersehnten menschlichen Willensfreiheit nicht entbehren
mag. Dadurch werden aber die freien Eingriffe Gottes in den
Lauf der Natur und Geschichte zu gesetzlosen, die ebensogut
gesetzwidrig wie gesetz massig ausfallen können. Das Gesetz
der Erhaltung der Kraft ersetzt Lotze durch ein etwas unklares
Gesetz der Äquivalenz verschiedenartiger Wirkungen. Die Ur-
atorae hält er nicht wie die Naturwissenschaft für gleichartig und
bloss durch räumliche Beziehungen verschieden, sondern be-
hauptet, dass sie ungleichartig sein müssen, um individuell ver-
schieden zu sein. Er lehrt, dass es von jeder Atomart nur ein
einziges Atom gebe, das bloss durch verschiedenartige Beziehungen
zu andersartigen Atomen den subjektiven Schein einer Vielheit
erwecke. Die Zahl der Atome und die Intensität eines jeden
Iu>t2e.
411
tiält er nicht für konstant, sondern für numerisch vermehrbar.
vemiinderbar und dynamisch teilbar. Das universelle Gesetz der
kleinsten Wirkung verwirft er, Gedächtnis und Bewusstsein hält
er für Leistungen der immateriellen Seele, die durch organische
Störungen wohl gehemmt werden können, aber nicht der positiven
Mitwirkung des Gehirns bedürfen. Indeterministische Willens-
freiheit behauptet er nicht nur für die Richtung des Entschlusses,
sondern auch für die Intensität des Wollens. Für die Gebets-
erhörung und die Transsubstantiation beim Abendmahl tritt er
ein, und die Erscheinung des auferstandenen Christus sucht er
etwa im Sinne des Spiritismus zu rechtfertigen.
Mit alledem sind philosophisch berechtigte Seiten der natur-
wissenschaftlichen Weltanschauung verletzt, und die Annahme,
dass Lotze sie mit der philosophischen Weltanschauung versöhnt
habe, als ein Irrtum aufgezeigt. —
In erkenntmstheoretischer Hinsicht ist sich Lotze des Zirkels
bewusst, der darin besteht, dass man beim Erkennen sowohl
metaphysische als auch erkenntnistheoretische Voraussetzungen
schon mitbringt und anwendet. Denn er weiss, dass die Denk-
formen und Denkgesetze unbewusst funktionieren, auch ohne dass
sie jemals zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden,
und dass wir durch dieses Funktionieren nur dann zu einer Er-
kenntnis gelangen können, wenn es eine Aussenwelt giebt, die
denselben Formen und Gesetzen unterworfen ist, so dass das
Denknotwendige zugleich das Seinsnotwendige ist. Er will
deshalb zunächst a priori bestimmen, wie Dinge, wenn sie exis-
tieren, auf einander wirken müssen, und daraus deduzieren,
wie ein Ding, wenn es Objekt für ein erkennendes Subjekt
^wird, auf dieses einw^irken muss. Er will also erst Metaphysik
priori treiben und dann erst die Erkenntnistheorie aus
den metaphysischen Resultaten deduzieren. Reinlich wird der
hierbei unvermeidliche Zirkel nur dann begangen, wenn die
aufgestellten metaphysischen Postulate fiir nicht mehr ge-
nommen werden als sie sind, nämlich für unentbehrliche Voraus-
setzungen, denen man sich versuchsweise wohl anvertrauen
darf, weil mit ihnen das Erkennen vielleicht möglich, ohne sie
gewiss unmöglich ist.
Lotze selbst vergisst aber bald wieder diesen provisorischen,
bloss probeweisen Charakter der erkenntnistheoretischen Postulate
und zieht sich auf das Selbstvertrauen der Vernunft zurück, auf
den unmotivierten Glauben an die Richtigkeit eines Denkens,
das sein eigenes Gebiet überschreitet. Er steht also principiell
noch mit mindestens einem Fusse in der positiven dogmatischen
Metaphysik, während er thatsächlich durchaus schwankend, über-
ängstlich und unsicher bis zur Haltlosigkeit auftritt. Gewiss ist
die Vorsicht und Umsicht zu loben, die stets auch die Gegen-
instanzen zu berücksichtigen bemüht ist; aber wer den Anspruch
erhebt, ein System zu bieten, der muss doch aus dem Abwägen
der Gründe und Gegengründe zuletzt zu ganz bestimmten Ergeb-
nissen gelangen, die nun als die relativ annehmbarsten und wahr-
scheinlichsten gelten. Wer wie Lotze in den wichtigsten Punkten
nicht einmal zu wahrscheinlichen Behauptungen gelangt, sondern
entweder alles problematisch lässt, oder zwischen verschiedenen
Möglichkeiten hin und her gezogen wird, der dient damit nicht
der positiven Erkenntnis, sondern der Skepsis. —
Lotze geht von der Herbartschen Behauptung aus, dass die
Substanz mit vielen Accidentien, das Ding mit vielen Eigen-
schaften einen Widerspruch enthalte. Er behauptet dann, dass
wir nur ein einziges Beispiel ein^ Wesens mit w^echselnden Zu-
ständen durch Anschauung kennen, nämlich das eigene Ich-
Daraus folgert er, dass nur dasjenige ausser uns existieren könne,
was wir durch innere Erfahrung als die Eigentümlichkeit unserer
bewusstgeistigen Natur kennen, dass es Dinge oder Substanzen
nur geben könne als bewusstgeistige, für sich seiende Wesen,
welche die Vielheit wechselnder Gefühle und Vorstellungen als
die ihrigen wissen. Es wäre gegen den guten Geschmack, das
Dasein anderer Geister zu leugnen ; aber es ist keineswegs absurd,
das Dasein ungeistiger, bewusstloser Dinge zu leugnen. Wenn
man den Dingen Dasein zuschreiben will, so muss man sie als Ichs
denken, die die sinnlichen Qualitäten (Licht, Farbe, Ton und
Duft), welche sie in anderen Ichs erregen, innerlich auch selbst em-
pfinden. So ergiebt sich der Schluss: Substantialität ist Fürsichsein.
Lotze selbst erschüttert nun aber jedes einzelne Glied dieser
Argumentation durch seine Darlegungen. Die Einheit des Wesens
und die Mannigfaltigkeit der Thätigkeiten . in denen es seine
Wesenheit äussert, stehen nicht nur nicht im Widerspruch, sondern
fordern sich gegenseitig. Ständen sie wirklich im Widerspruch mit
einander, so wäre dieser Widerspruch im Selbstbewusstsein nicht
Loue.
413
gelöst, sondern nur noch unerträglicher. Alles Sein ist in Bege-
hungen Stehen, und die Wirklichkeit ist eben dieses Gewölbe auf
einander bezogener Dinge, Jedes Ding ist ein Gewölbe von Be-
ziehungen zwischen Atomen und jedes Atom ein immaterielles
Kraftwesen mit vielen wechselnden Kraftäusserungen. Inwieweit
das Ding als Ganzes eine Bewusstseinseinheit hat, bleibt fraglich,
und aus der Innerlichkeit der Atome, jenem »Staub des Greister-
reiches«, ist die substantielle Einheit des Dinges nicht zu erklären.
Die Moleküle eines empfindungleitenden Sinnesnerven können
nur als materielle durch ihre mechanischen äusserlichen Wirkungen
den Verkehr zwischen bewussten Geistern vermitteln, nicht durch
ihre eigene etwaige Innerlichkeit
So wenig wie die Einheit Gottes durch die Allgegenwart
seiner Wirksamkeit aufgehoben wird, so wenig die Einheit der
Seele durch die Vielheit ihrer örtlichen Angriffspunkte im Leibe,
Die Annahme Herbarts, dass es singulare Substanzen gebe» ist
unhaltbar; die Singularität der Substanz ist ein blosser Schein,
der aus der Gesetzmässigkeit der Veränderung in der Thätigkeit
entspringt Auch die Seele ist kein abgesprengtes Körnchen der
allgemeinen Substanz, sondern eine relativ konstante Bethätigung
der Einen absoluten Substanz, Danach sollte man meinen, dass
die Bewusstseinseinheit, welche aus der phänomenalen Pseudo-
Substanz der Seele als ihrer inneren Widerspiegelung entspringt,
erst recht eine phänomenale Pseudosubstanz in zweiter Potenz
sein müsse, dass also das Fürsichsein am allerwenigsten Substanz
sein könne. Diese Folgerung wird aber von Lotze nicht gezogen;
sowohl den selbst beseitigten Widerspruch im Herbartschen Ding-
begriff, als auch die selbst aufgelöste Substantialität des Fürsich-
seins, der singulären Seele, behandelt er immer wieder als noch
zu Recht bestehend, und die letztere als die einzig mögliche Lö-
sung der in dem ersteren gestellten Aufgabe. —
Unter Idee versteht Lotze die essentia, den Seinsinhalt, das
Was des Dinges, einen in sich gegliederten Begriff, der erst von
uns zum gedachten Gedanken eines Denkenden gemacht wird.
Da bereits vorher das Ding als relativ konstante Aktion der
absoluten Substanz bestimmt war, so handelt es sich nunmehr
darum, den Inhalt dieser Aktion näher zu bestimmen. Dies ge-
schieht durch das Gesetz, das nicht eine Über die Idee hinaus-
reichende Macht ist, sondern mit der Idee durchaus zusammen-
4 »4
Lotze,
fällt Das reale Ding ist nur das verwirklichte individuelle Gesetz
seines Verhaltens, das immer wirklich gewesene Gesetz als sich
vollziehende Thätigkeit Wie die Idee oder das Gesetz in wir-
kungsfähiger Selbständigkeit gesetzt wird, ist unbegreiflich; denn
die wirklichen Dinge sind mehr als Gedanke, Idee. Vernunft-
Gedankeninhalte thun einander nichts, auch wenn sie verschiedeo
oder entgegengesetzt sind; die Dinge dagegen stören und wehren
sich. Diese Streitfähigkeit und Werk thätigkeit haben sie nicht
von der Idee ihres Wesens, welche sie durch dieselbe verteidigen.
Es fragt sich also, was die geheime Springfeder sei, die dem
Wesen ihres Seins diese Macht und damit die Realität verleiht;
kurz, es fragt sich, was das Realprincip neben dem Ideal-
princip sei.
Das Realprincip liegt weder in einem Stoff noch in einer
ein- für allemaligen, unzurücknehmbaren Setzung, die dem Dinge
höchstens einen starren, trägen Stoff verleihen könnte, aber nicht
die lebendige Wirklichkeit des Wirkens und Leidens. Als stetige
Setzung der realen Beziehungen der Dinge gedacht, fällt die abso-
lute Setzung mit dem stetigen Schöpferwillen der absoluten Sub-
stanz zusammen, Realprincip ist die Selbstverwnrklichungsmacht
des Gesetzes, die der Idee sich annimmt und sie zu realisieren
strebt. Wie etwas leidend nur im Gefühl ist, so ist es thätig nur
im Wollen, in der Energie und Intensität des Strebens: denn
Thätigkeit ist Willensäusserung. Der Träger der Kraft oder
Energie ist ein und dasselbe Subjekt mit dem Subjekte, das ihre
Idee hat oder denkt. Die Dinge sind weder inhaltlose Wirklich-
keit noch unwirkliche Idee, sondern Kräfte und Ideen in einem,
und keine ihrer beiden untrennbaren Seiten geht der anderen
voran. Damit ist das Realprincip neben der Idee als der Wille
bestimmt, aber das passt nicht zu Lotzes Absicht, alles aus dem
Fürsichsein zu erklären.
Ganz plötzlich und unvermittelt behauptet er daher, Realität
sei Fürsichsein, Sichselbsterfassen, Geistigkeit oder Ichheit und
weiter gar nichts, und Realität lasse keine andere Definition
als diese zu. Während er vorher Realität und Wirklichkeit als
gleichbedeutend gebraucht hatte, unterscheidet er nun beide»
schreibt Wirkhchkeit allem Geschehen, Realität nur den Dingen
als Ausgangs- und Zielpunkten des Geschehens zu und denkt
sich unter Realität nicht nur eine Selbständigkeit gegen seines-
•
Lützc*
415
gleichen, sondern auch gegen Gott. Nuo lehrt aber Lotze selbst
ausdrücklich, dass jeder Grad rdativer Selbständigkeit, den die
Dinge gegen einander zeigen, selbst wieder nur eine Folge ist
ihrer absoluten Unselbständigkeit gegen die absolute Substanz,
die me niemals aus ihrer Einheit entlässt. Eine solche Selbstän-
digkeit gegen Gott oder ein sich Ablösen von Gott kann ebenso
wie die singulare Substantialität in Lotzes System nur ein falscher
Schein sein, so dass es eine Realität im Unterschiede von der
Wirklichkeit gar nicht geben kann. Wenn das Sein der Dinge
nur ihr in Beziehungen Stehen ist, und die Beziehungen von der
absoluten Substanz gesetzt sind, so sind auch die Dinge nur die
von der absoluten Substanz mitgesetzten Knotenpunkte dieser
realen Beziehungen.
Dem Fürsichsein des Ich fehlen alle Bestimmungen, die für
ein Realitätsprincip erforderlich sind, gleichviel, ob man es als
gefühltes oder gedachtes versteht Als gedachtes, rein intellek-
tuelles Ich ist es ein Knotenpunkt rein idealer, bewusstgedachter
Beziehungen, welche die realen Beziehungen des Subjekts nur
abspiegeln. Als gefühlsmässiges Fürsichsein ist es ein pcissiver Ge-
fühlsreflex einer hinter dem Bewusstsein liegenden Wirklichkeit,
und als solcher ein Symptom von Realität, aber nicht selbst eine
wirksame RealitäL Lotze selbst verbietet den Schluss von der
phänomenalen Einheit des Bewusstseins auf die Einheit eines
realen Seelendinges. Um wie viel mehr sollte er es verbieten,
den optischen Brennpunkt reflektierter einfallender Strahlen mit
dem erzeugenden Quellpunkt ausgehender Strahlen zu venv^echseln*
Wenn Lotze vorher die Stufen der Realität des Seins nach
dem Energiegrade des Verwirklichungsstrebens unterschied, so
jetzt nach dem Klarheitsgrade des Selbstbewusstseins. Es wird
aus dieser falschen Voraussetzung die richtige Folgerung abge-
leitet, dass das Tote gar keine Realität haben kann, dass alles
Wirkliche, das scheinbar tot ist, eine bewusst geistige InnerMch-
keit haben muss, also auch die Atome. Lotze vergisst nur, dass
zwischen Atomseelen und Tierseelen auch wohl Plasmaseelen, Zellen-
seelen, Ganglienseelen, Rücken marksseelen u. s. w. als Zwischen-
stufen des Fürsichseins Platz haben möchten» die er Fichte
gegenüber auf das Heftigste bekämpft. Ist nur das Fürsichsein
real, so ist auch die Erscheinung nur als subjektiv ideale Er-
scheinung im Bewusstsein zu suchen, eine objektiv reale Erschei-
4i6
Loue*
oung aber unmöglich, weil ausserhalb des Fürsichseins nichts
Reales sein darf. Diese von Lotze ausdrücklich gezogene Kon-
sequenz widerstreitet seiner Lehre, dass Sein in Beziehungen
Stehen ist; denn das in Beziehungen Stehen ist zunächst ein für
die Bezogenen unbewusstes und gerade als solches real, d. h. reale
Erscheinung des absoluten Wesens. —
Während Weisse die Kausalität sogleich als universelle im
monistischen Sinne betrachtet, geht Lotze vom Herbartschen
Pluralismus aus und sucht gerade aus der Unmöglichkeit der
KausaUtät auf diesem Standpunkt die Notwendigkeit des Fort*
ganges zum Monismus zu erweisen. Den Prozess der Kausalität
betrachtet Lotze als ewig und leugnet eine absolute Initiative in
Bezug auf das Ganze, während er innerhalb des Wehprozesses
einer grundlosen Initiative oder freien Anfängen offene Bahn
lässt Er leugnet also die Freiheit da. wo sie ihr Recht fordern
darf, und behauptet sie. wo sie als Störung der Gesetzmässigkeit
keinen Platz hat. Ursache und Wirkung stehen in einer nicht
umkehrbaren Zeitfolge» und der Begriff des Geschehens wird sinn-
los ohne Voraussetzung eines realen Zeitverlaufs, der Ende und
Anfang verschieden machl. Die in Kausalbeziehung stehenden
Dinge brauchen nicht völlig gleichartig zu sein, aber sie müssen
es doch so weit sein, dass sie Glieder einer gemeinsamen Reihe
od^ eines Systems solcher Reihen sind» die den Übergang vom
einen zum andern gestatten.
Die causa transiens ist undenkbar, weder als Übergehen eines
Stoffes noch als die eines Zustandes von einem Dinge auf das
andere. Bewegungsübertragung durch mechanischen Stoss bleibt
selbst bei Annahme einer wirklichen Berührung der Dinge unbegreif-
lich, Kraftwirkung kann nur zwischen räumlich getrennten, nicht
zusammenfallenden Punkten stattfinden, bleibt aber als actio in
distans zwischen substantiell verschiedenen Kraft -Subjekten un-
verständlich. Herbarts unräumliches Ineinandersein der Dinge
ist in sich widerspruchsvoll, ohne darum etwas zur Erklärung
beizutragen» wie der Zustand von A aufhören kann, Zustand von
A zu sein, und zu einem Zustand von B werden könne. Eine
Vermittelung Gottes fördert das Verständnis nicht, weil auch das
Wirken Gottes auf die Dinge unbegreiflich bleibt, so lange sie
von Gott substantiell getrennt sind.
Nur wenn die Dinge blosse Pseudosubstanzen und Aktionen
Lotze.
4*7
äDsbluten Substanz sind, hört die Unmöglichkeit der Kau-
salität auf. indem das Wirken, welches auf dem Gesichtspunkt
des Pluralismus transeunt war» nun aus dem Gesichtspunkt
des Monismus immanent ist Das immanente Wirken im Ab-
soluten begreifen wir nach Analogie des in der Erfahrung uns
gegebenen Wirkens unserer eigenen Aktionen auf einander.
Damit Ist der Okkasionalismus principiell überwunden, und es ist
eine oiFenbare Inkonsequenz, wenn Lotze ihn an einer Stelle,
nämlich in dem Verhältnis zwischen Seele und Leib, doch noch
bestehen lässt. Wenn die Kausalität die Gesamtheit der realen
Beziehungen der Dinge ist, so ist sie ihr Sein selbst, das in dieser
besteht. Wenn die Gesamtheit der realen Beziehungen die Summe
|.^er Kollisionen zwischen ihren gesetzmässigen Kraftäusserungen
oder ideebestimmten Willensakten ist, so ist die universelle
Kausalität die Gesamtheit der inneren immanenten Beziehungen
im absoluten Wollen.
Damit wäre das Problem der Kausalität gelöst; aber Lotze
stellt noch eine zweite Bedingung für ihre Möglichkeit auf. Im
Herbartschen Pluralismus soll die Seele des Dinges zunächst von
der Störung etwas spüren und merken, oder sich affiziert fühlen,
ehe sie mit einer Reaktion antwortet, die der Selbsterhaltung
dient. Lotze nimmt dies auf den Boden des Monismus hinüber,
ohne darauf zu achten, dass der Rückgang auf die gesetzmässige
innere Gliederung der absoluten Aktion bereits die Sache er-
schöpft und dem inneren Spüren und Merken in der Individual-
seele nichts mehr zu thun übrig lässt, sondern es zu einer passiven
Begleiterscheinung des realen Vorganges im Absoluten herab-
setzt Die Unmöglichkeit, ohne Rückgang auf das Absolute eine
innere Zustandsveränderungin einem Dinge von einem anderen aus
hervorzubringen, erklärt er für ebenso gross, wie die, eine äussere
zu bewirken. Ebenso erkennt er an. dass eine innere seelische
Zustandsänderung wiederum nur durch Vermittelung des Abso-
luten zu einer äusseren Aktion desselben Individuums führen
kann. Die Einschaltung des inneren Spürens und Merkens ver-
doppelt also nur die dem Absoluten aufgebürdete Leistung bei
der Kausalität, ohne etwas zu ihrer Erklärung hinzuzufügen,
Wohl nur ein kleiner Teil der kausalen Beziehungen, in die
wir fortwährend verwickelt sind, hat eine Bewusstseinsresonanz
als passive Begleiterscheinung; bei den meisten ist das Leiden
K V. H»rtiii«Di», Atugew. Werke, Bd. XU,
27
4i8
Lotze.
nur ein äusserliches Affixiertwerden , aber kein innerliches Er-
leiden. Aber Lot^e hält trotzdem an dem innerlichen sich Affiziert-
fühlen als unentbehrlicher Bedingiing der Kausalität fest und stellt
diese Bedingung sogar der andern, der Immanenz im Absoluten,
voran, weil ihm alles daran liegt, auch die Kausalität auf das
Fürsichsein zu gründen. Wie Substantialität und Realität nur
im Fürsichsein zu finden sein sollte, so auch die Kausalität; das
ist das Ergebnis» worauf Lotzes Ontologie abzielt. Unterwegs
aber hat sich ihm ergeben, dass alles uns bekannte Fürsichsein
nur PseudoSubstanzen angehört, dass das Realprincip der Wille
ist und dass die transeunte Kausalität zwischen verschiedenen
Substanzen sofort begreiflich wird, sobald man sie als immanente
Kausalität zwischen verschiedenen Teilaktionen des Absoluten
auffasst Er hat im Vorbeigehen die Wahrheit berührt, aber nicht
vermocht sie festzuhalten und ihre Tragweite zu verstehen, weil
er als Theist ein falsches Ziel, das Fürsichsein, im Auge hatte. —
Bei Behandlung der Räumlichkeit hat Lotze sich durch Her- ^
hart allzuweit von Weisses Standpunkt abziehen lassen, dem effi^H
zwar in der Beurteilung Kants folgt, aber nicht in der Ver^^
Wertung der intellektuellen Raumanschauung des Absoluten für
die Erklärung der realen Räumlichkeit der Welt Kant hat für
die Nichträumlichkeit der Dinge an sich nur un stichhaltige Schein-
beweise geliefert; der naive Realismus hat aber ebenso unrecht,
wenn er die Dinge an sich für räumlich halt, weil er sie mit deo^H
räumlichen Vorstellungsobjekten identifiziert und verwechselt. Ob^^
die Dinge an sich räumlich oder nicht räumlich sind^ ist zunächst
durchaus problematisch; es ist aus der Anschauung nicht zu ent-
nehmen, sondern nur vermutungsweise durch ein die Anschauung
überschreitendes Denken zu ermitteln. Das Denken fordert ein
Netz intelllgibler Beziehungen als Korrelat der subjektiv-idealen
Erscheinungswelt im Bewusstsein ; insoweit gilt also der transcen-
dentale Realismus für Lotze als gesichert; die Streitfrage ist nur,
ob dieses Netz intelligibler Beziehungen mit der Räumlichkeit
übereinstimmt oder nicht Lotze nimmt das letztere an und sucht
den Beweis dafür indirekt aus der Undenkbarkeit der ersteren
Annahme zu führen*
Diejenigen, welche die Übereinstimmung des intelligiblen
Beziehungsnetzes mit der Räumlichkeit vertreten, halten ent-
weder den Raum für eine substantielle, für sich bestehende, dem
Uotze,
419
Realen vorausgehende leere Form, welche diesem einen Ort dar-
bietet, oder für eine den materiellen Kräften nur inhärierende»
mit ihnen zugleich gesetzte und ohne sie nicht existierende Form
ihrer Bethätigung und Wechselbeziehung, so dass ein leerer Raum
nur ein abstraktes subjektives Vorstellungsbild im Bewusstsein
darstellt Lotze weist die Undenkbarkeit der ersteren Ansicht
nach, macht jedoch keinen Versuch» auch die der letzteren zu
zeigen. Trotzdem thut er so, als ob er durch den Nachweis der
Undenkbarkeit der ersteren Ansicht die Undenkbarkeit der realen
Räumlichkeit überhaupt nachgewiesen hätte; denn er folgert nach
dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten die Nichträumlichkeit des
intelligiblen Beziehungsnetzes, während doch das unbeachtete
Dritte gerade diejenige Ansicht ist, die aus Lotzes eigenen meta-
physischen Voraussetzungen unausweichlich folgt und für seinen
Standpunkt keinerlei Schwierigkeiten mit sich fuhrt
Das absolute Subjekt ist nämlich nach Lotze absoluter Geist»
und als Geist ebenso wie jeder andere Geist genötigt, die Be-
ziehung seiner Aktionen oder Atomkräfte zu einander in drei-
dimensionaler räumlicher Form anzuschauen; da aber Intelligenz
und Wille in ihm nicht geschieden sind, so muss seine räumliche
Anschauung der dynamischen Beziehungen auch stetig mit diesen
zugleich realisiert werden. Jede einzelne Kraft ist nach Lotze
überall da, wo sie wirkt, aber auch nur da, wo sie wirkt; darum
ist jedes Kraftatom überall im unendlichen Räume, weil es überall
wirkt, wo es an anderen Atomen Angriffspunkte seines Wirkens
findet Eine richtige und gesetzmässige Reaktion jedes Atoms
kann nach Lotze nur durch ein richtiges Raumbild in dem
reagierenden Subjekt vermittelt werden. Ein solches richtiges
Raumbild ist offenbar in Atomen noch weniger zu finden, als im
menschlichen und tierischen Bewusstsein, wohl aber nach Lotze
im absoluten Subjekt, welches zugleich der Vermittler aller
Wechselwirkung und der Grund aller gesetzmässigen Bestimmt-
heit und Zweckmässigkeit jeder einzelnen Reaktion ist Wie
sollte da das intelligible Beziehungsnetz etwas anderes sein
können, als die formale Bestimmtheit» die allen gleichzeitigen
dynamischen Beziehungen durch die schöpferische WiMensreahsa-
tion der absoluten Idee im absoluten Subjekt aufgeprägt wird,
d. h, als die von ihm intellektuell angeschaute Räumlichkeit dieser
Beziehungen ?
Loue,
Dieser offenbaren Konsequenz seines Monismus weicht Lotze
aus, indem er auf die Auffassungsweise des Herbartschen Plura-
lismus hinüberspringt. Wenn nach diesem alle Kausalität be-
dingt ist durch das Spüren und Merken in den Dingen, und die
Wechselwirkung sich letzten Endes nicht zwischen den Dingen,
sondern bloss innerhalb ihres Bewusstseins vollzieht, dann frei-
lich muss auch die Form, in der sich diese Wechselwirkung v^oll-
zieht, d.h. die Räumlichkeit, etwas bloss Subjektives, ein blosser
Schein in den Seelen sein. Der kausale Einfluss eines Atoms
auf das andere beschränkt sich dann darauf, dass dieses (durch
Gottes Vermittelung) genötigt wird vorzustellen, es entferne sich
von jenem oder nähere sich ihm an. Das einzig Reelle an
diesem Prozess w^ären dann die verschiedenen Intensitätsgrade
des Wirkens, oder die gesetzmässig wechselnde Verteilung der
Intensität der absoluten Thätigkeit auf ihre verschiedenen Glieder.
Das reale intelligible Beziehungssystem wäre nach Abstreifung
der bloss subjektiven Anschauungsform ein dynamisches System
von reinen Intensitäts Verhältnissen und weiter nichts. Ein solches
wäre weder räumhch, noch raumähnlich (topoid), und selbst die
Herbartsche Bezeichnung -inteUigibler Raum< müsste streng
genommen ihm entzogen werden*
Das ist die Hypothese, die Lotze als Ersatz für die Hypothese
der realen Räumlichkeit darbietet. Er giebt zu, dass sie sich mit
der uns von unserer geistigen Natur geschenkten Hypothese an
Nützlichkeit für die Orientierung nicht messen kann, dass sie die
Untersuchung im Einzelnen sogar sehr erschwert, und »greuliche
Paradoxien« in naturwissenschaftlicher Hinsicht als ihre Konse-
quenzen nach sich zieht. Er hält nur darum an ihr fest, weil er
durch den angeführten indirekten Beweis sie als j» den knot wendig«
erwiesen zu haben glaubt. So irrtümlich dieser Beweis, so un-
brauchbar ist die Hypothese; denn sie vermag nicht zu erklären,
wie ein Bewusstseinssubjekt dazu kommen soll, zwei gleich inten-
sive von rechts und links kommende Einwirkungen zu unterschei-
den oder mehrere aus gleicher Richtung kommende Wirkungen
von verschiedener Intensität auf Kraftquellen in verschiedenen
Abständen vom Subjekt zu verteilen.
Die Frage, worauf es beruhe, dass die Seele unräumliche
Eigenzustände überhaupt unter der Form eines räumlichen Neben-
einander anzuschauen genötigt sei, erklärt Lotze mit Recht von
Lotze.
seinem Standpunkte aus für unbeant wortbar. Sie hört aber auf,
dies zu sein, sobald das absolute Subjekt bei seinen unbewussten
Intellektualfunktionen innerhalb der Einzelseele nur dieselbe Form
weiter anwendet, die es vorher bei seiner ideellen Bestimmung des
Weltinhalts angewandt hat Die zweite Frage, welche besondere
rt von Empfindungsmannigfaltigkeit den Anlass gebe, um die
Igemeine räumliche Ausbreitungstendenz der Seele in bestimmter
eise bei gewissen Sinnesempfindungen zur Anwendung zu
ringen, bei anderen nicht, hat Lotze durch seine Lokalzeichen-
theorie gelöst, die ihm einen dauernden Platz in der Geschichte
der Psychologie und Erkenntnistheorie sichert* Es bleibt aber
noch eine dritte Frage übrig, die Lotze sich gar nicht gestellt hat:
^Wie muss das intelligible Beziehungsnetz beschaffen sein, um die
ntstehung der Lokalzeichen an den Empfindungen zu erklären?
An dieser dritten Frage scheitert Lotzes Hypothese von der reinen
Intensität des intelligiblen Beziehungssystems; denn aus ihr ist
die genetische Erklärung der Lokalzeichen unmöglich. Denn da-
zu gehört eine Dreidimension all tat des intelligiblen Beziehungs-
systems, wie auch Lotze sie für sicher hältj rein intensive Unter-
schiede in den Wirkungen können aber niemals eine Mehrheit
von Dimensionen aufweisen*
Die Erwägungen der neueren Mathematik, ob der Raum auch
mehr als drei Dimensionen haben könne, hat Lotze gar nicht ver-
standen, teils weil er Dimension und Richtung verwechselt, teils
weil er diese Erwägungen auf die Raumanschauung andersartiger
eister, statt auf die mögliche Beschaffenheit des intelligiblen
ziehungsnetzes gerichtet glaubt —
In Bezug auf die Zeit vertritt Lotze mit Recht die Ansicht.
dass sie durchaus nicht mit dem Räume über einen Kamm zu
scheren sei, sondern schwerer als dieser idealistisch umzudeuten
sei. Auch hier operiert er mit der falschen Alternative zwischen
substantieller Wirklichkeit und ausschliesslicher Subjektivität,
führt auch hier die dritte mögliche Ansicht an, nach welcher die
Zeit eine inhärierende Form des realen Werdens und Wirkens ist,
macht aber hier schliesslich diese Ansicht zu der seinigen im
Jegensatz zum Raum, wo er sie ablehnt. Lotze ist also trans-
cendentaler Realist in Bezug auf die Zeit, obwohl er transcenden-
taler Idealist in Bezug auf den Raum ist Allerdings gilt dies
nur für Lotze als Metaphysiker* Lotze als Religionsphilosoph
422
Lotze.
fällt nämlich in den transcendentalen Idealismus in Bezug auf die
Zeit zurück, den er als Metaphysiker als unmöglich nachgewiesen
hat. Genauer fordert er in der Religionsphilosophie eine Ver-
einigung beider einander widersprechenden Ansichten, obwohl er
einsieht, dass dies menschlicher Erkenntnis unerfiillbar und un-
möglich ist. Er erfasst also zwar die richtige Ansicht, wagt aber
bloss aus religionsphilosophischen Bedenken nichts sie festzuhalten.
Zeit als leeres Totalbild der Ordnung ist eine bloss subjek-
tive Vorstellung, welche das Bild einer unendlichen Vergangen-^
heit mit dem einer unendlichen Zukunft verknüpft; die leere Zeit
ist ebenso bloss subjektiv wie der leere Raum, Zeit als der
Zeitverlauf des Geschehens oder als die reale Succession des
Wirkens selbst (d. h. als Zeitlichkeit des Prozesses) ist die eigenste
Natur des Wirklichen selbst Wo Lotze als Metaphysiker idea-
listische Wendungen braucht, richten sie sich immer nur gegen
den Irrtum» die leere Zeit fiir etwas Reales, Substantielles, an
und fiir sich Seiendes zu halten. Die Zeit im zweiten Sinne des ,
Wortes (oder die Zeitlichkeit} gilt in Lotzes Metaphysik immer '
für real, und zwar mit Recht, deshalb, weil Succession schlechter-
dings nicht aus lauter zeitlosen Momenten abzuleiten ist, die ja
alle das gleiche Recht auf Wirklichkeit in jedem Augenblicke
haben würden. Selbst der bloss subjektive Schein der Zeitlich-
keit bleibt unerklärbar ohne eine wirkliche Succession, die ihn
erzeugt, und wenn es auch nur der wirkliche Zeitverlauf in der
eigenen Vorstellungsthätigkeit ist, die den wechselnden Schein
in zeitlich wechselnder Bethätigungsweise setzt Ohne reale Zeit-
folge der bewussten Erlebnisse wären Temporalzeichen unmöglich,
die uns hindern, die Abfolge dieser Erlebnisse willkürlich umzu-
kehren. Dächte man sich bloss das logische Verhältnis von Grund j
und Folge als reales Korrelat des subjektiven Zeitverlaufs, so
läge kein Hindernis vor, das zeitlich Frühere zum Späteren zu
machen, da Grund und Folge ein unzeitlich-ewiges, rein logisches
Verhältnis haben, das sich beliebig umkehren lässt Ursache und
Wirkung dagegen sind nicht umkehrbar, weil in ihnen die Zeit-
lichkeit schon drinsteckt
Gegen seine metaphysische Entscheidung des Zeitproblems
erhebt Lotze in der Religionsphilosophie Bedenken. Er postuliert
aus Gemütsbedürfnissen einen höheren Zusammenhang, in wel-
chem alles Vergangene und Zukünftige als ewig seiend aufge-
hoben ist, damit die im Prozess erzeugten Güter auch denen
nicht verloren seien, die sie gewinnen halfen ohne sie zu ge-
messen, und damit Gottes Allwissenheit und Vorauswissen ge-
rettet werde, ohne die geschöpfliche Freiheit anzutasten. Dieses
Bedenken ist aber in jeder Hinsicht hinfällig. Die Identität des
die Güter verarbeitenden und sie geniessenden Subjekts ist schon
durch die substantielle Wesensidentität aller Subjekte mit dem
absoluten Subjekt gewährleistet; die Kontinuität des Bewusstseins
beider ist überflüssig, tvo die Kontinuität der absoluten Idee, sei
es in unbewusster, sei es in bewusster Form, im absoluten Sub-
jekt besteht, Freiheit in den Geschöpfen wäre, da diese doch
nur stetige Aktionen Gottes sein sollen, zugleich Freiheit in der
göttlichen Thätigkeit während des Weltprozesses; diese aber höbe
die streng logische Bedingtheit seines teleologischen Fortgangs
auf, Lotze steckt noch zu sehr in der abstraktmonistischen Identi*
fikation von Wesen und Thätigkeit, Subjekt und Funktion, als
dass er einzusehen vermöchte, wie gut sich die Zeitlichkeit der
Funktion Gottes mit der Ewigkeit seines Wesens verträgt. Gottes
Thätigkeit denkt auch Lotze sich als einen bewegten Strom von
Gedanken, Gefühlen und Willensakten; ein solcher kann aber
nimmermehr ein unzeitliches Ineinander aller sein, denn so wäre
er nicht Thätigkeit, sondern ein ewiges Chaos. —
Das Geltungsbereich der Denkformen ist bei Lotze ebenso
schw^ankend, wie das der Zeitlichkeit. Er erkennt an, dass die
subjektive Produktion der Denkformen im einzelnen Falle durch
Beziehungen der Dinge sollizitiert sein muss, die diesen Denk-
formen homolog sind, während er bei den Anschauungsformen
(eigentlich nur bei der Räumlichkeit) die SolUzitation durch
heterogene Beziehungen der Dinge für möglich hält. Das reale
Sein mag anstatt der Räumlichkeit und Zeitlichkeit andere For-
men haben, aber wie soU es überhaupt noch Sein und Geschehen
sein, wie soll es reale Beziehungen haben, wenn es nicht den
logischen Kategorien und Gesetzen homogen und konform ist?
Ohne Einheit und Substantialität des absoluten Subjekts, ohne
Vielheit seiner accidentiellen Aktionen, ohne eine reale Wechsel-
wirkung unter den letzteren wäre der ganzen Metaphysik Lotzes
der Boden entzogen; das alles aber sind Kategorien.
Das Sein und Geschehen folgt durchweg denselben logischen
Gesetzen, wie unser Denken, nur dass diese Gesetze bei ersterem
^24 Lotzc.
in intuitiver, bei letzterem in diskursiver Gestalt auftreten. Wird
dieser Unterschied beachtet, so kann das Denken von jedem
Punkte aus den Zusammenhang des Seins und Geschehens re-
konstruieren, weil dieser in lückenloser Folgerichtigkeit logisch
ist. Das Selbstvertrauen der Vernunft erachtet sich berechtigt,
die Metaphysik aus der Logik zu deduzieren, also die bewusst-
seinstranscendente Gültigkeit der Denkformen und Denkgesetze
anzunehmen, auch ohne die Bestätigungen, die ihm hinterdrein
zu teil werden; denn das Denken ist sich klar darüber, dass ohne
diese Voraussetzung von Erkennen überhaupt nicht mehr die
Rede sein kann.
Die logischen Formen und Gesetze sind die konstante Weise
der göttlichen Wirksamkeit, ein implicites System von Gedanken-
formen im absoluten Denken (Weisses ewige Wahrheiten). Was
den göttlichen Verfahrungsweisen die Beständigkeit verleiht, ist
offenbar die immanente Vernünftigkeit, die ratio legis; wenn wir
imstande sind, in diese ratio legis einzudringen und mechanische
Gesetze sogar a priori zu bestimmen, so ist es lediglich, weil
unsere subjektive Vernunft zu dem Ganzen der vernünftigen
Gotteswelt gehört, weil sie ein Strahl der göttlichen Vernunft ist,
wie unsere Seele eine Aktionengruppe Gottes ist. Wenn die lo-
gischen Formen und Gesetze die immanente Vernünftigkeit der
göttlichen Anschauungsthätigkeit sind und die Welt bloss die
Realisation dieser göttlichen Anschauungsthätigkeit ist, wie soll-
ten da nicht diese logischen Formen und Gesetze auch dem realen
Beziehungssystem immanent sein, das wir die Welt nennen?
Hiernach müsste Lotze in Bezug auf die Denkformen und
Denkgesetze nach allen Konsequenzen seines Systems transcen-
dentaler Realist sein; aber auch hier hält er die bereits erfasste
richtige Ansicht nicht fest, weil er sich durch das »Fürsichseinc
irre machen lässt. Dies tritt in seiner ersten Metaphysik deutlich
hervor. Wenn alle Substantialität, Realität und Kausalität nur
Fürsichsein wäre oder nur im Fürsichsein anzutreflfen wäre, so
wäre ja damit alles Sein und Geschehen in das Fürsichsein ver-
legt, und die Kategorien und Denkgesetze wären dann nur For-
men desjenigen Seins und Geschehens, das sich im Fürsichsein
abspielt, d. h. des bloss subjektiven. Dann ist alle Erkenntnis nur
insofern objektiv, als der subjektive Schein ein nicht bloss diesem
einen Subjekt, sondern vielen oder allen Subjekten gemeinsamer
ist; im übrigen aber wäre dann diese Anschauungswelt in allen
Bewusstseinen ein gleich folgerechter Irrtum. Unklar bliebe dabei
nur noch, wie ohne transcendente Gültigkeit der Kategorie der
Vielheit die Vielheit der Subjekte mehr als eine Illusion sein
könnte.
In seinem System der Philosophie hat Lotze diese Ansichten
aus seiner ersten Metaphysik nicht wiederholt, behauptet aber
statt dessen, dass der BegriflF der materialen Wahrheit durch den
der formalen ersetzt werden müsse und könne, Es ist richtig,
dass alles Erkennen Dinge nur vorstellen, nicht sie selbst sein
kann» und dass wir vergeblich darauf warten würden, dass zwi-
schen unsere Vorstellungen einmal die Wirklichkeit selbst hinein-
treten könnte, um sich als Vergleichungsmassstab darzubieten.
Andererseits lehrt aber Lotze selbst, dass das Empfunden werden
der Dinge nicht ein blosser Erkenntnisgrund der Dinge, sondern
ihr Sein selbst ist, wenigstens die uns augenblicklich zugekehrte
Seite ihres Seins selbst, nämlich ihr zu uns in Beziehung Stehen.
Daraus folgt wenigstens so viel, dass wir nicht ganz ohne trans-
cendent realen Anknüpfungspunkt für die Gewinnung einer ma-
terialen Wahrheit sind. Wären wir aber ganz ohne solchen, so
könnte alle formale Walirheit den Mangel einer materialen nicht
ersetzen; wir blieben dann zu einem absoluten Agnostizismus
verurteilt —
Das Dasein eines Weltgrundes erachtet Lotze durch den
kosmologischen Beweis sichergestellt, die Einheit desselben aber
erst durch die Unmöglichkeit der Kausalität ohne solche. Der
teleologische Beweis leistet nach seiner Ansicht nichts, der onto-
logische iVlles, in dem Sinne, dass es für das Gefühl unerträglich
wäre, das Grösste, Schönste, Höchste, kurz das Ideal für unwirk-
lich zu halten. (Sonst pflegt der Begriff des Ideals gerade die
Unwirklichkeit einzuschliessen und ein bloss Ideales zu bedeuten,
dem die Wirklichkeit sich nur annähert» ohne es zu erreichen.)
Gott als absolutes Subjekt ist das Thätige, in dessen Aktionen
und Aktion engruppen die Individuen und Dinge bestehen; die
Wechselbeziehung seiner Teilfunktionen auf einander macht die
Kausalität zwischen den Individuen aus, so dass das ganze Be-
aiiehungssystem, das wir die Welt nennen, vom absoluten Subjekt
stetig gesetzt und getragen ist Alles ist willensrealisierte Idee
oder gesetzmässig entfaltete Kraftäusserung, wobei die Seite der
Lotse.
Idee und des Willens, des Gesetzes und der Kraft untrennbar
geeint ist Wie die Idee des Einzelnen sein Was, sein Seins-
gehalt, seine Essenz» aber frei von der Form des (bewusst) ge-
dachten Gedankens ist, so auch die Idee des Weltganzen. Die
Verwirklichungsmacht des WoUens muss sicherlich erst recht frei
von der Form des (bewussten) Gedankens sein. Gott wäre dem-
nach das absolute Subjekt der gewollten Idee oder des idee-
erfüllten Wollens ohne die Form des (bewusst) gedachten Ge-
dankens; aber dieser Konsequenz weicht Lotze aus. Gott muss
das Fürsichsein sein, weil nur dieses das Höchste und Wertvollste
ist* Er giebt sich mehr Mühe als irgend ein anderer Theist, dies
plausibel zu machen, und sein Ansehen beruht grossenteils darauf.
Lotze will einerseits zeigen, dass die Unbew^usstheit des Ab-
soluten unmöglich, andererseits, dass seine Bewusstheit möglich
sei. Indem er die falsche Alteniative stellt: das Absolute ist
entweder »bewusstlose Materie« oder »bewusster Geiste, glaubt er
aus der Unmöglichkeit der einen Seite den indirekten Beweis
für die andere Seite der Alternative erbringen zu können. Dass
dazwischen noch die beiden Fälle ibewusste Materie« und >un-
bewusster Geist« liegen, bleibt bei der Stellung und Verwertung
der Alternative ausser acht. Nur beiläufig bemerkt er» dass un*
bewnsster Wille widerspruchsvoll sei, dass er, als möglich voraus-
gesetzt, die Freiheit des Wollens aufheben würde und dass un-
bewusster Geist etwas Unwirkliches sein würde, weil unbewusste
Zustände nur als Störungen und Hemmungen an bewusst
Geistern vorkommen können. Dagegen ist zu bemerken, dass
Lotze selbst von unbewussten Intellektualfunktionen, nicht etwa
als Hemmungen, sondern als positivem Ursprung des bewussten
Geisteslebens, den ausgedehntesten Gebrauch macht, dass er selbst
die strenge Gesetzmässigkeit mit Ausschluss jeder Freiheit sogar
in den teleologischen Vorgängen des Organismus und des Seelen-
lebens anerkennt und dass vielmehr das Bewusstsein nur ein Zu-
stand an dem ewig unbewusst bleibenden geistigen Subjekt ist,
der aus vorbewussten geistigen Thätigkeiten als deren Resultat
entspringt. Der Beweis fiir die Unmöglichkeit eines unbewussten
Absoluten ist Lotze nicht gelungen; er ist nicht einmal emsthch
und im Zusammenhange von ihm untern onimen worden.
Mit dem Beweis für die Möglichkeit eines bewussten, absoluten
Geistes hat er sich mehr Mühe gegeben. Er stellt fiir diese Mög-
ste^J
eir^H
Loue,
427
lichkeit drei Bedingungen auf, von denen keine einzige unerfüllt
bleiben darf: i) Das Absolute muss Vorstellungen aus sich ent-
falten, welche es durch ihre Objektivität dazu nötigen, sie in
Gegensatz zu der Subjektivität der Gefühle zu stellen: 2) es muss
Gefiihle der Lust und Unlust haben, welche als die eignen ge-
wusst werden und so ein Selbstgefühl implicite in sich tragen;
3) aus dem Keime dieses bloss erlebten Selbstgefühls muss sich
durch einen inneren Entwickelungsprozess mit Hilfe des Gegen-
satzes von subjektiven Gefühlen und objektiven Vorstellungen
das Selbstbewusstsein entfalten und bis zur selbstbewussten Per-
sönlichkeit steigern.
Die erste Bedingung ist im lodividualbewusstsein dadurch
erftUt, dass dasselbe von anderen Subjekten affiziert und dadurch
genötigt wird, seine so entstandenen Vorstellungen auf etwas
ausser ihm transcendental zu beziehen. Das absolute Subjekt
müsste, da es nicht aflßziert werden kann, in seinen Vorstellungen
selbst einen Anlass finden, sie auf etwas ausser ihm transcendental
zu beziehen. Lotze nimmt dies in der That an, vergisst aber dabei,
dass die Vorstellungen des Absoluten niemals auf etwas ausser
ihm bezogen werden können, weil es nichts ausser ihm giebt,
sondern alles durch seine absolute Idee Gesetzte auch im Rahmen
dieser absoluten Idee verbleibt. Da das von ihm Gesetzte nie-
mals Selbständigkeit gegen es erlangen kann, hat das Absolute
auch keinen Grund, das von ihm Gesetzte ganz oder teilweise
von sich als setzendem Subjekt abzulösen und sich gegenüber zu
stellen.
Das Absolute kann Lustgefühle nur im Kontrast mit Unlustge-
fahlen haben, letztere aber, da es durch nichts Äusseres leiden
kann, nur aus seiner eigenen Natur schöpfen, also entweder aus
einem LTn vermögen oder Widerspruch, oder aus selbstgesetzten
Hemmungen seines Wollens. Da der erste Fall für Lotze aus-
scheidet, bleibt nur der zweite übrig. Selbstgesetzte Hemmungen
können nur durch Kollision der Teile der absoluten Willens-
thättgkeit entstehen und erwecken peripherische Unlust für die
Individuen, die in diesen Teilaktionen bestehen, aber nicht zentrale
für das absolute Subjekt, das ja eben mit diesen Kollisionen
seinen Willen bekommt. Lotze hütet sich deshalb, dem Absoluten
sinnliche oder egoistische Gefühle zuzuschreiben und betont nur die
moralischen und ästhetischen der Billigung und Missbilligung,
426
Lotze.
des Gefallens und Missfallens, niit denen es die Produkte seiner
Phantasie begleitet Dabei ist übersehen, dass von allen Möglich-
keiten nur die seine Billigung findenden aktuell werden können^
und dass die moralische und ästlietische Beurteilung GUedschaft
an einer Indi\'idualität höherer Ordnung und Sinnenschein voraus-
setzen, die beide im Absoluten fehlen. Seine intellektuelle An-
schauung ist übersittlicii und übersinnlich, also auch überästhetisch-
Aber auch wenn es sittliche und ästhetische GefÜUe hätte, läge
darin doch noch kein Anlass, sie auf ein Selbst oder Ich zu be-
ziehen, d. h, Selbstgefühl daraus zu entwickeln; denn es fehlt ja
das Transsubjektive, die transcendentale Realität der VorsteUungs-
weit für das absolute Subjekt, im Gegensatz zu welcher es erst
die Gefühle als subjektive empfinden konnte. Die Beziehung der
etwa vorhandenen Gefühle auf das sie tragende Subjekt muss
deshalb ungefülilt und uogedacht bleiben.
Eine Entwickelung kann wohl im Inhalt der absoluten Idee
stattfinden, sofern sie die Weltentwickelung vorzeichnet; sollte
aber auch eine in der Form der Anschauung stattfinden, so müsste
ein psychologisch unvollkommener Anfangszustand erst allmäh-
lich zur Vollkommenheit gelangen, so müsste die absolute An-
schauung zuerst dumpf und unklar oder abstrakt begriffsraässig
sein und sich erst mit der Zeit zur Klarheit und konkreten Be*
stimmtheit hindurcharbeiten. Die absolute PersönUchkeit al
müsste sich, wenn sie überhaupt existiert, immer voll und gan
besitzen; sie muss sich ewig in absoluter Vollendung oder gar
nicht wissen. Wüsste sie sich in voller Klarheit, so müsste sie
sich bei der Untrennbarkeit von Wollen und Vorstellen im
Absoluten auch noch einmal setzen, d. h. sich reell verdoppeln,
also aufhören, eine Persönliclikeit zu sein. Dieser richtige
Grundgedanke des trinitarischen Theismus ist Lotze nie in den
Sinn gekommen. Hiernach ist keine der drei Bedingungen erfüllt,
die Lotze für die Möglichkeit eines bewussten absoluten Geistes
aufgestellt hatte. Damit ist ihm aber auch die Begründung einer
theistischen Weltanschauung misslungen. —
Lotze ist mit seinem Herzen auf der einen Seite seines
Systems, mit seinem Kopfe auf der anderen. — Substantialität,
Realität und Absolutes ist nur Fürsichsein und weiter nichts.
Kausalität, Raum, Zeit und alle Kategorien sind nur im Fürsich-
sein oder Bewusstsein als Momente seines Inhalts zu finden und
Rückblick auf d«n Thdsintis.
bnst nirgends; die materiale Wahrheit ist durch die formale zu
ersetzen. Dies zu beweisen ist er ausgezogen; aber im Laufe der
Untersuchung stellt sich ihm auf jedem Punkte das Gegenteil
dessen heraus, was er anstrebt, und darum gerade ist Lotzes
Philosophie so lehrreich und hier so ausführlich erörtert. — Sub-
stantialität ist nur im Absoluten; die Individuen sind trotz ihres
Fürsichseins und Selbstbewusstseins nur Scheinsubstanzen und
Modi des Absoluten, Realität ist nur im Wollen, Kausalität nur
in der Wechselbeziehung verschiedener Teilthätigkeiten des Abso-
luten, die sich zu einander als verschiedene Individuen ver-
halten, also nicht im Fürsichsein eines Individuums, sondern nur
zwischen den Individuen, Zeitlichkeit ist die Form des kausalen
Geschehens, das ausserdem ein dreidimensionales Beziehungsnetz
oder Beziehungssystem mit fliessenden Übergängen (intelligible
Räumlichkeit) darstellt. Das Absolute ist das Subjekt der aus
Wille und Idee geeinten absoluten Thätigkeit; seine intellek-
tuelle Anschauung ist in formeller Hinsicht ewig gleich" vollendet
und nur ihr wechselnder Inhalt, die Welt, zeigt Entvvickelung.
Die Bedingungen für die Möglichkeit eines Selbstbewusstseins
des Absoluten sind nicht erfüllt. Das ist das wirkliche Ergebnis
seiner Untersuchungen, gegen das er, soweit er es sich selbst
eingestehen muss, doch krampfhaft die Augen verschliesst,*)
Blicken wir auf den Theismus des neunzehnten Jahrhunderts
zurück, so finden wir in ihm eine achtungswerte Menge von
historischem Wissen, spekulativem Können und systematischem
Streben vereinigt. Wohl zu keiner Zeit vorher hatten die Uni-
versitäten gleichzeitig über ein solches Mass philosophie- histo-
rischer Bildung und systembildender Kraft verfügt. Das lautere
Wahrheitsstreben der theistischen Denker ist gar nicht anzu-
zweifeln. Im Gegensatz zu der in der Luft schwebenden »absoluten
Thätigkeit^ der vorhergehenden Pantheisten suchten sie in dem
* absoluten Subjekt* den festen Halt für diese Thätigkeit; indem
sie aber dieses geistige absolute Subjekt nach Analogie des selbst-
bewussten Ich zu fassen suchten, gerieten sie in unlösbare
Schwierigkeiten, Die Unitarier suchten entweder den Gegensatz
zu Gott in der Welt, gerieten aber damit in eine Entwickelung
♦) VgL meine Schrift: >Lotze*s Philösophiec.
430
Ruckblick auf den Tbeumiti.
des persönlichen Gottes an der sich entwickelnden Welt; oder
sie stellten Gottes vollendete Persönlichkeit der Weltschöpfung
voran und mussten dann Denken und Wollen, oder Wollen und
Schaffen, Vorsatz und Ausführung in Gott auseinander reissen.
Die Trinitarier hielten diese Einheit in so wdt fest, dass Gottes
sich selbst Denken seine Selbst Verdoppelung einschloss, zerstörten
sich aber einerseits die Einheit des persönlichen Gottes durch
Spaltung in eine Mehrheit von Personen und konnten anderer-
seits den bildlichen Unterschied zwischen «Zeugimg« (des Sohnes)
und ^Schöpfung« (der Welt) nicht mehr begrifflich deuten.
Der Theismus hat seinen Höhepunkt zwischen der Mitte der
dreissiger und der Mitte der fünfziger Jahre; dann lässt sein
Glaube an das von ihm vertretene Princip merklich nach. In
I. FL Fichles zweiter Periode zeigt sich diese Selbstauflösung des
Theismus ebenso wie in Frohschammer und Lotze. Vergeblich
sind selbst die Bemühungen der Pseudoth eisten, welche wenig-
stens das Selbstbewusstsein des Absoluten retten möchten um
den Preis, dass sie seine Persönlichkeit als unhaltbar preisgeben.
Schon in Trendelenburg tritt der Theismus gleichsam verschämt
auf, d, h. der Theismus möchte sich zwar noch als Hintergrund
behaupten, aber möglichst wenig von sich geredet haben.
In den letzten Jahrzehnten seit Lotzes Tode hört man in
philosophischen Kollegien von allem möglichen reden » nur nicht
mehr von Gott. Die Behörden mühen sich vergeblich ab, Theisten
von irgendwelcher litterarischer Bedeutung für vakante Lehrstühle
zu finden und schätzen sich glücklich, wenn sie noch irgendwo
einen Lotzeanrr auftreiben können. Der Atheismus eines Be-
werbers ist hingst kein Hindernis mehr für seine Berufung, wenn
er ihn nur nicht laut werden lässt. Desto mehr aber ist die Em-
pfindlichkeit der Behörden gegen einen zur Schau getragenen
Pantheismus gewachsen, der im Anfang dieses Jahrhunderts die
beste Empfehlung für ein Lehramt war. Das ist nämlich als
Erfolg der theistischen Episode der Philosophie übrig geblieben,
dass man den Pantheismus vom Theismus unterscheiden und die
Unverträglichkeit des ersteren mit dem Christentum begreifen
gelernt hat Man kann hiemach ermessen, wie unbegründet
Schopenhauers Behauptung war, als ob die Philosophieprofessoren
seiner Zeit nur des Amtes wegen sich zum Theismus bekannt
hätten.
Rückblick auf den Theisnms.
431
Eine genauere Nachprüfung der Gründe, welche die ITieisten,
und zwar nicht bloss die hier angeführten, zur Rechtfertigung
ihres theistischen Standpunktes zusammengetragen haben, war in
einer Zeit, in welcher ein oflFenes Bekenntnis gegen den Theis-
mus noch immer als Verzicht auf jedes Lehramt betrachtet wird,
dringend angezeigt. Wer eine solche in erschöpfender Weise
geleistet hat, der hat sich dadurch einen Rechtsanspruch darauf
erworben, in der Geschichte der Metaphysik erwähnt zu werden,
A. Drews hat diese Leistung in seinen beiden Werken »Die
deutsche Spekulation seit Kant<« (Leipzig 1893) und »Das Ich als
Grundproblem der Metaphysik« {Freiburg 1897) vollbracht Er
hat in dem ersteren Werke gezeigt, dass und weshalb alle bis-
herigen Versuche der Theisten, das Selbstbewusstsein und die
Persönlichkeit Gottes als möglich und walirscheinlich zu erweisen,
ihr Ziel verfehlt haben, in dem letzteren, dass und warum die
Analogie mit dem Ich, auf welche der theistische Standpunkt
sich letzten Endes stützt, in die Irre führen musste. Bei der
gänzlichen Erschöpfung der theistischen Spekulation ist ein neuer
Versuch, der die Drewsschen Beweisführungen berücksichtigte,
bisher nicht hervorgetreten, nur von neuthomistischer Seite ist in
zwei Broschüren v^ersucht worden, die alten, von Drews wider-
legten Gründe aufrecht zu erhalten.
Als positives Ergebnis der theistischen Spekulation v^drd
folgendes zu betrachten sein. Die absolute Thätigkeit kann nicht
in der Luft schweben, sondern muss als Thätigkeit eines absoluten
Subjekts gedacht werden, von dem sie ausgeht und getragen
wird, das sich also zu ihr als absolute Substanz verhält. Die
Thätigkeit ist Wollen und intellektuelles Anschauen in unlösbarer
Einheit. Nach der Seite des WoUens ist Thätigkeit und Vermögen»
Aktus und Potenz, nach der Seite des intellektuellen Anschauens
konkrete aktuelle Idee und logisches Formalprincip, Aktualität
und Möglichkeit zu unterscheiden. Das logische Formalprincip
ist vernünftig bestimmend für den Inhalt der Idee, dieser Inhalt
selbst ist aber dem Inhalt der anschauenden Phantasie ähnlicher
als dem des abstrakten diskursiven Denkens, nur mit Abzug des
sinnlichen Empfindungsgehalts. Die Kategorien und Denkgesetze
sind die impliciten Formen des Inhalts sowohl der Idee als auch
des Bewusstseins, in welche das logische Formalprincip sich aus-
einanderfaltet Die gesamte Thätigkeit, welche in ihrer Einheit
43^
Rückblick auf den Theismus.
von Wille und Idee sowohl die Natur, als auch die Geschichte und
das Geistesleben bestimmt, vollzieht sich in vorbewusster Weise,
und der Inhalt wie die Form des Bewusstseins ist erst ihr letztes
Ergebnis.
Das negative Resultat aller theistischen Bemühungen besteht
darin: Man muss es aufgeben, der vorbewussten Thätigkeit, aus
der die Natur und das Bewusstsein entspringen, wieder eine be-
wusste Thätigkeit vorauszusetzen, die absolute Thätigkeit als
solche für bewusst zu halten, in dem Thätigkeitssubjekt als ab-
soluten ein selbstbewusstes Ich oder gar eine Persönlichkeit zu
suchen und auf eine Metaphysik zu hoffen, die mit der christlichen
Dogmatik übereinstimmt Man muss in methodologischer Hin-
sicht alle Gedanken an eine apodiktisch gewisse deduktive Er-
kenntnis fahren lassen und sich mit einer mehr oder minder
wgJirscheinlichen Erkenntnis begnügen. Diese letztere Einsicht
erwacht übrigens erst in den jüngsten Vertretern des Theismus
und ist in ihnen offenbar durch die yoraufgehende Entwickelung
des Atheismus angeregt.
IV.
Der Atheismus.
I, Der sinnliche Materialismus.
In Frankreich war die Überlieferung des Sensualismus und
Materialismus nicht ganz ausgestorben, sondern nur durch die
Restaurationszeit zurückgedrängt worden, und erhob mit dem
Sturz der absoluten Monarchie von neuem ihr Haupt. Comte
(1798—1857) suchte in seinem sechsbändigen Cours de philosophie
positive (1830 — 1842) eine encyklopädische Bearbeitung der Mathe-
matik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Sozial Wissen-
schaft von diesem Standpunkt aus zu geben, Logik, Erkenntnis-
theorie, Kategorienlehre, Ästhetik würde man vergebens bei
ihm suchen. An Stelle der Psychologie tritt bei ihm die Physio-
logie und die Galische Phrenologie; denn er verwirft gänzlich die
subjektive Methode der Selbstbeobachtung und lässt nur die ob-
jektive Methode gelten; deshalb finden auch die psychologischen
und erkenntnistheoretischen Leistungen der Sensualisten des
achtzehnten Jahrhunderts bei ihm keinerlei Verwertung. Der
Religionsphilosophie wendet er sich erst in seinem vierbändigen
Systeme de politique positive (1851 — 1854) zu; er predigt daselbst
einen Kultus des »grossen Wesens«, nämUch der Menschheiti mit
täglichem zweistündigem Gebet, neun Sakramenten, 84 Festen
und einer priesterlichen Hierarchie, welche auch Staat und Ge-
sellschaft zu leiten hat. Diese Periode Comtes, die nicht mehr
der Geschichte der Philosophie, sondern der Geschichte der ero-
tisch-religiösen Geistesstörungen angehört, wird von seinen wissen-
schaftlichen Anhängern mit Recht verleugnet
Dass Comte alles auf Materie und ihre Bewegung zurück-
Z.t H»rCmanii, Aiug«w. Werke. Bd. XJI.
aa
434
Comte,
führt, hat er mit allen älteren Materialisten gemein. Aber wäh-
rend diese an ihrer materialistischen Theorie eine wirkliche Meta-
physik, und zwar die einzig wahre Metaphysik zu besitzen glaub-
ten, verwirft Comte jede Metaphysik ebenso wie jede Theologie.
Diese negative» metaphysikfeindliche Wendung allein ist es, die
ihm einen Platz in der Geschichte der Metaphysik sichert; er ist
der Vater des modernen Hasses gegen die Metaphysik, der sich
neuerdings zu einer zum Teil höhnischen, zum Teil giftigen Meta-
physikhetze der führenden Eiferer zugespitzt hat und sich in einer
ängstlichen Metaphysikscheu der unselbständigen Geister w^ider-
spiegelt. Seit Comte ist Metaphysik als unwissenschaftlich ver-
fehmt, und wer seinen wissenschaftlichen Ruf unversehrt erhalten
will, muss sich vor jedem Verdacht einer Berührung mit dieser
menschlichen Geistesverirrung wahren, Science heisst nach fran-
zösischem Sprachgebrauch nur die exakte Wissenschaft, während
die Pliilosophie von jeher zu den lettres gehörte. Comte zieht
nur die Konsequenz aus diesem Sprachgebrauch» wenn er die
Metaphysik von den Wissenschaften ausschhesst und diejenige
Philosophie, die er als wissenschaftlich gelten lässt, auf die Zu-
sammenfassende Bearbeitung der exakten Einzel Wissenschaften be-
schränkt. Das allein ist ^vpositive« Philosophie, wobei das Wort posi-
tiv viele Bedeutungen in sich vereint, nämlich die von wirkhch» nütz-
lich, zweifellos sicher, genau bestimmt, nicht negativ auflösend, son-
dern organisch aufbauend und relativ im Gegensatz von absolut. —
Comte unterscheidet drei Perioden der menschlichen Erkennt-
nis» die in der Menschheit, in der Geschichte jeder Einzel Wissen-
schaft und in der Entwickelung des Einzelnen wiederkehren: die
theologische, metaphysische und positive. Die beiden
ersten Perioden suchen einen transcendenten Grund der Erschei-
nungen, geben sich Spekulationen über Anfangs- und Endursachen
hin, die notwendig erfolglos bleiben müssen, und konstruieren
ihre Fiktionen nach Analogie ihrer eigenen Subjektivität. Die
positive Betrachtungsweise dagegen beschränkt sich auf die
Beobachtung und experimentelle Feststellung der Erscheinungen
und auf die Ermittelung ihrer immanenten Ursachen und Gesetze
und hält sich ganz an die objektive Methode. Die erste, theo-
logische Periode sucht die transcendenten Gründe der Erschei-
nungen in Gottern und Dämonen, die nach Analogie des Men-
schen als fühlende Individualwesen oder Personen gedacht werden.
Comte.
435
Die zweite metaphysische Periode setzt abstrakte Kategorien und
unpersönliche Entitäten an die Stelle der Götter und Dämonen,
hört aber nicht auf, dieselben als transcendenten Grund der Er-
scheinungen aufzufassen und fährt fort» die Natur aus ihnen
a priori zu konstruieren nach Massgabe der eigenen subjektiven
Geistesveranlagung. Die positive Periode kümmert sich nicht
mehr um die fiktiven transcendenten Gründe, sondern stellt in
den beschreibenden, konkreten, einzelnen Naturwissenschaften (wie
Zoologie, Botanik) die Beschaffenheit der Erscheinungen, in den
abstrakten allgemeinen Wissenschaften (wie Biologie) den gesetz-
mässigen Zusammenhang der Erscheinungen dar. Der theo-
logischen Periode entspricht in der Politik die Monarchie und der
Militarismus, der metaphysischen Periode der Konstitutionalismus.
der positiven Comtes neue Menschheitsreligion mit der hierar-
chischen Ausübung der geistlichen Gewalt Comtes ganze Anti-
pathie richtet sich gegen die zweite Periode, während er auf die
erste eher mit der wohlwoUenden Nachsicht herunterblickt wie
ein Mann auf die Phantasien eines Kindes. Für den Katholizis-
mus hat er sogar eine ganz besondere Hochachtung und seine
eigene Menschheitsreligion ist nichts weiter als die ins Atheistische
übertragene katholische Kirche mit Comte als Papst
Geschichtsphilosophisch scheint die gegebene Konstruktion
unhaltbar. Theologische, metaphysische und exakt wissenschaft-
liche Betrachtungsweise laufen zu allen Zeiten der Kultur neben
einander hen Durch fortgeschrittene Beobachtungs- und Denk-
methoden gewinnen alle drei gleichmässig, Dass die theologische,
metaphysische und wissenschaftliche Auffassung zu bestimmten
Zeiten ein Übergewicht haben können, ist richtig; aber darin
zeigt sich nur das allgemeine Gesetz der Menschheitsentwickelung,
dass der Fortschritt zu jeder Zeit sich vorzugsweise auf einzelne
Gebiete wirft und andere brach Hegen lässt. Dass religiöse,
metaphysische und naturwissenschaftliche Anschauungsweise nicht
in den verschiedensten Kulturepochen, jedesmal auf höherer Stufe,
wieder auftauchen, hat Comte ebenso wenig gezeigt, als dass das
demnächstige Ende der beiden ersten bevorstehe. Es ist eher zu
vermuten, dass erst mit dem letzten Menschen der letzte Religiöse
und der letzte Metaphysiker dahingehen werde. Dass das religiöse
und metaphysische Bedürfnis der Menschen natur abgenommen
habe, dafür hat Comte ebenso wenig einen Beweis versuchtp als
ad«
436
Comte.
dafür, dass beider Befriedigung mit der Anerkennung der exakten
Naturwissenschaften unvereinbar sei. —
Wenn gleichwohl dieser Comtesche Einfall in weiten Kreisen
Beifall gefunden hat, so erklärt sich das doch nicht bloss durch
den zeitweiligen Aufschwung der Naturwissenschaften, durch die
augenblickliche Ermüdung ao allzurascher Aufeinanderfolge meta-
physischer Systeme, oder durch Widerwillen gegen die von der
Restauration auf theologischem Gebiete hervorgerufenen Erschei-
nungen. Es kommt hinzu, dass diesem Einfall eine gewisse Wahr-
heit zu Grunde liegt. Nicht die Theologie und Metaphysik wird
durch die exakte Wissenschaft überwunden, sondern nur eine be-
stimmte Art von Theologie und Metaphysik, nämhch diejenige, die
methodologisch nicht haltbar ist. Eine unmittelbare Übertragung
subjektiver Eigenschaften auf die vorausgesetzten Gründe der
Erscheinungen ist ebenso unstatthaft, wenn sie Gefiihle oder die
Persönlichkeitsform des Menschen, als wenn sie die Kategorien
seines Denkens, Empfindens und Anschauens betrifft. Eine solche
unmittelbare Übertragung kann in beiden Fällen keine Gewiss-
heit geben; deshalb Ist eine apriorische Konstruktion der Meta-
physik unmöglich. Die positive Methode, welche von den ge-
gebenen Erscheinungen ausgeht, Thatsachen feststellt» mit den
gegebenen Bedingungen verknüpft und so Gesetze ableitet, ist,
wenn sie systematisch durchgeführt wird, nichts weiter als die
induktive Methode. Durch sie muss die konstruktive Methode
der Metaphysik ersetzt werden.
In alledem hat Comte entschieden recht, und er darf deshalb
als ein moderner Bahnbrecher in methodologischer Hinsicht ge-
schätzt worden, wenngleich es ihm an methodologischer Klarheit
über die Grundlagen und die Tragweite seiner Methode durch-
aus fehlt, und es erst seinem Anhänger J. St Mill vorbehalten
blieb, die Methodologie mit klarem Bewusstsein zu fördern. Unrecht
hat er dagegen in dem Glauben, dass diese Methode zu keiner
Metaphysik und Theologie führen könne, unrecht in seinen Vor-
urteilen, dass die positive Erkenntnis niemals über Erscheinungen
hinauskönne, dass die Theologie und Metaphysik es immer nur
mit einem transcendenten und gar nicht mit einem immanenten
Grund der Erscheinungen zu thun habe, und dass Anfangs-
ursachen (Principien) und Endursachen (Zwecke) etwas der Welt
Transcendentes und nicht vielmehr ihr Immanentes seien. Unrecht
Fctjerbach,
437
hat er ferner darin, die Selbstbeobachtung und die aus ihr ge-
schöpften Thatsachen ganz aus der Erfahrungsgrundlage der
Induktion ausschalten zu wollen; denn einerseits beraubt er sich
damit eines sehr wichtigen und geradezu unersetzlichen Teils der
Erfahrung» andererseits verkennt er, dass seine sogenannten objek-
tiven Beobachtungen doch auch nur durch Perzeption des ver-
räumlichten Teiles des eigenen Bewusstseinsinhalts, also durch
Selbstbeobachtung oder innere Erfahrung gewonnen sind. Dass
die Erscheinungen, von denen er spricht, zunächst nur subjektive
Erscheinungen im Bewusstsein des Menschen sind, davon hat
Comte in seinem naiven Realismus keine Ahnung; deshalb fehlt
seiner Beschränkung der Erkenntnis auf Erscheinungen selbst
der Schein grund, auf den Kant sich bei dieser dogmatischen Be-
hauptung stützte. Seine Idiosynkrasie gegen alle Entitäten wird
nur dadurch möglich, dass er in dem StoflF die einzig wahre
Entität zu besitzen glaubt, die alle anderen entbehrlich macht, und
dass er dabei nicht merkt, dass dieser gerade von allen Entitäten
die allerfiktivste ist.
In seiner Ethik ist er Altruist, ohne freilich die Forderung,
dem andern wohl zu thun, aus seinen Principien begründen zu
können; in seiner Soziologie folgt er dem Sozialisten St. Simon,
kommt aber über unbestimmte Allgemeinheiten nicht hinaus. Im
Ganzen zeigt er einen Typus, den man, nach deutschen Mass-
stäben bemessen, kaum als den eines Philosophen gelten lassen
würde. Es ist nicht seine psychopathische Belastung, sondern die
klägliche Dürftigkeit seiner Gedanken und der Mangel an philo-
sophischer Bildung, was ihn auf die Stufe eines un philosophischen
Kompilators herabdrückt. Mögen solche Kompilationen für ihre
Zeit noch so verdienstlich gewesen sein, so müssen sie doch not-
wendig durch die Fortschritte der Wissenschaften in zwei Menschen-
altern veralten, —
Feuerbach (1804 — ^1872) hat sechs Stufen durchlaufen. Als
theologischer Student von 1822 — 1824 war er Theist; von 1824
ab stürzte er sich als Zuhörer Hegels mit Eifer in dessen Pan-
logismos; Ende der dreissiger Jahre schlägt ihm der Panlogismus
mehr und mehr in Anthropologismus um; in den Jahren 1842
und 1 843 verliert der Anthropologismus seinen von Hegel her bisher
beibehaltenen rationalistischen Anstrich und geht in Sensualismus
über; 1845 verwandelt der Sensualismus sich in Naturalismus;
438
Ftuerbach,
1866 endlich entpuppt dieser sich als Materialismus. »Gott war
mein erster Gedanke, die Vernunft meio zweiter» der Mensch mein
dritter«; er hätte später hinzufügen müssen: »Das Sinnliche mein
vierter, die Natur mein fiiofter, der Stoff mein sechster und letzten«
Seinen ersten und zweiten Standpunkt (Gott und die Vernunft)
Hess er sich einfach von seinen Universitätslehrern suggerieren;
seinen dritten und vierten (den Menschen und das Sinnliche)
erarbeitete er sich selbst; den Fortgang zu seinem fünften (der
Natur) Hess er sich von zeitgenössischen Kritikern aufdrängen;
zu dem sechsten (dem Stoff) glitt er allmählich unter dem Einfluss
des naturwissenschaftlichen iMaterialismus der fünfziger und sech-
ziger Jahre hinunter. Die Devolution seines Lebens ist das Hinab-
gleiten auf einer schiefen Ebene von der Philosophie zur Un-
Philosophie,
Feuerbach ist niemals etwas anderes gewesen als Antitheolog;
von der Theologie^ mit der er begonnen hatte, wollte er sich los-
ringen, und dieses Ringen nahm so sehr seine Kraft und sein
Interesse in Anspruch» dass ihm für nichts anderes welche öbrig
blieben. Er wollte nicht bloss los vom religiösen Glauben, sondern
er hasste mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Temperaments
die theologischen Dogmen , die ihn so lange in ihren Bann ge*
schlagen und so viel Kraft zu ihrer Überwindung gekostet hatten,
und wollte sie von Grund aus zerstören. Das geeignete Mittel
dazu schien ihm der Nachweis, wie die Illusion des religiösen
Glaubens mit psychologischer Notwendigkeit in der Menschheit
entstehen musste, und deshalb widmet er dieser Untersuchung
sein ganzes Leben, Alles, was er sonst von Ansichten geäussert
hat, sind nur gelegentliche Abfälle dieser religionsphilosophischon
Betrachtungen. Aller Wechsel der Standpunkte, den er durch-
gemacht hat, ist letzten Endes von der einen Sehnsuclit geleitet,
den Standpunkt zu gewinnen, w^elcher zur Vernichtung der Theo-
logie und des Religionswahnes der geeignetste ist Deshalb ist
keiner seiner Standpunkte von ihm philosophisch begründet
sondern jeder nur intuitiv ergriffen, um von ihm aus den Hebel
der Kritik an das Dogma ansetzen zu können.
In seiner Hegeischen Zeit bekämpft er den Materialismus.
Dass das Denken nur ein Hirnakt sei, diesen von ihm selbst
später vertretenen Satz, nennt er völlig sinn- und verstand!«:«»
da ja doch das Hirn nicht der Verstand selbst, der Hirnakt als
439
solcher also ein verstandloser Akt sei» Wenn das Denken nur
eine Äusserung der Materie wäre, so wäre es unmöglich, den
Leib, die Materie» als Objekt zu fixieren und wir wären ununter-
scheidbar von ihm. Das Denken ist eben Unterscheidung des
FWesens von der Erscheinung; darum ist es eine auf Sinnen*
täuschung beruhende Barbarei des Denkens, die physiologischen
Vorgänge während des Denkens für das Denken selbst, d. h, die
►Erscheinung für das Wesen zu halten. Widerlegt hat er sich
diese Einwendung nicht, als er schliesslich selbst zum Materialis-
mus überging. —
Schon 1838 proklamierte Feuerbach den Atheismus und
setzte das Fichtesche Selbstbewusstsein in den Rang des Abso-
luten ein. 1841 bestimmt er das Göttliche als das ins Jenseits
hinausprojizierte allgemein Menschliche. Gott als metaphysisches
Wesen oder als absolutes Subjekt ist der hinausprojizierte mensch-
Hebe Verstand, der sich selbst genügt und geniesst, weil er selbst
kein Ding ist. sondern alle Dinge zu seinen Objekten macht.
Der Mensch braucht aber einen Gott, der nicht bloss diesen
Einen Vorzug, sondern alle menschlichen Trefflichkeiten in sich
vereint, geniesst und leidet, hasst und liebt, selbstsüchtig und
moralisch ist wie der Mensch. So ist Gott das offenbare Innere,
das ausgesprochene Selbst des Menschen. Zwischen den recht
verstandenen göttlichen und menschlichen Prädikaten ist kein
Unterschied; jeder Versuch, einen solchen zu machen, löst sich
vor der Kritik in Nichts, in Unsinn auf. In der Gleichsetzung
der göttlichen und menschlichen Prädikate beruht die Wahrheit,
in dem Versuch, sie doch noch zu unterscheiden, die Unwahrheit
der Religion. Da nun das Wesen Gottes nur die Einheit seiner
Prädikate ist, so ist es auch identisch mit dem Wesen des Menschen
und von ihm ununterscheidban Aber nicht mit dem Wesen dieses
oder jenes Menschen, auch nicht etwa mit dem des religiösen
Genius, sondern mit dem allgemeinen, gattungsmässigen Wesen
des Alenschen. Wenn nach Hegel Gott nur als Denken und im
Denken und sein Wissen von sich nur das Wissen des Menschen
von ihm war, so ist nunmehr bei Feuerbach Gott bloss noch im
Denken des Menschen, und der Mensch weiss nur von sich,
während er von Gott zu wissen wähnt. Die Hegeische Vermengung
des absoluten und menschlichen Denkens wird bei Feuerbach zu
einer Identifikation, die aber nicht das menschliche Denken im
440
Feuerbftch.
Absoluten, sondern das Absolute im Menschlichen (nicht das em-
pirische Ich Fichtes im absoluten Ich» sondern dieses in jenem)
aufgehen lässt.
Indem der Mensch alles Gattungsmässige und Treffliche von
sich hinausprojiziert und als Gott verehrt, entäussert er sich seiner
Menschlichkeit in dem Masse, als er religiös ist. Was zurück-
bleibt, ist der nackte Egoist Nun ist aber dieser hinausprojizierte
gattungsmässige Mensch offenbar eine blosse Abstraktion, die
an und für sich unwirklich ist und nur insoweit Wirklichkeit
gewinnt, als sie an etwas Wirklichem haftet und von ihm ge-
tragen wird. Der Gattungsbegriff des Menschen und in noch
höherem Masse das Gattungsideal des Menschen, ist ein ab-
straktes Vernunftwesen, das bloss in unserem Kopfe herumspukt
Was ist aber der wirkliche Mensch, an dem dieser Gattungs- i
begriff" haftet? Wenn der erste Schritt der Entfernung von Hege|^H
darin bestanden hatte, die absolute Veniunft zur menschlichen zu^^
degradieren, so rauss nun der zweite Schritt folgen, die Vernunft
im Menschen zu einem Accidens des wirklichen Menschen herab-
zusetzen, —
Jetzt tritt Feuerbach an den entscheidenden Punkt heran, an
den Mangel eines Realprincips und Substantialprincips bei Hegel.
Den Willen vermag er nicht als Realprincip gelten zu lassen,
weil, wie er später gegen Schopenhauer bemerkt, ein nichts
wollender Wille gar kein Wille sei, sondern die vernünftige
Begierde der erste Wille sei Das absolute Subjekt des absoluten
Selbstbewusstseins oder das absolute Ich des persönlichen Gottes
kann er weder als Realprincip noch als Substantialprincip brauchen,
weil er ja den ganzen Gottesbegriff als Illusion nachgewiesen zu
haben glaubt. Dennoch fühlt er die Unmöglichkeit, mit dem
Vernuuftprincip allein auszukommen und bloss von ihm aus das
Wirkliche zu erreichen.
Da verfällt er darauf, das Wirkliche, den Gegensatz des Ver-
nünftigen, in demjenigen zu suchen, was dem abstrakt und di;
kursiv Vernünftigen im menschlichen Bewusstsein entgegei
gesetzt ist, weil er das Vernünftige nur in dieser Gestalt kennt und
gelten lässt Das ist aber das Sinnliche, das alter ego des Den-
kens und der Philosophie, die Nichtphilosophie, Das Ende des
Prozesses ist zwar der vernünftige Geist, aber nicht der Anfan,
Hegel beginnt mit dem abstrakten Sein oder dem Begriff d
Feuerbach.
441
Seins; man muss aber mit dem wirklichen Sein anfangen, und
dieses ist nicht aus dem Denken, vielmehr ist es das, woraus erst
das Denken entspring-t. -Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit
oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes»
ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind iden-
tisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches
Wesen. Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren
Sinn gegeben — nicht durch das Denken für sich selbst. Das
mit dem Denken gegebene oder identische Objekt ist nur Ge-
danke.« Der Mensch als konkretes sinnliches Wesen, d. h. als
»Objekt des Sinnes«, ist aber der Leib; also ist der Leib das
wirkliche Wesen des Menschen, sein Ich in seiner Totalität, nicht
bloss als abstraktes Gedankenich, Es war kein Wunder, dass
die Sehnsucht nach einer Substanz sich zunächst an dasjenige
anklammerte, was der Pantheismus von Fichte bis Hegel allein
als Substanz hatte gelten lassen, nämlich das sinnlich-stoflFHche
Vorstellungsobjekt. —
Nachdem so der Anthropologismus in Sensualismus überge-
gangen war, hätte Feuerbach seine Lehre vom menschlichen
Gattungsideal und die aus ihm abgeleitete Moral der Humanität
als überwundenen Standpunkt fortwerfen und durch den reinen
Egoismus ersetzen müssen. Der Gattungsmensch war ja das
illusorische Vemunftwesen des Menschen und als ein gespensti-
scher Spuk bedeutungslos und rechtlos gegen den konkreten
wirklichen Menschen und seine massive Sinnlichkeit, Dies wurde
Feuerbach 1845 durch Stirner nachdrücklich zu Gemüte geführt.
Schon 1844 war er durch eine Daumersche Schrift auf die Natur
als den gemeinsamen Ursprung aller wirklichen Menschen hin-
gewiesen worden. Ein rationaler Anthropologismus konnte sich
noch allenfalls mit der Gemeinsamkeit der Vernunft in allen
Menschen beruhigen; ein sensualistischer Anthropologismus musste
sich notwendig nach einer realen Quelle und Mutter aller Men-
schenleiber umsehen. So gelangte Feuerbach vom Sensualismus
zum Naturalismus, Das Wesen nach Abzug des menschlichen
Wesens und der menschlichen Eigenschaften, oder, was dasselbe
sagt, Gottes, das vom menschlichen Wesen unterschiedene und
unabhängige Wesen, ist die Natur, nicht als allgemeine Abstraktion,
sondern als Inbegriff aller Realitäten, als absolut unpersönliches
und ideenloses Realwesen.
442
Feuerbiidi*
Diese Feuerbachschc Natur ist also etwas ganz anderes, als
die Schellings in dessen erster Periode. Sie ist weder die
Summe der subjektiv-idealen Erscheinungen in allen Bewusst-
seinen, — denn als solche wäre sie von dem menschlichen Wesen
nicht unabhängig» — noch auch die Gesamtheit der intelligiblen
Naturkategorien oder Ideen » — denn als solche wäre sie nicht
ideenlos, Sie ist im Unterschiede von dem subjektiv idealen und
objektiv idealen Naturbegriflf die wirkliche, allem Empfinden und
Bewusstwerden vorhergehende und dieses aus sich hervortreibende
Natur, wie in Schellings positiver Philosophie sich die Natur-
philosophie seiner Jugend beim Rückblick auf sie darstellt. Aber
sie ist im Unterschiede von Schelling und Weisse auch nicht die
Natur in Gott, weder als dunkler, unlogischer Willensgrund, noch
als ideales Universum, und noch weniger ist sie das Produkt
solcher metaphysischen oder spiritualistischen Mächte wie Wille
und Idee. Sondern sie ist selbst das letzte metaphysische Princip,
das aus keinem anderen entsprungen ist, an und für sich Sub-
stantialprincip und Realprincip in Einem, aber ideenlos, obwohl
dasjenige, woraus sich vermittelst des Geistes zuletzt auch die
Ideen (im menschlichen Bewusstsein) entwickeln.
Auf Feuerbachs viertem Standpunkt» dem Sensualismus, war
das Wirkliche noch Objekt des Sinnes, wenngleich nicht meJir
gedachtes, sondern gegebenes Objekt; d. h. der erkenntnistheoreti*
sehe Idealismus Hegels war noch gewahrt. Jetzt ist das Wirk-
liche zum Prius des Sinnes geworden, ist also vor dem Sinne
da, ehe es für den Sinn wird, den es aus sich selbst erst hervor-
bringt. Damit schlägt der erkenntnistheoretische Idealismus in
erkenntnistheoretischen Realismus um. Das Sinnliche war ein
vergleichsweise WirkHches im Verhältnis zu dem bloss Gedachten,
aber doch immerhin noch ein Bewusstseinsimmanentes, das gar
nicht ist ausser in dem Sinn und für den Sinn. Die Natur im
Feuerbachschen Sinne aber ist ein vor allem Bewusstsein Seien-
des» also Bewusstseinstranscendentes. Wenn sie trotzdem für den
Sinn bewusst werden kann, und zwar als unmittelbar Wirkliches
bewusst werden kann, so ist damit der Rückfall in naiven Realis-
mus vollzogen. Kant und Fichte sind vergessen, der Mangel
einer durchgearbeiteten Erkenntnistheorie bei Hegel hat sich an
seinem Schüler bitter gerächt.
Auf dem anthropologischen und sensualistischen Standpunkt
44J
waren die Götter oder Objekte des religiösen Verhältnisses reine
Fiktionen, die die Sehnsucht des menschlichen Herzens aus sich
herausprojiziert hatte, reine Wunschwesen ohne jede reale Grund-
lage ausserhalb des Menschen, und die ganze Religion ein aus
lauter Illusionen gewobener Traum. Auf dem naturalistischen
Standpunkt bleiben zwar die Götter Wunschwesen; aber sie
finden nun ihre reale Grundlage in der Natur und deren Mächten,
die den menschlichen Wünschen feindlich oder freundlich entgegen
kommen. Die Naturreligionen erscheinen somit in Feuerbachs
i^Theogonie« als nicht jeder reahstischen Wahrheit ermangehid,
während den vergeistigten Religionen eine solche nach wie vor
durchaus abgesprochen werden muss.
Was kann aber eine solche Natur als völlig ideenloses, un-
geistiges Substantial- und Realprincip sein? Welcher BegrifiF
ässt sich mit dem Worte verknüpfen, wenn man alle supranatu-
ralistischen metaphysischen Frincipien ebenso fern hält, wie mytho-
logische Personifikationen? Nichts anderes als die Materie im
Sinne des Stoffes I Wenn Feuerbach darüber noch Zweifel hegen
konnte, so mussten sie ihm durch das Studium der materialistischen
naturwissenschaftlichen Litteratur schwinden. So kommt er denn
zu demselben Ergebnis, wie vor ihm Comte: iDie wahre Philo-
sophie ist die Negation der Philosophie, ist keine Philosophie.*
»Keine ReUgion! ist meine Rehgion; keine PWlosophie! meine
Philosophie.*. So ist der Bankerott der Philosophie willig mit in
den Kauf genommen, bloss um den Bankerott der verhassten
Religion zu besiegeln, —
Eine Ethik hat Feuerbach nur auf Grund seines Anthro-
pologismus anzudeuten versucht, nämlich eine Humanitätsmoral.
Darunter ist aber bei ihm nicht etwa eine Moral zu verstehen,
die die Menschheit als reales Kollektivum tmd als ein Individuum
höherer Ordnung auffasst, dem jedes einzelne Glied zu dienen hat,
sondern ein Kultus des abstrakten Gattungsideals, eine Spaltung
jedes Menschen in eine konkrete singulare IndividuaUtät und den
abstrakten allgemeinen Begriff des Menschen und die Herstellung
eines religiös- ethischen Verhältnisses zwischen diesen Spaltungs-
produkten, wobei der konkrete Mensch in den Dienst des ab-
strakten Begriffs zu treten hat Von dem Augenblick an, wo
der abstrakte VernunftbegriflF von Feuerbach selbst als ein sekun-
däres Produkt des subjektiven Denkprozesses erkannt und ihm das
Sinnliche als das allein Wirkliche gegenübergestellt war, musste
der Vemunftbegriff des Menschen als eine spukhafte Fiktion zu
den übrigen Göttern versammelt werden, und konnte nur der
wirkliche, sinnliche Einzelmensch übrig bleiben, der als reiner
Egoist aller Moral spottet. Wenn trotzdem Feuerbach sich nicht
ganz von seiner Humanitätsmoral freimachen konnte, so war das nur
eine Inkonsequenz, ein Stück alter Schlangenhaut» die von seinen
vielfachen Häutungen äusserlich an ihm kleben geblieben war*
Sein einziger origineller Gedanke ist der, dass die Götter
hinausprojizierte Wünsche des Menschen sind. Nun ist es ganz
richtig, dass darum etwas noch nicht existiert, weil man es wünscht j
aber es ist nicht richtig, dass darum etw^as nicht existieren könne,
weil man es wünscht Feuerbachs ganze Religionskritik und der
ganze Beweis für seinen Atheismus beruht jedoch auf diesem ein-
zigen Schluss, d, h, auf einem logischen Fehlschliiss. Wenn die
Götter Wunschwesen sind, so folgt daraus für ihre Existenz oder
Nichtexistenz gar nichts, sondern nur, dass man subjektiv prädis-
poniert sein könne, unwillkürlich auch auf unzulängliche Gründe
hin das zu glauben, was man wünscht, und dass deshalb in sol-
chem Falle doppelte kritische Vorsicht bei der Prüfung aller
Gründe und Gegengründe von nöten sei. So bleibt denn von
Feuerbachs Lebensarbeit nicht einmal etwas Negatives, geschweige .
denn etwas Positives übrig. Als ein die Zeitgenossen blendendes
Meteor ist er dahin gezogen, um in der Unphilosophie eines naiv
realistischen Materialismus zu verlöschen, Aufmerksamkeit er-
regte er bei den Zeitgenossen nur in den vierziger Jahren vor
der Revolution ; als dann die Absorption aller Interessen durch
die Politik vorüber war, geriet er schnell in Vergessenheit
Trivialer Optimist und eingefleischter Eudämonist war er in allen
Phasen seiner Entwicklung; deshalb war er auch unfähig, vor
Schopenhauer etwas zu lernen, der ihm zwar wegen seiner Stellung
zum Christentum sympathisch, als Philosoph aber schlechthin anti-
pathisch sein musste. —
In ähnlicher Weise wie Feuerbach geriet Strauss (1808 — 1874)
in seinem Alter in das Schlepptau des naturwissenschaftlichen
Materialismos^ während er in seinen kritisch wertvollen Jugend-'
werken (Leben Jesu 1835/6 und christliche Glaubenslehre 1840/41)
den Standpunkt der Hegeischen Linken vertreten hatte. Ein
Menschenalter hindurch beschränkte er sich auf biographische
Strauss.
445
Arbeiten, um dann 1873 noch einmal mit einer atheistisch-materia-
listischen Bekenntoisschrift hervorzutreten ♦ die die Frage, ob wir
noch Christen seien, verneinte. Trotz alles Beifalls, den diese
populäre kleine Schrift ider alte und der neue Glaube«, bei der
Presse und dem grossen Publikum gefunden hat, hat sie doch
bei der philosophischen Kritik den bis daliin gehegten Irrtum
gründlich zerstört» als ob Strauss unter die Philosophen zu zählen
sei. Es wurde nun klar, dass er sich in seiner Jugend ebenso
äusserlich der damals herrschenden Hegeischen Denkrichtung und
Ausdrucksweise angeschlossen hatte, wie in seinem Alter der
naturwissenschaftlich materialistischen, bloss um einen Stützpunkt
für seine Kritik des Wunderglaubens und der Persönlichkeit
Gottes zu finden. Die spielende I-eichtigkeit, mit der er in seiner
letzten Schrift alle Fragen beantwortet und alle Schwierigkeiten
überspringt, zeigt, dass er von der Tiefe der Probleme keine
Ahnung hat Die behagliche Unbekümmertheit, mit welcher er
die ideahstischen Reste seines Jugendstandpunktes mit in seinen
materialistischen Altersstandpunkt herübernimmt, lässt erkennen,
wie wenig er sich des Gegensatzes beider und der Konsequenzen
eines jeden von ihnen bewusst ist Für das materielle Universum
fordert Strauss dieselbe Pietät wie der Fromme alten Stiles für
seinen Gott; denn er schreibt ihm Vernunft und Güte zu, obgleich
er in ihm nur ein mechanisches Räderw^erk erkennt, das jeden
Augenblick bereit ist, uns zu zermalmen. Neben dem demütigen
Abhängigkeitsgefühl von diesem Räderwerk will er ein stolzes
Gefühl der Freiheit und des Vertrauens für 6en Menschen fest-
halten, obwohl er alle Naturteleologie durch den Darwinismus
beseitigt glaubt Seinem eudämonistischen Optimismus ist
der jenem Standpunkt angemessene Pessimismus gefühlsmässig
zuwider; aber die Sophismen, mit denen er ihn zu widerlegen
sucht, sind von einer wahrhaft kindlichen Naivität. In der Ge-
schichte der Theologie wird ihm seine Bedeutung als anregender
Kritiker nicht geschmälert werden; für die Geschichte der Philo-
sophie und insbesondere der Metaphysik kommt er nicht in Be*
tracht* —
In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre traten mehrere
laturforscher ohne jede philosophische Bildung mit einer Er-
neuerung des Materialismus auf, ohne zu dem von Deraokritos,
Lucretius, Gassendi und Holbach Gelehrten irgend etwas Neues
hinzuzufügen. Aber die Fortschritte der Physiologie und Patho-
446
Büdiner.
logie hatten dieses Geschlecht nachdrücklicher als irg-ecd ein
früheres auf die Abhängigkeit der Seelen thätigkeit von den leib-
lichen Funktionen hingewiesen, und insbesondere hatten die
Tierversuche die Gebundenheit des Seelenlebens an das Gehirn
gleichsam ad oculos demonstriert* Moleschott in seinem > Kreis-
lauf des Lebens« (1852), Karl Vogt in »Köhlerglaube und Wissen-
ischaft* (1Ö54) und Büchner in *Kraft und Stoff« (1855) ruckten
den Streit um den Materiaüsmus für ein Lustrum in den Vorder-
grund» indem sie das von früheren Geschlechtern bloss philo-
sophisch Behauptete nunmehr für etwas durch die exakte moderne
Naturwissenschaft Erwiesenes ausgaben. Vogt lehrte, »dass die
Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen, wie
die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«, d. h. im
Verhältnis einer stofflichen Absonderung zu der Absonderungs-
drüse, und stellten damit die Frage in den Mittelpunkt des
Interesses, wie Seelenthätigkeit und leibliches Organ sich zu
einander verhalten. —
Büchner (1824 — 1899) suchte in populärer Darstellung die^
so erneuerte materialistische Grundansicht zu einer allgemeinen
Weltanschauung zu erweitern. Den von Vogt gebrauchten Ver-
gleich des Gedankens mit Drüsensekreten verwarf er zwar als
unpassend, hielt aber dessen Grundgedanken fest, dass die Seelen-
thätigkeiten Funktionen des Gehirns, als des materiellen Sub-
strats seien. Ilierin lag nun die wichtige Wahrheit, dass eine
bestimmte Bewegung materieller Substrate unerlässUche Be-^
dingung für das Zustandekommen bewusster Seelenthätigkeit ist.
Es ist ein bleibendes Verdienst des naturwissenschaftlichen Materia-
lismus, dass er dieser Wahrheit zum siegreichen Durchbruch ver-
helfen hat, während die zeitgenössischen Theisten noch immer
von einem »leibfreien* Selbstbewusstsein phantasierten. FreilicliJ
schoss dieser Materialismus in doppelter Hinsicht über das ZieJV
hinaus, einerseits, indem er die unerlässUche Bedingung mit der
zureichenden Ursache verwechselte, und andererseits » indem er
in seiner gänzlichen Unkenntnis unbewusst geistiger FunktioneHj
das bloss für die bewusstgeistigen Funktionen Gültige auf alle
Geistesfunktionen überhaupt ausdehnen zu dürfen glaubte.*) Wenn
•; Vgl. Philosophie des Unbewussten, Kap, C 11, »Gehirn und GaagHen als B^
•diagung des tierisdien Bewusstseins«! 10. Aufl. Bd. II, S. 16—28.
447
das Gehirn nicht die allein zureichende Ursache, sondern
nur Bedingung des Bewusstseins ist, so kann dessen Träger oder
Subjekt etwas ganz anderes sein, als das materielle Substrat, des-
sen Bewegungen zur Bewusstseinsentstehung unentbehrlich sind.
Wenn die absolut unbewussten InteOektualfunktionen (z, B. die
Kategorialsynthesen des rohen Empfindungsmaterials) zwar auf
die an dieses Gehirn geknüpften Empfindungen gerichtet sein
müssen, aber selbst nicht von ihm ausgehen und abhängen, dann
ist auch das unbewusste Geistesleben nicht Gehirnfianktion zu
nennen. Wenn die absolut unbewusste geistige Thätigkeit zwar
unmöglich ist, ohne sich zu materieller Erscheinung zu konkres-
zieren, aber so doch zugleich das erzeugende Prius der Materie
ist, dann ist sie zwar materiierend zu nennen, aber an sich im-
materiell.
Das Zukunftsideal Büchners ist die Erklärung der Welt aus
Stoff und Bewegung, in dem Sinne, dass künftig alle, auch die
einfachsten Kräfte aus besonderen Bewegungsformen des Stoffes
erklärt würden, wie dies jetzt schon mit komplizierteren von der
Naturwissenschaft versucht wird. Die Materie ist dabei atomistisch
gegliedert zu denken. Das käme also auf Demokrit hinaus. Wie
substantiell getrennte, bewegte Stoffteile auf einander wirken
können, wie sie es anfangen, ihre Bewegungen aufeinander zu
übertragen, wie der leere Raum möglich ist, in welchem sie sich
bewegen, woher die Bewegung kommt, und woher die Gleich-
artigkeit, Grösse und Gestalt der Atome stammt, alle solche
Fragen kümmern Büchner nicht, der auch nichts davon weiss,
wieviel die Metaphysik sich schon mit ihnen abgemüht hat. Wie
Feuerbach die ganze heutige Welt als etwas fertig Gegebenes
hinnimmt, so Büchner die gegebene Zahl der stoflFlichen Atome,
den leeren Raum, die Plätze, die sie in ihm einnehmen, und die
Möglichkeit ihrer Ortsveränderung und Bewegungsübertragung
auf einander.
Da aber die einfachen Grundkräfte vorläufig noch nicht aus
Bewegung der Atome zu erklären sind, vielmehr zur Erklärung
der Bewegungsentstehung unentbehrlich sind, so lässt Büchner
sie neben dem Stoffe gelten. Die ursprüngliche Kraft gilt ihm
bald als ein dem Stoff koordiniertes und mit ihm vereinigtes
Princip, bald als eine Eigenschaft oder ein Thätigkeitszustand
des Stoffes, oder als ein Accidens der stofflichen Substanz. Die
Büchner.
Einheit beider ist erfahr ungsmässi^ gegeben und entzieht sich der
näheren Begreiflichkcit Nur soviel steht für Büchner fest, dtiss
Kraft ohne stofFüchen Träger nicht denkbar ist Der Satz wäre
richtig, wenn es sicher wäre, erstens, dass Kraft nur accidentielle
Eigenschaft, nicht selbst Substanz sein könne, und zw^eitens, dass
die Substanz, an welcher sie Accidens ist, nur der Stoff sein kano
und nicht etwas Immaterielles.
Nun räumt aber Büchoer selbst ein, dass Stoff und Kraft
schliesslich nur verschiedene Seiten oder Ausdrucks- oder Er-
scheinungsweisen desselben Ur- oder Grundprincips sind, jeni
uns unbekannten Wesens oder Ansich, das beiden zu Grunde
liegt, dass beide dieselbe Sache sind, nur unter verschiedenen
Gesichtspunkten betrachtet. Wenn der Stoff erst eine der Er-
scheinungsweisen dieses unbekannten Wesens ist, so muss dieses
selbst offenbar an sich noch immateriell, wenn auch Materie
bildend, sein. Da aber nach Büchner auch das Denken nur eine
andere Erscheinungsweise desselben, hinter der Materie steckenden,
an sich immateriellen Wesens ist, so liegt es nicht so fem, in diesem
ein unbewusst geistiges Princip zu vermuten. Denn bewusst-
geistig kann es freilich nicht sein, da hierzu erst der Durchgan
durch die materielle Erscheinungsweise erforderlich ist Dam:
wäre dann der Materialismus in eine Identitätsphilosophie umgi
schlagen. Aber das ist durchaus nicht Büchners Meinung. Für
ihn bleiben vielmehr solche gelegentliche Zugeständnisse blosse
Abschweifungen, mit denen er durchaus nicht beim Worte ge-
nommen zu werden wünscht
Wie der Stoff im Atom sich mit der Kraft verbindet, kann
Büchner nicht begreiflich machen; denn die ursprüngliche Kraft
ist nur als punktuelle Centralkraft, der Stoff aber nur als räum-
lich ausgedehnter, also nicht punktueller zu denken. Sitzt die
Kraft nur im Centrum des Atoms, so dass die übrigen Teile des
stofflichen Atoms kraftlos sind? Oder ist die Ko-aft auf alle
Punkte des stofflichen Atoms gleichmässig verteilt und die Atom-
kraft nur die Resultante aller dieser Komponenten? Oder ist
das Atom zwar stofflich, aber punktuell ausdehnungslos wie bei
Fechner zu denken? Diese Probleme existieren nicht für Büch-
ner, ebenso wenig wie die Schwierigkeiten, in weiche man sich
durch jede dieser Annahmen verwickelt.
Dass alle Wirkungen von den Atomkräften ausgehen» also
Büchner,
449
luch diejenigen auf unsere Sinne, kann Büchner ebenso wenig
bestreiten, wie dass das Einzelatom für uns immer unwahmehm-
jbar bleiben muss. Dann ist aber auch die Frage, ob das Einzel-
rmtom stofflich sei, niemals empirisch zu entscheiden. Es ist eine
Täuschung, dass wir Stoffe wahrnehmen» da wir doch nur die
Rummierten Einwirkungen der Atomkräfte wahrnehmen; es ist
^aber auch, wie oben gezeigt, ein Irrtum, dass wir Kraft ohne
Stoff nicht denken können, da wir doch zuletzt auf ein immate-
^Tielles Wesen als die eigentliche Substanz zurückgehen müssen.
)ie Existenz des Stoffes ausser unserem Bewusstsein ist also
weder durch Erfahrung noch durch Denken nachzuweisen, und
seine Annahme trägt zur Erklärung nichts bei, da alle Erklärungen
lediglich vermittelst der Kräfte erfolgen. Insbesondere die Natur-
wissenschaft hat es niemals mit dem Stoff zu thun; auf sie kann
also eine solche Metaphysik des StoflFes sich am allerwenigsten
stützen* —
Woher kommt denn nun aber die Hartnäckigkeit der Täu-
schung, an die sich nicht bloss Büchner klammert, sondern unter
welcher alle stehen, die seinen Standpunkt plausibel finden?
Einfach aus dem erkenntnistheoretischen naiven Realismus, der
das subjektiv ideale Phänomen des Stoffes als stoffliches Ding
an sich auffasst, oder den Stoff aus dem Bewusstsein sin halt, wo
er empirisch gegeben ist, ins Jenseits des Bewusstseins hioaus-
versetzt. Im Bewusstsein füllt die subjektiv ideale Erscheinung
des Stoffes scheinbar durch ihr blosses Dasein ohne alle Thätig-
keit und Kräften tf^d tun g den subjektiv idealen Raum stetig aus;
der naive Realist glaubt deshalb, dass auch in der wirklichen,
unabhängig von seinem Bewusstsein existierenden Welt der ob-
jektiv reale Raum durch einen Stoff vermittelst seines blossen
substantiellen Daseins stetig ausgefüllt werde.
Diese Täuschung bleibt bestehen, so lange der naive Realis-
mus bestehen bleibt; selbst wenn der Glaube an die Stetigkeit
der stofflichen Raumerfüllung im allgemeinen durch die Auf-
lösung der Materie in Atome zerstört ist, hält er sich um so
krampfhafter innerhalb jedes einzelnen Atoms aufrecht, das doch
niemals Gegenstand der Anschauung sein kann.
Das stoffliche, solide, massive Ding wird durch die Physik in
ein Netz atomistischer Kraft Wirkungen umgewandelt; aber die
Phantasie des Physikers hält an der im Ganzen und Grossen
£. y. HarttDAfin, Aui|c«w* Werke. Bd. XU. *9
450
Blicliner,
aufgelösten Vorstellung des festen Körpers im Einzelnen und
Kleinen fest und denkt sich die Atome doch wieder als stoflnich
solide, massiv^e Miniaturdinge oder Festkörper nach dem über-
wundenen Schema. Das scheinbar kontinuierliche Fluidum eines
Gases wird von der Physik in einen Mückentanz diskreter
Atome umgewandelt; aber die Phantasie des Physikers hält an
der aufgelösten Vorstellung fest und denkt sich die Atome als
Wirbelringe eines stetigen Fluidums, die in einem dünneren Fluidum
umherfliegen, unbekümmert darum, dass Verdünnung und Ver-
dichtung* also auch örtliche Verschiebung in einem wirklich stetigen
Fluidum gar nicht möglich ist.
Sobald dagegen die Einsicht erwacht, dass der stetige Stoff
nichts als eine subjektiv ideale Erscheinung im Bewusstsein ist.
und dass sein Korrelat ausserhalb des Bewusstseins ein System
von Kraftwirkungen ist, stellt sich der vom Bewusstsein aus sich
hinaus projizierte Stoff als ein Trug und Wahn dar, der nur
darum so zähe ist, weil er uns durch Instinkt und Lebensgewuhn-
heit eingewurzelt ist. Der im Bewusstsein sinnlich gegebene Stoff
ist dann nur noch die subjektiv ideale Erscheinung des objektiv
realen Systems von I"Craftwirkungen» das selbst bloss eine objektiv
reale Erscheinung eines unbekannten ihm zu Grunde hegenden
Wesens ist, also die Erscheinung einer Erscheinung, oder die"'
sekundäre Erscheinung im Bewusstsein einer primären Erscheinung
des Wesens. Eine solche sekundäre Erscheinung kann nimmer-
mehr die Substanz sein, an welcher die primäre Erscheinung, das
System der realen Kraftwirkungen, haftet. Vielmehr kann diese
Substanz nur in dem immateriellen Wesen gesucht werden,
in dem System der realen Kraft Wirkungen erscheint und zunächst'
als die Kraft an sich oder das Krattwesen bezeichnet werden
kann. Damit ist aber der Materialismus in einen immateriellen
Dynamismus von atomistischer Gliederung umgeschlagen, und es
ist nur der unkritische naive Reahsmus, der dies anzuerkennen
hindert.*)
Der Materialismus fühlt wohl seine Schwäche an diesem
Punkte, lehnt aber solche Erörterungen als metaphysische Spitz-
findigkeiten und Haarspaltereien ohne praktischen Wert ab. Er
*) Vgl. PhiL d. Uob*, Kap. C V. >Die Materie als Wille und Vorsiellui^»,
lo. Aufl-, n, 96—123. 473—478; Kategorienlehrc, S. 143 — 172, 496 — 524; Ges. StuiL
u. Aufäätzei C. VII» >Dymimiämus und Atomlsmus«, S. 526 — 545.
CKolbe.
451
betont desto lebhafter die rein mechanische Weltordnung, welche
^jede Teleologie ausschliesst und selbst den bewussten Geist nur
als ein blind notwendiges» teleologisch zufälliges Produkt aus sich
hervorbringt. In dieser Richtung ist aber nicht Büchner, sondern
Haeckel der Wegweiser gewesen, und Büchner hat sich in seinen
späteren Schriften der Haeckelschen Umgestaltung der Darwin-
schen Lehre nur angeschlossen. —
Czolbe (1819 — 1873) ging von Feuerbachs Sensualismus und
Materialismus aus. war aber durch den Dichter Hölderlin und
den Physiologen Johannes Müller mittelbar und in entfernter
Weise auch mit der Naturphilosophie in Beziehung gesetzt. Durch
Lotzes naturwissenschaftliche Schriften war er zu der Über-
zeugung geführt, dass nur eine mechanische Naturerklärung
naturwissenschaftlichen Wert habe, und durch Vogt und Mole-
schott war er mit der materialischen Denkweise in der Natur-
wissenschaft vertraut geworden, die ihn als Arzt ansprach. Er
hat drei Perioden durchgemacht, deren Ergebnisse in den Jahren
1855, 1865 und 1875 veröffentlicht sind, — das der ersten Periode
also gleichzeitig mit Büchners »Kraft und Stoff«.
Er sucht zunächst den Sensualismus Feuerbachs rein durch-
zuführen und die von jenem versäumte sensualistische Erkenntnis-
theorie nachzuholen. Was nicht sinnlich ist» das ist unklar; was
unklar ist, gehört nicht in die Wissenschaft; folglich ist alles
Nichtsinnliche und Übersinnliche aus der Wissenschaft auszu-
scheiden. Die Älathematik ist das Muster sinnlich anschaulicher
Erkenntnis. (Dies passt doch wohl nur auf die intuitive Behand-
lungsweise der Geometrie durch die Inder und auf die moderne
synthetische Geometrie, aber schon nicht mehr ganz auf die
Euklidische Behandlung der Geometrie oder gar auf höhere drei-
dimensionale Raumgebilde, und am allerwenigsten auf die Arithme-
tik, Algebra, Analysis und Zahlentheorie.) Als nichtsinnlich und
unklar verwirft er den Begriff der Kraft, erkennt also, dass ein
reiner Materialismus nur unter Beseitigung alles ins Übersinnliche
führenden Dynamismus auf Grund rein mechanischer Kinetik
durchzuführen ist. Immerhin scheint er hierin nicht konsequent,
da er schon in seiner ersten Periode von einer Anziehung und
Abstossung der Atome redet und in seiner dritten Periode die
physikalischen Kräfte neben die Atome stellt.
Ebenso erkennt er, dass eine Übereinstimmung der subjektiven
29*
452
CxoJbe.
Empfindungen und Vorstellungen mit dem ausserbewussten Sein
nur auf Grund einer Gleichartigkeit beider durchführbar sei. Da
er nun die Hegeische Verbegrifflichung des Seins verwirft, den
Willen nur als sekundäres Produkt der Empfindung gelten lässt
und unbewusste Vorstellungen nicht kennt, so bleibt ihm nichts
weiter übrig, als den Empfindungen als solchen eine objektive
Realität zuzuschreiben. Er stützt sich auf die von ihm miss ver-
standene Ansicht Johannes Müllers, der den Empfindungen eine
subjektive räumliche Ausbreitung zuschrieb, und deutet dieselbe
so um, dass ihnen eine objektiv reale räumfiche Existenz ganz
unabhängig von ihrem Bewusstwerden zukommen soll. Er nimmt
also an, dass die Sinnesqualitäten, wie rot und süss, als räumlich
ausgebreitete den Dingen anhaften, durch die Sinne ins Gehirn
hineinwandern, dort durch kreisförmigen Faserverlauf, durch
RefiexLion, Rotation oder sonstwie eine in sich selbst zurücklaufende
Richtung erhalten und dadurch erst bewusst werden* Sowohl
die sinnliche Qualität als auch die räumliche Ausbreitung des
Wahrnehmungsinhalts dringen also mechanisch aus der Aussen-
w^elt in das Gehirn ein; die Form des Bewusst werdens selbst istJ
nur ein Produkt dieser Bewegung. Damit ist festgestellt, dass
der Sensualismus nur möglich ist als naiver Realismus in Bezug
auf den Wahrnchmungsinhalt, also durch Hypostasierung defJ
Sinnesqualitäteo. Der Materialismus besteht in Czolbes erster*
Periode auch in Bezug auf die Form des Bewusst werdens noch in
un geschwächt er Kraft fort, denn es ist die materielle Gehirn-
Substanz selbst in Verbindung mit den eindringenden substan- ■
tiellen Wahrnehmungsinhalten, die das Bewusstsein trägt undj
hervorbringt —
In seiner zweiten Periode bekennt er, von dem Irrtum zurück- i
gekommen zu sein, als ob das seelische Innewerden sich aus der"
Materie und ihren Bewegungen ableiten liesse; er erklärt also
in dieser Hinsicht den Materialismus filir falsch und setzt einen
Hylozoismus an seine Stelle. Aber nicht die Atome als solche
und ihre Verbindungen sind nach Czolbes Hylozoismus Träger
einer beseelten Innerlichkeit (wie später bei Haeckel), sondern
die hypostasierten ausgedehnten Sinnesqualitäten, die neben den
materiellen Atomen den realen Raum als selbständige Existen-
zen erfüllen. Wie bei Herbart die Vorstellungen innerhalb des
monadischen Individualbewusstseins als selbständige Existenzen
Gzolbe.
455
und Kräfte auftreten, die durch ihren gesetzmässigen Mechanis-
mus das subjektive Vorstellungsleben zustande bringen, so ent-
falten sich bei Czolbe aus dem gesetzmässigen Mechanismus
der ausgedehnten Sin nesquali täten ausserhalb aller Individual-
bewusstsoine diejenigen Sonderergebnisse, durch die erst die
Individualbewusstseine konstituiert werden. An sich ist jede
einzelne objektiv reale Empfindung bewusst; aber indem viele
denselben Raum erfüllen» löschen sie sich gegenseitig aus, gleich-
sam durch Interferenz, wie viele denselben Raum erfüllende
physikalische Kräfte sich gegenseitig kompensieren und in Latenz
erhalten. Nur durch bestimmte Gehirnbewegungen werden dann
einige von ihnen aus dieser Latenz ausgelöst und freigemacht,
und dann treten sie als das zu Tage, was sie an sich schon immer
waren, nämlich als bewusste Empfindungen. Die Gesamtheit der
räumlich ausgedehnten Empfindungen nennt Czolbe die Welt-
seele, nach Analogie der Weltmaterie, die die Gesamtheit der
Atome umfasst. In der zweiten Periode ist aber von einer sub-
stantiellen Einheit wieder auf seelischer noch auf stofflicher Seite
die Rede, sondern es herrscht hier der Pluralismus der hypo-
stasierten Empfindungen, dort der der stofflichen Atome. Die
wesenthche Verwandtschaft beider Seiten beruht auf der räum-
lichen Ausgedehntheit, die die Empfindungen mit den Atomen
gemein haben. Schon in der zweiten Periode sagt er, dass die
Ausdehnung Subjekt und Substanz sowohl der Atome, als auch
des sie durchdringenden Raumes sei; er behauptet aber hier noch
nicht dasselbe von der Ausdehnung in Bezug auf die Empfin-
dungen. Die Räumlichkeit der Atome und hypostasierten Em-
pfindungen genügt ihm, um ihre Wechselwirkung zu ermöglichen,
aber noch nicht, um die zwei Substanzen in eine zusammenzufassen.
Von den übrigen Materialisten unterscheidet Czolbe sich da-
durch, dass er die Herrschaft des Zweckes in der Welt anerkennt,
und zwar in doppeltem Sinne, einerseits als ewige immanente
Formbestimmtheit gewisser materieller Verbindungen, andererseits
als Glückseligkeitsideal, dem der Weltprozess als seinem Endziel
zustrebt. Diese in der ersten Periode nur angedeuteten Gedanken,
erhalten erst in der zweiten ihre Ausführung. Die Welt und
ihre Ordnung ist ewig; darin ist Czolbe mit Micbelet einverstan-
den und findet durch Otto Volgers Werk »Erde und Ewigkeit c
(1857} Unterstützung, der sogar den jetzigen Bestand der Erd-
454
Ceolbe.
Oberfläche eils ewig zu erweisen sucliL Auf solcher Grundlag-e
darf die Behauptung, dass auch die materiellen Formen mit Ein-
schluss der organischen Speciestypen ewig seien, nicht mehr
Wunder nehmen, wenngleich diese Behauptung nach dem Er-J
scheinen der Darwinschen Hauptwerke verspätet erscheint. Czolbel
sagt sich darin vom MateriaHsmus los, dass er die rein mechani-
sche Entstehung der organischen Formen aus Unorganischem fuTJ
unmöglich erklärt; aber er hält darin an ihm fest, dass er ihre
Selbsterhaltung und Fortpflanzung auf Grund ihres ewigen Gte-
gebenseins aus rein mechanischen und materiellen Prozessen er-
klärt sehen will. Neben den Atomen und Empfindungen bilden
diese Formen das dritte der ursprünglichen und ewigen Grund-
principien. Czolbe erkennt also das Problem an, das in dem Be-
stehen zweckmässiger Formen liegt, schiebt es aber beiseite, in-
dem er diesen Bestand als ewig und ursprünglich und darum
keiner Erklärung fähig und bedürftig proklamiert.
Der Sensualismus kann nur unter der Voraussetzung bean-
spruchen, eine erträghche Weltanschauung zu sein, dass der eu-
dämonistische Optimismus als selbstverständlich gilt. Dies war von
den bisherigen Materialisten bloss stillschweigend angenommen;
Czolbe gebührt das Verdienst, diesen Zusammenhang ausdrücklich
klargestellt zu haben. M^ahre Religiosität und Sittlichkeit besteht in
Zufriedenheit mit der bestehenden Welt; sie macht alle übersinn-
liche und übern atiiriiche Rehgion und Moral überflüssig, die nur aus!
Unzufiriedcnheit mit der bestehenden Weltordnung entspringt, d, k
aus jener Auflehnung, die als »Sünde gegen die Weltordnung« zu
bezeichnen ist. Jener Eudämonismus» den Kant als das radikal
Böse in der Menschennatur betrachtete, und jener Optimismus,
den Schopenhauer als eine verruchte, Nietzsche als eine philiströse
Gesinnung verwirft, sie werden hier der gefühls massige Mass-
stab für Religiosität und Sittlichkeit einfach deshalb, weü ohne
sie der Sensualismus und Materialismus eine dem Gefühl uner-
trägliche Weltanschauung wäre. Wie Comte ist audi Czolbe
Altruist und verwirft den rein egoistischen Eudämonismus, ohne
dies aus seinen Principien irgendwie begründen zu können. Weil
er selbst sich kein höheres Ideal als die GlückseUgkeit jedes Ein-
zelnen zu denken vermag, darum glaubt er» d^ss dies der Welt-
zweck sei; ja sogar er schreibt diesem Zweck eine einende Krafl
zu, die für den Mangel eines einheitlichen Grundprincips als Er-^
Crolbe.
455
satz dienen soll, und gleichsam als viertes zu den drei übrigen
Principien (Atome, Empfindungen, zweckvolle Formen) hinzutritt
In ihnen findet die Erkenntnis ihre notwendigen Grenzen, nicht
etwa wegen der subjektiven Beschränktheit des Verstandes, son-
dern wegen der Ursprünglichkeit und Ewigkeit dieser Principien, —
In seiner dritten Periode gelangt Czolbe zu der Ansicht,
dass das Gefühl oder die Empfindung weiter nichts ist als ein
Raumteil, dem die Bewusstheit zukommt. Schon vorher hatte
sich ihm. das Atom als ein Raumteil dargestellt, der die Qualität
der absoluten Festigkeit, und die Kraft als ein Raumteil, der die
Qualität der Anziehung und Abstossung besitzt. Wenn nun
bei diesen der Raum als Subjekt und Substanz der betreffenden
Qualitäten erschien, so musste ihm dieselbe Bedeutung auch bei
-den Empfindungen zugesprochen werden. Damit rückt der Raum
in die Stellung als Weltsubstanz ein; zur Grundlage aller phy-
sischen und psychischen Dinge wird der leere Raum, der auch
in der Naturphilosophie schon eine so wichtige Rolle gespielt
hatte. Wenn er schon vorher alle Atome im Raum zur Welt-
materie und alle Empfindungen im Raum zur Weltseele zusammen-
gefasst hatte, so wird nunmehr der Raum zu der einheitlichen
Substanz sowohl der Weltmaterie als der Weltseele, Damit nähert
Czolbe sich Spinoza und dem identitäts philosophischen Monismus.
Da aber der nai uralistische Begriff des leeren Raumes die Sub-
stanz der Materie und des Geistes bleibt, so bleibt sein Standpunkt
ein naturalistischer Monismus. Da ferner einerseits sein Stoff-
bogriff in dem Begriff eines widerstandsfähigen Raumes sich er-
schöpft und andererseits sein Begriff' der Empfindung verräum-
licht und hypostasiert ist, so kann dieser ganze Naturalismus
aoch nur als ein bloss verlarvtcr Materialismus angesehen werden.
Jedenfalls hat diese letzte Entwickelungsphase Czolbes am wenig-
sten Einfluss erlangt, teils weil nur ein Bruchstück von ihrer
Darstellung veröffentlicht ist, teils weil diese Veröffentlichung in
einen Zeitpunkt fiel (1875), wo die Aufmerksamkeit des philo-
sophischen Publikums bereits auf ganz andere Standpunkte ge-
richtet war.
Vielleicht hätte Czolbe bei längerem Leben unter Ueberwegs
Einfluss noch weitere Wandlungen durchgemacht. Schon jetzt ist
der Einfluss seiner beiden ersten Perioden an vielen Denkern zu
spüren. So haben z. B. Lotze und von Kirchmann die objektiv
456
Haeckel.
reale Existenz der sinnlichen Empfindungsqualitäten, Lang-e die
räumlich sinnliche Anschaulichkeit aller wahrhaft wiasenschaft-
lichen Erkenntnisse, Dühring die konstanten zweckvollen Formen
und die Verschmelzung der sittlichen Gesinnung mit eudämonisti-
schem Optimismus von ihm entlehnt —
Haeckel (geb. 1834} weist den Materialismus in doppeltem
Sinne von sich ab: einerseits als ethischen Materialismus, andrer-
seits als einen solchen, nach welchem der Stoff früher wäre als
die Kraft. Gleich Büchner kann er sich Stoff ohne Kraft eben-
sowenig denken, wie Kraft ohne Stoff, Diesen Dualismus von
Kraft und Stoff bezeichnet er merkwürdiger Weise mit dem Aus-
druck Monismus. Er behauptet die Einheit der Naturkräfte in
dem Sinne, dass zwischen Unorganischem und Organischem kein
wesentlicher Unterschied ist, die Einheit der Materie und des
Geistes in dem Sinne, dass er Materie und Stoff, Geist und Kraft
als Wechsel begriffe braucht und jedem Atom Empfindung und
Wille zuschreibt, und die Einheit Gottes und der Natur in dem
Sinne, dass es keinen anderen Gott giebt als die Natur. Alle
Organismen leitet er aus der chemischen Vierwertigkeit der Kohlen-
stoffatome ab, durch welche dieselben befähigt werden, verwickeitere
chemische Verbindungen aufzubauen als andere Atome.
Haeckel ist also ontologischer Pluralist, indem er die
Natur als eine Vielheit von getrennten Substanzen (Atomen) auf-
fasst, metaphysischer Dualist, indem er in jeder Einzelsubstanz
zwei verbundene metaphysische Principien (Kraft und Stoff) an-
nimmt, phänomenaler Dual ist, indem er zwei verschiedene
Gebiete der Erscheinung (äusseres mechanisches Geschehen und
inneres Empfinden und Wollen) anerkennt, Hylozoist, indem er
jedem Teil der Materie Belebtheit und Beseeltheit zuschreibt,
Identitätsphilosoph, insofern er den Grund beider Erscliei-
nungsgebiete in ein und derselben Art von Substanzen sucht,
kosmonomischer Monist, indem er die teleologische Gesetz-
mässigkeit in der Welt leugnet und nur die kausale gelten lässt,
und Mechanist, indem er alles kausale Geschehen als mechanische
Vorgänge zwischen materiellen Teilchen ansieht. Monismus greift
über seine eigentliche Bedeutung als kosmonomischer Monismus
hinüber in die Bedeutung der Identitätsphilosophie und schillert
manchmal sogar in einen ontologischen Monismus im Sinne einer
naturalistischen All-Einheits-Lehra hinüber, besonders in poetischen
KaeckeL
457
Citaten. In dieser unklaren Vermischung dreier verschiedener
Begriffe, von denen der dritte dem Haeckelschen Standpunkt
gradezu widerspricht, hat der Ausdruck Monismus in die populäre
Litteratur der letzten Jahrzehnte Eingang gefunden, sehr zum
Nachteil einer scharfen philosophischen Terminologie.
Die Büchnersche Gedankenlosigkeit, als ob aus irgend wel-
chen Bewegungen jemals ein Empfinden oder Denken entstehen
könnte, wenn nichts als Stoff und Bewegung dazu gegeben wäre,
wird von Haeckel dadurch beseitigt, dass mit dem Stoff ausser
der Kraft auch noch die Fähigkeit zu empfinden und zu wollen
ursprünglich verbunden gedacht wird. Haeckel ist also nicht
Materialist schlechthin, sondern nur hylozoistischer Materia-
list zu nennen. Allerdings tritt nun die neue Schwierigkeit auf,
wie die vielen Empfindungssubjekte der substantiell getrennten
Atome miteinander so zu einem Empfindungssubjekt verschmelzen
können, dass ihr atomistisch gesonderter Bewusstseinsinhalt zum
gemeinsamen Inhalt eines Beu-^sstseins höherer Ordnung ver-
wächst.*) Diese Schwierigkeit, die noch kein Hylozoist gelöst
hat, ist Haeckel gar nicht einmal zum Bewusstsein gekommen.
Der Protest der theoretischen Materialisten gegen den ethischen
Materialismus ist sehr achtungswert und deshalb ehrlich» weil sie
von ethischen Idealisten abstammen; aber er ist theoretisch un-
stichhaltig. Denn der Materialismus kann keine Ethik begründen
und in den späteren Nachkommen der heutigen Materialisten
würden die idealistischen Instinkte sich immer mehr abschwächen
müssen. *=*') —
Haeckel lässt den Unterschied von bloss beschreibender Natur-
künde und eigentlicher Naturwissenschaft, welche die Kausal-
zusammenhänge zu erforschen hat, gelten, aber nicht den von
Naturwissenschaft und Naturphilosophie, welche ausser den kau-
salen auch die teleologischen Zusammenhänge und das Verhältnis
beider zu betrachten hätte. Er kennt keine Metaphysik hinter
der Physik, obwohl doch die Physik nur das mechanische Ge-
schehen, aber nicht das Empfinden und Wollen und nicht die
Zusammenhänge des äusserlichen und innerlichen Erscheinungs-
gebietes miteinander und mit dem in beiden erscheinenden Wesen
*) Vgl. »PhiL des Unbewussten«, lo. Aufl.» Bd- III. S. 125—127, 146.
♦♦) Vgl. »Phil, des Unbewusalcns 10. Aufl., Bd. m, S. 31—33*
458
Haeckel.
^
ZU untersuchen hat Er bekämpft mit Recht jede Teleologle de»
gesetzwidrigen Wunders, beachtet aber nicht, dass dies überhaupt
ein unwahres Zerrbild des Begriffs der Teleologie ist* das gar
nicht kritisiert zu werden braucht Er verkennt, dass die wahre
Teleologie sich weder gegen noch ohne den gesetzmässigen
Mechanismus des Naturgeschehens entfalten kann, sondern nur
durch denselben, und dass Finahtät und Kausalität. Teleologie
und Mechanismus BegriiFspaare sind, die beim Auseinanderreissen
ihrer Glieder zu toten und unwahren Abstraktionen w^erden.*)
Er ahnt deshalb auch nicht, dass es eine schlechte Art von
Monismus ist, die das eine Glied des Gegensatzes ausstreicht
anstatt beide als zusammengehörige Seiten der einen Gresetz-
mässigkeit gelten zu lassen, die nur beim Wechsel des Gesichts-
punktes mitemander tauschen. Die Naturwissenschaft hat den
Weltprozess nur unter dem kausalen, mechanischen Gesichtspunkt
aufzufassen; die Überschätzung der Naturwissenschaft, welche
keine Wissenschaft über dieser anerkennt, kann deshalb selbst-
verständlich auch keinen anderen Gesichtspunkt als den ihrig
und keine andere Art von Wcltgesetzlichkeit anerkennen, als die-
jenige, die ihr Arbeitsgebiet ausmacht Diese naturwissenschaft-j
hebe Einseitigkeit schwindet von selbst mit einem Umschwung
im Zeitgeiste, wie er bereits begonnen hat
Dass die Abstammung der verschiedenen Spezien von einander
auf rein mechanischem Wege durch GeoflEroy St Hilaire, Lamarck
und Darwin festgestellt sei, ist übrigens eine irrtümliche Behaup-
tung Haeckels. Nur die Auslese im Kampf ums Dasein ist eini
rein mechanisches Vehikel, leistet aber auch positiv gar nichtSi'
sondern trägt nur negativ zur Ausschaltung des Unzweckmässigen
und dadurch zur Erhaltung der bereits erreichten zweckmässigen
Bildungen bei. In allen anderen Erklärungsprincipien zeigt sich
dagegen eine bestimmt gerichtete und in bestimmte Grenzen
eingeschlossene Bildungstendeoz, oder wie von Baer sagt: Ziel-
strebigkeit. Dies gilt sowohl für die Variabilität als auch für die
Vererbung, welche durchaus nicht alle individuell erworbenen
Eigenschaften betrifft Erst diese drei Faktoren zusammen er-
geben als ihr Produkt die natürliche Zuchtwahl, von der Darwin
♦) Vgl. >Phil. des Unbcwussienc, lo. Aufl., Bd. U, S. 450— 451 ; Bd Ut KApATL
«Mechanlsinus und Teleolcjgie*, S. 451—491, 33 — 40; *Kategorietilelire<, S. 318 — 321*
431-496.
Hn*?ckeL
459
selbst später bekannt hat, ciass er ihre Wirksamkeit in seinen
ersten Werken sehr überschätzt habe. Die geschlechtliche Zucht-
wahl setzt einen Instinkt geschlechtlicher Auswahl nach unbe-
wussten typischen Ideen, und soweit sie Schönheit produziert,
eine auf Schönheit gerichtete Modifikationstendenz voraus. Die
Anpassung des Typus an veränderte äussere Umstände oder der
Organe an veränderte Gebrauchsbedingungen ist selbst in her-
vorragendem Sinne eine teleologische Funktion des Organismus.
Das Gesetz der Korrelation in der korrespondierenden Abänderung
verschiedener Teile des Organismus weist auf eine ideelle Plan-
mässigkeit aller Veränderungen hin. Eben darauf deuten auch
die sprunghafte Umwandlung eines Typus in einen anderen durch
Umgestaltung im Kcimleben, die zwar nicht von Haeckel, aber
von vielen anderen Naturibrschern anerkannt wird, und die ideelle
Verwandtschaft in weit entlegenen Teilen des Stammbaums, die
nur durch Analogien und Parallelvorgänge in der gesetz massigen
Entvvickelung vermittelt wird,*) —
Wenngleich Haeckel darin irrt, dass er die Umwandlung der
Spezien in einander mechanisch erklärt zu haben und die Teleo-
logie als überwundenen Gesichtspunkt ausschalten zu können
glaubt, so gebührt ihm doch das Verdienst, dem Begriff der
Entwickelung in der organischen Natur zum Siege verhelfen zu
haben. Selbst Goethe, Schelling» Hegel und seine Schule hatten
noch nicht gewagt, die ideelle Stufenordnung dsr Natur als reelle,
stammesgeschichtliche Entwickeln ng aufzufassen , sondern hatten
eine solche Ansicht ausdrücklich zurückgewiesen und den Begriff
der Entvvickelung auf die Geschichte des Geistes in der Mensch-
heit beschränkt. Jetzt erst war die Naturwissenschaft durch Dar-
win so weit gefördert, dass daran gedacht werden konnte, einen
Stammbaum der organischen Natur aufzustellen. Dadurch erst
hört die organische Natur auf, einen sich ewig auf derselben Stelle
drehenden Kreislauf darzustellen, und gliedert sich in die Ent-
Wickelungsgeschichte der Erde und durch diese in die Entwicke-
lungsgeschichte unseres Planetensystems und unserer Weltlinse
ein. Die geistige Entwickelunj^sgeschichte der Menschheit ge-
wann nun erst ihre rechte Stellung in der Entwickelung des
Universums, indem sie als Fortsetzung der Entwickelung der
') \ gl. rhiL des Unbcwussteo*, lo. Aiifl., Bd. III, S. 333—450.
460 Dühring.
organischen Natur auf der Erde begrriflFen wurde. So erst g-elangt
der BegrifiF der Entwickelung zu einer universalen Durchfuhrung
auf allen Gebieten. Dieser Fortschritt kann auch in metaphy-
sischer Hinsicht nicht hoch genug veranschlagt werden, weil
dadurch erst die Teleologie eine universell evolutionistische Be-
deutung erhält
Den BegrifiF der Entwickelung in der organischen Natur
streng durchzuführen war Haeckel nur dadurch möglich, dass er
die Relativität des IndividuaUtätsbegrifiFes erkannte luid die zu-
sammengesetzten Organismen als einen Stufenbau von Individuen
sehr verschiedener Individualitätsstufen begrifif. Anläufe hierzu
waren in der Naturwissenschaft schon vielfach gemacht worden,
aber Haeckel war der erste Naturforscher, der sie in seiner
»Generellen Morphologie der Org^anismenc (1866) systematisch
durchführte.*) Die Relativität des IndividuaUtätsbegrifiFes ist aber
ein unentbehrlicher Grundpfeiler nicht nur der Naturphilosophie,
sondern auch der Psychologie und der Ethik. Denn das bewusste
und relativ unbewusste Seelenleben des Individuums höherer Ord-
nung wird erst verständlich, wenn man es als zusammengesetzt
aus dem Seelenleben der es konstituierenden Individuen niederer
Ordnung betrachtet, und die sittliche Eingliederung des Men-
schen in Familie, Gemeinde, Staat, Gesellschaft, Kirche, Mensch-
heit u. s. w. erhält erst ihre rechte Beleuchtung, wenn man diese
als Individuen höherer Ordnung anerkennt
So zeigt sich bei Haeckel ein dreifacher Fortschritt über
Büchner hinaus, nämlich in der hylozoistischen Verlebendigung
und Verinnerlichung des Materialismus, in der Durchfuhrung des
EntwickelungsbegrifiFes auf dem Gebiete der organischen Natur
und in der Erkenntnis eines Stufenbaues von Individualitäten.
Dagegen bleibt er principiell in einem rein mechanistischen, anti-
teleologischen Materialismus stecken, den er trotz des Dualismus
von Kraft und StofiF und der Zweiheit der Erscheinungssphären
(Mechanismus und Empfindung) Monismus nennt, bloss weil er die
Teleologie leugnet**) —
Dühring (geb. 1833) sucht den Comteschen »Positivismus« als
*) Vgl ^Phil. des Unbewussten«, lo. Aufl., Bd. II, S. 130^147.
♦*) Vgl. »Ges. Stud. u. Aufsäue«, C. III, »Ernst Haeckel als Vorkämpfer der Ab-
stammungslehre in Deutschland«, S. 460 — 496; »PhiL des Unbewussten«, 10. Aufl.,
Bd. n, S. 31, Anm., 479 — 480, Bd. III, S. 453--456, 458, 161 — 162, 172 — 173.
Dühring.
461
»Wirklichkeitsphilosophie« ins Deutsche zu übersetzen. Er teilt
mit Comte die Verachtung gegen Theologie und Metaphysik, die
humanitären und sozialistischen Neigungen und den Glauben,
dass die Verwirklichung einer sozialistischen, oder wie Diihring
sagt, sozialitären Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung den Himmel
auf Erden schaffen werde. Von Feuerbach entlehnt er den Sen-
sualismus, die humanitäre Ethik und den Hass gegen Theismus
und Christentum, von Czolbe die beharrenden Gattungstypen, in
denen die Teleologie zur Geltung gelangt, die Abneigung gegen
die Descendenztheorie und Transmutationstheorie, das Glückselig-
keitsideal als Weltzweck und den Glauben, dass der eudämonisti-
sehe Optimismus der wahre Massstab und Prüfstein für die Sitt-
lichkeit und den Adel der Gesinnung sei. Von dem vordarwin-
schen naturwissenschaftlichen Materialismus entnimmt er die Über-
zeugung, dass die Materie die alleinige Weltsubstanz sei und alles
Geschehen in der Welt sich rein mechanisch vollziehe. Den naiven
Realismus, Sensualismus, Materialismus, Eudämonismus und tri-
vialen Optimismus hat er mit allen diesen Vorgängern gemein;
von Schopenhauer dagegen übernimmt er die Ideenlehre Piatons,
Brunos und Schellings, die er mit Czolbes konstanten zweckvollen
Formen verschmilzt, den moralischen Entrüstungspessimismus und
die Art der Polemik gegen anders Denkende, Der Form nach
ist Dühring durchaus ein Dogmatiker alten Stils; an Stelle von
Beweisen und Begründen tritt bei ihm Behaupten, Versichern imd
Anrufen der Gesinnung; die sachliche Widerlegung gegnerischer
Ansichten wird durch herabwürdigendes Schelten, oft genug durch
persönliche Ausfälle, ersetzt Seine ^kritische Geschichte der
Philosophie« schliesst sich ganz an die Darstellung an, die Lewes
seiner Geschichte der Philosophie im Sinne Comtes gegeben hatte,
d. h. sie will eine fortlaufende Geisselung der metaphysischen
Verirrungen der Menschheit sein, die erst jetzt zur Besinnung
gelangt ist, —
Die Tragweite der menschlichen Erkenntnis kann keine anderen
Umrisse und Schranken haben als die Natur, die Wirklichkeit oder
das Sein; Denken und Sein sind völlig homogen und decken sich
so, dass keine Seite oder Form der Wirklichkeit unbegriifen bleibt
Es giebt keinen Gegensatz von Wesen und Erscheinung, und der
Lauf der Dinge hat kein materielles und geistiges DoppelgesichL
So giebt es auch keinen Geist hinter der Materie; alle Möglich-
462 Dühring.
keit muss in materiellen Verhältnissen liegen und alles wirkliche
Geschehen in mechanischen Vorgängen an der Materie. Auch die
Empfindungen und Bewusstseinsvorgänge können, abgesehen von
dem unmittelbaren BegrifiF des Empfindens selbst, nur in einer
bestimmten Form mechanischer StofFbewegung bestehen. Sowohl
der sinnliche Inhalt wie die logische Form unserer Vorstellungen •
stammt aus dem Sein; die Schematik der Sinne wie die des Ver-
standes ist das Abbild der entsprechenden Naturvorgänge; Empfin-
dung und Denken entsprechen vollkommen der Wirklichkeit und
ohne dies bliebe das Erkennen ein nichtiger Schein. Darum
dürfen wir auch unsere Denkschematik und Denkgesetze auf das
Sein anwenden und der Übereinstimmung des so Gewonnenen
mit der Wirklichkeit sicher sein.
Die Elementarbegriffe unserer Weltauffassung sind die all-
umfassende Einzigkeit des Seins, das Ineinandersein seines Be-
harrens und seiner Veränderung und seine Begrenztheit, Hierzu
treten die spezielleren Grundbegriffe, die sich aus der Anwendung
der logischen Gesichtspunkte auf das Sein ergeben, nämlich die
Identität, der Ausschluss des logischen Widerspruchs und die
Kausalität. Die Begrenztheit des Seins ist dadurch sichergestellt,
dass das Gegenteil den Widerspruch einer vollendeten Unendlich-
keit einschliessen würde. Da nun die Natur nur der universelle
Zusammenhang des Materiellen ist, so ist allein die Materie der
Träger aller Wirklichkeit, aller Veränderungen und aller mecha-
nischen Kräfte, d. h. das einzige Sein fällt mit dem materiellen,
mechanischen Sein zusammen, das zugleich der substantielle Träger
des geistigen Seins ist. Alle Versuche, die Materie aus Kräften
zu erklären, werden von Dühring verworfen. Mechanische Kräfte
und geistige Erregungen sind nur Zustände und Aktionen von
der materiellen Substanz; der Individualgeist ist darum etwas
durchaus Vergängliches. Die Beharrung des Seins stellt sich
nunmehr dar einerseits als unveränderliche Stoffmasse, Kraftgrösse
und Atomzahl, andererseits als Konstanz der Gattungsideen und
der Verknüpfungsgesetze, die Begrenztheit des Seins als unend-
lich begrenzte Stoffmasse, Kraftgrösse und Atomzahl und als
Begrenztheit des Weltprozesses in der Vergangenheit, aber nicht
in der Zukunft. Wie Czolbe betrachtet auch Dühring die Ele-
mente und Grundbegriffe des Seins als letzte und höchste primitive
Notwendigkeiten, vor denen das Erkennen Halt machen muss. —
Dahriflg.
463
Dem Anfang des Weltprozesses muss ein veränderungsloser
Zustand der Materie vorausgegangen sein, der bei der Ewigkeit
der Gesetze nur als statischer Gleichgewichtszustand aller Teile
zu denken ist. Wie aus diesem ein Übergang zur Bewegung
möglich war, kann Dühring nicht angeben; wenn er aber die
Lösung dieses Problems von künftigen Fortschritten der Mechanik
erhofft, so übersieht er, dass das Problem selbst einen Wider-
spruch in sich schliesst» also auf logischem Wege ewig unlösbar
bleiben muss. Eine zweite Grenze der Erklärbarkeit bildet der
elementare Subjektivierungsvorgang, in welchem die bewusstlose
Mechanik zum Gefühl ihrer selbst gelangt Auch hier erkennt
Dühring zwar die Unlösbarkeit des Problems an, aber nicht den
in der Art seiner Stellung steckenden Widerspruch* In dem
dritten und wichtigsten Punkte gelangt aber Dühring nicht ein-
mal dazu, einzusehen, dass er einer Unerklärlichkeit, geschweige
denn, dass er einem Widerspruch gegenübersteht. Thatsächlich
unerklärlich ist aber die Geltung der logischen Formen und
Gesetze, der Ideen und des Zweckes in dem materiellen Welt-
prozess, und widerspruchsvoll ist es, dass die Materie als das ein-
zige, allumfassende, absolute Sein behauptet wird, wenn neben
ihr, in ihr und über ihr die Gesamtheit der ideellen Faktoren
besteht.
Dühring leugnet ein Universalbewusstsein in der Natur, weil
ein solches statt eines Wissens von allem nur die verworrene
Auslöschung alles Wissens durcheinander liefern würde. Er
leugnet ferner jeden Geist über und hinter der Natur, der die
Summe der ideellen Faktoren in die Natur gelegt hätte, weil dies
zu abergläubischen religiösen Vorstellungen zurückfüliren uoirde.
Er leugnet endlich die Möghchkeit einer unbewussten Vorstellung,
obwohl er sich ihr mit seinem Begriff einer Phantasie, die dem fer-
tigen Bewusstsein vorausgeht und diesseits der ideellen Sphäre
liegt, sehr annähert Er bleibt dabei, dass ein Denken ohne Be-
wusstsein ein schiefer Ausdruck sei für einen Akt, der gar kein
Denken, sondern nur überhaupt eine verbindende Thätigkeit ent-
hält. Wenn nun aber das bewusste individuelle Denken erst das
Ergebnis der ideell bestimmten materiellen Vorgänge ist, und
diese ideelle Bestimmtheit weder von einem universellen Natur-
bewusstsein, noch von transcendenter göttlicher Anordnung, noch
von einem unbewussten, der Natur immanenten Denken herrühren
464
BQluiiig.
soll, dann bleibt sie als etwas unerkiärliches Zweites neben und
über der Materie bestehen, und Dührings Philosophie läuft in
einen klaffenden Dualismus eines stofflich realen und eines im-
materiell idealen Princips aus, der seine Überwindung fordert
und doch auf diesen Grundlagen nicht finden kann, —
In welchem Masse Dühring der Teleologie einen Platz in
seiner ^ Wirklichkeitsphilosophie« einräumt, tritt erst hervor, wo
er dieselbe als Religionsersatz anbietet Aus der Gefühlssubjek-
tivierung der mechanischen StoflFbewegung entspringt die Glück-
seligkeit, die der Zweck des Prozesses ist; die Glückseligkeit
wächst mit der Gefühlsfeinheit und diese mit der Vollkommenheit
und Komplikation der materiellen Zusammensetzung. Deshalb ist
die Lebenssteigerung, d. h. die Hervorbringung höherer und
zusammengesetzterer Organismen ein Naturzweck, und nur darum
ist der Fortgang von einfacheren zu verwickeiteren Typen eine
Entwickelung, d. h, ein Aufsteigen von Niederem zu Höherem,
von minder Zweckmässigem zu mehr Zweckmässigem. Die ganze
Anlage und Einrichtung der Welt ist wesentlich für den Menschen
hergestellt und mit seinem Wohl in Übereinstimmung. Aufgabe
des Menschen ist, sich mit der allgemeinen Systematik dieser für
sein Wohl eingerichteten Welt ins Gleichgewicht zu setzen. Wo
die Glückseligkeit der Weltzweck ist, da muss natürlich der Kampf
ums Dasein mit allen seinen Folgen als eine diesem Zweck wider-
sprechende Lehre venv^orfen werden. Aller Pessimismus ist sitt-
lich verwerflich, ausser dem moralischen Entrüstungspessimismus,
der die Hindernisse hinwegräumen hilft, welche durch Bosheit
und Unverstand der allgemeinen Glückseligkeit zeitweilig noch in
den Weg gelegt werden.
Der Naturgrund der Dinge, das ursprüngliche Gleichgewicht
der noch ruhenden Materie enthält alles, wenn auch noch unent-
wickelt, in sich: Leben, Verstand, Gemüt, den Zweck, der das
Gute ist, und auch das seine Verwirklichung hemmende B^se. In
dem Prozess der Welt entfaltet es nicht nur eine allgemeine
Fürsorge für das grosse Ganze, sondern auch eine dem Einzelnen
zugewandte spezielle, die in der individueOen Ausstattung für die
besonderen Lebensaufgaben zu erkennen ist. Trotzdem soll dieser
Weltgrund weder Geist noch Gott heissen und der aus ihm ent-
faltete Weltprozess durchgängig und überall nur materieUe Mecha-
nik aufweisen. In seinen späteren Schriften lehnt Dübring selbst
von Kirtchnmna.
4^5
Namen eines Philosophen ab, ähnlich wie Comte dies nach
seinen Grundsätzen eigentlich hätte thiin müssen* —
von Kirchmann (1802^ — 1884) bildet den Übergang vom
naiv- realistischen, sinnlichen Materialismus zum Agnostizismus
einerseits und zum transcendentalen Realismus andererseits. Vom
Standpunkt des gesunden Menschenverstandes ausgehend, hat
er sich durch eine eingehende Kritik Kants. Hegels, Herbarts
Schellin gs, Mills u* s, w. philosopliisch geschult, ehe er mit seinem
System hervortrat; er ist deshalb von allen Denkern dieser Gruppe
bei weitem der gebildetste und zugleich der gründlichste, sach-
lichste und bescheidenste. Er ist zugleich der einzige von allen
Atheisten dieses Jahrhunderts, der zur Förderung der Kategorien-
lehre klärend beigetragen hat Wenn auch seine synthetische
spekulative Kraft sehr gering ist, so ist seine Begabung für
nüchterne Analyse und Kritik um so grösser.
Kirchmann unterscheidet zunächst den Inhalt und die Form
sowohl am Sein wie am Wissen, das er nur als bewusstes gelten
lässt Seinsinhalt und Wissensinhalt im Wahrnehmen sind iden-
tisch; Seinsform und Wissensform sind verschieden, Seinsinhalt
plus Wissensform ist somit nicht mehr identisch mit Seinsinhalt
plus Seinsfbrm, sondern formell verschieden und darum auch
numerisch verschieden trotz der inhaltlichen Identität. Der Seins-
inhalt fliesst beim Wahrnehmen unmittelbar aus der Seinsform in
die Wissensform über; da er aber dabei mit sich selbst identisch
bleibt» soll dieses Überfliessen weder Kausalität noch Beziehung
sein. Durch die Annahme der strengen Identität von Seinsinhalt
und Wissensinhalt ist Kirchmann naiver Realist. :^Das Wahr-
genommene ist€, und zwar im Sinne transcendenter Realität, das
ist sein erster Grundsatz, der ihm keines Beweises fähig oder be-
dürftig scheint. Wie Czolbe sieht er sich dadurch genötigt, den
bewusstseinstranscendenten Dingen alle sinnlichen Qualitäten zu-
zuschreiben, die wir in der Wahrnehmung ihnen beilegen. Es
mag sein, dass sie ausserdem noch andere qualitative oder
quantitative Bestimmungen an sich haben, wie z. B, die moderne
Naturwissenschaft es annimmt; jedenfalls tragen diese dann aber
nichts zum Zustandekommen der Wahrnehmung bei, da diese
ganz aus dem unveränderten Überfliessen des Seinsinhalts in die
Wissensforra entspringt Danach wären die Bemühungen der
modernen Naturwissenschaft völlig zwecklos, und so weit sie sich
£. v.U«! t man D. Autgew. Werke. Bd XIL SO
466
von Klrduiiami«
einbilden, etwas zur Erklärung- der Wahrnehmung beizutragen^
verkehrt.
Der Seinsinhalt muss, um den wahren Wissensinhalt zu er-
schöpfen, bereits alle Trennstücke wirklich enthalten, die das
Wissen aus ihm aussondert, z. B. die Eigenschaften und Begriffe,
insbesondere aber auch die Einheitsformen, nämlich i. das An-
einander in Raum und Zeit, 2. das Ineinander in Raum und Zeit
oder die Durchdringung, 3. das Ineinander der Mischung
und 4. das Ineinander des Begriffs mit seinem bildlichen Rest
Alle Bestandteile und Einheitsformen des Seinsinhaltes ftiessen
implicite mit in die Wisseosform über. Wenn das Wissen den
Inhalt in seine Bestandteile trennt und die gegenständlichen an
ihm haftenden Einheitsformen explicite heraushebt» so orientie
es sich damit nur über den Bestand des Seinsinhalts, lässt ihn abefl
unverändert. Nur w^enn es verschiedene Stücke des Seinsinlialtsl
zu einander in Beziehung setzt, fügt es mit diesen BeziehungenJ
etw^as hinzu, was so nicht im Seinsinhalt vorhanden ist Denn
der Seinsinhalt als solcher ist nach Kirchmann frei von allen
Beziehungen sowohl unter sich wie mit der Wissensform.
Damit scheint die Identität des Wisscnsinhalts und Sein»-'
Inhalts auf beiden Seiten aufgehoben. Einerseits schiesst der
Seinsinhalt über den Wissensinhalt über, insofern er vom Wabr-i
nehmen nicht erschöpft wird, sondern jederzeit noch vieles enthält
was sich der Wahrnehmung entzieht. Andererseits schiesst der
Wissensinhalt über den Seinsinhalt über, indem er eine Menge
von Beziehungen hinzufügt, die nicht zum Seinsinhalt gehören-
Einerseits fliesst jederzeit nur ein Ausschnitt des Seinsinhalts in
die Wissensform über, andererseits erweitert das Wissen das so
Empfangene durch beziehende Reflexion, Aber soviel, wie wahr-
genommen wird, so viel ist auch, und das beziehende Denken isti
mehr oder minder beschränkt und im Fall des Eintritts bestimmt
durch die im Selosinhalt vorgefundenen fundamcnta relationis.
Soweit diese Grundlagen beachtet werden, entfernt sich das be»
ziehende Denken nicht von der Wahrheit, sondern vergeistigt
vielmehr den Wahrnehmungsinhalt —
Wenn Kirchmann in Bezug auf den Wahrnehmungsinhalt
naiver Realist ist, so ist er in Bezug auf die Be^tiehungsbegriffe
oder Beziehungsformen zunächst transcendentaler Idealist, indem
er die Gültigkeit derselben ausserhalb des Wissens leugnet Hier-
von KiichmötiB.
467
Bf rechnet er, wie schon bemerkt, nicht die Zusammeng-esetzt-
heit aus Teilen und nicht die gegenständlichen Einheitsformen,
also auch nicht Raum und Zeit, wohl aber: inicht, und, oder,
gleich, Zahl, alle, Ganze, Kausalität, Substantialität. Wesen,
Form und Inhalt, Inneres und Äusseres*. Die Fioalität führt
er nicht besonders an. müsste sie aber dem Sein erst recht
absprechen, da er ihm die Kausalität und Siibstantialität ab-
spricht. Mit seiner Leugnung der realen Gültigkeit der Be-
ziehungsbegriffe ninimt Kirchmann die Lehre der Motekallemin
wieder auf, welche konsequent durchgeführt zum reinen Agnosti-
zismus führt.
Nun ist aber schon die Wissensform selbst, die Reflexion in
sich, oder die ideale Spiegelung des Seinsinhalts im Bewusstsein
eine zum Seinsinhalt hinzugefügte Beziehung Ebenso ist das
>Überfliessen< des Seinsinhalts aus der Seinsform in die Wissens-
form ganz offenbar eine Beziehung, Wenn es ein Sein ausserhalb
des Bewusstseins überhaupt giebt, so kann es nichts weiter sein,
als ein in Beziehungen Stehen, wie Lotze richtig bemerkt hat
Kirchmann irrt, wenn er die Zusammengesetztheit des Seins-
inhalts aus Bestandteilen und die diese Teile umschliessenden Ein-
heitsformen für ein beziehungsloses Sein hält; er irrt auch, wenn
er das Sein für rein kontinuierlich hält, während es überall Be-
ziehung zwischen Kontinuierlichem und Diskretem ist und jede
Ungleichmässigkeit im Kontinuierlichen schon den Ansatz zur
Diskretion zeigt Er irrt, wenn er die thatsächlicbe Regelmässig-
keit im realen Geschehen frei von Beziehungen glaubt, während
er doch schon die Allheit der unter die Regel befassten Fälle
als eine Beziehung anerkennen muss. Er irrt endlich, wenn er
die Seinsform oder Form der Realität, die in den Wahrnehmungs-
inhalt nicht mit überfliesst, für etwas anderes als eine Beziehung
hält; denn dieser negative Begriff, der nur das Nicht wissbare an
den Dingen bezeichnet, entspringt ja nur aus dem Widerstände,
den die Seinsform dem Wahrnehmen leistet d. h. aus einer realen
Beziehung zwischen dem seienden Dinge und dem seienden Wahr-
nehmungssubjekt
Somit ist die Kirchmaonsche Scheidung zwischen einem be-
ziehungslosen Wahrnehmungsinhalt und Seinsinhalt einerseits und
hinzugefügten gedanklichen Beziehungen ohne reale Gültigkeit
andererseits nicht haltbar; denn wollte man alle Beziehungen aus
30*
468
vom Kirciunann.
dem Seinsinhalt reinlich ausscheiden, so bliebe schliesslich nichts
übrig» was noch als Seinsinhalt gelten könnte. Durch seine Lehre,
dass die Anwendung der Beziehungsformen und ihr Erg^ebnis im
besonderen Falle abhängig ist von den im Sein enthaltenen Grund-
lagen, leitet aber Kirchmann selbst zum transcendentalen Realis-
mus hinüber. Gewiss giebt es viele Beziehungsbegriffe oder besser
Beziehungsformen, die bloss subjektiver Natur sind und im realen
Sein wohl ihr Korrelat haben, aber nicht als Beziehungen in ihm
anzutreffen sind. Aber welches diese Beziehungsformen sind, be-
darf einer besonderen Untersuchung, und es ist nicht zulässig,
alle Beziehungsformen, bloss darum, weil sie Beziehungsformen
sind, in Bausch und Bogen vom Sein auszuschliessen. Bei den
bloss subjektiven Beziehungsformen wird das fundamentum rela-
tionis dem ßeziehungsbegriff selbst in höherem Masse unähnlich
sein als bei den Beziehungsformen, die auch als solche im realen
Sein vorkommen.
Während Kant und seine Schule die Denkformen ganz nach
subjektiver Willkür über die Materie der Empfindung überstülpen
lässt ohne jede Rücksicht darauf, ob in letzterer im gegebenen
Falle etwas liegt, was ihre Anwendung fordert oder aussehliesst,
passend oder unpassend erscheinen lässt» gebührt Kirch mann das
Verdienst, zuerst mit Nachdruck wieder hervorgehoben zu haben,
dass der Seinsinhalt und die Beziehungsbegriffe, die auf ihn an-
gewendet werden, zu einander passen müssen, dass also die Aus-
Zahl und die Art der Anwendung nicht dem subjektiven Belieben
überlassen bleiben kann, sondern durch irgend eine besondere
Beschaffenheit des Seinsinhaltes objektiv bestimmt sein mus&
Durch diese Erneuerung der scholastischen Lehre vom funda-
mentum relationis hat er der Kategorienlehre neue Ziele gesteckt,
nachdem schon Scheliing gezeigt hatte, dass alle Kategorien nur
Unterarten der Relation sind. Die Korrelation und Korrespondenz
der anzuwendenden Beziehungsform zur Seinsgrundlage hebt die
absolute Verschiedenheit beider auf und setzt an ihre Stelle eine
gewisse Abhängigkeit und Verwandtschaft Die absolute Identität
des Seinsinhalts und Wahrnehmungsinhalts ist ebensowenig halt-
bar, wie die absolute Verschiedenheit des beziehenden Denkens von
ihm. Auch hier hat Korrelation, Korrespondenz, Abhängigkeit
und Verwandtschaft an Stelle des behaupteten Extrems zu treten.
Geschieht dies in beiden FäUen, so nicken Wahrnehmungsinhalt
Rückblick auf den MAterialisiniis*
469
und beziehendes Denken in das principiell gleiche Verhältnis zum
Seinsinhalt*
Der Seinsinhalt kann nicht unlogisch sein, denn der zweite
Kirchmannsche Grundsatz, der zur Kontrolle und Kritik der Er-
gebnisse des ersten dient» lautet: pDas sich Widersprechende ist
nicht, existiert nicht.-r Ohne Zweifel ist doch der Satz vom Wider-
spruch eine logische Beziehung, und wenn er massgebend fiir
den Seinsinhalt ist, so ist dieser durch logische Beziehungen ge-
regelt, ebenso wie die Seinsform sich als reale Beziehung entpuppt
hat. Das Sein als Ineinander von logisch geregeltem Seinsinhalt
und realer Beziehungsform muss demnach ein System und Strom
idealrealer (logisch-dynamischer) Beziehungen sein, d. h. universelle
Kausalität So führen Kirchmanns Voraussetzungen selbst zu
1er realen Kausalität hin, die er wegen ihres Beziehungscharakters
leugnet. Das Sein ist unsterblich samt der seinem Inhalt imma-
nenten Logizität und der seine Form bildenden Widerstandskraft ;
aber die Form des Wissens (d. h. des Bewusstseins) ist sterblich *) —
Der Materialismus war als eine doppelte Reaktion hervorge-
treten, einerseits gegen den Pantheismus, der bis zur Mitte der
dreissiger Jahre geherrscht hatte, andererseits gegen den Theismus,
der bis zur Mitte der fünfziger Jahre tonangebend war. Der Mate-
rialismus war darin mit dem Theismus einverstanden, dass die in der
Luft schwebende absolute Thätigkeit des Pantheismus als Welt-
grund nicht genügen könne, dass vielmehr ein substantieller
Träger dieser Thätigkeit unentbehrlich sei. Aber er war ent-
' gegengesetzter Ansicht wie der Theismus in Bezug auf die nähere
Bestimmung dieser den Weltprozess tragenden und setzenden
Substanz. Er verwarf die vom Theismus angenommene Lösung
eines substantiellen absoluten Subjekts oder Ichs, einer selbst-
bew^ussten absoluten Persönlichkeit, und setzte an ihre Stelle das
Isinnliche Trugbild des Stoffes, das er aus dem Bewusstsein in das
transcendente Gebiet hinausprojizierte und daselbst hypostasierte.
Der Materialismus setzte damit nur den Fehler fort, den der
Pantheismus gleichsam zum Vorurteil gestempelt hatte, nämlich,
•) Vgl. meine Schrift: 'J. H. vob Kirchmanns erkenntnisÜieofetischCT Realismuif
(t8;5); femer »Die deutsche Ästhetik seil Kantt, S. 253—265. 372—374, 405—407,
429 — 432, 446—448» 45S — 461, 478—481, 566 — 569; »Dw fittliche Bewusstsein',
j. Anfl., S. 63—67, 70» 73—74» 205—206.
470
Rückblick auf den MÄterialismus.
dass es keine andere Substanz gebe als die sinnlich-stoflFliche.
Wenn der Pantlieismiis daraus gefolgert hatte, dass die Prin-
cipien substanzlose Thätigkeiten sein müssten» so folgerte der
Materialismus vielmehr, dass die sinnlich -stoffliche Substanz,
wie sie unserin Bewusstsein vorschwebt, selbst das Weltprincip
sein müsse, da dieses nicht anders als substantiell gedacht wer-
den dürfe.
Teils liess der Materialismus die raumerfüllende Solidität der
stofflichen Masse und die ihr anhaftenden sinnlichen Qualitäten
ungeschieden (Comte und Feuerbach), teils sonderte er beide.
Im letzteren Falle wurde entweder die der Sinnesqualitäten ent-
kleidete stoffliche Masse allein ins Jenseits des Bewusstseins
hinausprojiziert und die Sinnesquali täten als eine rein subjektive
Wirkung jener auf die Sinne betrachtet (naturwissenschaftlichef^J
Materialismus und Büchner), oder aber die sinnlichen Qualitäteil^B
wurden als raumerfüllende Realitäten ins Jenseits projiziert und
dort im stofflichen Sinne hypostasiert (materialistischer Sensualis-
mus, Czolbe, V. Kirchmann), Immer aber lag dem Materialismus
die Täuschung zu Grunde, als ob ein blosser Sinnenschein ijn
Bewusstsein auch ausserhalb des Bewusstseins selbständig e:
tieren könne, und als ob der scheinbar stetigen Erfüllung de£
Bewusstseinsraumes auch eine wirklich stetige Erfüllung des
bewusstseinstranscendenteo Raumes (sei es durch Stoff, sei es
durch Sinnesqualitäten» sei es durch beides zugleich) entsprechen
müsse. Der Materialismus in allen seinen Gestalten steht und
fällt deshalb mit dem erkenntnistheoretischen naiven Realismus;
denn dasjenige, was der transcendentale Realismus als bewusst-
seinstranscendentes Korrelat des Sinnenscheins annimmt, (dw
Materie als atomistisches Dyn am iden System) hat weder mit der
Illusion eines den Raum stetig erfüllenden Stoffes noch mit den
ihm anhaftenden Sinnesqualitäten irgendwelche Ähnlichkeit mehr.
Der transcendentale Idealismus hatte den Gedanken zum Vorur-
teil erhoben» dass es kein Sein gebe als für das Wissen und im
Wissen. Kein Wunder, dass der Materialismus dies dahin deutete,
dass das Sein für das Bewusstsein, das sinnlich stoffliche Sein,
das einzig existierende Sein sei und es kein anderes gebe. Er
fiel nur dabei dadurch in naiven Realismus zurück» dass er die
Bedingung fallen liess, die der transcendentale Idealismus hinzu-
gefügt hatte, nämlich dass dieses Sein auch nur ein ideales Sein
Ausblick auf die weitere Entwickeluiig.
471
im Wissen und für das Wissen sei, aber nicht ausserhalb des
Wissens bestehen könne.
Der Materialismus vollzieht nach allen Richtungen seine Selbst-
zersetzung; der entscheidende Punkt aber ist» dass er in Hylozois-
mus umschlägt. Die Materie muss von Anfang an belebt, beseelt,
empfindend und bewusst sein, wenn aus ihrer feineren Organisa-
tion die höheren Bewusstseinsformen sollen entstehen können.
Wie der Theismus daran scheiterte, ein selbstbewusstes und per-
sönliches Absolutes widerspruchfrei denkbar zu machen, so
scheitert der Materialismus daran, die Entstehung des Bewusst-
seins aus bewusstloser Materie widerspruchslos denkbar zu machen,
die er doch behaupten muss. Wenn er sich darauf beschränkte,
zu behaupten, dass kein inhaltlich bestimmtes Bewusstsein ohne
materielle Aussenseite der Bewusstseinsindividuen und kein höheres
bewusstes Geistesleben ohne die Grundlage eines materiellen Or-
ganismus möglich sei, dann wäre er unwiderleglich; aber so wäre
er nicht mehr Materialismus zu nennen. Denn die Anerkennung
dieses Zusammenhanges des bewussten Geisteslebens mit der
materiellen Basis kann auch in den Individualismus, Agnostizismus
und Pantheismus Aufnahme finden, ja sogar in den Theismus,
{reilich nur soweit es geschöpfliches Bewusstsein betrifft, und mit
Vorbehalt eines leibfreien absoluten Bewusstseins für Gott Es
ist das Verdienst des Materialismus, diese Abhängigkeit des be*
wussten Geistes von materiellen Vermittelungen so scharf betont
zu haben, dass kein metaphysischer Standpunkt mehr in Zukunft
sie ignorieren darf, wenn er auf zeitgemässer Höhe bleiben wilL
Aber ebenso einig ist auch die Kritik darüber, dass der Materialis-
mus im eigentlichen Sinne Bankerott gemacht hat, insofern es als
völlig unmöglich begriffen ist, die Entstehung des Bewusstseins
aus dem Stoff zu erklären, wenn nicht schon das zu Erklärende,
das Bewusstsein, als im Stoff ursprünglich vorhanden voraus-
gesetzt wird. —
So darf man denn sagen: der Kampf zwischen Theismus und
Materiahsmus hat ausgetobt, weil ein selbstbewusster und persön-
licher absoluter Geist ebenso seine Unbrauchbarkeit zur Welt-
erklärung erwiesen hat, wie eine bewusstlose Materie. Aber wie
der Theismus auf einen unbewussten absoluten Geist als das
Princip hingedeutet hatte, das bestimmt sei, sein unhaltbar ge-
wordenes abzulösen, so weist der Materialismus auf das Princip
472
Ausblick auf die weitere Entwickelang»
einer bewussten empfindenden Materie als den Ersatz seines über-
wundenen hin.
Der Streit zwischen unbewusstem Geist und bewiisster Materie
wird fernerhin den zwischen bewusstem Geist und bewusstloser
Materie ersetzen. Nennt man den Standpunkt des unbewussten
Geistes in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Philosophie
des Unbewussten, so tritt an die Stelle des Gegensatzes von
Theismus und Materialismus derjenige von Philosophie des Un-
bewussten und Hylozoismus, *) Der atomistische Hylozoismus
ist eine konkretere Ausgestaltung des Naturalismus durch Herein-
nahme der atomistischen Gliederung in die unbestimmt ver-
schwimmendc Materie, wie die Philosophie des Unbewussten eine
konkretere Ausgestaltung des Pantheismus durch Hereinnahme
des absoluten Subjekts des Theismus unter Abstreifung des Selbst-
bewusstseins und der Pers<jnlichkeit ist. Beide streben zugleich
eine Lösung des individualistischen Problems an, der Hylozoismus
von der Seite der Vielheit der empfindenden Atome her, der kon
krete Monismus von der Seite der Einheit der in sich gegliederteiii
absoluten Funktion her.
Der Gegensatz zwischen Philosophie des Unbewussten und
Hylozoismus ist deshalb geringer und die Kluft zwischen ihnen
nicht so gross wie die zwischen Theismus und Materialismus. Der
Hylozoismus führt nämhch unmittelbar in die pluralistische Willens-
metaphysik hinüber, indem der innerlichen Empfindung der Atom-
monaden der Wille als ihre nach aussen gerichtete Kraft ent-
spricht und die Empfindung als Affektion des Willens gedeutet wird.
Der Begriff des unbewussten Willens hatte durch die Verbreitung
der Schopenhauerschen Philosophie bereits viel von der ihm für
den gemeinen Menschenverstand anhaftenden Paradoxie verloren.
Der Eigenwille erscheint einerseits als Kern der Individualität ^J
und ist doch andererseits dem Bewusstsein mit Schleiern verhüllt, ^^
durch die er nur hindurchschimmert; er scheint um so mehr ge-
1
*) Der Kampf zwisdieti diesen beiden Standpunkten i»t dargestellt m dem dritten
Band der lo. Aufl. der »PkiJ, d. Uühewussten«, woselbst der Hylozoismus durch den
Text der anonymen ersten Auflage meintT Schrift »Das Unbewusste vom Standpunkt
der Physiologie und Descendenztheoriec vertreten ist, der Standpunkt der Philosophie
des Unbewussten aber durch die allgemeinen Vorbemerkungen und besonderen An*
merkungen der dritten Auflage dieser Schrift so wie durch den sonstigen Inhalt d«
Bandes.
Ausblick auf die weitere Entwickeluiig.
475
eignet, den Begriff des Atoms zu beleben, als ein Unterschied
von unbewusstem Willen und Kraft nicht mehr anzugeben ist
Der Hylozoismus als pluralistische Willensmetaphysik (Mainländer,
Wundt, Hamerling) bleibt Naturalismus, so lange er das Indivi-
duum höherer Ordnung als blosses Summationsphänomen aus den
Atomkräften oder Atomwillen auffasst und den Hinzutritt eines
Individualwillens höherer Ordnung als Centralmonade leugnet; er
erhebt sich über den Naturalismus und damit über sich selbst, wo
er einen solchen annimmt, und schlägt damit in thelistischen Indi-
vidualismus (Bahnsen, Nietzsche) um, der aber als solcher immer
noch Pluralismus bleibt ♦ weil er eine Vielheit von substantiell
gesonderten Individualmonaden annimmt.
Der Gegensatz zwischen konkretem Monismus und indivi-
dualistischer Willensmetaphysik ist wiederum geringer als der
zwischen jenem und der hylozoistischen pluralistischen Willens-
metaphysik; denn sowohl der konkrete Monismus als auch die
individualistische Willensmetaphysik betrachten das Individuum
höherer Ordnung, z. B. den Menschen, nicht mehr als ein blosses
Summationsphänomen aus Atom willen und sein Individualbewusst-
sein nicht mehr als ein blosses Summationsphänomen aus
Atombewusstseinen. Aber beide fassen das Verhältnis der
Centralmonade des höheren Individuums zum alleinen Weltgrunde
noch verschieden auf. Der Grund davon liegt wesentlich darin,
ass der Individualismus, wo er nicht in übersinnlichen Mate-
alismus übergeht, einseitiger Thelismus oder blosse Willensmeta-
physik ist und die unbewusste Vorstellung neben dem unbe-
wussten Willen leugnet. Wo der unbewaissten Vorstellung von
einem Willensmetaphysiker Berechtigung eingeräumt wird» da
zeigt sich seine Annäherung an den konkreten Monismus selbst
dann, wenn er auf dem Boden eines hylozoistischen Naturalismus
stehen bleibt und die hinzukommende Centralmonade bestreitet
(z. B. Hamerling). Ein Denker, der thel istischer Individualist
und Vertreter der unbewussten Vorstellung zugleich wäre, ist bis-
her nicht aufgetreten; wenn er erschiene, so würde sich zeigen,
dass er seinen Standpunkt vor dem Hinüberfliessen in den kon-
kreten Monismus auf keine Weise zu w^ahren vermöchte.
Die Gründe, dass ein solcher Denker noch nicht aufgetreten ist,
dürften folgende sein. Die Willensmetaphysiker neigen dazu, ent-
weder den Willen mit der Substanz zu identifizieren (Bahnsen), oder
Aasblick auf die vettere Entwickclung.
das Wollen an die Stelle der Substanz zu setzen (Wundt); dann
kann aber die Vorstellung nur eine sekundäre Erscheinung an der
Willenssubstanz oder Willensthätigkeit sein, und als solche kann
sie wiederum nicht unbewusst» sondern nur bewusst gedacht
werden. Der Begriff der unbew^ussten Vorstellung ist ohne Zweifel
für den gemeinen Menschenverstand mit einer noch stärkeren
Paradoxie behaftet als der des unbewussten Willens und viel
später als dieser aufgestellt w^orden; er braucht deshalb auch
längere Zeit, um im Zeitgeist durchzudringen, Individualisten, die
sich vorzugsweise auf die Vorstellungsseite des Geisteslebens
stützten, hat es genug gegeben (z. B. Leibniz, Herbart, Beneke,
L H, Fichte); aber alle diese haben nach dem Theismus hin
gravitiert und nicht nach einem metaphysisch selbständigen
Individualismus, Denn sie erlagen stets der Versuchung, den
Kern der Individualität im reinen Selbstbewusstsein und das
Wesen der Persönlichkeit im Ich zu suchen; mit dieser Stellung-
nahme musste aber die unbewusste Vorstellung, so weit sie
überhaupt anerkannt wurde (Beneke, L H, Fichte) auf eine
unter dem Ich belegene Stufe hinabgedrückt und insbesondere
der alleioe Weltgrund als selbstbewusstes Ich und nicht als un-
bewusst vorstellendes Subjekt gedacht werden* Aus diesen
Gründen ist der Gegensatz zwischen pluralistischem Individualis*
mos und Monismus von Seiten des ersteren bisher noch nicht
überwunden worden. Dagegen hat im konkreten Monismus der
Philosophie des Unbew^ussten das Individuum eine Stellung er-
laugt, die allen berechtigten Ansprüchen des Individuums Genüge
thut. Indessen konnte die Anerkennung, dass von dieser Seite her
der Gegensatz in der That synthetisch überwunden sei. bisher
noch nicht erfolgen, weil die Entwickelung auf der anderen Seite
noch auf halbem Wege stecken geblieben ist —
Bevor wir aber in die Darstellung der pluralistischen und
individualistischen Geistesströraung eintreten, müssen wir eine
Unterbrechung einschalten und die verschiedenen Richtungen des
Agnostizismus betrachten. Es ist ein allgemeines Gesetz, dass
jede neuauftretende Richtung irgendwie ihr Ziel überfliegt und
so auch der subjektive Phänomen alismus oder transcendentale
Ideahsmus, der durch den Rückfall des Materialismus in den
krassesten naiven Realisinus als notw^ endige erkenntnistheoretische
Reaktion hervorgerufen wurde. Dieser subjektive Phänomenalis-
Der Agnüstizismus.
475
mus zog in der That dem Materialismus den Boden unter den
Füssen weg, indem er den naiven Realismus unwiederbringlich
zerstörte. Aber er verkannte, dass er nur die Aufgabe hatte,
Übergangsstufe zum transcendentalen Realismus zu sein und
setzte die Grenzen der Erkennbarkeit mit den Grenzen der
Bewusstseinsimmanenz gleich. Dadurch wurde er zur bewussten
und geflissenüichen Negation aller metaphysischen Erklärungs-
versuche, Der Kampfplatz für die verschiedenen möglichen meta-
physischen Erklärungsversuche konnte nicht eher wieder frei
werden, bis auch der Agnostizismus seine Rolle ausgespielt und
sich selbst aufgehoben hatte. Dies geschah dadurch, dass sich
herausstellte, dass durch ihn nicht nur die metaphysische, sondern
auch die naturwnssenschaftUche. überhaupt alle und jede Erkennt-
nis aufgehoben wurde, Aber der Agnostizismus brachte den Vor-
teil, dass er die Meoschen daran gewöhnte, sich mit einem Stand-
punkt vertraut zu machen, der weder Theismus noch Ma-
terialismus war. Dadurch erst wurde mit dem Schutt der
zerfallenen Bauwerke aufgeräumt und der Baugrund für positive
Neubauten geebnet.
2- Der Agnostizismus.
Der Agnostizismus des neunzehnten Jahrhunderts ist zuerst
in England aufgetaucht Der Ausdruck stammt von Huxley;
die Geistesrichtung selbst strömt aus zwei verschiedenen Quellen.
Die eine ist das alte Bestreben, den Kirchen glauben vor der Kritik
aus seinen Widersprüchen sicher zu stellen, indem das Wissen
der gleichen Widersprüche geziehen wird, die andere ist die Er-
neuerung und strengere Durchführung der Hartley-Priestleyschen
Associalionspsychologie auf der Grundlage eines sensualistischen
Phänomeoalismus. Die erstere Seite findet in Hamilton und
Mansel, die andere in James Mill und seinem Sohne John Stuart
Mill ihre wichtigsten Vertreter. Beide Richtungen fliessen zu-
sammen in Herbert Spencer. Hamilton und Mansel sind Theisten,
aber ihr Glauben erhebt sich auf dem Bankerott der Wissenschaft.
Die beiden Mill sind als Philosophen wesentlich Atheisten, wenn
476
HamUton.
sie auch als Menschen von Anwandlungen eines theistischen
Glaubens nicht frei sind, Spencer vertritt einen mechanistischen
Naturalismus, der zwischen Atheismus und Pantheismus schwankt,
aber trotz seiner atheistischen Konsequenzen sich soweit an
Hamilton und Mansel anlehnt, als in dem kirchlichen England
nötig scheint, um dem Kirchenglauben seinen Raum neben der
atheistischen Wissenschaft zu gönnen und ihn nicht gradezu vor
den Kopf zu stossen, — -
Hamilton (17B8 — 1856} knüpft an Reids naiven Realismus
an, den er »natural Realism« oder >Presentationism« nennt, inso-
fern das Bewusstsein selbst die Gegenwart des Ich und des
Nichtich, des Subjekts und Objekts im Denkakt verbürgt. Die
unmittelbaren, ursprünglichen Thatsachen des Bewusstseins be-
sitzen Einfachheit, Allgemeinheit, subjektive Notwendigkeit, Ge-
wissheit und Unbegreiflichkeit (d. h, logische Unableitbarkeit aus
anderen). Die Wurzel unserer Natur kann keine Lüge sein. Damit
gilt ihm die Existenz der wahrgenommenen Dinge für ebenso
sicher gestellt, wie die des Ich. Aber diesen Reidschen naiven
Realismus schränkt er infolge Kantschen Einflusses soweit ein,
dass nur die Eigenschaften, Attribute oder Erscheinungen d*
materiellen und geistigen Substanzen zur Wahrnehmung gelangei
doch nicht diese selbst. Wir kommen mit unserem Erkennen nicht
über Relatives und Bedingtes hinaus und erreichen niemals das
Unbedingte. Wir bleiben in den Gegensatz von Subjekt und
Objekt gebunden, erkennen nur vermittelst des Verhältnisses von
Ding und Eigenschaft und verstehen etwas nur als Glied eines
kausalen Verhältnisses,
Aber wenn wir auch nur Relatives und Bedingtes zu erkennen
vermögen» so wäre doch selbst die bedingte Existenz unmöglich»
wenn es nicht eine unbedingte Existenz gäbe. Der Begriff des
Unbedingten enthält nichts Positives, sondern ist rein negativ;
er umfasst zwei Momente: das Absolute oder Vollständige und
das Unendliche oder UnvoUendbare. Will man die Vollständig-
keit festhalten, so muss man das Unbedingte begrenzt und endlich
denken; will man die Unendlichkeit festhalten, so kann man es
nicht als vollständige Totalität denken. Das Denken befindet sii
also in einem Dilemma zwischen zwei kontradiktorischen Gegei
Sätzen, die beide gleich unfasslich sind, und von denen doch nach
dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten Eines wahr sein muss.
in,
Mansch — Jamea Mill.
477
Die Wahl wird durch praktische, moralische Motive bestimmt
Die moralische Würde des Menschen, die unbegreiflichen That-
sachen seiner Willensfreiheit und sittlichen Verantwortlichkeit
fordern eine moralische Weltordnung und Weltregierung, einen
unbegreiflichen und unerkennbaren Gott — Diese Beweisführung
leidet an dem Fehler, dass quantitative Bestimmungen wie Un-
endlichkeit und Endlichkeit für anwendbar auf das Absolute ge-
halten werden, die es gar nicht sind Nur dadurch entsteht der
Schein eines Dilemmas, das gar nicht vorhanden ist, und das,
wenn es bestände, nicht nach dem Satze vom ausgeschlossenen
Dritten behandelt werden dürfte, weil dieser nur für solche kon-
tradiktorische Gegensätze gültig ist. bei denen wenigstens ein
Glied logisch möglich ist. —
Man sei (1820 — 1871) kann bereits als Neukantianer bezeich-
net werden. Er lässt den naiven Realismus in Bezug auf die
materielle Aussenwelt fallen und giebt zu, dass wir nicht wissen,
ob unsere subjektive Erscheinungsvvelt jenen materiellen Dingen,
die uns ihre Widerstandskraft entgegensetzen, ähnlich oder un-
ähnlich sei. Dagegen hält er in Bezug auf das Ich an der Über-
zeugung fest, dass wir uns der eigenen realen Existenz und Sub-
stantialität bewusst werden. Die Erkenntnis der materiellen Welt
liefert nur Phänomenologie; Ontologie ist allein aus der Erkennt-
nis des Ich zu schöpfen. Wird das Absolute in das Nichtich
verlegt, so wird damit die Substantialität des Ich verleugnet;
wird es in das Ich verlegt, so wird damit der (theoretische)
Egoismus (Solipsismus) proklamiert Das erste fuhrt zum Pan-
theismus, das letztere zum Atheismus. Die Kantschen Anti-
nomien werden für den Beweis der Undenkbarkeit des Un-
bedingten ausgebeutet Mansel behauptet, dass die Widersprüche
welche das Leugnen des Unendlichen mit sich führt, positiv und
in der Sache selbst belegen seien, diejenigen aber, welche aus
der Annahme eines existierenden Unendlichen erwachsen, bloss
negativ seien, und nur der Beschränktheit unseres Verstandes
entspringen. Wenngleich z. B. in dem Begriff einer unbedingten
Persönlichkeit Widersprüche liegen, so sind wir doch nicht nur
berechtigt, sondern auch moralisch verpflichtet, an eine solche
zu glauben. —
James Mill {1773 — 1836) stützt sich auf HartleysVorstellungs-
association durch Berührung, lässt aber die physiologischen liypo-
478
John Stuart MiU,
thesen desselben auf sich beruhen und ist auch durch den franzö-
sischen Sensualismus, insbesondere durch Helvetius stark beein-
flusst Erst aus der Association durch Berührung sucht er die-
jenige aus Ähnlichkeit und Kontrast abzuleiten. Die Beziehung^s-
begriffe lässt er nicht als besondere Art von Vorstellungen gelten,
sondern glaubt» dass sie in und mit den Vorstellungen selbst ohne
weiteres gegeben sind. Kausalität ist konstante Succession; Wille
ist eine Vorstellung, die als ursächliches Mittel einem Lustgefühl
associiert wird. Häufig und darum fest mit einander verbundene
Vorstellungen verschmelzen zu einer Einheit, die uns ebenso
einfach vorkommt wie die ursprünglichen. So entstehen nicht
nur die Vorstellungen der äusseren Objekte, sondern auch
die egoistischen und altruistischen Gefühle und moralischen
Ideen, die als einfach erscheinen, weil ihre Komponenten in
ihnen so eng verschmolzen sind, dass man sie nicht mehr
herauserkennt. Was ursprünglich nur Mittel zu einem anderen
Zweck war, kann so zum Selbstzweck werden und scheinbaren
Eigenwert erlangen, z. B. das Wohl anderer, das ursprünglich
nur als Mittel des eigenen Wert hatte. Der so erlangte Wert
soll nach Mill unabhängig von seinem Ursprung und darum auch
unabhängig von der psychologischen Wiederzerlegung der Kom-
ponenten sein, was für das Individuum bis zu einem gewissen
Grade richtig, für die menschliche Gattung aber sicher un-
richtig ist, —
John Stuart Mill {1806 — 1873) sucht auf Grund der Asso-
ciationspsychologie seines Vaters eine streng empiristische Er-
kenntnistheorie und Methodologie durchzuführen. Erkenntnistheo*
retisch lehrt er einen Phänomenalismus, der demjenigen Humes
nahe steht, und ist in dieser Hinsicht als Neuhumianer zu be-
zeichnen* Methodologisch knüpft er einerseits an Comte, anderer-
seits an Herschels und Whewells Untersuchungen über das Zu-
standekommen von Entdeckungen und Erfindungen im Forscher-
geist an. Die utilitarische Ethik Benthams verbindet er mit der
humanitären Comtes, ist aber durch Carlyle und die französischen
Historiker zu einer mehr geschichtlichen Weltanschauung hin-
geführt worden als diese beiden. Seinen Phänomenalismus ent-
wickelt er in der Polemik mit Hamiltons naivem Realismus und mit
seinem Begriff eines unendlichen Gottes; aber der Agnostizismus
Hamiltons war ihm doch sympathisch. Nur deutet er den Agnosti-
I
John Stuart MüU
479
zismus mehr in dem Sinne Carlyles, nach welchem die uns er-
reichbare Wahrheit sowohl in der Naturerkenntnis wie in der
Gotteserkenntnis nicht über die Form des Symbols hinausgelangt.
Mills Hauptverdienst ist die Ausbildung der induktiven Logik.
Wenn Herschel und Whewell hauptsächlich das Problem der Ent-
deckung untersucht hatten, so wandte Mill sich der Beweismöglich-
keit zu. Er zuerst hat gezeigt, auf welchen Wegen der Analogie-
schluss und die einfache Aufzählung- der analogen Fälle zu einer
strengeren Form des Induktionsschlusses führt, der zwar niemals
Gewissheit, aber doch eine praktisch ausreichende Wahrscheinlich-
keit gew^ähren kann. Er hat ferner gelehrt, wie man zusammen-
gesetzte Erscheinungen zunächst in einfachere zerlegen, dann den
Zusammenhang dieser einfacheren Erscheinungen induktiv unter-
suchen, weiterhin diese Ergebnisse deduktiv verbinden und endlich
das deduktive Gesamtergebnis durch die Erfahrung bewähren
lassen muss. Er verwirft also durchaus nicht die Deduktion, son-
dern schreibt ihr eine wichtige Bedeutung zu, wenn er dieselbe
auch nicht nach allen Richtungen erschöpft. Er behauptet nur,
dass alle Obersätze von Deduktionen induktiv gewonnen sein
müssen, und darin hat er unbedingt recht. Er verkennt nicht,
dass jede Induktion von der Voraussetzung abhängt, dass in der
Welt ausnahmslose Gesetzmässigkeit herrscht; aber er hat recht.
dass diese Annahme selbst wieder nichts ist, als eine Induktion
von allgemeinster Gültigkeit auf breitester empirischer Grundlage,
und darum von grösster WahrscheinlichkeiL
Man kann nicht sagen » dass Mill die Bedeutung der Deduk-
tion allseitig gewürdigt habe. Es ist ihm auch nicht klar
geworden, dass jede Induktion nur die Deduktion eines Wahr-
schein lichkeitskonfficienten für den induzierten Satz darstellt. Eben-
so würde man eine scharfe Sonderung der Ursacheninduktion von
der Gesetzesinduktion vergebens bei ihm suchen. Aber das alles
darf nicht hindern, die Grösse des von Mill bewirkten methodo-
logischen Fortschrittes anzuerkennen, durch den alle Versuche
eines deduktiven Philosophierens für immer überwunden sind,
Mills Leistung für die Methodologie ist völlig unabhängig von
seinen empiristischen Irrtümern über den Ursprung der logischen
Gesetze und Denklbrmen und über die Herkunft der mathema*
tischen Gewissheit. Er nimmt an, dass jede subjektive Denknot-
wendigkeit nur Wirkung einer besonders festen, d. h. durch
48o
John Stuart Mill,
häufige Gewohnheit besonders stark befestigten Vorstellungs-
associatton sei. Er verkennt vollständig den Unterschied zwischen
Ursprung und Geltungsbereich. Er sieht nicht ein, dass unsere
Erkenntnis über die objektiv reale Gültigkeit logischer und mathe-1
matischer Gesetze und kategorialer Denkformen (wie Kausalität)
induktiv erworben sein uod deshalb bloss auf Wahrscheinlichkeit
Anspruch machen kann, während der Ursprung der subjektiv
idealen Denknotwendigkeit, die mit ihnen verknüpft ist, ebenso
wie ihr Ursprung selbst in der Organisation unseres Geistes
selbst liegen, also das Prius jeder Anwendung derselben auf b&- •
stimmtes Empfindungsmaterial sein kann. Er verkennt, dassl
die mathematischen Wahrheiten in ihrer rein formalen subjek-
tiven Bedeutung bloss Ausschliessungen des Widerspruchs für
die Verknüpfung bestimmter Vorstellungen sind, und dass selbst
da, wo unendlich viele Fälle möglich sind, doch die Stetig-
keit der Bewegung im Durchlaufen aller dieser Fälle die In-
duktion zu einer »vollständigen«, d, h. zu einer Art der De-
duktion macht.
Das Ich ist selbst nichts weiter als eine fest gewordene ge-
wohnheitsmä&sige Vorstellungsassociation, die nun als einfache
Einheit erscheint. Indem ich an die beständige Möglichkeit von
Empfindungen oder Gefühlen glaube, die ich unter gewissen Be-
dingungen haben könnte, auch wenn ich sie nicht wirklich habe,
glaube ich an die Beständigkeit des Ich, Das Ich löst sich damit
auf in eine associative Reihe von Gefühlen, teils wirklichen, teils
bloss möglichen. Diese Erklärung auf dem Boden der Associa-
tion spsychologie scheint aber Mill selbst zuletzt nicht ausreichend.
Die Erscheinung der Erinnerung und Erwartung schliesst die
Voraussetzung ein, dass ich selbst und kein anderer solches jetzt j
von mir vorgestellte Gefühl gehabt habe oder haben werde» <
Danach müsste eine Reihe von Gefühlen die Fähigkeit haben,
sich ihrer selbst bewusst zu werden^ d. h. zu wissen, dass sie ein© j
zeitliche Reihe ist, die gegenwärtige, vergangene und zukünftige 1
Glieder hat, und welches die Glieder jeder dieser Arten sind
Will man sich dieser Paradoxie entziehen ^ so bleibt nichts übrig,
als ein einendes Band für die Glieder der Reihe anzunehmen»
das von den Gliedern verschieden, und kein blosses Produkt der
Association der Glieder mehr ist, sondern diese apperzipiert* Dann
ist dieses Band das Subjekt, und die Associationspsychologie schlägt
Stmirt MllL
481
in Apperzeptionspsychologie um. Die Konsequenzen dieser Selbst-
kritik hat aber Mill nicht mehr gezogen.
Dass auch die blosse Gefühlsmöglichkeit in einer unzulässigen
Weise hypostasiert ist, um die Beständigkeit des Ich heraus*
zubringen, hat Mill nicht bemerkt. Gerade die Hjrpostasierung,
Vergegenständlichung und Hinausprojizierung der Möglichkeit des
Wahrnehmens ist es, vermittelst deren er den reinen Phänomenalis-
mus annehmbar und haltbar zu machen versucht. Eine Wahr-
nehmungsmöglichkeit ist nach Mill eine Wahrnehmung, die unter
gewissen Bedingungen eintreten kann; sie ist also als Möglich-
keit, die eine gesetzmässige Verknüpfung zwischen den Eintritts-
bedingungen und dem wirklichen Eintritt ausdrückt, etwas Be»
ständiges, während die wirklichen Wahrnehmungen und Gefühle
etwas fortwährend Wechselndes sind. Die Wahrnehraungsmög-
lichkeiten werden ferner in der Regel nicht auf einzelne Empfin-
dungen bezogen, sondern auf bestimmte Gruppen, die uns allein
interessieren, und die wir Objekte nennen. So gelangen wir
dazu, die wechsehiden wirklichen Wahrnehmungen als Accidentien
der beständigen Wahrnehraungsmöglichkeiten, diese aber als die
Substanzen zu betrachten. Die sogenannten ^ äusseren Gegen-
stände« sind nichts als solche konstante Wahrnehmungsmöglich-
keiten; alles j»ausser uns« und vor allem die Materie als die be-
ständigste aller Substanzen ist nichts weiter als die permanente
Möglichkeit von immateriellen Empfindungen in uns. Sie erschei-
nen uns endlich als die Reah täten, von denen die wirkUchen
Wahrnehmungen nur Repräsentationen für unser Bcwusstsein sind,
und für gewöhnlich sind nur sie es, auf die wir unsere Begriffe
von Thätigkeit, Kausalität u, s. w, beziehen. So erklärt sich der
Glaube der Menschen an eine Aussen weit rein psychologisch,
ohne dass in ihm irgend welche Bürgschaft für die wirkliche
Existenz einer solchen zu finden wäre.
Es ist klar, dass Mills Wahrnehmungsmöglichkeiten in Mills
PhSnomenalismus genau dieselbe Rolle spielen, wie die Dinge an
sich im transcendentalen Realismus. Darin liegt gerade der Wert
der Millschen Fortbildung gegenüber dem ilumeschen Phänome-
nalismus, dass Mill einsieht, wie wenig wir es mit den unbe-
ständigen wirkHchen Wahrnehmungen zu thun haben, wie sehr
diese nur als subjektive repräsentative Abbilder der beständigen
Dinge an sich für uns in Betracht kommen, und wie ganz und
£ V, Httrinianfi, Aiugew, W«rk©* Bd. XII,
31
482
John Stuart MilL
gar unser praktisches und theoretisches Interesse ausschh'esslich
auf diese gerichtet ist. Die Unzulänglichkeit des Phänomenalismus
liegt andererseits darin j da&s er die Richtung unseres Interesses
auf diese beständigen Dinge an sich und unsern Glauben an die
Kausalität derselben sowohl untereinander, als auch auf uns selbst
anerkennt, und dabei doch sowohl diese Dinge, als auch ihre
Kausalität zu subjektiven Illusionen verflüchtigt. Denn die aus
meinen wirklich erfahrenen Wahrnehmungen abgeleitete blosse
bedingungsweise Möglichkeit ist thatsächlich eine bloss subjektive
Vorstellung von einer ev^entu eilen gesetzmSssigen Verknüpfung
zwischen dem etwaigen Eintritt gewisser Bedingungen und dem
Eintritt einer wirklichen Wahrnehmung. Dies ist aber das Gegen-
teil einer realen, thätigen Substanz, eines selbständig existierenden,
aktionsfähigen Dinges.
Mill erkennt also einerseits das Bedürfnis an, sich in dem
Wirrsal der wechselnden wirklichen Wahrnehmungen dadurch zu
orientieren, dass sie als repräsentative Abbilder auf beständige
reale Dinge an sich ausser dem Bewusstsein als auf die Ursachen
ihrer Entstehung bezogen werden; andrerseits aber schränkt er
die Zielpunkte dieser trän sc en dentalen Beziehung auf eine Be-
deutung ein» welche jenes Bedürfnis zu einer Prellerei der Natur
und diese Beziehung zu einer Selbsttäuschung des Bewusstseins
machen. Wir glauben durch die Beziehung der wechselnden
Wahrnehmungen auf konstante Dinge eine reale Welt ausser uns
zu erkennen, und wir erkennen nach Mill damit thatsächlich nur
konstante Wahrnehmungsmöglichkeiten, d. h. konstante Ver*
knüpfungsgesetze der subjektiven Vorgänge in uns. In Bezug
auf alles, was ausserhalb des eigenen Bewusstseins liegt, ist der
Mensch durch solchen Phänomenalismus zur Unwissenheit ver-
urteilt; darum ist dieser Standpunkt Agnostizismus, und zwar
nicht mehr bloss in Bezug auf das Unbedingte, sondern schon in
Bezug auf alles, was das subjektive Innenleben des Einzelbewusst-
seins überschreitet, —
In Bezug auf Religion genügt Mill persönlich die Comtesche
Plumanitätsreligton vollständig. Er findet das Wesen der Religion
in der kräftigen und ernsten Richtung unserer Gefühle und unseres
Strebens auf ein ideales Objekt von höchster Vortrefflichkeit mit
Ausschluss jeden Egoismus, und diese Bedingung wird von Comtes
Humanitätsrehgion besser als von irgend einer theistischen Reli-
Jokn Stuart MiU.
485
"gion erfüllt. Die theistischen Religionen werden so lange fort-
bestehen, wie sie sich als überwiegend nützlich erweisen* Wenn
einmal ein Gott als Welturheber angenommen werden soll» so
muss es ein solcher sein, dem der Mensch unbeschadet seiner
eigenen sittlichen Würde Anbetung zollen kann, d. h* ein guter
ethisch vollkommener Gott Dann kann es aber kein allmäch-
tiger, also kein absoluter Gott sein, sondern nur ein durch wider-
strebende Mächte beschränkter Gott, der sich bis jetzt vergebens
bemüht hat, die letzteren zu überwinden. Gottesglaube muss
demnach entweder zum parsischen Dualismus eines guten und
eines bösen Gottes, oder zum antiken Dualismus von Demiurg
und Hyle führen, aber keinenfalls zu einem absoluten Gott.
Hamiltons Dilemma wäre also nach der entgegengesetzten Seite
zu lösen, als es von Hamilton geschehen ist Aller Gottesglaube
stützt sich aber auf die weisen und zweckmässigen Einrichtungen
der Natur, und wenn die mechanistische Erklärung des Zweck*
massigen, wie Darwin und Spencer sie lehren, sich bewähren
sollte, so würde die Beweiskraft dieser Thatsachen für die Existenz
eines Gottes noch mehr abgeschwächt werden, als sie es ohnehin
schon durch den Bestand des Übels und des Unzweckmässigen
wird.
Mills Standpunkt ist in einem wesentlich anderen Sinne
Agnostizismus als der von Hamilton. Beide halten das Absolute
oder Gott seinem Wesen nach für unerkennbar; aber während
Hamilton seine Existenz für notwendig, gewiss und unentbehr-
lich hält erklärt Mill auch diese für zweifelhaft und gleichgültig.
Hamilton steht fest auf dem Boden des naiven Realismus in
Bezug auf die Erkenntnis der materiellen Aussenwelt und des
Ich. Mill löst auch diese in fiktive Wahrnehmungsmöglichkeiten
und Gefühlsmöglichkeiten auf, so dass sein Phänomenalismus
zum Illusionismus wird. Hamilton ist Agnostiker nur in Bezug auf
das metaphysische Wesen, nicht in Bezug auf die Welt des er-
kenntnistheoretisch Transcendenten oder der Dinge an sich, die
er unmittelbar zu erkennen glaubt; Mill ist Agnostiker gerade
in Bezug auf diese letzteren, während er die Existenz eines meta-
physischen Wesens, im Sinne eines zugleich absoluten und ver-
ehrungswürdigen Gottes leugnet *") —
•) VgL •Kategorienlchj'e«, S. 30c — 302; »Das »ittliche BcwuMtJcm«, 2. Aufl.
S, i78. 486—488. 497. 574.
31*
484
Herbert Spencer.
Herbert Spencer (geb. 1820) übernimmt von Hamilton
und Mansel die gewisse Existenz eines Absoluten als Substanz
und Grund der uns gegebenen Erschein ungs weit und die Un*
erkennbarkeit seines Wesens, von Mill den subjektiv idealen
Phänomenalismus und die Unerkennbarkeit alles jenseit der sub-
jektiven Erscheinungen Liegenden. So fliesst bei ihm ganz wie
bei Kant das metaphysische Wesen mit den erkenntnistheore-
tischen Dingen an sich zusammen, weil sie gleich unerkennbar
sind. Wir können nicht wissen, ob das absolute metaphysische
Wesen unmittelbar in unsere subjektiven Erscheinungen eintntt,
oder ob wir nur eine Wirkung desselben wahrnehmen, die mit
gesctzmässiger Beständigkeit erfolgt. Es ist aber auch gleich-
gültig für uns, welcher Fall vorliegt, da wir es doch nur mit
unseren subjektiven Erscheinungen, Empfindungen und deren
Beziehungen unter einander zu thun haben.
Gegen Hamilton und Mansel behauptet er, dass das Ab-
solute mehr als bloss negative Bedeutung für uns habe, weil erst
die Beziehung auf dieses transcendente Korrelat unseres Bewusst-
seins uns ermögliche, einen Realismus des Erkennens festzuhalten
und dabei doch den naiven Realismus zu vermeiden. Gegen
Mill behauptet er, dass starke und primäre Vorstellungen nicht
von schwachen und sekundären aufgehoben werden können, und
dass die von unserem Willen unabhängige Abfolge der starken
Bewusstseinszustäöde von Ursachen ausser uns abhängig sein
muss, denen wir eine absolute Wirklichkeit zuschreiben müssen.
Er verwirft also sowohl Hamiltons unmittelbaren naiven Realis-
mus, als auch Mills antirealistischen subjektiven Idealismus und
stellt beiden seinen mittelbaren, umgewandelten oder verklärten
(transfigured) Realismus gegenüber. Dies ist, ähnlich wie bei
Kant, ein trän sc en dental er Realismus, der die Realität der sub-
jektiven Erscheinung in ihrer transcendentalen Beziehung auf ein
bewusstseinstranscendentes Korrelat sucht p dessen Existenz ge-
wiss, dessen Essenz aber völlig unerkennbar ist, und das mit dem
absoluten metaphysischen Wesen identifiziert wird. —
Spencer giebt Mill zu, dass wir, rein logisch betrachtet,
nicht über subjektive Phänomene hinauskommen wurden, da das
bestimmte Bewusstsein sich nur auf solche erstreckt. Er be-
hauptet aber^ dass wir neben diesem bestimmten Bewusstsein noch
ein zweites unbestimmtes besitzen, w^elches das fiur uns völlig
Herbert Spencer,
485
abstrakte Wesen zu allen Erscheinungen» das Absolute zu allem
Relativen, das Reale zu allem subjektiv Ideellen, das unzerstörbar
Beharrende zu allem Wechsel, die Ex^istenz zu allen Modifika-
tionen, die absolut letzte Ursache zu allen Wirkungen zum Gegen-
stande hat. Erscheinung ohne Realität, Relatives ohne ein Ab-
solutes ist unmöglich, darin hat Spencer ganz recht; aber die
Frage ist eben, ob nicht die Reihe der Empfindungen selbst die
letzte Realität und das Absolute ist und von uns bloss irrtümlich
für Erscheinungen und etwas Relatives gehalten wird* Hätte
Spencer mit seinem Beweise für die Unentbehrlichkeit eines Ab-
soluten recht, so wäre es ja logisch bewiesen, und seine Be-
hauptung, dass es logisch nicht erreichbar sei, wäre hinfällig, Ist
aber die Behauptung eines solchen Absoluten richtig, so kann
auch sein Wesen nicht mehr schlechthin unerkennbar heissenj
denn Existenz, Absolutheit, Unbedingtheit, Realität, unzerstörbare
Beharrung und absolut letzte Ursache aller Erscheinungen sind
doch schon eine ganze Reihe von Bestimmungen, die sicherlich
dem logisch bestimmten Bewusstsein angehören* Ob aus der
Beschaffenheit der Erscheinungen, deren gesetzmässige Ordnung
der phänomenale Ausdruck des Wesens ist. nicht noch weitere
Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Wesens möglich sind,
hat Spencer nicht untersucht. Ebenso wenig ist er der Frage
näher getreten, ob nicht die Vielheit und Succession der subjek-
tiven Erscheinungen auf eine Vielheit und Succession in der
bewusstseinstranscendenten Realität hinweise, die von der Be*
harrlichkeit des Wesens noch als eine innere Mannigfaltigkeit
seiner Bethätigung zu unterscheiden sei
Allen diesen Fragen verschliesst Spencer sich deshalb, weil
er durch Hamilton und Mansel überzeugt ist. dass wir nur Re-
latives erkennen können und das Absolute uns unerkennbar sei.
Alles Erkennen beruht auf Unterscheiden, Ähnlichfinden und
Beziehen; bei dem Absoluten aber soll beides unmöglich sein,
weil es nichts giebt, womit es verglichen werden könnte. Es ist
dabei übersehen, dass das Absolute Spencers nur ein Sammel-
name für alles Bewusstseinstranscendente ist. also nichts weniger
als einfach zu sein braucht, sondern eine reiche innere Mannig-
faltigkeit in sich schÜesst. also Gelegenheit genug zum Ver-
gleichen und Beziehen giebt. Es ist ein blosses Vorurteil des
Phänomenalismus. dass die Grenzen des Relativen ^ch mit den
486
Herbert Spencer.
Grenzen der subjektiven Erscheinung im Bewusstsein decken,
und dass das Gesetz der Relativität aller Erkenntnis durch-
brochen werde, wenn die Sphäre der subjektiven Erscheinung^
überschritten wird. Aber sogar das Absolute im metaphysischen
Sinne des Wortes bietet Gelegenheit zum Vergleichen und Be-
ziehen, nämlich bei der Gegenüberstellung des Wesens und d
Erscheinung. Die Erscheinung oder das Relative ist ja nicht
etwas ausserhalb des Wesens oder des Absoluten Belegenes,
denn sonst hörte dieses auf, ein Absolutes zu sein; sie ist viel-
niehr nur ein Moment im Absoluten selbst, und das Absolute
wird nicht mit etwas ausser ihm verglichen, wenn es mit seiner
SelbstolFenbarung verglichen wird. Es bleibt also von Spencers
Behauptung nur soviel richtig, dass das metaphysische Absolutq^H
uns unerkennbar bleibt, so lange wir versuchen, es ausser aUer^l
wirklichen oder möglichen Beziehung zur Erscheinungswelt zu
denken; mit einem solchen vergeblichen Versuch hat sich aber
auch wohl noch niemals ein verständiger Mensch abgequält
Wie bei Kant das vollständige Noumenon die Summe des
negativen und positiven Noumenon, des negativen GrenzbegriflFs
der Erkenntnis und des positiven Dinges an sich = X ist, so
auch bei Spencer. Bei beiden hat das positive X, das den nega-
tiven Grenzbegriff des Erkennens zum vollständigen Noumenon
oder Absoluten ergänzt, ausser Existenz und Substantialität auch
transcendente Kausalität als letzte Ursache der SinnesafFektioü.
Aber während Kant ihm ausserdem noch die Ideen als wesent-
lichen Inhalt zuschreibt, hält Spencer jede philosophische Be-
stimmung des Absoluten, wenn auch nur im problematischen
Sinne, für ausgeschlossen und überlässt das philosophisch Un-
erkennbare in seinem ganzen Umfang dem religiösen Glauben,
gleich Hamilton und Mansel überzeugt, damit einen sicheren und
dauernden Frieden zwischen Religion und Wissenschaft hergestellt
zu haben.
Alle wissenschaftlichen Grundbegriffe, wie Raum, Zeit, Be-^
wegung, Materie, Kraft, Empfindung, Bewusstsein, führen zu
Selbst Widersprüchen, sobald sie absolut betrachtet werden. Sie
gehören alle nur der Sphäre der subjektiven Erscheinung an und
repräsentieren als Symbole Realitäten jenseits dieser Sphäre, die
nicht begriffen werden können. Sie alle sind deshalb auf das
Absolute unanwendbar, d. h. Gott kann weder bewusst noch per-
Herbert Spencer.
487
sönlich gedacht werden, weil beide Begriffe für ihn zu eng und
zu niedrig sind. Aber nichts hindert, dass es eine Daseinsform
gebe» die ebenso hoch über Bewusstsein und Persönlichkeit, be-
wusster Intelligenz und Willen steht, wie diese über mechanischer
Bewegung. Wenn Gott nicht bewusst und persönlich gedacht
w^erden kann, so hindert doch nichts, ihn überbewusst und über»
persönlich zu denken, weil diese Bestimmungen in dem positiven
X Platz haben.
In diesem Sinne wäre Spencers Standpunkt allerdings mit
der Religion verträglich, wenn er nur seinem genaueren Lehr-
gehalt nach dazu angethan wäre, auf ein überbewusstes und über-
intelligentes Absolutes hinzuweisen oder wenigstens ein solches
nicht unglaubhaft erscheinen zu lassen. Denn da das Wesen des
Absoluten durch alle Erscheinungen , die äusseren sowohl als die
inneren, wirkt und sich in ihnen ofiFenbart, so müsste auch seine
überbewusste Intelligenz, wenn es solche besässe, irgend wie in
der Erscheinung-swelt zu Tage treten. Wenn aber der phänome-
nale Weltprozess nur ein mechanisches Wellenspiel und einen
blinden, zwecklosen Kreislauf von Zuständen zeigt, dann muss
doch wohl solche überbewusste Intelligenz im Absoluten ausge-
schlossen sein. Dass aber der Weltlauf nach Spencer nur Wellen-
bewegung und Kreislauf ohne Sinn und Ziel ist, wird die nähere
Betrachtung seiner Lehre zeigen. —
Spencer will die Erscheinungswelt aus zwei Gesetzen er-
klären, dem der Erhaltung der Kraft und dem der Entwickelung.
Die grundlegende Erfahrung ist die des Widerstandes gegen
die eigene Thätigkeit; das ist aber die Empfindung der Kraft,
und zwar einer doppelten Kraft, der w*iderstrebenden und der
eigenen, der des Nichtich und der des Ich. Materie ist ein Begriff
von gleichzeitigen Lagen» die Widerstand leisten, Bewegung eine
Aufeinanderfolge verschiedener solcher Lagen. Beide sind also
Äusserungen der Kraft, und Raum und Zeit sind Formen dieser
Äusserungen. Nur die Kraftempfindungen bilden einen unzerleg-
baren Bewusstseinsinhalt, in den sich alle übrigen Bewusstseins-
inhalte zerlegen lassen. Aber sie selbst bilden auch nur eine
relative (subjektiv phänomenale) Wirklichkeit (Kants »empirische
Realitätc), die auf eine sie verursachende absolute Wirklichkeit
hinweist, Das bewusstseinstranscendente Korrelat dieser empfun-
denen Kraft ist die absolut beharrende und alles verursachende
488
Herbert Spencer.
Substanz, die uns durch das unbestimmte Bewusstseinc
wird. Nur auf sie» von der die empfundene Kraft bloss ein
repräsentatives Symbol für das Bewusstsein ist, bezieht sich naih
Spencer das Gesetz der Erhaltung der Kraft, nicht auf die wech-
selnde Kraftempfindung, Dieses Gesetz ist das einzige Gesetz
a priori» das es giebt
Ofifenbar ist es erschlossen aus dem Grundsatz, dass die Sub-
stanz das absolut Beharrliche ist, als Obersatz, und der Behaup-
tung, dass die absolute Substanz das transcendente Korrelat der
Kraftempfindung ist, als Untersatz; der Obersatz ist selber nichts
als die Definition der Substanz, und diese Kategorie ist wiederum
eine Äusserung des logischen, d. h. logisch bestimmten Be-
wusstseins, aber nicht, wie Spencer meint, die eines ausser! ogischen,
unbestimmten ßewusstseins. Spencer nennt dasjenige Kraft, was
nur Empfindung der Kollision zweier Kraftäusserungen ist. Er
verkennt, dass schon die beiden Kraftäusserungen. aus deren
Kollision die subjektive Kraftempfind uog entspringt, bewusst-
seinstranscendente Realitäten für die Erkenntnis sind, aber noch
zu der gegliederten Bethätigimg des absoluten Wesens gehören.
Er übersieht infolge dessen auch das. dass der Ausdruck KrsA
noch verfügbar ist, um die metaphysisch transcendente Ursache
der erkenntnistheoretischen Kraft äusserung zu bezeichnen. Kraft-
empfindung ist freilich bloss ein repräsentatives Symbol der Kraft-
äusserung; aber Kraftäusserung ist mehr als ein Symbol, nämlich
unmittelbare Bethätigung und Manifestation der Kraft, und Kraft
ist weder repräsentatives Symbol noch blosse Bethätigung, sondern
letzter Grund aller Kraftäusserun gen. Wenn das transcendente
Korrelat der subjektiven Kraftempfindung wirkliche Kraftäusse-
rungen sind, die miteinander reell kollidieren, dann ist auch die
Kraft selbst etwas absolut Wirkfiches, nämlich die letzte Ursache
dieser Kraftäusserungen. Wenn aber die Kraftempfindung nur
Symbol von etwas ist, was mit Kraft gar nichts zu thun hat, dann
giebt es auch keine wirklichen Kraftäusserun gen und keine wirk-
liche Kollision von solchen, dann ist die phänomenale Kraft-
empfindung im Bewusstsein nicht mehr Symbol, sondern eine
psychologisch unvermeidliche Illusion. Denn sie erweckt die un-
entrinnbare Täuschung, als ob w^irkliche Kraftäusserun gen vor»
banden wären, die doch in Wirklichkeit nicht vorhanden sein
sollen. Spencer begreift wohl, dass das Gesetz der Erhaltung der
Herbert Spencer.
48g
Energie sich nicht auf die subjektiven Kraftempfindungen bezieht;
aber er begreift nicht» dass es sich ebensowenig auf die be-
harrende metaphysische Substanz, auf das mit sich identisch
bleibende Kraftwesen bezieht, sondern dass es lediglich in Bezug
auf die Gesamtheit seiner Bethätigungen, d. h. in Bezug auf die
Summe der Kraftäusserungen einen Sinn hat Er verkennt» dass
das Gesetz der Erhaltung der Kraft ebenso sinnlos wird, wie das
des geringsten Widerstandes, wenn die Wirklichkeit schlechthin
unerkennbar ist
Spencer schwankt infolge dessen zwischen einem realistischen
Dynamismus und einem illusorischen Phänomenalismus» Seine
Naturphilosophie geberdet sich, als ob sie das erstere wäre; seine
Lrkenntnistheorie aber zeigt deutlich» dass sie konsequenter Weise
^liur das letztere sein darf. Die Naturforscher schätzen Spencers
Lehre» weil sie sie im ersteren Sinne, die Theologen und Frommen,
weil sie sie im letzteren Sinne auslegen. Beide merken nicht,
dass diese beiden Deutungen einander schlechthin widersprechen.
Denn als reaüstischer Dynamismus wäre Spencers Philosophie ein
mechanistischer Naturalismus» der jede reügiöse Verehrung des
als blinde Natiirkraft erkannten Absoluten ausschlösse. Als
illusorischer Phänomenalismus aber müsste sie aufhören, irgend
welchen Beitrag zur Erklärung der Naturvorgänge zu liefern;
denn für die alsdann allein übrig bleibende Kraft, die subjektive
Kraftempftndung, gilt eingestandenermassen das Gesetz der Erhal-
tung der Kraft nicht, und ein Absolutes, das nicht Kraft ist, kann
auch nicht unter einem Gesetz der Erhaltung der Kraft stehen. —
Wie das Gesetz der Erhaltung der Kraft für Spencers eigent-
Hchen Standpunkt eine unpassende Bezeichnung ist und durch die
blosse Beharrung der unerkennbaren Substanz ersetzt werden
muss, so ist auch sein anderes Gesetz, das der Entwickelung, mit
einem irreleitenden Namen behaftet Es sollte heissen: das Gesetz
der Verteilungsänderung von Materie und Bewegung* Wie das
Gesetz der Erhaltung der Kraft nach Spencer die Beharrung der
unerkennbaren Substanz ausdrücken soll, so soll dieses zweite
Gesetz die Veränderungen beherrschen, denen die Erscheinung
der Substanz unterworfen ist Die Entwickelung ist also bei
^Spencer nicht, wie bei Darwin und Haeckel, letztes Resultat
anderweitiger Gesetze, sondern selbst höchstes und letztes Gesetz
des Geschehens.
490
Herbert Spencer.
Ent Wickelung oder Evolution ist bei Spencer zunächst nur
eine Bezeichnung des Ganzen nach einem Teil. Jede Evolutiool
führt zu einem labilen Gleichgewichtszustande, der alsbald in
Devolution oder Dissolution umschlägt, so dass Evolution und
Dissolution nur die aufsteigende und abfallende Seite einer zu-
sammengehörigen Wellenbewegung darstellen. Auch geht überall
gleichzeitig mit einer Evolution an dieser Stelle Dissolution an
einer andern Stelle vor sich, und w^enn in einem grösseren Gebiet
(z. B* auf der Erde, oder in unserm Sonnensystem, oder unsrer
Weltlinse) zeitweilig die Evolution überwiegt, so überwiegt dafür
gleichzeitig in anderen Gebieten (z, B. auf anderen Planeten, Sonnen-
systemen oder Weltlinsen) die Dissolution. Wenn in Bezug auf
Succession die zeitliche Unendlichkeit des Weltprozesses ein unend-
liches Wellenspiel von Evolutionsphasen und Dissolutionsphasen mit
sich bringt, so sorgt die räumliche Unendlichkeit dafür, dass neben
den entstehenden Welten auch sich auflösende existieren und
umgekehrt, d, h. dass der rhythmische Wechsel derselben Zu-
stände, der im Einzelnen Kreislauf ist, doch für das unendliche
Ganze Stillstand auf demselben Fleck mit blossem Erzittern der
Teile ist.
Aber auch innerhalb jeder Phase eines Einzelvorganges zeigt
die Evolution ein Doppelantlitz, je nachdem man den Blick auf
die Materie oder auf die Bewegung richtet. In der Evolution
zeigt sich Ansammlung (integration) von Materie und Zerstreuung
(dissipation) von Bewegung, in der Devolution oder Dissolution
dagegen Absorption von Bewegung und Disintegration der Materie*
Mit anderen Worten: was für die Materie Evolution, Konzentration
oder Integration ist, das ist für die Bewegung Dissipation oder
Dissolution, und was für die Materie Disintegration oder Disso-
lution ist, das ist für die Bewegung Absorption. Spencer be-
zeichnet die Zusammenfassung beider Vorgänge an der Materie
und an der Bewegung einseitig nach dem, was der Materie dabei
widerfährt, aber im Gegensatz zu dem, was sich mit der Bewegung
dabei ereignet Einen Grund hierfür giebt er nicht an; er lässt
sich durch die Art und Weise bestimmen, wie er persönlich zu
seinem Begriff der Ent Wickelung gelangt ist
Von Coleridge, der sieb an Schelling gebildet hat, und von
dem Physiologen von Baer hatte Spencer anfänglich eine teleo-
logische Betrachtungsw^eise und die Erkenntnis überkommen, dass
Herbert Spencer.
491
das Leben eine Tendenz zur Individualisierung ist, dass die Höhen-
grade des Lebens der fortschreitenden Verwirklichung dieser Ten-
denz entsprechen, und dass die Steigerung der Individualisierung
sich durch zunehmende Differenzierung der Teile und wachsende
Abhängigkeit derselben von einander vollzieht. Die Schellingsche
»Idee« bei Coloridge und die »Zielstrebigkeit« bei von Baer
stimmen darin überein, dass sie der komplizierteren Individuali-
tätsstufe einen höheren Wert verbürgen, weil sie dem Zweck des
Lebens vollkommener entspricht. Die Entwickelung hat hier den
Sinn eines Aufsteigens vom Niederen zum Höheren. Das Höhere
steht nur darum höher als das Niedere, weil es dem Zweck besser
dient; das Zusammengesetzte. Verwickelte» Differenzierte, Durch-
gebildete, Konzentrierte und Centralisierte steht nur darum höher
als das Einfache, Gleichartige, relativ Unbestimmte und Zu-
sammenhangslose, weil es zweckdienlicher ist. Der Begriff der
Entwickelung oder des Aufsteigens vom Niederen zum Höheren
hängt also gleich dem des Höheren an dem Begriff des Zweckes,
Wo das Einfache dem Zwecke besser entspricht, wie z. B, bei
Lösung mathematischer Aufgaben oder bei der Aufstellung natur-
wissenschaftlicher Hypothesen, da liegt die Entwickelung (der
mathematischen Fertigkeit und der naturwissenschaftlichen Er-
kenntnis) in dem Fortschritt vom Komplizierten zum Einfachen.
Nun bemerkte Spencer den Zusammenhang dieser Begriffe
nicht, sondern glaubte die Teleologie ausscheiden und doch den
Begriff der Entwickelung festhalten zu können. Er hielt die
SusserEchen Merkmale» durch welche die Entwickelung in der
Astronomie, Embryologie, vergleichenden Anatomie und Sozio-
logie sich bemerklich machte, auch dann noch zur Feststellung
ihres Vorhandenseins für ausreichend, nachdem er die Möglichkeit
der Entwickelung durch Leugnung des Zweckes abgeschnitten
hatte. Ursprünglich hatte er die Differenzierung als Merkmal
der Entwickelung betont; später stellte er die Konzentration oder
Integration voran und fügte die Determination hinzu. So wird
nun der Begriff der Entwickelung aus äusserlich aufgelesenen
Merkmalen zusammengesetzt, deren keines unmittelbar mit Ent-
wickelung etwas zu thun hat. Dass das Wort überhaupt noch
festgehalten wurde, war nur die Folge einer unvermerkten Ideen-
assoziation mit dem früher gehegten Begriff der Entwickelung,
dem doch der Nerv nunmehr unterbunden war.
492
Herbert Spencer»
Wenn Spencer das Zusammenwehen eines Haufens dürrer
Blätter durch den Wind Entwickehing nennt, so dürfen wir uns
nicht mehr wundern, dass er auch dem rhythmischen Wellenspiel
des mechanischen Weltprozesses diesen Namen nicht vorenthält
Mit dem aber, was der philosophische Sprachgebrauch in Deutsch-
land Entwickelung nennt, haben diese Dinge nichts zu thun.
Leider wird durch das missbräuchlich beibehaltene Wort auch bei
den Lesern der Spencerschen Werke immer wieder die unwill-
kürliche Erinnerung an die bisher übliche Bedeutung des Wortes
wachgerufen und dadurch in ihren Köpfen eine schwer zu schlich-
tende Verwirnrng hervorgerufen. Der Schein wird vorgespiegelt,
als ob Spencer dem Entwickeln ngsbegrifF, wie er sich von Lessing
und Herder bis zu Hegel und SchelHng ausgebildet hat, eine natur-
philosophische Grundlage gegeben habe, während er doch das
Wort seines einzigen Inhalts beraubt hat. Alles, w^as Spencer im
einzelnen in der Biologie, Psychologie und Soziologie geleistet
hat, hat er im Widerspruch mit seiner Erkenntnistheorie und
Metaphysik geleistet Denn es wird alles thatsächlich unwahr,
sobald man es auf die Sphäre der subjektiven Erscheinung zu
beziehen sucht, und spottet des Spencerschen Agnostizismus, wenn
man es auf die Sphäre der bewusstseinstranscendenten Wirklich-
keit bezieht Lässt man es aber zwischen beiden Sphären balan-
cieren, so verbindet es die thatsächliche Unrichtigkeit in Bezug
auf die erstere mit der angeblichen UnStatthaftigkeit irgend welcher
Aussage über die letztere. Darauf muss zuletzt aller phänome*
nalistische Agnostizismus hinauslaufen, der seinem Princip zum
Trotz wissenschaftliche Erkenntnis darzubieten unternimmt —
Die Entstehung des Bewusstseins fasste Spencer in seinen
beiden ersten Hauptwerken als Übergang der Bewegung in
Empfindung auf und subsumierte diesen Vorgang ebenso wie die
Umwandlung von Bewegung in Wärme unter das Gesetz der
Erhaltung der Kraft. Später erkannte er an, dass die Entstehung
der Empfindung aus der Bewegung nicht zu erklären sei, und
dass keine dieser beiden phänomenalen Äussern ngsformen des
unerkennbaren Kraftwesens auf die andere zurückzuführen sei.
Da beide aber gesetzmässig an einander geknüpft sind» so hält
er es für praktisch unerheblich, ob man die eine für eine Um-
wandlung der andern, oder ob man sie für koordinierte irreduk-
tible Farallelerscheinungen des Unerkennbaren ansieht.
Herbert Spencer.
493
Das Bewusstsein ist nicht bloss eine Summa von Empfin-
dungen und Vorstellungen; vielmehr muss es hinter denselben
etwas Substantielles geben, das sie mit einander verknüpft und
die Einheit des Bewusstseinsinhalts und -Umfangs sicher stellt
Demnach ist die Seelensubstanz zwar unentbehrlich, aber sie ist
unerkennbar, das Seelenleben jedoch ist auf doppeltem Wege zu
erkennen, durch die objektive Psychologie als Reihe von Ent-
wickelungsstufen, die mit den biologischen Hand in Hand gehen,
und durch die subjektive Psychologie, die sich auf Selbstbeobach-
tung stützt Individuell betrachtet, hat der Empirismus unrecht,
weil jede Erfahrung bereits auf einen reichen Schatz ererbter
Verknüpfungsformen trifft; auf die Gattung bezogen hat er recht,
weil alle Verknüpfungsformen sich nur durch allmähliche Häufung
empirischer Eindrücke bilden. Überall ist die seelische Funktion
früher als die Verknüpfungsformen und Organe, die sie sich an-
bildet und durch Vererbung überträgt; die Seelensubstanz ist
dann wiederum das Prius der seelischen Funktion,
Demnach muss doch in der Seelensubstanz die Fähigkeit
liegen, vermittelst ihrer reaktiven Funktion Eindrücke aktiv zu
verknüpfen, noch ehe eine ererbte organische Anlage zu diesem
Zwecke vorhanden ist, da es sonst nie zu einer solchen kommen
würde. Ebenso muss die Seelensubstanz auf jeder Stufe der
Organisation fähig sein, die Verknüpfungsformen besser zu voll-
ziehen, als die Anlage sie darbietet, weil es sonst wohl zu einer
Verfestigung, aber nicht zu einer Vervollkommnung der erblichen
Anlage kommen könnte, Mit dieser Erwägung ist aber der
phylogenetische Empirismus Spencers verurteilt, als eine An-
nahme, die der Priorität der Funktion vor dem Organ widerspricht
Nur auf dem Boden einer rein sensualistischen Assoziations-
psychologie kann ein phylogenetischer Empirismus aufrecht er-
halten werden; sobald man diesen Boden verlässt und eine aktive
Thätigkeit der Seele in der Apperzeption und Verknüpfung der
passiven Eindrücke zugesteht, wird der Empirismus in seiner
gattungsmässigen Gestalt ebenso theoretisch unhaltbar, wie in
seiner individuahstischen. In praktischer Hinsicht allerdings macht
es einen grossen Unterschied, ob man die Bedeutung der ererbten
Anlagen anerkennt oder das Individuum für eine leere Tafel
hält, die erst durch die Erfahrung beschrieben werden soll Der
unhistorische Intellektualismus und seichte Aufklärungsrationalis-
494
F, A. l-ange.
mus der letzteren Ansicht wird durch die erstere historisch
vertieft und alle Reform best rebun gen werden auf den umständ-
licheren aber wirksameren Umweg^ der allmählichen modifizieren-
den Einwirkung auf die ererbten ^^nlagen hingewiesen. In dieser
Hinsicht bedeutet der gattungsmässige Empirismus Spencers
einen grossen Fortschritt über den sensualistischen Empirismus
des achtzehnten Jahrhunderts hinaus, der unter den Gebildeten
Frankreichs und Englands bis zu Spencer noch immer seine Herr-
schaft behauptet hatte, —
F. A. Lange (1828—1875) hat neben dem Streit zwischen
Trendelenburg und Kuno Fischer am meisten dazu beigetragen,
die Kantsche Erkenntnistheorie für eine Zeitlang in den Mittel-
punkt des philosophischen Interesses zu rücken. Vorbereitet war
diese Wendung dadurch, dass dieSchopenhauersche Philosophie, die
so nachdrücklich auf Kant hinweist, in den sechziger Jahren mehr
in Aufnahme gekommen war, und dass Kuno Fischer in seiner
Geschichte der neueren Philosophie eine zweibändige Darstellung
des Kantschen Systems geboten hatte. Schopenhauer, Fischer
und Lange waren gleichmässig Anhänger der idealistischen Grund-
sätze der Kantschen Erkenntoistheorie; so kam es, dass bei der
Erneuerung der Kantstudien ebenso wie in der unmittelbaren
Schule Kants zunächst diese idealistischen Bestandteile der
Kantschen Erkenntnistheorie die Aufmerksamkeit auf sich zogen
und die bei Kant vorhandene realistische Unterströmung teils
ignoriert, teils ausdrücklich als eine sich selbst widersprecheDde
Verirrung Kants ausgeschieden wurde. ^h
Lange schliesst sich auf das Engste an Schopenhauer afl|^|
verleugnet aber seine Abkunft und stützt sich auf Kant, wie
Schopenhauer Schelling verleugnet und sich auf Flaton gestützt
hatte. Langes ganze Geschichte des Materialismus ist zu dem
Zweck geschrieben, um die Synthese des Materialismus mit dem
subjektiven oder traoscen dentalen Idealismus als die wahre Philo-
sophie hinzustellen, d. k einen von Schopenhauer zuerst vertretenen
Gedanken durch geschichtlichen Nachweis und zeitgemässe Aus-
führungen sicher zu stellen. Nur Schopenhauers Lösung d^
Problems, für die das Buch geschrieben ist, findet in dieser Ge-
schichte des Materialismus keine Erörterung. Von Schopenhauer
übernimmt er ferner den objektiven Idealismus, den er unter dem
Einfluss von Schiller und Fichte umbildet, und den empirischen
F. A, Lange.
495
Pessimismus ; dagegen verwirft er die Willensmetaphysik und die
transcen dentale Freiheit, weil das Ding an sich sowohl nach der
subjektiven Seite hin wie nach der objektiven unerreichbar sei
und eine notwendige Illusion bleibe.
Von Kant hält Lange eigentlich nichts weiter fest, als den
apriorischen Ursprung der Anschauungs- und Denkformen, den
falschen Schluss von diesem auf ihre bloss subjektive Gültigkeit
und das Noumenon als negativen Grenzbegritf. Dagegen leugnet
er mit Schopenhauer die transcendente Kausalität des Dinges an
sich und nimmt mit Fichte an, dass das Ding an sich bloss eine
Kategorie unseres Denkens ist, und dass das Ich nicht bloss die
Formen ♦ sondern auch den Inhalt seiner Vorstellungen ganz aus
sich produziert. Aber während Fichte die materielle Natur als
ein blosses Produkt unserer geistigen Organisation spiritualistisch
Verflüchtigt, will Lange ebenso wie Schopenhauer die Fühlung
mit der Naturwissenschaft und ihrer mechanistisch-materialistischen
Weltanschauung nicht verlieren, also unsere geistige Organisation
als ein Produkt materieller Vorgänge betrachten. Dies ist nun
zwar bei Schopenhauer möglich, insofern die konkreten Willens-
objektivationen» die uns als Materie erscheinen, die geistige Orga-
nisation hervorgebracht haben, während der so resultierende Geist
erst die Erscheinung der Materie hervorbringt. Bei Lange jedoch,
der jedes transcen dent wirkliche Korrelat der subjektiv idealen
Erscheinung der Materie leugnet, wird das Verhältnis sich selbst
widersprechend. Denn nun soll die vom Geist hervorgebrachte
Erscheinung der materiellen Organisation des Gehirns dasjenige
sein, was die geistige Organisation und ihre Bethätigung erst
hervorbringt, durch welche sie selbst hervorgebracht wird; d. h.
die Wirkung soll die Ursache ihrer Ursache, das Posterius das
Prius seines Prius sein.
Bei den Identitätsphilosophen (Spinoza, Scheüing, Fechner) wird
der Zusammenhang zwischen der materiellen und seelischen Er-
scheinung dadurch hergestellt, dass eben dasjenige, was das Ding
an sich der äusseren materiellen Erscheinung ist, zugleich auch
das Ding an sich der inneren seelischen Erscheinung ist, oder
dass phänomenaler Stoff und Erscheinungsich nur zwei koordinierte
Erscheinungen ein und desselben positiven Noumenons sind.
Bei Lange, wo das Ding an sich im Sinne eines positiven
Noumenons geleugnet und für eine allerdings unentrinnbare
496
F. A. Lang^.
Dlusion erklärt wird, fehlt jedes Band zwischen der stofflichen
und der ichlichen Erscheinung. Insoweit, als die Erfahrung noch
eine gewisse Koordination zwischen den Vorgängen auf beiden
Erscheinungsgebieten vorführt, ist diese Koordination als eine
nackte Thatsache völlig unbegreiflicher und paradoxer Art hinzu-
nehmen, da durch die Leugnung des Dinges an sich jede Möglich-
keit abgeschnitten ist» sie aus einem beiden gemeinsamen Hinter-
grunde zu erklären.
Bei Spencer steht im Hintergrunde beider Erscheinungs-
gebiete das Unerkennbare als ein positives Noumenon, das beide
durch seine transcendente Kausalität hervorbringt, als eine wesen-
hafte absolute Realität, die in dem Schein von beiderlei Art sich
auswirkt und phänomenal manifestiert. Davon kann bei Lange
keine Rede sein, nicht nur, weil das Unerkennbare für ihn ein
bloss negativer Grenzbegriff ist, sondern vor allen Dingen schon
darum nicht, weil die Kausalität nach den Grundsätzen des trans-
cen dentalen Idealismus nur bewusstseinsimmanente Gültigkeit
haben soll. Wäre selbst das Unerkennbare an sich etwas Posi-
tives, absolut Reales, so könnte es doch den Schein in meinem
Bewusstsain nicht beeinflussen, weil dazu transcendente Kausalität
gehörte; folglich kann es auch zur Erklärung dieses Scheins
nichts beitragen. Wenn der Anatom mein Gehirn als stoffliche
Erscheinung anschaut, dessen Bewegungen ich als meine Empfin-
dungen spüre, so begreift sich das, falls ein Ding an sich vor-
handen ist, das von aussen gesehen dem Anatomen als Nennen-
masse* von innen gesehen sich selbst als Empfindung erscheint
Wenn aber ein solches Ding an sich nicht existiert^ so ist schwer
zu verstehen, was die Vorstellung des Anatomen von mein^
Gehirn noch mit meinen Empfindungen zu schaffen haben könnte
Ferner weiss Spencer ganz genau, dass das Gesetz der Er-
haltung der Kraft in Bezug auf den bewusstseinsimmanenten
Schein als solchen nicht gilt, sondern nur in Bezug auf eine
bewusstseinstranscendente Realität, die uns allerdings nur nach
ihrer Existenz, nicht nach ihrer Beschaffenheit erkennbar sein soll.
Für Lange hingegen, welcher jede bewusstseinstranscendente
Realität leugnet, bleibt gar nichts übrig, als das Gesetz der Er-
haltung der Kraft als für den bevvussteinsimmanenten Schein
gültig zu behaupten, wenn er es nicht ganz leugnen will. Mit
dieser Behauptung setzt er sich aber offenbar mit dem Thatbestand
Ft A. Lvsge.
497
in Widerspruch, da im Bewusstseinsinhalt Kraftempfindüng-en auf-
tauchen und wieder verschwinden, ohne dass von einer zeidichen
Konstanz ihrer Gesamtenergie irgendwie die Rede sein könnte, —
Lange \vi\\ vor allen Dingen sich mit der modernen Natur-
wissenschaft gut stellen; ihre mechanistische Weltanschauung soll
die einzige Erkenntnis sein, die nach Zerstörung der Metaphysik
und Philosophie noch übrig bleibt, und ihre materialistische Welt-
anschauung soll wenigstens von allen mögUchen dogmatischen
Standpunkten der relativ wahrste sein, w^enn er auch ins Subjek-
tive, Phänomenale, Bewusstseinsimmanente umgedeutet werden
muss, um zur Wahrheit im wissenschaftlichen Sinne zu werden.
Das klingt ja nun sehr verlockend und sehr schmeichelhaft für
die Naturforscher, und manche sind diesem Lockruf gefolgt und
haben sich wunder wie wissenschaftlich dabei gedünkt In der
That aber ist es doch nur der den Naturforschern im Blute
sitzende naive Realismus gewesen, dessen unüberwundene Reste
ihnen den Langeschen Agnostizismus als einen für die Natur-
wissenschaft möglichen Standpunkt haben erscheinen lassen.
Wie Lange eine »Psychologie ohne Seelet lehrt, so auch eine
Naturwissenschaft ohne reale Materie. Wie die inneren Erschei-
nungen des Seelenlebens vor dem Bewusstsein dahin fliessen, ohne
dass dieser Einheit von Bewusstseinsform und Bewusstseinsinhalt
eine Seele, ein vorbewusstes transcendentes Subjekt, zu Grunde
läge, so auch ziehen die äusseren, stofflichen Erscheinungen vor
dem Bewusstsein dahin, ohne dass ihnen eine Materie, eine be-
wusstseinstranscendente materielle Wirklichkeit, sei es stoflflicher,
sei es unstofflicher Art, zu Grunde läge. Wenn der Naturforscher
von den Schallschwingungen der Luft oder den Lichtschwingungen
des Äthers redet, so meint er, dass ein bewusstseinstranscendentes
Etwas wirklich, d. h. jenseits unseres ßewusstseios, viele tausend
oder viele Billionen Schwingungen in der Sekunde vollziehe und
dadurch unsere Sinne so affiziere, dass die gleichmässige Qualität
der Schall- oder Lichterapfindung in unserem Bewusstsein entsteht.
Nach Lange aber existiert kein solches schwingendes Etwas
ausserhalb des Bewusstseins, das uns affizieren könnte; die natur-
wissenschaftliche Erklärung muss also entweder bedeuten, dass
^nser abstrakter Gedanke von so* und soviel Luft oder Ather-
iwingangen die Ursache von Schall- und Lichtempfindung
aei, welche ihm lange vorhergeht, oder sie muss zugeben, dass
£. V. U a r t m &n o , Auagcw« Werke. Bd. XU.
3^
498
F. A. Lange.
sie niusionen, die auf dem Boden des naiven Realismus erwachsen
sind, auf den des transcendentalen Idealismus sinnwidrig üb^-
trägt und als durchschaute Illusionen zu konservieren fortfährt
Das Gleiche ^It für die naturwissenschaftliche Lehre von
Molekülen und Atomen, die zugestandenermassen durch ihre
Kleinheit jeder Wahrnehmung entrückt sind. Die Naturwissen-
schaft operiert mit solchen abstrakten Gedanken gebilden nur
darum, weil sie annimmt, dass ihnen jenseits d^iS Bewusstseins
etwas Reales entspreche, das zu Gruppen vereint imstande sei,
uns kausal zu affizieren. Beides wird von Lange für unmöglich
erklärt. Entweder müssen dann die abstrakten Gedankengebilde
von Molekülen und Atomen, die im Kopfe des Physikers herum-
spuken, die Fähigkeit haben, in allen Menschen, auch denen» die
nicht Physiker sind, die sinnlichen Wahrnehmungen hervorzurufen,
oder sie sind überhaupt zu jeder Erklärung untauglich. Entweder
ist die stoffliche Welt in meinem Bewusstsein aus Atom begriffen
meines Bewusstseins aufgebaut, oder sie hat überhaupt nichts mit
Atomen zu thun. Entweder haften die Naturkräfte meiner Er-
scheinungswelt an meinen Atombegriffen als ihren Träg'ern, oder
sie haften überhaupt nicht an Atomen, und die ganze naturwissen-
schaftliche Atomtheorie ist eine reine Absurdität
Es ist klar, dass der Agnostizismus jede Möglichkeit natur-
wissenschaftlicher Erkenntnis genau ebenso aufhebt, wie diejenige
metaphysischer, und dass er nur durch offenbare Inkonsequenzeo
gegen sein Princip den Schein des Gegenteils vorzuspiegeln ver-
mag. Überall verwickelt er sich in Widersprüche. Dies erkennt
auch Lange bereitwillig an, und lobt Kant, dass er einen kleinen
Teil dieser Widersprüche in seinen Antinomien zum Ausdruck
gebracht hat. Er tadelt nur das an Kant, dass er geglaubt
hat, diese an sich unlösbaren Widersprüche durch sein positives
Noumenon lösen zu können. Wissenschaftlich ist nur eine nega-
tive Synthese, die beide Seiten des Widerspruchs ablehnt, A h.
das »Weder — noch.; jede positive Entfaltung des synthetischen
Triebes führt nicht mehr zu wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern
zur ästhetischen Befriedigung durch philosophische Dichtung. —
Unsere geistige Organisation ist nun einmal widerspruchs-
voll eingerichtet, deshalb können wir gar nicht anders, als
uns in Widersprüchen bewegen. Das Erkennen wollen auf-
geben, weil wir es als unmöglich erkannt haben, das wäre uader-
F. A, Lauge.
499
spruchslos gehandelt. Wir müssen aber widerspruchsvoll handeln,
d. h. weiter nach Erkenntnis streben, obwohl wir sie als unmög-
lieh erkannt haben, und fortfahren, uns philosophische Systeme
zu erdichten, obwohl wir sie als Fiktionen durchschaut haben.
Der Widerspruch zwischen dem Agnostizismus des Kopfes und
dem philosophischen Dichtungsbedürfnis des Herzens gehört eben
auch zu unserer geistigen Organisation.
Ein ähnlicher Widerspruch besteht bei Lange zwischen dem
empirischen Pessimismus und dem idealistischen Optimismus, Den
Gegensatz beider hatte Lange bei Kant und Fichte vorgefunden,
aber er steigert ihn zum Widerspruch. Den metaphysischen
'Pessimismus Schopenhauers verwirft er natürlich, weil er ins
unerkennbare Gebiet hinübergreift» aber an seine Stelle setzt er
die widerspruchsvolle geistige Organisation des Menschen, die
einen erkenntnistheoretischen Pessimismus begründet. Trotz alle-
dem soll der idealistische Optimismus des Herzens sich behaupten,
obwohl doch eigentlich auf Langes Standpunkt nichts anderes
wirklich ist als die Erfahrung, und für diese der Pessimismus gilt
Dass Lange seine Leugnung des Bewusstseinstranscendenten
1er Dinges an sich im Sinne eines positiven Noumenons konse-
"quent durchgeführt hätte, kann man nicht sagen. Schon die wider-
spruchsvolle geistige Organisation, die als vorbewusster Grund
le bewussten Geistesbethätigungen bestimmt, steht dem imma-
'tienten Bewusstseinsinhalt durchaus als ein transcendentes Ding
an sich und als eine transcendente Ursache gegenüber. Noch mehr
aber ist dies mit den übrigen Menschen der Fall Denn indem
Lange einen generellen Schein, eine Erscheinung für die Gattung,
und die Wirklichkeit des Fortschritts in der Gattung gelten lässt,
erkennt er die Wirklichkeit der Gattung, d. h. die wirkliche
Existenz anderer Bevvusstseine ausserhalb des meinigen an, die
doch für mein Bewusstsein nichts anderes sind, als bewusstseins-
transcendente Dinge an sich und positive Noumena, Wie ich
^von ihrer Existenz etwas erfahren soll ohne transcendente Kausa-
lität derselben auf mich, und wie diese KausaUtät vermittelt sein
soll, wenn nicht durch materielle Dinge an sich» dafür bleibt
Lange die Erklärung schuldig.
Da alle Philosophien nur Dichtungen der Phantasie sind, und
jeder nur das dichten wird, was ihm am besten gefällt, so muss
der subjektive Wert aller gleichgesetzt werden. Ihr objektiver
31 •
50O
Der Neukantianismus und seine Richtungen.
^
Wert kann nur noch nach ethischen, nicht mehr nadi wissen-
schaftlichen Massstäben bemessen werden, audi nicht einmal nach
Wahrscheinlichkeit. Nach Lange ruht alle Religion und Sittlich-
keit auf dem widerspruchsvollen Triebe des Menschenherzens,
transcendente philosophische Systeme zu erdichten, trotzdem die
agnostische Erkenntnistheorie sie als Fiktionen, Illusionen, Selbst-
täuschungen entlarvt hat, D» h. nach Lange beruht Religion und
Sittlichkeit auf der wissentlichen Fortsetzung einer bewusst-
gewordenen Selbsttäuschung, auf der willigen Hingebung an das
als vmwahr und illusorisch Gewusste, Ob dieses Fundament der
Rehgion und Sittlidikeit besonders haltbar und tragfähig ist, darf
billig bezweifelt werden; wenn die Fortsetzung des durchschauten
Selbstbetrugs auf die Dauer möglich wäre, so wäre sie doch
schwerlich noch sittlich. Nach sittlichem Massstab bemessen muss
der objektive Wert der Langeschen Philosophie deshalb geringer
scheinen als der jeder anderen, die den Glauben an ihre eigene
Wahrheit als möglich bestehen lässt
Die Philosophie als Dichtung war noch ein Rest des alten
Sauerteigs, den Lange nicht ganz mit seinem Agnostizismus hatte
verdauen können* Es musste die nächste Aufgabe sein, seinen
Agnostizismus von diesem illusorischen objektiven Idealismus zu
reinigen. Von dieser Inkonsequenz abgesehen, durfte man sagen,
dass Lange den Agnostizismus in seinem Princip strenger erfasst und
mit besserer Einsicht in seine Konsequenzen durchgeführt hatte, als
irgend ein früherer Phüosoph. Eine solche Leistung ist aber immer
verdienstlich, wenn sie auch nur den negativen Gewinn bieten
sollte, einen Irrweg deutlich als Irrweg erkennen zu lassen, indem
sie ihn durch seine Konsequenzen ad absurdum führt. Zunächst
aber fehlte noch viel daran, dass Langes Leistung als die reductio
ad absurdum des Agnostizismus begriffen worden wäre.*) —
Lange machte vielmehr Schule. Der Neukantianismus wurde
in den siebenziger und achtziger Jahren in der Universitätsphilo-
sophie tonangebend. Die ganze Philosophie schrumpfte zeitweilig
auf Erkenntnistheorie zusammen. Der Rückgang auf Kant wurde
das Feldgeschrei, unter dem alles fechten wollte, und zwar war
*) Vgl. > Neukantianismus, Schopenhauerianismus «od llegelUaismas«« S. t — 5,
17 — 22, 45—118; >Phil. des Unbewusstcn* , 10. Aufl., Bd. 1, S. 441 — 444, Bd. H,
S. 476 — ^478» Bd* in, S. 4<>5 — 466; »Kritische Grundlegung des ttmnsccndentälefi
Realisraus*, 3. Aufl,, S, 81 — 84.
Der Neukantiaiiisiniis und seine RicbtungeD.
501
es fast ausschliesslich die Kantsche Erkenntnistheorie» an die man
dabei dachte. Lange selbst hatte auf dem Boden des transcen-
dentalen Idealismus den Kantschen Apriorismus mit dem sensua-
listischen Empirismus Humes zu verschmelzen gesucht, aber den
transcendentalen Realismus, der bei Kant die massgebende Unter-
strömung bildet, bei Seite geschoben. Auch die übrigen Neu-
kantianer stellten sich in der überwiegenden Mehrzahl auf den
Boden des transcendentalen Idealismus und verwarfen das Ding
an sich gänzlich, gingen aber in rationalistische Aprioristen und
sensualistische Empiristen auseinander, und diese letzteren wieder
in solche, die den Phänomen alismus, und solche, die den Empiris-
mus betonten.
Auf dem Standpunkt des rationalistischen Apriorismus stehen
u. a. Cohen. A. Krause, der Kants Dreigliederung der Kategorien
in eine Viergliederung umgeändert und nach diesem Schema end-
lose Tabellen ausgesponnen hat» Lasswitz und die Theologen
Ritschi und Lipsius. Sie entsprechen etwa Beck und Maimon in
der unmittelbaren Kantschen Schule. Einen Neufichtianismus
vertreten Bergmann, Schuppe» Rehmke, Schellwien, während
Eucken ähnlich wie sein Amtsvorgänger Fortlage ausser zu Fichte
einerseits zu Pia ton und andererseits zu den Theisten hinneigt
Auf dem Boden eines neuhum istischen Phänomenalismus steht
eine Gruppe von Autoren, die ihren Standpunkt als yerkenntnis-
theoretischen Monismus« oder als >immanente Philosophie'? be-
zdchneo, von Schubert - Soldern , Leclair, Mach. Gegen die
Bezeichnung :>immanente Philosophie* ist nichts einzuwenden,
sofern das »immanent* nicht über die Bedeutung »bewusstseins-
immanentf oder *erkenntnistheoretiscli immanent« ausgedehnt
wird, also die Erkennbarkeit alles Bewusstseinstranscendenten
schlechthin geleugnet wird. Auch ^^ erkenntnistheoretischer Monis-
mus€ ist ein solcher Phänomenalismus nur so lange, als er strenger
Solipsismus oder absoluter Illusionismus bleibt, nicht jedoch,
wenn eine Mehrheit von Bewusstseinen angenommen wird. Denn
für jedes dieser Bewusstseine tritt dann sofort wieder der Dualis-
mus ein zwischen seiner Vorstellung von der Gesamtlieit der
übrigen Bewusstseine und dieser wirklich existierenden Gesamt-
heit selbst; d, h. für jedes Bewusstsein sind alle übrigen existieren-
den Bewusstseine »erkenntnistheoretisch transcendentc oder > Dinge
an sich«. Die ganze Darstellungskunst dieser Autoren richtet
502
Der Übergang zuni tnmscendentiJen Realismus.
sich darauf, diesen Punkt zu umgehen, zu verschleiern, oder zu
vertuschen, mit dessen deutlichem Hervortreten ihr Standpunkt
auch gerichtet ist.
Den Empirismus trägt eine andere Gruppe in Kant hinein,
die sich an den französischen Positivismus und den agnostischen
englischen Empirismus anlehnt, auch wohl auf die sensualistische
Periode Feuerbachs zurückgreift, nämlich Laas, Avenarius, RJehl
und Jodl. Laas nennt seinen Standpunkt »Positivismus« und
bekämpft lebhaft den Platonischen Idealismus in jeder Gestak;
er teilt mit Lange nur den sensualisierten und phänomenali&ierten
Materialismus, verwirft aber seine »Philosophie als Dichtung«
und schliesst sich noch enger als Lange an den Agnostizismus
von liume und Mill an. Zugleich machen sich aber auch bei ihm
schon Anfänge eines transcen dentalen Realismus geltend; denn
er neigt zur Annahme von dynamisch auf einander wirkenden
realen Substanzen und eines wirklichen Geschehens in einer trans-
cendenten Zeit hin, Riehl. Avenarius und Jodl dagegen beschrän-
ken sich ganz auf den phänomenalisierten Materialismus und be-
trachten die Metaphysik nur als kritische oder negative Disziplin. —
Einen Übergang lu den Vertretern des transcendentalen
Realismus bilden neben Laas auch Erhardt, Liebmann und Diltliey.
Erhardt hält zwar an der transcendentalen Idealität der Zeit fest,
behauptet aber trotzdena die transceodentale Realität der Kau-
salität Liebmann giebt zu, dass die Ordnung und Aufeinander-
folge der Walirnehmungen im Bewusstsein der Ordnung und Auf-
einanderfolge des wirklichen Geschehens ausserhalb des Bewusst-
seins entsprechen müsse, und räumt die Möglichkeit einer auf
hypothetische Erörterungen beschränkten Metaphysik ein. Dilthey
erkennt in den Wahrnehmungen ein System von Zeichen für die
vom Selbst unabhängigen Dinge (an sich), welche durch Wider-
stand und Druck auf uns einwirken. Als transcendentale Realisten
im eigentlichen Sinne sind zu nennen Ueberweg, Volkelt, Baumann
und die Theisten Carriere, Otto Pfleiderer und A. Dorner jr., die
eben deshalb aber sämtlich nicht unter Agnostizismus gehören;
Bahnsen, Mainländer, Hamerling, Hellen bach und du Prel werden
wir noch weiterhin als transcendentale Realisten kennen lernen*
Das Auftauchen des Neukantianismus hat das Verdienst ge-
habt, eine so eingehende Erörterung der erkenntnistheoretischen
Probleme herbeizuführen, wie sie noch in keiner früheren Periode
Der Übergang zum transcendentaleQ Realismus.
503
Stattgefunden hatte* In geschichtlicher Hinsicht hat diese Er-
örterung klargestellt, dass die theoretische Philosophie Kants aus
verschiedenen, disparaten Bestandteilen zusammengesetzt ist, dass
es weder Kant noch irgend jemand anders bisher gelungen ist,
diese Bestandteile zu einer widerspruchslosen Einheit zu ver-
schmelzen, und dass alle, die an Kant angeknüpft haben» nur einen
oder den andern dieser Bestandteile herausgegriffen und die ihm
widersprechenden beiseite gelassen haben. In sachlicher Hinsicht
hat sie für jeden Unbefangenen einleuchtend gemacht, dass der
sensualistische Phänomenalismus Humes und Mills und der ratio*
nalistische transcendentale Idealismus Kants und seiner Nachfolger
in ganz gleicher Weise durch ihre Konsequenzen zum Solipsismus
und (nach Beseitigung auch des realen Ich) zum absoluten Illusionis-
mus fülu'en, und dass nur der transcendentale Realismus vor diesen
Konsequenzen schützen kann, durch welche nicht bloss die meta-
physische, sondern überhaupt jede Erkenntnis aufgehoben wird.
Diesen transcendentalen Realismus hatte bereits der realistische
Flügel der Leibnizschen Schule, z. B. Knutzen und mit ihm sein
Schüler Kant bis zu seinem späteren Mannesalter ins Auge ge-
fasst, aber rationalistisch deduktiv behandeln wollen und dadurch
getötet. Von sensualistischem Ausgangspunkt aus war Ampere
auf den transcendentalen Realismus als den allein den Natur-
wissenschaften entsprechenden erkenntnistheoretischen Standpunkt
gekommen, auch hatte er ihn als Physiker induktiv verwertet;
aber seine Kraft und philosophische Bildung hatten nicht aus^
gereicht, ihn systematisch durchzuführen und die entgegenstehen-
den Einwendungen erschöpfend zu widerlegen. Da auch Schleier-
macher, Trendeienburg und Schelling in seiner Berliner Zeit den
Standpunkt des transcendentalen Realismus nur angedeutet, aber
nicht systematisch durchgeführt hatten, so blieb seine genauere
Begründung, Durcharbeitung und Verteidigung dem letzten
Drittel des neunzehnten Jahrhunderts vorbehalten.
Wenn nun der transcendentale Realismus als der einzig und
allein übrig bleibende erkenntnistheoretische Standpunkt ergriffen
wird, so ist damit zwar jede Möglichkeit einer apodiktisch gewissen
Erkenntnis und irgend welcher Erkenntnis a priori beseitigt, aber
ebenso auch der Agnostizismus, Es ist der Weg eröffnet zur
Erlangung einer nicht bloss problematischen, sondern mehr oder
minder wahrscheinlichen naturwissenschaftlichen und metaphysi-
504
Der
in der Natuiwi&senschafL
sehen Erkenntnis unter Benutzung der von Kant und seinen
Nachfolgern verschmähten induktiven Methode, welche die Eng-
länder zwar ausgebildet, aber nicht auf das Wirkliche anzuwenden
gewagt hatten» Während der Agnostizismus, wenn er sich selbst
nicht untreu wird, niemals etwas anderes als Atheismus sein kann,
bleibt die Frage offen, zu welcher Art von Metaphysik die traos-
cendental realistische Induktion führen werde. —
Die Naturwissenschaft war sich zunächst noch viel zu unklar
über die ihr zu Grninde liegende Erkenntnistheorie, um diesen Weg
schon jetzt einzuschlagen. Während die Masse der Naturforscher
in dem Vorurteil befangen blieb, dass materialistische und natur-
wissenschaftliche Weltanschauung sich deckten, und die wenigen
anders Denkenden ihre dann meist kirchlich gefärbte Ansicht für
sich behielten, traten einige tonangebende Führer der Naturwissen-
schaft mit einer Absage an den Materia]ismus hervor. Helmholiz,
der anfangs, wie die meisten Naturforscher, naiver Realist gewesen
war, wandte sich infolge seiner sinnesphysiologischen Unter-
suchungen von diesem Standpunkt ab und geriet je länger je
mehr, in das Fahrwasser des Neukantianismus, den er für die
echte Lehre Kants hielt Dubois-Reymond dagegen bekannte
sich ausdrücklich zum Agnostizismus als einem endgültigen, für
die Menschen unüberwindlichen Standpunkt: ignoramus et ignorabi-
mus. Er hatte damit insoweit völlig recht, dass die mechanisti-
sche Erklärungs weise der Naturwissenschaften für immer unfähig
bleiben muss, über das Bereich der materiellen Zusammenhänge
hinauszuführen und in die Erkenntnis des Geistigen einzudringen.
Unrecht hatte er nur darin, dass er daran festhielt, die naturwissen-
schaftliche Erklärungsweise als die höchste, letzte und einzige dem
Menschen offenstehende Erkenntnis anzusehen. Er hatte darin
recht, dass mechanistische und naturwissenschaftliche Erkenntnis
sich decken, aber darin unrecht, dass naturwissenschaftliche Er-
kenntnis und wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt sich decken.
Aus jener richtigen und dieser falschen Voraussetzung musste er
formell folgerichtig zu dem falschen Schluss gelangen, dass jen-
seits der Grenzen der mechanistischen Erklärungsweise der
Agnostizismus sein Reich habe.*)
*) Vgl »Ges Stud. II. Aufsä.tzs«, C. II, > Anfänge nahirwisseDschaftlicber Sdb
erkeautais«, S* 445 — 459,
Der Übergang zum atomistischen Dynamismos*
505
Der vereinigte Einfluss von Helmholtz und Dubois-Reymond
unterstützt durch den Astrophysiker Zöllner und die wachsende
■Beachtung Fechners untergruben allmählich das Vorurteil der
fünfziger und sechziger Jahre, als ob naturwissenschaftliche und
materialistische Weltanschauung sich deckten; aber sie Hessen
das andere naturwissenschaftliche Vorurteil unerschüttert, als ob
wissenschaftliche und mechanistische Weltanschauung sich deckten
und gewöhnten an den Gedanken, dass die Grenzen der mecha-
nistischen Erklärungsweise die Grenzen wissenschaftlicher Er-
^kenntnis überhaupt seien. In Bezug auf Naturphilosophie, Geistes-
f Philosophie und Metaphysik wurde also der positiv dogmatische
Materialismus nur durch einen negativ dogmatischen Agnostizis-
mus abgelöst, der die Grundlosigkeit seiner vermeintlichen Selbst*
gewissheit durch höhnische Verachtung aller metaphysischen Ein-
bildungen und Träumereien zu ersetzen suchte. —
Zugleich bereitete sich aber in der Naturwissenschaft selbst
von anderer Seite her ein Umschwung von Das von Mayer
entdeckte und durch Helmholtz zur Anerkennung gebrachte Ge-
etz der Erhaltung der JCraft hatte die naturwissenschaftlich Den-
^kenden daran gewöhnt, alle bisher sogenannten Naturkräfte als
wechselnde Erscheinungsformen einer und derselben Energie zu
begreifen. Da musste sich doch die Frage aufdrängen, was denn
diese Energie sei, die sich als konstante Grösse im Wechsel ihrer
Formen erhält. So lange man die Naturkräfte als Ergebnisse
ier Stoffbewegung und den Stoff und die Bewegung als bewusst-
seinstranscendente Realitäten dachte, war auch die Kraft etwas
Reales; aber mit der subjektiven Idealität des Stoffes und der
äwegung verflüchtigt sich diese vermeintliche Realität zur
Illusion. So lange man andererseits die Naturkräfte für spezifisch
verschieden hielt und doch alle nach Analogie der eigenen ieib-
Uchen Kraftempfindung dachte, konnte ihre subjektive Phänome-
lalität begreiflich erscheinen; aber nun waren alle spezifisch-
^Verschiedenen Kräfte zu blossen Erscheinungsformen der Energie
zurückgeführt, die als transcendente Wesenheit hinter ihnen eben-
sogut wie hinter der eigenen leiblichen Kraftempfindung un-
erkannt thronte.
Da musste doch endlich der Gedanke auftauchen, dass nach
Auflösung des Stoffes in eine rein subjektive Erscheinung noch
nicht alles ohne Rest in subjektive Erscheinung aufgelöst sei,
5o6
Der Übergang rum atomisliscben Dynamisuiiu.
sondern dass die Kraft als konstante Energie nunmehr das wahr-
haft Seiende, das unabhängig vom wahrnehmenden Subjekte
WirkHche sei, von dem alle empfundenen Kräfte und alle ge-
schauten Stoffe nur Erscheinungen seien. Neu war dieser Gedanke
eben nicht. Leibniz* Naturphilosophie beruht auf ihm und Bouter-
wcks Virtualitätssystem hatte ihm eine zusammenhängende Aus-
führung gegeben. Aber auch in der Naturwissenschaft war er
schon öfter ausgesprochen. Im Jahre 1844 hatte Faraday sich ^u der
Atomtheorie des Mathematikers Boscowich bekannt, nach welcher
das Stoffpartikelchen, an dem nach der gewöhnlichen Vorsiellunj
die Atomkräfte haften sollen, als eine blosse sinnliche Einbildunj
verschwindet und das Kräftesystem des Atoms allein als die
Substanz des Atoms übrig bleibt.*) Auch Helmholtz neigte
schon 1847 einer solchen Auffassung zu. Aber die Zeit um die
Mitte des Jahrhunderts war noch lange nicht reif gewesen, um
eine solche Einsicht aufzunehmen. So lange der naive Realismus
die Köpfe der Naturforscher beherrschte, war das Vorurteil desl
wirklich existierenden Stoffes unausrottbar. Es musste erst die
Herrschaft des naiven Realismus gebrochen werden, und das wa
ohne den Durchgang durch den transcen dental •idealistischen'
Phänomenalismus nicht möglich. Erst als die Naturforscher mit
diesem einigermassen vertraut geworden waren, traten die Ge-
danken von Boscov^dch und Faraday wieder hervor. Zöllner 1
(Wiss, Abhandl. I, 127} bekannte sich zu ihnen und endlich traft
Ostwald auf, um »die Überwindung des wissenschaftlichen
Materialismus* (Leipzig 1895) durch die energetische oder dyna-
mische Weltanschauung vor den Ohren aller Naturforscher zu
verkünden.
Fragt man aber, was denn die .^Energie« sei, die sich in
allen Erscheinungen äussert, so muss natürlich die Naturwissen-
schaft die Antwort schuldig bleiben. Hiermit weist sie aber auf
die pluralistische Willensmetaphysik hinüber, die sich inzwischen
aus dem Schopenhau ersehen Wiilensmonismus in Deutschland ent-
wickelt hatte. Wenn das Licht der induktiven Erkenntnis die
Natur in ihrem von der menschlichen Wahrnehmung unabhängigen
Dasein erleuchten und den Agnostizismus verdrängen sollte, so
*) Faraday » »Ober die Natur der Materie«, im Phil. Mag, 1S44, Bd* XXIT«
p. 136.
Der Agnostizisnnis in der Psychologie.
507
musste der transcendentale Realismus den transcendentalen Idealis-
niias ersetzen, und dies war wieder nur auf dem Boden einer
dynamisch -thelischen Metaphysik mit atomistisch -individualis-
tischer Ghederung der Kraftäusserungen und Wülensbethätigiin-
gen mögHch. —
So lange der Agnostizismus sich darauf beschränkt, negative
Erkenntnistheorie und Ivritik aller positiven Erkenntnisversuche
zu sein, so lange ist er zu einer unfruchtbaren Spitzfindigkeit
verurteilt, die nur dadurch etwas Abwechselung erhält, dass jeder
seiner Vertreter in etwas anderer Weise den letzten, absurden
Konsequenzen diesem Standpunktes auszuweichen sucht Eine
solche Beschränkung der Philosophie auf Erkenntnistheorie oder
vielmehr Ignoranztheorie musste bald ermüdend wirken, ähnlich
wie das unfruchtbare scholastische Gezänk des Nominalisoius im
Ausgange des Mittelalters, Es ist kein Wunder, dass daraus die
Sehnsucht nach irgend etwas Positivem entsprang. Diese Sehn-
sucht konnte aber auf dem einmal angenommenen Boden des
agnostischen Phänomenaiismus zunächst nirgend anders Befrie-
digung suchen als in der Psychologie. Freilich war die Psycho-
logie auf diesem Boden ganz auf Registrieren, Beschreiben und
'Ordnen von thatsächlichen Erfahrungen und Beobachtungen be-
schränkt, Sie musste sich ganz an die innere Erfahrung halten,
sei es mittelst blosser Selbstbeobachtung, sei es mittelst Experi-
mente, die sich in Reihen ordnen liesscn.
Schon Beneke hatte auf die Selbstbeobachtung als alieinige
Quelle der psychologischen Erkenntnis hingewiesen; aber er hatte
noch geglaubt, dass das Ich sich als Substanz und Subjekt eri'asse.
Jetzt konnte es sich nur noch um eine Psychologie ohne Seele
handeln. Wenn Leibniz, Maine de Biran, Beneke, l, H. Fichte
und andere in ihrer Psychologie auf den Zusammenhang der be-
wussten und unbewussten Seelen thätigkeit hingewiesen und eine
Hauptaufgabe der Psychologie in der Erklärung der Bewusst-
seinserscheinungen aus unbewussten seelischen Vorgängen gesucht
I hatten, so musste die agnostische Psychologie dies als einen
principiellen Irrtum verwerfen, Brentano z. B. beschränkte allen
solchen Bestrebungen gegenüber die Aufgabe der Psychologie
auf die Beobachtung der Bewusstseinsvorgänge, Und mit Recht,
wenn einmal alles Bewusstseinstranscendente als unerkennbar aus-
geschieden ist; denn etwaige unbewusste Seelen Vorgänge hinter
5o8
Der Übergang zur üidividuAlU tischen Witleiisinet&i>liystk,
dem eigenen Bewusstsein sind entschieden transcendent für dieses
Bewusstsein. Münsterberg kann es allenfalls bedauern, dass dieser
Weg ungangbar ist, aber er muss an seiner Ungangbarkeit fest-
halten.
Das Hauptinteresse der Psychologie richtete sich bei dieser
Sachlage auf den psychophysischen Paralleltsmus, wie er von
Fechner aufgestellt worden war. Zwar gab es nicht bloss
agnostische Psychologen, sondern auch solche, die den identitäts-
philosophischen Pantheismus Fechners unter Ausscheidung seiner
befremdlichen Bestandteile festhielten und den psychophysischen
Parallelismus auf die doppelseitige Erscheinung eines beiden
Reihen zu Grunde liegenden Wesens deuteten, z. B. Paulseo.
Aber der Agnostizismus forderte unausweichlich, dass eine solche
transcendente Hypothese ausgeschieden und der psychophysische
ParaUelismus als nackte, keiner Erklärung fähige und bedürftige
Thatsache hingenommen werde. Weder Wechselwirkung, noch
prästabilierte Harmonie, weder monistische noch plurahstische
Ontologie auf identitätsphilosophischer Basis als transcendenter
Hintergrund des phänomenalen Parallelismus, wieder materia-
listische noch spiritualistische Unterordnung der einen Erschei-
nungsweise unter die andere, sondern nackte Faktizität des koor-
dinierten Parallelismus , vor der der Verstand stille steht — so
muss es die agnostische Psychologie fordern, so lange sie sich
selbst treu bleibt. Da es bei solcher Psychologie nichts mehr
zu denken giebt, sondern geduldiges Experimentieren und
Registrieren die ganze Leistung ausmacht, so heben sich auch
keine Denkcrindividualitäten mehr hervor, sondern die namenl
Massenarbeit in den Laboratorien ist es, worauf es ankommt. —
In der That ist aber die Behauptung eines psychophysischen
Parallelismus auf rein phänomenalistischer Grundlage gar nicht
aufrecht zu erhalten. Wenn es nur Ein Bewusstsein giebt^ das
meinige, so kann ich wohl Bewusstseinsinhalte mit stärkerer oder
schwächerer Gefühlsbeimischung und solche mit deutlicherer oder
undeutlicherer Lokalisation unterscheiden; aber es giebt kein^i
Bew^osstseinsinbalt ohne einen , wenn auch noch so schwachen
Gefühlstimbre, und keine Empfindung ohne eine, wenn auch noch
so unbestimmte Lokalisation. Wenn ich das Gesichtsbild einer
auf meinen Arm aufgesetzten Cirkelspitze und die Empfindung
des Stiches vergleiche, so liegt in beiden etwas Subjektives und
Der Übergang zur individualismchcn Willenstneiaphysik.
509
in beiden eine verräu ml ichende Verätisserlichung oder Objekt i-
vation der Empfindung*. Ich habe also gar nicht zwei scharf
geschiedene Reihen von Erscheinungen, bei denen von einem
?aralleüsmus die Rede sein könnte, sondern eine einzige Erschei-
"nungsreihe mit verschiedener Mischung von Subjektivität und
Objektivität und allmähhchem Übergang von dem Übergewicht
ies einen zu dem des anderen Bestandteils. Wenn ich die
^Schwingungen in meinem Gehirn mit dem Mikroskop betrachten
und verfolgen konnte, während ich empfinde, so hätte ich doch
mr zwei gleichzeitige Empfindungseindrücke, deren eine ein Über-
fewicht der verräumlichten Empfindung, deren andere ein Über-
gewicht der unbestimmt lokalisierten zeigte. Erst wenn ich bei
der mikroskopischen Betrachtung meiner Hirnschwingungen von
der Subjektivität der Empfindungen abstrahiere, aus denen diese
Gesichtsanschauung zusammengesetzt ist, und bei der unmittel-
baren Empfindung von der unbestimmten Lokalisation absehe»
durch welche sie auf bestimmte Teile meines Körpers mehr als
auf andere bezogen ist, erst dann gewinne ich zwei Reihen.
Diese nicht in der Erfahrung gegebene, sondern willkürlich
'hinzugefügte Abstraktion wird erleichtert, praktisch genommen
sogar erst dadurch ermöglicht, dass mehrere Bewusstseine als
vorhanden zugestanden werden. Denn nun hat das Bewusstsein A
nur von seinen Empfindungsbeimischungen zu abstrahieren, während
es seine Gesichtsanschauung von Gehirnbewegungen mit den
Empfindungen des Bewusstseins B paraüehsiert. Es ist damit klar
gestellt, dass der Parallelismus erst durch eine Mehrheit von Be-
wusstseinen eine praktische Bedeutung erlangt, die aber schon
den konsequenten Agnostizismus umstösst. Denn für das Bewusst-
sein A ist das Bewusstsein B nicht nur seiner Form nach, sondern
auch seinem ganzen Inhalt nach ein transcendentes Ding an sich,
das, wenn es existiert, doch ewig unerkennbar bleibt, und mit
dessen Inhalt niemals ein eigener Bewusstseinsinhalt verglichen
werden kann. Nur wenn das Individuum B direkt oder durch
Vermittelung einer für A und B gleich transcendenten materiellen
Welt auf das Bewusstsein A wirkt, ihm einerseits von seinen
Empfindungen Kenntnis giebt und andrerseits seine Sinne so
affiliert, dass ein Bild des Gehirnes von B in dem Bewusstsein
A entsteht, nur dann sind die Bedingungen zur Erkenntnis eines
psychophysischen Parallelismus gegeben.
Sio
Die individuallstUdie Willenimeuphysik.
Eine solche transcendente Kausalität zwischen den Individual-
bewusstseinen ist nun nicht mehr auf die Empfindung, d. h.
auf die passive, nach innen gewandte, auf sich selbst reflek-
tierte Seite der seelischen Bethätigung zu beziehen, sondern nur
noch auf die aktive, nach aussen gewandte, aus sich heraus-
gehende, auf die anderen Individuen gerichtete Seite derselben,
die man Willen zu nennen pflegt. So führt das Hauptproblem
der agnostischen Psychologie, der p&ychophysische Parallelismus
unmittelbar in die pluralistische Willensmetaphysik hinüber, eben-
so wie wir vorher sahen, dass das Hauptproblem der agnostischen
Naturphilosophie in den (atotnistisch gegliederten) Dynamismus
und die agnostische Erkenntnistheorie in den transcendentalen
Reaüsmus hinüberleitet. Die pluralistische Willensmetaphysik
und der atomistische Dynamismus müssen sich bei näherem Zu-
sehen als ein und dieselbe Sache erweisen, die bloss das eine Mal
aus psychologischem, das andere Mal aus naturphilosophischem
Gesichtspunkt aufgefasst wird. Beide aber erfordern einen trans-
cendentalen Realismus als erkenntnfetheoretische Voraussetzung
ihrer Möglichkeit Die agnostische Strömung verschwindet in-
dessen nicht mit einem Schlage, sondern wirkt in der verschie-
densten Art und Weise in den weiter zu besprechenden Gestalten
des Pluralismus oder Individualismus nach.
3. Der atheistische Individualismus und Pluralisnius
a. Die individualistische Willensmetaphysik.
In den fünfziger und sechziger Jahren hatte die Schopen-
hauersche Philosophie wachsende Beachtung gefunden; als Zeichen
davon haben wir bereits den Standpunkt Langes kennen gelernt
Gleichzeitig mit Langes Geschichte des Materiahsmus erschien
Bahnsens Charakterologie im Jahre 1867. Wie das erstere Werl^^f
den Anstoss gab zur agnostischen Bewegung in Deutschland,^'
so das andere zur Entfaltung einer pluralistischen Willens-
metaphysik und eines charakterologischen IndividuaUsmus, Darum
beginnen wir die Darstellung des individualistischen und plura-
listischen Atheismus mit Bahnsen (1832—1882); denn alle folgenden
sind von ihm beeinflusst, vielleicht mit Ausnahme von Wundt,
dem die Unbekanntschaft mit Bahnsen schwerlich zum Vorteil
gereicht hat. Während Lange von Schopenhauer die Verschmel-
zung des phänomenalisierten Materialismus mit dem subjektiven
Idealismus übernahm, so Bahnsen die Willensmetaphysik, aber
mit der individualistischen Ausprägung» die bei Schopenhauer
nur eine Nebenströmung neben der Hauptströmung des Monismus
bildet
Bahnsen war von Friedrich Vischer in die Hegeische Dialek-
tik eingeführt, noch ehe er Schopenhauer kennen gelernt hatte.
Von der Dialektik Hegels hatte er sich vorzugsweise das negativ^e
antithetische Moment angeeignet, und für die so erlangte Ansicht
von der Negativität des Weltcharakters schien ihm dann die
Schopenhauersche Willenslehre die erwünschte Bestätigung zu
bieten. Er geht also auf eine Synthese Hegels und Schopen-
hauers hinaus, aber in dem Sinne, dass er das Logische und den
universellen Evolutionismus von Hegel verwirft und nur das An-
tithetisch-Dialektische ohne logische Synthese beibehält, und sich
in der Hauptsache zu Schopenhauer bekennt. Bei Hegel ist der
Prozess ein universeller, der das Individuum aus sicherzeugt und
wieder in sich zurückijimmt ; Schopenhauer dagegen schwankt, wie
tief die Wurzeln der Individuation in den einen Welt willen hinab-
reichen, und sucht die Rechte des Individuums gegen das All-
Eine besser zu wahren als Hegel. Bei Hegel ist der Prozess
logisch, und das Unlogische nur ein Relatives und vom Logischen
Gesetztes und wieder Aufgehobenes. Bei Schopenhauer dagegen
ist der Prozess des unlogischen Willens das Ganze des realen
Weltgeschehens und das dabei stellenweise hervortretende Ver-
nünftige nur ein relativ Logisches, vom Unlogischen Gesetztes
und wieder in sich zurück Genommenes. Ein pluralistischer» anti-
logisch-realdialektischer Individuahsmus muss also sich Schopen-
hauer viel näher verwandt fühlen als Hegel, obwohl Schopen-
hauer keine Dialektik kennt.
Dazu kommt noch, dass Hegels naiver Pantheismus die
Wahrheit des christlichen Theismus entwickelt zu haben glaubt,
während Schopenhauers Pantheismus sich für Atheismus ausgiebt,
nur darum» weil er antitheistisch ist Eine pluralistische Willens-
metaphysik macht aber, indem sie den Wiilensmonismus beseitigt.
I
5>2
Bahnsen.
mit dem Atheismus ernst, der bei Schopenhauer nur ein Miss-
verständnis seiner selbst war. Die mit Bahnsen anhebende indiv^i-
dualistische Geistesströmung, die man vielleicht als Neuschopen-
hauerianismus bezeichnen könnte, ist deshalb fast durchweg
atheistisch. Hierin durfte wohl eine Nachwirkung des atheistischen
Materialismus zu sehen sein, vielleicht aber auch zugleich eine
Wechselwirkung mit dem sich neben ihr entwickelnden atheisti-
schen Agnostizismus. Hierdurch unterscheidet sich die individua-
listische Geistesströmung im letzten Drittel des neunzehnten Jahr-
hunderts von allen früheren individualistischen Systemen, 2, B.
Leibniz, Herbart, Beneke und L H. Fichte, bei denen der Indivi-
dualismus den Theismus selbst dann nicht antasten wollte, wenn
er ihn aus dem Bereich metaphysischer Erkenntnis in* das des
religiösen Glaubens verwies. Ausserdem stützen sich alle früheren
Individualisten auf die Vorstellung und Vernunft, Bahnsen zum
ersten Mal auf den Willen in seiner unvernünftigen Beschaffenheit
Im einzelnen weicht Bahnsen von Schopenhauer vielfach ab.
So bekennt er sich z. B. zu einem transcendentalen Reahsntus
in Bezug auf Raum und Zeit, verwirft die ästhetische Theorie
vom willensfreien Erkennen, schränkt die Bedeutung der Idee
auf eine blosse ästhetische Spiegelung im bewussten Verstände
ein und sucht die sittliche Besserung nicM in einem einmaligen
Wundervorgang, sondern in einem allmählich fortschrei tendeo
psychischen Prozess. Den Pessimismus übertreibt er zu einem
verzweifelten Miserabilismus ohne jede Erlösungsmöglichkeit und
stellt die Selbstquälerei des sich selbst zerfleischenden Willens
als einzigen positiven Zweck des Weltprozesses hin, weil damit
der Wille eben erst recht »seinen Willen bekommt«r» Auch auf
das Erkennen dehnt er den desperaten Pessimismus aus. So be-
rührt er sich mit dem Agnostizismus, denn er lehrt gleich diesem
die Unerreichbarkeit des Wissens und das Wissen um die eigene
Ignoranz als letztes. Er begründet aber diese Ignoranztheorie
noch stärker dadurch, dass die logischen Denkformen, mit denen
der Verstand ausgerüstet ist, schlechthin ungeeignet seien, um
das realdialektische und widerspruchsvolle Wesen der Welt zu
begreifen und dass es der nachträglichen Anpassung des Gehirns
nicht völlig gelingen könne, diese dem Erkenntniszweck andpodtsch
zuwiderlaufenden Denkformen in ihr Gegenteil umzuwandeln.
In seinem Stil ist Bahnsen stark von Jean Paul beeinfl
Die genauere Feststellung seines metaphysischen Standpunktes
hat er sich erst in der Auseinandersetzung mit der »Philosophie
des Unbewu^ten^ und mit der Kritik erarbeitet, die ich und
Volkelt an seinen Schriften geübt haben. Seine Bedeutung beruht
darin, dass er der erste ist, der einen zugleich antimaterialistisclien
und atheistischen Individualismus aufgestellt hat» und zugleich der
einzige, der aus dem unlogischen Willensprincip Schopenhauers
die strengen Konsequenzen gezogen hat, die bei Schopenhauer
selbst durch die Verknüpfung der metaphysischen Idee mit dem
Willen noch verschleiert waren. In ersterer Hinsicht ist er für
die verschiedenen Richtungen des auf ihm weiter bauenden Indi-
vidualismus massgebend geworden; in letzterer Hinsicht steht er
erst, und nicht Schopenhauer, als der eigentliche Antipode des
f Hegeischen Logismus da. Andere, die, von ihm angeregt, ein-
facher zu denken und besser zu schreiben verstanden, haben mit
Ihren Schriften mehr Eingang ins Publikum gefunden; aber an
^ spekulativer Konsequenz übertrifft er sie alle und ist darum auch
lehrreicher als sie alle. Freilich ist das Ergebnis kein andreSi als
dass dieser Weg ins Absurde führt und deshalb gemieden werden
muss; aber mit Anleihen bei überwundenen Standpunkten (z, B,
dem MateriaUsraus) und mit halben Zugeständnissen an die Wahr-
heit wird der Nutzen dieser Lehre bloss verschleiert und der Wert
des Unhaltbaren nicht erhöht. Deshalb scheint mir auch heute
noch die Bedeutung Bahnsens für den Fortschritt der metaphysi-
schen Erkenntnis grösser als die seiner Nachfolger.
Bei Hegel ist die dialektische Bewegung des Begriffs die
wahrhaft vernünftige Gesetzmässigkeit, die allerdings die einsei-
tigen Verstandesgesetze, welche gewöhnlich logisch genannt wer-
den, aufhebt Die Wirklichkeit wird nur mittelbar dadurch dialek-
ptisch, dass ihr Inhalt und ihr Prozess unbewusster Weise ganz
und gar durch Vernunft bestimmt ist. Das bewusste Denken des
Philosophen hat keine andere Gesetzmässigkeit als die Wirklich-
keit, da es gleich dieser durch die dialektische Vernunft bestimmt
ist. Deshalb befindet es sich im Einklang mit der Wirklichkeit
und kann diese von sich aus dialektisch konstruieren. Hegels
Dialektik bezeichnet also in erster Reihe das Gesetz der unbe-
wussten Vernunft, in zweiter das der WirkUchkeit, in dritter das des
bewussten Denkens; letzteres beides aber ist sie nur darum, weil
sie das erstere ist Bei Bahnsen ist das Verhältnis ganz anders.
E. V Hartaxann, Ausgew» W^ha. Bd. XIL 33
314 »■»»«'
Auch hier steht die Dialektik mit den Verstandesgfesetzen in
Widerspruch, aber diese letzteren werden als die alleinigen Ver-
nunftgesetze anerkannt, während die Dialektik die Gesetzmässig-
keit des unlogischen Willens und dadurch der vom W^illen be-
stimmten und aus Willen bestehenden Wirklichkeit isL Die
dialektische Gesetzmässigkeit der Wirklichkeit steht also hier in
unlösbarem Widerspruch zu der logischen Gesetzmässigkeit des
bewussten Denkens, während es eine unbewusste Vernunft ebenso
wenig giebt, wie eine unbewusste Vorstellutng. Darum bezeichnet
Bahnsen seine Dialektik als ^Realdialektik^^ im eminenten Sinne,
im Gegensatz zur Hegeischen BegrifFsdialektik, —
So gewiss die Hegeische Begriffsdialektik die einzig mögliche
Form der Bewegung und des Prozesses im Panlogismus ist, so
gewiss ist die Bahnsensche Realdialektik die einzig mögliche Form
der Bewegung und des Prozesses in der reinen Willensmetaphysik.
Wenn Logisches und Unlogisches nicht ein koordiniertes Paar
ewiger und gleich ursprünglicher Principien sind, sondern nur
Eines von ihnen Princip ist, dann ist der Prozess nur dadurch
möglich, dass entweder das Logische zunächst das Unlogische,
oder der unlogische Wille zunächst das Logische innerhalb seiner
sich selbst antithetisch kontraponiert. In beiden Fällen muss der
Prozess zu einem dialektischen werden. Es ist Hegel und Bahnsen
gleich sehr zum Verdienst anzurechnen, dass sie diese Notw^endig-
keit klar erkannten und damit zugleich die reductio ad absurdum
ihrer Principien als einseitiger lieferten.
Recht schwach bestellt ist es mit der Begründung der Babnsen-
schen Realdialektik. Bahnsen giebt zu> dass alle Aporien, die
sich aus der diskursiven Reflexion , also insbesondere aus der
Mathematik, ergeben, für die Realdialektik nichts beweisen können,
und dass auf sehr vielen Gebieten sehr vieles, was dem Laien ak
Widerspruch erscheint, von der Wissenschaft als logischer Zu-
sammenhang nachgewiesen ist Er zieht aber daraus nicht den
Schluss, dass der Widerspruch in der Wirklichkeit ein blosser
Schein ist, der auf das jeweilig von der Wissenschaft noch nicht
erhellte Gebiet beschränkt bleibt, sondern er fordert die Toleranz
gegen den Widerspruch, so lange noch nicht alle Aporien gelöst
seien. Schliesslich giebt er zu, dass nicht das phänomenale,
sondern das metaphysische Gebiet das eigentliche Herrschafta-j
bereich der Realdialektik sei, nämlich die Essenz des WiUeii
Bahnsen,
515
die in der Sphäre der Realität nur zur Erscheinung gelangt. Er
schwankt sogar, ob die Erscheinung als Ausdruck der wider-
spruchsvollen Willensnatur selbst ihren antilogischen Ursprung
veraten müsse, oder ob sie nicht im Gegensatz zur realdialektischen
Essenz ausschliesslich unter der Botmässigkeit des logischen Ge-
setzes stehe-
in der metaphysischen Sphäre setzt Bahnsen der phänomenalen
Existenz eine potentia existendl voraus, den Willen als Vermögen,
und schreibt diesem Subsistenz und Substantialttät zu. Dieser Sub-
sistenz setzt er dann abermals eine potentia subsistendi voraus, die
er jedoch facultas subsistendi zu nennen vorzieht. Diese soll unent-
behrlich sein, um die potentia existendi zur wahren Existenz zu
machen, ihr aber doch nicht von selbst anhaften, sondern anderswo-
her verliehen werden* Dasjenige, was der potentia existendi die facul-
tas subsistendi verleiht, ist somit erst das, was ihm die Essenz verleiht,
d, h. es ist die potentia essendi, die Bahnsen aber nun vis essendi
zu nennen vorzieht. Diese vis essendi oder Energie soll nun das
antithetische Moment zur potentia existendi sein, durch das die
realdialektische Zweiheit in der Essenz des Willens sichergestellt
wird. Es liegt auf der Hand, dass diese erkünstelte hypothetische
Begriffskonstruktion nur nachträglich hinzugefügt ist und für die
thatsächliche Existenz einer realdialektischen Willensbeschaffenheit
nichts beweisen kann, teils weil sie gar nichts widerspruchsvoll
Antithetisches an sich hat, teils weil die Tendenz zur Selbst-
entzweiung des Wollens aus ihr nicht abzuleiten ist, teils weil sie
selbst in der Luft schwebt.
In Wahrheit ist Bahnsen dadurch auf die Realdialektik ge-
kommen, dass er den inneren Seelenkonflikten seine Aufmerk-
samkeit zuwandte, dem Streit verschiedener Begehrungen, die
den Entschluss manchmal nach entgegengesetzten Seiten drängen,
so dass der Individualwille dasselbe zugleich zu wollen und nicht
ZVL wollen scheint. Wo neurasthenische Gemütshyperästhesie,
hypochondrische Verstimmtheit und hysterische Reizbarkeit mit
angeborener Dyskolie, desperatem Miserabilismus und excen-
trischem Temperament zusammentreflFen, da müssen solche inneren
Konflikte besonders häufig auftreten und besonders heftig werden*
Aber abgesehen davon, dass die Vielheit charakterologischer An-
lagen, die in entgegengesetzten Begehrungen bei einer und der-
selben Veranlassung zum Ausdruck gelangt, auf eine individuell
33*
5i6
Bahnsen.
gegliederte Vielheit von Hirnzellengnippen hinweist, so liegt
doch in der Realopposition verschiedener Begehrungen nicht nur
kein Widerspruch, sondern sie wird sogcir nur dann möglich,
wenn der Widerspruch ausgeschlossen ist. Wäre der Wider-
spruch möglich, so fiele der Konflikt fort, denn beide entgegen-
gesetzten Bestrebungen würden ungehindert in derselben Seele
neben einander bestehen, ohne sich zu stören. Der Konflikt
beider entspringt nur daraus, dass ein modus vivendi zwischen
ihnen gefunden werden muss, der das widerspruchsvolle Neben-
einanderfortbestehen beider durch ein Kompromis in einer Resul-
tante beendigt. Den widerspruchslosen Widerstreit entgegen-
gesetzter Willensrichtungen oder Kräfte nennt Bahnsen das Anti-
nomische, den widerspruchsvollen Widerstreit das Antithetische.
Er gesteht zu, dass das Realdialektische im eminenten Sinne nur
mit dem letzteren gleichzusetzen sei. Der seelische Konflikt ist
also in Bahnsens Realdialektik unrichtig gedeutet und in un-
zulässiger Weise verallgemeinert. —
Wird nun der realdialektische Charakter der Wirklichkeit
als erwiesen angenommen, so ergiebt sich daraus, dass die Wirk-
lichkeit etwas logisch Unmögliches (nämlich in sich Widerspruchs-
volles), das logisch Unmögliche ein faktisch Notwendiges (näm-
lich durch den Willen unabwendlich Gesetztes), und das logisch Not-
wendige (Widerspruchslose) ein faktisch Nichtseiendes ist. Damit
ist die Widerspruchslosigkeit als formales Merkmal der Wahr-
heit ausser Kraft gesetzt und ihr Gegenteil, die widerspruchs-
volle Beschaffenheit, an ihre Stelle gesetzt. Nicht alles Wider-
spruchsvolle ist wahr, aber das nicht Widerspruchsvolle ist sicher
unwahr. Die Übereinstimmung des Gedachten mit der Wirklich-
keit bleibt als materiales Kriterion der Wahrheit bestehen, durch
welches das bloss Absurde von der widerspruchsvollen Wahrheit
unterschieden werden muss.
Bei dieser ursprünglichen Stellungnahme Bahnsens ist das
* Logische ein rein auf das subjektive Denken beschränkter Schein,
der von der Wirklichkeit überall Lügen gestraft wird , ein leeres
Schema logischer Stufenfolge, ein Fach werk von gedanklichen
Abstraktionen, das sich allmählich in der Geschichte des mensch-
lichen Denkens psychologisch herausgearbeitet hat und bloss für
das diskursive Denken da ist. Aber dabei konnte Bahnsen doch
nicht stehen bleiben. War es schon wunderbar genug, dass das
BnJinsca.
517
menschliche Denken sich bis jetzt der realdialektischen Beschaffen-
heit der Wirklichkeit so gar nicht anzupassen vermocht hat, so
wäre es noch wunderbarer, dass es Denkformen und Denkgesetze
geschichtlich aus sich entwickelt hat, die der Wirklichkeit gerades-
wegs widersprechen und gar nicht auf sie passen. Ist es schon
wunderbar genug, dass ein schlechthin unlogischer und blinder
Wille in sich die Tendenz haben soll, mit der Zeit vernünftig zu
werden, und sich als Wille zum Erkennen offenbart, so scheint
es noch wunderbarer, dass er zu seinem Zweck des Erkennens
einen Weg einschlägt, der vom Ziele ab, nicht zu ihm hinführt.
Denn die Entwickelung der vernünftigen Denkformen und Denk-
gesetze ist es ja gerade, welche zuletzt zur Verzweiflung darüber
filhrt, dass eine ganz anders geartete Wirklichkeit überhaupt
möglich ist Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, musste
Bahnsen sich entschliessen, dem Logischen im Gebiete der Wirk-
lichkeit einen wenn auch beschränkten Platz anzuweisen, ver-
wickelte sich aber damit in neue Schwierigkeiten,
Zunächst räumt Bahnsen die logische Gesetzmässigkeit in dem
interindividuellen Widerstreit ein, in welchem verschiedene Willen
oder Kräfte gegen einander ringen. Sodann giebt er zu, dass
auch in dem intraindividuellen Widerstreit jede einseitige Hälfte
logisch geradlinig verlaufe und nur beide Hälften gegen einander
sich widerspruchsvoll verhalten. Drittens gesteht er zu, dass
diese einseitige Logizität jeder Hälfte der realdialektischen
Selbstentzweiung eine streckenweise Logizität der Erschei-
nungsreihen zur unmittelbaren Folge habe, und dass nur der Ge-
samtprozess, in welchem die logischen Strecken beider Hälften
mit einander abwechseln, eine realdialektische Zickzack bewegung
zeige. So soll die Wirklichkeit so viel Logisches in sich schli essen,
dass die Anpassung des Denkens an sie durch Ausbildung der
logischen Formen begreiflich wird. Unerklärt bleibt freilich,
warum das Denken sich nur den logischen Fragmenten und
Intermezzos angepasst hat, ohne auf die realdialektische Be-
schaffenheit des Ganzen Rücksicht zu nehmen.
Diese Auskunft scheitert zunächst daran, dass jede einseitige
Hälfte eines realdialektischen Widerstreits selbst wieder in sich
realdialektisch entzweit sein soll, und dass diese Diremtion bis
ins Unendliche geht. Danach ist alles, was in einem grösseren
Ganzen Spaltungshälfte ist, in sich selbst wieder ein realdialek-
5i8
Bahnsen.
tisches Ganzes; in seiner ersteren Stellung soll es sich logisch
rechtläufig und geradlinig bewegen, in seiner letzteren eine real-
dialektische Zickzackbewegung entfalten, was wohl nicht verein-
bar ist.
Alsdann aber entsteht die weitere Schwierigkeit, wie das
Logische in die Wirklichkeit hineinkommt. Wie kann das Be-
reich der phänomenalen Existenz die Sphäre logischer KLorrekt-
heit sein, wenn die in ihr sich offenbarende Essenz den Seins-
widerspnich in sich trägt? So gewiss ein völlig vemunftloser
Wille niemals vernünftig werden kann, so gewiss muss der Wille
schon in seinem Ansich etwas Logisches einschliessen^ wenn sich
am Weltgang etwas dem logischen Schema Entsprechendes findet,
und ein Reich partieller Weltvernunft besteht, wie dies in der
That von Bahnsen angenommen w^ird. Dann ist auch die Wurzel
dieser Übereinstimmung von objektiver und subjektiver Vernunft
{nicht bloss in einer äusserlichen Anpassung der letzteren an die
erstere, sondern) in der logischen BeschEiffenheit des Willensinhalts
selber zu suchen. Dieser dem Willen immanente logische Inhalt,
der dem realen Entwickelungsprozess die Lineamen te seiner B€^h
wegirngsrichturigen vorzeichnet, ist freilich von jeder Hyposta^H
sierung, von jeder Verquickung mit abstrakten Momenten des ^
diskursiven Denkens und von der Verwechselung mit der trei-
benden Kraft der Ent Wickelung fern zu halten und zu bewahren.
Dieser logisch geartete WiUensinhalt besteht nicht neben, son-
dern an dem Willen und verhält sich zu ihm wie ein Accidenz
zu seiner Substanz. Er macht auch nicht den ganzen Willen zu
etwas Logischem, denn hinter ihm steht im WUlenswesen selbst
der realdialektische Gegensatz von potentia existeodi und vis
esscndi, der in der Tendenz zur Selbstentzweiung des WoUens
seinen Ausdruck fiodet. —
Was ist nun dieser logisch geartete Willensinhalt? Bei Schopen-
hauer deckt er sich einerseits mit dem intelllgiblen Charakter,
andererseits mit der Idee. Bahnsen hält die Gleichsetzung mit
dem intelligiblen Charakter fest, ersetzt aber diejenige mit der
Idee durch eine Identifikation mit dem Motiv, die psychologisch
nicht zu rechtfertigen ist. Das Motiv muss ihm alles das ersetzen,
was bei Schopenhauer die metaphysische Idee ist; denn eine unbe-
wusste Vorstellung ist ihm eine cootradictio in adjecto. Das Motiv
soll der Willensinhalt als vorgestellter oder in der Form der Vor-
Bahnsen.
519
Stellung sein, während er an sich der intelligible Charakter ist
Wenn aber der Wille an sich keinen idealen Inhalt in sich hat,
sondern erst der Umsetzung in die Form der bewussten Vor-
stellung (des Motivs) bedarf, um seinen Inhalt als idealen aufzu-
fassen, so bleibt doch wieder das zu Erklärende unerklärt. Wie
kann ein noch nicht idealer Inhalt (der intelligible Charakter) ein
Sein fassen, welches idealiter jedem Einzelakt seiner Realisation
vorangeht, wie kann er die logischen Formen und Gesetze (so-
w^ohl für die vernünftige Wirklichkeit als auch für das vernünftige
Denken) in sich tragen und aus sich entwickeln, wie kann er über-
haupt dazu kommen, Erkenntniswille zu sein, und seinen Inhalt
in Form einer bewussten Vorstellung (als Motiv) wirklich zu er-
kennen? Wie soll endlich der Indiväduahville zu einem charaktero-
logisch bestimmten Inhalt gelangen, wenn dem Willen an sich,
abgesehen von der konkreten Individuation, jeder Inhalt fehlt?
Da Bahnsen den Willensinhalt im Charakter sucht, so ist es
begreiflich, dass er einerseits so grosses Gewicht auf die Charaktero-
logie legt, andererseits bemüht ist, den Kant-Schellin g-Schopen-
hauerschen Gegensatz von intelligiblem und empirischem Charakter
festzuhalten. Denn während der empirische Charakter von den
Zufälligkeiten der Organisation abhängig ist, soll der intelligible
den unveränderlichen Wesenskern der Monade, oder wie Bahnsen
lieber sagt, der Henade, darstellen* Man kann jedoch nicht sagen,
dass Bahnsen die Zerspaltung des Charakters in einen intelligiblen
und empirischen besser als seine Vorgänger begründet» oder die
ihr entgegenstehenden Bedenken entkräftet habe. Im Gegenteil
hat er sich die Sache dadurdi erschwert, dass er den transcenden-
talen Idealismus aufgegeben hat, auf den die Vorgänger diese
Spaltung hauptsächlich stützten. Die schätzbaren Beiträge, die
er zur Charakterologie geliefert hat, sind durchweg unabhängig
von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Spaltung. —
Bahnsen hat ganz recht, dass er ein bloss phänomenales In-
dividuum ohne jede substantielle Grundlage, d. h. eine in der Luft
schwebende Thätigkeitsgruppe, fiir unzulänglich hält, um die
psychologische Thatsache der Selbstbethätigung und Selbstthätig-
keit und die sittliche Thatsache der Hingebung, Verantwortlich-
keit u, s. w zu erklären. Andererseits ist er besonnen genug, die
Selbständigkeit des Individuums nicht für absolut, sondern für
beschränkt zu halten. Da läge es doch aber auch nahe, sich bei
520
Bahnsen.
den höheren, zusammengesetzten Individuen mit einer relativen
Beständigkeit statt einer absoluten zu begnügen und bei allen In-
dividuen die relative Selbständigkeit durch eine relative Beständig-
keit der von einer absoluten Substanz ausgehenden Thätigkeits-
gruppen genügend gewahrt zu halten. Dies thut aber Bahnsen
nicht, sondern hält an einer ewigen Dauer der substantiell ge*
sonderten Henaden fest. Die Ewigkeit der Henade sichert die
Unmöglichkeit jeder Erlösung und die ewige Selbstzerfleischung
des Individualwillens, um die es dem Miserabilismus vor allem zu
thun ist. Die damit untrennbar verbundene Lehre von unendlich
vielen Wiederverkörperungen und Lebensläufen desselben In-
dividiiums wird von Bahnsen anerkannt, aber nicht näher aus-
gefiihrt. Jedenfalls stellt sich Bahnsen durch die Anerkennung
der Henade als einer ewigen in scharfen Gegensatz zu den plura-
listischen Willensmetaphysikem, die zwar die Uratome als ewige
Individuen anerkennen, aber die höheren Individuen im Sinne
eines hylozoistischen Naturalismus als blosse Produkte aus Ato-
men oder Elementarkräften ohne hinzutretende Centralmonade
ansehen und deshalb auch ihre Fortdauer über den Zerfall der
Atome hinaus für unmöglich erklären.
Eine Entwickelung ist auf dieser Grundlage gleich unmöglich
als Individualentwickelung wie als Universalentwickelung. Der
intelligible Charakter bleibt nach unendlich vielen Lebensläufen
unverändert derselbe, und für eine universelle Entwickelung fehlt
sowohl der einheitliche Träger als auch die einheitliche Leitung.
Wie im Agnostizismus ist jede scheinbare Entwickelung nur Lim-
Schwung eines Kreislaufs, aufsteigender Teil einer Welle, Das in-
dividuelle Willenswesen wird durch noch so viele Erfahrungen
noch so vieler Lebensläufe weder klüger noch besser, sondern
setzt mit jedem neuen Lebenslauf seine Selbstquälerei durch Selbst-
entzweiung fort In dem Zwischenzustande zwischen zwei Lebens-
läufen muss das leiblose Willenswesen als bewusstlos oder wenig-
stens als leer von jedem bestimmten Bewusstseinsinhalt gedacht
werden, falls nicht gegen die materialistische Errungenschaft Ver-
stössen werden soll, dass ein bestimmtes BewüsstsMn nur auf
Grund einer materiellen Leiblichkeit möglich ist.
Mit der Widerlegung des Evolutionismus hat Bahnsen sich
besondere Mühe gegeben; ebenso bekämpft er die Teleologie, so-
weit sie über den Individualzweck und die zweckmässige An-
bildung des organischen Leibes durch den Individualcharakter
hinausgeht. Für die Teleologie allein sucht er den subjektiv-
idealistischen Standpunkt festzuhalten, den er für alle übrigen
Denk- und Anschauungsformen überwunden hat» Der positive
Zweck der Welt kann nichts anderes sein , als das sich Ausleben
aller Individualwillen in ihrer ewigen Selbstentzweiung, Selbst-
zerfleischung und Selbstquälerei, die damit recht eigentlich ihren
Willen kriegen. Bei einem unlogischen Weltprincip kann auch
der Weltzweck» wenn überhaupt noch von einem solchen ge-
redet werden soll, nur ein unlogischer sein.
Der letzte und tiefste Grund, warum Bahnsen an einer sub-
stantiellen Getrenntheit der Henaden festhält, liegt wohl darin,
dass er Wille und Substanz identifiziert, also die verschiedenen
Individualwillen auch sofort als verschiedene Substanzen auffassen
mus5. »Der Wille selber ist das Wollende und ist nur qua
wollender;; Thiin und Thäter hier noch unterscheiden, erklärt er
für eine mutwillige Denkzerfaserung. Bahnsen verwirft also die
Ansicht Schopenhauers, dass die Substanz bloss eine Erscheinung
für das Bewusstsein sei, und bezeichnet den Willen mit dem
Terminus, der ihm auf Schopenhauerschem Standpunkt vor allem
zukommt Aber das Eigentümliche ist, dass Bahnsen im allge-
meinen die Trennung von Subjekt und Prädikat für ein unab-
weisliches logisches Postulat erklärt» das sich nicht zu Ruhe
bringen lässt, und dass er andere darum tadelt, die Abstraktion
eines Thuns ohne Thäter übrig gelassen zu haben, Nur bei dem
einen Punkte, dem Willen, macht er ohne nähere Angabe von
Gründen eine Ausnahme von seinem Grundsatz, offenbar weil
ohne diese Ausnahme sein substantieller Individualismus den
letzten Halt verlöre. —
Wenn nun die Henaden substantiell sind, so sind zwei Fälle
möglich: entweder sie haben Aseität und grundlose Ewigkeit,
oder sie sind aus der Zersplitterung einer absoluten Substanz,
aus einer substantiellen Selbstentzw^eiung oder vielmehr Selbst-
vervielung des Einen Willens entsprungen. Wenn dagegen die He-
naden aus einer bloss funktionellen Selbstentzweiung des Einen
hervorgegangen w^ären, dann wären sie auch nicht gesonderte
Substanzen, sondern nur relativ beständige Thätigkeitsgruppen
auf Grundlage der absoluten Substanz. Die Aseität der Henaden
ist nur im ersten Falle zu retten, ihre getrennte Substantlalität
522
Bähnseti.
nur in den beiden ersten Fällen» während der dritte Fall zu einem
ontologischen Monismus hin überleitet, in welchem nur phänomenal
existierende Individuen Platz haben. Bahnsen schwankt ratlos
zwischen diesen drei Möglichkeiten.
Die Aseität wäre ihm am liebsten, und vor der Vervielfachimg
des in ihr Hegenden Wunders scheut er nicht zurück; aber dann
bleibt die Homogeneität und Gleichartigkeit der Henaden iiner-
'klärlich, deren thatsächliches Gegebensein Bahnsen ebenso aner-
kennt, wie ihre Unentbehrlichkeit fiir die reale Wechselwirkung.
Ebenso unerklärlich bliebe in diesem Falle die in der Welt unver-
kennbare Tendenz nach Vereinheitlichung, das Streben nach Eins-
werdung, das Bahnsen an Stelle der mangelnden substantiellen
Kinheit setzen möchte» und das ihm den Zug des Gemüts zum
Pantheismus erklären solL So sehr er deshalb an vielen Stellen
die Aseität betont, ebenso sehr hebt er an anderen hervor, dass
die Individuen nicht wären ohne einen gemeinsamen Urgrund,
dass ihre Homogeneität von diesem gemeinsamen Urgrunde
herrührt, und ihre Tendenz zur Vereinigung gleichsam isvie
eine Reminiscenz aus der Zeit ihres realen Einsseins übrig ge-
blieben ist.
Dann fragt es sich nur, ob die realdialektische Selbstent-
zweiung des Einen Willens, aus dem die Henaden entsprunge
sein sollen, von Bahnsen als substantieEe oder bloss funktionelle
aufgefasst wird. Hierauf giebt Bahnsen die Auskunft (»^De
Widerspruch im Wissen und Wesen der Welti, S. 158), dass nur
jenes seine Meinung sein konnte, und dass dieses nicht bloss elndj
Abschwächung» sondern eine Verfälschung seines Princips wärewj
Zugleich bekennt er aber auch, dass er sich bei beidem nicht
Gescheites vorstellen könne, und dass sein Begriff der Substan
keine effektive Zerteilung zulasse. Jedenfalls kann der Begriff defl
realdialektischen Selbstentzweiung und Selbstzerfleischung die sub-
stantielle Zersplitterung des Einen Urwillens in die vielen Henaden
nicht erklären. Denn dieser Begriff ist gebildet auf Grund der
erfahrenen Seelenkämpfe, die doch thatsächlich die substantielle
Einheit der Henade unangetastet lassen. Er müsste also bei seiner
Übertragung auf den absoluten Urwillen eine Umänderung und ,
Erweiterung erleiden, zu der keine uns bekannte Erfahrung eiai
Recht verleiht, und es bliebe dann immer noch unbegreifüch*
warum die realdialektische Selbstentzweiung innerhalb der Henade
MainlUnder,
523
nicht ebenso wie innerhalb des Urwillens zur substantiellen Selbst-
zersplitterung führt.*)
b. Die pluralistische WiUensmetaphysik.
Mainländer (richtig Batz, 1841 — 1876) macht mit der sub-
stantiellen, oder, wie er sagt: essentiellen Zersplitterung des Einen
Urwillens ernst, die Bahnsen zwar ergreifen zu können wünschte,
bei der er sich aber nichts Gescheites denken konnte, und die er
sogar für unmöglich erklären musste. Wenn ich bereits im Jahre
1870 die intelligiblen Individuen Bahnsens »gleichsam als die
Trümmer (disjecta membra) eines zerschlagenen ci-devant Gottes?.
bezeichnet hatte (Phil. Monatshefte, Bd. IV, Heft 5, S 386), so baut
Mainländer darauf seine im Jahre 1874—1875 redigierte »Philo-
sophie der Erlösung«. Gleich Bahnsen ist er im Gegensatz zu
Schopenhauer transcen dentaler Realist, wenn er auch seinen Stand-
punkt sonderbarerweise transcendentalen Idealismus nennt Gleich
Bahnsen schliesst er die unbewusste Vorstellung als unmöglich
vom Willen aus, versteht also auch die Idee nicht als unbewusste
Vorstellung. Er leugnet die Gattungsidee Schopenhauers und
identifiziert die Individualidee mit dem Individualwillen in dem
Sinne, dass sie die bewusste, vorsfellungsmässige Auffassung der
diesem Individualwillen eigentümlichen Art der Bewegung be-
deutet
Aber im Gegensatz zu Bahnsen verwirft er die Unwandel-
barkeit und Ewigkeit des Willensindividuums und hält an dem
Glauben an die Möglichkeit der Erlösung so fest, dass er sogar
sein System ^Philosophie der Erlösung« betitelt Ursprünglich
ist sein System auf reinen Individualismus und darum ebenso wie
das Schopenhauersche auf eine rein individuelle Erlösung an-
gelegt;**) aber schon bei der Redaktion des ersten Bandes im
Jahre 1874 sucht er die Universal er! ösung nach dem Vorbilde
der »Philosophie des Unbewussten^ mit der Individualerlösung
zu vereinigen; dies gelingt ihm jedoch trotz einer Umdeutung
beider so wenig, dass er vielmehr den Rahmen seines meta-
♦) Vgl »Neukanüanisraufi, Sdio|»eiibaaeriaiiismu5 und Hcgtüanismust, IV., »Bahn-
sens chATukterologisdicr Individualismus«, S. 11 — 14. 31^3^* 175—^57; »Philosophische
Fragtn der Gegenwart«, Xu., »Die Realdklektik*, S, 261—293»
••) Vgl Sommcrlad: »Aus dem Leben Ph. MainlÄodcre. in der Zlschrft. f Phil,
u. phiL KriL, Bd. tia, S. 81, 79, 33, 84.
£24 Mainländer.
physischen Individualismus dadurch aus den Fugen treibt. Im
Gegensatz zu Schopenhauer und Bahnsen fasst er mit der »Philo-
sophie des Unbewussten« den Weltprozess als das Mittel und
den Weg zur universellen Erlösung auf, huldigt also einer ge-
schichtlichen Weltanschauung und glaubt an eine reale Ent-
wickelung teleologischer Art. Die Bahnsensche Realdialektik
fällt damit für ihn hinweg, da die durchgängig zweckmässig ver-
anlagte Welt rechtläufig ihrem Ziel zueilt und es spätestens in
einigen Jahrhunderten erreichen soll (Phil. d. Erlösung, I, 312). Die
realistische Seite der Schopenhauerschen Naturphilosophie ver-
schmilzt er einerseits mit dem verschwommenen Dynamismus des
monistischen Naturalismus der Schellingschen Schule, andererseits
mit der mechanistischen Weltanschauung des naturwissenschaft-
lichen Materialismus. In seinen politischen Zukunftsidealen steht
er dem Sozialismus und den mystischen Schwärmereien Comtes
Ucihe. —
Mainländer billigt Schopenhauers Weg nach innen zum Ding
an sich durch die Selbsterfassung des Willens; aber er billigt auch
im Gegensatz zu Schopenhauer den Kantschen Weg nach aussen
zum Ding an sich als affizierender Ursache der Sinneswahr-
nehmung. Er hat also zwei Wege statt eines. Er tadelt sogar
Schopenhauer, dass er den Willen nur als zeitliche Erscheinung
erfassen zu können glaubt, und behauptet mit Unrecht, dass er selbst
ihn als Ansich seiner Individualität unmittelbar ergreife. Er hält
zwar an der Apriorität des Kausalitätsgesetzes fest, aber nicht an
seiner ausschliesslichen Subjektivität, sondern nimmt an, dass wir
gerade vermittelst des apriorischen Kausalitätsgesetzes mit Recht
von der Sinnesaffektion auf das affizierende Ding an sich oder
die auf uns einwirkende Kraft schliessen. Die allgemeine Kausa-
lität aller Dinge an sich untereinander in der Welt erschliesst
unsere Vernunft erst a posteriori aus vielen Erfahrungen. Auch die
Zeit ist erst aus einer apriorischen Synthese der Vernunft zustande
gekommen.
Was uns subjektiv als Stoff mit sinnlichen Qualitäten erscheint,
das ist objektiv oder real oder an sich nichts weiter als Kraft mit
bestimmten Bewegungsformen. Nicht die Kraft oder der Wille,
der mich affiziert, ist blau, rot, schwer, leicht, glatt, rauh; wohl
aber liegt in seinem Wesen das, was so auf das Subjekt wirkt,
dass es das Objekt in diesen Qualitäten wahrnimmt (Phil, d, Erl.,
Mainländer.
5*5
I, 514). Das Ding an sich ist nichts als Kraft oder Wille, also
schlechthin unstofflich; wir können es aber nur als stoffliches
Objekt wahrnehmend auffassen und anschauen. Das Vorstellungs-
objekt unterscheidet sich also durch seine Stofflichkeit und die
mit ihr verbundenen sinnlichen Qualitäten vom Ding an sich
(ebd. 414). Raum, Zeit und Kausalität dagegen unterscheiden das
Objekt nicht vom Dinge an sich (ebd. 45). Der mathematische
Raum hat zwar kein reales Korrelat, aber der Raum Vorstellung
überhaupt entspricht an der Kraft die reale Wirksamkeitssphäre
und der Zeit die reale Seccession der Kraftv^nrkungen (23). Den
Kant- Schopenhau ersehen transcen dentalen Idealismus hat also
Mainländer in seinen Fundamenten so umgebaut, dass er die
transcen dentale Gültigkeit von Ausdehnung, Succession und Be-
wegung in den Dingen an sich unangetastet bestehen lässt und
nur noch die ausschliesslich subjektive Idealität des Stoffes mit
seinen sinnlichen Qualitäten behauptet, da er im Stoffe nur die
Okjektivierung der fremden Kräfte für das Bewusstsein sieht
(454, 40 — 41}. Nur in Bezug auf den Stoff (den er übrigens stets
-Materie« nennt), ist Mainländer noch transcendentaler Idealist
geblieben, in allen anderen Beziehungen ist er zum transcendentalen
Realismus übergegangen. Diese richtige erkenntnistheoretische
Stellungnahme findet übrigens bei Mainländer ebensowenig eine
Begründung wie bei Bahnsen; deshalb konnten auch beide auf
den Entwicklungsgang der Erkenn tnistlieorie keinen Einfluss ge-
winnen. —
In der Naturphilosophie verwirft Meinländer mit Schopen-
hauer die atomistische Gliederung der Kraft als eine frivole Aus-
geburt der perversen Vernunft (38, 39). Er giebt die Teilbarkeit
der chemischen Kraft zu, aber nicht ihre Zusammengesetztheit aus
Atomkräften. Das Individuum eines chemischen Elements ist
eigentlich die ganze Idee desselben, z, B. alles Eisen, das im Uni-
versum vorkommt; erst durch Teilung dieses eigentlichen Indivi-
duums entstehen Teihndividuen, wo sich eine räumlich geschlossene
Sphäre bildet, 2, B. ein Stück Eisen. Substanzen sind diese Indivi-
duen nach Mainländer nicht; wie Schopenhauer beschränkt er den
Substanzbegriff auf stoffliche Vorstellungsobjekte, muss ihn also
den unstofflichen Dingen an sich versagen.
Wie der Materialismus durch rein mechanische Bewegung
aus den stofflichen unorganischen Elementen die Organismen und
5^6
MainÜnder.
aus vorstelliingslosen Bestandteilen ein Mischungsprodukt mit
einheitlich vorstellendem Bewusstsein hervorgehen Idsst, so auch
Mainländer, nur dass die vorstellungslosen Elemente bei ihm un-
stoffiiche Kräfte sind. Die Idee oder der Typus zweier chemischen
Elemente ist nur durch die Bewegungsart beider verschieden ; wo
sie zusammentreffen, ergiebt sich aus ihrer verschiedenen Be-
wegung eine Mischbewegung der verbundenen Kräfte, und diese
erscheint uns als Idee oder Typus einer Kraft höherer Stufe. Zerfällt
die Verbindung, so stirbt die Idee oder das Individuum höherer
Stufe, und nur die einfacheren Ideen oder Kräfte, die es zusammen-
gesetzt hatten» leben fort. Da es soviel Ideen wie Individuell,
aber keine Gattungsideen giebt, so entstehen und vergehen die
Ideen höherer Stufen mit den Individuen dieser höheren Stufen; nur
wenn die Mischungsbewegung sich durch Zeugung erhält, dauert
die Idee oder das Individuum in seinen Nachkommen fort
Eigentlich müsste jede Tierspecies von Mainländer in demselben
Sinne als ein einziges Individuum aufgefasst werden, wie die Ge-
samtheit eines chemischen Elements, und die Einzelindividuen
wären nur Teilindividuen dieser betsimmten Mischbewegung, wie
das Stück Eisen ein Teiliodividuum der elementaren Bewegungs-
form ist, die wir Eisen nennen. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist
seine Behauptung zu verstehen, dass der Mensch als Individuum
in seinen Kindern reell fortlebt. Aber diese Auffassung würde
wieder den Individualismus im Sinne des Einzelwesens zerstören,
um den es Mainländer zu thun ist; denn sie läuft zuletzt auf die
reelle individuelle Einheit alles organischen Lebens auf der Erde
im Sinne eines monistischen Naturalismus hinaus. So schlägt der
von Mainländer beabsichtigte Pluralismus in seinen Konsequenzen
unwillkürlich in einen Monismus um, weil er den hylozoistischea
Naturalismus für möglich gehalten hatte, ohne ihn auf den d;
naraischen Atomismus zu stützen.
UnsererVorstellung des Unorganischen entsprechen in der Wir!
lichkeit Kraft emitun geteilter Bewegung, unserer Vorstellung des Or-
ganischen Kräfte mit geteilter Bewegung. Unserer Vorstellung einer
Pflanze entspricht die Irritabilität der Kraft auf äussere Reize,
unserer Vorstellung eines Tiers die Spaltung In Irritabilität und
Sensibilität (50). Im Menschen erhält die Sensibilität durch das
Selbstbewusstsein die Fähigkeit, in sein Inneres zu blicken* Main-
länder operiert hier ganz mit den Überlieferungen der älteren
eöj
]
Mainlliider^
5^7
Naturphilosophie. Unserer Vorstellung des Blutes entspricht der
>Dämonc; hier verliert sich Mainländer in eine phantastische
Mystik des Blutes, das ihm die fehlende Seele ersetzen soll.
Dem Gesetz der Erhaltung der Kraft stellt er als sein neues
Weltgesetz das der Schwächung der Kraft gegenüber, ohne sich
auf eine Widerlegung der induktiven Grundlagen des ersteren
einzulassen. Während der Weltprozess durch Mischung der ele-
mentaren ßewegungsweisen zu immer höheren Formen, Typen,
Ideen, Individuen und Geistesstufen führt, soll diese Entwickelung
des idealen Gehalts der Welt erkauft werden mit einer allmäh-
lichen Abschwächung der Intensität der Kraft, Dieses Gesetz der
Schwächung der Kraft erscheint Mainländer dadurch gesichert^
dass es ihm als unentbehrliche Bedingung der universellen Er-
lösung gilt. Was er dafür gelegentlich anführt, steht auf sehr
schwachen Füssen: die Verkleinerung der vorweltiichen Tiere und
Pflanzentypen und die Abnahme der Grösse, Kraft und Schönheit
im Menschengeschlecht. Thatsächlich hat es nie ein grösseres
Tier gegeben als den Walfisch, und der Mensch hat sich ebenso
wie das Pferd erst allmählich aus hässlichen Zwergrassen zu seiner
jetzigen Grösse, Kraft und Schönheit emporgearbeitet —
Der dynamische Zusammenhang aller Kräfte nötigt über
den Individualismus hinauszugehen (102—105). Da aber alle Kau-
salität immer wieder nur auf Individuen fuhrt und innerhalb des
Reiches der Vielheit bleibt, so ist für die immanente Sphäre der
Atheismus wissenschaftlich begründet (103). Beides ist nur da-
durch zu vereinigen, dass die Einheit in die Vergangenheit ver-
legt wird, während der Vielheit die Gegenwart gehört. Main-
länder will zwar eine immanente Philosophie geben, d. li. hier
nicht etwa: eine bewusstseinsimmanente oder erkenntnistheoretisch
immanente, sondern: eine metaphysisch immanente Philosophie,
die sich auf die Welt der Individuation , d. h. auf das Reich der
Dinge an sich, beschränkt Aber er erkennt doch die Notwendig-
keit eines metaphysisch Transcendenten als unentbehrlichen Grenz-
begriff an, wenn er auch nach seiner Ansicht unerkennbar bleibt
Gleichwohl hindert ihn dies nicht, über dieses metaphysisch Trans-
cendente ganz bestimmte negative und positive Behauptungen
aufzustellen, z. B. dass es frtlher einmal gewesen ist, aber jetzt
nicht mehr ist, dass es eine einfache Einheit war» als es war (mit
Ausschluss jeder auch nur potentiellen und attributiven inneren
528
Malnländer.
Mannigfaltigkeit), und dass es das denkbar beste und vollkommen-
ste Sein war, so dass kein Grund einer Änderung seines Seins
in ihm lag.
Es war als nihil privativum das Übersein oder reine AVesen,
während die Sphäre der Existenz die metaphysisch immanente
Sphäre des Werdens, der Thätigkeit, Bewegung, Aktualität
ist, also mit dem Reich der Vielheit oder Individuation zu-
sammenfällt, die damals noch nicht existierte. Mainländer über-
trägt aber irrtümlich die Existenz in das überseiende Wesen als
solches und gelangt dadurch zu unrichtigen Folgerungen. Das
überseiende Wesen hatte die Wahl, ob es eine noch nicht seiende
Existenz setzen wollte, oder nicht; aber es hatte nicht die Wahl,
wie Mainländer annimmt, ob es die ihm noch gar nicht zu-
kommende Existenz behalten oder aufgeben wolle. Erst nachdem
es die Sphäre der Existenz gesetzt hatte, konnte ihm die Frage
entstehen, ob es dieselbe bestehen lassen, oder wieder aufheben
wolle; im letzteren Fall konnte aber die Wiederaufhebung- der
Existenz nur zur Wiederherstellung des reinen überseienden
Wesens, d. h. zum nihil privativum, aber niemals zum absoluten
Nichtsein oder nihil negativum führen; denn das Übersein des
Wesens kann von der Negation der Sphäre der Existenz in keiner
Weise berührt werden. Wenn überhaupt so etwas wie ein über-
seiendes Wesen gedacht werden soll, so kann es nur als zeidos
ewig gedacht werden; es hat dann keinen Sinn, von einer ver-
gangenen Zeit zu reden, in der es war, und von einer gegen-
wärtigen, in der es nicht mehr ist, oder gar von einer zukünftigen,
in der seine letzten Reste aufgehört haben werden zu sein. Eine
Existenz kann teilbar sein, eine überseiende Essenz kann es nicht
sein. Alle diese Unmöglichkeiten aber behauptet Mainländer, weil
er das Übersein des Wesens und die Existenz verwechselt, und
darauf baut er seine Auffassung des Weltprozesses (320 — 327). —
Was die einfache Einheit unmittelbar nicht kann, nämlich
vom Übersein ins Nichtsein übergehen, weil seine unzerstörbare
Wesenheit oder essentia das Hindernis dagegen bildet, das soll
sie mittelbar dadurch vermögen, dass sie ihre Essenz in die
Existenz wirft, in die Welt der Vielheit zerspUttert und dort sich
von einander verzehren und aufreiben lässt. Der Wille, zu welchem
die einfache Einheit sich kraft ihrer transcendentalen Freiheit ent-
schliesst, ist also Wille zum Nichtsein oder Wille zum Tode, imd
Mainläßder.
529
der Wille zum Leben ist nur seine Erscheinung; denn der Zweck
des Lebens ist das sich Ausleben der Essenz, die Schwächung
der Kraft bis zur NulL Um diesen Zweck zu erreichen, muss
die in der Welt enthaltene Kraftsumme reif werden zum Tode
(330), Was unser Bewusstsein als Mittel und Zweck auseinander-
halten muss, das ist freilich in dem inneren Triebwerk der Natur
vereinigt (535 — 336). Dass der Wille zum Leben nur Erscheinung
eines Willens zum Tode ist, bekundet sich bei den Gasen in ihrer
Zerstreuung, bei den Flüssigkeiten in ihrem Zerfliessen, bei den
Pflanzen und Tieren in ihrem Absterben, freilich erst nachdem
sie sich fortgepflanzt haben. Aber in ihnen allen ist der Zweck
des Lebens verdunkelt, der erst vor dem Denkergeiste strahlend
und leuchtend aus der Tiefe des Herzens emporsteigt (334). Wo-
durch also die Welt erlöst und der Zweck des Weltprozesses er-
füllt wird, das ist erst der bewusstc Geist auf seiner höchsten Stufe.
Der Geist bewirkt die Erlösung auf doppeltem Wege: vom
Standpunkt des Individualismus durch die Virginität des Einzel-
nen, vom Standpunkt des Universums durch das vgrosse Opfer«
der Menschheit, welches das Erlöschen der unorganischen Natur
nach sich zieht, und durch die Entwickelung des idealen Staates
vorbereitet wird. Die einzige vollkommen sichere Erlösung» die
igleich das Individuum rascher zum Ziele fülirt, ist die indivi-
luelle (21g t 216, 247). Wer nicht vor der Gesamtheit die Er-
'lösung findet, der findet sie in ihr (600); denn das Menschheits-
schicksal stösst auch die Nichtwollenden unerbittlich weiter auf
der Bahn zum Ziele (211). Wer nocli keine Kinder hat, der
findet in der Virginität die absolute Erlösung; wer schon welche
hat, möge in ihnen die wahre Erkenntnis wecken und sie so auch
zur Erlösung führen {220). Wer so die Erlösung versäumt hat,
findet sie in einigen Jahrhunderten, wenn die durch den idealen
Staat geläuterte Menschheit den Kollektivselbstmord vollzieht
(311 — 312). Die Natur wird dann, da sie ihren Zweck erreicht
hat, keine neuen menschenähnlichen Wesen hervorgehen lassen
(343)* vielmehr werden alle Tiere und Pflanzen der Menschheit
nachsterben, alle Gase sich verflüssigen und auch diese Flüssig-
keiten durch Schwächung der Kraft auf Null erlöst werden (344)*
Vom Standpunkt des Individualismus ist keine Ethik möglich
als die des Individualeudämonismus oder Egoismus, deren Wahl-
spruch ist: pereat mundus dum ego salvus sim (213), und fiir
£, V. HartmADD, Ausgew. V^'erke. Bd. Xll, ^^
530
Mainländer.
welche Recht und Unrecht nur etwas Konventionelles ist (589). Da
alle Handlungen, sowohl die dem Charakter gemässen, als auch die
aus Deliberation ihm zuwiderlaufenden, egoistisch sind (189, 137),
so kann es gar keine andere Ethik geben, als Individualeudämonik
(169). Denn die Individualität ist im innersten Kern Egoismus
(530) und es giebt nur egoistische Handlungen (573). — Gleich-
wohl wird Christus gelobt, weil er den natürlichen Egoismus ab-
geschnürt hat (262), und wird zum Zweck der Erlösung aller (260)
die Hingabe des einzelnen an das Allgemeine (212), das willige
Eintreten in die Bewegung des Ganzen (217), die Darbietung der
ganzen Kraft als Werkzeug an das Schicksal (301) gefordert und
die bewusste Übereinstimmung des individuellen Willens mit dem
teleologischen Entwickelungsgang des Ganzen zum Fundament
der Moral gemacht (217, 218, 301).
Diese beiden Moralprincipien , den Egoismus und die willige
Hingabe an das Ganze, mit einander ohne Widerspruch zu ver-
einigen, hat Mainländer keinen Versuch gemacht. Der Egoismus
fordert die Individualerlösung, mag aus den übrigen Menschen,
selbst aus den eigenen Kindern, werden, was da wolle. Die Hin-
gabe an das Allgemeine dagegen fordert Mitarbeit an der Be-
schleunigung der universellen Erlösung, sei es auch auf Kosten
einer Verlangsamung der eigenen. Mainländer selbst schätzt
denjenigen höher, der das letztere thut (221 — 222) und erkennt
damit an, dass die Hingabe an das Ganze ein höheres Moral-
princip ist als der Egoismus. Der Egoismus fordert Virginität,
wenn diese das richtige Mittel zur Selbsterlösung ist; der höhere
Zweck der Universalerlösung dagegen fordert, dass alle Menschen
sich so viel als möglich in neuen Individuen auseinanderlegen,
damit die Reibung im Kampf ums Dasein gesteigert werde (281).
Dass die Virginität der höchstentwickelten Geister eine umgekehrte
Zuchtwahl durch Vergeudung des angesammelten Vererbungs-
kapitals zur Folge haben würde, hat Mainländer dabei noch gar
nicht beachtet. Wenn es keine Handlungen giebt als egoistische,
so ist die Hingabe an das Allgemeine unter persönlichen Opfern
eine widersinnige Forderung, deren Erfüllung unmöglich ist. Wenn
dagegen die Hingabe an das Ganze psychologisch möglich und
zugleich die wahre sittliche Forderung ist, dann ist die vorzeitige
Selbstsalvierung des Einzelnen eine unsittliche und pflichtwidrige
Handlungsweise.
Die nähere Art und Weise, wie die Erlösung des Einzelnen
und des Weltganzen sich vollziehen soll, ist sehr anfechtbar.
Wenn es nur darauf ankommt, ohne Nachkommen zu sterben,
so braucht ja der Kinderlose nur sich selbst zu töten, und
der Kinderbesitzende nur seine Kinder mit zu töten. Denn
dadurch erreicht er dasselbe Ziel schneller» sicherer und schmerz-
loser, als durch die Virginität Handelt es sich aber nur darum
der Fortdauer des Individuums in seinen Nachkommen vorzu-
beugen, so giebt es dazu viele Mittel, die die Kämpfe der Vir-
ginität ersparen.*) Wenn Mainländer glaubt, dass gerade durch
diese Kämpfe die Kraft geschwächt werde (339 — 540), so fällt
das der Kritik seines Gesetzes der Schwächung der Kraft an-
heim- Jedenfalls ist nicht einzusehen, inwiefern Seelenkämpfe
um die Bewahrung der Virginität die Kraft mehr schwächen
sollen, als irgend welche anderen, und warum sie nicht ebenso-
gut wie andere geeignet sein sollen, die Kraft der Selbstbeherr-
schung und Selbstüberwindung zu stärken. Dass das Individuum
als solches in seinen Nachkommen fortlebt, wird niemand glauben,
der auf die Mischung der Eigenschaften in den Nachkommen
aus denen der Vorfahren beider Eltern und auf die Diskontinuität
des Bewusstseins achtet. Wäre aber die Behauptung Mainländers
richtig, so wurde sofort aus ihr folgen, dass jeder Mensch ebenso
mit seinen Vorfahren wie mit seinen Nachkommen reell eins ist,
also auch durch seine Vorfahren mit allen übrigen Nachkommen
derselben, d. h. mit der ganzen Menschheit. Ohne die reelle
Einheit mit den Nachkommen hat die Virginität als Mittel der
individuellen Erlösung keinen Sinn; mit dem Zugeständnis
dieser Voraussetzung wird man aber sofort von der Selbst-
erlösung zur Menschheitserlösung hinübergeführt.
Dnss durch das Aussterben der Menschheit auch die Erde
absterben und das Weltgebäude verschwinden sollte, bedarf wohl
keiner Kritik. Ob der Kollektivselbstmord der Menschheit
sich gleichzeitig oder etwa durch allgemeine Virginität all*
mählich vollzieht, das macht dabei keinen Unterschied. Main-
länder befindet sich eben in dem fundamentalen Irrtum, als ob
der Wechsel zwischen zwei phänomenalen Zuständen, Leben und
Tod, irgend welchen Einfluss auf das metaphysisch transcendente
♦) Vgl »Das sitllicbc Bewuastseint. i. Aufl., S. S49~55<'
34'
53«
Mainläoder.
Wesen haben könnte, das sich nach ihm in die unorganischen
chemischen Elemente zersplittert hat. Wenn die Menschheit ein
Ende nimmt, so hören ja nur bestimmte Mischformen der Be-
wegung auf, zu welchen die Bewegungsformen der unorganischen
Elementarkräfte sich verbunden haben und in welche sie sich
bei diesen Verbindungen geteilt haben; aber die Kraftkompo-
nenten selbst bleiben davon ganz unberührt. Nur ein Akt von
metaphysisch transcendenter Bedeutung kann über das Sterben
der Verbindungen hinaus die Existenz der Welt selbst aufheben;
ein solcher aber ist dem Menschheitsgeist nur dann möglich,
wenn er mehr ist als Mischung und Teilung der Bewegungen
unorganischer Elementarkräfte, Aber selbst die Aufhebung der
gesamten Existenz könnte doch das Übersein des Wesens nicht
berühren , sondern höchstens in das nihil relativum desselben zu-
rückführen, ohne es einem absoluten nihil negativum irgendwie
näher zu bringen. —
Ebenso wie der Mainländersche Individualismus an der Er-
lösung des Individuums scheitert, ebenso an der Konstituie-
rung desselben. Er möchte die transcen dentale Freiheit der Selbst-
setzung dem Individuum retten, indem er sich das Individuum als
präexistent in der einfachen Einheit vor ihrem Zerfall denkt, und
die transcendentale Freiheit des einheitlichen Ganzen auf ihre
präexistenten Bruchstücke überträgt (559). Es ist aber klar, dass
in einer einfachen Einheit noch kein Platz für eine Vielheit
von Individuen ist, die sich ihren Charakter selber wählen, und
dass nach der freien Selbstzcrsplittening des absoluten Wesens
jedes Bruchstück sich so vorfindet, wie es durch die That des
Absoluten, aber nicht durch die seinige, bestimmt ist Übrigens
kann aus einer einfachen Einheit niemals eine Vielheit und ein
Prozess entspringen; aber selbst ein in sich vieleiniges Wesen kann
niemals die Einheit seines Wesens in eine Vielheit von Wesen
zerspalten und zersplittern, wie Mainländer annimmt* Dass Main-
länder die vorwekliche Einheit Gott nennt, ist ein Wortmissbrauch,
da Gott nur das Absolute als Objekt des religiösen Verhältnisses,
also nur innerhalb des Weltprozesses heissen darf. Das Evan-
gelium Mainländers, dass Gott gestorben sei (108), ist nicht, wie
er meint, die erstmalige wissenschaftliche Begründung des Atheis-
mus (103)1 sondern eine metaphysische Absurdität und eine reli*
giöse Blasphemie. Alles was Mainländer gegen den Pantheismus
Hamerltng.
533
vorbringt, passt nur auf den abstrakten Monismus, der in der
That das Individuum zu einem blossen Schein ohne reelle Existenz
verflüchtigt, aber nicht auf den konkreten Monismus,
Eine einfache Einheit, die weder Wille, noch Geist, noch ein
Ineinander von beiden ist (322), kann niemals Gott weder sein
loch werden, kann aber auch niemals so geschickt platzen, dass
^ihre Bruchstücke einen teleologischen Weltprozess aufführen
müssen. Der gegenwärtige dynamische Zusammenhang der Welt
kann niemals durch eine entschwundene frühere Einheit erklärt
werden, sondern nur durch eine ewige, die zu jeder Zeit besteht.
Das Leben der Welt, das Gottes Tod ist. gleicht einem Uhrwerk,
das vom Uhrmacher so eingerichtet ist, um mit dem letzten
Pendelschlag zu zerfallen, oder einem Mühlwerk, das nicht nur
das Aufgeschüttete, sondern auch sich selbst zerreibt und ohne
Rest aufzehrt. So wenig es jemals dem Nichts gelingen würde,
sich durch Zerspaltung und Verbindung seiner Teile zum Sein em-
por zu schwindeln, so aussichtslos wäre jeder Versuch des Seins,
durch Spaltung und Selbstzerreibung sich ins Nichts aufzulösen. —
Der Dichter Hamerling {1830 — 1889) nimmt in seiner »Ato-
mistik des Willens«, die 1890 erschienen, aber der Hauptsache
nach wohl schon in den siebziger Jahren verfasst ist, eine von
Bahnsen und Mainländer abweichende Stellung ein, indem er den
Einen AllwUlen oder die Eine Urkraft fortdauern lässt, wenngleich
sie sich ewig in vielen Willensmonaden oder Atomkräften verend-
licht. Er giebt zu, dass dieser Urwille sich nicht teilen oder
substantiell zersplittern könne, behauptet aber, dass er sich in
vielen Kräften oder Willen wiederholt, weil das Unendliche
nur in der Verendlichung, das Eine nur in der Vervielung zum
Leben und Dasein gelange. Wie das Unendliche es anfängt,
sein Wesen ohne Teilung zu verendlichen und solche Verend-
lichung vielmals zu wiederholen, darüber lässt Hamerling sich
nicht näher aus. Die »Philosophie des Unbewusstenc tadelt er
darum, dass sie diese Wiederholung und Verendlichung des
Willens als blosse Willensakte deute, und fordert, dass die Monaden
wirkliche Willens wesen und Wille nssubjekte seien. Als Grund
führt er an, dass das individuelle Icligefühl unmöglich wäre,
wenn das Subjekt des WoUens in seiner Einheit als absolutes
Subjekt verharrte. Merkwürdigerweise erkennt aber gerade
Hamerling an, dass das besondere Ich nur ein Objekt, ein Ge-
534
Hamerling.
wusstes, ein Bewusstseinsphänomen ist, und dass das Subjekt, das
Wissende zu diesem Gewussten, das allgemeine Ich* eine reine
unpersönliche Thätigkeit, oder ein Sein sei, das erst durch den
Gegensatz gegen das Objekt und Nichtich zum Subjekt und Ich
werde (Atomistik des Willens, I, 219—220, 226, 253). Wenn also
allen individuellen Bewusstseinsichs nur das eine, allgemeine^B
absolute Subjekt zu Grunde liegt, so sollte man meinen, dass^l
darin eher ein Hinweis liegt, dass auch für alle individuelle
Willensakte nur ein allgemeines, absolutes Subjekt des Wollens
erforderlich sei und in der That sieht Hamerling alle Atome als
Ein Atom, d. h. alle Atomvvillen als Einen Willen an*
Von Bahnsen und der >Philosophie des Unbewusstenc unter-
scheidet sich Hamerling auch darin, dass bei ihm alle Individuen
höherer Ordnung ebenso wie bei Haeckel, Spencer und Mainländer
blosse Summationsphänomene aus Individuen niederer Ordnung.
letzten Endes also aus Atomkräften sind, und zwar sowohl nach
ihrer äusseren, wie nach ihrer inneren Erscheinung. Die Mit-
wirkung einer hinzukommenden Thätigkeit höherer Ordnung
bleibt unbedingt ausgeschlossen, sowohl eine solche» die aus einer
einheitlichen Willensmonade höherer Art, als auch eine solche,
die unmittelbar aus dem Absoluten stammt. Insofern er alles
Dasein als Leben und alles Leben als reine Zusammensetzung
aus dem Leben der Atome auffasst, bekennt er sich zum Hylozois-
mus. Jedes Atom hat Existenzgefühl, aus dem sich ein Ich ent-
wickeln kann. >Das Atom ist Princip des Lebens, das Ich Princip
des Denkens, das Atom Princip des Unbewussten, das Ich Princip
des Bewussten. In diesem Sinne kann man sagen, dass das un-
endliche Sein sich »setzt« als endliches,€ »Wie alle Atome Eins
sind, so sind alle Ich Eins^ (ebd. I» 254 — 235). Das Gesamt-
bewusstsein eines Individuums höherer Ordnung summiert sich
aus den Bewusstseinen seiner Elemente, deren Bewusstseine
zu ihm verschmelzen, d. h. es ist ein aus Punktuellem zusam-
mengesetztes Kollektivbewusstsein (ebd. L Z39, 256), Wie kann
dann aber das Ich des zusammengesetzten Individuums auf ein
besonderes Individualwesen hindeuten, wenn seine Einfachheit
auf Täuschung beruht? Wie kann für die innere Erscheinung ein
Individualismus festgehalten werden, wenn das Individuum doch
nach innen ebenso wie nach aussen nichts ist als Produkt aus
der Aggregation der Atomempfindungen und Atomkräfte?
HAmerling»
533
In der Erkenntnistheorie bekämpft Hamerling den Aprioris-
mus Kants und der Neukantianer, weil er selbst mit in dem Irr-
tum dieser seiner Gegner befangen bleibt, als ob der apriorische
Ursprtiog der Kategorien ihre bloss subjektive Geltung nach
sich ziehe. Er ist transcen dentaler Realist in Bezug auf die Denk-
formen und die Teleologie, bleibt aber transcendentaler Idealist
in Bezug auf die Anschauungsformen» trotzdem er ihre Apriorität
bestreitet. Der Grund dafür liegt darin» dass Hamerling das
Reich der Individuation oder die objektiv reale Welt für schlecht-
hin diskret mit Ausschluss jeder Art von Kontinuität hält Alle
kontinuierlichen Formen des Daseins und Geschehens können
demnach nur ein subjektiver Schein sein, der sich bei dem Ver-
suche, diese diskrete Vielheit synthetisch zu apperzipieren , ent-
wickelt. Er steht hier unter dem Einfluss Herbarts, vermag aber
die Schwierigkeiten, die dieser ungelöst gelassen, nicht zu verrin-
gern. Dass Zeit und Raum doch irgendwie auf das Reich der Dinge
an sich bezogen und angewandt werden müssen, leugnet er nicht,
ja er schreibt sogar den Atomkräften Expansion und Kontraktion,
also räumliche Bewegung zu. Aber er bestreitet, dass der reale,
oder intelligible, oder absolute Raum noch Raum zu nennen sei.
Dass der StoflF nur ein Vorstellungsbild von dem Wirken im-
materieller Kräfte sei, darüber ist Hamerling mit den übrigen
Willensmetaphysikern einverstanden; aber er huldigt nicht, wie
Mainländer, dem Irrtum, als ob dieser Punkt allein genüge, den
Namen des transcendentalen Idealismus festzuhalten. Vielmehr
sieht er ein, dass schon die Anerkennung der transcendentalen
Realität der Denkformen allein genügt, um den Standpunkt des
transcendentalen Realismus sicher zu stellen, und dass selbst das
Festhalten an der transcendentalen Idealität der Anschauungs-
formen den traoscendentalen Realismus wohl modifizieren, aber
nicht in transcendentalen Idealismus zurückwerfen kann. Die Ab-
neigung Bahnsens und Maioländers gegen den Begriff der »un-
bewussten Vorstellungc teilt er nicht, sondern hält ihn für eine
zutreffende Formulierung des Thatbestandes und den an ihm haf-
tenden Widerspruch für blossen Schein. Den Pessimismus be-
kämpft er vom Standpunkt des Lebensgefühls, der Teleologie und
der ästhetischen Weltauffassung,*) —
*) ^E^* mdneti Aufsau »Robert HamerLIxig als FbUosoph« In der »Gegenwart«,
189I1 No. I.
e^5 Übergvng von der substantiellen zur fraktioneUen Willensmetaphysik.
Die bisher besprochenen Individaalisten sind ^lelchmässig an
dem Versuch gescheitert» die Substantialität der höheren oder auch
bloss die der niederen Individuen mit der Substantialität des Abso-
luten zu vereinigen, das sie für die Gleichartigkeit der vielen Indi\i-
dualsubstanzen ebenso wenig entbehren konnten, wie für die ein-
heitliche Gesetzmässigkeit den dynamischen Zusammenhang* und die
teleologische Verein heitlichungstendenz des ganzen Weltprozesse&
Sie mussten an diesem unlösbaren Problem sich ebenso verg^eblich
abmühen, wie die Theisten. Ob die absolute Substanz absoluter
Wüle oder absolute Persönlichkeit ist, macht keinen Unterschied
in Bezug auf die Unmöglichkeit aus, dass sie sich in abgelötete
Substanzen teilen, zersplittern, vervielfältigen soll Wenn der
wahren und echten Substanz Aseität zukommt, so können die
durch Teilung, Setzung oder Schöpfung entstandenen Substanzen
nur uneigentliche Pseudosubstanzen sein; denn ihnen fehlt die
Aseität, gleichviel ob sie vor endlicher oder vor unendlicher Zeit
angefangen haben zu existieren» ob ihre Entstehung aus der ab-
soluten Substanz zeitlich oder ewig war. Sind hingegen die In-
dividuen wahre und echte Substanzen, dann dürfen sie nicht eine
absolute Substanz zu ihrem, gleichviel ob begrüFlichen oder zeit-
lichen Prius haben. Aber wenn es mit dem Substanzbegriff nicht
geht, so geht es vielleicht ohne ihn. Auf der Basis der Willens-
metaphysik war bis dahin noch kein Versuch gemacht worden, die
Substanz im metaphysischen Sinne völlig auszuscheiden. Bahn-
sen hatte Wille und Substanz ausdrücklich identifiziert; Mainländer
hatte zwar das Wort »Substanz* vermieden, aber an seine Steile
das auf sich selbst beruhende j«> Wesen« gesetzt. Es musste ein-
mal versucht werden» den reinen Herakliteismus in der WiUens-
metaphysik durchzuführen, die substanzlos auf sich selbst gestellte
Thätigkeit als Wollen zum Princip zumachen und auf dieser Grund*
läge den Pluralismus der Atomkräfte mit einem Absoluten zu ver-
einigen.
Dass die in der Luft schwebende Thätigkeit des spekulativen
Pantheismus gerade der Grund für die Auflösung des Pantheismus
und seine Ersetzung durch Theismus und Materialismus geworden
war, das konnte nur einen Denker stutzig machen, der von diesem
Entwickelungsgange der Metaphysik dieses Jahrhunderts Kenntnis
und Verständnis hatte. Glücklicher Weise fand sich einer, dem
beides fehlte^ weil er von der Naturwissenschaft herkam und bei
WondL
537
seinen nachträglichen philosophischen Studien von der Philosophie
der beiden letzten Menschenalter fast ausschliessh'ch den Agnosti-
zismus berücksichtigte. So konnte die Probe auf das Exempel
unbeirrt von störenden Nebenrücksichten angestellt und das wert-
volle Erg^ebnis gewonnen werden, dass auf diesem Wege die
pluralistische Willensmetaphysik ebensowenig zu einem haltbaren
Standpunkt durchzubilden ist, wie vermittelst substantieller Willens-
monaden« —
Wundt (geb. 1832) hält den naiven Realismus in Bezug auf
die numerische Identität von Vorstellungsobjekt und Ding an sich
(von ihm »reales Objekt« genannt) fest und bleibt der Gewohnheit
der Naturwissenschaften treu, nur Stück für Stück die Eigen-
schaften des Objekts ins Subjekt zurückzunehmen, ohne darum
den Grundirrtum des naiven Realismus principiell aufzugeben.
Von Leibniz übernimmt er die Wahrheit der begrifflichen Ver-
standeserkenntnis im Gegensatz zu der Unwahrheit der unmittel-
baren anschaulichen Wahrnehmung. Von Kant die Unterschei-
dung von Verstand und Vernunft, Verstandesbegriffen und Ver-
nunftideen, die Unwirklichkeit der letzteren und den Begriff der
synthetischen Apperzeption in einem Sinne des Wortes, der von
dem in der modernen Psychologie üblichen weit abweicht Von
Heraklit, Fichte und Hegel die substanzlos in der Luft schwe-
bende Thätigkeit, welche erst mittelbar den Schein von Substanzen
hervorbringt. Von Herbart die Behauptung, dass das Ding mit
vielen Eigenschaften einen Widerspruch einschliesse und dass die
Gottesidee nicht in das Bereich der Wissenschaft und Philosophie,
sondern lediglich In das des Glaubens gehöre. Von der WUlens-
metaphysik Schopenhauers und noch mehr seiner die Idee leug-
nenden Jünger das Vorurteil, als ob der Wille der Vorstellung
nicht als eines koordinierten Princips bedürfe * sondern dieselbe
aus sich allein hervorbringen könne» Von Lange die Psychologie
ohne Seele, d. h. den Glauben, dass das Seelenleben keiner geis-
tigen Substanz bedürfe. Vom metaphysischen Dogmatismus aller
Zeiten den unkritischen Glauben, als ob die Philosophie es mit
Erkenntnissen von apodiktischer Gewissheit zu thun habe und
die verächtliche Geringschätzung der blossen Wahrscheinlich-
keit Von der mechanistischen Weltanschauung eines Haeckel
und Spencer (ebenso wie Mainländer und Hamerling) den Hylo-
538
WnndU
Beseeltheit aD«
zoismus'*'), d. h, die Empfindungsfähigkeit u
Atome, und die Annahme, dass die höheren Individuen blosse
Summationsphänomene aus dem Zusammenwirken der Uratome
ohne jeden Hinzutritt höherer Willcnsakte seien.
Mit Bahnsen teilt er die Neigung, die ideale Tendenz zur
Vereinheitlichung im Weltprozess an die Stelle einer ihm zu Grunde
liegenden realen Einheit zu setzen» mit dem Theismus die Sehn-
sucht nach einem Gott, für den auf seinem Standpunkt schlechter-
dings kein Platz ist, mit dem Agnostizismus den völlig proble-
matischen, jeder ReaUtät ermangelnden Charakter der Idee des
Absoluten und die absolute Unbestimmtheit, Unbestinimbarkeit
und Unerkennbarkeit ihres Inhalts. Von Fechner entlehnt er
den psychophysischen Parallelismus, der aber in seinen spätereo
Schriften von ihm selbst thatsächlich überwunden worden ist,*^)
und die Erklärung der unbewusst zweckmässigen Bethätigiing des
Organismus aus der Mechanisierung früherer bewusster Zweck-
thätigkeit. Wundt hat ersichtlich Unglück darin g:ehabt, von
allen möglichen Vorgängern gerade solche Punkte zur An*
eignung ausgewählt zu haben » deren Unhaltbarkeit bereits
durch den Fortgang der geschichtlichen Eiitwickelungf darg^etbao
war. —
In der Erkenntnistheorie verwirft er den naiven Realismus, in-
soweit dieser den subjektiven Schein der Anschauung für etwas
Reelles am realen Objekt (Ding an sich) nimmt, den transcen-
dentalen Idealismus, insofern er Apriorismus ist und ein den
Denkformeo entrücktes Ding an sich lehrt. Er selbst ist naiver
Realist in Bezug auf die numerische Identität von Vorstellungs-
objekt und unabhängigem realen Objekt (Ding an sich), trans^
cendentaler Realist in Bezug auf die Denkformen, aber trans»
cendentaler Idealist in Bezug auf die Anschauungsformen, soweit
diese an AnschauungeQ haften. Nur als reine Begriffe sollen
Raum und Zeit ebenfalls eine transcendente Geltung haben. Die
Apriorität der Anschauungs- und Denkformen verwirft er nur
für das Bewusstsein, als vorhergehende Begriffe und leere Formen ;
*) "Wondt musbrancbt die Termini, z. B. Hylozoismus für Fecbsers Gestira-
beseelung, Aoiaiismuj! für ThcÜsmus, Appercepüon für Wille, Intellektiuilismus r"ur
Logumns, Ideali»mtis für SpintualiKmiis, Spiritualismus für Idealismus, traiuceadeaten
Monismus für Idendtätsphilosophie, reales Objekt für Diag an sich u, s. w*
*♦) Gnindriss der Psycholc^e, 3. Aufl., S, 383—389.
d
Wuadt.
539
hl dr aber unbewusste Geistesthätigkeit leugnet, so gilt diese Ver-
werfung unbedingt. Die Vorstellungen werden auf die realen
Objekte (Dinge an sich) bezogen, deren Bilder oder Symbole sie
sind; diese aber entsprechen ihnen als von uns unabhängige
Existenzen und sind ihre mittelbaren Ursachen. Das klingt ganz
transcendental-realistisch; aber dass solche unabhängige Existenzen
neben und hinter unseren Vorstellungen vorhanden sind, will
Wundt naiv realistisch durch die (numerische) Identität von Vor-
steUung(sobjekt) und (realem) Objekt in der Anschauung erweisen.
Das »reale Objekt« ist ihm nichts anderes als die Vorstellung
selbst nach Anbringung der logischen Korrekturen. Trotzdem
soll es die relative Konstanz und Beharrlichkeit haben, die dem
Vorstellungsobjekt fehlt, weil es • vorstellbar« , d. h. Vor-
stellungsmöglichkeit im Sinne Mills bleibt. Wie dieses bloss
mögliche reale Objekt Ursache der wirklichen Vorstellung werden
könne, und wie es als Ursache mit seiner Wirkung in Eins
fallen kann, hat Wundt nicht erklärt Ebensowenig hat er er-
läutert, wie die Begriffe unseres abstrakten» reflektierten, diskur-
siven Denkens auf die ^^realen Objekte« anwendbar sein können,
da er doch ein unbewusstes intuitiv Logisches als Bestimmungs-
grund für die Beschaffenheit der »realen Objekte« leugnet und
diese ganz als Produkte von einseitigen, blinden Willensakten
auffasst. Die begriffliche Verstandeserkenntnis nennt Wundt
äussere, die anschauliche Wahrnehmungserkenntnis aber innere
Erfahrung. Der Verstand ist nach ihm analytisch» interpretiert,
erklärt und begreift; die Vernunft ist synthetisch, ergänzt und
ergründet Diese Unterschiede, die Wundt selbst überall ver-
wischen muss, weil sie gar keine haltbaren Grenzen ziehen, nimmt
Wundt zum Anlass, um mit Kant transcendente Vernunftideen
über den Verstandesbegriffen aufzustellen. Diese fallen aber teils
in das Bereich der Verstandeserkenntois, teils in das unbestimmte
Unerkennbare, w^o alles Denken aufhört. Sie sind ein offen-
barer Verstoss gegen die induktive Methode, der ein von der
Naturwissenschaft ausgehender Denker am wenigsten untreu
werden sollte, und ein Hioübertreten auf den Langeschen
Standpunkt fiktiver Begriffsdichtung, den doch Wundt selber
bekämpft.
Wundts Tafel der Verstandesbegriffe und Vernunftideen ist
folgende :
^^O Wundt.
A. Verstandesbegrlffe.
I. Reine Formbegriffe.
Einheit
Mannigfaltigkeit
Qualität Quantität
Das Ein- Das Zusam- Das Ein- Die Viel-
fache mengesetzte zelne heit
Allgemeiner Zahlbegriff
Unabhängig Abhängig
veränderliche Zahl veränderliche Zahl
Allgemeiner Funktionsbegriff.
2. Reine Wirklichkeitsbegriffe.
Sein Werden
Substanz Kausalität
Substanz und Accidenz Ursache und Wirkuncf
Kraft
Potentielle Kraft Aktuelle Kraft
Substantielle Kausalität Aktuelle Kausalität
Ursache Zweck.
B. Transeendente Yernunftideeii.
1. Kosmologische Ideen.
Raum Zeit
Unendliche Unendliche Unendliche Unendliche
Teilbarkeit Ausdehnung Vergangenheit Zukunft
Materie Kausalität
Begrenzte oder Begrenzte oder Bestimmter Bestimmtes
unbegrenzte unbegrenzte oder unbestimm- oder unbestimm-
Teilbarkeit Ausdehnung ter Anfang tes Ende
2. Psychologische Ideen.
Einzelseele Gesamtgeist
3. Ontologische Ideen.
Individuelle Einheit Universelle Einheit.
Zu beachten ist dabei, dass die Anschauungrsformen hier
unter die transcendenten Vemunftideen subsumiert sind, dass
Einheit sowohl unter den formalen Verstandesbegriffen, als auch
Wtmdt.
541
tinter den ontologischen Vernunftideen figuriert, und dass Kau-
salität sowohl unter den realen Verstandesbegriffen , als auch
unter den kosmologischen Vernunftideen vorkommt. —
Die Substantialität der Indiv^dualseele als solchen bestreitet
Wundt, weil dieselbe weder einfach noch absolut konstant ist,
ausserdem aber auch noch, weil sie dadurch verdinglicht, d. h,
hier: verräumlicht und verstofFlicht würde. Letzterer Grund hat
nur so lange Bedeutung» als die Substantialität mit räumlicher
Stofflichkeit identifiziert wird. Dies that Wundt in seinen frühe-
ren Werken, wo er den naturwissenschaftlichen Begriff der stoff-
lichen Substanz für richtig und nur einer hylozoistischen Er-
weiterung bedürftig hält. In seinen späteren Werken dagegen
schreibt er ihm nur eine vorläufige, provisorische, uneigentliche
Geltung als orientierender Hilfsbegriff zu. während die schein-
bar stoffliche Substanz sich metaphysisch in lauter Kraftwirkungen
oder substanzlose Willensakte aufgelöst hat. Wenn es nun noch
eine metaphysische Substanz geben soll, so muss sie unräumlich
und unstofflich sein, so dass eine »Verdinglichung« der Seele bei
der Übertragung des Substanzbegriffs auf sie nicht mehr zu fürch-
ten wäre. Wundt verwirft aber denselben auf seelischem Gebiet
auch deshalb, weil er Konstanz der Energie und Konstanz der
Substanz als Wechsel begriffe betrachtet, und ein Gesetz des
Wachstums der geistigen Energie aufstellt. Durch die Inkonstanz
der geistigen Energie erscheint ihm die Substantialität des Geistes
ausgeschlossen, weil die Substanz doch eben das Konstante sein
müsste. Dagegen ist freilich einzuwenden, dass die Konstanz der
Substanz und die der Energie ganz verschiedene Begriffe sind,
und dass das Wachstum der geistigen Energie von dem VVundt-
schen Standpunkt aus nur auf Transformatton von Atomenergie
aus materiellen in geistigere Erscheinungsformen zurückgeführt
werden kann, ohne die Konstanz der Gesamtenergie zu beein-
trächtigen.
Der Hauptgrund, warum Wundt sich gegen jede Substanz
erklärt, ist der, dass Dinge und Individuen nur relative Konstanz
haben, die metaphysische Substanz aber absolute Konstanz haben
müsste, dass also Substanz nur als absolute Substanz denkbar
ist Er sieht also ein, dass die Anerkennung der Substanz ihn
zum Monismus treiben wtirde; diesen aber weist er als einen
nicht ernst zu nehmenden > geistreichen Einfalle ab, weil er Plu-
542
WundU
ralist sein will. Dazu fügt er noch andere Gründe hinzu. Der
SubstanzbegrifF soll zunächst unfruchtbar sein, weil er uns nichts
darüber lehrt, worin die hinzugedachte Substanz bestehe. (Diese
Art der Unfruchtbarkeit teilt er mit dem Kausalitätsbegriff, der
auch nichts darüber lehrt, worin die hinzugedachte hypothetische
Ursache bestehe.) Er soll ferner sich selbst widersprechen als
»denknotwendige Hypothese«, weil er einerseits denknotwendig
ist, andererseits als eine Zuthat zur Wirklichkeit nur hypothetisch
ist. (Ein subjektiv notwendiges Denken kann in seiner objektiven
Gültigkeit, d. h. in seiner Anwendbarkeit auf das bewusstseins-
transcendente Gebiet immer noch hypothetisch sein.) Er soll
endlich darin sich selbst widersprechen, dass er als Substanz
Unveränderlichkeit, als Kraft aber veränderliche Wirksamkeit
verlangt. (Im ersteren Falle ist auf die Substanz mit Ausschluss
der Accidentien, im letzteren Falle auf dieselbe mit Einschluss der
Accidentien reflektiert, so dass das grammatische Subjekt ver-
schieden ist und kein Widerspruch besteht.) Wundts Polemik
gegen das, was er »substantielle Kausalität« im Gegensatz zur
»aktuellen Kausalität« nennt, ist gegenstandslos, da für solche
wohl kein Vertreter zu finden sein dürfte. Niemand sieht in der
Substanz heute noch etwas anderes als eine konstante, aber un-
entbehrliche Bedingung bei der aktuellen Kausalität. Deshalb
hindert auch die Annahme der Substanz nicht, wie Wundt glaubt
die Einsicht, dass Kausalität und Teleologie dieselbe Sache nur
unter verschiedenen Gesichtspunkten sind. —
Wundt selbst behauptet aber die Einheit und Äquivalenz
von Kausalität und Teleologie nur für die allgemeine Zweck-
mässigkeit der äusseren Naturgesetze, bestreitet aber jene be-
sondere physische Teleologie, die der ältere Vitalismus annahm,
und lässt nur da besondere Zweckmässigkeit zu, wo sie aus be-
wusst seelischer Thätigkeit entspringt. Unter dem Gesichtspunkt
der allgemeinen Teleologie ist die Natur Hilfsmittel und Vorstufe
in der Selbstentwickelung des Geistes; unter dem Gesichtspunkt
der besonderen Teleologie dagegen ist alle scheinbar unbewusste
Zweckthätigkeit der Organismen Äusserung einer stattgehabten
Mechanisierung früherer bewusster Zweckthätigkeit, die in den
Centralorganen Rückstände hinterlassen hat. Da diese Fechnersche
Erklärung aber doch nur auf eine beschränkte Auswahl von
Fällen bei stark centralisierten höheren Organismen passt.
Wuödt
543
^fio sieht Wundt sich veranlasst, eine zweite, eigene, Erkläruoiiji'
ainzuzufügen, die er *dic Heterogonie der Zwecke^ nennt Sie
esagt» dass jede bewußte Zweckthätigkeit ihren Zweck über-
schreitet und unbeabsichtigte, final zufällige Nebenwirkungen
hervorruft, die dann nachträglich vom handelnden Individuum <^\s
seinen Zwecken gemäss anerkannt und zum Ausgangspunkt
weitergehender bevvusster Zweckhandlungen gemacht werden.
Das teleologische Problem hat sich hier darauf zusammen-
gebogen» wie eine teleologisch zufällige Überschreitung der be-
wussten Zweckthätigkeit möglich ist. Giebt man diese Entstehung
des Zweckmässigen aus teleologisch zufälligen, mechanischen Ur-
sachen einmal zu, dann braucht man sie nur zu verallgemeinern,
um den Einfluss bewusster Zweckthätigkeit entbehrlich und ver-
schwindend klein zu finden. Soll aber mit der Einheit von Kau-
salität und Teleologie ernst gemacht werden, so muss sie gerade
bei diesem Punkte durchgeführt w^erden. Indessen diese Durch-
föhrung scheitert an denselben Gründen, wie die Entstehung des
Zweckmässigen aus be^russter Zweckthätigkeit. In beiden Fällen
fehlt die einheitliche Vernunft, welche allein die Einlieit des Zweck-
prozesses sichern könnte. Es ist ebenso unbegreiflich, wie ohne
Anerkennung einer einheitlichen teleologischen Vernunft im Uni*
versum die allgemeinen Naturgesetze zweckmässig ausfallen
sollen, an welche die Thätigkeit der Atome gebunden ist, als wie
aus dem bewussten Zusammenwirken der bewussten Zweckthätig-
keit aller einen Organismus konstituierenden Atome die einheit-
liche bewusste Zweckthätigkeit dieses Individuums und die be-
sondere Zweckmässigkeit seiner Organisation zustande kommen
soll. —
Für den Psychologen Wundt ist das Wollen ein Produkt
des Fühlens vermittelst des Affekts; für den Metaphysiker Wunut
hingegen ist das Fühlen eine variable Reaktion des Wollens, also
eine sekundäre Thätigkeit Primäre Thätigkeit ist nur das immer
sich selbst gleiche Wollen, abstrahiert von dem wechselnden Vor-
stellungsinhalt, den es erzeugt. Diese Thätigkeit nennt Wundt
sonderbarerweise die reine oder transcendentale Apperzeption.
Lant versteht darunter diejenige logisch -synthetische Intellektual-
inktion, durch welche alle meine Bewusstseinsmhalte als die
raeinigen zusammengefasst, oder als zu meiner Bewusstseinssphäre
gehörige gedacht werden. Die Psychologie versteht unter Apper-
544
Wimdt.
zeption seit Herbart die Beziehung des Perzipterten auf das
schon früher Bekannte, seine Einordnung- in vorhandene Vor-
stell ungsreihen und die damit verknüpfte Aneignung- in den
Schatz der bisherigen Erfahrungen und Erkenntnisse. Es ist ge-
wiss verdienstlich von Wundt, die Aktivität aller Apperzeption
und die Unentbehrlichkeit des Wollens für jede Apperzeptions-
thätigkeit betont zu haben. Aber er irrt offenbar, wenn er die
Apperzeption für ein blindes, noch vorstellungsloses Wollen hält,
das erst den ihm noch fehlenden Vorstellungsinhalt her\'orbringen
soll; denn die Apperzeption setzt einerseits die bereits perzipierle
Vorstellung voraus, andrerseits die Reihe derjenigen Vorstellungen,
zu denen sie apperzipiert, d, h. denen sie eingeordnet werden soll.
Er irrt, wenn er die apperzipierende Thätigkeit, welche der Per-
zeption erst nachfolgen kann, zu einer solchen stempelt, die der
Perzeption vorhergeht, indem sie den Inhalt der zu perzi pierenden
Vorstellung erst erzeugt. Er irrt, wenn er den intuitiv logischen
Charakter der synthetischen Intellektualfunktion verkennt, in
welcher sowohl die den Vorstellungsinhalt erzeugende vorbewussie
Thätigkeit, als auch die ihn apperzipierende Thätigkeit besteht.
Er irrt endlich» wenn er das Wollen, das diese logischen Synthesen
erst zur realen psychischen Thätigkeit macht, für leer und blin*i
hält, statt seinen durch und durch teleologischen Charakter anzu*
erkennen. Erst durch diese Anerkennung wird die Apperzeptions-
psychologie endgültig über die blosse Assoziationspsychologie
hinausgehoben, während die Betonung des dabei beteiligten Wollens
erst die Vorbedingung für den Übergang von dem passiven sich
Zusammenfinden der Vorstellungen zu ihrer aktiven Auswahl,
Beziehung und Verknüpfung bildet. Wundt zielt auf die Apper-
zeptionspsychologie ab, aber er verlegt sich den Weg zu ihr. in-
dem er die unbewusste Zielstrebigkeit des Wollens und den
intuitiv logischen Charakter der dabei beteiligten synthetischen
Intellektualfunktionen verkennt und aus reinem, d, h. leerem
Wollen ableiten will, was nur aus vorstellungserfüllteni und logisch
operierendem Wollen abzuleiten ist.
Wundt räumt ein, dass das Wollen als reines vorstellungs-
loses Wollen, schlechthin unbestimmt, uod von anderen ununter-
scheidbar ist, dass es als solches zu der Gesamtheit der übrigen
Willen noch gar keine Beziehungen haben kann, dass es vielmehr
solche erst durch das Eintreten der Vorstellungen empfängt und
erst durch sie zum bestimmten, konkreten, inhaltvollen, reell wir-
kung"sfähigen wird. Andrerseits will er den Vorstellungsinhalt
des Wollens erst aus der Wechselwirkung mit anderen Willens-
thätigkeiten ableiten, nämlich aus der produktiven Thätigkeit,
welche als Reaktion auf das Leiden folgt, das durch die Kollision
niit einem fremden Wollen hervorgerufen wird Der Vorstellungs-
inhalt soll also die Wirkung der thelisch- dynamischen Wechsel-
beziehungen sein; diese aber soll wiederum die Wirkung der
konkreten Bestimmtheit der Willensakte durch Vorstellungsinhalte
sein. Das ist offenbar ein circulus vitiosus; ein solcher ist nur
zu vermeiden, wenn dem Willen entweder ein charakterologisch
bestimmter, aber von der Vorstellung unabhängiger Inhalt zu-
geschrieben wird (Bahnsen), oder aber ein Inhalt von Vorstellun-
gen, die zunächst unbewusst sind. In der That ist das, was
Wundt beschreibt, nicht die Entstehung der Vorstellung, sondern
die ihres Bewusstwerdens. Da Wundt aber gegen unbewusste
Geistesthätigkeit eine ebenso entschiedene wie unmotivierte Ab-
neigung hat und Bahnsens Standpunkt gar nicht kennt, so zieht
er es vor, in dem Widerspruch jenes Cirkels stecken zu bleiben.
Den noch von Lotze an I. H. Fichte bekämpften Begriff des
relativ Unbewussten erkennt Wundt an und bringt ihn mit
Nachdruck zur Geltung; den der absolut unbewussten Geistes-
thätigkeit bekämpft er mit Argumenten, aus denen bloss das
eine hervorgeht, dass er gar nicht weiss, was dieser Begriff
bedeutet.
Die Welt ist ein Stufenbau von Willensindividualitäten ver-
schiedener Ordnung, die sich äusserlich als Gesamtorganismen,
innerlich als Gesamtwillen darstellen. Ausgangspunkte auch der
Geistesent Wickelung sind die Atome, in denen alles vorgebildet
ist, was in den höheren Einheiten zur Entfaltung kommt Die
Atomgeister sind die Reservoire aller Geistesentwickelung im
Weltprozess; alle Intelligenz und Genialität der Individuen höherer
Ordnung stammt ausschliesslich aus ihrer Intelligenz, da es keine
andere Quelle giebt. Der Einzelne ist der einzige Erzeuger neuer
Kräfte auch des Gesamtlebens, und es giebt keine Gemeinschafts-
zwecke, die nicht zuvor als bloss individuelle Zwecke der Ge-
meinschaftsglieder existiert hätten. Was das einzelne Atom als
solches nicht könnte, das lernt es in geeigneter Wechselbeziehung
mit seinesgleichen aus sich herauspumpen. Bei keiner Konsti-
£. V. Uartmaoa, Auigew. Wefkc. Btl. XU,
54^
WuDdt,
tuierung eines Individuums höherer Ordnung- konnmt aus einer
anderen geistigen Quelle etwas hinzu. Er teilt den Herbartschen
Irrtum, als ob getrennte psychische Einheiten aus eigener Kraft
und ohne weitere Vermittelung durch ein sie verbindendes Ab-
solutes innerlich oder geistig auf einander wirken könnten. In
alle dem zeigt sich sein pluralistischer Hylozoismus in unver-
schleierter Nacktheit —
Der Gesamtgeist hat keine Existenz ausserhalb der EinzeJ-
geister, die ihn konstituieren, und darum sein Prius bilden; aber
er ist ebenso real wie sie, weil sie ebenso substanzlos sind wie er,
und beide nur in der substanzlosen Aktualität ihre Realität haben.
Ziel der Geistesentwickelung und praktisch - ethisches Ideal ist
zunächst der Gesamtgeist der irdischen Menschheit und weiterhin
der Universalgeist oder die universelle Gemeinschaft des kos-
mischen Geisterreichs, von der wir noch durch einen unüber-
brückbaren Abgrund getrennt scheinen. Weshalb für die Ver-
wirklichung der Sittlichkeit eine Gemeinschaft von Milliarden
Geistern günstiger sei, als eine von Millionen oder Tausenden oder
noch weniger, lässt Wundt iinerörtert, desgleichen, wie er dazu
kommt, dieses sein ethisches Ideal als ethisches Postulat hinzustellen»
obwohl er dasselbe für aussichtslos hält Das Merkwürdigste
aber ist, dass er aus der Aussichtslosigkeit dieses Postulats die
logische Nötigung zu einer Ergänzung schöpft, nämlich zu seiner
Rückprojektion in den letzten Grund des Seins und Werdens
Während er alle Versuche, aus der Erfahrungswelt auf geradem
Wege zu einem einheitlichen Weltgrunde zu gelangen, als Stecken-
bleiben in fehlerhaften Analogien verwirft, glaubt er auf diesem
Umweg über das ethische Ideal, dessen nach vorwärts aussichts-
lose Phantasmagorie kühn nach rückwärts projiziert wird, zu
einem solchen zu gelangen, und hält dies fiir einen moralischen
Beweis Gottes.
Freüich ist das so Erreichte nicht eine real gültige Hypothe
sondern bloss eine reahtätslose Idee, die aber doch als Idee denl
notwendig sein soll. Auch als Idee ist sie etwas rein Imaginär
mit dem es unmöglich ist, irgend etwas anzufangen, weil es
Bezug auf seinen Inhalt schlechterdings unbestimmbar ist. Denir'
der so erlangte einheitliche Weltgrund kann einerseits nicht von
dem aus ihm folgenden Weltinhalt abgelöst, sondern muss U:
adäquat gedacht werden. Er kann aber nicht absoluter Wi
WundL
sein, weil er als absoluter vorstellungslos sein und bleiben müsste,
als vorstellungsloser aber wieder kein wirklicher, konkreter Wille
sein könnte. Er kann nicht absoluter Verstand sein, weil die
Forderung, unendlich viele Vorstellungen auf einmal zu umspannen,
alle Thätigkeit zum Stillstand bringen würde. Er kann auch
nicht Einheit des absoluten Willens mit dem absoluten Verstände
wie bei Leibniz sein, denn wenn damit auch die Leerheit des
WoUens wegfiele, so bliebe doch die unendliche Menge gleich-
zeitiger Vorstellungen bestehen. Dass diese Schwierigkeit nur
aus der von ihm angenommenen Unendlichkeit der Welt ent-
springt und mit Annahme einer endlichen Welt verschwindet,
hat Wundt nicht in Betracht gezogen.
So glaubt Wundt den Beweis gefiihrt zu haben» dass weder
Wollen noch Vorstellen noch die Vereinigung beider jemals als
Universalprincipien gedacht werden können, d h. dass der ein-
heitliche Weltgrund dem Weltinhalt nicht adäquat gedacht werden
darf, dem er doch adäquat gedacht w^erden sollte. Die realitäts-
lose und zugleich inhaltlich unbestimmbare Idee desselben bleibt
eine unvollziehbare Denkaufgabe, d. K Wundts Metaphysik mündet
mit seinem so wunderbar postulierten und rückprojizierten Abso-
luten in reinen Agnostizismus. Wäre die Idee zwar ihrem Inhalt
nach in einer dem religiösen Glauben als Gottesidee genügender
Weise bestimmt (wie bei Kant), so könnte dem religiösen Glauben
überlassen werden, die wissenschaftlich mangelnde Realität und
Existenz hinzuzufügen. Wäre andererseits die Realität des ein-
heitlichen Weltgrundes wissenschaftlich gesichert und nur sein In-
halt unerkennbar, so könnte dem religiösen Glauben anheimgestellt
werden, diese Realität mit einem ihm zusagenden idealen Inhalt
zu filllen. Wo aber sowohl die Realität als auch die inhaltliche
Bestimmtheit unerkennbar bleibt, da fehlt dem Glauben jeder
Anhaltspunkt, um ein realitätsloses Unerkennbares als Gott, d. h.
als Objekt eines religiösen Verhältnisses anzunehmen. Die üb-
rigen Vertreter der pluralistischen Willensmetaphysik haben jeden-
falls konsequenter gehandelt, als sie sich ofiFen und entschieden
zum Atheismus bekannten. —
Es ist nach alledem Wundt ebenso wenig gelungen, die
Vielheit substanzloser Einzelthätigkeiten mit einer einheitlichen
Allthätigkeit in eine verständliche Beziehung zu setzen oder gar
aus ihr abzuleiten, wie es den übrigen Vertretern der pluralistischen
3S*
548
WundL
Willensmetaphysik gelungen war, die Vielheit substantieller EiiizeP
willen mit einem substantiellen Allwillen oder Urwillen in eine
verständliche Beziehung zu setzen oder aus demselben abzuleiteo.
Es ist ihm femer ebenso wenig gelungen, aus der Wechsel-
beziehung vieler vorstellungsloser Einzehvillen die Entstehung
der Vorstellung und des Logischen zu erklären, vne den
übrigen aus dem Wesen und der Bethätigung des Einzel-
willens als solchem. Insoweit ist Wundts Leistung bloss nega-
tiv: er hat von einem Wege mehr gezeigt, dass er nicht zum
Ziele führt.
Nebenbei hat aber auch seine Metaphysik noch einen posi-
tiven Wert» insofern sie einen Übergang von der pluralistischen
zur monistischen Willensmetaphysik bildet Wundt hat auch die
naturwissenschaftlich Denkenden mit dem Gedanken vertraut ge*
macht dass nicht nur die Seele, sondern auch die Materie
bloss dem Scheine nach Substanz, in der That aber reine
Aktualität ist und bloss in dieser Aktualität ihre Realität hat
Indem er die Vielheit der Geister und Dinge auf eine Vielheit
von WiUensakten zurückführt, arbeitet er, ohne es zu wissen und
wollen, an der Auflösung des ontologischeo Pluralismus und an
der Vorbereitung des konkreten Monismus, Denn dass hinter allen
diesen Willensakten kein substantielles Subjekt, hinter allen diesen
Thätigkeiten kein Thätiges, hinter der aktuellen Vielheit keiii
einheitlicher substantieller Weltgrund stehe, das wird sich der
menschliche Verstand doch niemals weismachen lassen. Sobald
man aber dieses anerkennt, tritt man auf den Boden des kon-
kreten Monismus hinüben
Hamerling besitzt zwar diesen substantiellen All willen als
fortdauernden einheitlichen Weltgrund und absolutes Subjekt aller
Thätigkeit, aber er kann von der Substantialität der Individual-
willen nicht los. Wundt hat zwar die Substantialität der Indivi-
dualwillen als falschen Schein überwunden, hat aber dabei auch
die Substantialität und die Willensessenz des einheitlichen Welt-
grundes mit über Bord geworfen; er hat das Kind mit dem Bade
ausgeschüttet. Fügt man von beiden das richtige zusammen,
indem man das Falsche ausscheidet dann hat man den konkreten
Monismus, freilich erst einen solchen des blinden, alogischen
Willens, der so noch immer Atheismus bleibt Denn ein blosser
Wille ohne Vernunft und Idee mag noch so absolut sein , er wird
WtmdL
549
doch niemals zum Objekt eines religiösen Verhältnisses brauchbar
sein, also niemals Gott heissen können,*) —
Das Ansehen» das Wundt als Forscher geniesst, stützt sich
übrigens keineswegs auf seine Metaphysik, die doch in vielen
Punkten für den Geschmack des Publikums nicht agnostisch
genug und für den der naturwissenschaftlich Gebildeten zu spe-
kulativ ist» sondern auf seine physiologische Psychologie und die
in dieses Gebiet gehörigen Spezialstudien, Die physiologischen
Arbeiten von Weber und Helmholtz über Tastsinn, Gesicht und
Gehör einerseits und Fechners Psychophysik andererseits bilden die
Ausgangspunkte von Wundts physiologischer Psychologie. Wenn
sich an die exakten Massbestimmungen in physiologischen Labora-
torien und an die aus ihnen aufgestellten Reihen und Tabellen
im Publikum übertriebene Erwartungen geknüpft haben, so ist
Wundt daran nicht schuld. Er hat die physiologische Psychologie
wohl nie anders aufgefasst als im Sinne einer Hilfsdisziplin für
die Psychologie. Aber die exakte experimentelle Forschung stand
von den Naturwissenschaften her in dem naturwissenschaftlichen
Zeitalter der letzten Jahrzehnte in so ungemessenem Ansehen,
dass man sich von ihrer Anwendung auf die Psychologie einen
völligen Umschwung und neuen Aufschwung der Geisteswissen-
schaften versprach und überall nach Errichtung von Lehrstühlen
und Laboratorien für die neue Disziplin verlangte.
Nachdem nunmehr dieses Verlangen für die grösseren Uni-
versitäten gestillt ist und die Ergebnisse von mehreren Jahrzehnten
sich doch als vorläufig recht dürftig her ausgestellt haben, ist,
wenigstens in Deutschland, eine merkliche Ernüchterung und
ruhigere Beurteilung der Sachlage eingetreten* Zwar giebt es
immer noch Schwärmer, die da glauben, die Erneuerung der
Wissenschaft werde schon noch kommen, wenn nur erst noch
einige Menschenalter oder Jahrhunderte hindurch experimentiert
und Tabellen auf Tabellen gehäuft sein werden. Indessen die be-
sonneneren Elemente haben sich nachgerade überzeugt, dass diese
Arbeiten doch nur im Vorhofe der Philosophie und Psychologie
liegen, dass sie zwar in mancher Hinsicht genauere quantitative
Bestimmungen geliefert, aber auf keinem Punkt zu wirklich
*) VgL »Wundti Syitera der PhUoüophic« m den »Preossischeii Jahrbäcliefii*,
Bd. 66. S. r— 3I, 113—151: »Wtmdti Ethik« in »Kritwche Wanderungen durch die
PhilcMophie der Gegenwart c. No. IV, S» 76—104*
550
Der übeTsinnliche Materislismiis oder transcendentalc Individualismus,
neueo Aufschlüssen, ErkJärungen, Hypothesen oder Theorien hin-
geführt haben und schwerlich jemals mehr leisten werden.
Von einem späteren Beurteiler könnte sogar ihr Hauptwert darin
gefunden werden, dass sie das philosophische Interesse der aka-
demischen Kreise, welches Jahrzehnte lang wie hj'pnotisiert auf
die Erkenntnistheorie beschränkt war» wieder auf die Psychologie
gelenkt und dadurch ihren allzusehr verengten Gesichtskreis
wieder erweitert hat
Die empirische Psychologie am Ende des vorig'en Jahr-
hunderts war gar zu unmethodiach, diejenige Benekes litt
dem Grundirrtura, das Ich erkenne sich nicht als Erscheinung
sondern wie es an sich ist, auch diejenige Brentanos blieb in der
Einseitigkeit bloss innerer Selbstwahrnehmung stecken. Jetzt zum
ersten Maie wurde die Psychologie auf eine methodische Verglei-
chung der Ergebnisse der Selbstbeobachtung mit den jeweiligen
äusseren Bedingungen gegründet. Das Verdienst, hierzu einen
entscheidenden Anstoss gegeben zu haben, wird Wundt in der
Geschichte auch dann unvergessen bleiben» wenn seine Metaphysik,
Logik und Ethik längst verschollen sind.
Wenn bis jetzt noch keine besseren Früchte des wieder-
erwachten Arbeitsdranges auf dem Gebiete der Psychologfie über-
haupt zu verzeichnen sind, so liegt das hauptsächlich daran, dass
die Köpfe der lebenden Generation meist durch eine mehr oder ,
minder ago ostische Erkenntnistheorie und MetaphysikscheuJ
zu sehr mit Vorurteilen eingenommen sind. Eine fruchtbare psy
chologische Arbeit ist erst zu erwarten, wenn die trüben Schlamr
fluten der agn ostischen Überschwemmung sich allgemach wiede
verlaufen haben werden, von denen auch die Wimdtsche Meti
physik noch verschlammt ist. Für die schon von Beneke ange
bahnte Übertreibung, durch welche von einigen Neueren di^
Psychologie an die Stelle der Philosophie überhaupt gesetzt wir
und alle philosophischen Disziplinen in Psychologie aufgelc
werden, ist Wundt nicht verantwortlich.
c Der übersinnliche Materialismus oder transcendentale
I ndividualismus.
Der sinnliche Materialismus war daran gescheitert, dass er
eine bloss subjektive, bewusstseinsimmanente Erscheinung, den
Stoff, zum Weltprincip machen wollte, dass er die Teleologic
Der dberstnnlicfae Materialismtis oder tranaceDdentale Individuallsmia.
551
nicht erklären konnte und nicht über den irdischen Individual-
eudäinonismus hinaus konnte. Der Agnostizismus hob sich selbst auf
und drängte zu einer induktiven Weltanschauung auf transcenden tal-
realistischem Boden hinüber; er mündete in eine individualis-
tische und pluralistische Wülensmetaphysik, die nur in Bezug auf
den absoluten Weltgrund agnostisch und damit als Wissenschaft
atheistisch blieb. Die individualistische und die pluralistische
Willensmetaphysik vermochte weder als reiner Pluralismus ohne
einheitlichen Weltgrund fertig zu werden, noch auch dieses Eine
mit dem Vielen widerspruchslos zu verbinden; sie scheiterte an
dieser Aufgabe ebensogut, wenn sie versuchte, sowohl das Eine
als auch die Vielen als Substanzen oder Wesen zu fassen (Bahn-
sen, Mainländer, Hamerling), als wenn sie beide als substanzlose
Thätigkeiten hinstellte (Wundt). Es blieb nun noch der Versuch
übrig , den Materalismus und mit ihm den Individualeudämonismus in
eine übersinnliche Sphäre zu erheben, die Teleologie auf diesen
übersinnlichen Materialismus zu stützen, den Agnostizismus in Be-
zug auf den absoluten einen MMtgrund streng festzuhalten, und
dem Individualismus an dem übersinnlichen Materialismus einen
neuen Halt zu geben. Setzt man die Worte i- übersinnlich < und
»transcendentak in ihrer Bedeutung einander gleich, so wird der
übersinnliche Materialismus zum transcendentalen Individualismus.
Die individualistische Willensmetaphysik Bahnsens lässt zwar
den Wesenskern des Individuums zwischen den durch keine Er-
innerungsbrücke verbundenen Lebensläufen als bewusstloses Sein
fortdauern, bietet damit aber keine Handhabe, um den irdischen
Pessimismus durch einen transcendenten Optimismus zu ver-
klären oder eine transcendente Entwickelung des Individuums
anzubahnen* Die pluralistische Willensmetaphysik Mainländers,
Hamerlings und Wuodts giebt der Sehnsucht des Individuums
nach persönlicher Fortdauer keine Nahrung, sondern schneidet
ihr jede Hoffnung ab, zerstört aber damit auch den Nerv des
Interesses am Individualismus überhaupt. Dem Menschen kommt
alles darauf an, dass sein Wesenskern, wenn er fortdauert, als
selbstbewusste Persönlichkeit fortdauert; aber es liegt ihm gar
nichts daran, ob er als bewusstlose Substanz fortdauert. Denn
dann können die verschiedenen Lebensläufe ebensogut von ver-
schiedenen Willenswesen als von einem und demselben gelebt
werden. Soll aber der materialistische Grundsatz, dass ein be-
552
Der übersinnlicbe Materialismus oder tnniscendenUle Indiiridiialisiniis.
stimmtes Bewusstsein nur aut materieller Grundlage mög^Iich
gewahrt werden, so muss vor allen Dingen für einen materiellen
Leib während der Zwischenpausen der sinnlichen Lebenslä
Sorge getragen werden. Dies kann nicht der sinnliche Leib sei
der im Tode zerfällt, folglich bleibt nichts übrig als die Annah
eines übersinnlichen Leibes aus un wahrnehmbarer Materie, der
sich beim Zerfall des sinnlichen Leibes erhält
So filhrt der Individualismus als transcenden taler mit N<
wendigkeit zum übersinnlichen Materialismus. Er bleibt dal
einerseits wissenschaftlicher Atheismus» well er den Agnosti-
zismus in Bezug auf Gott festhält und wird andererseits prak-
tischer Atheismus, weil er das Objekt des religiösen Verhältnisses
nicht in einem Absoluten, sondern in dem eigenen transccBden»
talen Subjekt, d, h. in dem eigenen übersinnlichen Leibe sucht.
Neu ist dieser Standpunkt nicht, sondern nur eine Erneuerung
der indischen Sankhyalehre des Kapila» des einen der drei Systeme
die Indien hervorgebracht hat. Wenn Schopenhauers Monism
als eine romantische Restauration der brahmanischen Vedanta-
lehre anzusehen ist und Main länders Atheismus eine deutliche An-
lehnung an den buddhistischen Nihilismus {freilich nicht an seinen
erkenntnistheoretischen Illusionismus) zeigt» so war zur Vervoll-
ständigung der romantischen Erneuerung des Indertunis auch
die Wiedergeburt der Sankhyalehre gleichsam historisch gefordi
Der übersinnliche Materialismus war eigentlich niemals ausgest
ben, sondern war durch den pneumatischen Leib des Paulus ein
Bestandteil der christlichen Glaubenslehre geworden. Die mys^
tischen und tfieosophischen Spekulationen der späteren Ausläufer
des Neuplatonismos, insbesondere des Psellos oder Psellios, hatten
ihn dem Mittelalter zugeführt, wo er unter andern von den Kabba-
listen gepflegt wurde, Paracelsus und seine Schule hatten ihm
in der Renaissancezeit diejenige Form gegeben » in welcher er
durch die beiden van Helmonts auch Leibniz berührte, und
durch die Roseokreuzer und andere Geheimverbindungen sich bi
in dieses Jahrhundert erhielt.
Der Astralleib bei Paracelsus deckt sich durchaus mit dem
pneumatischen Leibe bei Paulus, dem unveräusserlichen Leibe der
Monade bei Leibniz und dem Ätherleibe bei L H. Fichte. Nur
war dieser Begriff des übersinnlichen Leibes bisher nur als Glied
in naturalistisch-pantheistischen oder theistischen Systemen benutzt
ler^J
M
Der übersinnliche Materialismui oder traoscendentale Indlvidaallsmus,
553
worden. Jetzt hatte die starke materialistische und agnostische
Zeitströmung den Versuch nahe gelegt, den übersinnlichen Leib
als Princip der Individualität in einem atheistischen Systeme zu
verwerten und damit ganz zu Kapila zurückzukehren.
Einen besonderen Anstoss erhielt dieses Unternehmen durch
das Auftauchen des modernen Spiritismus, der die bei Propheten,
Zauberern, Hexen und Heiligen altbekannten abnormen Erschei-
nungen durch Reihen von Sitzungen mit geeigneten Medien syste-
matisch hervorzurufen bemüht war Diese abnormen Erschei-
nungen» deren Thatsächlichkeit von der rationalistischen Aufklärung
des lö* und 19. Jahrhunderts in Bausch und Bogen verworfen
wurde, haben auch unsere hervorragendsten Denker der Neuzeit
lebhaft beschäftigt. Kants »Vorlesungen über Metaphysik« zeigen,
dass seine »Träume eines Geistersehers« keineswegs bloss ironisch
gemeint sind, wenn er auch später in der Anthropologie sich ab-
sprechend über das Gebiet äussert. Schelling in seinem Gespräch
>Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt * (Werke,
Abth. I, Bd, 9, S. i^iio), Hegel im dritten Bande der Encyklo-
pädie (S. 151 — 198, 204), und Schopenhauer in den Parerga
(L 215 — 328) suchen jeder nach einer anderen Richtung hin
dem abnormen Erscheinungsgebiet philosophische Bedeutung abzu-
gewinnen. Die naturphilosophische Schule hat sich mit mehr Eifer
als Kritik der Erörterung desselben gewidmet; insbesondere haben
Schuberts Schriften bis in unsere Zeit nachgewirkt und eine um-
fangreiche, aber von den Philosophen lange missachtete Utteratur
(Nees von Esenbeck, Justinus Kerner, Ennemoser u. s, w.) nach
sich gezogen. Pertys Schriften bilden dann den Übergang zu
den neueren Theisten, die sich, durch L H. Fichte angeregt, diesen
Problemen zuwandten, wie Ulrici und der Baaderianer Franz
HoflFmann, und lebhaft dafür eintraten, dass der Spiritismus einen
beachtenswerten Kern erhalte. In derselben Richtung musste die
Beschäftigung namhafter Naturforscher mit diesen Problemen
wirken, wie z, B. die von Crookes, Wallace, Flammarion, Zöllner.
Durch solche theistische Vertreter der akademischen Philo-
sophie und naturwissenschaftliche Autoritäten gedeckt konnten
auch die atheistischen Transcendentalindividualisten den Versuch
wagen, ihren übersinnlichen Materialismus aut selbst erlebte spiri-
tistische Erfahrungen zu stützen. Aber sie täuschten sich in der
Erwartung, dass, was den Theisten recht, auch den Atheisten
554
von HeUenbiicb.
billig sein werde. Sie werden bis heute noch so wenig als Philo»
sophen angesehen» dass der erste Autor, welcher es wagte, sie in
die Geschichte der Philosophie einzureihen, diese Vermessenhett
damit büssen musste, dass sein grosses Werk schon um dieses
einen Umstandes willen von massgebenden akademischen Autori-
täten fiir * unwissenschaftlich« erklärt wurde. Um so mehr scheint
es mir eine Forderung der Gerechtigkeit, diesen zur Vervoll-
ständigung des Individualismus unentbehrlichen und durch die
historische Kontinuität in seinem Auftreten vollauf gerechtfertigten
Standpunkt hier nicht unerörtert zu lassen, —
von Hellenbach {1827 — 1887) knüpft zunächst an die indivi-
dualistischen Bestandteile in Schopenhauers System an und will
untersuchen, wie tief die Wurzeln der Individuation in das Wesen
hinabreichen. Mit Bahnsen teilt er den transcendentalen Realis-
mus, führt aber die bei diesem nur angedeutete Konsequenz des
metaphysischen Individualismus: die Seelen Wanderung, energisch
durch. Von Kant und Schopenhauer übernimmt er die dynamische
Auffassung der Materie, bestimmt dieselbe aber näher (wie die
Philosophie des Unbewussten) als atomis tischen Dynamismus,
Er bekämpft den sinnlichen Materialismus, die mechanistische
Weltanschauung der modernen naturwissenschaftlichen Biologie
und den naiven Realismus mit gleicher Entschiedenheit. Den
beiden ersteren hält er die Unentbehrlichkeit eines zweckmässi^^^
organisierenden Princips hinter der groben Materie und ihred^H
Mechanismus entgegen, dem letzteren die Verschiedenheit unserer
subjektiven Empfindungen und Anschauungen von der Beschaffen-
heit der wirklichen Natun In seinen sozialistischen Reformge-
danken ist er hauptsächlich durch St, Simon und Fourier beein-
flysst, zeichnet sich aber vor Dühring durch konkrete Bestimmt-
heit, vor Comte und Mainländer durch verhältnismässige Besonnen-
heit seiner Vorschläge aus*
Gleich Schopenhauer betont er die Phänomenalität von Zeit,
Raum und Kausalität, versteht aber darunter nur, dass sie dem
Wesen des Willens nicht angehören, welches er als absolutes
Ding an sich bezeichnet Dagegen erkennt er die Notwendigkeit
an, dass Zeit, Raum und Kausalität Formen der Natur, der rela-
tiven Dinge an sich im erkenntnistheoretischen Sinne des Worts,
oder des individualisierten und objektivierten Willens seien. Freilich
sind die Sinnesqualitäten ganz von der Organisation abhängig*
von Hellenbach.
555
und dasselbe behauptet Hellenbach auch von der Dreidimensiona-
lität des subjektiv idealen Anschauungsraums. Er giebt nicht zu,
dass es die Dreidimensionalität der wirklichen Raumverhältnisse
in der ausserbewussten Natur ist, durch welche die Seele mittelbar
genötigt wird, ihre räumliche Rekonstruktion der Empfindungen
in nicht weniger und nicht mehr als drei Dimensionen auszuführen.
Vielmehr hält er diese Zahl der Dimensionen des Bewusstseins-
raums für rein subjektiv bestimmt durch die geistige Veranlagung,
die wieder auf der Organisation des Gehirns ruht. Er übernimmt
von Zöllner die Hypothese, dass die problematische vierte Dimen-
sion des Raumes gewisse Erscheinungen in mediumistischen
Sitzungen erklären könne, hält aber an der Zahl 4 für die Dimen-
sionen des wirklichen Raumes in der Natur nicht fest, sondern
schwankt zwischen einer noch grösseren Zahl und NulL Die
Spiritisten haben in der Mehrzahl andere Erklärungen für die
Erscheinungen angenommen als die vierte Dimension, so dass
diese Hypothese in spiritistischen Phänomenen bis jetzt keine
Stütze findet Dass die Einschränkung der Dimensionenzahl auf
Null den Raum überhaupt aufhebt und damit an seiner Stelle
ein anderes principium individuationis erforderlich macht» hat
Hellenbach nicht bemerkt; sonst würde er diesen Fall nicht als
eine Möglichkeit behandelt haben. Die Nulldimensionalität des
transcendenten Raumes kehrt entweder den Pluralismus sofort in
Monismus um, oder sie macht eine raumlose Konstruktion der
Individuation und der Kausalität zwischen den raumlosen Indi-
viduen zur Aufgabe,
Den Glauben an die SubstantiaHtät und Wesenhaftigkeit des
Ich bekämpft Hellenbach auf das Heftigste und lehrt seine blosse
Phänomenalität und seine strenge Sonderung von der Seele. Den
Beweis für die Existenz einer intelligenten und wollenden Seele
hinter dem erst allmählich sich entwickelnden Erscheinungsich
findet er einerseits in der biologischen Unentbehrlichkeit eines
organisierenden Princips, andrerseits in der Möglichkeit von Wahr-
nehmungen, die nicht durch die leiblichen Sinne vermittelt sind
(bei der Telepathie» der Gedankenübertragung, dem Hellsehen). Da
nichts im Verstände ist, was nicht vorher in den Sinnen war. so
wird durch Ausschaltung der leiblichen Sinnesorgane bewiesen,
einerseits» dass es noch eine zweite sinnliche Wahrnehmungs weise
giebt, und andrerseits, dass es ein wahrnehmendes Subjekt für
556
H eilen bju:h>
diese zweite Wahrnehmungsweise giebt Es ist wahrscheinlich,
dass das seelische Subjekt dieser zweiten, ungewöhnlichen Wahr-
nehmungsweise zugleich das der ersten, gewöhnlichen ist (Es
fehlt dabei nur der Nachweis, dass bei Aussclialtung der Sinnes-
organe auch die zu ihnen gehörenden Nervencentren ausser Funk-
tion gesetzt seien, und dass diese nicht ausreichen, um dynamisdie
Schwingungsreize oder psychische Inspirationen in sinnliche An-
schauungen umzusetzen.) —
Indem Hellenbach stillschweigend voraussetzt, dass das Subjekt
des hellsehenden Wahrnehmens durch andre Hilfsmittel als die
leiblichen Centralorgane zu Anschauungen und Vorstellungen
gelangt, schreibt er ihm einen unsichtbaren Leib hinter dem sicht-
baren, einen Metaorganismus hinter dem Organismus zu. Diesen
Metaorganismus betrachtet er als vermittelndes Glied sowohl für
die Organisation des Organismus als auch für die hellsehende
Wahrnehmung. Die Un wahrnehmbarkeit des Metaorganismus
macht ihm keine Schwierigkeit, da ja viele Zustände der Materie
und vor allem die Atome selbst unwahrnehmbar sind. Der Meta-
organismus jedes Individuums muss vor seiner Konzeption b^tan-
den haben, da er sonst nicht die Auswahl und Verarbeitung der
Zeugungs- und Nährstoffe und die embryonale Ent Wickelung leiten
könnte, Demgemäss wird er auch übrig bleiben» wenn der Orga-
nismus im Tode zerfällt, obwohl seine Un wahrnehmbarkeit uns
hindert, dies unmittelbar zu beobachten.
Der Metaorganismus wird von Hellenbach mit der Seele
identifiziert, d. h., da er materiell ist, die Seele wird materiali-
siert Wäre der Metaorganismus von der Individualseele ver-
schieden und nur Mittel für die Individuation eines AllwiMens
oder Allgeistes, dann wäre diese Individuation nur als eine funktio*
nelle zu verstehen, und der Monismus bliebe in Kraft. Soll der
Metaorganismus in dem Sinne Princip der Individuation sein, dass
die substantielle Selbständigkeit und Besonderheit der Individual-
seele durch ihn verbürgt wird, dann muss er mit ihr identisch
sein. Soll der transcen dentale Individualismus mehr sein als eine
bloss funktionelle Individuation des All -Einen, so muss er über-
sinnlicher Materialismus sein. So verstanden ist der Metaorganis-
mus nicht mehr Hilfsmittel der Seele für Organisation und Wahr-
nehmung, sondern er selbst ist das transcendentale Princip und
Subjekt dieser beiden Thätigkeiten. Die Materialisation der Seele
von HeUenbadi.
557
ist indessen bei Hellenbach keine VerstoflFlichung derselben im
Sinne des naiven Realismus, weil ja die übersinnliche Materie des
Metaorganismus ebenso wie die sinnliche des Organismus aus
unstofflichen Kraftatomen zusammengesetzt ist. So kommt auch
die Identitätsphilosophie im transcendentalen Individualismus zu
ihrem Recht, freilich in einem ganz naturalistischen Sinne. Denn
es sind ja die denkbar niedrigsten Formen der Objektivation des
Willens, die materiebildenden Atome» aus denen der Metaorganis-
mus, d. h. die Seele, ohne Rest zusammengesetzt ist.
Der Metaorganismus, der substantielle Wesenskern des Indi-
viduums, wirkt nicht nur auf den Organismus oder Zellenleib,
den er sich angebildet hat, sondern empfängt auch Rückwirkungen
von ihm. Er geht nach dem Tode nicht mehr als derselbe aus
dem absterbenden Organismus hervor, als der er in ihn bei der
Konzeption eintrat Er ist bereichert durch die Erfahrungen dieses
Lebens und enthält ihren kapitalisierten Niederschlag. Ebenso
wird es ihm aber auch in künftigen Lebensläufen ergehen und
ebenso ist es ihm in vergangenen ergangen. Der Metaorganismus
ist in jedem Zeitpunkt seiner Gesamtdauer der kapitalisierte
Niederschlag der Erfahrungen und Charaktermodifikationen aller
bereits von ihm durchgemachten Lebensläufe. Die gemeine, auf
das Erscheinungsich gerichtete Selbstsucht wird dadurch zu einer
transcendentalen emporgeläutert, d. h, auf das transcen dentale
Subjekt aller dieser Lebensläufe gerichtet. Der sinnliche Egoismus
wdrd zum übersinnlichen, bleibt aber Egoismus.
Der Metaorganismus ist es auch, der magische Kräfte ent-
faltet und Leistungen vollbringt, denen der Organismus nicht
gewachsen ist. Diese Durchbrechung der gewöhnlichen phänome-
nalen Gebundenheit erfolgt nur bei besonders veranlagten Indi-
viduen, kann aber auch durch Übung gesteigert werden (Er-
ziehung zum Medium). Nicht alle Erscheinungen ungewöhnhcher
Art sind durch die Metaorganismen der anwesenden leiblichen
Individuen erklärbar; bei manchen muss man zur Erklärung die
Mitwirkung leibfreier Metaorganismen (Spirits) annehmen. So
liefert Hellenbach dem modernen Spiritismus eine metaphysische
Grundlage und wird darum von den Spiritisten, Okkultisten und
Theosophen so hoch geschätzt.
Wenn Naturvölker die Seele nicht anders als räumlich und
stofflich denken können, so ist das verzeihlich. Die ganze Ent-
von Hellenbach.
Wickelung der Metaphysik hat sich aber mit darum g-edreht, di<
Verräumlichung und Verdinglichung der Seele zu einem Stoff
oder einer Materie von feinerer Beschaffenheit aufzuheben. Es ist
ein arges Missverständnis der Identitätsphilosophie, wenn man si^J
in der Materialisierung des Geistes oder in der Auflösung d^^^
Materie in ein Objekt des bewussten Geistes, statt in der Er-
klärung der Materie wie des bewussten Geistes aus einem hinter
beiden liegenden Dritten sucht. Nirgends sagt Hellenbach, dass
es Atomkräfte anderer Art seien, aus denen die Seele, als aus
aus denen der Leib zusammengesetzt ist; es sind nur dort un-
wahrnehmbare, hier wahrnehmbare Verbindungsformen, zu denen
Atome gleicher Art sich vereinigt haben.
Das biologische und teleologische Problem, wie aus der
mechanischen Vereinigung unorganischer Atome Lebendiges und
Zweckmässiges entspringen könne, ist nur vom Organismus auf
den Metaorganismus zurückgeschoben, aber im Metaorganismus
von Hellenbach so wenig gelöst, wie im Organismus von der
Naturwissenschaft, Wie die feineren Atomverbindungen des Meta-
organismus es anfangen, die gröberen Atom Verbindungen zu einem
Organismus zusammenzufügen, bleibt ebenfalls unerklärt Wie die
Atome im Metaorganismus es fertig bringen, ihre vielen Atom-
Bewusstseine zu einem einheitlichen Individual-Bewmsstsein und
ihre vielen atomistischen Willensrichtongen zu einem einheitlichen
Individual willen zu verschmelzen, bleibt bei Hellenbach ebenso
rätselhaft, wie dasselbe Problem in Bezug auf den Organismus bei
den sinnlichen Materialisten. Alle Probleme sind bloss um eine
Stufe zurückgeschoben, keines der Lösung näher gerückt, wohl aber
die Schwierigkeiten vervielfacht und ein trübes Nebelreich zwischen
die Wirklichkeit und den einheitlichen Weltgrund eingeschoben,
Wenn der Metaorganismus bloss aus feineren, dünneren und
flüchtigeren Verbindungen der gleichartigen Atome besteht wie
der Zellen leib, so ist zwar seine Wechselwirkung mit diesem be-
greiflich, nicht aber, wie es zugehen soll, dass die feineren und
flüchtigeren Verbindungen im Tode erhalten bleiben, während
die gröberen und kompakteren sich auflösen. Da Hellenbach die
Relativität der Individuationsstufen anerkennt, so muss auch zu
jedem Tier- und Pflanzenorganisoius ein Metaorganismus an-
genommen werden, ja sogar jede Zelle muss einen solchen haben,
gleichviel, ob sie als isolierte oder mit anderen räumlich ver-
von Hellenbach.
559
iunden lebt. D. k aber in Individuen höherer Ordnung muss
der Ineinanderschachteluiig von Organismen verschiedener In-
dividuationsstufen eine ebensolche von Metaorganismen ent-
sprechen. Damit geht der Gewinn wieder verloren, dass der Meta-
organismus des Gesamtindividuums als Centrabnonas oder Archon
oder Hegemonikon die Teile des Organismus leiten und beherr-
schen soHte. Denn nun müsste er ja erst den Kampf mit den in
ihn eingeschachtelten Metaorganismen niederer Stufe aufnehmen,
deren jeder den ihm entsprechenden Organismus niederer Stufe
organisieren und leiten will. Vollständig durchgefilhrt ergiebt die
ganze Ansicht nur eine gespenstische Verdoppelung der Wirk-
lichkeit, die far die Erklärung gar nichts leistet. —
Die Bürgschaft dafür, dass der Metaorganismus den Tod des
Organismus überdauert, kann nur darin gefunden werden, dass
»leibfreie Bummelseelen« an den spiritistischen Sitzungen mitwirken.
Wenn aber dem Metaorganismus der Lebenden magische Kräfte
zugeschrieben werden, so müsste doch zunächst erst die genaue
Grenze gezogen werden, wo die Leistungsfähigkeit dieser aufhört
und eine Ergänzung der Erklärung durch Spirits nötig wird
Um diese von Hellenbach unterlassene Untersuchung anzustellen,
hat Aksakow sein zweibändiges Werk »Animismus und Spiritis-
mus« geschrieben. Dass ihm darin der versuchte Nachweis miss-
lungen ist, habe ich in einer besonderen Schrift*) dargethan;
Aksakow hat keinen Versuch gemacht, meine eingehende Wider-
legung zu entkräften, sondern den Text seiner ersten Auflage
in seiner zweiten Auflage und in der französischen Ausgabe unver-
ändert abgedruckt Der Beweis darf demnach bis auf weiteres
als nicht geführt gelten. Damit fällt aber auch die Berechti-
gung hinweg, die Fortdauer des übersinnlichen Metaorganismus
über den leiblichen Tod hinaus zu behaupten, d, h. der ganze
transcendentale Individualismus verliert sein Fundament
Alles Lebendige erhält seine Form im beständigen Wechsel
des Stoffs, durch Mauserung seiner materiellen Bestandteile: das
wird also auch vom Metaorganismus gelten müssen. Alles Leben-
dige durchläuft in seiner Form einen CykJus von Phasen, die mit
dem Keim beginnen und mit der Auflösung im Tode enden.
Auch dem Metaorganismus muss eine solche Abwandlung von
♦) »Die Geiiterhypothcfte des Spüiti«mu3 und iclne Plumtome.«
von Hellenbach.
Phasen zugeschrieben werden, da er allmählich entsteht und mit
jeder neuen Inkorporation seine Form um den kapitalisierten
Niederschlag neuer Lebenserfahrungen bereichert. Sollte da nicht
auch im Leben des Metaorganismus auf den aufsteigenden Teil
des Gesamtlebenslaufes ein absteigender folgen und der ersten
Entstehung eine letzte Auflösung folgen? Kann der Metaorgani^
mus» der den Tod vieler Zellenleiber überdauert, mehr verbürgen
als eine relativ längere Lebensdauer der Seele, die ebensogut wie
das Leben jedes Zellenleibes mit dem Tode endet, wenn auch erst
später? Und kann bei der Relativität aller Zeitmasse der vor-
läufige Fortbestand des Metaorganismus über den leiblichen Tod
hinaus mehr bedeuten als eine Galgenfrist? Paulus darf den
pneumatischen Leib *unverweslich<: nennen, weil er weder auf
Formenabwandlung noch auf Stoffwechsel, weder auf die Ent-
stehung desselben aus Atomen noch auf die Möglichkeit seiner
Wiederauflösung durch Disgregation der Atome Rücksicht zu
nehmen hat Hellen bach aber, der naturwissenschaftlich denken
will, muss auch den Metaorganismus aus naturwissenschaitltcheo
Gesichtspunkten betrachten, d. h, für verweslich haltecu Für
Paulus ist der pneumatische Leib nur eine wunderbare Bekleidung
der unsterblichen Seele» für Hellenbach ist er die Seele selbst,
so dass mit ihm auch die Seele sich auflöst
Wem kommt schliesslich die gewonnene Galgenfrist zu Gute?
Nicht dem Ich, nicht der Kontinuität des persönlichen Selbst-
bewusstseins, nicht der menschlichen Persönlichkeit als solchen :
denn diese sterben mit dem Zellenorganismus, an dem sie haften.
Nur dem Metaorganismus und dem transcendentalen Individual-
geiste, der als Sumraationsphänomen aus den Innerlichkeiten der
Atome resultiert, die den Metaorganismus zusammensetzen. Wäre
die Seele an sich unbewusst und gewänne erst durch den ZeUen-
leib ein Bewusstsein, so könnte man sagen, dass nur das Be-
wusstsein des Individualgeistes stirbt, dieser selbst aber mit dem
Metaorganismus fortlebt; dann wäre auch die Einheit des unbe-
wussten Individualgeistes mit dem ihm durch den Zellenleib zu-
wachsenden Bewusstsein verständlich. Aber dann wäre ja der
Metaorganismus überflüssig. Soll dieser irgend eine Bedeutung
haben, so muss sie darin liegen, dass er ein zweites Bewusstsein
hinter dem des Zellenleibes ermöglicht und diesem zweiten Be-
wusstsein die Kontinuität über die vielen Wiederverkörperungen
TOn HeUenbicIl.
56 r
hinaus verbürgt. Dieses zweite Bewusstsein kann Hellen bach
auch darum nicht entbehren, weil er eine unbewusste Intelligenz
für unmöglich hält, also die zweckmässigen Wirkungen des
organisierenden Princips auf eine transcendentale bewusste Intelli-
genz zurückführen muss.
Das hat aber den Nachteil, dass das zweite» kontinuierliche
Blbstbewusstsein des Metaorganismus zu einer zweiten Persön-
lichkeit auswächst, die mit der ersten des Zellenleibes, dem Ich.
licht mehr zu vereinigen ist, sondern ihm als ein *Du« gegen-
übersteht Der Individualgeist geht in zwei selbstbewusste Per-
sönlichkeiten aus einander, eine sterbliche und eine unsterbliche.
deren eine von der anderen magisch besessen ist. Das zweite,
transcendentale Selbstbewusstsein mag in das erste, phänomenale,
leiblich vermittelte, hineinschauen; dieses kann jedenfalls nicht in
jenes hineinblicken und weiss von ihm nur indirekt als von einem
fremden. Der Egoismus kann sich mithin nur auf das unmittel-
bar bekannte Ichbewusstsein beziehen, aber nicht auf das trans-
cendentale Selbstbewusstsein des Metaorganismus, das ihm als
Dämon, Genius, Fravashi, Schutzgeist, Schutzengel, aber jedenfalls
als ein ebensosehr anderes Individuum gegenübersteht, wne irgend
eine andere lebende Person oder ein Künstler oder Schriftsteller
vergangener Zeiten, oder ein Engel der himmlischen Heerscharen.
Ob dieser transcendentale Individualgeist. der sich in meine Ange-
legenheiten einmengt, nach meinem Tode fortlebt oder stkbt,
geht mich um nichts mehr an, als ob irgend eines jener anderen
genannten Individuen fortlebt oder gestorben ist.
Ob jener Geist von meinem Leben Nutzen oder Nachteil hat,
kann mich nicht mehr interessieren, als ob irgend ein Engel aus
meinem Handeln Gewinn oder Verlust erleidet, und dies kann
schwerlich ein stärkeres Motiv zum sittlichen Handeln für mich
werden, als ob andere Menschen von meinem Thun Förderung
oder Schaden erleiden. Auch ob der Dämon erfahrener und
tüchtiger wird, kann mich nicht mehr bekümmern, als dass die
Menschen, zu denen ich in wahrnehmbarer Beziehung stehe,
erfahrener und tüchtiger werden. Der Begriff des transcendenten
Egoismus ist nur da an^vendbar, wo das Ich meiner eigenen
Persönlichkeit nach dem Tode erhalten bleibt, aber nicht da, wo
es stirbt und ein anderes mir unbekanntes Ich, das nicht mein Ich
ist, erhalten bleibt* Eine Ethik, die den Egoismus benutzen will.
B. t, U&rtiDaaii, Au»s^w. Werke. Bd. XII. 36
502
von HeUenbicb.
um den Menschen in den Dienst jenes tran&cendentalen Indi\*idual-
geistes zu stellen, mutet dem Egoismus zu, dass er ein anderes
Ich für das seinige hält, beruht also auf einem offenkundigen
Widerspruch. Der ganze abersinnliche Materialismus entspringt
aus dem egoistischen Verlangen, das Leben des eigenen Ich über
den Tod hinaus gesichert zu wissen, und sei es auch nur um eine
Galgenfrist. Die Durchführung des übersinnlichen Materialismus
zeigt aber, dass der Egoismus dabei doch um das Ziel seiner
Sehnsucht geprellt wird; denn statt seines Ich ist es ein anderes
Ich, das fortlebt. —
Der übersinnliche Materialismus oder transcendentale Individua-
lismus ist darum eine wichtige Etappe der metaphysischen Ent-
wickelung, weil er zum ersten Male den übersinnlichen Leib nicht
bloss naiv realistisch als selbstverständliches Zubehör der LTnsterb-
lichkeit denkt, sondern mit klarem Bewusstsein die Konsequenz
der materialistischen Wahrheit zieht, dass ein bewusstes Geistes-
leben nur auf leiblicher Unterlage möglich ist. Der Versuch
scheitert daran, dass ein anderer Leib auch nur einem anderen
Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Ich, persönlichen Geistesleben als
Grundlage dienen kann. Ohne Leib kein bewusstes Geistes-
leben, mit anderem Leibe eine andere Persönlichkeit; über diese
Alternative ist nicht hinauszukommen. Da ihre beiden Seiten
für die Hoffnung einer persönlichen Fortdauer gleich tödlidi
sind, muss diese Hoffnung, soweit sie egoistischer Natur ist, wohl
überhaupt begraben werden.
Egoistisch ist der Selbsterhaltungstrieb, die instinktive Todes-
furcht, das Verlangen nach Glückseligkeit und eigenem Lebens-
genuss über den Tod hinaus und der Drang nach unbegrenzter
persönlicher Vervollkommnung durch Selbsten t Wickelung. Streift
man diese Motive ab, so bleibt nur die Idee der individuellen
Vervollkommnung und Weiterentwickelung ohne Beziehung auf
das eigene Ich übrig, sei es, dass sie an die Stelle einer geleug-
neten oder bezweifelten Universalentwickelung tritt, sei es, dass
sie nur eine Ergänzung zu ihr bildet. Der konkrete Monismus
braucht keine Ergänzung zur Universalentwickelung, weil das in
allen Individuallebensläufen thätige Subjekt ein und dasselbe ab*
solute Subjekt ist. Der Individualismus hat es weit schwerer, an
ein Zusammenwirken aller Individuen zu einer gemeinsamen Ge-
samtentwickelung zu glauben. Da seine Substanzen in den vielen
du Ptel.
563
Individuen stecken, so muss auch die Entwickelung von ihm zu-
nächst und hauptsächlich, wenn nicht gar ausschliesslich in einer
individuellen Entwickelung- gesucht werden» wenn sie nicht gänz-
lich geleugnet wird. So erscheint die individuelle Entwickelung
über den Tod hinaus zwar als eine dem pluralistischen Indi\idualis-
mus nahe liegende Idee, aber als eine solche, die überflüssig wird,
sobald man von ihm zum konkreten Monismus übergeht, und für
die selbst auf dem Boden des Individualismus keine Möglichkeit
einer Realisierung nachgewiesen werden kann. —
Du Prel (1839 — 1899) ging ebenfalls von Schopenhauer aus
und gelangte nach Arbeiten, die sich teils auf Darwins Auslese
im Kampf ums Dasein, teils auf Ernst Kapps Erklärung des
Werkzeugs durch unbewusste Projektion von Leibesorganen
stützten, zu einem transcendentalen Individualismus. Das erste Buch,
in welchem er diesen Standpunkt öffentlich vertrat (»Philosophie
der Mystik*, 1884/85) verfasste er jedoch erst, nachdem er die
Hauptwerke Hellenbachs kennen gelernt hatte. In diesem Buche
sucht er den transcendentalen Individualismus nicht aus dem
Spiritismus, sondern aus dem Somnambulismus zu begründen;
in seinen späteren Werken aber stützt er ihn, ebenso wie Hellen-
bach, auf den Spiritismus. Während jedoch Heüenbach sich vor-
zugsweise auf selbst erlebte Thatsachen beruft» arbeitet du Prel,
ähnlich wie Perty, und mit gleich wenig Kritik, auf das Fleissigste
die ältere und neuere okkultistische und spiritistische Litteratur
durch. Im allgemeinen deckt sich der Standpunkt du Preis mit
demjenigen Hellenbachs, so dass die Kritik des letzteren auch auf
den ersteren passt. Es bleibt nur übrig, die vorhandenen Unter-
schiede zu beleuchten.
Wenn Hellenbach sich zuerst für die vierte Dimension be-
geistert hatte, später aber die Frage, ob der transcendente Raum
n oder o Dimensionen habe, in der Schwebe gelassen hatte, so
hält auch du Prel diese Frage offen. Während aber Hellenbach
der Zeit transcendente Geltung zugeschrieben hatte, sucht du Prel
einen Unterschied zwischen der transcendenten und bewusstseins-
immanenten Zeit dadurch zu konstruieren, dass er der ersteren ein
c-transcendentales Zeitmass^ zuschreibt. Schon in seiner Dissertation
hatte er Kants transcendentale Idealität der Zeit dadurch be-
weisen zu können geglaubt, dass im Traum und ähnlichen Zu-
iden bisweilen eine reissend schnelle Bilderflucht eintritt (d. h.
36*
564
du PrtU
die oorxnale Geschwindigkeit des Vorstellungsablaufs sich di
Hirnhyperästhesie steigert). Wie zwei Zeitabläufe mit versdue-
dener Geschwindigkeit in einem und demselben Weltprozess Platz
iänden, und wie ihre Wechsel w^irkung sich gestalten solle, hat er
unerörtert gelassen. Trotzdem eine rein physiologische Erklärung
der Erscheinung ausreicht, hat er an der Verwechselung^ eines
relativ rascheren Ablaufs der Hirnprozesse mit einer andersartigen
Beschaffenheit der transcendenten Zeit hartnäckig festgehalten.
Hellenbach denkt soweit physiologisch, dass er das Gredächtois
auf organische Eindrücke zurückführt; du Prel dagegen denkt
mystisch, indem er diese Erklärung verwirft und statt üirer die
Aufbewahrung der Gedächtnisvorstellungen in einem leibfireiea
transcendentalen Bewusstsein annimmt, ja sogar die Unentbd»"-
lichkeit dieser Erklärung für einen Bew^eis der Eidstenz eines
leibfreien transcendentalen Bewusstseins hält. Bei Hellenbach
stützt sich das Gedächtnis des transcendentalen Bewusstseins tu/
materielle Veränderungen im Metaorganismus, ebenso wie das*
jenige des gemeinen Bewusstseins auf solche im Zellenleibe. Du
Prel verwirft aber die physiologische Erklärung deshalb, weO €t
der Materie ein Fassungsvermögen für so viele Spuren nicht lü-
trauti muss sie also für den Metaorganismus und den Zellenleib
aus demselben Grunde verwerfen. Das Latentwerden einer Vor-
stellung für das gemeine Bewusstsein bedeutet nach ihm ihr
Aktuellbleiben im transcendentalen Bewusstsein, in welchem nichts
vergessen w^erden kann. Das transcen dentale Bewusstsein um-
schliesst demnach die gleichzeitige Aktualität aller im Leben auf-
genommenen Vorstellungen, z. B. aller jemals gehörten Musik-
stücke. Während sein Inhalt bei Hellenbach ganz auf dem
Metaorganismus und dem in ihm kapitalisierten Schatz der eiD*
pfangenen und verarbeiteten Eindrücke beruht, findet er bei du
Prel an dieser materiellen Grundlage keine Stütze, sondern ist
auf die eigene stetige Aktualität angewiesen.
Aber man darf nicht etwa daraus folgern, dass du Ptel auf
ein immaterielles transcen dental es Bewusstsein hinaus will, vdelixiclff
huldigt er dem übersinnüchen Materialismus in noch viel ent-
scMedenerer Weise als Hellenbach. Bei beiden ist der Metaorg^iis-
mus die Seele selbst, und alle seelische Thätigkeit eine Funktion
des Metaorganismus. Indessen ist der Metaorganismus bei Hellen-
bach zw^ar materiell, aber nicht stoflFHch. d. h, die ihn zusammen-
du Prcl.
565
setzenden Atome sind unstojfFliche Kräfte; bei du Prel dagegen
ist er selbst ebensogut stofFlich wie dynamisch, nämlich eine
objektiv untrennbare Einheit von Stoff und Kraft. Für Hellen-
bach ist der Stoff bloss eine subjektiv ideale Erscheinung im
Bewusstsein« die durch das unstofFliche Dynamidensystem der
Dinge an sich hervorgerufen wird; für du Prel hat der Stoff eine
transcendentrcale Existenz, allerdings nur in Verbindung mit der
Kraft, von der er nur durch Abstraktion getrennt werden kann.
Du Prel steht also in Bezug auf Stoff und Kraft genau auf
dem Standpunkt Büchners, nur dass er einen phantasiemässig
ins Übersinnliche hinaus projizierten sinnlichen Stoff, Büchner
aber diesen sinnlichen Stoff selbst meint; du Prel fällt also tief
unter den von Hellenbach erreichten metaphysischen Standpunkt
hinunter, nämlich vom rein dynamischen Materialismus auf einen
stofflichen oder genauer: stofflichen und dynamischen Materialis-
mus, ist aber eben darum den Laien, die vom naiven Realismus
und sinnlichen Materialismus herkommen » so \riel zusagender und
verständlichen Seine Bekämpfung des Materialismus ist demnach
nichts weiter als eine Bekämpfung des sinnlichen Materialismus
durch einen ganz ebenso naiven, aber desto phantastischeren und
abergläubischeren übersinnlichen Materialismus. —
Du Prel nennt alles i^transcendental«, was nicht oberhalb der
Schwelle des wachen, normalen Bewusstseins liegt, also z. B» das
Traumbewusstsein des gewöhnlichen und des durch narkotische
Mittel erzeugten Schlafes, das somnambule Bewusstsein ersten
Grades in der gewöhnlichen Hypnose, das somnambule Bewusst-
sein zweiten Grades im hypnotischen Hochschlaf oder Tiefschlaf,
das alternierende Bewusstsein bei gewissen Zuständen geistiger
Störung, das zur Sonderung von zwei und mehr getrennten Per-
sonen in demselben Individuum führen kann u. s. w. Alle diese
verschiedenen Bewusstseinssphären, die hinter und unter dem nor-
malen wachen Bewusstsein liegen, fasst du Prel in eine zweite
Persönlichkeit oder ein zweites Selbstbewusstsein zusammen,
obwohl sie unter einander mindestens ebenso sehr geschieden sind
we jedes von ihnen vom wachen Bewusstsein. Er behauptet auf
Grund dieser Zusammenfassung einen Dualismus der Persönlichkeit
im Individuum, während er doch nur von einem Pluralismus der
Personen reden dürfte ^ dessen Zahl weit über die Zwei hinausgeht.
Er übersieht dabei, dass die verschiedenen Unterbewusstseine von
566
du Prel.
dem normalen Bewusstsein nicht schlechthin getrennt, sondern
durch schmale Erinnerungsbrücken und erschwerte Associationen
verbunden sind , so dass der falsche Schein verschiedener Persön-
lichkeiten in einem Individuum nur da entsteht, wo durch krank-
hafte Decentralisation des Nervensystems diese Brücken zeitweilig
ungangbar geworden sind und die Associationen zwischen den
verschiedenen Bewusstseinen nicht mehr gelingen wollen.
Die Unterbewusstseine sind eine längst bekannte Thatsache;
das Überbewusstsein ist eine unverbürgte Hypothese, aber sein
thatsächlicher Bestand soll durch die falsche Identifikation mit
dem Komplex der Unterbewusstseine sichergestellt werden. Die
Unterbewusstseine haben einen sinnlich-bildlichen, reflexionslosen,
symbolischen, zur Personifikation geneigten Inhalt, und entbehren
in ihrer Bilderflucht der zielbewussten Leitung eines zwecksetzenden
Willens, und zwar in um so höherem Masse, je weiter sie sich
vom normalen wachen Bewusstseine entfernen. Das Überbewusst-
sein dagegen soll durchaus geistiger und zielbewusster Art sein,
denn es soll den Aufbau und die Heilung des Organismus
leiten, Inspirationen geben und dem gewöhnlichen bewussten
Geistesleben als Genius vorstehen. Die vielen Unterbewusstseine
gehören tieferen Stufen der Individualität als das normale Bewusst-
sein an, und ihr Hervortreten deutet auf den Eintritt einer Decen-
tralisation hin; das Überbewusstsein dagegen muss einer höheren
Stufe der Individualität angehören, denn es soll ja die vielen
Individualbewusstseine der verschiedenen Lebensläufe zu einer
höheren Bewusstseinseinheit zusammenfassen. Die vielen Unter-
bewusstseine sind ebenso wie das normale Bewusstsein an
physiologische Hirnfunktionen gebunden, wahrscheinlich sogatr an
die Funktion tiefer liegender Hirnteile;*) das Überbewusstsein
dagegen soll leibfi-ei in Bezug auf den sterblichen Zellenleib sein,
wenn es auch Funktion des übersinnlichen, unsterblichen Meta-
organismus ist. Die Unterbewusstseine deuten atavistisch zurück
auf tiefere Stufen der Organisation, aus denen die menschliche
sich entwickelt hat; das Überbewusstsein aber deutet nach vor-
wärts auf das hinaus, was aus dem Menschen weiterhin werden soll.
Bei diesen Gegensätzen ist es völlig unstatthaft, aus den das
*) Vergl. Prof. Th. Meynert: »Sammlung von populären wissenschaftlichen Vor-
trägen über den Bau und die Leistungen des Gehirns«, Wien, Braumüller, i8q2,
S. 218—225.
du Prel.
567
Unterbewusstsein bezeugenden Erfahrungen auf die Existenz eines
zellenleibfreien Überbewusstseins zu schliessen, bloss weil beide
^transcendentaU genannt werden, und Kant unter dem *trans-
cenden taten Subjekt* etwas oberhalb des empirischen Subjekts
Belegenes verstanden hat. Dass die uns aus den Unterbe^vusst-
seinen bekannten bewussten Seelenthätigkeiten es nicht sind, die
den Organismus bauen, erhalten und heilen, ist wohl sicher. Die
Frage, ob die bauenden, erhaltenden und heilenden Thätigkeiten
einem Überbewusstsein als bewusste angehören, oder ob sie als
absolut unbewusste aufzufassen sind, kann dadurch ihrer Lösung
aicht näher geführt werden, dass man den Inhalt der Unter-
bewusstseine untersucht. Die ausnahmsweise überraschenden Leis-
tungen der Unterbewusstseine stammen teils aus der Verengerung
und Koncentration des Gesichtskreises, teils aus einer Hyper-
ästhesie der funktionierenden Hirnteiie, die das Erwachen schwacher
Erinnerungen und die Leichtigkeit der Association ebenso be-
günstigt, wie den Eintritt von Inspirationen, Woher diese Inspi-
rationen stammen, ob aus absolut unbewusster Geistesthätigkeit
oder aus dem individuellen Überbewusstsein, bleibt dabei offene
Frage, —
Du Prel begnügt sich nun aber nicht damit, das leibgebundene
Unterbewüsstsein mit dem leibfreien Überbewusstsein zu iden-
tifizieren, sondern er identifiziert weiterhin das »transcendentale
ßewusstsein* mit dem »transcendentalen Subjekt«, d. h. die Thätig-
keitssphäre mit dem Thäter, die Funktion mit ihrem Träger, Da
letzteres das metaphysische Wesen selbst ist, so erklärt er den
Somnambulismus (d. h, das Studium der Unterbewusstseine) für
die Eingangspforte zur Metaphysik, Es ist aber offenbar leichter,
von der bekannten normalen bewussten Geistesthätigkeit auf ihren
Träger oder das in ihr thätige metaphysische Subjekt zurückzu-
schliessen, als von einer hypothetischen überbewussten oder unter-
bewussten Geistesthätigkeit auf deren Träger, und keinenfalls kann
die Seitwärtsbewegung von einer Bewusstseinssphäre zu einer
anderen dazu beitragen, sich dem Subjekt zu nähern, das gleich-
massig hinter und über allen steht
So wenig du Prel die Existenz eines individuellen Überbe-
wusstselns hat glaubhaft machen können, ebensowenig hat er
irgend einen Grund dafür üu erbringen vermocht, dass das Subjekt
eines solchen etwaigen individuellen Überbewusstseins numerisch
568
du Ptel*
identisch sei mit dem Subjekt des normalen Bewusstseins, Vom
Standpunkt des Monismus, d. h. der Einheit des absoluten Subjekts
in allen Individuen wäre ja auch die Einheit des Subjekts des
Überbewusstseins mit dem des normalen Bewusstseins selbstver-
ständlich; aber vom Standpunkt des Individualismus ist sie es gar
nicht, sondern bedarf sehr des Beweises, ehe sie behauptet werden
darf Du Prel aber behauptet sie ohne jeden Beweisversuch und
nennt den Menschen ein Amphibium höherer Art, monistisch als
Subjekt, dualistisch als Person. —
Einen Monismus des Naturganzen über der Vielheit der
Individuen giebt zwar auch du Prel als unentbehrlich zu, lässt
sich aber auf eine nähere Erörterung d^selben nicht ein, die
offenbar seinen transcendentalen Individualismus umstossen müsste.
Wenn er seine Seelenlehre ^monistischt und überhaupt seinen
Standpunkt »Monismusc nennt, so meint er damit nicht einen
Gegensatz zum ontologischen Pluralismus der Individualsubstanzen,
sondern zum Cartesianischen Dualismus, also das. was man sonst
Identitätsphilosophie nennt. Die Behauptung, dass es nur eine
einzige Art von Substanz gebe, sucht er dadurch zu sichern, dass
er die Substantialität des Geistes leugnet und nur diejenige des
Stoffes anerkennt, ähnlich wie Häckel die Einzigkeit des Weil-
gesetzes dadurch herstellt, dass er die Teleologie leugnet und nur
die Kausahtät gelten lässt. Der Geist ist in du Preis Augen
bloss eine Funktion des Stoffes, die Seele ein räumlich-stoffliches,
geformtes und gegliedertes Ding, nur aus dünnerem und feinerem
Stoffe als der Leib, Damit sinkt er auf die kindliche Anschau-
ungsweise der Naturvölker zurück; für ihn hat die gesarate
Erkenntnistheorie und Metaphysik vergebens daran gearbeitet,
diesen naiven Realismus zu überwinden* Aber dem gefilrchteten
Dualismus entgeht er darum doch nicht, denn er trägt ihn in die
materielle Substanz selbst hinein in Gestalt des Gegensatzes von
Stoff und Kraft. Der Stoff als solcher kann nicht geistig fiink*
tionieren. sondern nur als kraft begabter vermittelst seiner Kräfte,
Statt der versprochenen Einheit haben wir also wieder wie bei
Büchner doch nur die Verkuppelung Zweier, deren Verhältnis. Zu-
sammengehörigkeit und Verbindungsweise völlig unklar bleibt*) —
*) Vgl, »Moderne Probleme , 2, Aufl., No. XV» S. 207 — 277; »Phil, des Unbe-
wttsstcn^, 10- Aufl., Bd. n, S, 468, 519—521; »Der SpmdsmM», 2. AbA. ; »Die
Geistethypotbese de« Sptritumus und seine Phantome«.
Hellenbach und du Prel gelten den deutschen Spiritisten als
diejenigen, welche ihrer Weltanschauyng eine philosophische
Grundlage gegeben haben. Mit diesem spiritistischen transcen-
dentalen Individualismus in Deutschland traf eine verwandte
Strömung zusammen, die angloindische Neotheosophie, die
in der international verzweigten >theosophischen Gesellschaft« ihre
Vereinsorganisation hat. Diese nimmt aus der Sankhyalehre die
substantielle Selbständigkeit des Individuums, aus dem Buddhis-
mus das Karma oder das Gesetz der substantiell fortbestehenden
Summe von Schuld und Verdienst des Individuums als des Be-
stimmungsgrundes für das Schicksal der künftigen Lebensläufe
aus der brahmanischen Vedantalehre ein müssig im Hinter-
grunde liegendes abstrakt Eines Sein als einheitlichen Weltgrund.
aus allen zusammen den absoluten Illusionismus des Majaschleiers
und den Aberglauben an Dämonen, Naturgeister und allerlei
Spuk. Diese einander widersprechenden Bestandteile werden zu
einer Weltanschauung zusammengesetzt, die der christlichen eben-
so überlegen sein soll, wie der abendländischen Wissenschaft.*)
Die mehrfach erwähnte Hinneigung zu Indien bei Schopenhauer
und seinen Schülern erleichterte die freundliche Beziehung zwischen
dem deutschen transcendentalen Individualismus und dieser anglo-
indischen Neotheosophie. Der ganze Vorgang erinnert an die
Einwanderung orientalischer Kulte ins römische Reich beim
Niedergange des Glaubens an die alten heimischen Götter.
Als in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten das Be-
wusstsein von dem Werte des Individuums erwacht war (neuere
Psalmen, Epikureismus, Stoicismus), da wollte der Egoismus sich
nicht mehr mit der schattenhaften Existenz im Hades begnügen, und
die freien Männer strömten zu den Mysterien. Wenn daselbst auch
für die niederen Grade der Eingeweihten theatralische und sym-
bolische Schaustellungen genügen mussten, so suchten doch die
höheren Grade ihre Sehnsucht nach Fortdauer zweifellos mit
spiritistischen Sitzungen zu nähren und ihren Glauben zu kräftigen*
Aus dem Kampf ums Dasein der vielen verschiedenen Mysterien
ging zuletzt das Christusmysterium (vgl. Col. i, 26 — 27; 4, 3) als
Sieger hervor, teils weil es sich an alle Geschlechter und Stände
•) »PhÜoiOphisdie Fragen der Gegenwart«, No. IX; ilndische Gnosis oder Gc-
heimlehre«, S* 179—306.
ejO Der selbstherrliche Individualismus oder die Apotheose des Egoismus.
wandte, teils weil es so einfach war. Die Auferstehung Christi
war die Bürgschaft für die der Seinen (Col. 2, 12 — 13; 3, i und 4).
Seit nun aber die überlieferten Zeugnisse für die leibliche Auf-
erstehung Christi vor dem Richterstuhl der modernen historischen
Kritik sich als unzulänglich erwiesen haben, um diesen Glauben
zu stützen, ist das Wort des Paulus in Kraft getreten: wenn
Christus nicht auferstanden ist, so ist unser Glaube eitel. Da
greift die unsterblichkeitsdurstige Masse wieder zurück nach den
Beweismitteln, die in den antiken Mysterien den Glauben be-
kräftigen sollten, hüllt sie in ein pseudowissenschaftliches Män-
telchen und holt den phantastischen Aufputz noch etwas weiter
her als die Alten, nämlich aus Indien. In dem Masse, als der
christliche Unsterblichkeitsglaube wankend wird, muss die indische
Lehre der Metempsychose, Reinkarnation oder Wiederverkör-
perung an ihre Stelle treten in allen den Kreisen, in welchen
der Egoismus noch üppig genug wuchert, um sich auch als trans-
cendenter Egoismus geltend zu machen und für seine Selbst-
behauptung den transcendentalen Individualismus zu fordern. Dass
er damit sich selbst täuscht und sein Ziel verfehlt, haben wir be-
reits bei der Kritik Hellenbachs gesehen. —
Da der Egoismus die treibende Kraft des Individualismus ist.
sowohl der individualistischen Willensmetaphysik, als auch des
transcendentalen Individualismus, so muss er sich schliesslich auch
als solche enthüllen, damit das bisher bloss verschleiert zu Grunde
liegende Princip in seiner ganzen Nacktheit und Blosse zu Tage
tritt. Denn jedes Princip muss rücksichtslos bis in seine letzten
Konsequenzen durchgeführt werden, damit man erkennt, was mit
ihm zu erreichen ist und was nicht, und wohin man gelangt, wenn
man sich ihm anvertraut.
d. Der selbstherrliche Individualismus oder die Apotheose
des Egoismus.
Diese Wendung hatte sich bereits im Anfang des 19. Jadir-
hunderts im Anschluss an I. G. Fichte durch Friedrich Schlegel
vollzogen, der die Freiheit der dichterischen Phantasie aus dem
ästhetischen Schein in das wirkliche Leben übertragen wollte.
Aber damals galt das als eine vorübergehende Verirrung der
Romantik, die von ihrem Urheber selbst später verleugnet wurde.
Um die Mitte des Jahrhunderts tauchte dann aus der Zersetzung
Fr, Schlegel.
der Hegeischen Schule der politische und soziale Anarchist Stirner
als einer der Vorboten der Revolution auf, der es ernst meinte,
der aber wie ein Meteor wieder verschwand, weil die Zeit für
seine Wirksamkeit noch nicht gekommen war. Gegen Ende des
Jahrhunderts endlich zog Nietzsche die letzten Konsequenzen des
selbstherrlichen Ich und wurde dadurch zum litterarischen Haupt-
vertreter der decadence fin de siecle.
Fr. Schlegel (1772 — 1829) verwirft die Doppelheit und
Sonderung des absoluten Ich vom empirischen bei Fichte als
einen Dualismus, der Spekulation und Leben ausein anderreisst.
Denn nicht nur im Philosophen waltet das absolute Ich, sondern
auch in dem Dichter, weil nach Fichte die Kunst den transcenden-
talen Gesichtspunkt zum gemeinen macht. Wer wahrhafter Philo-
soph oder Dichter ist, der hat den Gegensatz des absoluten und
empirischen Ich überwunden; wer es nicht hat, der gehört zu den
Rohen, Platten, Gemeinen Schon nach Schilber macht die ästhe-
tische Auffassung frei von der Sklaverei des Sittengesetzes; es
giebt keine andere Tugend als Genialität, die alles adelt Im
theoretischen Gebiet ist die Schranke der besonderen Individualität
absolut und darum das Ich bloss relativ; das praktische Ich aber
ist selbst das absolute, indem es das Empirische bestimmt. Es
giebt also keine Schranken, als die das Ich sich selbst gesetzt
hat, mithin auch keine, die es nicht selbst wieder aufheben könnte.
Das Ich ist die absolute Macht, die alles schaflFt; es ist aber
auch ebenso die Macht, das GeschaflFene wieder zu vernichten.
Nur muss es irgend welche Schranken doch wieder herstellen,
um Ich zu bleiben. Deshalb ist die Anstrengung des Wirkens,
Ringens und Arbeitens doch schliesslich zwecklos, und der Müssig-
gang, die gottähnliche Kunst der Faulheit nach Art der griechischen
Götter, oder das schöne Vegetieren der Pflanze erscheint als das
Höhere. Aber es ist etwas im Gemüt unvergänglich: die Sehn-
sucht ujLch der ewigen Jugend und das Suchen nach ihn Im
Suchen selber der Sehnsucht findet der Mensch allein die Ruhe, die
Einheit von Schaffen und Faulheit. In ihr liegt das Göttliche,
das nicht ausser dem Ich gesucht werden darf, sondern in seinem
dgenen Wesen. Welcher Gott kann dem Menschen ehrwürdig
»in, der nicht sein eigener Gott ist? Jeder Gott, den der Mensch
sich nicht selbst gemacht hat, ist ein Abgott. In diesem Sinne
ist die Religion ein Produkt der Freiheit; denn das Ich ist sn
sich selbst zum Absoluten geworden, und die Moralisten haben
unrecht, dem hierher Gelangten Vorwürfe über Egoismus tu
machen.
Für den Genialen giebt es nichts Heiliges, weil es
keine Schranke giebt, die er nicht gesetzt hätte» und über
die er sich nicht hinwegsetzen könnte; er ist frei von jeder Sitte
und Gesetzlichkeit. Er verfolgt niemals einen Zweck mit Ernst,
weil er weiss, dass alle Zwecke eitel sind. In der Erhebung über
alle Schranken und Rücksichten wird er sich seiner Unendlichkeit
negativ bewusst. positiv, indem er diese seine Freiheit geistig und
sinnlich geniesst. Aber er nimmt sich selbst in keinem Augen-
blicke ernst, weil er keinen Zweck ernst nimmt; er spielt mit
sich ebenso wie mit der Welt, und nur dieses freie Spiel ist ihm
ernst. Die Genialität äussert sich darum als Humor, d. h- als
ein Schillern zwischen Ernst und Scherz, das stets denjenigen
täuscht, der es für eines von beiden mit Ausschluss des andern
hält. Die auflösende und paradoxe Seite dieses genialen Humors
aber, die am meisten in die Augen fällt, stellt sich als Ironie dar.
und darum ist die Ironie zu dem Stichwort geworden, unter
welchem die Schlegelsche Lehre fortgewirkt hat. Der Schellin-
gianer Solger hat sich sogar bemülit. die Ironie für den
Umschlag der Idee der Schönheit in die Idee Gottes zu ver-
werten, ohne damit Anerkennung zu finden.
Diese Übersteigerung des empirischen Ich zur Absolutheit
war eine Widerspiegelung der Ausschreitungen der französischen
Revolution in der deutschen Litteratur, welche damals noch die
Neigung hatte, ihre Strömungen philosophisch zu begründen.
Schlegel vertrat diesen Standpunkt in seinen Schriften von 1798
bis 1801, modifizierte ihn aber schon in seinen von 1803 — 180Ö
gehaltenen Vorlesungen, und kehrte ihn in den Vorlesungen
seiner letzten Lebensjahre in das Gegenteil um. Mit der Rückkehr
der Romantik aus dem revolutionären Sturm und Drang in die
Bahnen der Restauration verschwand auch Schlegels Evangelium
des selbstherrlichen, aller Schranken spottenden Ich, und ihr
Urheber selbst flüchtete sich vor den Verirrungen seiner Jugend
in den philosophischen Theismus und in den Schoss der allein
selig machenden Kirche, ohne mit diesem späteren Standpunkt
irgend welchen Einfluss auszuüben. Von geschichtlicher Be*
deutung ist nur sein erster Standpunkt, der des selbstlierrlichen
Sünici
573
Individualismus; denn dieser sollte noch zweimal seine Auf-
erstehung feiern. —
Als die Linke der Hegeischen Schule zu revolutionären Ten-
denzen hinneigte, wurde mit dem, was bei Schlegel ästhetische
Ironie gewesen war, bittrer Ernst gemacht. Rüge bekämpfte vou
1840 an den aristokratischen Geniekultus von Strauss im demo-
kratischen Interesse und überhaupt alle Romantik als den Stand-
punkt der fixen, d. h. der festgewordenen, obwohl durch den Pro-
testantismus überwundenen Idee. Feuerbach war 1841 — 1843 be-
,reits dazu gelangt» nicht mehr die vernünftige Idee des Menschen,
andern den leiblichen, sinnlich gegebenen Menschen als den wahr-
haft wirklichen, und die Glückseligkeit als seine Bestimmung an-
zusehen, hatte aber noch nicht Zeit gefunden, seine abstrakt
rationalistische Humanitätsreligion und Humanitätsmoral auf
Grund dieser sensual istischen Wirklichkeitsphilosophie umzu-
gestalten. Die französischen Sozialisten Louis Blanc und Proud-
hon hatten in Deutschland an Weitling einen Nachfolger gefunden;
auch Marx hatte seine schriftstellerische Thätigkeit bereits er-
öffnet. Edgar Bauer verwarf nicht nur jede Staatsform, sondern
auch Gesellschaft, Nationalität, Ehe und Privatbesitz, um den
Menschen von allen Fesseln gelöst, frei auf sich selbst zu stellen»
In der »reinen, freien Kritik: Edgars und Bruno Bauers hat die
negative Seite der Hegeischen Dialektik sich von ihrer positiven
Ergänzung abgelöst und ist zur alles zersetzenden Sophistik ge-
worden, deren Spiel das Subjekt im Interesse der Wahrheit ruhig
und heiter zuscliaut. —
Stirn er (richtig Schmidt. 1806 — 1856), der von Bauer per-
Snlich stark beeinflusst war, stellte sich die Aufgabe» das Hegel-
le Ideal des Vernunftstaats, das sozialistische Ideal der kommu-
nistischen Arbeitsgesellschaft, das Feuerbachsche Ideal der all-
gemeinen Humanität und das Bauersche Ideal der in der >reinen
Kritik«^ zur Geltung kommenden unpersönlichen Wahrheit gleich-
massig als unhaltbar zu erweisen und auf den Trümmern aller
zerstörten Ideale dem souveränen Ich seinen Thron zu errichten.
Er stützt sich dabei ebenso wie Schlegel auf das Fichtesche Ich,
d. h. auf das empirische Selbstbewusstsein , dass er mit Schlegel
und Feuerbach zum Absoluten erhebt, so dass die Fichtesche
Unterscheidung zwischen empirischem und absolutem Ich ver-
schwindet. Wohl aber hält er den Unterschied zwischen schaf-
fendem und geschaffenem Ich fest. Das letztere ist selbsbewusst
und durch das mitgeschaflFene Nichtich begrenzt, also nicht ab-
solut; das erstere ist alles in Allem, der Schöpfer sowohl des
selbstbewussten Ich als auch des Nichtich, aber es ist auch nicht
selbstbewusst oder bewusst, sondern gedankenlos wie im tiefsten
Schlafe oder Nachdenken, unsagbar, unaussprechlich, unaufeeig-
bar. unerreichbar liir das Wissen. Das schöpferische Ich gehört
weder zu der Welt der materiellen Dinge, noch zu der des (be-
wussten) Geistes, die ja beide nur seine Schöpfung sind; es ist
aber auch nicht Substanz, denn als solche wäre es unvergänglich
und unsterblich, woran Stimer nichts gelegen ist. Es ist vielmehr
der vergängliche, sterbliche Schöpfer seiner selbst; es ist Nichts,
und in seiner Selbst verzehrung bis zum Tode erweist es sich auch
als das Nichts, dass es ist. Anfang und Ende des Stirnerschen
Werkes lautet: Jch hab' mein' Sach* auf Nichts gestellt!*
Ich als schöpferisches bin schon Eigner der Welt der Dinge
und des Geistes, der Natur und der Weltgeschichte, denn alles ist
mein Geschöpf Ich als geschaffenes selbstbewusstes Ich bin
noch nicht Eigner der Welt, da das Nichtich mir als Schranke
gegenübersteht. Aber wie ich mich selbst beständig verzehre» so
auch die Welt, die ich als schöpferisches Ich immer neu schaffe.
Mir als geschaffenem, selbstbew^ussten Ich gehört jederzeit nur
soviel von der Welt, als ich mir von ihr aneigne, um den Hunger
meines Egoismus damit geniessend zu stillen. Wie Ich Schöpfer
und Eigner von allem bin, so auch der alleinige Massstab und
Wertmesser von allem, und darum schlechthin vollkommen.
Ich bin zwar als geschaffenes Ich wahrer und vollkommener
Mensch, als schöpferisches Ich aber zugleich mehr als Mensch,
und am (Feuerbachschen) Begriff des Menschen gemessen das
Unmenschliche: denn ich bin das allein Wirkliche, und alles
andere hat nur eine von mir abgeleitete Wirklichkeit Ich bin
nicht ein Ich neben anderen Ichs, sondern das alleinige ich, und
so erst der Einzige. Da die ganze Welt mein Geschöpf und
mein Eigentum ist, bloss dazu bestimmt, von mir verzehrt zu
werden, so kann ich mit ihr schalten wie ich will Recht, Sittlich-
keit, Heiligkeit haben für mich keinen Sinn, denn meinem Eigen-
tum bin ich nichts schuldig, und wenn es mir beliebt, es zu hüten,
so thue ich es meinetwegen und aus keinem andern Crrunde. —
Es giebt keine andere Motivation als eine egoistische; wo es
anders scheint, findet ein Besessensein von fixen Ideen statt,
die meist in der Kindheit und Jugend suggeriert worden sind.
Die Eigenheit oder innere Freiheit ist das Freisein von solchen
fixen Ideen, die die egoistische Motivation fälschen; die äussere
Freiheit dagegen ist ein unrealisierbares spukhaftes Phantom, weil
das geschaffene Ich immer von dem mitgeschaffenen Nichtich
begrenzt sein muss, um als selbstbewus&tes existieren zu können.
Staat, Gesellschaft und Humanität sind solche fixe Ideen, die
schlimmste aber ist die der unpersönlichen Vernunft oder objek-
tiven Wahrheit. Die Souveränität des Staates hebt die meinige
auf und stempelt ihre Bethätigung zum Verbrechen; das Gemein-
wohl der Gesellschaft steht Meinem Wohl im Wege und macht mich
zum eigentumslosen, mit allen anderen gleich entlohnten Lompen.
Die Idee der Humanität und allgemeinen Menschenliebe ist der
letzte Überrest der Gottesidee, die im Christentum zum Gott-
menschen wurde, von dem dann Feuerbach bloss den Gott
abstreifte. Der heilige Geist ist zum unpersönlichen Menschengeist
geworden; aber ein solcher existiert^ nur als Erscheinung in mir
und steht als solche auf gleicher Linie mit der Sinnen weit Geist
und Sinnlichkeit dürfen mich gleich wenig in der Gewalt haben;
sie sind erst mein eigen, wenn ich sie nach Gefallen befriedige,
wenn ich z» B. nur meinetwegen liebe, weil ich mich in der Liebe
geniesse.
Wer die Wahrheit sucht, der sucht den Herrn und Meister,
der ihn überwältigen und besitzen soll* Ich aber durchdenke die
Dinge nur, um sie mir anzueignen; ich finde in ihnen, was ich in
ihnen suche, und suche in ihnen, was ich gerade suchen will.
Mein Urteil ist um so unbefangener, je weniger es sich von den
Dingen imponieren lässt und je ungenierter es meinem Belieben
folgt. Jede Zeit findet eine andere Wahrheit, weil sie eine andere
sucht. Mir hilft es nichts, wenn die Gedanken frei sind, Ich aber
von ihnen beherrscht werde. Das absolute Denken ist dasjenige,
welches vergisst, dass es Mein Denken ist; mein »eigenes« Denken
wird dagegen von mir nach meinem Gefallen geleitet und ist die
rastlose dialektische Zurücknahme aller sich verfestigenden Ge-
danken im Dienste meines Willens. Der * reinen Kritik« ist die
Wahrheit das Kriterion» der »eigenenc bin Ich es. Als Eigner
von Allem bewähre ich mich, indem ich meinen Humor auch mit
den erhabensten Gedanken und Gefühlen spielen lasse. Jede
576
Stiraer.
Wahrheit ist mein Geschöpf, aber auch gleich nach dem SchOj>-
fungsakt mir bereits wieder entfremdet, Vernunft ist das Buch
der Gesetze, die gegen den Egoismus gegeben sind; wirklich ist
aber weder die göttliche noch die menschliche Vernunft, sondern
nur die Meinige. d. h, die egoistische Vernunft, welche vom Stand-
punkt der allgemeinen Vernunft »Unvernunft« ist.
So sind alle bisher als heilig geltenden Güter >entwertetf
und der nackte Egoismus an ihre Stelle gesetzt Das Wissen hat
sich zum Wollen umzugestalten, die Denkfreiheit der Willensfreiheit
im oben angegebenen Sinne Platz zu machen; in ihr werden die
»persönlichen und freien« Menschen der Zukunft erstehen. Das
einzige Ziel ist Persönlichkeit» daher t^ Personalismus« der Name
des neuen Princips, wenn man doch einen haben will. In der
Erziehung muss nicht der Wissenstrieb sondern der Willenstrieb
gepflegt werden. Auch diese Wendung weist auf Fichte zurück.
Aber wenn Fichte den Willen als sittlichen und die sittliche
Selbstthätigkeit als allgemein gültige vernünftige Selbstbestimmung
des Willens auffasst, so verwirft Stirner diesen Begriff als einen
in sich widerspruchsvollen (nach Art der ^beschränkten Press-
freiheit«) und setzt die unvernünftige Willkür und das launenhafte
Belieben des Augenblicks an ihre Steile.
Die Missachtung des Eides, Eidbruch, Meineid sied für mich
selbstverständlich, wenn sie mir frommen, und vor dem Scheuss-
lichsten schrecke ich nicht zurück. Nichts respektiere Ich, weder
das Leben, noch die sinnlichen oder geistigen Güter eines anderen,
nicht einmal das Heiligtum seines Innern, z, B, seine Religion,
Überzeugung, Ehre. Da es mir nur darauf ankommt, meine
Kraft auszuleben und die Welt für mich zu gebrauchen und zu
verbrauchen» so sind mir alle Nlittel der Macht und List gut
dazu, um meine Machtsphäre zu erweitern. Kann ich anderer
Kräfte für meine Zwecke gewinnen, um so besser. Schliesse
ich mich mit anderen vertragsmässig zu einem Verein zusammen,
so breche ich den Vertrag, sobald er mir nicht mehr passt. Ich
kämpfe um Vormacht und Vorrecht; da ich diesen Kairipi mit
besseren Aussichten gegen die einzelnen als gegen geschlossene
Organisationen führen kann, so ist Verfassungslosigkeit in
jeder Hinsicht (Anarchie) mein nächstes Ziel. Alle Fragen, auch
die Eigentumsfrage, sind nur durch den »Krieg aller gegen alle*
zu entscheiden; darum hat dieser an Stelle der gesetzlichen ,
StimcT,
577
Ordnung zu treten, damit ich die bequemste Geleg^e^dt finde
zum Emporkommen oder zur »Empörungc. —
Stlrner ist soweit folgerichtig ; aber er wird sich untreu, wenn
er ein menschliches Zusammenleben, Liebe, Freundschaft, Ver-
trauen und wirtschaftliche Vereinigungen auf solchem Boden fiir
möglich hält, während doch jeder von jedem den schlimmsten
Treubruch und Verrat zu gewärtigen hat. Sein Standpunkt zeigt
sogar schon darin ein bedenkliches Zugeständnis an den gemeinen
Menschenverstand, dass er die anderen Ichs in demselben Sinne
für wirklich nimmt wie das eigene. Wenn die ganze Welt nur
eine von mir und für mich gesetzte Erscheinung ist, so sind auch
die anderen Menschen nur Bestandteile meines Nichtichs, abo
etwas spezifisch anderes als mein Ich und können höchstens eine
von diesem abgeleitete Wirklichkeit aus zweiter Hand haben.
Mein selbstbewusstes Ich ist zwar auch bloss Erscheinung in mir,
aber es ist als die Eine Seite der gesamten Erscheinungswelt
nur der Totalität des Nichtich und nicht den einzelnen Bestand-
teilen und Gliedern desselben gleichzusetzen und gegenüber-
zustellen. Es ist sogar zu bestreiten, dass meinen Vorstellungs-
objekten der übrigen Menschen wirkliche »Ichs« entsprechen,
wenn es auch zum Schein meines Nichtich gehört, dass ich ihnen
solche leihe und zuschreibe; denn damit würde ja die Voraus-
setzung umgestossen sein, dass Ich der einzige bin, und dass die
Welt mein Eigentum ist Wenn dagegen das schöpferische,
gedankenlose Ich gleichzeitig viele selbstbewusste Ichs neben-
einander geschaflfen hat (worunter auch das meinige sich befindet)»
so steht jedes von den letzteren zu dem ersteren in gleicher Be-
ziehung und kann keines von ihnen mehr die anderen als sein
Eigentum reklamieren, Sie sind dann alle gemeinsames Eigentum
jenes unbewussten schöpferischen Ich, dem keins von ihnen näher
steht als das andere, also auch .dasjenige nicht, welches ich das
meinige nenne.
Stirners Apotheose des Egoismus scheitert also theoretisch an
dem Unterschiede des schaffenden Subjektes und des geschaffenen
Ich, den er nur anerkennt, um ihn immer wieder zu missachten.
Ebenso scheitert er praktisch an der Unmöglichkeit, mit solchen
Grundsätzen ein erträgliches Zusammenleben herzustellen. Sein
Anarchismus hat darin etwas rührend Kindliches, das er sich
dieser Unmöglichkeit gar nicht bewusst wird und von sozialen
B, V, H«rtmaiiD« Aii««ew. Werke. Bd. XII.
37
578
Stimer.
Vereinen auf solcher Grundlage träumt. Die praktischen Anar-
chisten schwächen die Stirnerschen Grundsätze soweit ab, dass sie
nur gegen die Verteidiger der alten Organisationen Geltung be-
halten, unter einander aber die Tiger zu sanften, verträglichen
Lämmern werden sollen. Aber Stirner selbst hat es erkannt und
ausgesprochen, dass die »Eigenen c nicht eine Partei bilden können,
weil sie damit aufhören würden, »Eigene« (d. h. Eigenbrödler) zu
sein. Jeder Versuch einer Abschwächung der Stirnerschen Ver-
absolutierung des Egoismus zur gemeinen Klugheitsmoral hebt
das Eigenartige seines Standpunktes auf —
Stirner weiss wohl, dass der »Eigne« im Krieg aller gegen
alle unterliegen kann; aber er tröstet sich damit, dass ihm an der
UnvergängHchkeit nichts liegt und dass er auch seinen eigenen
Untergang mit ebenso lächelndem Humor mit ansehen kann, wie
sein Unterliegen im Kampf der Gedanken, weil ja alles bloss ein
Schein im Ich für das Ich ist. Er kann mit seinem Leben eben-
sogut spielen wie mit seinen Gedanken und Gefühlen. Vielleicht
ist es ihm auch gar nicht um Emporkommen durch Arbeit und
mühevolles Ringen zu thun, sondern um genussreiche Faulheit
(Annäherung an Schlegel). Was der Eigne aus sich macht, das
hängt eben von seinem Belieben ab. Ein Ideal, das ausserhalb
seines wandelbaren Wollens läge, darf er nicht zugeben. Aber
vielleicht liesse sich doch aus den gemachten Voraussetzungen
näher bestimmen, welches der dem Ich erreichbare Gipfel der
Bethätigung seines Egoismus ist.
Bei Stirner soll eigentlich nur das einzige eigene Ich wirklich
und alle anderen vermeintlichen Ichs blosser Schein in Mir und
für Mich sein; da sich dies aber nicht aufrecht erhalten lässt, so
sollen alle Ichs »Eigne« werden. Das scheitert aber erstens
daran, dass die meisten Menschen gar nicht die Anlage dazu
haben, etwas Eigenes hervorzubringen oder aus sich zu machen,
und gar nichts weiter wollen, als sich in den Formen der staat-
lichen, kirchlichen und sozialen Organisation als unselbständige
Glieder eines grösseren Ganzen ausleben, von dem allein sie In-
halt, Wert und Ehre empfangen. Es scheitert zweitens daran,
dass für viele »Eigne« kein Platz auf der Welt ist, weil zum
Hammer auch ein Amboss und zum Wolf eine Schafherde gehört
Die grosse Masse kann nicht mehr sein als eine Herde, aus
welcher und über welcher jener »Eigne« sich als Ausnahme erhebt,
NlebBttüie.
579
der »mehr als Mensch* ist und an der Humanitätsidee bemessen
uls »Unmensch« erscheint Diese Einsicht, die Stirner noch fehlte,
bringt Nietzsche hinzu. Wenn Stirners Denken auf einem demo-
kratischen Grunde erwuchs, so fühlt Nietzsche sich durchaus als
Aristokrat; wenn für Stimer der Anarchismus Mittel fiir die
»Eiß'enheitT aller ist, so ist er für Nietzsche nur das Mittel, um auf
den Trümmern aller bisherigen Herrschaftsformen den Absolutis-
mus *des< Übermenschen zu errichten.*) —
Nietzsche (geb. 1844) knüpft ebenso an Schopenhauer
an, wie Stimer an Fichte, und verhält sich zu Stirner wie
dieser zu Schlegel In seiner ersten Periode sucht er Schopen-
hauers Willensmetaphysik mit Richard Wagners Kunsttheorien
auf Grund eines ästhetischen Gefühlsenthusiasmus zu ver-
einigen. In seiner zweiten Periode huldigt er dem Wahrheits-
Pathos des rücksichtslosen unbestechlichen Denkens, nähert sich
dem Agnostizismus und verhält sich rein kritisch und negativ;
insbesondere wendet er seine .Schärfe gegen die heteronome Moral
und Religion des Christentums und gegen die eudämonistische
Philistermorah In seiner dritten Periode erst sucht er die Lebens-
aufgabe in der Steigerung des Wollens zu übermenschlicher
Stärke, in der Verwirklichung seines Ideals des Übermenschen;
hier nimmt er einen Anlauf zur Begründung einer neuen positiven
Moral und Religiosität, bleibt aber in der blossen Aufgabesteüung
stecken, hauptsächlich, weil er sich von den Nachwirkungen seiner
zweiten Periode nicht ganz frei machen kann.
Von Schopenhauer wird der Wille zum Leben mit dem Willen
zum Erkennen gleichgesetzt, weil Schopenhauer unter Erkennen
in diesem Wortzusammenhange nicht die abstrakte, diskursive,
theoretische Erkenntnis, sondern das Setzen einer anschaulichen
Welt versteht. Bei Nietzsche spaltet sich der Wille zum Leben
in Willen zur Macht und Willen zum Erkennen als seine beiden
Seiten, die verbunden oder abwechselnd hervortreten können.
Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht knüpft Nietzsche an
Schopenhauers subjektiven Idealismus an, bleibt aber in einem
unklaren Schwanken zwischen indischem Illusionismus, positivisti-
schem Agnostizismus und Feuerbachschem Sensualismus stecken.
♦) Vgl. meine «EthiAchen Srndien«, No. IH, »Stiraers Verherrlichung des
oismus«, S. 70 — 90; »PhÜ. des UubtTwussteo«; 10. Aufl., Bd« n, S. 370 — 572; »Das
sittliche Bewusstsein«, 2. Aufl., S. 528, 610, 636 — 637.
17*
cgo Nietzsche.
Wie Schopenhauer spricht er bald die Kausalität den Dingen an
sich gänzlich ab, bald sucht er sie in ihren Willenswirkungen.
Gleich jenem kennt er die Vernünftigkeit nur als abstrakte dis-
kursive Reflexion und hält alles Intuitive und Instinktive für den
irrationalen Gegensatz der Vernunft, weil es der Gegensatz des
Abstrakten, Reflektierten und bewusst -Vernünftigen ist. Gleich
Schopenhauer versteht er unter Religion nur asketische Selbst-
opferung im indisch -urchristlichen Sinne und entbehrt jedes Ver-
ständnisses für das protestantische Princip der Religiosität
Im Gegensatz zu Schopenhauer bekämpft er die Mitleidsmoral,
weil er mit Hegel das Leid und den Schmerz für etwas an und
für sich Gleichgültiges hält, aber mit Schopenhauer im Leidens-
weg den Heilsweg sieht und deshalb ganz folgerichtig Ver-
schärfung des Leides verlangt. Die Wahrheit des Schopenhauer-
schen Pessimismus erkennt er bereitwillig an; aber einerseits hält
er mit Hegel die Entwicklung für eine höhere Aufgabe, vor der
alle Rücksichten auf Lust und Leid verschwinden müssen, und
andererseits findet er mit Bahnsen, dass in dem selbstbereiteten
Leid der Wille gerade erst recht seinen Willen bekommt Wenn
Schopenhauer hofft, den Willen von der Selbstbejahung zur
Selbstverneinung überführen . zu können, Bahnsen aber, weil er
diese Hoff"nung für trügerisch hält, den Pessimismus zum Misera-
bilismus steigert, so ruft Nietzsche jubelnd bravo und da capo zu
der Selbstquälerei des Willens. Schopenhauer und Bahnsen be-
urteilen die Willensbejahung aus dem Gesichtspunkt der Vernunft
nach ihren vernunftwidrigen Folgen, obwohl sie bei ihrer Auf-
fassung der Vernunft gar kein Recht dazu haben, das Weltprincip
aus einem so sekundären und untergeordneten Gesichtspunkt
zurechtzuweisen und zu meistern; Nietzsche verwirft darum diese
besserwisserische Schulmeisterei des Willens durch die Vernunft,
weist den Pessimismus als eine oberflächliche Vordergrunds-
Ansicht aus bloss rationalistischem Gesichtspunkt zurück, und be-
urteilt die vernunftwidrigen Folgen des Wollens rein vom Stand-
punkt des unvernünftigen Wollens aus, als das seinem Weltprincip
recht eigentlich Gemässe und Seinsollende.
Mit Mainländer übereinstimmend verkündet er, dass Gott ge-
storben und tot sei, wobei es aber zweifelhaft bleibt, ob ein
wirklicher Gott selbst gestorben ist, der früher gelebt hat, oder
nur der früher lebendige Glaube an Gott. Mit dem Realdialek-
ier Bahnsen zei^t Nietzsche darin Verwandtschaft, dass er die
scheinbar widerspruchsvollen Erscheinungen mit Vorliebe und
Behagen aufsucht, ohne sich um die Synthese der Gegensätze
und die Autlösung der Schein Widersprüche zu bemühen. Wenn
Sdrner mit der Auflösung aller Wahrheit in persönliche Urteils-
MTÜlkür den modernen Agnostizismus vorwegnimmt, so kann
Nietzsche sich bereits auf denselben stützen. Er besitzt weder
für sich ein objektives Erkenntnisstreben, noch will er anderen
objektive Erkenntnis vermitteln; denn er lässt keine Wahrheit
gelten und hat zu jedem Ja ein Nein, zu jedem Nein ein Ja* Den
»objektiven Menschen*, der sich zum passiven Spiegel der Welt
macht, kann er nicht verächtlich genug behandeln. Der Wille
zum Erkennen bedeutet bei Nietzsche etwas ganz anderes als
Setzung der anschaulichen Welt oder theoretische Orientierung
in ihr. Wenn die Wahrheiten ebenso wie bei Stirner doch nur
Phrasen, Redensarten, Worte sind, so bleibt dem Ich nichts übrig,
als an diesen Phrasen sich spielend zu ergötzen, d. h. mit Bildern,
Gedanken, rhetorischen und poetischen Figuren und Worten geist-
reich zu seinem eigenen Vergnügen zu spielen. Der Intellekt wird
so zum Spielzeug des gelangweilten Willens; daneben aber hat er»
wie bei Stimer, die praktische Bedeutung, Werte zu schaffen,
die alten Werte zu entwerten und umzuwerten und neue zu
prägen,
Carlyles Heroenkultus feierte die Heroen doch nur darum,
weil sie innerhalb des Rahmens der Menschennatur Grosses für
ihre Völker und für die Menschheit geleistet hatten; er forderte»
dass an ihrem Vorbilde die ganze Menschheit zu einem Geschlecht
von Helden sich emporläutern sollte. Nietzsche spottet über
diesen Glauben Carlyles und setzt an seine Stelle die Oberzeugung.
dass die Geschichte nicht um der Massen willen, sondern nur um
der w^enigen Individuen wdllen da sei, die aus ihr hervorragen.
Die Helden und Weisen aller Zeiten winken einander über die
Jahrhunderte hinweg zu, und das einzige Glück, das der Masse
verbleibt, ist die bewundernde Anschauung dieser Heroen und
das stolzdemütige Gefühl, als Masse ihren Fussschemel auszu-
machen. Die Masse ist ihm bloss das stinkende Mistbeet, in
dem die Heroen zu übernatürlicher Grösse emporwachsen, ein
rechtloses Material, mit dem die Übermenschen zu ihrer Förderung
rücksichtslos schalten und walten können.
582 Nietzsche.
Der Hegeische Begriff der Entwickelung wird von Nietzsche
sehr hoch gestellt; aber während Hegel ihn auf die Verwirklichung
des Vernünftigen im objektiven und absoluten Geiste (Staat, Kunst,
Religion und Wissenschaft) bezieht, kann Nietzsche ihn nur auf
die Steigerung des Menschentypus zum Übermenschen in wenigen
Ausnahmeexemplaren anwenden. Diese Steigerung besteht aber
in einer Maximation des Machtwillens und Erkenntniswillens.
Sie erfolgt in erster Reihe durch die Herausbildung und Ver-
vollkommnung einer Aristokratie aus der Plebs, in zweiter Reihe
durch die Herausbildung von Völkertyrannen, europäischen
Tyrannen und Menschheitstyrannen aus der Aristokratie. Der
Aristokratie gegenüber ist die Plebs rechtlos und bloss zur Aus-
beutung da; dem Tyrannen gegenüber ist wiederum auch die
Aristokratie so rechtlos wie die Plebs und nur Unterbau seiner
Grösse. Die heteronome Herdenmoral der Masse wird durch
die aristokratische Herrenmoral überwunden, die aber selbst wie-
der nur Vorbereitung für die Moral des Einzigen, des Über-
menschen wird, und ihr gegenüber nur die Moral einer enger
begrenzten Herde darstellt. Stufenweise vollzieht sich die Züch-
tung des Übermenschen durch Steigerung der Stärke, Härte,
aller bösen Instinkte, alles Raubtier- und Schlangenartigen im
Menschen mit gleichzeitiger Lossagung von aller Moral im bis-
herigen Sinne. —
Die »neue Moral« Nietzsches lässt sich dahin zusammenfassen:
alles ist gut, was die Züchtung des Übermenschen fördert, schlecht,
was sie hemmt oder hindert. Inbezug auf die alte Moral gilt
der Satz: nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Die neue Religion
Nietzsches ist der Ichkultus des Übermenschen, seine Selbst-
anbetung und seine Ehrfurcht vor sich selbst als dem erreichten
Weltziel. Aber beides hat er nur angedeutet, nicht ausgeführt.
Als Wertschöpfer tritt der Übermensch mit seinem Intellekt an
die Stelle der mangelnden Vorsehung; indem er der Masse seine
neuen Werte und seine Leitung des Weltprozesses aufzwingt,
tritt er auch für sie an die Stelle der fehlenden Gottheit
Aber der Tyrann kann dessen müde werden, über Sklaven
zu herrschen; dann steht es ihm frei, den Willen zur Macht als
gesättigt aufzugeben, und sich bloss noch mit dem spielenden
Erkenntniswillen zu ergötzen. Dann wird der tyrannische Un-
mensch oder das bestialische Raubtier zum unschuldigen Kinde,
las in sei i gern Vergessen lachend spielt In derselben Lage
befinden sich diejenigen Übermenschan Wärter» welche vorläufig
nicht die Gelegenheit haben, sich zu Tyrannen aufzuschwingen.
Aber der Wille wird niemals klüger oder vernünftiger; er kehrt,
wenn der Mensch lange genug lebt, immer wieder vom blossen
Erkenntniswillen zum Machtwillen zurück. Dieses Schaukelspiel
zwischen Welttyrann und Weltpbilosoph, Lebeosgier und Lebens-
ekel, erschöpft den Inhalt des Übermenschen, wenn man ihm die
letzte Maske lüftet Der Ichkultus bleibt in beiden allotropen
Zuständen des Übermenschen der nämliche; denn der Philosoph
weiss sich als potentiellen Tyrannen» wie der Tyrann sich als
potentiellen Philosophen weiss. Kein Zustand ist dem anderen
überlegen; welcher von beiden jeweilig besteht, ist gleichgültig
und hängt nur von Wille und Gelegenheit ab» sofern die Anlage
zum Übermenschen gegeben ist.
Stimer hatte seine Sache auf Nichts gestellt, d. h. den Ich-
kultus auf den vergänglichen Schöpfer seiner selbst gegründet, der
sich verzehrt, indem er sich geniesst. Er hatte dem Ich die
Souveränität bei Lebzeiten verliehen, um es schadlos zu halten
für seine Vergänglichkeit Nietzsche ist anspruchsvoller; er begnügt
sich nicht mit der Fastnachtsherrlichkeit eines für einen Tag als
König aufgeputzten Bettlers. Der Ü bermensch als aktueller Welt-
philosoph und potentieller Welttyrann will es nicht bloss von heute
auf morgen sein, sondern von Ewigkeit zu Ewigkeit. Das Ich
mag ein vergängliches Princip sein, der Individualwille kann nur
ewig sein, wenn er letztes Weltprincip ist Das hatte schon
Bahnsen verkündet und die Fortdauer der Selbstquälerei des
Willens in immer neuen Lebensläufen daraus gefolgert, und Hellen-
bach und du Prel hatten damit ernst gemacht und Moral und
Religion auf das Verhältnis des empirischen Ich zu seinem trans-
cendentalen Subjekt gebaut Gleich ihnen glaubt auch Nietzsche
an die ewige Wiederkunft aller Individuen, die sich ihm zum
>Ring der Ewigkeit« zusammenschliesst.
Aber er unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkte von
Hellenbach und du Prel: er verwirft mit Bahnsen die Ent-
wickelung des transcendentalen Individuums in der Reihe seiner
Lebensläufe und geht so weit, die ewige Wiederkehr des Gleichen
zu, behaupten. Der Schein der Entwickelung kann sich demnach
bei Nietzsche wie bei Bahnsen nur streckenweise innerhalb einer
t^g^ Nietzsche.
Weltperiode einstellen und sich nur auf die äusseren phänomenalen
Bedingfungen für das zeitweilige Hervortreten der ewig unwandel-
baren Anlagen des Individuums beziehen. Der Fatalismus dieses
ewigen Einerleis von Wiederholungen erweckt Nietzsche weder
Langeweile noch Grauen; vom Standpunkt des unvernünftigen
Lebenswillens ruft er immer von neuem lustig da capo. Dem
geborenen Übermenschen ist ja die ewige Übermenschheit gewiss;
was könnte er mehr wollen, da es doch nur auf dieses Ziel an-
kommt? Die Menschen freilich, die keine Anlage zum Über-
menschen in sich spüren, dürften darüber anders denken; allein
um deren Meinung hat sich ja der Übermensch nicht zu kümmern,
da sie nur gleichgültiges Material zur Befriedigung seiner Herrsch-
sucht sind. —
Nietzsche hat das Verdienst, in einer demokratischen Zeit ftlr
die Aristokratie und den höher veranlagten Ausnahmemenschen
eingetreten zu sein, und die heteronome und eudämonistiscbe
Pseudomoral mit Nachdruck bekämpft zu haben. Aber er miss-
achtet die Rechte der Masse, verkennt ebenso wie Stirner die
Gliedlichkeit des Einzelmenschen in dem Organismus der Mensch-
heit und die notwendige Leitung des Willens durch die Vernunft,
und er weiss deshalb nichts von einer sittlichen Autonomie, die
auf der essentiellen Einheit der subjektiven Vernunft mit der
objektiven beruht. Die »neue Moral« und Religion, die er an
die Stelle der alten setzt, ist nur die Systematisierung des
Grössenwahns; dieser Grössen wahn aber entspringet aus der
neurasthenischen Willensschwäche, die sich über sich selbst mit dem
Phantasiebild einer übermenschlichen Willensstärke tröstet, welche
nur zu wollen brauche, um sich die ganze Welt zu Füssen zu
legen. Nietzsches Übermensch gleicht darin den indischen
Heiligen, deren Macht in ihrer Phantasie über die der Götter in
eben dem Masse hinauswächst, wie ihr Wille thatsächlich ausser
Funktion getreten und der Bethätigung entwöhnt ist. Nietzsche
hat uns nicht, wie er behauptet, den Übermenschen gelehrt,
sondern nur seiner Sehnsucht nach diesem seinem Ideal Ausdruck
gegeben.
Dieses Ideal selbst scheint seinem positiven Gehalt nach
äusserst fragwürdig. Die blosse Befriedigung des Erkenntnis-
triebes, der Intellektualismus, ist selbst dann einseitig, eitel und
zwecklos, wenn diese Befriedigung annähernd erreichbar ist (so
NieL/selic.
585
z. B. bei Aristoteles, Spinoza, Hegel); sie ist doppelt eitel auf
dem Boden des Ag-nostizismus, wo der Erkenntnistrieb sich selbst
zum Narren hat und mit blossen Gedankenspielen und Wortspielen
über seine Nichtigkeit hinwegtäuscht Die Herrschsucht um ihrer
selbst willen ist womöglich noch eitler und nichtiger. Zwar
scheint es so, als ob der Übermensch bloss herrschen wollte, um
den Übrigen seine Wertprägung aufzuzwingen; allein auch das
ist ein falscher Schein.
Der Übermensch handelt ja geradezu widersinnig und gegen
sein eigenstes Interesse, wenn er es unternimmt» die nur für ihn
passende Übermenschenmoral der Masse aufzuzwingen, statt sie
in ihrer Herdenmoral zu bestärken, die allein für die Herde
passt, und die allein ihm möglich macht, sie weiter zu tyrannisieren
und zu verachten. Alle Tyrannen sind klug genug gewesen» die
Masse in ihrer heteronomen Moral zu bestärken, um ihre eigene
Herrschaft über sie zu sichern. Aber selbst abgesehen von der
Unklugheit, für die neue Moral des einsamen Übermenschen
Propaganda machen zu wollen, würde sich doch solche nur im
Kreise drehen. Denn die neue Wertprägung des Übermenschen
bewertet alles danach, ob es der Maximation des Macht willens
und spielerischen Erkenntnistriebes dienlich oder hinderlich ist.
Sind diese Wertmassstäbe eitel, so sind es auch die nach ihnen
bestimmten Werte. Ist die Herrschsucht als Selbstzweck nichtig,
so sind es auch die Werte, die nur darin bestehen, diesem
nichtigen Zweck als Mittel zu dienen, so ist es auch die Propa-
ganda für die allgemeine Anerkennung dieser Werte an Stelle
aller nach anderen Massstäben bestimmten.
Daraus folgt nun freilich weiter nichts, als dass Nietzsches
Ideal des Übermenschen durchaus irrationelU widerspruchsvoll
und subjektiv-individuell ist. Das muss es aber auch sein» wenn
es einerseits blosses Postulat des unvernünftigen Willens und
andrerseits Konsequenz des ganz persönlich zugespitzten Indivi-
dualismus sein soll. Individuen, in denen andere Triebe die Ober-
hand haben, werden dieses Ideal ganz anders ausgestalten müssen;
aber jeder hat für seine Person genau so recht wie jeder andre,
da alles an der irrationellen Willkür hängt. Allen solchen Aus-
gestaltungen gemein kann nicht das Positive, sondern nur das
Negative an ihnen sein, die Ablehnung alles dessen» was die Will-
kür beschränkt, die Missachtung aller Rücksichten, In allen
^86 Nicteschc.
Fällen wird der konsequente Egoist eine freche, tückische, hinter-
listige, treulose, verräterische, grausame Bestie zu sein sich be-
mühen müssen, aber auch ebenso sorgsam darauf bedacht sein
müssen, diese Errungenschaften zu verhehlen und, soweit nötig,
ihr Gegenteil zu heucheln, um seine Zwecke zu fördern. Nur
diese negative Seite des Nietzscheschen Ideals konnte Allgemein-
gültigkeit für alle Egoisten oder Eigenen beanspruchen, und es ist
sein Verdienst, das Stirnersche Ideal des »Eigenen« in diesem
Sinne ausgeführt und geklärt zu haben, so dass man deutlich
sehen kann, was das Ergebnis des Krieges aller gegen alle für
den Menschentypus sein muss.*) —
Schlegel, Stirner und Nietzsche stellen einen Protest des Indi-
viduums gegen die im modernen Leben zunehmende Reglemen-
tierung und Schabionisierung dar und geben seinem heissen Ver-
langen Ausdruck, sein Eigenstes ungehemmter ausleben zu dürfen,
als die gegenwärtigen poUtischen, kirchlichen, sozialen, juridischen,
polizeilichen, militärischen und Schulzustände es gestatten wollen.
Sie stellen damit dem zwanzigsten Jahrhundert in veränderter
Form eine Aufgabe, wie der Liberalismus sie dem neunzehnten
gestellt hatte, nämlich die Vielregiererei und die Schablone auf
das wirklich Notwendige einzuschränken und dem Individuum
mehr Spielraum zu seiner Selbstgestaltung zu gewähren, als es jetzt
zu haben pflegt. Wie alle Forderungen, die als Gegenschlag gegen
empfindlich gewordene Übelstände hervortreten, schiesst auch diese
in ihrer nächsten Formulierung weit über das Ziel hinaus und ver-
liert sich in anarchistische Utopien und in den Götzendienst
der Tyrannen.**)
Der Grund dafür, dass diese Forderung grösseren Spielraumes
gerade im neunzehnten Jahrhundert hervorgetreten ist, hängt
mit der steigenden Schätzung der Persönlichkeit zusammen.
Diese Schätzung taucht zuerst in den jüngeren Psalmen, dem
Stoicismus und Epikureismus auf, verschwindet dann im Mittelalter
wieder, erwacht aufs Neue mit der Renaissance, wird vornehmlich
durch Luther in die protestantische Kultursphäre eingeführt,
stagniert dann aber wieder für längere Zeit und gewinnt erst seit
*) Vgl. meine »Ethischen Studien ^, No. II, »Nietzsches neue Moral c, S. 34 — 69.
**) Vgl. meine Aufsätze »Die Sozialdemokratie und der Anarchismus«, in der
Gegenwart« 1896 No. 52 und 1897 No. i. Ich habe dort gezeigt, wie beide Zeit-
erscheinungen principiell bloss Spaltungsprodukte des sich auflösenden Libendismos sind.
N fett sehe.
587
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einen höheren Aufschwung,
der besonders durch Goethe und Wilhelm von Humboldt beein-
flusst ist. Der Wert, den ein Teil der Theisten, namentlich
L H. Fichte auf die Persönlichkeit legt, ist so hoch, dass dieser
Begriff bereits zum Centrum der Weltanschauung gemacht wird,
und sogar die Persönlichkeit Gottes nur als Ausfluss dieses
Princips erscheint. Im letzten Menschenalter ist die Schätzung
der Persönlichkeit ebenso übertrieben worden, wie sie in unkulti-
vierten Zeiten unter dem rechten Masse zurückgeblieben war
Zeugnis dafür liefert die Denkmälerwut, der in gewissen Kreisen
mit Goethe, Richard Wagner und anderen getriebene Personen-
kiütus, das unverhältiiismässige Interesse an Biographien, das
Bestreben, die Werke der Kunst und Wissenschaft aus den zu-
fälligen persönlichen Erlebnissen und Lebensumständen ihrer Ur-
heber erklären zu wollen, das Versinken der Kunst- und Litteratur-
geschichte in den Kleinkram von Personal notizen u. s. w. Das
Oberwiegen subjektiver, persönlicher Interessen über objektive,
sachliche hat von jeher für spezifisch weiblich gegolten, und so
wird man seine allgemeine Verbreitung in der Gegenwart wohl
als ein Symptom der Effemination deuten dürfen, die aus zu
starkem Verbrauch von Nervenkraft auf allen Gebieten entspringt.
Für eine solche Zeitstimmung musste eine Philosophie gelegen
kommen, die das Princip des Individualismus ins Extrem treibt.
Nun ist ja freilich die Persönlichkeit allein das Medium, durch
das alles Unpersönliche im Menschheitsleben verwirklicht werden
kann, und die Persönlichkeit drückt dem Unpersönlichen, das
durch sie hindurchgeht, iliren Stempel auf, sei es, dass die Schlacken
der Persönlichkeit es verunstalten, sei es, dass ihr eigenartiger
Duft es reizvoller macht. Aber der Glaube, alles Unpersönliche,
Allgemeine, Objektive lediglich aus Persönlichem ableiten zu
können, ist ebenso einseitig und imümlich, als der, es ganz aus-
schalten zu können. Dem ersteren huldigt z. B. die allerneueste
Theorie der Kunst, die das Kunstwerk lediglich als Erzeugnis
der Subjektivität und Individualität des Künstlers auffasst. Diese
Überschätzung der persönlichen Subjektivität durfte eine Theore-
tisierung in einer ebensolchen Weltanschauung erwarten; und als
sie bei Nietzsche eine solche fand, konnte die Freude darüber
gegen die Mängel ihrer Begründung und Durchführung nach-
588 Nietzsche.
sichtig machen. Wer die Überschätzung der Individualitat nidit
teilt, wird auch keinen Grund haben, diese Nachsicht zu teilen. —
Im Theismus hatte die menschliche Persönlichkeit sich dodi
noch in ein festes System von Persönlichkeiten eingegliedert, das
an der absoluten Persönlichkeit Gottes sein Haupt hatte, von
ihr seinen Zusammenhang erhielt und durch diese Eingliederung
an bestimmter Stelle die menschliche Persönlichkeit in ihre un-
überschreitbaren Schranken wies. Indem der Atheismus mit der
Persönlichkeit Gottes zugleich das Absolute selber totschlug, ent-
fesselte er die nun allein übrig bleibende Persönlichkeit des
Menschen und machte ihr die Bahn frei, um sich selbst wenig-
stens in der Phantasie an die Stelle des Absoluten zu setzen.
Auch dieser Versuch musste gemacht werden, um sich zu über-
zeugen, was dabei herauskomme. Dass dieses Ergebnis absurd
ist, kann niemanden abschrecken, der sich auf den Stand-
punkt des unvernünftigen Willens stellt. Man kann nichts thun,
als darauf aufmerksam machen, dass man zwischen zwei Be-
urteilungsstandpunkten wählen müsse: dem des unvernünftigen
Willens, der im Menschen immer eine individuelle Zuspitzung an-
nehmen muss, und dem der Vernunft, der stets über die Indi-
vidualität übergreift in die objektive Sphäre von allgemeiner
Gültigkeit. Stellt sich das Individuum auf den letzteren Stand-
punkt, dann ist es mit seiner Selbstherrlichkeit und Selbstver-
götterung aus; es sinkt zum beschränkten Werkzeug allgemeiner
Mächte herab, als die es dann nicht bloss die Vernunft, sondern
auch den Willen erkennt.
Bei Stirner hatte das Ich sich beschieden in Bezug auf die
Absolutheit seines Bestandes und sich in trotzigem Galgenhumor
mit der Vergänglichkeit seiner zeitweiligen Absolutheit abge-
funden. Darin liegt aber eine Inkonsequenz. Wenn es sich in
Bezug auf das vor ihm und nach ihm bescheidet und als zeitlich
begrenzt anerkennt, so kann es sich auch in Bezug auf das mit
ihm Gleichzeitige bescheiden und seine Beschränktheit und Nicht-
absolutheit anerkennen. Wenn es aber für seine Lebensdauer
Absolutheit beansprucht, so muss es sich auch gegen die zeitliche
Beschränktheit dieses absoluten Lebens empören, zumal wenn die
Zeit für einen blossen Schein im Bewusstsein ausgegeben wird.
Will das Ich sich selbst verabsolutieren, so muss es das auch in
jeder Hinsicht, also auch auf seine Ewigkeit pochen, oder es muss
Ergplinfs dp-s Indiviflti^iliBmtt'i
5H9
überhaupt anerkennen, dass es nur Glied an einem grösseren
Ganzen, d. h. nicht absolut ist. Somit geht Nietzsche folgerichtig
weiter, wenn er die Ewigkeit für den Übermenschen fordert; aber
er hat darüber nur in Andeutungen und in sibyllinischem Orakel-
ton geredet und es unterlassen, die Konsequenzen dieser Forderung
and die für ihre Verwirklichung unerlässlichen Bedingungen zu
durchdenken.
Dies nachzuholen, wäre die nächste Aufgabe seiner Anhänger,
welche an dem ewigen Einerlei der Wiederkehr des Gleichen bis
jetzt wenig Geschmack gefunden zu haben scheinen. Es müsstc
vor allen Dingen der EntwickelungsbegrifF auf die Reihe der
Lebensläufe angewendet werden. Soll dann nicht die materialis-
tische Errungenschaft missachtet werden, dass das bewusste
Geistesleben von materiellen Vorgängen bedingt ist, dann muss
für diese Entwickeln ng ein übersinnlicher Materialismus, sei es im
rein dynamischen, sei es im dynamischstofFlichen Sinne des Wortes
herangezogen werden. Mit anderen Worten: eine metaphysische
Durchbildung und Fortbildung des selbstherrlichen Individualismus
Nietzsches ist nur möglich durch Verschmelzung mit dem trans-
cendentalen Individualismus, sei es im Sinne Hellenbachs, sei es
in demjenigen du Preis. Dieselben berechtigten Erwägungen, die
von Bahnsen zu Hellenbach und du Prel hinführten, müssen auch
von Nietzsche zu diesen zurückführen. Wem jeder dieser Stand-
punkte kritisch unhaltbar erscheint, der wird in ihrer Verknüpfung
nur eine Addition der Widersprüche sehen, an denen die Bestand-
teile leiden,*) —
Blicken wir auf den Individualismus im Ganzen zurück, so
ist es nötig, von der Anerkennung auszugehen» dass der Pantheis-
mus den billigen Ansprüchen des Individuums nicht gerecht ge-
worden war. Abgesehen von dem Naturalismus der naturphilo-
sophischen Schule Schellin gs huldigten die Pantheisten am Anfang
des neunzehnten Jahrhunderts einem abstrakten Monismus, der
zwar mehr oder weniger das Bestreben hatte, sich zum konkreten
Monismus emporzuarbeiten, aber in den Anläufen dazu stecken
blieb. Die vielen Individuen blieben ein blosser Schein, der sich
auf unerklärliche Weise im abstrakt Einen entwickelt Schleier-
*) Vgl meinen Aufsatz:
Jalirbücbem«, BcL 96, Heft i
>Der IncUvlduati^mus der Gegenwart« in den rPreus».
s. 30—56.
ego Ergebnis des Individualismus.
machers transcendentaler Realismus, der allein die Möglichkeit
geboten hätte, sich dieser Konsequenz des transcendentalen Idealis-
mus zu entziehen, blieb unausgeführt und unbeachtet. Schopen-
hauer begnügte sich damit, die Frage aufzuwerfen, wie sich das
Individuum zum AU-Einen verhalte, wagte aber nicht, ihrer Lösung
näher zu treten. Der Theismus nahm dieses Problem auf und
suchte die Substantialität des persönlichen Individuums mit der
Substantialität des persönlichen Absoluten, die des Geschöpfes mit
der des Schöpfers zu vereinigen. Er scheiterte aber damit nach
beiden Seiten, indem ihm an der absoluten Substanz die Persön-
lichkeit, an der individuellen Persönlichkeit die Substantialität
zerrann und in die stetige schöpferische Produktion oder Erhaltung
umschlug.
Der materialistische und agnostische Atheismus schüttete das
Kind mit dem Bade aus, indem er wegen, der Unhaltbarkeit der
absoluten Persönlichkeit gleich die absolute Substanz oder das
Subjekt der absoluten Thätigkeit mit verwarf Das Individuum
wurde nun vom Standpunkt des Materialismus und Naturalismus zu
einem blind-notwendigen, mechanisch entstandenen Produkt elemen-
tarer Stoffe oder unorganischer Kräfte, zu einem blossen Summations-
phänomen niederer Bestandteile ohne innere, thelische, teleologische,
metaphysische Einheit, ohne ideale Bedeutung und Würde herab-
gesetzt. Diese naturalistische Auffassung des Individuums klingt
sogar noch in der pluralistischen Willensmetaphysik bei Mainländer,
Hamerling und Wundt nach, obwohl sich hier schon der Über-
gang zu einer höheren, teleologischen Auffassung anbahnt; aber
es fehlt doch bei ihnen allen der auf den einheitlichen Individual-
zweck gerichtete einheitliche Individualwille, welcher der Vielheit
der den Organismus konstituierenden Elementarkräfte ideell voran-
ginge und sie überragte und beherrschte. Die Substantialität des
Individuums ist gerettet, sofern seine Bestandteile substantiell
(und nicht wie bei Wundt blosse Thätigkeiten) sind, aber um
teuren Preis, nämlich um das Opfer der idealen und realen Ein-
heit des Individuums.
Das Gefühl für die Würde der eigenen Individualität lehnt
sich nun mit Recht ebenso sehr dagegen auf, dass das Individuum
ein bloss mechanisches Associationsprodukt von niederen Sub-
stanzen ohne innere vorhergehende Einheit, als dass es ein blosser
Schein am AU-Einen ohne Wirklichkeit und eigene Wirkungs-
fähigkeit sein sol]. Gegen den Naturalismus und abstrakten
Monismus reagiert gleichmässig das persönliche Selbstgefühl und
fordert die ihm von beiden vorenthaltene »Eigenheit« zurück.
Das Individuum soll vor allen Dingen Substanz sein, gleichviel
wie es um die absolute Substanz daneben bestellt ist. Die letztere
wird entweder in den nebligen Hintergnmd des Agnostizismus
entrückt oder geradezu geleugnet. Im ersteren Falle bleibt das
Verhältnis der Individualsubstanz zur absoluten Substanz ebenso
unklar und mit Widersprüchen behaftet wie im Theismus. Im
letzteren Falle tritt das Individuum an die Stelle des Absoluten,
sieht aber seine phantastisch übertriebenen Ansprüche an der un-
erbittlichen Nüchternheit des Wirklichen scheitern.
Damit dürften denn alle Möglichkeiten erschöpft sein, ver-
mittelst deren dem Individuum zu seinem Rechte verholfen wer-
den kann, so lange es dasselbe sein soU^ was das Absolute auch
ist, d. h. entweder gleich ihm Substanz, oder gleich ihm blosse
Thätigkeit. oder endlich absolut an seiner Statt. Da sie alle nicht
zum Ziele fuJiren, so dürfte die Voraussetzung falsch sein, die
diesen Möglichkeiten gemein ist, nämlich die Annahme, dass das
Individuum das nämliche sein müsse» was das Absolute auch ist.
Wenn das Absolute unpersönliche Substanz ist, das persönliche
Individuum aber nur eine Funktion des Absoluten, die das ideelle
Prius der von ihr herangezogenen und beherrschten niederen
Funktionen bildet, dann fallen alle Schwierigkeiten fort, während
alle berechtigten und wohlbegründeten Ansprüche des Individuums
erfüllt sind. Diese Lösung wird erreicht, wenn der abstrakt
monistische Pantheismus sich zum konkreten Manismus erhebt,
der Theismus sowohl die Persönlichkeit des Absoluten als auch
die eigene Substantialität des Individuums als unhaltbar fallen
lässt, der Individualismus die beständige Gegenwart des Einen
substantiellen Weltgrundes beim Weltprozess (Hamerling) mit der
Funktionalität der Individuen ohne eigene Substantialität (Wundt)
verbindet, und anerkennt, dass die Persönlichkeit dieser Individual-
funktion von der Dauer des Zellenleibes abhängt (Hellenbach,
du Prel).
So erweist sich von allen Seiten her der konkrete Monismus
als das Eine Ziel, auf das der Pantheismus, Theismus und Indivi»
dualismus gleichmässig hindrängen, und in dem sie alle zusammen-
treffen. Der konkrete Monismus ist der Standpunkt, in welchem
QC2 Rückblick auf die Entwickelung seit Kant.
alle Wahrheitselemente jener anderen Standpunkte zu aufge-
hobenen Momenten werden, alles Unwahre von ihnen abgestreift
wird, und damit zugleich alle Widersprüche entschwinden, die
nur an den unwahren Bestandteilen jener anderen Standpunkte
haften. Der konkrete Monismus giebt Gott was Gottes ist: die
Absolutheit, Substantialität, Geistigkeit u. s. w., und dem Indivi-
duum was ihm gebührt: die Wirklichkeit und Wirkungsfähigkeit,
teleologische und thelische Einheit der Funktion, relative Kon-
stanz der Persönlichkeit ohne absolute Konstanz derselben, An-
lehnung an die absolute Einheit des substantiellen absoluten Sub-
jekts und relative Selbständigkeit allen anderen Individuen gegen-
über ohne Selbständigkeit dem Absoluten gegenüber.
Rückblick auf die Entwickelung seit Kant
Überschauen wir die Entwickelung der Metaphysik seit Kant,
so zeigt sich, dass dieses letzte Jahrhundert die alten Probleme
gründUcher, vollständiger, umfassender und auf höherer Bewusst-
seinsstufe durchgearbeitet hat als irgend eine frühere Epoche, d. h.
dass sie der grossen Entwicklungsspirale einen neuen höheren
und weiteren Umlauf hinzugefügt hat. Darüber hinaus aber hat
diese letzte Epoche einen völligen Umschwung eingeleitet, der
mit einer Umkehrung der Bewegungsrichtung der Spirale zu ver-
gleichen ist. Alle frühere Metaphysik wollte apodiktisch gewisse
Erkenntnis a priori sein oder gar nicht sein; um dies sein zu
können, glaubte sie deduktiv oder konstruktiv verfahren zu müssen.
Erst in dieser Epoche von Kant bis zum Agnostizismus ist es
evident geworden, dass die Metaphysik durch diese Alternative
zum Nichtsein verurteilt ist, weil eine apodiktisch gewisse Meta-
physik a priori schlechterdings unmöglich und ein blosses
Phantom der Einbildung ist, von dem sich die früheren Jahr-
hunderte haben äffen lassen.
Kant glaubte an diese Alternative und zerstörte die apriorische
Metaphysik, die sich auf etwas jenseits des Bewusstseins Liegendes
bezog. Aber er hielt an der Möglichkeit einer apodiktisch ge-
wissen Metaphysik a priori fest und beschränkte sie nur auf die
Gesetze der subjektiven Erzeugung der bewusstseinsimmanenten
Röckbück auf die Eot wickelang «dt Kant.
593
Erscheinungswelt, d. h. er ging zum Phänomenalistnus über, um
auf phänomenalem Gebiete den metaphysischen Urteilsapriorismus
zu retten. Fichte, Schelling und Hegel zogen die systematischen
Konsequenzen dieser Stellungnahme nach Seiten des Vorstellens
und Denkens, Schopenhauer nach Seiten des Wollens. Indem sie
sämtlich das menschliche bewusste Denken und Wollen mit dem
absoluten unbewussten Denken und Wollen vermengten und ver-
wechselten, erweckten sie damit von neuem den Schein einer
konstruktiven Metaphysik a priori, die hinter das Bewusstsein bis
zur absoluten Thätigkeit zurückgriff. Die Theisten hielten eben-
falls principiell an einer apodiktisch gewissen Metaphysik fest,
suchten aber der Erfahrung und Induktion schon nebenbei eine
gewisse Rechnung zu tragen. Die Doppelheit des auf- und ab-
steigenden Lehrganges bei Krause, der negativen und positiven
Philosophie bei dem späteren Schelling brachten in die ältere
Auffassung der Metaphysik bereits einen Bruch und endeten mit
einer zwiespältigen Halbheit. Die Sonderung des exakten
Wissensgebietes von dem bloss wahrscheinlichen Glaubensgebiet
bei Herbart und Beneke bereitete das weitere stückweise Ab-
bröckeln der apodiktisch gewissen Metaphysik vor.
Der atheistische Materialismus ist der letzte Standpunkt der
sich mit der ganzen Beschränktheit seines naiven Realismus ap
den Glauben klammert, dass eine apodiktisch gewisse Metaphysik
möglich sei; aber er beschränkt ihren Inhalt darauf, dass Kraft
und Stoff ewig seien und aus ihnen alles andere hervorgehe,
während für alles konkrete Wissen die induktiven Naturwissen-
schaften als einzige Quelle einer immerhin nur wahrscheinlichen
Erkenntnis eintreten. Der Agnostizismus endlich schränkt das
Gebiet apodiktisch-gewisser Erkenntnis auf Null ein und erklärt
damit die Metaphysik für unmöglich, weil er noch immer in dem
falschen Glauben an die Richtigkeit der obigen Alternative be-
fangen ist. Die öffentliche Meinung spricht ihm dieses Urteil
nach, schon weü es so wenig Kopfzerbrechen macht, und weil
das Klügersein als die Weisesten der Vergangenheit fiir die Un-
weisen so angenehm ist.
Das Gericht an den letzten Systemen mit Gewissheitsanspruch
iftt ebenso vollzogen wie an den früheren. Die philosophie-
geschichtliche Kritik hat unwiderleglich bewiesen, dass die
apodiktisch gewisse Metaphysik a priori ein für allemal tot ist
E. V. H^Lrlmano, Au»iccw. Werke. £kL XU.
38
594
Rückblick stuf Mt Ennrickcluug seit Rast
und nie wieder erwachen kann, sowenig wie die Alchemie oder
Astrologie, Sie hat ferner gezeigt, dass alles, was frühere Meta-
physiker deduktiv oder konstruktiv abgeleitet zu haben glaubten«
sich doch nur auf sehr unvollständige Erfahrungen, unvermerkte
Induktionen, unbestimmte Analogien oder gar auf unbegründete
Vorurteile und Überlieferungen stützte, und dass alles Haltbare
und Wertvolle an der bisherigen Metaphysik induktive Erkennt-
nis von blosser Wahrscheinlichkeit war. Aber das letztere
giebt der Agnostizismus auch noch nicht einmal zu, weil er aus
seiner falschen Erkenntnistheorie folgert, dass gar kein Hinaus-
schreiten über die Erfahrung möglich sei, dass alles Erkennen
auf deskriptive Empirie eingeschränkt und schon der induktive
Empirismus ein Phantom sei. Der Agnostizismus musste mit
dieser Übertreibung auftreten, um das eingewurzelte Vorurteil
von der Möglichkeit apodiktisch gewisser Erkenntnis mit Stumpf
und Stiel auszurotten. Seine Übertreibung auf das rechte
Mass zurückzuführen, daran arbeiten di« letzten Theisten eben so
wie die Individualisten, welche sämtlich nur noch wahrscheinliche
Ergebnisse ohne Gewissheit zu liefern beanspruchen.
Warum sollte nicht aus der abgethanen deduktiven Meta-
physik a priori eine induktive Metaphysik a posteriori sich ent-
puppen können, da doch aus der Alchemie eine Chemie, aus der
Astrologie eine Astronomie hervorgegangen ist? Die Umkehr
der Richtung hat sich im letzten Menschenalter ganz unmerklich,
aber mit fortschreitender Bestimmtheit und Klarheit vollzogen,
nachdem sie von mir bereits bei meinem ersten Auftreten 1868
in der Schrift Ȇber die dialektische Methode < und in der ersten
Auflage der »Philosophie des Unbewusstenc als leitender metho-
dologischer Grundsatz aller künftigen Philosophie überhaupt und derJ
meinigen insbesondere proklamiert worden war. Man hat dieses-
Grundsatz aufs eifrigste bekämpft und ist noch heute fern davon,
ihn offen anzuerkennen: aber man hat thatsächlich in wach-
sendem Masse nach ihm gehandelt, und das genügt vorläufig.
Die nächsten Jahrhunderte werden sich seiner als des wichtigsten
Fortschritts in der Metaphysik des neunzehnten Jahrhunderts auch
bewusst werden.
Hand in Hand mit dem Umschwung der Methode ging auch
ein solcher der Schreibweise. Um sich dessen bewusst zu werden.
braucht man nur eine beliebig herausgegriffene metaphysische
Rückblick aaf die Eotwickelung eeit^antT
595
Erörterung von Kant. Fichte, Schelling. Schleiermacher, Hegel.
Baader» Krause oder Herbart mit einer ebensolchen von Schrift-
stellern des letzten Menschenalters zu vergleichen, die nicht gerade
in akademischer Korrektheit, Vornehmheit, Weitschweifigkeit und
I^ngweiligkeit stecken geblieben sind.
Leider ist das Mass des Talents, das den Metaphysikern des
neunzehnten Jahrhunderts von der Natur zuerteilt ist, nicht mit
der Klärung der metaphysischen Aufgabe in gleichem Verhältnis
gewachsen. Am Anfang des Jahrhunderts stehen die spekulativen
Denker ersten Ranges, die Pantheisten. In den Theisten sinkt
es stufenweise bis zur Schwächlichkeit herab. Bei den Materialisten
und Agnostikern wundert man sich über die künstliche Verengung
des Gesichtskreises, und je weiter diese Verengung fortschreitet,
desto mehr verhärtet sich der Eigensinn im Festhalten dieser Enge,
wie er stets mit Beschränktheit des Verstandes verbunden ist
Dies gilt für die Individualisten und pluralistischen Willensmeta-
physiker mit, soweit sie vom Agnostizismus durchseucht sind; aber
auch die nicht mit ihm behafteten erscheinen ihrem Meister
Schopenhauer gegenüber doch nur als schwächere Epigonen. —
Es wird dies begreiflich» wenn man bedenkt, dass der ganze
Theismus und Atheismus, der auf die pantheistische Epoche der
Metaphysik folgte, doch am Ende nur die Aufgabe hatte, zwei
Irrwege nebst allen ihren Abzweigungen möglichst gründlich
durchzuarbeiten, um sie für die Geschichte als Irrwege zu erweisen,
und daneben diejenigen Ergänzungen herauszuarbeiten, durch
deren Hinzufiigung der Pantheismus gegen die Kritik gesichert
und allen Anforderungen entsprechend würde. Das erstere ist
nur ein negatives Verdienst» das letztere allein eine positive
Leistung, aber doch immerhin nur eine von subsidiärer Bedeutung.
Diesen Aufgaben waren anch geringere Talente gewachsen; ja
sogar für ihren negativen Teil war eine gewisse Einseitigkeit und
Beschränktheit des Gesichtskreises geradezu unerlässlich.
Die naiven Pantheisten arbeiteten mit verkehrten Methoden
(Deduktion, Konstruktion und Dialektik) auf ein unerreichbares
Ziel (eine apodiktisch gewisse Metaphysik) hin. Sie stützten sich
auf eine völlig unhaltbare Erkenntnistheorie (den transcendentalen
Idealismus), welche konsequent durchgeführt zum absbluten
Illusionismus und Agnostizismus führen musste, Sie bauten ihre
Systeme auf eine in der Luft schwebende absolute Thätigkeit,
38*
596
Rückblick auf djc EntwickiJmig seit Kant
ohne Substanz und Subjekt, und fassten diese Thätigkeit entweder
einseitigr als Denken oder einseitig als Wollen auf, ohne von einer
dieser Seiten her die andere wirklich ableiten zu können. Infolge
ilires transcendentalen Idealismus blieben sie im abstrakten Monis-
mus stecken» trotzdem sie in ihren Spitzen (Hegel und Schopen-
hauer) zum konkreten Monismus hinstrebten ; d. h. sie vermochten
dem Individuum in seinem Verhältnis zur Welt und zum Abso-
luten nicht gerecht zxi werden. Das Verhältnis zwischen absolutem
Vermögen und Möglichkeit einerseits und absoluter Thätigkeit
andererseits blieb bei ihnen» so weit es überhaupt schon Berück-
sichtigung fand» im Unklaren, Ihren Pantheismus hielten sie för
die Erfüllung und gereinigte Wahrheit des christlichen Theismus»
ohne den principiellen Unterschied zwischen Pantheismus und
Theismus zu bemerken. Der Einfluss der materiellen Bedingrungen
im Organismus auf das bewusste Geistesleben findet noch keines-
wegs die genügende Beachtung und Würdigung (ausser bei
Schopenhauer).
Die Theisten legten an die Erkenntnistheorie nur vorsichtig
zögernd ihre Kritik an, machten aber doch stückweise schon dem
transcendentalen Realismus Zugeständnisse, die den späteren
Umschwung wenigstens vorbereiten halfen, wenn sie ihn auch
nicht herbeiführten. Sie fügten zur absoluten Thätigkeit das sub-
stantielle absolute Subjekt hinzu und begingen dabei nur den
Fehler, dieses Subjekt als selbst bcwusstes und persönliches Ich zu
denken, um die abgebrochene Kontinuität mit der christlichen
Überlieferung wieder herzustellen. Sie fügten die beiden Thätig-
keiten des Denkens und Wollens als gleich unentbehrliche und
koordinierte Attribute zusammen und legten beide der absoluten
Substanz als Attribute bei. Damit machten sie es möghch. die
Einfachheit der absoluten Substanz (unter Abstraktion von den
Attributen) mit der Vieleinigkeit des absoluten Wesens (Sub-
stanz samt essentiellen Attributen) ohne Widerspruch zu verbinden,
und aus dem vieleinigen Wesen einen Prozess zu erklären, der
aus einem einfachen Wesen für immer unerklärlich bleibt. Sie
machten weiterhin den Unterschied zwischen Potenz und Aktus,
Wille und Wollen» InbegrifiF der logischen Möglichkeiten (Formen
und Gesetze) und aktueller absoluter Intuition» d. h. zwischen
logischem Formalprincip und Idee soweit deutlich» dass er künftig
nicht mehr übersehen werden kann. Dadurch ermöglichten sie
Rückblick ftuf diV Eatwickeltmj^ seit Kant.
597
es wiederum, die Unwandelbarkeit des Wesens mit der Wandel-
barkeit seiner Thätigkeit und die potentielle Unendlichkeit
der essentiellen Attribute in Bezug auf etwaige Thätigkeit mit
der Endlichkeit ihres Aktus selbst ohne Widerspruch zu ver-
einigen. So erst wurde es möglich, die Widersprüche zu über-
winden, die sich in der früheren Metaphysik an die Einfachheit,
Unwandelbarkeit und Unendlichkeit des Absoluten geknüpft und
die Lehre vom Absoluten immer wieder zum abstrakten Monis-
mus zurückgedrängt hatten, wie gross auch die Anstrengungen
gewesen sein mochten, ihm zu entfliehen. Die Theisten förderten
femer das Problem» wie sich das Individuum zum Absoluten ver-
halte, indem sie den BegriflF der geschaffenen, sekundären oder
abgeleiteten Substanz soweit bearbeiteten» dass er bis dicht an
den Punkt gefilhrt wurde, wo er in den Begriff des Modus oder
der blossen Thätigkeitsgruppe umschlägt. Bei den spätesten
Theisten, welche die materialistische Epoche des Zeitgeistes bereits
hinter sich haben {z. B. Lotze) findet endlich die Abhängigkeit
des bewussten Geisteslebens (Gedächtnisses» Charakters u. s. w.) von
leiblichen Funktionen bereits grundsätzliche und vollständige
Anerkennung. —
Der sinnliche Materialismus hat seine Mission damit erfüllt,
dass er an den Gedanken dieser Abhängigkeit so gewöhnt hat,
dass keine spätere Metaphysik mehr sich über ihn hinwegzusetzen
wagen darf Daneben hat er auch das Gebiet der induktiven
Methode erweitert und die Unentbehrlichkeit eines erkenntnis-
theoretischen Realismus für den gesunden Menschenverstand
wieder hervorgehoben, wenn er auch, statt zum transcendentalen
Realismus überzugehen, den Fehler beging, in den naiven zurück-
zufallen.
Der Agnostizismus machte nicht nur Kehraus mit allen
Träumen von einer apodiktisch gewissen Metaphysik, sondern
führte auch wider Willen den transcendentalen Idealismus ad ab-
surdum, indem er den absoluten Illusionismus und die Unmöglich-
keit irgend welcher Erkenntnis als seine Konsequenz aufzeigte.
Die individualistische und pluralistische Willensmetaphysik.
und der transcendentale Individualismus des übersinnlichen Materia-
Hsmus vollzogen, wenn auch zum Teil noch ohne rechte Klarheit
► über ihr eigenes Thun, den Übergang vom transcendentalen
Idealismus Schopenhauers und der übrigen Pantheisten zum trans-
cqg Rückblick auf die Entwickelang seit Kant.
cendentalen Realismus, wie ich ihn bereits 1868 in der Philosophie
des Unbewussten proklamiert, 187 1 in der Schrift über »das Ding
an sich und seine Beschaffenheit«*) näher begründet und seitdem
in zahlreichen Schriften verteidigt und genauer durchgeführt
habe. Der selbstherrliche Individualismus Stimers und Nietzsches,
der an dem transcendentalen Idealismus Fichtes und Schopen-
hauers und an dessen ag^ostischen Konsequenzen festhielt, beraubte
sich damit zugleich der Möglichkeit, für den Fortschritt der Meta-
physik irgend etwas Positives zu leisten.
Der übersinnliche Materialismus Hellenbachs und du Preis
hat das Verdienst, den unsterblichen Metaorganismys als die Be- •
dingung aufgezeigt zu haben, unter welcher allein an eine Un-
sterblichkeit der bewussten Individualseele gedacht werden kann.
Da weder die Hypothese eines solchen Metaorganismus irgend
welche wissenschaftliche Haltbarkeit hat, noch auch das Individual-
bewusstsein, dem sie die Fortdauer vermitteln soll, sich mit dem
persönlichen Bewusstsein des Menschen oder seinem Ich deckt, so
ist die Unsterblichkeitsidee, welche gestützt werden sollte, damit
gründlicher als je zuvor ausgeschaltet; dadurch ist aber wieder
der Nerv des metaphysischen Individualismus überhaupt gelähmt,
der gerade in dem Unsterblichkeitswunsche wurzelt und aus ihm
seine Kraft empfängt.
Fasst man den Standpunkt Hamerlings, nach welchem der
all-eine substantielle Weltgrimd in den Individuen, in denen er
sich setzt, fortbesteht, und denjenigen Wundts, nach welchem das
Individuum eine blosse Gruppe von Thätigkeiten ist, synthetisch
zusammen, so hat man die Grundlage eines konkreten Monismus,
nämlich eine allgegenwärtige absolute Substanz, deren atomistisch
gegliederte absolute Thätigkeit relativ konstante Gruppen von
Teilthätigkeiten bildet, die wir Individuen nennen. Aber der so
erhaltene konkrete Monismus ist noch ebenso naturalistisch wie
der Hylozoismus Haeckels, Spencers und Mainländers, weil die
Individuen äusserlich wie innerlich blosse Summationsphänomene
aus Atomkräften und Atombewusstseinen sind. Der Individua-
lismus hat diesem Naturalismus gegenüber so weit Recht, dass zu
der Summe der Atomkräfte und Atombewusstseine noch eine
*) Die zweite und dritte Auflage dieser Sclirift führt den Titel »Kritische Grrand-
legung des transcendentalen Realismus«.
Rückblick auf die Entwick etatig seit Kant,
599
leitende und sie in sich zusammenfassende Centralmonade hinzu-
konimen muss; Unrecht hat er nur, dass er in dieser Central-
monade eine Individuais ubs tanz sucht, statt eine Gruppe von
Thätigkeiten des absoluten Subjekts, die sich auf diese Gruppe
von Atomkräften leitend und verknüpfend beziehen.
Alle Richtungen des Atheismus haben gemeinsam dahin ge-
wirkt, mit dem Gedanken an die Möglichkeit eines Lebens ohne per-
sönlichen Gott vertraut zu machen, ohne darum doch die Sehnsucht
nach Gott aus dem menschlichen Herzen austilgen zu können, Sie
haben dadurch darauf vorbereitet, die bisher allein gültige, d, h. die
theistische Auffassung Gottes zu entbehren, ohne darum Gott als
Objekt eines religiösen Verhältnisses entbehren zu können. Un-
willkürh'ch haben sie damit einer weiteren Läuterung und Ver-
geistigung des Gottesbegriffs vorgearbeitet, die in der Abstreifung
er anthropopathischen Bestimmungen des Bewusstseins, des Selbst-
bewusstseins und der Persönlichkeit vom Absoluten bestehen muss, —
Nachdem nun die theistischen und atheistischen Richtungen
der Metaphysik des neunzehnten Jahrhunderts sowohl den nega-
tiven als auch den positiven Teil ihrer Aufgabe erfilllt haben, ist
die Zeit dafür reif geworden . um den Faden der pantheistischen
Entwickelung da wieder aufzunehmen, wo Hegel und
Schopenhauer ihn haben liegen lassen. Aber diese Anknüpfung
muss allen Berichtigungen, Ergänzungen und Fortfüh-
rungen Rechnung tragen, welche seitdem im Theismus
und Atheismus zu Tage getreten sind. In allen Punkten:
in der Methodologie, Erkenntnistheorie, Kategorienlehre, Prin-
cipienlehre. in den Anlehnungen der Metaphysik an die Natur-
philosophie, Psychologie und Religionsphilosophie und im Ver-
hältnis des Absoluten zum Individuum, sind wir viel weiter ge-
kommen, als die grossen Denker im ersten Drittel des neun-
zehnten Jahrhunderts es waren und sein konnten. Aber alle
diese Fortschritte hegen zerstreut herum und machen kein syste-
matisches Ganze aus, weil die Gegenwart entweder überhaupt
nichts mehr und noch nichts wieder von Metaphysik wissen will,
oder aber die heutigen Metaphysiker nicht auf dem Boden des
konkret -monistischen Pantheismus stehen.
Die Geschichte der Metaphysik lässt es als die nächste Auf-
gabe erkennen, den konkretmonistischen Pantheismus auf
Grund der induktiven Methode und der transcendental-
5oO Rückblick auf die Entwickeluag seit Kant.
realistischen Erkenntnistheorie durchzubilden, das absolute
substantielle Subjekt des Theismus ohne dessen Bewusst-
sein, Selbstbewusstsein und Persönlichkeit in den Pantheismus
hereinzunehmen, den einseitigen Panthelismus und Panlogismus
vermittelst zweier koordinierter Attribute der Substanz zu
überwinden, der materialistischen Abhängigkeit des bewussten
Geisteslebens von organischen Funktionen uneingeschränkt Rech-
nung zu tragen und dem Individuum eine würdigere und
relativ selbständigere Stellung als im abstrakt monistischen
und naturalistischen Pantheismus anzuweisen, ohne es darum
zu hypostasieren. In diesem Sinne habe ich die Aufgabe der
Metaphysik seit der Mitte der sechsiger Jahre aufgefasst und
mich bemüht, zu ihrer Lösung beizutragen. Ob ich die Aufgabe
damit richtig erfasst habe, und inwieweit es mir gelungen sei,
ihrer Lösung näher zu kommen, das zu erörtern, muss künftigen
Geschichtschreibem vorbehalten bleiben.
ANHANG
Sachlich geordnete Übersicht meiner Schriften.
(Februar 1900.)
I. Erkenntniitbeorie.
a, Systeinatischei.
Das Erkennen. Eine Einleilung io die Philosophie 4 in der Wiener WodienscbnK
»Die Zeit«, 1897, No, 146—149, 150 — 154),
Das Griindproblem der Erkenntnistheorie.
Kategorienlehre (insbesondere in jedem Kapitel der erste Abschnitt, der über die be-
treffende Kategorie in der subjektiv idealen Sphäre handelt).
Das Unbevusste im Denken und in der Entstehung der sinnlichen Wahniehmung
(»Phil d. Uobewussten», 10. Aufl., Bd. I, A, Kap. VD— Vin. S. 261-^305,
468-473).
Transcendentaler Ideülismus und Realismus (in der »Zeitschrift IBr Philosophie und
phdosophische Kritik«, Bd. 99» S. 183 — 209).
Die letzten Fragen der Erkenntnistheorie und Metaphysik, i. Erkenntnistheorie (in
der »Zeitschrift fftr Philosophie und philosophische Kritik«, Bd. 108, S. 55— 73K
b. Historisch-Kritisches.
Geschichte der Metaphysik, Bd. I. u. U fzablreiche AbBchniite, siehe Inbattsverteichnis).
Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Feiioden ihrer Entwickelting.
Kiitlsche Grundlegung des transcendentalen Realismus.
Kant und die heutige Erkenntnistheorie (»Phil. Fragen der Gegenwart«« No. XI« S* 244
bis 260).
Schellings philosophisches System, Kap. II : die intellektaelle Anschauung» und Kap. III :
die Erkenntnistheorie. S. 28 — 96«
J. H. V. Kirchroanns erkeuntnisthcorciischer ReJiUsmus.
Lotzes Erkenntnistheorie und Metaphysik (»Lotzes Philosophie«, No, II , 1—7
S, 47— «54)-
Lange -Vathingers lubjektivistiBcher Skeptidsmus (»Neukantianismus, Schopenhaucrianis-
raus und Hegelianismus«, 2, Aufl., 11^ 1 — 16 u. 19» IO, 1—3, S. i^ — 7, 17 — 29,
45—104, 116— IJ2).
Wtmdts Erkeuntnistheoiie (in den »PreiisiticheD Jahrbflcbeni«, Bd« 66» S. 6 — t8K
6o2 Anhang.
Zum gegenwärtigen Stande der Erkenntnistheorie (»Kritische Wanderungen durch
die Phil, der Gegenwart«, No. VII. i. Volkelts EAenntnistheorie, 2. Bieder-
maons »reiner Realismus«, 3. Domen Erkenntnistheorie und Metaphysik,
S. 182—235).
Der theologische Neukantianismus (»Die Krisis des Christentums in der modernen
Theologie«, No. in).
n. Methodologie.
Die logische Determination in der subjektiv idealen Sphäre (»Kategorienlehre«, S. 281
bis 318).
Methode der Untersuchung und Art der Darstellung (»Phil. d. Unb.«, 10. Aufl.
Einleitendes, Ib, S. 5—13).
Über die dialektische Methode.
Die Realdialektik (»Phil. Fragen der Gegenwart«, No. Xll, S. 261—298).
Hallers Dialektik (»Krit. Wanderungen«, No. VI 2, S. 154—173).
Über wissenschaftliche Polemik (»Ges. Studien und Aufsätze, A II, S. 42 — 67).
Das Erkennen. III. Die Methoden des Erkennens (in »Die Zeit«, No. 152 — 153).
Schellings philosophisches System, S. 26 — 39.
in. Psychologie,
a. Systematisches.
Der Instinkt im menschlichen Greiste. Das Unbewusste in der geschlechtlichen Liebe,
im Gefühl, in Charakter und Sittlichkeit und in der Mystik. Das Unbewusste
und das Bewusstsein in ihrem Werte fUr das menschliche Leben (»Phil, des
Unb.«, IG. Aufl., Bd. I, B. I— IV, IX u. XI, S. 177—233. 306—321, 346—360,
430—433» 463—466, 473—474)-
Die Unterschiede von bewusster und unbewusster Geistesthätigkeit. Die Entstehung
des Bewusstseins. Das Bewusstsein in der Pflanze. Der Begriff der Individuali-
tät (»PhU. d. Unb.«, Bd. H, C I, UI, IV 2, VI, S. 3—15, 29—64, 82—95.
124—155, 467—473» 478-481).
Gehirn und Intellekt. Charakter und Wille. Die Vererbung insbesondere des Cha-
rakters. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. Die Abkürzung der
Ideenassodation und die Vererbung der Denkformen. Die Entstehung der An-
schauiwgsform der Räumlichkeit. Das relativ Unbewusste (»Phil, des Unb.«,
Bd. m. Erstes Buch No. IV— IX, XH 2, S. 98—242).
Die Grefiihlsmoral. Die Vemunftmoral (»Das sittliche Bewusstsein«. 2. Aufl. 2. Abth.
A n, S. 143-281).
Die religiöse Funktion als Grefühl (»Die Religion des Geistes.« A I 2, S. 27 — 55).
Die Entstehung des Kunstschönen (»Phil. d. Schönen.« Kap. Vm, S. 522 — 586).
Der Wertbegriff und der Lustwert (»Ethische Studien, S. 126 — 159).
Das Wesen des Gesamtgeistes (»Ges. Studien und Aufsätze.« C. V, S. 504 — 519).
b. Historisch-Kritisches.
Frauenstädts Umbildung der Schopenhauerschen Philosophie. Bahnsens Charakterologie
(»Neukantianismus etc.« III 4—5, IV 1—4, S. 132—137, 175 — 21 1).
Hallers Mystik (»Krit. Wanderungen«. VI 3. S. 173— 181).
Die Motivation des sittlichen Willens (»Krit Wanderungen«, V, S. 105^141).
Anhang.
603
^(mdu Psychologie (in den 'Preussischen Jabrbücbem«, Bd. 66, S, 132 — 141).
Der Somnambuiisnm» (.Moderne Probleme-, 2* Aufl., No. XV, S. 207 — 277).
Der Spiritismus (iiisbesondere S. 23^34, 57 — 84).
Die Geisterhypoihese des Spiiitismiis ood seine Pbaatome (insbesoadere S. <}— §i,
69—70).
IV. Naturphilosophie.
3k. System» tisch es.
Philosophie des Uobewusstec, 10. AuB.« fid. L EioleiteDdes. A. Die BlrscheiDung
des Unbewasstei) in der Leiblichkeit. Aabaag: Zur Physiologie der Nerveacentra
(s. I— 173. 363-463* 475-478^
GehirD und GangUen als HedingimgeD des tierischcD Bewusstseina. Die unbewusste
Seelenthäügkeit der Pflanic, Die Materie als Wille und VorsteUang (atomiatischcr
Dynamismus). Der Bcgrifl" der Indiridualität. Das We^en der Zeugung vom
StaDdpuiikt der Ail-Eiubeit de» Uobewussten. Die aulsteigende Entwickelung dea
organischeo Leben» auf der Erde (.Phü, d. üob.<. Bd* n C. n. IV t. V, VI.
IX, X, S. 16—28» 65—82, 96—154» 202—251» 468» 473—481, 510—514).
Das üubewusste vom Standpunkt der Physiologie und Desceadcnjctheorie : Allgemeine
Vorbemerkungen. Desceadeaztheorie und natürliche Zuchtwahl. Die Teleologie
vom Stimclpuakt der ÜcaccDdenztheorie. Die Entwickdung vom Standpunkt der
Desceadeaztheorie. Der Instinkt als ererbte Hirn- und Gunglienprüdispoiiition.
Die Instinkte der untergeordneten Ceutralorgime deb Ncr^cusyslemit ( • Pbü. d.
ünb,« 10. Aufl. Bd, m. Entes Buch, Kap. I— Dl und X^XJU S. 3—97.
243—2^).
Die Räumlichkeit in der objektiv realen und metaphysischen Sphäre («Kategorienlehre«»
S. j 42— 172).
b. Historisch-Kritisches.
Kants Erkenntnistheorie and Metaphysik, S. 197 — 215, 228 — 256.
ScbeUings Naturphilosophie (^Schellings philosophisches System«» Kap. V. S. 137 — 190),
Wahrheit und Irrtum im Darwinismus. Die nai urwissenschaftlichen Grundlagen der
PMl. d. Unb. und die darwinistische Kritik (Phil. d. Unb.., 10. Aufl., Bd. III.
Zweites und drittes Bach, 8. 333—510)»
Naturlorschung und Philosophie. Anfänge naturwissenschaftlicher Selbsterkenntnis. Ernst
H^kel. Über die Lebenskraft. Schopenhauer und die Farbenlehre. Dynaiuismus
und Atomismus (»Ges. Studien und Aufsätze*» C. I™ IV» VI — VII» S. 421 — 503,
520—545).
iTnndts Teleologie (in den »Preussiscben Jahrbüchern«» Bd. 66» S. 123 — 132).
Die Versöhnung zwischen Philosophie und Naturwisseaschatt» Die Teleologie. Physik
tmd Metaphysik (»Neukantianismus etc.*, II 6» 111 (> uud 9» S. t>2 — 65» 137 — 145»
155- «57)*
Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters (»Tages fragen«» No. XIH» S. 1 86— 197).
V. Metaphysik.
a. Systematisches.
Kategorienlehre (insbesondere in jedem Kapitel der dritte Abschnitt» der die be-
treffende Kategorie in der metaphysischen Sphäre behandelt).
Die Verbindung von Wille and Vorstellung. Die All-Einheit des Unbewussten. Das
604 Anhang.
Unbewnsste and der Gott des Theismus. Die Individuation. Das Ziel des Welt-
prozesses and die Bedeutung des Bewusstseins. Die letzten Principien. Das Un-
bcwusste (»Phü. d. Unb.c. lo. Aufl., Bd. I, A IV, S. 100—108, Bd. H, C VII. Vm.
XI, xrv, XV. s. 155—201. 252—272. 391—466, 480—510, 523—539, Bd. m.
Erstes Buch, Kap. XII, S. 295—330).
Zum Begriff der unbewussten Vorstellung (in den »Philosophischen Monatsheften c,
Bd. 28, S. 1—25).
Die letzten Fragen der Erkenntnistheorie und Metaphysik. 2. Metaphysik (in der
»Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik«, Bd. 108, S. 211 — 237).
Zur Auseinandersetzung mit Hm. Prof. Domer (in der »Zeitschr. f. Phil. u. phiL
Kritik«, Bd. 113, S. i- 12).
Religionsmetaphysik (»Die Religion des Geistes«, B., S. 113 — 268).
Der Pessimismus und der Gottesbegriff (»Zur Gesch. u. Begr. des Pessimismus«.
No. XIV, S. 310-326).
Übersicht der wichtigsten philosophischen Standpunkte (»Phil. Fragen der Gegenwart«,
No. IV, S. 58- 78).
Die allotrope Kausalität (im »Archiv für systemat. Phil.«, 1898, Bd. V, Heft i, S. i — 24.
Zum Begriff der Kategorialfunktiou (in der »Zeitschrift für Phil. u. phil. Krit.%,
Bd. 115. S. 9— »9)-
b. Historisch-Kritisches.
Geschichte der Metaphysik.
Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik, S. 46 — 61, 183 — 197, 215 — 228).
Schellings Philosophie im Verhältnis zu Vorgängem und Zeitgenossen. Die intellek-
tuelle Anschauung im engeren Sinne. Das unbewusste absolute Wissen and das
absolute Bewusstsein. Die Principienlehre. Die Individuation (»Schellings phiL
System«, Kap. I, U 3—4, IV und VI i, S. 1—27.39—51,97—136, 191—204).
Das phil. Dreigestira des 19. Jahrhunderts (»Ges. Studien und Aufsätze«, D., S. 549 — 729).
Mein Verhältnis zu Schopenhauer. Die Schopenhauersche Schule (»PhiL Fragen der
Gegenwart«, No. II— EU, S. 25—57).
Zur Geschichte der Philosophie der neuesten Zeit. Zu Schopenhauers hundertjähiigem
Geburtstag. Mein Verhältnis zu Hegel (»Kritische Wanderangen« No. I — HI.
S. 1-75).
Frauenstädts Umbildung der Schopenhauerschen Philosophie. Bahnsens charakterolo-
gischer Individualismus. Volkelts Panlogismus des Unbewussten. Rehmkes
Monismus des unendlichen Geistes (»Neukantianismus, Schopenhauerianismus und
Hegelianismus«, 2. Aufl. der »Elrläuterungen zur Metaphysik des Unbewussten«.
Kap. in, 7—8, II— 14» IV B., V— VI, S. 7—17. 29—42, 145—155. »63—174.
211 — 362).
Lotzes Philosophie, S. i — 47, 154 — 183.
Die Behandlung meiner Philosophie in der philosophiegeschichtlichen Litteratur (in
der »Gegenwart«, 1897, No. 47).
Wundts System der Philosophie, i. Der allgemeine philosophische Standpunkt.
3. Der Kampf gegen den Substanzbegriff. 6. Der einheitliche Weltgrund (in den
»Preussischen Jahrbüchem«, Bd. 66, S. i — 6, 18 — 31, 141 — 152).
Ein Neuschellingianer [Portig] (in den »Preuss. Jahrbüchem«, 78, Heft 3, S. 369 — 382).
Fechners Universalbewusstsein (in der »Sphinx«, 1891, Juniheft, S. 321 — 330).
Anhang.
605
;in neuer Scbopeobaaenancr [h'ctersj [in det •Gegeowiit«^ 1883, No. 24).
Robert Hamerling alj Philosopb (io der *GcgeiJwaTt<» 1891, No. i).
VI. Endimonologivcbe Axiologie.
a, Sysiematiscfaet.
Die AxiolDgie und Ikre Gb'ederang. Die Stellung des Pcssimifmtu in meinem philo-
Mophiscben System. Ist der Pessimismus wiisenscbaftlJcb zu begründen? (»Em
Geschichte und Begründang des Pessiinisinns«, No. L 11, X, S, 1 2S, 239 — 262).
Die Beweise und Geltungssp baren dea Pestimismuj. Die Möglicbkcit der Empfindungs-
bflancc (>Phil. Fragen der Gegenwart«, No. J -2, S. 78 102),
Das Kompensationsäquivalent von Lost und Unlust (iZur Geschichte u. Begr, des
Pessimismus«, No. XI, _S. 263— 277).
Der Wenhcgrifr und der Lustwert ( »Ethische Studien*, No. VT, S. 126-159).
Die Allweisheit des Unbewussten und die Bestmöglichkeit der Welt. Die Thorbeit
des Wollen« and das Elend des Daseins ,^Phil. d. Unb.*, Bd. H, C. XO— XIU,
S. 171 -590. 514— S36)'
Leibnix als praktiicber Optimist {>Ges, Studien und AufiäUec, A III, S. 68—87}.
Ist der Pessimismiu schädlich? Kann er endehlich wirken? Fährt er zum Selbst-
mord? Die Lust als höchster WertmasssUb. Der Pessimismaa und der Gottes-
begriff. Die Bedeutung des Leids (>Zur Geschichte u, Begr, des Pessimismos«
2. erw. Aufl., No. VII- IX, Xn, XIV- XV, S. 156-239, 277-288, 310—373).
Ist der Pessimismus trostlos? (»Ges. Studien und Aufsätze* ♦ A VII, S. I47— 165).
Der Pessimismus und die Ethik (»Phil. Fragen der Gegenwart*. No. V 3. S. 102 — 112).
Gegen wartspessitmsmui und Zukanftsopttmismui. Ethik und Pessimisnius (t Ethische
Studien-, No. VII, i a, 2b, S, 160-164, 185 199).
Das sittliche Bewusslsein, 2. Aufl., S. 48—60, 472—486» 509—520, 526 — 528, 534 -612,
671—688.
Die Religion dei Geistes. S. 50 — ^55, 89 — 102, 15a 155, 180 183, 235 237,
255- 268, 303 306),
Philosophie des Schonen, S. 358—341, 377-381, 411—417» 487—490.
Das Wesen des TrAgischen (>Ges. Studien und Aufsätze«, B 114, S, 292-307).
b. Historiich-Kritjschet.
Plotins Axiologie. Kant idi Vater des modernen Pessimismu*. Plümachcns Geschichte
de« Pessimismiia. Der Pessimismus in der Lyrik. Dörings philosophische Gtitcr-
lehre (»Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus«^, 2. Aufl., No. UI- VI
und XIV. S, 64-155, 288—310).
in welchem Sinne war Kant ein Pessimist? (►Pbil. Fragen der Gegenwart*, V 4.
S. 112- 121).
Kant und der Pessimismus (in den »Kantitudien*, ß. V, Heft i).
Das religiöse Bewusstsein der Menschheit im Stufcugsmg seiner Entwicklung, S. 133—135.
167—171, 231 236, 288 303, 31»— 3^5» 4»5-4^3. 457™4*»0' SÖl—SÖS.
614—618),
VIL Ethik.
I. Etbifche Principicolehre*
>af sittliche Bewusstsein, 2. Au8. der Phänomenologie des sittlichen Bewusatseini.
Unterhalb und oberhalb von gut und bÖse. Nietzsches neue Moral. Stirners Ver-
herrlichung des Egoismus. Die antike Humanität Heteronomie und AntonomJe.
6o6 Anhang.
Der WertbegrifT and der Lastwert. Ethik and Eadämonismos («Ethische Stadien«.
No. I— Vn. S. 1—227).
Die religiöse Anthropologie (»Die Religion des Geistes«, B II i, S. 180 — 237).
Der Pessimismas and die Ethik (»Phil. Fragen der Gegenwart«, No. V 3, S. 102 — 112).
Wandts Ethik. Die Motivation des sittlichen Willens (»Krit. Wanderangen«, No. IV.
V, S. 76—141).
Der IndiWdaalismas der Gegenwart (in den »Preussischen Jahrbüchern*, Bd. 96, Heft 3,
s. 30-56).
2. Individualethik.
Das sittliche Bewasstsein (insbesondere >da8 Moralprincip der sittlichen Freiheit«.
s. 323—379)-
Religionsethik (»Die Religion des Geistes«, C I, S. 271 — 306).
3. Socialethik.
Die objektiven Moralprincipien oder die Ziele der Sittlichkeit (»Das sittliche Bewasst-
sein«, Zweite Abtheilang B, S. 472 — 612, insbesondere S. 597 — 607, 531 — 568).
a. Rechtsphilosophie.
Die Moralprincipien der Rechtlichkeit und Gerechtigkeit und der Billigkeit (^das sitt-
liche Bewusstsein«, S. 400—439).
Die GrundbegrÜTe der Rechtsphilosophie, (»Phil. Fragen der Gegenwart«, X, S. 206—243).
Prindp und Zukunft des Völkerrechts (»Ges. Studien und Aufsätze«, A. X, S. 121 — 146).
b. Politik.
Zwei Jahrzehnte deutscher Politik und die gegenwärtige Weltlage.
Die Gefahr der Demokratie. Unsere Verfassung. Der Niedergang der Volksvertretung.
Die Reform der Volksvertretung. Die kirchlichen Zustände in Preussen (»Tages-
fragen«, No. n— VI, S. 25—98).
Das Judentum in Gegenwart und Zukunft, 2. Aufl, Kap. 8 u. 9, S. 10 4 — 146.
Die zweijährige Dienstzeit. Der politische Horizont. Europäische Politik und Welt-
politik. Der Neutralitätsvertrag mit Russland. Die Sozialdemokratie. Der
Anarchismus. Die Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie. Grriecfaenland und
Deutschland. Die Verstärkung der deutschen Kriegsflotte. England und Deutsch-
land. Die agrarische Frage. An des Jahrhunderts Wende. Die Erde im zwan-
zigsten Jahrhundert. Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert (in der »Gegenwart«,
1890 No. 24; 1892 No. i; 1896 No. 40, 41, 51, 52; 1897 No. i, 14, 39, 40;
1898 No. 14, 23—24; 1899 No. I, 52; 1900 No. i).
c. Volkswirtschaft.
Die Verteilung des Arbeitsertrages. Die Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Die
Bodenfrage. (»Die sozialen Kernfragen«, A I, 11, i — 3, B m, D I, S. i — 117,
312—372, 440—514).
Das sittliche Bewusstsein, S. 499—513, 537 — 546).
Das Judentum in Gegenwart imd Zukunft (2. Aufl., iCap. 8 u. 9, S. 104 — 164).
Steuern wir einer Plutokratie entgegen (»Tagesfragen, No. I).
Die Kreditwirtschaft (in der »Gegenwart«, 1896, No. i).
d. Soziologie.
Was sollen wir essen? Die Gleichstelltmg der Geschlechter. Die Lebensfrage der
Familie. Die heutige Geselligkeit. Die Wohnungsfrage. Moderne Unsitten
(»Moderne Probleme«, 2. Aufl., No. I, III— VII, S. i— 21, 36—120).
Anli&ng«
607
>ie Jun^emfr&ge. Der Zweikampf- Das Spiel. Lotterie und Totalisator («Tages-
fragen«, No. VII— X, S, 99— iJS)
Da« Judentum in Gegenwart tind Zukunft, 2. Aufl., Kap. 1^2 und 4 — 7, S. l — 29,
51—104).
Die Principicn der Freiheit und Gleichheit, (»Da» littliche Bewusitiem«, S, 300 — 323).
Der tUT Erhaltung einer Aristokratie erforderliche ZinszuschuES zum Lohn der geistigen
Arbeit. Der dem schädlichen Lujlus dieuende Teil des Arbeitsertrages. Die
Arbeitsscheu. Die Arbeitslosigkeit, Die Arbeitvergeudung. Hygienische Ver-
besserungen. Die Bekämpfung de* Trunkes. Die zeitliche und personelle Ver-
teilung der Arbeit Die Verringerung der dem schädlichen Luxus dleoeoden
Arbeit. Die Bevölkerungs frage (»Die sozialen Kernfragen«, A U 4— S» ^ ^*
U i^i, C L n I, D n, S. 117— «49. »75—297, 373—439. S»4— S70
Das G^flLngnts der Zukunft («Ges. Studien u. Aufsätze«, A X, S. 206 — 232).
Erziehung und Bildung.
a. Schulwesen.
Zur Reform des höheren Schulwesens.
Die Übcrbürduug der Schuljugend. Die preussische Schulreform von iSSj. Der
Streit um die Organisation der höheren Schulen (»Moderne Probleme« « 2. Aufl.,
No. X-XIL S. 157-193)*
Di« preussische Schulreform von 1892. Der deutsche Unterricht im Gymnasium.
(»Tagesfragen«, No. XI— Xu, S. 105—185).
Die Verbesserung des Erziehungs- und ßildungswesens der Arbeiter» (»Die sozialen
Kernfragen^ B IT 3, S. 297—311).
Das heutige Gymnaalum (in der «Gegenwart«, 1899, No. 9).
ß. Universitätswcsen.
Zur Reform des Unwersiiatsunterricbtcs. Das PhUosophicstudium auf den Universi-
täten (.Moderne Probleme*, No. Vfll— fX. S. 120—137).
Symptome des Verfalls in Künstler- und Gelehrtenkrcisen (»Ges. Studien und Aufsätze*
A rV, S. 184-^205).
Die akademische Frau (in dem Kirchhoflscben Sammelwerk gleichen Titels, Berlio ,
Sleinitz, 1897, S. IS^^-'SS*-
Weibliches UniTersitätsstudium iß der > deutschen Warte«, 1896, No. 345 B),
y, Litteratur.
Über SchriftsteUerei . Erfolg und Kritik. Das Philosophiestudium durch Lektüre.
Wie wird man Philosoph? (»Tagesfragen*, No. XV— XVII, S. 214—286).
Dichters schönstes Denkmal, (*Ges. Studien and Aufsätze«, A XI, S. 333—247),
Der Bficher Not. Die epidemische Ruhmsucht unserer Zeit. (tModeme Probleme«,
No. Xiri— XIX, S. 193--207).
VItli ReiigionapbiJosophic.
Systematiiches.
He Religion des Geistes.
Unterhalb und oberhalb von gut und bdse. Religionsphilosophische Tkesen (»Ethische
Studien*, No. 1 und VIII, S- t — 33, 228 — 241).
Das Unbewussle und der Gott des Theismus (»PhiJ. d, Unb.« Bd. II, C VII,
S, 175 — 201, 482—510)*
6o8 Anhang.
Der Pessimismus und der Gottesbegriff. (»Zur Geschichte und Begründung des
Pessimismusc, No. 2, XIV, S. 310-326).
b. Historisch-Kritisches.
Das religiöse Bewusstsein der Menschheit.
Die Anfänge der Religion (in »Westennanns illustrierten Monatsheften, 1897, Dezember-
heft, S. 325- 341).
Geschichte der Metaphysik, Bd. I, siehe Register unter »Religionsphilosophen« und
»Trinitätslehret, Bd. II, dcsp;l. unter ^Selbstbewusstsein und Persönlichkeit des
Absoluten« und »Trinität«.
Ein chinesischer Klassiker (»Ges. Studien und Aufsätze«. A VIII, S. 166-183).
Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zukunft, 3. Aufl.
Die Krisis des Christentums in der modernen Theologie, 2. Aufl.
Lotzes Verhältnis zum Christentum (»Lotzes Philosophie«, S. 42—47).
Zur Religionsphilosophie. Philosophie und Christentum. Was ist Nirwana? Indische
Gnosis oder Geheimlehre (»Phil. Fragen der Gegenwart«, No. VI- IX, S. 121- 206).
Biedermanns s reiner Realismus«:. -Kritische Wanderungen«, No. VII, S. 219 — 222).
Das Judentum in Gegenwart und Zukunft. Kap. 3, Religion, S. 29 — 50.
Die dreipersönliche Gottheit bei Schelling -^Schellings philosoph. System-, VI 3,
S. 216- 221.
Zur Geschichte der christlichen Religion (in der »Gegenwart« 1900, No. 14).
IX. Ästhetik,
a. Systematisches.
Die Philosophie des Schönen.
Das Unbewusste im ästhetischen Urteil und in der künstlerischen Produktion (»Phil,
d. Unb.«. Bd. I, B V, S. 233- 253).
Zur Ästhetik des Dramas. Das Problem des Tragischen. Ober ältere und moderne
Tragödienstoffe. (»Ges. Studien und AufsäUe*, B I- HI. S. 251- 319).
Freie und unfreie Ktinste (»Tagesfragen«, No. XIX, S. 198—213).
b. Historisch-Kritisches.
Die deutsche Ästhetik seit Kant.
Aus einer Dichterwerkstatt. Shakespeares Romeo und Julie. Der Ideengehalt in Goethes
Faust. Schillers Gedichte: »das Ideal und das Leben« und »die Ideale«. Zur Ge-
schichte der Ästhetik. (>Ges. Studien und Aufsätze«, B IV- VIII, S. 320—417).
X. Philosophie der Geschichte.
Das Unbewusste in der Geschichte (»Phil. d. Unb.«, Bd. I, B X, S. 322-345).
Das Wesen des Gesamtgeistes (*Ges. Studien und Aufsätze«, C V, S. 504 — 519).
Das Unbewusste in der Entstehung der Sprache (ebd.. B VI, S. 254 — 260).
Die Ergebnisse der modernen Sprachphilosophie. (»Krit. Wanderungen«, No. VIII.
S. 236—310).
Prindp und Zukunft des VölkerrechU (»Ges. Studien und Aufsätze«, A VI,
S. 121— 146).
Das religiöse Bewusstsein der Menschheit.
Das sittliche Bewusstsein, S. 317, 322, 507—540, 564—582).
Die Bevölkerungsfrage (»Die sozialen Kernfragen«, D II, S. 514—559)-
Phil. d. Unbewussten, Bd. II, S. 376—389.
Druck von Carl Otto in Meerane.