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Full text of "Geschichte der Metaphysik"

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Eduard  von  Hartmanns 


Ausgewählte  Werke, 


BAND  XIL 


Geschichte  der  Metaphysik. 


Zweiter  Teil:  seit  Kant 


Leipzig,  190a 
HERMANN  HAACKE, 

VSIULAGSBUCHHANDLUNO. 


GeschicMe  der  Metaphysik. 


Von 


C> 


Ednard  von  Hartmann. 


ZWEITER  TEIL: 


Seit  Kant 


Leipzig,  igoa 
HERMANN  HAACKE. 

VERLAGSBUCHHANDLUNG. 

4 


lELAiW  ^//*<V'-.;'. J  '/V.  U:^ll/il^SITY. 


CL^zi'be 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


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INHALT. 


1*  Kant  und  seine  Schulf. 


Seite* 


,Kiinl 

Kanu  erste  Periode:  S,  i,  —  Kants  «weite  Periode:  S.  2.  —  Motive  fiir 
Kants  Übergang  zur  dritten  Periode:  S.  5.  —  Kants  Apriorisitius  udö  RationalU- 
mufi:  S.  7*  —  Kants  Verhältnis  zum  Empirismus:  S.  9-  —  Die  objektive  ReaJi- 
tit:  S.  ir  —  Moral  und  Naturphilosophie  als  Zweck  der  Kantschen  Er- 
kenntnistheorie und  Metaphysik:  S,  12  —  Der  Begriff  der  Kategorie:  S.  15.  — 
Grilnde  fiir  die  Aprioritit  der  Anschauungs-  und  Denkfozmen;  S.  15,.  — 
Ursprung  und  Geltungsbereich  der  Kategorien :  S.  17.  —  Gründe  für  die  bloss 
immanente  Geltung  der  Anschauungiformen:  S.  t8.  —  Das  Geltungsgebiet  der 
Denkfomieo :  S.  20,  —  Doppeiter  Gebrauch  und  doppelte  Bedeutung  der 
wichtigsten  Denkformen :  S.  22.  —  Die  Tafeln  der  Urteilsform cn,  Denkfomien 
und  SchemaU:  S.  23.  —  Die  Kausalität:  S.  ib.  —  Die  SubstantiaütÄt:  S.  iq.  — 
Die  reine  Naturwissenschaft  a  priori:  8,31.  —  Die  Vemunf tbcgriffe :  S.  32,  — 
Das  Ich:  S,  33«  —  Die  kosmologischen  Antinomien:  S.  33.  —  Die  rationale 
Theologie:  S.  35.  —  Vernunft-  und  Vcrstandesbegriffc,  regulative  und  kon- 
stitutive Erkenntnu:  S.  37 <  —  Die  Finalität  als  die  Kategorie  der  UrteiU- 
kraft:  S,  39.  —  Teleologie  und  Mechanismus:  S.  42.  —  Der  Endzweck  der 
Weh:  S.  45.  —  Rückblick  und  Ausblick :  S.  45.  —  Tabellarische  Übersicht:  S,  47. 

.  Die  Knntsche  Schule ... 

I.  Reinhold .     .     . 

1.  Schuke 

3.  Maimon  ,,.,♦. 

4.  Beck  .... 

5.  BardiÜ  .  , 

6.  Bouterwek     .     . 

7.  Krug 
S.  Fries 


Fl.  Der  Pantheismus. 

I*  J.  G.  Fichte ...  ... 

Sem  erster  und  sein  zweiter  Standpunkt:  S.  63.  —  Die  Urtbätigkeit:  S.  65»  — 
Das  reine  Ich:  S.  67.  —  Da*  absolute  Ich:  S.  6d.  —  Ich  _  Ich:  S.  71.   — 


«>i 


~     VT     — 

Seite 
'  Die  Mehrheit  der  Ichs:  S.  73.  —  Widerspruch  der  theoretischen  und  prak- 
tischen Weltanschauung:  S.  75.  —  Die  notwendige  Berichtigung  des  Fichte- 
schen Standpunkts:  S.  ^^,  —  Die  Ableitung  der  Kategorien  aus  dem  Prozess 
der  Bewusstseinsentstehung :  S.  79.  —  Die  Relationskategorien  und  die  Denk- 
gesetze: S.  81.  —  Der  konkrete  Prozess  der  Bewusstseinsentstehung:  S.  83.  — 
Die  zwiefache  Doppelseitigkeit  der  Thätigkeit:  S.  85.  —  Die  Anschauungs- 
formen und  die  Modalitfttskategorien :  S.  86.  —  Rückblick  und  Fortgang: 
S.  87. 

2.  Schelling  in  seiner  ersten  Periode 89 

Verhältnis  zu  den  Vorgängern:  S.  89.  —  Die  Methode  und  die  intellektuelle 
Anschauung:  S.  93.  —  Die  intellektuelle  Anschauung  und  das  Absolute: 
S.  95.  —  Ansich  und  Ding  an  sich:  S.  97.  —  Anschauungsformen  imd  Be- 
griffe: S.  99.  —  Die  Kategorien:  S.  100.  —  Die  prästabilierte  Harmonie 
zwischen  Handeln  und  Anschauen  und  die  zwischen  verschiedenen  Intelligenzen : 
S.  103.  —  Der  drei£Eu:he  Begriff  der  Natur:  S.  105.  —  Der  dreifache  Begriff 
der  natura  naturans  als  idealis,  realis  und  absoluta:  S.  108.  —  Der  All- 
organismus: S.  HO.  —  Die  Weltseele  als  Lebensprindp :  S.  in.  —  Die 
Imponderabilien:  S.  113.  —  Die  Theorie  der  Materie:  S.  114.  —  Die  Prind- 
pien  als  Thätigkeiten :  S.  117.  —  Die  Prindpien  als  ewige  ideale  Momente: 
S.  121.  —  Der  Panlogismus:  S.  123.  —  Das  Problem  der  Individuation : 
S.  125.  —  Das  Problem  der  Freiheit  als  Überleitung  zur  zweiten  Periode:  S.  127. 

Solger 128 

J.  J.  Wagner 131 

Oken 135 

Schubert 137 

Planck 138 

3.  Schleiermacher 139 

Sein  Verhältnis  zu  Vorgängern:  S.  139.  —  Schieiermacher  als  Schellingianer : 
S.  141.  —  Deduktion  und  Induktion:  S.  143.  —  Die  intellektuelle  und  die 
organische  Thätigkeit:  S.  144.  —  Das  bewusstseinstranscendente  Sein:  S.  146. — 
Die  untere  und  obere  Grenze  von  Begriff  und  Urteil:  S.  148.  —  Die  Identität 
des  Idealen  und  Realen :  S.  1 50.  —  Das  begriffliche  und  das  urteilende  Er- 
kennen: S.  152.  —  Fühlen,  Denken  und  Wollen:  S.  154.  —  Das  System 
der  substantiellen  Formen  und  das  System  der  Wechselwirinmg  als  das  Ideale 
und  Reale  in  der  Natur:  S.  156.  —  Kraft  und  Erscheinung:  S.  157.  —  Zeit, 
Raimi  imd  Stoff:  S.  158.  —  Die  Welt  als  Einheit  von  Natur  und  Greist: 
S.  159.  —  Gott  als  die  ursprüngliche  Identität:  S.  160.  —  Grott  als  der  un- 
bewusst  und  xmpersönlich  Lebendige :  S.  161.  —  Die  Unerkennbarkeit  Gottes: 
S.  163.  —  Tabellarische  Übersicht  des  Schleiermacherschen  Systems :  S.  166.  — 

4.  Schopenhauer 167 

Verhältnis  zu  Kant  und  Fichte:  S.  167.  —  Verhältnis  zu  Schellings  erster 
Periode:  S.  169.  —  Verhältnis  zu  Schellings  zweiter  Periode:  S.  171.  — 
Verhältnis  zu  sonstigen  Vorgängern:  S.  172.  —  Der  Standpunkt  des  »besseren 
Bewusstseins«  als  Vorstufe  der  Schopenhauerschen  Willensmetaphysik: 
S.  174.  —  Übergang  von  diesem  Standpunkt  zur  Willensmetaphysik:  S.  177. 
—  Raum  und  Zeit:  S.  178.  —  Kausalität  und  Motivation:  S.  179.  — 
Kausalität  und  Ding  an  sich:  S.  181.  —    Die   Substanz   und   die   Materie: 


-    V«    « 

S.  r82.  —  Vielheit  und  ZwedrmAssigkeii:  S.  1S5,  -^  Da»  Absolute  Er- 
kermlDLSsulrjekt,  das  erkennende  lodtviduum  und  das  Brwnsstsemsich : 
S,  186.  —  Da*  absolute  Erkenntnissubjekt  und  die  Idee:  S.  189.  —  Die 
transcen  den  Laie  und  die  ästhetbche  Idee:  S.  190.  ^  Der  Wille  als  Ding  an 
sich;  S.  192.  —  Der  Analogienschluss  vom  eigenen  Wollen  auf  freimdea 
Wollen:  S  193.  —  Die  Vielheit  der  Willensindividuen:  S.  195*  —  ^^^ 
Korrespondenz  zwischen  Willen^individuen  und  subjektiv  idealen  Encbei- 
Qungsobjekten :  $.  196.  —  Wille  und  Idee:  S»  197.  —  Das  Eine  Subjekt 
des  WoUens  und  Erkennens:  S.  200.  —  Der  Pantheismus:  S.  toi.  — 
Universalismus  und  Individualismus  in  der  Erlösungslehre;  S.  103.  —  Zu- 
saminenf assung :  S.  204.  —  Tabellarische  Übersicht:  S.  106. 

Hegel 

Verhältnis  zu  den  Vorgängern  :  S.  207.  —  Anlehnung  an  SchelÜng  :  S»  209.  — 
Hegels  Schriften  und  ihre  Lektüre:  S»  211.  —  Der  Panlogismus  und  die 
Wider^nichsdlAlektik:  S.  213.  ^  Realprtndp,  Substanz  und  Subjekt  im 
Panlogismus:  S.  215.  —  Absolutes  und  individuelles  Denken:  S,  217.  — 
Der  Panlogismus  als  Umversalismus,  Begrißsrealismus  und  IntellekturUismuÄ : 
H,  319.  —  Die  Ableitung  des  WQlens  vermittelst  der  Widerspruchsdialektik: 
S.  321.  —  Die  absolute  Idee  im  Verhältnis  zu  Natur  und  Geist,  Unbewusst- 
hdt  und  Bewusstsein:  S.  223.  —  Die  Entwickelung  im  Verhältnis  zu  Idee, 
Natur  und  Geist:  S.  227.  -—  Die  Gliederung  der  Logik  in  die  Lehre  vom 
Sein»  Wesen  und  Begriff:  S.  229.  —  Begriff  und  Idee:  S.  231.  —  Sein  und 
Werden:  S.  233.  ^  Die  vierfache  RealitÄt:  S,  234»  —  Fürsichsein»  Quan- 
titfii  und  Mass:  S,  236,  —  Grund:  S.  238.  —  Substanz,  Ursache  und  Wechsel- 
wirkung: S,  240.  —  Begriff,  Urteil  und  Schluss:  S.  241.  —  Mechanismus, 
Chemismus  und  Zweck:  S.  241.  —  Idee:  S.  242.  —  Doppelter  Begriff  der 
Wirklichkeit;  S.  243.  —  VerhäLUnis  des  Logischen  und  Unlogischen:  S«  244* 

Rechte  und  Linke  der  Hegeischen  Schule   . 

Michclet       ..,.,.,.,., 

Vatke 

Hmllcr  ... 

Karl  Rosenkran/  ...,., 

Geoige    ,     .     -     .  -...,. 

6.    Der    Panthetsmu»    mit    unpersönlichem,    aber    f eibitbtwnittetn 

Absoluten,  oder  der  Pseu  dotheismus 

QiArakteristik  des  Pseudotheisinus :  S.  256, 

Wirth  

Steudcl 

Biedermanu 

Fechner 

Seine  Atoinrnkhre:  S.  264.  —  Die  Bewusstseinsschweüe  bei  den  Individuen 
verschiedener  Stufe:  S.  265.  —  Das  Selbstbcwusstsein  des  Absoluten:  S.  267,  — 
Der  psjrchQphyiische  Parallelismus :  S.  368.  ^  Erketmtnislebre  und  Psycho- 
physik:  S.  269. 

Obergang  zum  Theismus  ...  .     .     .     , 

Die  Ergebnisse  des  Pantheismus  und  die  doppelte  Reaktion  ge|^a  Üia* 
S.  270.  —  Chronologische  Übersicht  des  Theismus  und  Atheismus:  S.  17$. 


%mim 


207 


156 


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—    vm   — 

Seite 
m.  Der  Theismui. 

1.  Die  Begründer  des  neuesten  Theismus 277 

Jmcobi 277 

Erkenntnistheorie:  S.  277.  —  Theistischer  Geftihlsglaube :  S.  279.  —  Kampf 
gegen  den  Naturalismus:  S.  280.  —  Kampf  gegen  den  abstrakten  Monismus: 
S.  283.  —  Jacobis  Bedeutung:  S.  284. 

Baader 285 

Verhältnis  zu  Vorgängern:  S.  285.  —  Die  drei  innergöttlichen  Prozesse: 
S.  285.  —  Der  logische  Prozess:  S.  286.  —  Der  Willensprozess :  S.  287.— 
Der  Geistesprozess :  S.  288. 

2.  Schelling  in  seiner  zweiten   Periode 28v 

Verhältnis  zu  den  Vorgängern :  S.  289.  —  Rein  rationale  imd  positive  Philo- 
sophie: S.  292.  —  Die  Philosophie  als  induktiver  Empirismus  und  historische 
Weltanschauimg :  S.  293.  —  Der  Wille  als  positives,  irrationales  Realprincip : 
S.  294.  —  Das  zweite,  ideale  Prindp:  S.  296.  —  Die  Substanz  oder  das 
Subjekt  als  Urprincip  (Princip  O):  S.  297.  —  Der  Prozess:  S.  299.  —  Die 
drei  göttlichen  Personen  und  der  ideale  Urmensch:  S.  301.  —  Der  Abfall 
des  idealen  Urmenschen,  die  Naturverschlcchterung  und  das  Böse:  S.  302. — 
Der  transcendentale  Realismus:  S.  304. 

Troxler,  Berger,  Steffens 305 

Oersted 306 

Wilhebn  Rosenkrantz 307 

3.  Der  Rückgang  auf  Leibniz 310 

Krause 311 

Früherer  und  späterer  Standpimkt :  S.  31 1. —  Aufsteigender  imd  absteigender 
Lehrgang:  S.  312.  —  Kategorienlehre  und  Gotteslehre:  S.  313.  —  Natur- 
imd  Geschichtsphilosophie:  S.  314. 

Herbart 31S 

Verhältnis  zu  Vorgängern:  S.  315.  — Erkenntnislehre:  S.  316.  —  Katcgorien- 
lehre:  S.  318.  —  Metaphysik:  S.  320.  —Gotteslehre:  S.  322. —  Zusammen- 
fassung: S.  324. 

Beneke 325 

Methodologie:  S.  325.  —  Die  Selbsterfassung  des  Ich :  S.  325.  —  Die  sensu- 
alistische  Auflösung  dieses  Ausgangspunktes:  S.  327.  —  Der  Spiritualismus: 
S.  331.  —  Die  Kategorienlehre:  S.  331.  —  Die  Kausalität:  S.  333.  — Frei- 
heit und  Unsterblichkeit:  S.  334.  —  Gott:  S.  335. 

4.  Der  strenge  Theismus 337 

Günther 337 

Sein  Standpunkt  im  allgemeinen:  S.  337.  —  Das  menschliche  und  das  göttliche 
Ich:  S.  338.  —  Gott  Vater  und  Sohn:  S.  339.  —  Der  heilige  Geist  und  die 
Einheit  Gottes:  S.  341.  —  Die  Schöpfung  aus  Nichts:  S.  342.  —  Die  Kate- 
gorien im  menschlichen  Geiste:  S.  345.  —  Die  Kategorien  in  der  Natur 
und  in  Gott:  S.  346. 

Weber 349 

Deutinger 352 

5.  Die  Vertreter  der  Phantasie 355 

Weisse,  I.  H.  Fichte  und  Frohschammer :  S.  355. 


—  Dt  —  ^^l^pi^B^pi^: 

Seit« 

Wetise  .     ,     , .     356 

S<*in  VrrhÄitnis  2u  Solgcr,  HegeU  Schdling  und  K»nt  1  S,  356,  —  Die  PhÄiiusie 

,    in  Gott  oder  die    Idee    der    Schönheit;    S*    359.    —    Die    Dreipereönlichkcit 
Gottes:  S.  362,  —   Die  Kalegorienlehf e :   S.  364, 

L  H,  Fichte 367 

Sein  VerhUtrüi  zu  Vorgängern  und  Zeitgenosien :  S.  367,  —  Erkenntnislehre: 
S.  368.  —  Kategorienlehre;  S.  369.  —  Gottes  Selbi tbewoastaein :  8,371. — 
Der  dreifache  Prozess  in  Gott:  S.  373.  —  Gott  und  Welt:  S.  375.  —  Die 
Phantasie:  S.  376. 

FrofaschAmmer      .     .     .     , ,     .     .     . 37g 

Sein  Verhältnis  %\\  den  Vorgängern  :  S.  379.  —  Die  unbewusate  Weltphanttaie: 
S-  380.  —  Der  bewiisstc  pereönlicbe  Gott:  S.  382.  —  Rückblick  auf  die 
Vertreter  der  Phantasie:  S»  383.  -  Trinttaräche  und  umiaj-ijsche  Theisten: 
S.  384. 

.  Neuere  Unitarier , 385 

Trendelenburg»  Ulrici,  Lotze:  S.  385, 

'rrendelenburg      ,......,.,... ,     .     ,     387 

Sein  Vcrhiltni»  zu  den  Vorglngem:  S.  387.  —  Die  Bewegung  als  identitäts- 
philosophisches  Urprindp ;  S.  388.  —  Die  Ableitung  der  Kategorien  aus  der 
Bewegung:  S.  391.   —   Die  fünf  Entwickelungsstufen    des  Pfindpi:    S.    393. 

UJrid      .,,....,....,.....,, 394 

Methodologie  und  Erkenntnistheorie:  S.  394.  —  Die  unterBcheidende  Thitlg* 
keit  als  Quell  der  Kategorien^  des  Bewuastseins  und  Sclbstbewusstseini»: 
^'  39S*  -~  ^^^  Begrüf  der  Kategorie;  S,  398.  —  Das  Sysiem  der  Kale- 
gorien:  S.  399.  —  Materie  tmd  Seele:  S.  40t.  —  Gott:  S.  403. 


LoUe      .     .     -     , 

Sein  Verhiltiiis  zu  Schelling,  Hegei,  Schopenhauer  und  Herbart:  S.  405.  — 
Desgleichen  *u  L  H.  Fichte,  Fcchncr  und  Weisse:  S.  407.  —  Desgleichen 
aur  modernen  Naturwissenschaft:  S.  409,  —  Erkenntnistheorie.  S.  411.  — 
Substantialität :  S,  412.  —  Realität:  S.  413.  -  Kausalitlt:  S.  41b.  — 
Räumlichkeit:  S.  418.  —  Zeitlichkeit:  S.  \%\.  —  Das  Geltungsbereich  der 
Denkformen:  S.  423.  —   Gotl:  S.  425, 

RückbUck  auf  den  Theiamiu      ,.....,>*.. 


40s 


rV.  Der  Atlieitinut. 

)er  ainiiliche  Materialismus      ....  ....  .     433 

Comte 43i 

Allgemeiner  Standpunkt:  S.  433.  ^  Die  drei  Stufen  deiiErkennens:  S.  434.  — 

Methodologie:  S.  43b. 
Feuerbach ,     , ,     .     .     .     437 

Sein  Durchgang  durch  sechs  Standpunkte:  S.  437.  ^  Der  Anthropologismus : 

S*  439"  -*  ^^  Sensualismus:  S.  440.  —  Der  Naturalismus   und  Materialis. 

mos:  S.  441.  —  Ethik  und  Religionsphilosophie :   S.  443. 

StnusB ,     444 

Naturwtsaenschaftliche  Materialisten     . 445 

Büchner. 44^ 


-    X    - 

Seite 
Das  geschichtliche  Verdienst  des  Matferiälismus :  S.  446.   —  Der    Dualismus 
Von  Stoff  und  Kraft:  S.  447.  —  Der  liaive  Realismus  als  Grund  des  Materia- 
lismus: S.  449. 

Csolbe 451 

Seine  erste  Periode:  S.  451.  —  Seine  zweite  Periode :  S.  452.  —  Seine  dritte 
Periode:  S.  455. 

Haeckel 456 

Sein  Hylozoismus:  S.  456.  —  Sein  kosmonomischer  Monismus:  S.  457.  — 
Sein  naturphilosophischer  Evolutionismus:  S.  459. 

Dühring 460 

Sein  Verhältnis  zu  den  Vorgängern:  S.  460.  —  Die  Prindpien:  S.  461.  — 
Die  Grrenzprobleme :  S.  463.  —  Der  Religionsersatz:  S.  464. 

von  Kirchmann 465 

Der  Inhalt  des  Seins  und  Wissens:  S.  465.  —  Die  Beziehungsformen :  S.  466. 

Rückblick  auf  den  Materialismiis 469 

Ausblick  auf  die  weitere  Entwickelung 471 

\.  Der  Agnostizismus 475 

Hamilton 476 

Mansel 477 

James  Mill 477 

John  Stuart  Mill 478 

Die  Methodologie:  S.  479. —  Die  Gefühls-  und  Wahmehmungsmöglichkeiten : 
S.  480.  —  Religion  und  Agnostizismus:    S.  482. 

Herbert  Spencer 484 

Sein  Verhältnis  zu  den  Vorgängern:  S.  484.  —  Das  Absolute:  S.  484.  — 
Das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft:  S.  487.  —  Das  Gresetz  der  Entwickelung: 
S.  489.  —  Die  Psychologie:   S.  492. 

F.  A.  Lange 494 

Sein  Verhältnis  zu  den  Vorgängern :   S.  494.  —  Die  Naturphilosophie:  S.  497. 

—  Die  Geistesphilosophie:  S.  498. 

Der  Neukantianismus  und  seine  Richtungen 500 

Der  Obergang  zum  transcendentalen  Realismus 502 

Der  Agnostizismus  in  der  Naturwissenschaft 504 

Der  Übergang  zum  atomistischen  Dynamismus 505 

Der  Agnostizismus  in  der  Psychologie 507 

Der  Übergang  zur  individualistischen  Willensmetaphysik 508 

.  Der  atheistische  Individualismus  und  Pluralismus 510 

a)  Die  individualistische  Willensmetaphysik 510 

Bahnsen 511 

Sein  Verhältnis  zu  den  Vorgängern:    S.  511.  —  Die  Realdialektik:    S.  514. 

—  Die  Stellung  des  Logischen  im  Weltprozess:  S.  516.  —  Der  Willens- 
inhalt: S.  S18.  —  lyet  ontologische  Pluralismus  der  Willenshenaden:  S.  519. 

—  Das  Verhältnis  der  vielen  Henaden  zur  Einheit:  S.  521. 

b.  Die  pluralistische  Willensmetaphysik $23 

Mainl&nder 523 

Sein  Verhältnis  zu  den  Vorgängern:   S.  523.  —  Erkenntnistheorie:    S.  524. 


^  Itf  — 


Seit«! 


—  Naturphilosophie:  S.  ^25*  —  Metaph^ik:  S»  537,  —  IndividuaterlOsuni; 
und  Universakrlöfiung :   S.  528.  —  Einheit  und  Vielheit;  S,  532. 

Hamerling 533 

Übergang  von  der  subsUnädlai  zur  funktioöellen  WiUensmcUphyiik  ....     536 

Wundt    .     .     , .         '  •     537 

Sein  Verhältnis    zu   den  Vorgängern:    S.  537.   —   Erkenntnistheorie:    b.  538. 

—  Der  Kampf  gegen  den  SubstanzbegrUF:  S.  541.  —  Die  Tcleologie:  S.  542, 

—  Die  Psychologie:  S.  543.  —  Das  Absolute:  S*  546.  —  Die  Individuen 
und  das  Absolute:    S.  547.  —  Die  physiologische  Psychologie:   S.  549. 

c  Der    Übersinnliche   Materialismus   oder  transcendentale  Indivi- 
dualismus       .......     550 

von  Hellenbach    .....  554 

Erkenntnistheorie:  S.  554.  —  Die  Seele  aU  Metaorgaiüsmuä :  S.  55Ö.  —  Die 
Fortdauer  nach  dem  Tode:  S.  559.  —  Das  Verhältnis  de«  Ich  zum  trans- 
cendcnulrn  Individuum:   S,  561.  —  Ergebnis:    S-  562. 

Du  Prel .,..,...     563 

Sein  Vcrhi!uiis  zu  den  Vorgängern:  S.  563.  —  Die  Unter bewuisiäeinc  und 
das  Oberbewusstsem  im  Menschen:  S.  565.  -^  Das  transcendentale  Subjekt: 
S.   567.  —  Du  Preis  »Monismus^  :    S.   568. 

Die  angloindische  Neotheosophie    ♦ »5^9 

d.  Der    selbstherrliche   Indi vidualii^mus    oder   die   Apotheose    des 

Egoismus      ...-,,.,..-  570 

Fr.  Schlegel ,     ,     ,     , 571 

Der  selbstherriiche  Individualismus  in  dem  linken  Flügel  der  Hegclschen  Schule     573 

Stimcr , 573 

Das  Ich  als  der  Einzige  und  die  Welt  als  sein  Geschöpf  und  sein  Eigeutuan : 
S-  573-  —  Die  Emanzipation  des  Ich  von  allen  objektiven  Mächten:  S»  574. 

—  Die  Abstumpfung  der  schroflsten  Konsequenzen:  S.  577,  —  Übergang  au 
Nietzsche:  S.  578. 

Nieizsche $79 

Sein  Verhältnis  zu  den  Vorgängern:  S.  579.  —  Der  Übermensch  und  seine 
neue  Moral  und  Religion:  S.  582.  —  Die  Irratiomditlt  des  Mietischeschen 
Ideals  und  seine  praktische  Realität:  S.  5S4.  —  Die  kfLlturgeschichdiche 
Bedeutung  des  Individualismus  und  Personalismus  für  die  Gegenwait:  S.  586. 
^  Absolutheit  oder  Beschiibiktheit  des  Individuums:  S.  588. 

Ergebnis  des  Individualismus .     589 

Rtickblick  au!  die  Entwickeluug  seit  Kaul        ...........     592 

Der  Umschwung  in  der  Methode  der  Metaphysik:  S.  592.  —  Die  Leistungen 
der  pantheis tischen  und  theistlschen  Richtungen:  S.  $95.  —  Die  Leistungen 
der  atheistischen  Richtungen:  S*  597.  —  Die  von  der  geschieh tlichen  Ent- 
Wickelung  gt^tellte  Aufgabe:  S.  599. 


—   xn   — 


Baader,  S.  285—289. 
Bahnsen,  S.  511— 5«3- 
Bardili,  S.  55—56. 
Beck.  S.  54— 5S- 
Beneke.  S.  325—337. 
von  Berger,  S.  305. 
Biedennann,  S.  261—263. 
Bouterwek,  S.  56 — 58. 
Büchner,  S.  446-45  *  • 

Comte,  S.  433—437- 
Czolbe,  S.  451—456. 

Deutinger,  S.  352—355- 
Dühring,  S.  460—465. 
du  Prel,  S.  563—568. 

Fechner,  S.  263—270. 
Feuerbach,  S.  437—444. 
Fichte,  J.  G.,  S.  63—89. 
Fichte,  1.  H.,  S.  367—379. 
Fries,  S.  59—62. 
Frohschamer,  S.  379—385. 

George,  S.  253—256. 
Günther.  S.  337—349- 

Haeckel,  S.  456—460. 
Haller,  S.  251—252. 
Hamerling,  S.  533— 536. 548. 
Hamilton,  S.  476 — 477. 
Hegel,  S.  207—246. 


Alphabetisches  Register. 

;  Hegeische  Schule,  S.  247. 
j  von  Hellenbach,   S.  554  bis 

'      563- 
Herbart,  S.  315-325- 

Jacobi,  S.  277—284. 

iKant,  S.  1—48. 
vonKirchmann,  S.465 — 469. 
'Krause.  S.  311— 315. 
I  Krug,  S.  58—59- 


Lange,  S.  494 — 500. 
Lotze,  S.  405 — 429. 

Maimon,  S.  52 — 54. 
Mainländer,  S.  523—533. 
Mansel,  S.  477. 
Michelet,  S.  247—249. 
Mill,  Jomes,  S.  477—478. 
Mill,  John  Stuart,S.  478—  484. 
Neukantianismus,  S.  500  bis 

502. 
Nietzsche,  S.  579—589. 

Oersted,  S.  306 — 307. 
Oken,  S.  135-137. 

Planck,  S.  138—139. 
du  Prel.  S.  563—568. 
Pseudotheismus,S.  256—258. 
Psychologie,  physiologische, 

s.  549—550- 


Reinhold,  S.  49—52. 
Rosenkranz,  K.,  S.  252—253. 
Rosenkrantz,W.,S.  307 -3 10. 

Schelling,   S.  89—127,   289 

bis  305. 
Schlegel,  Fr.,  S.  571—573- 
Schleiermacher,  S.  139 — 166. 
Schopenhauer,  S.  167—207. 
Schubert,  S.  137—138. 
Schulze.  S.  52. 
Solger,  S.  128— 131. 
Spencer,  S.  484—494- 
Steffens,  S.  305. 
Steudel,  S.  259—261. 
Stimer,  S.  573—579- 
Strauss,  S.  444—445- 


Trendelenburg,  S.  387- 
Troxler,  S.  305. 

Ulrici,  S.  3<>4— 405- 
Vatke,  S.  249-251. 

Wagner,  S.  131  — 135- 
Weber,  S.  349— 35«- 
Weisse,  S.  356—367. 
Wirth.  S.  258—259. 
Wundt,  S.  537-  550. 


-394 


Orientierende  Zusammenfassungen,  Rückblicke,  Ausblicke.  Überleitungen  etc:  S.  45 — 47, 
87—89.  165,  204—205.  244—247.  256—258,  270—274.  277.  289—290,  310,  324, 

337—338.355—356.383—387.  428-434. 469—476.  500-5".  536—537.  547—554. 

568—571,  586—600. 
Tabellarische  Übersichten:  S.  47—48,  118,  132—135,  166,  206,  255.  275,  319,  345—346, 

364—365,  370-371.  389-390.  540- 
Unbewusstes:  S.   13—15,  41.  65—67,  70,  78—79,  83 — 86,  94—96,99,  106,  119 — 121, 

144—146,    161— 163,   181— 182,    189— 191,   199—201,    223—227,   250,  268—269, 

297-299.  306—307.  327—331.  335.  337.  353-354.  363.  371—373.  377—382.  394. 

397—399.  403—405.  407—408.  426.  432.  545.  565—568.  574- 


—   xra   — 

Selbttbewnittiein  dei  Absoluten:  S.  67 — 71,  201 — 202,  250,  256 — 259,  260—263, 
265—269.  313—314.  323—324.  339—342.  353—354.  362—364.  371—373.  375. 
394,  401,  403—405.  426—428. 

Penönlichkeit  des  Absoluten:  S.  201 — 202,  247 — 249,  250,  260 — 263,  279—280, 
288—289.  301—302.  312,  314.  323—324.  335—336,  339—342.  359—360.  362  bis 
364.  373—375.  382—383.  393—394- 

Trinität:  S.  250.  288-289.  301—302.  339—342.  354.  362—364.  373—375 

Beziehungen  zwischen  Vorgängern  und  Nachfolgern:  S.  i — 4,  89 — 93.  139 — 143.  167  bis 
174,  207—211.  263—264,  277—278.  285.  289—292.  305—306,  311— 312.  315  bis 
316.  352.  35^-359.  367—368,  379—380.  387—388.  394.  405—409.  451.  460  bis 
461.  484,  494.  511-514.  523— 524t  537—53«.  563—565.  573.  578—582. 


Geschichte  der  Metaphysik. 


I, 


Kaut  imd  seine  Scliule. 


I.  Kant 

Kant  {1724 — ^1804)  zeigt  in  seiner  philosophischen  Entwicke- 
lung  vier  Perioden.  In  der  ersten  Periode,  die  bis  zum  Jahre  1769 
reicht,  steht  er  auf  dem  Boden  seines  Lehrers  Knutzen,  d,  h.  einer 
Synthese  zwischen  Wolff  und  Newton.  Mit  WoliF  lässt  er  die 
Erkenntnis  nur  soweit  als  philosophische  gelten,  als  sie  a  priori 
ist  und  apodiktische  Gewissheit  bietet,  und  lässt  er  die  Leibnizische 
prästabilierte  Harmonie  für  die  Einwirkungen  der  Körper  auf 
Körper  und  der  Geister  auf  Geister  fallen.  In  der  Zurückfiihning 
aller  Bewegungen  auf  atomistisch  gegliederte  Kräfte  stimmen 
WolfF  und  Newton  überein;  dagegen  behauptet  Newton  die  me- 
chanische Erklärung  aller  Veränderungen  in  der  Körper  weit  und 
den  real  existierenden  leeren  Raum  als  ihren  Schauplatz.  Im 
ersteren  tritt  Kant  in  allen  seinen  Perioden,  im  letzteren  wenigstens 
in  seiner  ersten  Periode  auf  Newtons  Seite,  Mit  Knutzen  (und 
Crusius)  verwirft  Kant  die  prästabilierte  Harmonie  auch  da,  w^o 
Wolflf  sie  hypothetisch  noch  festhält,  zwischen  Körper  und  Geist 
ein  und  desselben  Individuums.  InbetrefiF  der  Fortpflanzung  des 
Lichts  verwirft  er  die  Newtonsche  Emissionshypothese  und  be- 
kennt sich  zu  der  Eulerschen  Undulationshypothese.  Den  niederen 
Monaden  spricht  er  im  Interesse  der  Mechanik  die  Geistigkeit  ab 
und  wandelt  sie  in  blosse  Körperelemente  um;  dies  ist  der  Gnind, 
warum  er  die  Lehre  des  Leibniz  sein  Leben  lang  als  Idealismus 
(genauer  Spiritualismus)  bekämpfte* 

Durch   die  Unterscheidung   des   Realgrundes   vom  logischen 
t  Grunde  gelangt  Kant  schon  in  seiner  ersten  Periode  zu  der  Ein- 

£.  V.  HiiriiDAntip  Au9g«w.  Wisrke.    Bd,  XII.  I 


2  Kant. 

sieht,  dass  es  unmöglich  sei,  irgend  einen  realen  Kausalzusammen- 
hang aus  bloss  logischen  Beziehungen,  d.  h.  am  Leitfeiden  des 
Satzes  vom  Widerspruch  zu  erkennen  oder  etwas  Thatsächliches 
aus  reiner  Vernunft  zu  behaupten.  So  stösst  er  auch  mit  Crusius 
den  apriorischen  ontologischen  Beweis  um  durch  die  Erwägung, 
dass  das  Dasein  keines  der  Prädikate  eines  Subjekts  sei,  sucht 
ihn  aber  auf  Grund  der  Crusiusschen  Unterscheidung  zwischen 
Princip  der  Wirklichkeit  und  Princip  der  Möglichkeit  durch  einen 
transcendentalen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  aus  dem  BegriflFe 
der  Möglichkeit  zu  ersetzen,  der  aus  der  unvermerkten  Ver- 
tauschung zweier  verschiedenen  Begriffe  (»Unmöglichkeit«  und 
»Aufhebung  aller  Möglichkeit«)  seine  Kraft  schöpft  Im  übrigen 
beschäftigt  sich  Kant  in  seiner  ersten  Periode  vorzüglich  mit 
naturwissenschaftlichen  Aufgaben  und  hält  an  der  Leibnizschen 
Ansicht  fest,  dass  die  Teleologie  als  die  höhere  Ansicht  sehr  wohl 
mit  der  mechanischen  Naturkausalität  vereinbar  sei.  Mit  Hobbes 
unterscheidet  er  einen  reinen,  deduktiven,  apriorischen  Teil  der 
Naturwissenschaft  von  einem  induktiven,  empirischen  Teil  der- 
selben; auch  teilt  er  dessen  Vorliebe  für  genetische  Definitionen, 
für  mathematischen  Rationalismus  in  der  Analyse  wie  in  der 
Synthese,  aber  in  der  ersten  Periode  nicht  dessen  Abneigung 
gegen  den  leeren  Raum.  — 

In  seiner  zweiten  Periode  (1769 — 1776)  hält  Kant  an  der 
transcendenten  Gültigkeit  der  Denkformen  fest,  lässt  aber  die  der 
Anschauungsformen  (Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit)  fallen,  wendet 
sich  also  von  dem  realistischen  Flügel  der  Leibnizschen  Schule 
(Knutzen)  zu  dem  idealistischen  hin  (Baumgarten  und  Crusius) 
und  rückt  den  englischen  Phänomenalisten  und  Swedenborg 
näher.  Von  Locke  hält  er  die  Unterscheidung  zwischen  äusserem 
und  innerem  Sinn,  Nominalwesen  und  Realwesen  (logischem  und 
realem  Wesen),  spielenden  (analytischen)  und  belehrenden  (syn- 
thetischen) Sätzen  (Urteilen)  fest,  verwarft  aber  mit  Hume  die 
Lockesche  Unterscheidung  zwischen  primären  und  sekundären 
Eigenschaften.  Gleich  Hobbes,  Berkeley  und  Hume  verwirft  er 
nunmehr  auch  den  leeren  Raum  und  schreibt  mit  den  beiden 
letzteren  blossen  Vorstellungen  des  Bewusstseins  empirische 
Realität  und  phänomenal-substantielle  Dinglichkeit  zu.  Die  trans- 
cendente,  die  Sinnlichkeit  affizierende  Ursache,  die  Hume  leug^net, 
nennt   Kant   Ding   an   sich,    während  Berkeley   sie   Gott    nennt; 


Kant 


3 


Kant  nimmt  einen  influxus  physicus  realis  der  von  Gott  ge- 
schaffenen Dinge  an  sich  auf  einander  an,  Berkeley  nur  einen 
übernatürlichen  Einfluss  Gottes  auf  die  Geister.  Von  Hume, 
dessen  erstes  Hauptwerk  Kant  nicht  gekannt  hat,  übernimmt  er 
den  unrichtigen  Gebrauch  des  Wortes  Skeptizismus  für  Agnosti- 
zismus oder  Ignoranztheorie  und  verwirft  in  diesem  Sinne  den 
Humeschen  Skeptizismus,  \veil  er  selbst  auf  eine  positive  Erkennt- 
nistheorie hinaus  will.  Von  Hume  lernt  er  ferner,  dass  der  Begriff 
ier  Kausalität  schlechterdings  nicht  aus  der  Erfahrung  zu  schöpfen 
'ist,  und  dass  die  logische  Konstanz  des  Bewusstseinsich  nichts 
für  die  reale  Substantialität  des  Ich  beweist. 

Von  Leibniz  übernimmt  er  die  Ansicht,  dass  die  sogenannten 
angeborenen  Vorstellungen  nur  als  typische  Regeln  des  formalen 
Funktionierens  dem  Verstände  angeboren  seien,  und  dass  das 
Gebiet  der  dunkeln,  nicht  bewussten  Vorstellungen  in  der  Seele 
sehr  ausgedehnt  und  sehr  wichtig  sei.  Gleich  Reid  lässt  er  die 
Erfahrung  durch  vorbewusste,  instinktive  Geistesthätigkeit  aus 
den  Empfindungen  aufgebaut  werden  und  hält  an  den  Dingen 
an  sich  als  Bedingungen  für  eine  positive  Erkenntnistheorie  fest; 
dagegen  setzt  er  an  Stelle  des  gesunden  Menschenverstandes  den 
wissenschaftlich  kontrollierten ^  kritischen  Verstandesgebrauch*  Die 
Unterscheidung  des  unerkennbaren  Dinges  an  sich  und  der  Er- 
scheinung, die  nichts  als  unsere  subjektive  Vorstellung  ist,  hat 
Kant  wahrscheinlich  von  Bannet  entlehnt»  ebenso  die  Behauptung, 
dass  Leibniz  alles  intellektuiere ,  Locke  alles  sensifiziere,  und  die 
Bedeutung  des  Gehirns  für  das  Seelenleben.  Dagegen  verwirft 
er  den  Atherleib  Bonnets  zu  Gunsten  des  Svvedenborgschen 
räum-  und  zeitlosen  Geisterreiches,  das  in  einem  rein  idealen 
oder  intelHgiblen  Verkehr  unter  einander  steht. 

An  Baumgarten  schloss  Kant  sich  so  eng  an,  dass  er  dessen 
Lehrbücher  seinen  Vorlesungen  zu  Grunde  legte;  auf  ihn  sind 
auch  Kants  gelegentliche  identitätsphilosophische  Anwandlungen 
noch  in  seiner  dritten  Periode  zurückzuführen.  Crusius  wurde 
vorbildlich  für  Kant  durch  seine  skeptische  Kritik  der  rationalen 
Theologie,  Kosmologie  und  Psychologie  und  durch  seine  Gegner- 
schaft gegen  den  eudämonologischen  Optimismus,  auch  durch 
den  Llnsterblichkeitsbeweis  aus  dem  postulierten  künftigen  Aus- 
gleich zwischen  Verdienst  und  Glück.  Von  Tetens  übernahm 
Kant   die  Dreiteilung   der  Seelenvermögen   in  Gefühl .  Verstand 


^  Kant. 

und  Willen.  Während  Kant  in  seiner  ersten  Periode  gleich 
Rüdiger  lehrte,  dass  die  Mathematik  analytisch,  die  Philosophie 
synthetisch,  behauptete  er  in  seiner  zweiten  Periode  gleich  Lam- 
bert, dass  beide  synthetisch  verführen,  und  beide  Wissenschaften 
a  priori  seien.  Lambert  legt  Raum,  Zeit  und  Bewegung  als  ein- 
fache apriorische  Grundbegriffe  mit  gleichartigen  homogenen 
Teilen  der  Geometrie  und  Phoronomie  (Bewegungslehre)  zu 
Grunde  und  formuliert  die  Grundfragen  der  Erkenntnistheorie 
dahin,  wie  solche  zusammengesetzte  Begriffe  a  priori  möglich 
seien  und  warum  sie  objektive  Gültigkeit  haben.  Kant  wandelt 
bloss  die  zusammengesetzten  Begriffe  a  priori  in  synthetische 
Urteile  a  priori  um. 

Das  Motiv,  welches  Kant  veranlasst  hat,  von  dem  Stand- 
punkt seiner  ersten  Periode  zu  dem  der  zweiten  hinüberzutreten, 
liegt  lediglich  in  seiner  Unfähigkeit,  mit  den  Antinomien  fertig 
zu  werden,  und  in  der  Hoffnung,  sie  durch  den  Übergang  von 
einer  realistischen  Auffassung  der  Anschauungsformen  zu  einer 
idealistischen  endgültig  überwinden  zu  können.  Swedenborgs 
räum-  und  zeitloses  Geisterreich  hatte  er  schon  fünf  Jahre  früher 
kennen  gelernt;  es  mag  ihm  vielleicht  den  Weg  gewiesen  haben, 
aber  es  hat  ihn  nicht  veranlasst,  ihn  zu  beschreiten.  Es  ist 
wichtig,  festzuhalten,  dass  für  Kant  der  eigentlich  zwingende  Be- 
weis für  die  ausschliessliche  Subjektivität  der  Anschauungsformen 
in  der  sonstigen  Unüberwindlichkeit  der  Antinomien  lag;  für  die 
Apriorität  der  Anschauungsformen  dagegen  lag  ihm  der  Beweis 
darin,  dass  er  glaubte,  ohne  sie  die  Mathematik  nicht  zugleich 
als  apriorische  und  synthetische  Wissenschaft  festhalten  zu  können, 
war  also  letzten  Endes  dadurch  bedingt,  dass  er  den  anal)rtischen 
Charakter  des  mathematischen  Verfahrens  wenigstens  fiür  ihre 
Grundsätze  mit  einem  synthetischen  vertauscht  hatte. 

Alle  Materie  der  Anschauung  stammt  aus  der  Rezeptivität 
der  Sinnlichkeit,  die  Form  der  Erkenntnis  aus  dem  oberen 
intellektuellen  Erkenntnisvermögen  und  bewegt  sich  in  apriori- 
schen Kategorialfunktionen  oder  reinen  Begriffen.  Die  apriorischen 
Principien  zerfallen  in  sensuale  und  intellektuale  Begriffe  oder  in 
Kategorien  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes.  So  sind  die 
Anschauungsformen  als  Produkte  des  oberen  Erkenntnisvermögens 
reine  apriorische  Begriffe  oder  Kategorien  der  Sinnlichkeit; 
beides  aber  sucht  Kant  zu  unterdrücken  und  sie  zu  dem  niederen 


Knut. 


I 


BF  Sinnlichen  Erkenntnisvormngen  hinüberzudrängen,  weil  er  in 
zweiten  Periode  ihnen  ein  ganz  anderes  Geltungsgebiet  an- 
weist als  den  reinen  Denkformen  oder  Kategorien  des  Verstandes. 
Ja,  sogar  er  behält  diese  Trennung  der  Anschauungsformen  von 
den  Denkformen  auch  in  seiner  dritten  Periode  noch  bei,  wo  das 
Motiv,  aus  dem  er  sie  vorgenommen  hatte,  wieder  weggefallen 
ist,  und  beide  wieder  das  gleiche  Geltungsgebiet  haben. 

Kants  Standpunkt  in  seiner  zweiten  Periode  ist  also  idealis- 
tisch in  Bezug  auf  Raum  und  Zeit,  aber  realistisch  in  Bezug  auf 
alle  Denkformen,  insbesondere  in  Bezug  auf  die  Kausalität,  den 
influxus  physicus  realis  der  Dinge  auf  einander  und  die  Kraft- 
äusserungen  der  dynamischen  Atome.  Sein  Hauptverdienst  liegt 
in  der  Befestigung  des  Rationalismus  durch  die  Lehre  von  der 
apriorischen  Wirksamkeit  der  Kategorialfunktionen,  durch  welche 
er  die  Einwendungen  der  Engländer  gegen  die  angeborenen 
Ideen  gegenstandslos  machte.  Sein  Nebenverdienst  liegt  darin, 
dass  er  dem  Sensualismus  und  Empirismus  durch  die  Lehre  von 
den  uns  afBzIerenden  Dingen  an  sich  sein  unentbehrliches  Recht 
wahrte,  ohne  sich  durch  den  Widerspruch  des  Urteilsapriorismus 
der  deutschen  Rationalisten  beirren  zu  lassen.  Seine  Schwäche 
aber  liegt  darin,  dass  er  den  kategorialen  Apriorismus  mit  dem 
Urteilsapriorismus  verwechselte  und  vermengte,  und  dass  er  aktive 
Produktivität  und  passive  Rezeptivität  einseitig  auf  Materie  und 
Form  der  Anschauung  verteilte,  statt  in  jedem  der  beiden  Be- 
standteile der  Anschauung  bereits  die  vollzogene  Synthese  von 
aktiver  Produktivität  und  passiver  Rezeptivität  anzuerkennen.  — 
Die  Frage  ist  nun,  durch  welche  Erwägimgen  Kant  dazu 
gedrängt  wurde,  von  dem  Standpunkt  seiner  zweiten  Periode  zu 
dem  der  dritten  weiterzugehen,  d,  h.  den  reinen  Denkformen 
ebenso  die  transcendente  Geltung  abzusprechen  wie  den  reinen 
Anschauungsformen.  Von  den  beiden  Lambertschen  Fragen  war 
die  erste  (»wie  sind  synthetische  Urteile  a  priori  möglich?«)  durch 
den  kategorialen  Apriorismus  gelöst,  sofern  man  dessen  Ver* 
tauschung  mit  dem  Urteilsapriorismus  gelten  lässt;  die  zweite 
aber  (»warum  haben  sie  objektive  Gültigkeit ?t)  war  nur  für  die 
Mathematik  und  Phoronomie  diirch  die  ausschliessliche  Subjek- 
tivität von  Raum,  Zeit  und  Bewegung  beantwortet,  für  die 
Metaphysik  als  apriorische  Wissenschaft  aber  völUg  unbeantwortet 
geblieben.    Diese  Beantwortung  musste  nachgeholt  werden.  Wenn 


6  Kant. 

die  apriorischen  Bestimmungen  der  raumzeitlichen  Beschaffenheit 
der  Dinge  nur  deshalb  objektive  Gültigkeit  haben  sollten,  weil 
die  Objektivität  eine  bloss  subjektiv  phänomenale  war,  weshalb 
sollten  dann  die  apriorischen  Bestimmungen  über  die  logische  Be- 
schaffenheit der  Dinge  ihre  objektive  Gültigkeit  aus  einem  andern 
Grunde  schöpfen?   Und  welcher  konnte  dieser  andere  Grund  sein? 

Dass  die  Erkenntnis  über  die  f9rmale  Beschaffenheit  der 
Dinge  in  empirischer  Weise  lediglich  durch  die  Dinge  selbst  be- 
stimmt sei,  ist  für  Kant  ausgeschlossen,  weil  dann  die  Erkenntnis 
in  Urteilen  a  posteriori  bestände,  und  Urteile  a  priori  unmöglich 
wären.  Die  Thatsächlichkeit  der  Urteile  a  priori  steht  ihm  ebenso 
fest  wie  ihre  objektive  Gültigkeit,  und  es  handelt  sich  für  ihn  nur 
darum,  zu  begreifen,  wie  diese  möglich  sei.  Da  bleiben  dann  die 
zwei  Fälle  übrig:  entweder  stehen  die  Dinge  und  das  Denken 
unter  gleichen  Formen,  so  dass  die  richtigen  formallogischen 
Urteile  auch  in  Bezug  auf  die  Beziehungen  der  Dinge  zu  einander 
wahr  sind,  oder  aber  die  Objekte  sind  durch  das  subjektive 
Denken  bestimmt  und  sind  dann  nur  als  subjektive  Erscheinungen 
im  Bewusstsein  zu  verstehen.  Der  erstere  Fall  scheidet  für  Kant 
aus,  teils  weil  er  die  Übereinstimmung  beider  Seiten  sich  nur  als 
occasionalistische  Nachhilfe  Gottes  von  Fall  zu  Fall  oder  als 
prästabilierte  Harmonie,  aber  nicht  als  gesetzmässige  vernünftige 
Konformität  zu  denken  vermag,  teils  und  ganz  besonders  deshalb, 
weil  die  objektive  Gültigkeit  der  apriorischen  formalen  Erkenntnis 
dann  nicht  mehr  apodiktische  Gewissheit  gehabt  hätte,  sondern 
nur  noch  Wahrscheinlichkeit  im  Sinne  einer  Hypothese.  Somit 
blieb  nur  der  andere  Fall  übrig,  dass  die  Dinge  nicht  nur  in  Be- 
zug auf  Raum,  Zeit  und  Bewegung,  sondern  auch  in  Bezug  auf 
ihre  logische  Beschaffenheit  durch  das  subjektive  Denken  be- 
stimmt seien. 

Es  kam  ergänzend  hinzu,  dass  ihm  die  Einsicht  aufging,  die 
Denkformen  seien  an  sich  zu  leer,  um  metaphysische  Erkenntnis 
a  priori  hervorzubringen,  und  bedürften  hierfür  erst  des  Hinzutritts 
der  reinen  Anschauungsformen,  oder  doch  wenigstens  einer  von 
ihnen  (der  Zeitlichkeit),  wodurch  sie  aus  Begriffen  zu  Schematen 
würden.  Dann  war  es  aber  klar,  dass  hiermit  doch  ein  rein  sub- 
jektiver Bestandteil  (die  Zeitlichkeit)  in  die  Metaphysik  eingeführt 
war,  und  dass  die  Metaphysik  wenigstens  nach  dieser  Seite  hin 
keine    transcendent- objektive    Gültigkeit    beanspruchen    konnte. 


Kant. 


Lag  es  da  nicht  nahe,  auch  der  anderen  Seite  (den  reinen  Denk- 
formen) die  transcendent- objektive  Gültigkeit  abzusprechen»  und 
die  Metaphysik  als  rein  immanente  Formal  Wissenschaft  auf  die 
formale  Beschaffenheit  der  subjektiven  Erscheinungsobjekte  zu 
beschränken?  Hatte  nicht  Hume  recht,  der  schon  lange  be- 
hauptet hatte,  dass  Kausahtät  nur  innerhalb  der  Grenzen  der 
Erfahrung,  d.  h.  für  die  Beziehungen  von  subjektiven  Erscheinun- 
gen unter  einander  gelte? 

So  wurde  Kant  völlig  zum  Phänomenalisten  nach  Art  der 
Collier,  Berkeley  und  Hume,  aber  aus  entgegengesetzten  Denk- 
motiven. Die  Engländer  waren  zum  Phänomenalismus  gelangt, 
um  dem  Sensualismus  und  immanenten  Empirismus  zum  Siege 
zu  verhelfen  und  den  Rationalismus  und  Urteil sapriorismus  end- 
gültig zu  vernichten;  Kant  gelangte  zu  ihm,  um  durch  ihn  den 
Sieg  des  Rationalismus  und  Urteilsapriorismus  sicher  zu  stellen, 
d.  h.  weil  nur  unter  der  Voraussetzung  des  PhSnomenalismus  ihm 
rationale  Urteile  a  priori  von  apodiktisch  gewisser  objektiver 
Geltung  möglich  schienen.  Das  Gefühl  dieses  Gegensatzes  erhielt 
seine  Abneigung  gegen  die  englischen  Phänomenallsten  aufrecht 
Wie  er  Leibnizens  Spiritualismus  als  einen  die  Körperlichkeit 
der  niederen  Monaden  aufhebenden  Idealismus  und  den  mate- 
rialen  Idealismus  des  Descartes  als  einen  die  empirische  Realität 
der  Materie  der  Anschauung  aufhebenden  bekämpft,  so  den  eng- 
lischen Phänomenalismus  als  einen  den  Urteilsapriorismus  zer- 
störenden und  zum  Skeptizismus  (Agnostizismus)  führenden  Idealis- 

lus.     Er    weiss   sehr   wohl,    dass   der   materiale   Idealismus  des 
scartes   in    Bezug   auf  die    Empfindung    einen    formalen    oder 

ranscendentalen  Realismus  in  Bezug  auf  die  Anschauungsformen 

Is  Ergänzung  verlangt,  und  dass  sein  eigner  formaler  oder  trans- 
^cendentaler  Idealismus  in  Bezug  auf  die  Anschauungs-  und  Denk- 
formen eines  materialen  oder  empirischen  Realismus  in  Bezug  auf 
die  Empfindung  bedarf,  wenn  nicht  jede  Realität  der  Anschauung 
und  Erfahrung  in  nichts  zernnnen  soll.  — 

Die  Wolffsche  Metaphysik  bekämpft  er  nicht,  um  den  ratio- 
nalen Urteilsapriorismus  zu  bekämpfen,  sondern  vielmehr  um  ihn 

jegen  die  Schädigimg  zu  retten,  die  seinem  Ansehen  als  Princip 
lus  einer  zu  weit  greifenden  Anwendung  erwachsen  musste.  Die 
Verstiegenheit  Wolffs  und  seiner  Schule,  über  alles  mögliche  aus 
reiner  Vernunft   apodiktische  Urteile  abzugeben,  bedarf  für  uns 


8  Kant. 

keiner  Widerlegung  mehr;  für  Kants  Zeitgenossen  war  ein 
gründliches  Aufräumen  mit  ihr  Bedürfnis,  und  darum  war  Kants 
Ansehen  als  des  »Alleszermalmers«  so  gross.  Indem  aber  Kant 
diese  Kritik  der  WolflFschen  Transcendentalmetaphysik  a  priori 
nur  durch  seinen  Hinübertritt  auf  den  Boden  des  Phänomenalis- 
mus zu  leisten  verstand,  befestigte  er  auf  der  neuen  Grundlage 
den  rationalistischen  Urteilsapriorismus  und  entfesselte  die  spe- 
kulative Ära  der  Fichte -Schelling- Hegeischen  Philosophie,  die 
an  Verstiegenheit  apodiktischer  Urteile  a  priori  kaum  hinter 
Wolff  zurückblieb. 

Die  Aufstellung  wahrscheinlicher  Hypothesen  verwirft  Kant 
nicht  schlechthin,  sondern  nur  für  die  Mathematik  und  Philoso- 
phie; in  der  Naturwissenschaft  lässt  er  sie  innerhalb  des  Bereiches 
möglicher  Erfahrung  gelten.  Der  Philosophie  will  er,  ebenso 
wie  Spinoza,  eine  der  Mathematik  gleichkommende  apodiktische 
Gewissheit  sichern.  In  seiner  dritten  Periode  handelt  es  sich  also 
für  Kant  darum,  die  Grenzen  des  realen,  apodiktisch  gewissen, 
apriorischen  Vernunftgebrauchs  zu  bestimmen;  mit  dem  bloss 
formalen  Vernunftgebrauch ,  wie  ihn  die  Mathematik  und  formale 
Logik  lehrt,  hat  es  Kant  ebensowenig  zu  thun,  wie  mit  dem 
realen  Vernunftgebrauch  der  induktiven  Wissenschaften,  der  sich 
auf  die  Erfahrung  und  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  zugleich 
stützt.  Es  ist  ganz  irrtümlich,  zu  sagen,  dass  Kant  die  Grenzen 
des  Vernunftgebrauchs  überhaupt  ein  für  allemal  gezogen  habe, 
da  er  sich  mit  dieser  Aufgabe  niemals  beschäftigt  hat.  Für  eine 
Zeit,  die,  wie  die  unsrige,  den  Begriff  eines  realen,  apodiktischen, 
apriorischen  Vernunftgebrauchs  kaum  noch  versteht,  und  wenn 
sie  ihn  verstanden  hat,  belächelt,  hat  die  Kantsche  Aufgabe- 
stellung gar  keine  Bedeutung  mehr,  und  alle  auf  das  Verständnis 
seiner  Lösungsversuche  verwandte  Mühe  ist  eine  Zeitverschwen- 
dung aus  Missverständnis. 

Kants  Hauptergebnis  ist  das,  dass  wir  eine  apodiktisch  ge- 
wisse apriorische  Erkenntnis  über  die  Beschaffenheit  der  Dinge 
an  sich  aus  reiner  Vernunft  niemals  erlangen  können.  Das  giebt 
heute  wohl  jeder  zu,  ohne  dass  es  irgend  welcher  Beweisführung 
für  ihn  bedarf  Dass  aber  auch  eine  hypothetisch  wahrscheinliche 
induktive  Erkenntnis  über  die  Dinge  an  sich  durch  realen  Ver- 
nunftgebrauch auf  Grund  der  Erfahrung  niemals  zu  erlangen  sei, 
das  hat  Kant  durchaus  nicht  behaupten  wollen;    er  hat  sich  nur 


Kant. 


mit  einer  solchen  nicht  befasst,  weil  sie  ausserhalb  seines  Begriffes 
von  Philosophie  fiel.  Was  uns  heute  allein  interessiert,  darüber 
ist  bei  Kant  nichts  zu  finden;  was  Kant  sich  abmüht  zu  be- 
weisen, ist  für  uns  selbstverständh'ch.  Sein  Verbot,  irgendwelche 
transcendentale  Hj^othesen  zu  bilden,  schöpft  seine  Begründung 
keineswegs  aus  seinem  aprioristischen  Rationalismus,  sondern 
lediglich  aus  dem  Phänomenalismus  oder  transcendentalen  Idealis- 
mus und  steht  und  fällt  mit  dem  Verbot,  die  Kategorien  trans- 
cendent  zu  gebrauchen.  Übrigens  hat  Kant  selbst  am  wenigsten 
sein  Verbot  beachtet;  das  die  Sinnlichkeit  affizierende  Ding  an 
sich,  das  Urwesen  als  transcendcnter  Grund  der  Weltordnung, 
ja  sogar  die  Apriorität  der  Anschauungs-  und  Denkformen  als 
Möglichkeitsgrund  der  Urteile  a  priori  {die  transcendentale  De- 
duktion) sind  bei  ihm  thatsächlich  ebensoviel  transcendentale 
Hypothesen  von  bloss  wahrscheinlicher  Geltung,  mit  deren 
Streichung  die  ganze  Kantsche  Philosophie  zusammenbräche. 
Sein  ^ theoretischer  doktrinaler  Glaube«,  der  sich  auf  den  prak- 
tischen stützt,  ist  schliesslich  nichts  als  Wahrscheinlichkeit 

Es  ist  müssig,  darüber  zu  streiten,  ob  bei  Kant  der  Aprioris- 
mus  oder  der  Rationalismus  (Erkenntnis  aus  reiner  Vernunft)  das 
Grundlegende  sei;  denn  er  kennt  den  Rationalismus  nur  in  Ge- 
stalt des  Urteilsapriorismus  und  denkt  gar  nicht  an  die  Möglich- 
keit eines  kategorialen  Aprionsmus,  der  nicht  rationaler  Natur 
wäre  (z,  B.  etw^a  im  Sinne  der  Abstammungslehre  auf  gehäufter 
Vererbung  sensual istischer  Associationen  beruhte).  Der  Rationalis- 
mus ist  ihm  also  zugleich  aprioristisch  und  der  Apriorismus  ratio- 
nalistisch. Der  kategoriale  Apriorismus  verhält  sich  dabei  zum 
Urteilsapriorismus  und  dieser  wieder  zum  Rationalismus  wie 
Grund  zur  Folge,  zugleich  aber  auch  wie  Mittel  zum  Zweck.  — 

Nur  eins  ist  Kant  entschieden  nicht,  nämlich  philosophischer 
Empirist;  den  Empirismus  vertreten  gegen  ihn  die  zeitgenössi- 
schen Popularphllosophen  und  lierder.  In  den  Naturwissen- 
schaften und  in  der  Anthropologie  verfährt  Kant  freilich  em- 
pirisch induktiv,  aber  doch  nur  in  dem  Sinne,  dass  aller  Stoff 
der  Erfahrung  vom  Subjekt  selbst  in  vorbewusster  Weise  a  priori 
produziert  und  dann  erst  vom  Bewusstsein  a  posteriori  perzipiert 
ist,  d*  h.  dass  der  Mensch  sich  seine  Erfahrung  selber  nach  seinen 
eigenen  Gesetzen  macht  und  dann  als  fertige  vorfindet  Als 
Philosoph  ist  Kant  das  direkte  Gegenteil  eines  Empiristen,  da  er 


lO  Kant. 

alles  Erkennen  von  der  Philosophie  ausschliesst,  das  nicht  auf 
apodiktisch  gewissen  apriorischen  Urteilen  aus  reiner  Vernunft 
beruht  Der  Empirismus  ist  die  Ansicht,  dass  das  Nichtich  ent- 
scheidend sei  für  den  Erkenntnisinhalt  des  Ich,  nicht  nur  für  die 
Materie  der  Anschauung  (d.  h.  die  Empfindung),  sondern  auch 
für  die  Auswahl  und  die  Anwendungsart  der  apriorischen  An- 
schauungs-  und  Denkformen  auf  diesen  Stoff.  Bei  Kant  aber  ist 
die  Auswahl  und  Anwendungsweise  der  Formen,  die  dem  StoflF 
der  Anschauung  übergestülpt  werden,  nicht  im  geringsten  von 
diesem  Stoff,  sondern  lediglich  vom  erkennenden  Subjekt  be- 
stimmt, und  der  Stoff  der  Anschauung  oder  die  Empfindungen 
werden  ebenfalls  vom  Subjekt  als  Modifikationen  seines  Gemüts 
hervorgebracht  Der  letzte  Rest  von  Empirismus  flüchtet  sich 
in  das  Affiziertwerden  der  Sinnlichkeit  durch  das  Ding  an  sich, 
über  welchen  Vorgang  Kant  gar  nichts  zu  sagen  weiss,  und 
dessen  Annahme  auch  als  transcendente  Kausalität  seinem  grund- 
sätzlichen Verbot  eines  transcendentalen  Kategoriengebrauchs 
widerspricht.  Das  erkennende  Subjekt  produziert  nach  Kant  aus 
sich  selbst  heraus  unbewussterweise  ebensogut  die  speziellen  em- 
pirischen Naturgesetze,  wie  die  allgemeinen  reinen  Verstandes- 
gesetze und  legt  beide  der  Natur  auf;  dass  es  nur  die  letzteren 
mit  dem  Bewusstsein  a  priori  rekonstruieren  kann,  macht  keinen 
principiellen  Unterschied  zwischen  beiden ;  auch  haben  seine  Nach- 
folger versucht,  die  speziellen  Naturgesetze  ebenso  a  priori  zu 
rekonstruieren,  wie  Kant  die  allgemeinen,  und  er  selbst  hat  später 
den  Zweck  als  die  Kategorie  bezeichnet,  durch  welche  sich  die 
Ableitung  der  speziellen  Naturgesetze  aus  den  edlgemeinen  voll- 
zieht    Dies  alles  ist  so  antiempiristisch  wie  möglich.  — 

Durch  zweierlei  ist  Kant  in  den  ganz  verkehrten  Ruf  eines 
Empiristen  gekommen,  erstens  dadurch,  dass  er  seine  Kritik  der 
reinen  Vernunft  auch  als  »Theorie  der  Erfahrung«  bezeichnet, 
und  zweitens  dadurch,  dass  er  alle  unsere  Erkenntnis  auf  den 
Kategorien  gebrauch,  diesen  aber  auf  das  Bereich  möglicher  Er- 
fahrung beschränkt.  Nun  versteht  aber  der  Empirismus  gerade 
das  Entgegengesetzte  unter  einer  Theorie  der  Erfahrung  wie 
Kant,  nämlich  die  Ableitung  des  Erkennens  aus  der  Erfahrung, 
während  Kant  die  genetische  Ableitung  der  Erfahrung  aus  der 
produktiven  Erkenntnisthätigkeit  des  Subjekts  darunter  versteht 
Der  Empirismus  und  Kant  sind  zwar  darin  einverstanden,  unter 


Kant. 


dem  Gebiet  der  Erfahrung  das  Gebiet  der  objektiven  Realität  zu 
verstehen;  aber  beide  verstehen  gerade  das  Entgegengesetzte 
unter  dem  Gebiete  der  objektiven  Realität,  nämlich  der  Empiris- 
mus die  eine  für  alle  Erkennenden  gemeinsame  Welt  der  Indivi- 
duation,  Kant  aber  die  vielen  subjektiv  idealen  Erscheinungs- 
welten» deren  je  eine  nur  je  einem  Subjekt  angehört»  nämlich 
demjenigen,  das  sie  produziert  hat  Wenn  also  der  Empirismus 
verbietet,  die  Grenze  mögUcher  Erfahrung  zu  überschreiten,  so 
thut  er  es  aus  Misstrauen  gegen  die  Leistungsfähigkeit  der  Ver- 
nunft, selbst  bei  induktivem  Gebrauch  derselben;  wenn  dagegen 
Kant  verbietet,  die  Grenzen  möglicher  Erfahrung  zu  überschreiten, 
so  thut  er  es,  um  innerhalb  dieses  subjektiv  idealen  Erscheinungs- 
gebietes den  deduktiven  Gebrauch  der  Vernunft  zu  apodiktisch 
gewissen  apriorischen  Urteilen  sicher  zu  stellen,  während  ihr 
etwaiger  induktiver  Gebrauch  ganz  ausserhalb  seines  Interesses 
liegt.  Ist  aber  der  transcendentale  Idealismus  Kants  unbegründet, 
so  ist  es  auch  sein  Verbot  des  transcen dentalen  Kategoriengebrauchs 
und  damit  die  Beschränkimg  der  Erkenntnis  auf  die  Grenzen  mög- 
licher Erfahrung  im  Kantschen  Sinne,  Der  moderne  Empirismus 
kann  sich  also  in  keinerlei  Hinsicht  auf  Kant  berufen,  der  in 
allem  das  gerade  Gegenteil  beabsichtigte.  — 

Die  Erfahrung  soll  objektive  Realität  haben,  und  zwar  soll 
die  Realität  aus  der  Materie  der  Anschauung,  die  Objektivität 
aus  der  Allgemeingültigkeit  der  Form  stammen.  Als  bloss  sub- 
jektiv wirkHche  AfFektion  des  Gemüts  hat  die  Empfindung  zwar 
eine  empirische  Realität  im  Sinne  eines  subjektividealen  Ge- 
schehens, aber  keine  von  dem  Bewusstseinsvorgang  unabhängige 
Realität;  wenn  ihr  doch  solche  zugeschrieben  wird,  so  geschieht 
dies  nur  insofern,  als  sie  durch  die  transcendentale  Hypotliese 
eines  affizierenden  Dinges  an  sich  auf  die  vom  Subjekt  unab- 
hängige Realität  eines  solchen  bezogen  wird.  Als  apriorische 
subjektiv  ideale  Formen  können  die  Anschauungs-  und  Denk* 
formen  der  Erftihrung  keine  Objektivität  verleihen,  da  sie  zw^ar 
innerhalb  des  Subjekts  gesetzmässig,  aber  rein  subjektiv  aus- 
gewählt und  determiniert  sind.  Das  Zusammentreten  der  beiden 
subjektiv  idealen  Bestandteile  der  Erfalirung  kann  sie  weder  über 
die  blosse  Subjektivität^  noch  über  die  reine  Idealität  hinausheben. 
Erst  die  transcendentale  Beziehung  6es  immanenten  sinnlichen 
Objekts  auf  ein  transcendentes  Objekt  an  sich  oder  Ding  an  sich 


1 2  Kant 

als  sein  Korrelat,  d.  h.  erst  die  Erhebung  des  sinnlichen  Objekts 
zum  transcendentalen  Objekt  oder  Bewusstseinsrepräsentanten 
des  Dinges  an  sich  eröffnet  die  Sphäre  der  Objektivität  im  Sinne 
eines  für  alle  erkennenden  Subjekte  identischen  Objekts.  Deshalb 
hängt  die  reale  Objektivität  ebenso  wie  die  objektive  Realität 
an  der  transcendentalen  Hypothese  eines  uns  affizierenden  trans- 
cendenten  Dinges  an  sich  und  wird  mit  dieser  zugleich  zur  Illusion. 

Die  ganze  Erkenntnistheorie  Kants  zielt  darauf  ab,  den  Ob- 
jekten der  Wahrnehmung  eine  objektive  Realität  oder  reale  Ob- 
jektivität zu  sichern;  aber  vergeblich  sind  alle  seine  Bemühungen, 
aus  bloss  subjektiv  idealen  Faktoren  ein  Produkt  herauszubringen, 
das  eine  mehr  als  bloss  subjektiv  ideale  Wirklichkeit  in  und  mit 
und  durch  den  Vorstellungsakt  hätte.  Deshalb  sieht  er  sich 
immer  wieder  auf  das  Ding  an  sich  als  seine  letzte  Zuflucht  zu- 
rückgeworfen, und  deshalb  hält  er  auch  an  dem  Ding  an  sich  als 
positiv  existierendem  transcendentem  Korrelat  des  Wahrnehmungs- 
objekts und  an  der  transcendenten  Kausalität  seines  Affizierens 
bis  an  sein  Ende  fest.  Für  die  Sphäre  des  Bewusstseins  ist  der 
Begriff  des  transcendentalen  Objekts,  der  in  repräsentativer  Weise 
auf  ein  transcendentes  Korrelat  seiner  selbst  hinausweist,  das 
letzte  Erreichbare,  während  jenes  transcendente  Korrelat,  oder 
das  Ding  an  sich,  bloss  als  negativer  Grenzbegriff  (negatives 
Noumenon)  dasteht.  Aber  wenn  diesem  für  das  bewusste  Denken 
bloss  Negativen  nicht  in  der  transcendenten  Existenz  ein  Positives 
entspräche,  dann  wäre  der  Begriff  des  transcendentalen  Objekts 
nichts  weiter  als  eine  psychologisch  unvermeidliche  Illusion,  und 
dann  sänke  auch  die  transcendentale  Realität  des  transcenden- 
talen Objekts  und  die  auf  ihr  ruhende  objektive  Realität  oder 
reale  Objektivität  der  Erscheinungsobjekte,  und  mit  dieser  wieder 
die  objektiv  reale  Geltung  der  apodiktisch  gewissen  Urteile  a  priori 
in  Nichts  zusammen.  — 

Wenn  man  Kants  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  und  Meta- 
physik betrachtet,  so  muss  man  sich  immer  gegenwärtig  halten, 
dass  beide  ihm  nur  Mittel  zu  einem  anderen  Zweck  sind,  und 
dass  sein  eigentliches  Interesse  auf  die  Moral  und  die  Natur- 
philosophie gerichtet  ist.  Für  die  Moral  spricht  er  dies  offen  aus, 
für  die  Naturphilosophie  geht  es  aus  dem  ganzen  Verlauf  seiner 
schriftstellerischen  Entwickelung  hervor,  der  mit  Naturphilosophie 
beginnt,  in  ihr  endet,  und   sie  zu  keiner  Zeit  seines  Lebens  aus 


Kant. 


t3 


den  Augen  lässt.  Es  kommt  ihm  darauf  an»  eine  theoretische 
Grundlage  zu  gewinnen,  von  der  aus  einerseits  der  praktische 
Glaube  an  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit  sicher  zu  stellen 
und  andererseits  eine  apriorische  Naturphilosophie  von  apodik- 
tischer Gewissheit  möglich  bleibt.  In  ersterer  Hinsicht  ist  ihm 
daran  gelegen,  alles  vermeintliche  Wissen  über  metaphysisch 
transcendente  Gegenstände,  wie  die  Wölfische  Schule  sich  dessen 
rühmte,  zu  zerstören,  aber  nur,  um  dem  praktischen  Glauben  auf 
Grund  einer  moralischen  Gewissheit  Platz  zu  machen;  in  letzterer 
Hinsicht  sucht  er  alle  Elemente  der  Naturphilosophie,  wie  Be- 
wegung, Geschwindigkeit,  Beschleunigung,  Kraft,  Masse,  An- 
ziehung, Abstossung,  Beharrungsvermögen  u.  s,  w.  ganz  in  das 
subjektiv  ideale  Gebiet  hereinzuziehen,  damit  die  reine  Vernunft 
imstande  sei,  apodiktisch  gewisse  Urteile  a  priori  über  sie  auf- 
zustellen. Das  hat  Kant  sich  auch  nicht  im  Traume  einfallen 
lassen,  dass  einmal  eine  Zeit  kommen  könnte,  wo  das  Sitten- 
gesetz keine  unbedingte  Gewissheit  mehr  für  die  Menschen  haben 
könnte,  wo  der  Mensch  sich  nicht  mehr  dessen  schämen  würde, 
nicht  tugendhaft,  sondern  dem  Sittengesetz  unterworfen  zu  sein, 
und  wo  man  eine  apodiktisch  gewisse  Naturphilosophie  a  priori 
aus  reiner  Vernunft  als  eine  kindliche  Verirnmg  des  Menschen* 
geistes  belächeln  würde.  Hätte  er  dergleichen  für  möglich  ge- 
halten, so  hätte  er  wohl  jedes  Bemühen  um  die  Erkenntnistheorie 
unterlassen.  — 

Kants  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik  ist  wesentlich  Kate- 
gorienlehre, wenn  man  den  Begriff  der  Kategorie  im  weitesten 
Sinne  braucht,  so  dass  er  die  reinen  Anschauungsformen,  die 
reinen  Verstandesbegriffe  (oder  Kategorien  im  engeren*  Kantschen 
Sinne),  die  Reflexionsbegriffe  des  Verstandes,  die  reinen  Vernunft- 
begriffe  und  die  Kategorie  des  Urteilsvermögens  (den  Zweck) 
umspannt.  Der  bleibende  Wert  seiner  theoretischen  Philosophie 
liegt  hauptsächlich  in  der  erneuten  und  vertieften  Durcharbeitung 
aller  dieser  Arten  von  Kategorien,  durch  die  er  die  Kategorien- 
lehre auf  eine  neue  Stufe  hob  und  seinen  Nachfolgern  die  wich- 
tigsten Anregungen  zu  ihrer  Fortbildung  gab.  Der  grosse  Schritt 
in  der  Vertiefimg  der  bisherigen  Auffassung  lag  darin,  dass  er 
alle  Kategorialfunktionen  als  vorbewusste  synthetische  Intellek- 
tualfunktionen  erkannte  und  auf  eine  einzige  vorbewusste  syn- 
thetische Inteüektucdfunktion    zurückführte,   aus   der  sie   sich  als 


14 


Kant 


blosse  Spezifikationen  differenzieren.    Diese  eine  Funktion  nennt 
er  die  transcendentale  synthetische  Einheit  der  Apperzeption. 

Wird  diese  Funktion  auf  diejenigen  Modifikationen  des  Ge- 
müts angewendet,  welche  die  Einbildungskraft  auf  Grund  des 
Affiziertseins  der  Sinnlichkeit  vom  Dinge  an  sich  produziert,  so 
formiert  sie  die  Empfindung  als  Einheit  von  Stoff  und  Form 
(Intensitätsgrad  u.  s.  w.).  Wird  sie  auf  die  Empfindung  angewandt, 
so  formiert  sie  vermittelst  der  Zeitlichkeit,  Räumlichkeit  und  Be- 
wegung die  Anschauung.  Wird  sie  auf  Anschauungen  angewandt, 
so  formiert  sie  die  Erfahrung  als  Einheit  des  empirischen  und 
intellektuellen  Bestandteils  derselben,  indem  sie  die  reinen  Ver- 
standesbegriffe als  intellektuellen  Bestandteil  zur  Anschauung 
hinzufügt.  Wird  sie  auf  die  Erfahrung  oder  die  von  ihr  ab- 
gezogenen Abstraktionsbegriffe  angewendet,  so  formiert  sie  die 
verstandesmässige  Reflexion  durch  Hinzufügung  der  Reflexions- 
begriffe. Wenn  sie  auf  reine  Verstandesbegriffe  und  Urteile  ohne 
empirische  Beimischung  angewandt  wird,  und  zwar  als  transcen- 
dentale synthetische  Funktion  auf  unbedingte  Totalität  der  Syn- 
thesis  gerichtet  ist,  dann  formiert  sie  die  reine  Vernunfterkenntnis 
durch  Hinzufügung  der  Ideen,  welche  zugleich  regulative  Normen 
für  die  vernünftige  Selbstbestimmung  der  Freiheit  sind.  Was  in 
formeller  Hinsicht  vorbewusste  synthetische  Intellektualfunktion 
ist,  das  ist  inhaltlich  genommen  teleologische  Selbstspezifikation 
oder  Selbstbesonderung  der  reinen  Vernunft;  diese  Seite  der 
Sache,  durch  welche  der  Zweck  zur  höchsten,  alle  andere  aus 
sich  hervorbringenden  Kategorie  wird,  kommt  aber  erst  in  Kants 
vierter  Periode  zum  Durchbruch. 

Jede  vorbewusste  synthetische  Intellektualfunktion  ist  als 
Prius  des  bewussten  Produkts,  das  erst  durch  sie  formiert  wird, 
a  priori.  Kategorie  bedeutet  erstens  die  angeborene  potentielle 
Keimanlage  zu  bestimmten  synthetischen  Intellektualfunktionen, 
zweitens  die  vorbewusste  Anwendung  dieser  Keimanlagen  auf 
bestimmte  empirische  Reize  oder  die  aktuelle  Funktion  selbst, 
die,  eben  weil  sie  sich  erst  bei  Gelegenheit  entfalten  kann,  nicht 
angeboren  ist,  drittens  den  dem  Produkt  immanenten  Bestandteil, 
der  von  der  formierenden  Thätigkeit  dieser  Intellektualfunktion 
herrührt  und  sich  als  spezifische  Form  zu  dem  durch  sie  geformten 
Stoffe  verhält,  und  viertens  die  aus  den  vollständigen  Produkten 
durch   den   analysierenden  Verstand  herausgeschälte   begriffliche 


Kant 


X5 


I 


Abstraktion  dieser  Form.  In  der  ersten  und  zweiten  Bedeutung 
ist  die  Kategorie  unbewusst,  in  der  dritten  implicite  bewusst  und 
nur  in  der  vierten  explicite  bewusst.  A  priori  ist  sie  eigentlich 
nur  in  der  ersten  und  zweiten  Bedeutung;  in  der  dritten  ist  sie 
nicht  mehr  Prius,  sondern  Bestandteil  der  Erfahrung  oder  des 
vollständigen  Produkts,  in  der  vierten  sogar  ihr  Posterius,  Be- 
griff, reiner  Formbegriff  oder  auch  reine  Formanschauung  ist  sie 
nur  in  der  vierten  Bedeutung  als  Posterius  der  Erfahrung;  als 
ihr  Prius  aber  ist  sie  nicht  Begriff,  sondern  synthetische  Funktion 
oder  normierende  Form  des  Anschauens  oder  Denkens,  und  in 
diesem   Sinne  Anschauungsform  oder  Denkform, 

Kant  ist  sich  dieser  Unterschiede  zwar  bewusst,  aber  er 
sucht  die  Augen  vor  ihnen  zu  verschliessen,  weil  er  ihre  Konse- 
quenz scheut,  nämlich  die  Aposteriorität  der  Kategorien  als  Be- 
griffe, die  unmittelbare  Unerkeonbarkeit  der  apriorischen  un- 
bewussten  Kategurialfunktionen  und  den  bloss  hypothetischen 
Charakter  derselben.  Denn  wenn  der  kategoriale  Apriorismus 
den  Urteilsapriorismus  stützen  sollte,  so  musste  er  selbst  apotiik- 
tisch  gewiss,  also  die  Apriorität  der  Kategorialfunktlonen  mit 
Sicherheit  a  priori  erkennbar  sein.  Dies  war  nur  möglich,  wenn 
die  Fiktion  aufrecht  erhalten  wurde,  als  ob  das  Bewusstsein  die 
apriorische  Funktion  trotz  ihrer  Unbewusstheit  bei  ihrer  formieren- 
den Arbeit  beobachten  und  belauschen  könne.  Um  diese  Fiktion 
aufrecht  zu  erhalten,  musste  die  formierende  Funktion  oder  reine 
Anschauungs-  oder  Denkform  mit  der  abstrakten  reinen  Form- 
anschauung oder  dem  Formbegriff  identifiziert  und  die  apriorische 
Norm  mit  dem  aposteriorischen  Begriff  so  verschmolzen  werden, 
dass  die  Begrifflosigkeit  der  ersteren  und  die  Aposteriorität  des 
letzteren  verschwand.  So  nennt  er  z.  B,  die  reinen  Anschauungs- 
formen »Raum  und  Zeit*,  statt  Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit, 
während  doch  Raum  und  Zeit  nur  reine  Formanschauungen  und 
zugleich  Abstraktions-  und  Kombinationsbegriffe  sind.  — 

Der  entscheidende  Grund  für  die  Annahme  der  Apriorität 
der  Anschauungsformen  liegt  für  ihn  in  dem  mathematischen 
Urteilsapriorismus,  den  er  nur  aus  der  Apriorität  von  Raum  und 
Zeit  erklären  zu  können  glaubt  Er  nimmt  an,  dass  entweder 
alle  mathematischen  Sätze,  oder  doch  alle  oder  der  grösste  Teil 
ihrer  Grundsätze  synthetisch  seien;  aber  diese  Annahme  ist  un- 
richtig, da   in  der  AJgebra  kein  Satz  synthetisch  ist  und  in  der 


l6  Kant. 

Geometrie  nur  die  Grundsätze,  welche  die  Un gekrümmtheit  des 
Raumes  nach  einer  vierten  Dimension  einschliessen.  Wären  aber 
auch  alle  mathematischen  Urteile  synthetisch  und  a  priori  zu- 
gleich, so  würde  daraus  doch  nur  folgen,  dass  sie  selbst  als  Ur- 
teile rein  formal  logisch  sind,  aber  nichts  über  den  Ursprung  des 
gleichgültigen  Materials,  an  dem  sie  ihre  Logizität  ausüben« 
Raum  und  Zeit  könnten  aposteriorische  äusserliche  Daten,  und 
die  Urteile  der  Mathematik  darum  nicht  weniger  a  priori  apodik- 
tisch gewiss  sein;  Raum  und  Zeit  könnten  hingegen  a  priori 
produziert  und  die  Urteile  der  Mathematik  doch  bloss  (nach  Mills 
Ansicht)  Induktionen  aus  der  Erfahrung  sein.  Beides  hat  gar 
nichts  mit  einander  zu  thun. 

Die  direkte  Begründung  der  Apriorität  von  Raum  und  Zeit 
hat  Kant  offenbar  nur  hinzugefügt,  nachdem  für  ihn  die  Sache 
aus  jener  indirekten  Begründung  schon  feststand.  Sie  lautet:  Der 
Raum  (beziehungsweise  die  Zeit)  ist  nicht  eine  Abstraktion  aus 
der  Erfahrung,  sondern  eine  notwendige  Vorstellung  a  priori, 
nicht  ein  diskursiver  Begriff,  sondern  eine  reine  Anschauung,  und 
er  wird  als  unendliche  gegebene  Grösse  vorgestellt,  dergleichen 
von  keiner  Erfahrung  geboten  wird.  Nun  ist  aber  schon  die 
Räumlichkeit  für  das  Bewusstsein  in  der  That  eine  Abstraktion 
aus  der  Erfahrung  und  als  reine  Formanschauung  zugleich  ein 
Begriff;  der  eine  Raum  aber  ist  sogar  ein  Kombinationsbegriff 
oder  Konstruktionsbegriff  des  Verstandes.  Als  gegebene  Grrösse 
ist  sowohl  alles  Räumliche,  als  auch  der  Raum  stets  endlich; 
nur  potentiell  als  beliebige  Erweiterung  im  Fortgang  und  Nega- 
tion jeder  Grenze  kann  der  Raum  unendlich  heissen.  Fortgang 
sowohl  wie  Negation  der  Grenze  sind  nur  etwas,  das  zu  dem  je- 
weilig vorgestellten  endlichen  Raum  hinzugedacht  wird,  aber 
nicht  an  und  in  ihm  gegeben.  Die  synthetische  Intellektualfunk- 
tion,  welche  die  Empfindung  räumlich  formiert,  hat  selber  die 
Unendlichkeit  nur  potentiell,  nicht  aktuell  an  sich,  geschweige 
denn  ihr  jeweiliges  Produkt.  Von  ihr  gilt  allerdings,  was  Kant 
mit  Unrecht  vom  Raum  im  Bewusstsein  behauptet,  dass  sie  nicht 
Abstraktion  aus  der  Erfahrung  und  nicht  diskursiver  Begriff  sei; 
für  sie  darf  man  deshalb  schliessen,  dass  sie,  wenn  sie  existiert, 
apriorische  Vorstellung  und  reine  Anschauungsform  sei.  Aber 
von  ihr  bleibt  es  wieder  ungewiss,  ob  sie  existiert,  da  sie,  wenn 
sie  existiert,  jedenfalls  bloss  unbewusst  existiert.    Sie  ist  lediglich 


Kant. 


17 


eine  H>^othese,  die  als  solche  gerechtfertigt  werden  muss,  aber 
nicht  ein  apodiktisch  gewisses  Resultat  der  Selbstbeobachtung, 
die  über  sie  nie  etwas  aussagen  kann.  Kants  vermeintliche  Be- 
gründung der  Apriorität  der  Anschauungsformen  beruht  auf  lauter 
Verwechselungen;  die  Begründung,  deren  sie  fähig  ist,  hat  er 
^'^ar  nicht  geahnt,  und  würde  sie,  wenn  er  sie  gekannt  hätte,  als 
eine  unter  der  Würde  der  Philosophie  belogene  Induktion  von 
blosser  Wahrscheinlichkeit  verschmäht  haben. 

Die  Apriorität  der  Denkformen  stützt  sich  bei  Kant  darauf» 
dass  die  der  Anschauungsformen  als  erwiesen  und  die  Existenz 
synthetischer  Urteile  a  priori  auch  ausser  der  Mathematik  als  selbst- 
verständlich vorausgesetzt  wird.  Wenn  beide  Voraussetzungen 
fortfallen,  so  fällt  auch  die  transcen dentale  Deduktion  der  Kate- 
gorien hinweg,  welche  darauf  hinausläuft,  zu  zeigen,  dass  die 
Apriorität  der  Kategorien  eine  unentbehrliche  Hypothese  sei,  um 
die  Möglichkeit  synthetischer  Urteile  a  priori  begreiflich  zu 
machen.  — 

Die  Frage  nach  dem  apriorischen  oder  aposteriorischen  Ur- 
sprung der  Kategorien  darf  nicht  mit  derjenigen  nach  dem  imma- 
nenten oder  transcendenten  Geltungsgebiet  derselben  verwechselt 
oder  durcheinandergemengt  werden;  vielmehr  haben  beide  un- 
liittetbar  gar  nichts  mit  einander  zu  thun.  Bei  Berkeley  z.  B. 
"Snd  die  Formen  der  subjektiven  Erscheinungswelt  a  posteriori 
gegeben  und  haben  doch  bloss  immanente  Geltung,  weil  die  rein 
geistige  Welt  der  Individuation  nicht  in  diesen  Formen  existiert. 
Im  transcendentalen  Realismus  dagegen  sind  diese  Formen  a  priori 
vom  erkennenden  Subjekt  selbst  produziert,  und  doch  zugleich 
die  nämlichen  Formen»  in  welchen  die  transcendente  Welt  existiert. 
Der  Ursprung  a  priori  und  a  posteriori  ist  eine  reine  Alternative 
ohne  dritte  Möglichkeit;  die  immanente  Geltung  aber  ist  nicht 
als  Glied  einer  Alternative  zu  setzen,  weil  sie  durch  die  Erfahrung 
unmittelbar  konstatiert  ist.  Die  Alternative  kann  hier  nur  ge* 
stellt  werden  zwischen  der  bloss  immanenten  oder  subjektiven 
Geltung  einerseits  und  der  sowohl  immanenten  als  auch  trans- 
cendenten Geltung  andererseits. 

Die  Kategorien  können  also  sein  1)  a  priori  und  bloss  immanent 
(transcendentaler  Idealismus),  2)  a  posteriori  und  bloss  immanent 
(Berkeley),  ^)  a  priori  und  immanent  und  transcendent  zugleich 
(transcendentaler   Realismus)»   4}  a  posteriori    und  immanent  und 

£.  V.  H Art ma an,  Ausgew.  Werke.     Bd.  XII.  - 


l8  Kant. 

transcendent  zugleich  (Empirismus;.  Kant  übersieht  die  Möglich- 
keit des  zweiten  Falles  ganz  und  schiebt  den  dritten  Fall  aus  den 
schon  oben  angegebenen  Gründen  beiseite.  Er  glaubt  demnach, 
dass  er  es  mit  einer  reinen  Alternative  zwischen  dem  ersten  und 
vierten  Fall  zu  thun  habe,  und  dass  jeder  Grund  für  die  Apriorität 
der  Kategorien  zugleich  ein  Grund  für  ihre  bloss  immanente  Gel- 
tung und  umgekehrt  sei.  Demgemäss  mengt  er  seine  Gründe 
für  die  Apriorität  und  blosse  Immanenz  fortwährend  durch  ein- 
ander, während  wir  genötigt  sind,  sie  zu  sondern.  Wie  die  ander- 
weitige Unbegreiflichkeit  der  apriorischen  synthetischen  Urteile 
der  Mathematik  und  Philosophie  für  ihn  der  entscheidende  Grund 
für  die  Apriorität  der  Anschauungs-  und  Denkformen  war,  so  die 
anderweitige  Unlöslichkeit  der  Antinomien  für  die  bloss  immanente 
Geltung;  durch  diese  Vermengung  griffen  beide  Gründe  in  einander 
über,  als  ob  sie  beide  die  Apriorität  und  bloss  immanente  Geltung 
zugleich  bewiesen.  — 

Die  Anschauungsformen  sind  Formen  unserer  bewussten 
Anschauung;  aber  daraus  folgt  nicht,  dass  sie  nicht  auch  Formen 
des  Daseins  und  Wirkens  der  Dinge  an  sich  sein  könnten.  Nur 
der  Nominalismus  folgerte  aus  der  Heterogenität  der  denkenden 
und  ausgedehnten  Substanz,  dass  ein  Accidens  der  ersteren  nicht 
auch  Accidens  der  letzteren  sein  könne;  soweit  geht  aber  Kant 
nicht,  der  das  Ding  an  sich  für  ein  schlechthin  unerkennbares  X 
erklärt  und  zugiebt,  dass  »niemand  von  einem  unbekannten  Gegen- 
stand ausmachen  kann,  was  er  thun  oder  nicht  thun  könne«,  sein 
oder  nicht  sein  könne.  Wenn  es  feststeht,  dass  die  Anschauungs- 
formen bloss  Formen  unseres  bewussten  Anschauens  sind,  dann 
ist  es  sicher,  dass  sie  nicht  auch  Formen  der  Dinge  an  sich  sein 
können;  umgekehrt,  wenn  es  feststeht,  dass  sie  nicht  Formen  der 
transcendent  objektiven  Realität  sind,  ist  ihre  blosse  Immanenz 
oder  ausschliessliche  Subjektivität  gesichert.  Auf  die  Antinomien 
kommen  wir  später;  hier  ist  nur  noch  zu  erwähnen,  dass  Kant 
einmal  beiläufig  versucht,  die  objektive  Realität  von  Räumlich- 
keit und  Zeitlichkeit  als  ungereimt  hinzustellen,  weil  sie  dann 
erstens  Dinge  und  zugleich  unendlich,  zweitens  existierend  und 
doch  weder  Substanzen,  noch  etwas  wirklich  Inhärierendes,  und 
drittens  als  Bedingung  der  Existenz  aller  Dinge  übrig  bleiben 
müssten,  auch  wenn  alle  Dinge  aufgehoben  würden.  Nun  sind 
aber   Räumlichkeit   und    Zeitlichkeit   erstens   weder   Dinge   noch 


Knnt 


tQ 


unendlich»  zweitens  weder  Substanz  noch  Modus,  sondern  Formen» 
in  denen  die  Modi  oder  inbärierenden  Wirklichkeiten  von  der 
Substanz  entfaltet  werden,  und  drittens  würden  sie  nach  Auf- 
hebung aller  Dinge  nicht  als  etwas  reell  Existierendes  übrig 
bleiben,  sondern  nur  als  ideale  Normen  oder  latente  Möglichkeiten 
in  der  Substanz»  nach  welcher  dieselbe  eine  neue  Welt  von  Dingen 
aus  sich  heraussetzen  könnte,  wenn  sie  wollte.  Damit  fallen  alle 
Ungereimtheiten  weg. 

In  seiner  zweiten  Periode  bezeichnete  Kant  noch  Raum  und 
Zeit  als  die  Erscheinungen  der  göttlichen  Allgegenwart  und 
Ewigkeit  und  beide  zusammen  als  die  sinnliche  Vorstellung  des- 
selben einheitlichen  Grundes  der  Welt,  dessen  verstandesmässige 
Vorstellung  die  Wechselwirkung  aller  Teile  der  Welt  unter  ein- 
ander  ist.  In  seiner  dritten  Periode  spricht  er  aber  nicht  gern 
mehr  von  diesen  spekulativen  Gedanken.  Nach  den  Konsequenzen 
seiner  Voraussetzungen  war  Kant  geradezu  gezwungen,  die  An- 
schauungsformen, die  er  ja  doch  für  Produkte  des  oberen,  intellek- 
tuellen Erkenntnisvermögens  erklärt,  auch  dem  intuitiven  Intellekt 
oder  der  intellektuellen  Anschauung  Gottes  zuzuschreiben.  Denn 
wie  soUte  der  göttliche  Verstand  ohne  Denkformen  denken,  und 
welchen  Inhalt  sollten  in  ihm  diese  an  sich  leeren  Denkformen 
linden,  wenn  nicht  den  der  Anschauungsformen?  Nur  durften  in 
Gott  die  letzteren  nicht  durch  Anwendung  auf  sinnlichen  Stoff 
und  Empfindungen  in  ihrer  Reinheit  getrübt  und  in  die  Sphäre 
des  niederen  Erkenntnisvermögens  heruntergezogen  werden.  Da 
aber  Kant  ferner  lehrt,  dass  die  Dinge  an  sich  so  sein  müssen, 
wie  der  intuitive  göttliche  Verstand  sie  denkt»  und  nichts  weiter 
sind  als  diese  realisierten  göttlichen  Gedanken  selbst,  so  folgt 
daraus,  dass  nach  Kant  auch  die  Welt  der  Dinge  an  sich  in  die- 
selben Formen  der  Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit  gespannt  sein 
müsste,  in  denen  die  intellektuelle  Anschauung  Gottes  sich  bewegt. 

Alledem  zum  Trotz  stellt  Kant  die  blosse  Immanenz  oder  aus- 
schliessliche  Subjektivität  der  Anschauungsformen  oder  ihre  Nicht- 
gültigkeit  in  dem  transcendenten  Gebiete  der  Dinge  an  sich  als 
ein  Dogma  hin,  das  durch  die  Zusätze  «bloss«,  »ausschliesslich«, 
»nicht«  zu  einem  negativen  gestempelt  wird.  Sein  transcenden- 
taler  Idealismus  in  Betreff  der  Anschauungsformen  ist  also  ein 
negativer  Dogmatismus,  der  einer  ausreichenden  Begründung 
ermangelt  und  deshalb  vor  der  Kritik  sich  als  nicht  haltbar  er- 


20  Kant. 

weist  Sein  kategorialer  Apriorismus  ist  richtig,  wenn  auch  seine 
Beweise  falsch  sind;  sein  transcendentaler  Idealismus  ist  ebenso 
falsch,  wie  seine  Beweise.  — 

Dies  klar  zu  stellen  ist  darum  so  wichtig,  weil  die  Beweis- 
führung für  die  blosse  Immanenz,  exklusive  Subjektivität  oder 
transcendentale  Idealität  (Irrealität)  der  Denkformen  ganz  auf  die 
der  Anschauungsformen  gestützt  ist  und  deshalb  mit  ihr  steht 
und  fällt.  Während  Kant  in  Betreff  der  Anschauungsformen  so- 
wohl in  seiner  zweiten  wie  in  seiner  dritten  Periode  transcen- 
dentaler Idealist  ist,  so  ist  er  in  Betreff  der  Denkformen  in  der 
zweiten  Periode  noch  transcendentaler  Realist  und  schlägt  erst 
in  der  dritten  Periode  zum  transcendentalen  Idealisten  um. 

Deshalb  verhält  er  sich  zaghafter  gegenüber  den  Denkformen 
und  wagt  hinsichtlich  ihrer  nicht,  den  negativen  Dogmatismus 
mit  festem  Griffe  zu  erfassen,  wie  er  es  hinsichtlich  der  An- 
schauungsformen gethan  hatte.  Vielmehr  ist  er  negativ  dogma- 
tisch nur  in  dem  Verbot,  die  Denkformen  auf  das  positive  Nou- 
menon  oder  positiv  existierende  Ding  an  sich  anzuwenden;  in 
Bezug  auf  das  negative  Noumenon  oder  den  negativen  Grenz- 
begfriff  des  Dinges  an  sich  aber  ist  er  bloss  agnostizistisch.  In 
Bezug  auf  ersteres  erklärt  er  den  transcendenten  Gebrauch  der 
Denkformen  für  sich  selbst  widersprechend,  in  Bezug  auf  das 
letztere  bloss  für  rein  problematisch  und  nichtssagend.  Nebenher 
läuft  dann  drittens  die  Gestattung  eines  positiven  transcendenten 
Gebrauchs,  insbesondere  der  dynamischen  Kategorien,  wenn  auch 
nur  im  uneigentlichen  Sinne. 

Die  reinen  Denkformen  als  solche  sind  nach  Kant  eigentlich 
von  gar  keinem  Gebrauch,  weder  von  transcendentalem,  noch 
von  empirischem;  denn  sie  sind  leer  und  bedeutungslos,  so 
lange  sie  nicht  eine  Erfüllung  mit  sinnlichem  Inhalt  finden,  und 
real  grundlos,  so  lange  nicht  die  Existenz  eines  ihnen  ent- 
sprechenden Gegenstandes  durch  die  unmittelbare  Erfahrung  ge- 
geben ist.  Das  Noumenon  oder  Gedankending,  oder  das  Intelli- 
gible,  das  in  der  zweiten  Periode  noch  der  schlechthin  adäquate 
Bewusstseinsvertreter  des  Dinges  an  sich  gewesen  war,  wird  da- 
durch selbst  zu  einem  Anoöton  oder  Inintelligiblen,  Unerkennbaren. 
Erst  in  der  Anwendung  auf  zeitliche  Vorgänge  erhalten  die  reinen 
Verstandesbegriffe  oder  Denkformen  eine  inhaltliche  Bedeutung, 
die   vorläufig   auch   noch   relativ   leere   Form,    d.  h.  Schema   zu 


Kant. 


2t 


künftiger  weiterer  Ausfüllung  mit  räumlichem  und  Empfindungs- 
Inhalt  bleibt.  Da  nun  aber  schon  dieser  erste  Schritt  zur  Auf- 
hebung der  nichtssagenden  Bedeutungslosigkeit  und  Grundlosig- 
keit der  Denkformen  sie  in  die  bloss  subjektive  Zeitlichkeit  einführt, 
so  folgt  daraus,  dass  auch  sie  selbst  nur  subjektive  Bedeutung 
beanspruclien  können,  und  da,  wo  die  Zeitlichkeit  keine  Geltung 
mehr  hat,  auch  selbst  zu  nichts  mehr  brauchbar  sind. 

Es  ist  klar,  dass  diese  Beweisführung  jeden  Boden  verliert. 
wenn  die  Anschauungsformen  auch  transcendente  Geltung  haben; 
sie  ist  aber  auch  in  ihrem  Aufbau  auf  ihrer  Voraussetzung  an- 
fechtbar. Die  völlige  Unerkennbarkeit  des  Dinges  an  sich  ist 
entweder  eine  petitio  principii  oder  eine  letzte  Folgenuig  aus  der 
auch  ohne  ihre  Zuhilfenalime  bereits  begründeten  ausschliess^ 
liehen  Subjektivität  der  Anschauungs-  und  Denkformen.  Die 
Leerheit  der  reinen  Denkformen  ist  keine  absolute,  sondern  ebenso 
wie  die  der  Schemata  nur  eine  relative,  graduelle,  die  die  konkrete 
Bestimmtheit  der  betreffenden  Form  nicht  aufliebt.  also  sehr  wohl 
eine  spezifische  Bedeutung  derselben  bestehen  lässt.  Die  reelle 
Grundlosigkeit  der  a  priori  ausgewählten  Denkformen  ohne  An- 
schluss  an  empirische  Daten  ist  Kant  zuzugeben,  nicht  aber,  dass 
dieser  Anschluss  ein  unvermittelter,  dass  der  Gegenstand  durch 
unmittelbare  Erfahrung  gegeben  sein  müsse  und  nicht  auch  mittel- 
bar aus  ihr  erschlossen  sein  könne.  Nur  diese  unberechtigte  Ein- 
schränkung, dass  der  Stoff  für  die  Anwendung  der  Denkformen 
durch  unmittelbare  Erfahrung  gegeben  sein  müsse,  schmiedet 
sie  in  den  Bannkreis  der  blossen  Subjektivität,  weil  nur  im  Be- 
wusstseinsinhalt  unmittelbare  Erfahrung  zu  finden  ist,  und  jeder 
Schritt  über  die  immanente  Sphäre  hinaus  schon  in  das  Gebiet 
der  bloss  mittelbaren  Erfalirung  führt. 

Es  ist  also  letzten  Endes  Kants  Scheu  vor  der  blossen  Wahr- 
scheinlichkeit solcher  Schlüsse  aus  der  unmittelbaren  Erfahrung 
und  seine  willkürliche  Beschränkung  der  Philosophie  auf  apodik- 
tisch gewisse  Urteile,  was  ihn  zwingt,  die  Denkformen  in  ihrem 
Gebrauch  auf  die  Sphäre  der  Immanenz  zu  beschränken.  Er 
kann  eigentlich  die  Möglichkeit  eines  weiteren  Gebrauchs  der 
Denkformen  in  Bezug  auf  mittelbare  Schlüsse  aus  der  Erfahrung 
gar  nicht  leugnen;  er  leugnet  nur,  dass  ein  solcher  Gebrauch 
philosophisch  heissen  dürfe,  oder  Erkenntnis  im  philosophischen 
Sinne  des  Wortes  verschaffe.    Selbst  auf  Grundlage  der  blossen 


22  Kant. 

Subjektivität  der  Anschauungsformen  hätte  Kant  die  mehr  als 
subjektive  Geltung  der  Denkformen  (ebenso  wie  in  seiner  zweiten 
Periode)  festhalten  können,  wenn  er  sich  nicht  genötigt  gefühlt 
hätte,  die  letzten  Konsequenzen  seines  Vorurteils  zu  ziehen,  dass 
die  Philosophie  es  nur  mit  Erkenntnissen  und  Urteilen  von  ajx)- 
diktischer  Gewissheit  zu  thun  habe  und  um  andere  sich  gar  nicht 
bekümmern  dürfe.  Wer  dieses  Vorurteil  nicht  teilt,  für  den  hat 
Kant  gar  nichts  bewiesen.  — 

In  seiner  zweiten  Periode,  wo  Kant  noch  transcendentaler 
Realist  in  Betreff  der  Denkformen  ist,  haben  alle  Kategorien,  wie 
Substanz,  Ursache,  Realität  und  die  verwandten  Begriffe,  wie  Kraft, 
Materie,  Körper,  Sache,  äusserlicher  Gegenstand  u.  s.  w.  ihre 
eigentliche  Bedeutung  im  transcendenten  Gebiet,  als  Noumena 
oder  intelligible  Begriffe.  Daneben  bestand  schon  in  der  zweiten 
Periode  eine  uneigentliche  Bedeutung  im  immanenten  Gebiet  als 
Phänomena  oder  bloss  subjektive  Vorstellungen.  Die  substantia 
phänomenon  oder  realitas  phänomenon  ist  gleichsam  das  sinnliche 
Spiegelbild  oder  der  subjektive  Vorstellungsrepräsentant  der  sub- 
stantia noumenon  oder  realitas  noumenon.  In  der  dritten  Periode 
muss  sich  dieses  Verhältnis  umkehren;  die  immanente  Bedeutung 
wird  nun  zur  eigentlichen  und  wahren  erhöht,  während  die  trans- 
cendente,  intelligible  Bedeutung  zu  einer  uneigentlichen,  zu  einer 
überfliegenden  Projektion  herabsinkt.  Aber  ganz  streng  gilt  dies 
doch  nur  für  die  sogenannten  mathematischen  Kategorien,  viel- 
leicht nicht  einmal  für  sie  alle,  während  die  dynamischen  Kate- 
gorien, insbesondere  die  der  Substantialität  und  Kausalität,  im 
Ernste  von  einem  transcendenten  Gebrauch  gar  nicht  aus- 
geschlossen werden  können.  Das  Ding  an  sich  als  etwas  mich 
Affizierendes,  mein  sittlicher,  nach  Zwecken  handelnder  Wille, 
und  Gott  als  letzte  Weltursache  üben  zweifellos  transcendente 
Kausalität  und  sind  transcendente  Substanzen.  (Sie  könnten  es 
nicht,  wenn  sie  nicht  reell  viele  wären,  sondern  Eines.) 

Die  dynamischen  Kategorien  haben  Korrelate,  auf  deren 
Existenz  sie  sich  beziehen,  die  mathematischen  Kategorien  nicht; 
die  ersteren  gestatten  deshalb,  diese  korrespondierenden  Existenzen 
zu  ihnen  hinzudenken ,  dadurch  ihre  Synthesis  transcendent  zu 
machen  und  so  die  intelligible  Welt  assertorisch  zu  erkennen,  die 
letzteren  nicht.  Die  ersteren  haben  einen  doppelten  (empirischen 
und  transcendentalen)  Gebrauch,  die  letzteren  nur  einen  einfachen 


Kant. 


53 


(empirischen).  Dieser  doppelte  Gebrauch  ist  nach  Kaiitschen 
Grundsätzen  schlechterdings  nicht  zu  rechtfertigen»  so  lange  die 
Bedeutung  der  dynamischen  Kategorien  einfach  ist  Nur  wenn 
die  phänomenale  Substantialität  und  Kausalität  eine  andere  ist 
als  die  intelligible,  nur  dann  kann  jede  ihren  besonderen  Ge- 
brauch und  ihr  eigenes  Anwendungsgebiet  haben,  Im  ersteren 
l'alle  ist  entweder  der  transcendente  oder  der  immanente  Ge- 
brauch feilsch  und  verkehrt;  im  letzteren  Falle  ist  zu  untersuchen» 
wie  wir  zu  dem  Besitz  doppelter  Kategorien  von  verschiedener 
Bedeutung  und  Anwendung  kommen,  und  wie  diese  sich  zu  ein- 
ider  verhalten.  In  beiden  Fällen  bedarf  d:is  Kantsche  System 
ler  grundstürzenden  Änderung;  um  diese  zu  vermeiden,  bleibt 
Kant  vor  dieser  Alternative  in  unklarer,  schwankender  Haltung 
stehen.  — 

Die  Tafel  der  reinen  Verstandesbe griffe  leitet  Kant  von  der 
Tafel  der  Urtcilsformen  ab.  Um  solchen  rarallelismus  als  mög- 
lich zu  denken,  bedarf  es  zweier  Vorbedingungen:  erstens,  die 
Tafel  der  Urtcilsformen  muss  auf  die  rein  logische  Form  der 
Urteile  ohne  jede  Rücksicht  auf  ihren  Inhalt  gestützt  sein;  zwei- 
tens, die  unbewussten  synthetischen  Kategorial Funktionen  müssen 
wirkliche  Urteile,  d.  h.  Subsumtionen  von  sinnlichen  Anschauungen 
oder  Begriffen  unter  weitere  Begriffe  sein.  Gegen  die  erste  Be- 
dingimg hat  Kant  selbst  Verstössen,  indem  er  bei  den  Abweichun- 
gen seiner  Urteiistafel  von  der  damals  üblichen  den  Inhalt  der 
Urteile  für  die  transcendentale  Logik  mit  berücksichtigte.  Die 
zweite  Bedingung  ist  ebensowenig  erfüllt,  weil  die  Kategorien  in 
den  vorbewussten  synthetischen  Intellektualfunktionen  noch  gar 
keine  Begriffe,  und  am  wenigsten  Gattungsbegriffe  des  Seienden 
sind,  unter  welche  dieses  sich  subsumieren  liesse.  —  Aber  wenn 
auch  die  Bedingungen  für  die  Möglichkeit  eines  solchen  Parallelis- 
mus gegeben  wäre,  so  fehlte  es  bei  Kant  doch  an  jedem  Nach- 
weis seines  wirklichen  Bestandes.  Ein  solcher  müsste  stets  daran 
scheitern,  dass  derselbe  Gedankeninhalt  in  sehr  verschiedenen 
Urteilsformen  ausgedrückt  werden  kann,  dass  aber  eine  Ver- 
tauschung der  formierenden  Kategorien  auch  stets  den  Inhalt  der 
durch  sie  formierten  Erfahrung  verändert,  Kant  hat  sowohl  die 
Tafel  der  Urteilsformen  als  auch  die  der  Kategorien  gewaltsam 
verändert,  um  einen  künstlichen  Parallelismus  zu  erzielen,  der 
selbst,   wenn   er   haltbar  wäre,  doch   keinen  Wert  hätte;    er  hat 


24  Kaot. 

dann  sein  ganzes  systematisches  Denken  in  den  so  geschaffenen 
schablonenhaften  Schematismus  eingezwängt  und  durch  diese  Ver- 
unstaltung seiner  architektonischen  Form  oft  genug  den  Inhalt 
mit  geschädigt. 

Aus  der  Tafel  der  Urteilsformen  entnimmt  Kant  zunächst 
die  vier  Gruppenbezeichnungen:  Quantität  (d.  h.  Urteilsumfang), 
Qualität  (d.  h.  Bejahung  oder  Verneinung),  Relation  (kategorische, 
hypothetische  und  disjunktive  Urteilsform)  und  Modalität  und 
setzt  sie  den  Triaden  der  Verstandesbegriffe  als  Überschriften 
voran,  ohne  sie  damit  selbst  als  Kategorien  oder  gar  als  Stamm- 
beg^ffe  bezeichnen  zu  wollen,  von  denen  die  ihnen  untergeord- 
neten erst  abgeleitet  wären.  Qantität,  Qualität  und  Relation  be- 
deuten in  diesen  Gruppenüberschriften  etwas  ganz  anderes,  als 
die  unter  den  gleichen  Bezeichnungen  bekannten  Kategorien,  die 
in  Kants  Tafel  gänzlich  fehlen,  weil  es  an  jeder  Parallele  zu  ihnen 
in  den  Urteilsformen  ebenso  mangelt  wie  für  Räumlichkeit,  Zeit- 
lichkeit und  Bewegung.  Qualität  und  intensive  Quantität  gehören 
zur  Materie  der  Anschauung,  wie  extensive  Quantität  zu  ihrer 
Form,  haben  also  unter  den  reinen  Denkformen  keinen  Platz; 
nur  die  abstrakte  Quantität  oder  Zahlengrösse  sollte  unter  diesen 
nicht  fehlen.  Obwohl  aber  Kant  die  Kategorie  der  Quantität 
nirgends,  weder  unter  den  Kategorien  der  Sinnlichkeit,  noch 
unter  denen  des  Verstandes  behandelt  hat,  thut  er  doch  nachher 
so,  als  ob  sie  von  ihm  behandelt  worden  wäre,  nämlich  in  dem 
>Axiom  der  Anschauung«  und  der  »Antizipation  der  Wahr- 
nehmung«, welche  es  als  Urteile  a  priori  behaupten,  dass  alle 
äusseren  Anschauungen  extensive,  alle  inneren  Empfindungen 
intensive  Grösse  haben,  und  deren  Urteilsapriorität  doch  nach 
Kant  nur  aus  der  Apriorität  der  entsprechenden  Kategorie  ent- 
springen kann. 

Einerleiheit  und  Verschiedenheit,  Einstimmung  und  Widerstreit 
rechnet  Kant,  obwohl  er  zugiebt,  dass  sie  einen  inhaltlichen  trans- 
cendentalen  Gebrauch  zulassen,  und  dass  aus  ihnen  vier  Urteils- 
formen entspringen,  doch  nicht  zu  den  reinen  Verstandesbegriifen, 
sondern  zu  den  Reflexionsbegriffen.  Als  Grund  ihrer  Aus- 
scheidung giebt  er  an,  dass  die  Kategorien  auf  das  anschauliche 
Objekt  selbst,  die  ReflexionsbegrifiFe  aber  nur  auf  BegrifiFe  gehen. 
In  der  That  können  aber  beide  ebensowohl  auf  Anschauungen, 
wie   auf  BegrifiFe   angewendet   werden,   wie   es  ja   auch   bei  den 


Kant 


25 


Urteilsformen  der  Fall  ist.  Dagegen  hat  Kant  recht,  Inneres  und 
Äusseres»  Materie  und  Form  nicht  unter  die  Kategorien  zu  zählen, 
weil  sie  sinnliche  Bilder  oder  Vergleiche,  aber  keine  reinen  Denk- 
formen sind. 

Unter  den  zwölf  Kantschen  Begriffen  treten  Position  und 
Negation  zweimal  auf,  nämlich  als  Realität  (Affirmation)  und 
Negation  und  als  Dasein  und  Nichtsein  (Wirklichkeit  und  Nicht- 
Wirklichkeit),  Die  Limitation  fällt  mit  der  Negation,  die  Wechsel- 
wirkung mit  der  Kausalität  zusammen.  Wenn  somit  Limitation, 
Wechselwirkung  und  Dasein  und  Nichtsein  gestrichen  werden, 
so  bleiben  nur  neun  übrig,  nämlich  Einheit,  Vielheit  und  Allheit; 
Realität  (Affirmation  als  reale  Position)  und  Negation;  Substan- 
tialität  und  Kausalität;  Möglichkeit  und  Notwendigkeit  (mit  ihren 
Gegensätzen).  Dagegen  fehlen  abstrakte  Quantität,  Relation  {oder 
Beziehung),  Einerleiheit  und  Verschiedenheit,  Einstimmung  und 
Widerstreit  und  ausserdem  die  sämtlichen  Kategorien  der  Sinn- 
lichkeit: Qualität,  intensive  und  extensive  Quantität,  Räumlich- 
keit und  Zeitlichkeit. 

Wenn  das  dritte  GHed  in  jeder  Gruppe,  wie  Kant  behauptet, 
lur  eine  Verbindung  des  ersten  und  zweiten  Gliedes  wäre,  so 
wäre  es  von  diesen  abgeleitet,  unbeschadet  dessen,  dass  zu  dieser 
Synthese  ein  neuer  Akt  des  Denkens  erforderlich  wäre,  und  wäre 
es  kein  ursprünglicher  Stamm begriflF  des  reinen  Verstandes. 
Wenn  ferner  die  Kategorien  von  den  Urteilsformen  und  diese 
von  den  Reflexionsbegriffen  abgeleitet  sind,  so  sind  die  Kate- 
gorien nicht  ursprüngliche  reine  Verstandesbegriffe,  sondern  in- 
direkt von  den  Reflexionsbegriffen  abgeleitet;  diese  aber  sind 
dann  die  ursprünglichen  Kategorien.  Wenn  endlich  alle  Kate- 
gorien von  der  synthetischen  Einheit  der  transccndentalen  Apper- 
zeption oder  dem  transcendentalen  Bewusstsein  abgeleitet  sind, 
so  ist  dieses  die  einzige  wahrhaft  ursprüngliche  Kategorie  und  aUe 
anderen  sind  abgeleitete.  Dann  ist  aber  der  Unterschied  zwischen 
ursprünglichen  und  abgeleiteten  reinen  Verstandesbegriffen»  Prädi- 
kamenten  und  PrädikabiUen  überhaupt  nicht  mehr  als  feste  Grenze 
aufrecht  zu  erhalten,  sondern  wird  zu  einem  fliessenden  und  bloss 
graduellen.  Die  Prädikabilien  sind  dann  bloss  noch  etwas  mehr 
abgeleitet,  als  die  Prädikamente,  und  es  wird  zur  Sache  blosser 
Willkür  und  Opportunität,  wo  man  die  Grenze  für  die  Behand- 
lung der  Begriffe  als  Kategorien  ziehen  will. 


26  Kant. 

Die  Lehre  von  den  Schematen  ruht  auf  der  richtigen  Voraus- 
setzung, dass  die  reinen  Verstandesbegriffe  für  sich  allein  nicht 
ausreichen,  um  die  Realität  zu  erfassen,  und  auf  der  irrtümlichen 
Annahme,  als  ob  die  blosse  Hinzufügung  der  Zeitlichkeit  sie  dazu 
ausreichend  machen  könnte.  Wie  Descartes  und  Spinoza  geglaubt 
hatten,  in  der  räumlichen  Ausdehnung  ein  Princip  zu  besitzen, 
das  dem  reinen  Denken  die  Realität  verleihen  könnte,  so  Kant 
in  der  zeitlichen  Bestimmtheit;  in  der  That  reicht  aber  selbst  die 
Vereinigung  von  Raum  und  Zeit  dazu  nicht  aus,  wenn  nicht  auch 
das  dynamische  oder  thelische  Moment  hinzutritt,  das  Kant  aus 
seinem  naturphilosophischen  Dynamismus  und  aus  seiner  mora- 
lischen Willenslehre  hätte  entnehmen  können.  Kants  Tafel  der 
Schemata  ist  ein  künstliches  Gebilde  mehr,  das  ohne  Bedeutung 
ist.  Der  tiefere  Grund,  weshalb  Kant  die  Form  der  Zeitlichkeit 
so  viel  näher  an  die  reinen  Verstandesbegriffe  heranrückt  als  die 
der  Räumlichkeit  und  in  der  ersteren  allein  eine  ausreichende 
Erfüllung  für  die  Leerheit  der  Denkformen  sucht,  lieget  in  seinem 
Glauben,  dass  der  menschliche  Geist  beim  Tode  den  äusseren  Sinn 
oder  die  Form  der  Räumlichkeit  verliert  und  mit  dem  inneren 
Sinn  oder  der  Form  der  Zeitlichkeit  allein  auskommen  muss.  — 

Von  den  Kategorien  sind  die  wichtigsten  Kausalität  und 
Substantialität,  und  bei  beiden  ist  das  Verhältnis  zur  Zeit,  wenn 
auch  in  verschiedener  Weise,  wichtig.  Der  Begriff  der  Kausalität 
verliert  überhaupt  jeden  Sinn,  wenn  ihm  die  Zeitlichkeit  geraubt 
wird.  Man  kann  mit  einer  unräumlichen  Thätigkeit,  z.  B.  einer 
affizierenden  des  Dinges  an  sich,  oder  einer  handelnden  des  sitt- 
lichen Willens  wohl  noch  einen  Begriff  verbinden;  aber  eine  un- 
zeitliche Thätigkeit  erscheint  sich  selbst  widersprechend.  Deshalb 
ist  eine  transccndente  Kausalität  wohl  noch  denkbar,  wenn  die 
Räumlichkeit  bloss  immanente  Geltung  hat,  aber  unmöglich, 
wenn  auch  die  Zeitlichkeit  bloss  immanente  Geltung  hat.  Die 
Nachfolger  Kants  haben  also  ganz  recht  gehabt,  ihm  die  Auf- 
rechterhaltung der  transcendenten  Kausalität  im  Affizieren  und 
sittlichen  Handeln  trotz  der  Beseitigung  der  transcendenten  Gel- 
tung der  Zeitlichkeit  als  eine  widerspruchsvolle  Inkonsequenz 
vorzuwerfen.  Beide  müssen  gleichermassen  entweder  bloss  imma- 
nente Geltung  haben,  oder  immanente  und  transccndente  zugleich. 

Kant  behauptet  in  seiner  zweiten  »Analogie  der  Erfzihrung«, 
dass  alle  zeitliche  Folge  durch  die  Kausalität  bestimmt  ist.   Wenn 


Kant. 


27 


dies  auch  kein  Urteil  a  priori  ist,  so  kann  man  es  doch  als  eine 
letzte  Folge  langer  Indiiktionsreüien  gelten  lassen,  vorausgesetzt, 
dass  es  auf  den  einheitlichen  Strom  der  universellen  transcendenten 
Weltkausalität  bezogen  wird,  in  welchem  in  der  That  alle  zeit- 
liche Bestimmtheit  nur  durch  den  Kausalzusammenhang  der 
produktiven  Thätigkeit  gesetzt  wird.  Kant  bezieht  aber  diesen 
Grundsatz  auf  die  Aufeinanderfolge  der  subjektiven  Erscheinungen, 
und  seine  transcendentale  Deduktion  desselben  gilt  nur  für  die 
Natur  als  eine  subjektive  Erscheinungswelt  im  menschlichen  Be- 
wusstsein,  insofern  ohne  die  apriorische  kausale  Einheit  keine 
Einheit  der  Erfahrung  und  keine  zeitliche  Bestimmung  der  Er- 
scheinungen möglich  sein  soll.  Hier  widerspricht  aber  Kants 
Grundsatz  geradezu  der  Erfahrung,  die  eine  Menge  genau  be- 
stimmter zeitlicher  Folgen  von  subjektiven  Erscheinungen  ohne 
jeden  kausalen  Zusammenhang  zeigt,  und  selbst  da,  wo  ein  Kausal- 
zusammenhang vorliegt,  oft  genug  zeigt,  dass  dieser  unserer 
Erkenntnis  vorenthalten  bleibt,  oder  doch  erst  lange  nach  Fest- 
stellung der  festen  Zeitfolge  dem  Verständnis  aufgeht  Kant 
verwechselt  die  apriorische,  rationale  Nötigung  zur  Anwendung 
der  Kausalitätskategorie  überhaupt  auf  die  gegebenen  Er- 
scheinungen mit  der  aposteriorischen,  empirischen  Nötigung,  das 
eine  der  empirisch  gegebenen  Glieder  als  das  frühere,  das  andere 
als  das  spätere  anzuerkennen.  Welches  der  gegebenen  Glieder 
bei  Konstatierung  eines  Kausalzusammenhanges  als  Ursache  und 
welches  als  Wirkung  zu  betrachten  sei,  kann  immer  nur  aus  den 
empirischen  Daten  entnommen  werden,  aber  nicht  aus  der  aprio- 
rischen Kategorie  der  Kausalität.  Hier  zeigt  sich  der  Gegensatz 
Kants  gegen  allen,  auch  den  berechtigtsten  Empirismus  in  seiner 
schroffsten  Gestalt. 

Die  dritte  > Analogie  der  Erfahrung«  besagt,  dass  das  Zu- 
leichsein  aus  der  Wechselwirkung  stamme,  wie  die  zeitliche 
Folge  aus  der  Kausalität  Dieser  Satz  ist  gleich  unhaltbar  für 
das  transcendente  wie  für  das  immanente  Gebiet;  denn  er  würde 
die  Wechselwirkung  zu  einer  unzeithchen  Thätigkeit  machen  und 
sie  damit  aus  dem  einheitlichen  zeitlichen  Strom  der  universellen 
Kausalität  herausheben.  Gleichzeitig  ist  immer  nur  das.  was  auf 
einem  durch  diesen  Strom  gelegten  zeitlichen  Querschnitt  liegt; 
das  sind  aber  nur  koordinierte  Wirkungen  des  unmittelbar  vor- 
hergehenden Weltzustandes.     Bei   der  immer  vorwärts  gehenden 


28  Kant 

Kausalität  wäre  es  nach  Kant  widerspruchsvoll  und  unmöglic] 
wenn  etwas  nach  rückwärts  Ursache  dessen  wäre,  wovon  es  zi 
gleich  Wirkung  ist.  Die  Wechselwirkung  besaget  bei  Kant  nichi 
weiter,  als  dass  alle  Substanzen  in  der  Welt  stets  auf  einande 
d.  h.  auf  die  Änderungen  ihrer  Zustände,  einwirken;  die  univei 
seile  Wechselwirkung  fällt  also  mit  der  universellen  Kausaliti 
zusammen.  Diese  universelle  Wechselwirkung  oder  der  influxu 
physicus  (sive  realis)  derivativus  hat  aber  nur  einen  Sinn  al 
transcendente  universelle  Kausalität,  wie  Kant  ihn  noch  in  seine 
zweiten  Periode  ausschliesslich  versteht,  aber  nicht  als  immanent 
Kausalität.  Denn  der  Wechsel  im  Bewusstseinsinhalt  zeigt  i 
einer  Wüste  von  kausal  unverständlichen  Aufeinanderfolge 
immer  nur  Oasen  einer  fragmentarischen  Scheinkausalität,  abe 
keinen  einheitlichen,  universellen,  kontinuierlichen  Strom. 

Die  immanente  und  transcendente  Kausalität  oder  die  cau 
salitas  phänomenon  und  die  causalitas  noumenon  laufen  bei  Kar 
neben  einander  her,  aber  doch  nicht  so,  als  ob  sie  von  einande 
unabhängig,  oder  nur  durch  eine  prästabilierte  Harmonie  au 
dasselbe  Ziel  gelenkt  wären,  sondern  in  dem  Sinne,  dass  di 
erstere  das  subjektiv  verzogene  und  gefärbte  Spiegelbild  de 
letzteren  im  Bewusstsein  und  für  das  Bewusstsein  darstellen  sol 
Wir  schauen  die  von  uns  produzierten  subjektiv  idealen  Ei 
scheinungen  mechanischer  Kräfte  oder  beweg^ter  Stoffe  als  Ot 
jekte  an,  die  unsere  Sinnlichheit  affizieren,  obwohl  wir  wisset 
dass  die  von  uns  gesetzten  Vorstellungen  unmöglich  die  Ursach 
unserer  sie  produzierenden  Thätigkeit  sein  können,  und  dass  di 
ihnen  entsprechenden  Dinge  an  sich,  die  allein  uns  wirklich  äff 
zieren  können,  weder  räumlich  ausgedehnte  Stoffe,  noch  in  Bc 
weg^ng  befindlich  sind,  noch  zeitliche  Thätigkeit  ausüben.  Da 
scheinbar  doppelte  Affizieren  und  das  doppelte  (empirische  un 
transcendente,  physische  und  metaphysische)  Ding  an  sich,  da 
bei  Kant  zu  finden  ist,  löst  sich  dadurch  in  ein  einfaches  auf,  das 
das  phänomenale  Affizieren  und  das  empirische  oder  physisch 
Ding    an   sich*)   nur   die   subjektiven  Vorstellungsrepräsentante 


*)  Kant  versteht  darunter  das  anschauliche,  dreidimensionale  raumzeitliche  Vo 
stcllungsobjekt  mit  Einschluss  der  ihm  anhaftenden  sinnlichen  Empfindungsqualitäte 
aber  unter  Ausschluss  aller  Entstellungen,  Verzerrungen,  perspektivischen  Projektion« 
und  Sinnestäuschungen,  die  durch  die  Zufälligkeiten  der  Entfernung,  Stellung,  B 
leuchtung,  Spiegelung,  Li^tbrechung,  Sinnesorganisation  u.  s.  w.  bedingt  sind. 


Kiint, 


29 


des  intelligiblcn  Affizierens  und  des  transcendenten  oder  meta- 
physischen Dinges  an  sich  sind. 

Wir  können  die  ersteren  für  unser  Denken  nicht  entbehren» 
weil  uns  bei  dem  Versuch,  die  letzteren  zu  denken,  alles  Denken 
ausgeht;  um  das  Affizieren  überhaupt  noch  irgendwie  vorstellen 
zu  können,  müssen  wir  uns  an  unsere  gedankliche  Umbildung 
des  sinnlichen  Wahrnehmungsobjekts,  d.  h,  >das  Phänomen  eines 
Phänomens*  halten,  immer  dessen  eingedenk,  dass  wir  dabei 
etwas  Falsches  denken  und  uns  bloss  an  ein  Surrogat  des  un- 
denkbaren Wirklichen  klammern.  Illusion  ist  dieses  surrogative 
Denken,  sofern  es  mit  unanwendbaren  Bestimmungen  (wie  Räum- 
lichkeit, Zeitlichkeit,  Bewegung)  behaftet  ist;  aber  Wahrheit  ist 
es,  sofern  es  auf  ein  dieser  Bestimmungen  ermangelndes  trans- 
cendentes  Korrelat  repräsentativ  hindeutet  Völlig  wahrheitslose 
Illusion  wäre  es  nur  dann,  wenn  es  bloss  eine  täuschende  Ein- 
richtung unseres  Verstandes  wäre,  dass  wir  die  empirischen 
Dinge  (an  sich)  als  uns  affizierend  anschauen  müsslen,  obwohl 
keinerlei  uns  wirklich  affizierendes  transcendentes  Korrelat  ihnen 
entspräche.  Dies  ist  erst  der  Standpunkt  Becks  und  seiner  Nach- 
folger; Kant  aber  hält  an  dem  transcendenten  Affiziertwerden 
durch  das  transcendente  Ding  an  sich  eben  darum  so  zäh  fest, 
weil  er  nicht  in  den  absoluten  Illusionismus  und  Agnostizismus 
hineinstürzen  will  — 

Substanz  ist  das  Beharrliche  im  zeitlichen  Wechsel  der  Acci- 
dentien.  Die  phänomenale  Substanz  zeigt  nur  relativ  beharrliche 
Verhältnisse  der  Erscheinung  und  fällt  mit  der  phänomenalen 
Materie  oder  dem  sinnlichen  Stoff  zusammen,  aus  dem  die  phäno- 
menalen Dinge  oder  Vorstellungsobjekte  bestehen.  Substanz  im 
eigentlichen  Sinne  kann  aber  nur  das  durch  alle  Zeit  Beharrliche, 
oder  das  Substrat  eines  immerwährenden  Daseins,  oder  das  un- 
entständliche  und  unvergängliche  Sein  heissen.  Dies  ist  erst  die 
intelligible  Substanz,  die  von  Gott  geschaffene  Welt  der  geistigen 
Monaden  und  atomistisch  gegliederten  materia  noumenon.  Die 
phänomenalen  Substanzen  sind  nur  für  ^  Vorstellungsarten 
(Bewusstseinsrepräsentanten)  eines  unbekannten  (transcendenten) 
Gegenstandes«  zu  halten.  Auch  die  materia  phaenomenon  ist  da- 
nach nur  eine  subjektive  Vorstellungsart,  ein  sinnliches  Surrogat 
der  uns  unbekannten  materia  noumenon,  und  die  bewegenden 
Kräfte   in   der   subjektiven  Erscheinungswelt   bloss  Spiegelbilder 


30 


Kant. 


der  übersinnlichen  Kraftsubjekte  im  und  fürs  Bewusstsein.  Denn 
Kraft  im  intelligiblen  Sinne  ist  das  absolut  beharrliche  Subjekt 
der  dynamischen  Aktion  oder  die  Substanz;  die  materia  nou- 
menon  aber  ist  nichts  als  die  Gesamtheit  dieser  substantiellen 
Kraftsubjekte. 

Die  erste  »Analogie  der  Erfahrung«  besagt,  dass  alle  Er- 
scheinungen beharrliche  Substanz  und  wechselnde  Accidentien 
entlialten,  und  dass  erstere  in  der  Natur  weder  vermehrt  noch 
vermindert  wird.  Ob  ich  relativ  beharrliche  und  wechselnde 
unter  meinen  subjektiven  Erscheinungen  vorfinde  oder  nicht, 
kann  mich  nur  die  Erfahrung  lehren.  Dass  die  Substanz  als  un- 
vergängliche nicht  weniger,  und  als  unentständliche  nicht  mehr 
werden  kann,  sind  leere  Tautologien,  aber  keine  synthetischen 
Urteile.  Für  die  phänomenale,  bloss  zeitweilig  beharrliche  Sub- 
stanz und  Materie  gilt  natürlich  die  Unvermehrbarkeit  und  Un- 
verminderbarkeit  nicht,  sondern  nur  für  die  intelligible  Substanz 
und  Materie;  diese  letztere  aber  ist  nicht  mehr  »das  Bewegliche 
im  Räume«,  sondern  die  Summe  der  unräumlichen  Kraftsubjekte 
in  ihrer  zeitlosen  Wechselwirkung.  Sofern  er  die  Unvermehrbar- 
keit und  Unvermindcrbarkeit  des  Beweglichen  im  Räume  (d.  h. 
des  sinnlichen  Stoffes)  behauptet,  ist  also  dieser  Grundsatz  geradezu 
eine  formell  falsche  Folgerung  aus  den  Kantschen  Voraussetzungen, 
die  durch  Vertauschung  der  materia  phaenomenon  und  materia 
noumenon  zustande  gekommen  ist. 

Da  auch  die  »Postulate  des  empirischen  Denkens«  nur  die 
Kantschen  Definitionen  des  Möglichen,  Wirklichen  und  Notwen- 
digen als  Postulate  hinstellen,  so  stellen  sich  alle  :» Grundsätze 
des  reinen  Verstandes«  keineswegs  als  synthetische  Urteile  a  priori 
heraus,  sondern  teils  als  analytische,  oder  gar  identische  Urteile, 
die  bloss  die  einmal  angenommenen  BegriflFsdefinitionen  analy- 
sieren oder  mit  anderen  Worten  wiederholen ,  teils  als  aposterio- 
rische Konstatierung  empirischer  Thatsachen,  teils  als  induktive 
hypothetische  Schlussfolgerungen  aus  der  Erfahrung  von  blosser 
Wahrscheinlichkeit.  Damit  werden  alle  Beispiele  synthetischer 
Urteile  a  priori,  die  Kant  für  die  metaphysische  Erkenntnis  bei- 
zubringen versucht,  ebenso  hinfällig,  wie  seine  Beispiele  auf  dem 
Gebiet  der  mathematischen  Erkenntnis.  Damit  fällt  aber  die 
ganze  Grundlage  des  Urteilsapriorismus,  auf  welche  Kant  seine 
erkenntnistheoretische  Fragestellung  stützt.     Zugleich  zeigen  die 


Kant. 


31 


ffrörteningen  über  die  Kausalität  und  Substantialität,  wie  die  für 
das  transcendente  Gebiet  richtigen  Grundsätze  ihren  guten  Sinn 
und  ihre  Berechtigung  verlieren,  wenn  sie  auf  das  immanente 
Gebiet  übertragen  werden.  — 

So  erscheint  denn  auch  Kants  Bestreben,  eine  reine  Natur- 
wissenschaft a  priori  zu  konstruieren,  als  verfehlt.  Freilich  kann 
man  die  reine  Bewegungslehre  oder  >Phoronomie*  a  priori  kon- 
struieren,  sofern  sie  eine  bloss  formale  Geltung  hat;  ob  aber  etwas 

■  Wirkliches  vorhanden  ist,  das  diesen  Gesetzen  gemäss  sich  be- 
wegt,  kann    nur   die   Erfahrung   lehren.     Ebenso   kann    man    die 

IPhoronomic  auf  den  Begriff  träger  Massen  a  priori  anwenden 
und  so  die  >Mechanikv  aufbauen;  aber  ob  es  etwas  giebt,  das 
diesem  Begriffe  entspricht,  und  ob  es  den  a  priori  konstruierten 
Gesetzen  gehorcht,  ist  nur  aus  der  Erfahrung  zu  entnehmen. 
Endlich  kann  man  drittens  eine  »Dynamik*  a  priori  konstruieren, 
indem  man  die  Voraussetzung  macht,  dass  die  beweglichen  trägen 
Massen  im  Räume  bewegende  Kräfte  v^on  bestimmter  Gesetz- 
mässigkeit haben;  aber  ob  es  solche  Krilfte  von  solcher  Gesetz- 
mässigkeit giebt,  ist  wiederum  nur  durch  die  Erfahrung  zu 
konstatieren. 

Genau  betrachtet  zeigt  die  direkte  Erfahrung  im  Bewusst- 
seinsinhalt  wohl  Bewegüches,  aber  keine  trägen  Massen  und 
noch  weniger  Kräfte,  und  das  Bewegliche  bewegt  sich  im  sub- 
jektiv idealen  Erscheinungsraum  entweder  anscheinend  gesetzlos, 
oder  doch  nach  anderen  Gesetzen,  als  die  Phoronomie  fordert. 
Nur  die  mittelbare  Erfahrung,  d.  h.  die  hypothetisch  erschlossenen 
Dinge  an  sich  im  objektiv  realen  Raum,  bietet  che  verlangten 
Voraussetzungen  und  Übereinstimmungen  dar,  zeigt  aber  wieder 
bloss  Wahrscheinlichkeit  und  nicht  apodiktische  Gewissheit.  Kant 
befindet  sich  in  einer  offenbaren  Täuschung,  wenn  er  glaubt,  dass 
seine  naturphilosophischeri  Spekulationen  über  die  atomistisch- 
dynamische  Konstitution  der  Materie  etwas  anderes  seien,  als 
Hypothesen  auf  Grund  der  Erfahrung;  die  Abweichungen  seiner 
Ergebnisse    in    der    :  Dynamik«     der    .Metaphysischen    Anfangs- 

■  gründe  der  Naturwissenschaft ?:  und  in  dem  unvollendet  nach- 
gelassenen Werk  hätte  genügen  sollen,  ihn  zu  überzeugen,  dass 
seine  Aufstellungen  nicht  apodiktische  Gewissheit  haben  können. 
Letzteres  Werk  zeigt  einen  Fortschritt  darin,  dass  es  die  Wärme 
nicht    mehr    als    Stoff,    sondern    als    undulatorische    Molekular- 


I 

I 


32  Kant. 

bewcgung  auffasst  und  nicht  bloss  bei  der  Anziehung,  sondern 
auch  bei  der  Abstossung  eine  Fem  Wirkung  gelten  lässt,  einen 
Rückschritt  darin,  dass  es  wieder  neben  den  Atomkräften  eine 
ungegliederte,  gestaltlose,  stetige  Urmaterie  einfilhrt.  — 

Vemunftbeg^ffe  oder  Ideen  sind  bis  zum  Unbedingten  er- 
weiterte Verstandesbegriffe  und  geben  mannig&chen  Erkennt- 
nissen des  Verstandes  Einheit,  wie  die  Verstandesbegriffe  den 
Anschauungen ;  denn  die  Vernunft  geht  auf  Begriffe  und  Urteile, 
wie  der  Verstand  auf  Anschauungen.  Die  Vernunft  oder  das 
Vermögen  der  Schlüsse  und  der  Verstand  oder  das  Vermögen 
der  Begriffe  und  Regeln  werden  durch  die  Urteilskraft  oder  das 
Vermögen  der  Subsumtion  mit  einander  verbunden  und  unter- 
scheiden sich  nur  dadurch,  was  und  worunter  es  subsumiert  wird. 
Der  Begriff  des  Unbedingten  soll  die  Zusammenfassung  der  drei 
Begriffe  Gott,  Welt  und  Seele  sein,  obwohl  nur  ersterer  im 
eigentlichen  Sinne  und  in  jeder  Hinsicht  so  heissen  kann.  Der 
geschichtliche  Gegensatz  der  Ansichten  über  Gott,  Welt  und 
Seele,  die  der  Wolffsche  Rationalismus  und  der  englische  Sen- 
sualismus vertreten,  erscheint  Kant  als  eine  unvermeidliche 
Dialektik  der  reinen  Vernunft  selbst,  die  er  in  der  Kosmologie 
antithetisch  zu  Antinomien  durchbildet,  in  der  Theologie  und 
Psychologie  aber  nur  als  einseitigen  Schein  im  Sinne  des  Ratio- 
nalismus entwickelt,  ohne  die  Ansichten  des  Sensualismus  anti- 
thetisch gegenüberzustellen.  Überall  geht  seine  Absicht  dahin, 
zu  zeigen,  dass  der  Begriff  des  Unbedingten  nur  dann  ohne 
Widerspruch  denkbar  sei,  wenn  man  sich  auf  den  Boden  des 
transcendentalen  Idealismus  stelle.  Thatsächlich  zeigen  aber  seine 
Darlegungen  nicht  das,  was  er  mit  ihnen  beabsichtigt,  sondern 
dass  gar  keine  Widersprüche  vorhanden  sind  und  ihr  falscher 
Schein  aus  Verwechselungen  verschiedener  Bedeutungen  gleicher 
Worte  entspringt  Psychologisch  interessant  ist  nur,  dass  er 
trotzdem  den  Glauben  an  wirklich  vorhandene  Widersprüche 
festhielt.  — 

Das  Ich  zerfällt  in  ein  phänomenales  und  ein  intelligibles 
Ich;  ersteres  setzt  sich  aus  der  log^ischen  Form  des  Bewusstseins 
und  dem  realen  Gefahlsinhalt  des  Daseins  zusammen,  letzteres 
ist  dagegen  das  innere  Ding  an  sich  oder  das  transcendente 
Subjekt,  das  dem  Erscheinungsich  als  transcendentes  Korrelat 
korrespondiert,  und  auf  welches  bezogen  dieses  »transcendentales 


Kant. 


53 


Subjekt«  heisst  Die  Form  des  Bewusstseins  ist  einfach  wegen 
ihrer  Leerheit»  und  ihre  Identität  mit  sich  darf  nicht  über  die 
2feiten  hinaus  ausgedehnt  werden,  in  denen  sie  erfahrungsmässig 
bestanden  hat.  Hält  man  ihre  bloss  logische  Einheit  für  eine 
metaphysische,  so  begeht  man  >die  Subreption  des  hypostasierten 
Bewusstseins*,  Das  Erscheinungsich  als  Einheit  des  formalen 
und  inhaltlichen  P'aktors  ist  selbst  nur  substantia  phaenomenon, 
kann  also  auch  nur  die  relative  Beharrlichkeit  dieser  beanspruchen. 
Das  transcendente  Subjekt  allein  dürfen  wir  als  absolut  beharr- 
liche substantia  noumenon  denken;  aber  wir  können  nicht  wissen, 
erstens  ob  dieses  transcendente  Subjekt  noch  substantiell  ver- 
schieden sei  von  dem  transcendenten  Objekt  oder  Ding  an  sich 
unserer  äusseren  Vorstellungsobjekte  (also  auch  von  anderen 
Individuen),  und  zweitens  ob  es  in  seiner  Fortdauer  über  den 
Tod  hinaus  als  selbstbewusster  und  bewusster  Geist  oder  als  be- 
wusstlose  Substanz  fortdaiu-e.  Diese  Kantsche  Kritik  der  Un- 
sterblichkeitsbeweise aus  der  Substantialität  des  Ich  besteht  in 
Kraft  ganz  unabhängig  davon,  ob  sein  transcendentaler  Idealis- 
mus richtig  ist,  denn  sie  selbst  steht  mit  der  Annahme  eines 
transcendenten  Subjekts  hinter  dem  Erscheinungsich  auf  trans- 
cendentalrealistischem  Boden.  — 

Die  erste  Antinomie  handelt  davon,  ob  die  materielle  Welt 
in  räumlicher  und  zeitlicher  Hinsicht  endlich  oder  unendlich  sei. 
Die  Thesis  behauptet,  die  aktuelle  NichtUnendlichkeit  der  trans- 
cendent  realen  Welt,  die  Antithesis  die  potentielle  Unendlichkeit 
der  subjektiv  idealen  Erscheinungswelt;  beide  haben  recht  in 
ihren  Behauptungen»  unrecht  in  ihrer  gegenseitigen  Bekämpfung, 
weü  sie  mit  verschiedenen  Subjekten  und  Prädikaten  operieren. 
Kants  Lösung  fasst  nur  die  berechtigten  Seiten  beider  Behaup- 
tungen zusammen,  beschränkt  sie  aber  auf  die  subjektiv  ideale 
Erscheinungswelt,  weil  ihr  die  Raimizeitlichkeit  der  transcendent- 
realen  Welt  für  ausgeschlossen  gilt  Dass  diese  Antinomie  einen 
indirekten  Beweis  liefern  könne  für  die  blosse  Subjektivität  der 
Anschauungsformen,  ist  hiernach  ganz  ausgeschlossen. 

Die  zweite  Antinomie  dreht  sich  darum,  ob  die  Materie  aus 
einfachen  Bestandteilen  bestehe^  oder  ob  es  nichts  Einfaches  in 
der  Welt  gebe.  Die  Thesis  behauptet  die  Unzusammengesetztheit 
der  immateriellen,  unräunrdichen  Substanzen»  welche  die  trans- 
cendentreale  Materie   konstituieren,  die  Antithesis,  dass  in   dem 

Kv,  Hart m« DU.  Au9gew.  Werke.    Bd.  Xli.  i 


34 


Kant. 


sinnlichen  StoflF  als  subjektiv  idealer  Erscheinung  nichts  Unteil- 
bares vorkomme.  Beide  operieren  also  mit  verschiedenen  Sub- 
jekten und  verschiedenen  Prädikaten,  und  der  Schein  eines  Wider- 
spruchs entspringt  nur  daraus,  dass  sie  gleiche  Worte  (Materie 
und  einfach)  zur  Bezeichnung  der  verschiedenen  Subjekte  und 
Prädikate  benutzen.  Beide  haben  recht  in  ihren  Behauptungen 
und  unrecht  in  ihrer  gegenseitigen  Bekämpfung,  wie  Kant  in 
seiner  Lösung  feststellt.  Wenn  aber  der  transcendentale  Idealis- 
mus richtig  ist,  so  ist  das  Subjekt  der  Thesis  eine  blosse  Fiktion, 
die  nicht  mehr  Materie  genannt  werden  kann,  und  die  Antithesis 
bleibt  allein  in  Kraft. 

Die  dritte  und  vierte  Antinomie  behandeln  die  Frage,  ob  es 
ausser  dem  Bedingften  auch  ein  Unbedingtes  giebt  oder  nicht, 
und  zwar  fasst  die  dritte  Antinomie  das  Unbedingte  als  die  freie 
Veränderung  im  Gegensatz  zur  Naturgesetzmässigkeit,  während 
die  vierte  Antinomie  es  als  das  schlechthin  notwendige  Wesen 
im  Gegensatz  zum  Zufälligen  (contingens)  betrachtet  Die  Thesis 
der  dritten  Antinomie  hat  darin  recht,  dass  es  in  einer  zeitlich 
endlichen  Welt  eine  freie  Initiative  geben  müsse,  die  Antithesis 
darin,  dass  innerhalb  der  Reihe  der  Erscheinungen  nichts  frei, 
sondern  alles  naturgesetzmässig  bedingt  sei.  Die  Thesis  hat 
darin  Unrecht,  die  Freiheit  von  der  Initiative  des  Absoluten,  mit 
welcher  erst  der  Prozess  beginnt,  auf  das  Handeln  der  vielen 
Individuen  innerhalb  des  Prozesses  zu  übertragen,  durch  welche 
die  Naturgesetzmässigkeit  aufgehoben  würde,  die  Antithesis  darin, 
auf  Grund  einer  aktuellen  zeitlichen  Unendlichkeit  ein  Anfangs- 
glied in  der  Kette  des  Geschehens  zu  leugnen.  Da  Kant  ein 
Anfangsglied  des  Prozesses  leugnet,  müsste  er  auch  die  freie 
Initiative  des  Absoluten  leugnen;  für  diese  interessiert  er  sich 
aber  gar  nicht,  sondern  nur  für  die  Freiheit  der  vielen  Individuen, 
gegen  welche  die  Kritik  der  Thesis  in  voller  Kraft  bleibt. 

Die  vierte  Antinomie  ist  für  uns  völlig  veraltet,  weil  wir 
weder  den  Begriff  eines  schlechthin  Notwendigen,  noch  sein 
Gegenteil  mehr  zugeben  können.  Ersterer  wäre  ein  Rückfall  in 
dem  überwundenen  ontologischen  Beweis  a  priori;  ohne  diesen 
Begriff  als  Gegensatz  kann  aber  auch  das  gesetzmässig  Not- 
wendige des  Weltlaufs  nicht  mehr  als  »zufällig«  bezeichnet  werden. 
Ein  unbedingtes  Wesen  kann  nicht  innerhalb  der  Reihe  des  Ge- 
schehens gesucht  werden,  sondern  nur  ausserhalb  als  metaphysisch 


Kant. 


35 


transceadentes  Wesen  *  was  sonderbarerweise  sowohl  von  dem 
Vertreter  der  Thesis,  als  von  dem  der  Antkhesis  geleugnet  wird. 
»Schlechthin  notwendige  scheint  aber  ein  ganz  unpassendes  Prä- 
dikat für  ein  solches  Wesen. 

Sämtliche  Beweise  der  Thesen  setzen  den  transcendentalen 
Realismus,  samtliche  Beweise  der  Antithesen  den  transcenden- 
talen Idealismus  voraus*  Die  Thesen  der  beiden  ersten  Anti- 
nomien beziehen  sich  auf  das  erkenntnistheoretisch  Transcendente, 
die  der  beiden  letzten  auf  das  metaphysisch  Transcendente.  Die 
Antithesen  der  beiden  ersten  Antinomien  gehen  demgemäss  auf 
das  erkenntnistheoretisch  Immanente,  die  der  beiden  letzten  auf 
das  metaphysisch  Immanente.  Als  Metaphysiker,  Moralphilosoph 
und  dynamistischer  Naturphilosoph  steht  Kant  auf  dem  Boden 
der  Thesen,  als  Erkenntnistheoretiker  auf  dem  der  Antithesen; 
in  ersterer  Eigenschalt  fühlt  er  sich  zum  WolflFschen  Rationalis- 
mus, in  letzterer  zum  englischen  Phänomenalismus  hingezogen. 
In  den  beiden  ersten  Antinomien  überwiegen  bei  ihm  die  er- 
kenntnistheoretischen, in  den  beiden  letzten  die  metaphysischen 
Interessen.  Der  unausgeglichene  Widerstreit  zwischen  phänome- 
nalistischer  Erkenntnistheorie  und  rationalistischer  Metaphysik  in 
seinem  Denken  erscheint  ihm  nicht  als  Widerstreit  zwischen  Er- 
kenntnistheorie und  Metaphysik,  sondern  als  Widerstreit  der 
Metaphysik  mit  sich  selbst  durch  Spaltung  in  sensualistischen 
Empirismus  und  Rationalismus.  *— 

Kants  rationale  Theologie  bleibt  völlig  in  der  Scholastik 
stecken,  indem  er  zwei  gleich  wertlose  und  hohle  Schulbegriffe 
mit  einander  verknüpft,  den  des  allerrealsten  Wesens  (ens  realis- 
simum)  und  den  des  schlechthin  notwendigen  Wesens»  oder  den 
InbegriflF  aller  positiven  ursprünglichen  Prädikate  oder  Voll- 
kommenheiten und  den  Begriff,  dessen  Denknotwendigkeit  eine 
unbedingte  sein  soll  Nun  sind  aber  die  Prädikate,  die  nach  dem 
Satz  vom  ausgeschlossenen  Dritten  dem  Absoluten  zukommen, 
meist  bloss  negativ  (z.  B.  nichtblau,  nichtspitzwinklig),  und  von 
den  positiven  wissen  wir  nicht,  inwieweit  sie  ursprünglich  und 
mit  einander  vereinbar  (reell  kompossibel)  sind.  Notwendigkeit 
ist  immer  nur  eine  logisch  bedingte,  und  ein  unbedingt  Not- 
w^endiges  ist  selbst  schon  ein  sich  widersprechender  Begriff.  Die 
Verschmelzung  beider  Begriffe  ist  deshalb  nicht,  wie  Kant  meint, 
ein    »transcendentales   Ideal<,   sondern   eine   völlig   verunglückte 

3' 


36 


Kant. 


Konzeption.  Dass  diese  Konzeption  niemals  durch  apriorisches 
Denken  vom  blossen  Gedachtsein  zum  Sein  hinüberführen  kann, 
erkennt  auch  Kant  an,  schreibt  ihm  aber  trotzdem  eine  wenigstens 
problematische  Gültigkeit  als  Idee  zu.  Dass  durch  Erfahrung 
ein  reales  Objekt  zu  dieser  Idee  unmittelbar  gegeben  werde,  ist 
unmöglich;  ein  mittelbarer  Anschluss  an  Erfahrung  wäre  nach 
Kant  philosophisch  wertlos. 

Gleichwohl  versucht  Kant  solchen  mittelbaren  Anschluss 
durch  den  Rückschluss  von  der  empirisch  gegebenen  Existenz 
irgend  welchen  Etwas  auf  die  Existenz  eines  schlechthin  not- 
wendigen Wesens.  Er  erkennt  an,  dass  dieser  Rückschluss  von 
einem  völlig  unbestimmten  Bedingten  auch  nur  ein  völlig  un- 
bestimmtes Unbedingtes  liefert,  glaubt  aber,  diesem  die  fehlende 
Bestimmtheit  durch  das  transcendentale  Ideal  verschaffen  zu 
können.  Er  sucht  also  den  gewöhnlichen  ontologischen  Beweis 
a  priori  mit  dem  ontolog^ischen  Beweis  a  posteriori,  den  er  den 
kosmologischen  nennt,  zu  verschmelzen,  verkennt  aber,  dass  der 
letztere  nur  eine  Hypothese  liefert,  also  nicht  auf  Apriorität  und 
apodiktische  Gewissheit  Anspruch  machen  kann.  Bei  dem  teleo- 
logischen Beweise,  den  Kant  den  physikotheologischen  nennt, 
erkennt  er  dagegen  den  hypothetischen  Charakter  ausdrücklich 
an,  durch  den  er  für  ihn  aus  der  wissenschaftlichen  Philosophie 
ausscheidet  und  auf  bloss  popularphilosophische  Bedeutung  zurück- 
geführt wird. 

Kants  moralischer  Beweis  ruht  auf  drei  Voraussetzungen: 
i)  es  ist  schlechthin  notwendig,  dass  ich  sittlich  handle;  2)  die 
Vernunft  als  solche  hat  keine  motivierende  Kraft,  sondern  bedarf 
eines  hinzukommenden  Motivs,  um  das  sittliche  Handeln  zu  ver- 
wirklichen; 3)  dieses  hinzukommende  Motiv  ist  allein  in  einem 
jenseitigen  Ausgleich  von  Glück  Würdigkeit  und  Glückseligkeit 
zu  finden.  Daraus  folgt  dann  die  moralische  Notwendigkeit  eines 
diesen  Ausgleich  herstellenden  Gottes,  obwohl  die  theoretische 
Einsicht  durch  diese  moralische  Notwendigkeit  nicht  erweitert 
werden  soll.  Nun  lehrt  aber  Kant  selbst,  dass  der  Widerstreit 
von  Tugend  und  Glückseligkeit  in  diesem  Leben  nicht  aufhören 
darf,  wenn  nicht  die  Reinheit  der  Tugend  zerstört  werden  soll, 
und  erkennt  im  Jahre  1791  an,  dass  alle  Versuche  einer  Theodicee, 
auch  der  auf  die  jenseitige  Harmonisierung  von  Glückwürdigkeit 
und  Glückseligkeit  gestützte,  misslungen  seien.    Danach  fällt  sein 


Kiint» 


37 


moralischer  Beweis  schon  durch  die  Unhaltbarkeit  der  dritten 
Voraussetzung,  so  dass  es  nicht  erst  der  Prüfung  der  beiden 
ersten  bedarf, 

Gottes  Eigenschaften  sind  Intelligenz  und  WUle,  aber  unter 
Abstreifung  alles  Anthropomorphischen  von  diesen  Begriffen. 
Seine  Intelligenz  ist  demnach  nicht  sinnlich,  abstrakt  und  dis- 
kursiv, sondern  intuitiv-,  d,  h.  er  erkennt  die  Teile  aus  dem  Ganzen 
mittelst  anschaulicher  Ideen.  Sein  Wille  ist  in  seiner  Zufrieden- 
heit nicht  abhängig  von  der  Existenz  irgend  eines  anderen  Gegen- 
standes, auch  nicht  von  der  Glückseligkeit  anderer  Wesen,  und 
setzt  oder  schafft  das,  was  seine  Intelligenz  schaut,  aber  nidit  als 
Erscheinungen,  sondern  als  Dinge  an  sich  oder  positive  Noumena. 
Gott  ist  intelligible  Substanz  und  setzt  oder  schafft  als  ausser- 
weltliche  Ursache  durch  sein  schauendes  Wollen  intelligible 
Substanzen;  diese  erst  setzen  als  innerweltliche  Ursachen  die 
subjektiv  idealen  sinnlichen  Erscheinungswelten.  Den  Unsterb- 
lichkeitsglauben seiner  zweiten  Periode,  nach  welchem  die  Seelen 
der  Verstorbenen  fortfahren,  ein  Geisterreich  mit  zeitlichen  Er- 
scheinungswelten, aber  ohne  Räumlichkeit,  zu  bilden,  hält  Kant 
auch  in  seiner  dritten  Periode  fest,  schreibt  ihm  aber  keine  apo- 
diktische Gewissheit  und  darum  keine  wissenschaftliche  pliilo- 
sophische  Gültigkeit  mehr  zu,  — 

Seele  (Ich),  Welt  und  Gott  sind  offenbar  weder  Vernunft- 
begriffe noch  Kategorien,  sondern  hypothetische  Kombinations- 
begriffe. Der  Begriff  des  Unbedingten  ist  mit  Unrecht  auf  die 
beiden  ersteren  angewendet  und  passt  nur  auf  den  letzten.  Die 
Unbedingtheit  kann  verstanden  werden  als  Unbedingtheit  des 
Wesens,  d.  h.  als  Absolutheit  oder  Negation  der  Relativität,  oder 
als  Unbedingtheit  der  Bethätigimg,  d,  h.  als  Freiheit  oder  Nega- 
tion der  kausalen  Bedingtlieit,  oder  als  Unbedingtheit  der  Sub- 
sistenz,  d.  h.  als  Substantialität  Im  ersten  Falle  zeigt  sie  eine  Ver- 
einigung der  Kategorien  Negation  und  Relation,  im  zweiten  eine 
solche  von  Negation  und  Kausalität,  im  dritten  Falle  deckt  sie 
sich  mit  der  Kategorie  der  Substantialität  In  allen  drei  Fällen 
haben  wir  es  nur  mit  den  schon  bekannten  Kategorien  zu  thun, 
nicht  mit  neu  hinzutretenden.  Es  scheint  demnach  ungerecht- 
fertigt, Verstandesbegriffe  und  Vernunft  begriffe  zu  unterscheiden. 
Kant  selbst  lehrt,  dass  die  Vernunftbegriffe  nur  die  transcendental 
gebrauchten  Verstandesbegriffe  sind,  also  nichts  neues  darbieten. 


38  Kant. 

Er  unterscheidet  nur  darum  Verstand  und  Vernunft,  Verstandes- 
begrifFe  und  VernunftbegriflFe,  weil  er  die  ersteren  auf  die  un- 
mittelbare Erfahrung  beschränkt,  die  letzteren  über  alle  Erfahrung 
hinausgreifen  lässt. 

Erstere  verhelfen  zu  keiner  Erkenntnis,  weil  sie  die  unmittel- 
bare Erfahrung  nicht  überschreiten  dürfen,  letztere,  weil  sie  nicht 
an  die  Erfahrung  anknüpfen  dürfen.  Beide  Verbote  sind  gleich 
unberechtigt;  sie  sind  es,  durch  die  Kant  trotz  alles  Ringens 
nach  Erkenntnis  im  Agnostizismus  stecken  bleibt.  Denn  das 
Gebiet  der  Erkenntnis  fängt  gerade  erst  da  an,  wo  man  sich 
durch  transcendentalen  Kategoriengebrauch  über  die  unmittelbare 
Erfahrung  erhebt,  und  hat  da  sein  Ende,  wo  man  sich  vom  em- 
pirischen Boden  ganz  losreisst,  auch  auf  die  mittelbare  An- 
knüpfung an  die  Erfahrung  verzichtet  und  das  Denken  auf  eigene 
Hand  ins  Bodenlose  ausschweifen  lässt.  Das  Transcendente,  um 
dessen  Erkennbarkeit  allein  es  sich  handelt,  spaltet  sich  bei  Kant 
in  ein  solches,  dessen  Existenz  feststeht,  von  dessen  Beschaffen- 
heit aber  gar  nichts  mehr  erkennbar  ist  (das  Ding  an  sich),  und 
in  ein  solches,  dessen  Beschaffenheit  von  der  Vernunft  a  priori 
bestimmt  wird,  dessen  Existenz  aber  völlig  problematisch  bleibt 
(die  Vernunftideen).  Ein  »Dass«  ohne  »Was«  kann  aber  ebenso- 
wenig Erkenntnis  heissen,  wie  ein  >Was«  ohne  »Dass«,  oder  wie 
die  Vereinigung  beider  Abstraktionen.  So  wie  man  jene  negativ 
dogmatischen  Verbote  Kants  missachtet,  gelangt  man  zu  einer 
wirklichen  Erkenntnis  des  Transcendenten,  die  »Dass«  und  »Wasc 
zugleich  bietet,  aber  freilich  in  Kants  Augen  wertlos  ist,  weil  sie 
nur  Wahrscheinlichkeit  und  keine  apodiktische  Gewissheit  besitzt 

Kants  Philosophie  in  seiner  dritten  Periode  stellt  eine  Rück- 
zugsposition des  apriorischen  Rationalismus  dar,  der  das  Feld  der 
theoretischen  Metaphysik  dem  Agnostizismus  preisgiebt,  aber  das 
der  praktischen  Philosophie  oder  Moral  zu  behaupten  sucht 
Diese  Halbheit  findet  ihren  Ausdruck  einerseits  in  dem  Verbot 
des  transcendentalen  Gebrauchs  der  Kategorien  auf  theoretischem 
Gebiet  und  seiner  Zulassung  in  praktischer  Hinsicht,  andererseits 
in  der  Leugnung  der  konstitutiven  und  Zulassung  der  regulativen 
Gültigkeit  der  so  erreichten  Begriffe  und  Grundsätze.  Die  dyna- 
mischen Grundsätze  des  reinen  Verstandes,  die  Ideen  und  später 
auch  der  Zweck,  sollen  in  theoretischer  Hinsicht  nur  eine  Negativ- 
lehre oder  einschränkende  Disziplin  der  reinen  Vernunft,  in  prak- 


Kant  jg 

iSsMer  Hinsicht  aber  einen  positiven  Kanon  der  reinen  Vernunft 
bilden»  und  in  beiderlei  Hinsicht  (negativ  beziehungsweise  positiv) 
regulativ  wirken.  Dagegen  sollen  sie  keinen  positiven  Beitrag 
zum  Aufbau  und  der  Erw^eiterung  unserer  Erkenntnis  liefern, 
also  theoretisch  nicht  konstitutiv  sein,  obwohl  sie  den  un- 
zerstörbaren Schein  mit  sich  fuhren,  dass  sie  dies  doch  seien. 

Diese  Konstruktion  erscheint  äusserst  erkünstelt.  Was  wir  für 
gewiss  oder  auch  nur  für  wahrscheinlich  halten,  wird  naturgemäss 
motivatorisch  regulativen  Einfluss  auf  uns  gewinnen;  wenn  aber 
jemand  etwas  als  eine  vülh'g  problematische  leere  Möglichkeit 
durchschaut  und  doch  zum  Princip  seines  Handelns  nimmt,  so 
ist  er  kein  vernünftiger  Mensch  mehr,  sondern  ein  Narr.  Wenn 
die  regulativen  Principien  mit  dem  unzerstörbaren,  aber  falschen 
Schein  behaftet  sind,  theoretisch  konstitutiv  zu  sein,  d.  h.  positive 
Wahrheiten  zu  liefern,  so  können  sie  durch  diesen  Schein  aller- 
dings auch  praktisch  regulativ  wirken.  Aber  die  Kritik,  die  das 
Ulusorische  dieses  Scheines  enthüllt,  weist  damit  auch  zugleich 
ihren  Anspruch  darauf,  regulative  Principien  zu  sein,  als  einen 
rein  illusorischen  und  völlig  unbegründeten  nach.  Wenn  sie  kraft 
der  Unzerstörbarkeit  dieses  falschen  Scheines  thatsächlich  fortfahren 
sollten,  uns  zu  regulieren,  so  müsste  doch  die  Kritik  sich  darüber 
klar  sein»  dass  wir  dabei  durch  die  illusorische  Beschaffenheit 
unserer  Geistesorganisation  zu  Narren  gehalten  werden,  — 

In  der  Kategorienlehre  der  zweiten  und  dritten  Periode 
Kants  fehlt  gänzlich  die  Kategorie  der  FinalitÄt,  die  unter  den 
Kategorien  der  Relation  neben  der  Substantialität  und  Kausalität 
an  Stelle  der  Wechselwirkung  ihren  rechten  Platz  finden  würde. 
Indem  Kant  das  bisher  Versäumte  nachholt,  erringt  er  einen 
höheren  Standpunkt,  als  er  bisher  eingenommen  hatte,  und  tritt 
damit  in  seine  vierte  Periode  ein,  die  durch  die  Kritik  der  Urteils- 
kraft gekennzeichnet  ist.  Leider  fehlte  es  ihm  an  Frische  und 
Kraft,  aus  diesem  höheren  Gesichtspunkt  seine  fi^üheren  Werke 
noch  einmal  neu  zu  bearbeiten;  er  begnügte  sich  deshalb  mit 
einer  Zuthat,  die  doch  nur  ein  Flickwerk  werden  konnte. 

Der  Zweck  ist  nach  Kant  ein  Princip  mehr,  die  Natur- 
erscheinungen unter  Regeln  zu  bringen,  und  kann  nicht  aus  der 
Erfahrung  gezogen  w^erden;  d.  h,  er  ist  eine  apriorische  Kategorie. 
Für  das  Kennenlernen  und  Erklären  wenigstens  der  organisierten 
Wesen    ist    er    unentbehrlich    und    verdient    deshalb    den    Namen 


40 


Kant 


einer  Kategorie  immer  noch  in  objektiverem  Sinne,  als  die  Kate- 
gorien der  Modalität.  Unter  den  VemunftbegriflFen  schliesst  er 
sich  am  nächsten  an  den  der  Freiheit  an,  die  Kant  als  das  Ver- 
mögen, nach  Zwecken  zu  handeln,  oder  als  teleologische  Ver- 
nunftkausalität definiert;  die  Verwandtschaft  wäre  noch  enger, 
wenn  Kant  nicht  die  sittliche  Selbstbestimmung  rein  formalistisch 
aufFasste  und  alle  inhaltlichen  teleologischen  Rücksichten  von  ihr 
ausschlösse.  Soweit  die  Finalität  sich  auf  bedingte  Naturzwecke 
(Organismen)  bezieht,  ist  sie  eine  Kategorie  des  Verstandes;  so- 
weit sie  sich  auf  den  unbedingten  Endzweck  der  Natur  und 
Vernunft  richtet,  ist  sie  eine  Kategorie  der  Vernunft.  Hiemach 
sollte  man  meinen ,  dass  Kant  konsequenter  Weise  der  Finalität 
konstitutive  Gültigkeit,  ebenso  wie  den  VerstandesbegriflFen,  zu- 
schreiben müsste,  insoweit  sie  sich  gleich  diesen  auf  bedingte 
Zwecke  richtet,  dagegen  ebenso  wie  den  Vernunftbegriffen  bloss 
regulative  Gültigkeit,  soweit  sie  sich  auf  den  unbedingten  Zweck 
oder  absoluten  Endzweck  der  Welt  richtet.  Das  thut  aber  Kant 
inkonsequenter  Weise  nicht,  sondern  rückt  den  Zweck  in  Bezug 
auf  seine  Gültigkeit  ganz  in  die  Reihe  der  Vernunftbegriffe,  auch 
da,  wo  er  sich  auf  Bedingtes  und  Endliches  bezieht.  Er  behauptet, 
dass  er  immer  nur  regulative  Gültigkeit  habe,  aber  gleich  den 
Vernunftbegriffen  immer  den  falschen  Schein  konstitutiver  Gültig- 
keit mit  sich  führe. 

Die  Finalität  ist  nun  aber  nach  Kant  weder  eine  Äusserung 
des  Verstandes  noch  der  Vernunft,  sondern  der  Urteilskraft,  welche 
das  Verbindungsglied  zwischen  beiden  darstellt,  oder  das  über- 
greifende Vermögen,  dessen  Bethätigung  sich  erst  je  nach  der 
Bedingtheit  oder  Unbedingtheit  ihres  Gegenstandes  in  Verstand 
und  Vernunft  differenziert.  So  ist  die  Urteilskraft  mit  ihrer  Kate- 
gorie der  Finalität  zugleich  das  Bindeglied  der  Naturgesetz- 
lichkeit und  der  sittlichen  Weltordnung,  oder  der  sinnlichen 
und  übersinnlichen  Welt,  oder  des  Reiches  der  mechanischen 
Notwendigkeit  und  der  geistigen  Freiheit.  Die  Kluft  zwischen 
beiden  erscheint  Kant  darum  so  gross,  weil  er  die  übersinnliche 
Seite  der  Natur  und  die  sinnliche  Bedingtheit  des  sittlichen  Han- 
delns übersieht,  weil  er  die  Natur  der  subjektiven  Erscheinungs- 
welt verselbständigt  und  die  geistige  Sittlichkeit  von  ihrem  phäno- 
menalen Mutterboden  losreisst.  Wäre  diese  Absonderung  richtig, 
so  wäre  die  Kluft  selbst  durch  die  Finalität  nicht  zu  überbrücken; 


Kant. 


41 


denn  diese  kann  nur  die  reale  Gesetzmässigkeit  der  übersinnlich 
transcendenten  Natur  mit  der  sittlichen  Weltordnung  vermitteln. 

Das  Ringen  um  die  Kategorie  der  Substantialität  und  Kau- 
salität, das  bis  dahin  den  Hauptinhalt  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie ausgemacht  hatte,  tritt  nun  zurück  hinter  dasjenige  um 
die  Kategorie  der  Finalität.  Kant  zuerst  fasst  den  kühnen  Ge- 
danken» dass  es  nichts  anderes  als  die  Kategorie  der  Finalität  sei, 
durch  welche  in  vorbewusster  Weise  die  allgemeinen  formal- 
logischen Naturgesetze  zu  dem  System  der  besonderen  Natur- 
gesetze spezifiziert  werden,  dass,  mit  anderen  Worten,  die  Finalität 
das  Princip  der  Spezifikation  sei.  Allerdings  versteht  Kant  diesen 
Spezifikationsprozess  der  Naturgesetze  noch  wesentlich  als  einen 
subjektiv  idealen,  lediglich  im  vorbewussten  individuellen  Geistes- 
leben des  einzelnen  Menschen  sich  abspielenden,  und  die  Schel- 
lingsche  Naturphilosophie  ist  ganz  und  gar  die  Ausführung  dieses 
Gedankens.  Er  bedarf  der  Berichtigung,  dass  diese  unbewusste 
teleologische  Spezifikation  sich  nur  im  absoluten  Denken,  also  in 
einer  durchaus  supraindividuellen,  transcendenten  Sphäre  voll- 
ziehen kann,  ebenso  wie  die  Determination  der  Zeitverhältnisse 
durch  die  Kausalität  erst  durch  die  Verlegung  ihres  Schauplatzes 
aus  dem  individuellen  ins  absolute  Denken  zur  Wahrheit  wird. 
Zu  dieser  Berichtigung  gelangte  aber  die  Naturphilosophie  mit  der 
Zeit  ganz  von  selbst,  indem  sie  gerade  die  Fesseln  des  erkenntnis- 
theoretischen subjektiven  Idealismus  sprengte  und  ihn  in  einen 
metaphysischen  absoluten  Idealismus  umwandelte.  Kant  wird  für 
immer  das  Verdienst  behalten,  als  der  erste  darauf  hingewiesen 
zu  haben,  dass  die  Finalität  die  höchste  aller  Kategorien  des 
Weltprozesses  ist,  durch  die  allein  die  Einheit  der  natürlichen 
und  sittlichen  Weltordnung  verständlich  wird. 

Kant  fasst  die  schöne  Kunst  und  die  zweckmässige  Organi- 
sation der  Natur  unter  dem  Ausdruck  Technicism  zusammen; 
so  kommt  es,  dass  er  die  organische  Naturphilosophie  mit  der 
Ästhetik  in  ein  Buch  vereinigt,  zirnial  er  den  Begriff  des  Schönen 
auf  eine  bloss  eingebildete  und  im  Objekte  gar  nicht  vorhandene 
Zweckmässigkeit  stützt.  Die  teleologische  Urteilskraft  ist  ent- 
weder bestimmend,  wenn  sie  in  deduktiver  Weise  von  oben 
herunter  aus  einem  apodiktisch  gewissen  Allgemeinen  das  Be- 
sondere mit  logischer  Gewissheit  ableitet;  oder  sie  ist  reflek- 
tierend,  wenn  sie  in    induktiver  Weise   von    unten    hinauf  aus 


42 


Kant. 


dem  Besonderen  über  die  mögliche  Beschaffenheit  des  All- 
gemeinen Betrachtungen  anstellt.  Die  reflektierende  Urteilskraft 
könnte  Wahrscheinlichkeiten  liefern,  aber  diese  verachtet  Kant 
nun  einmal  schlechterdings;  vom  Standpunkt  des  apriorischen 
Rationalismus  kann  der  Induktion  nur  die  Bedeutung  einer 
schlechthin  problematischen  Reflexion  beigemessen  werden,  durch 
welche  über  die  Beschaffenheit  des  Objekts  gar  nichts  ausgemacht 
wird.  Da  es  nun  auf  dem  Gebiete  der  theoretischen  Erkenntnis 
offenbar  keine  allgemeinen  Obersätze  giebt,  aus  denen  teleolo- 
gische Deduktionen  des  Besonderen  möglich  wären,  sondern  alle 
teleologischen  Deduktionen  sich  auf  induktiv  gewonnene  Ober- 
sätze stützen  müssen,  so  bleibt  natürlich  für  die  Finalität  auf 
theoretischem  Gebiet  keine  konstitutive  Bedeutung  übrig.  Es  ist 
aber  wohl  zu  beachten,  dass  dies  nur  richtig  ist,  wenn  Erkenntnis 
mit  apodiktisch  gewisser  Erkenntnis  a  priori  gleichgesetzt  und 
alle  bloss  wahrscheinliche,  induktive  Erkenntnis  verächtlich  bei- 
seite geschoben  wird.  — 

Hiernach  ist  zu  ermessen,  was  von  der  so  oft  wiederholten 
Behauptung  zu  halten  ist,  dass  Kant  die  Unbrauchbarkeit  der 
Finalität  als  Erkenntnisprincip  ein  für  allemal  nachgewiesen 
habe.  Kant  betrachtet  Mechanismus  und  Teleologie  zunächst  als 
gleichberechtigte  Principien,  die  beide  gleichermassen  entweder 
bloss  regulativ  oder  bloss  konstitutiv  sein  müssen.  In  der  Ph3rsik 
allerdings  ist  der  Mechanismus  alleiniges  Erklärungsprincip  und 
die  Teleologie  bloss  heuristisches  Hilfsprincip ;  in  der  Metaphysik 
aber  kehrt  sich  das  Verhältnis  um.  Hier  ist  nach  Kant  der 
Mechanismus  der  Teleologie  untergeordnet,  wie  das  mechanische 
Mittel  dem  beabsichtigten  Zweck;  der  Mechanismus  ist  hier  ein 
bloss  vorläufiges,  untergeordnetes  Erklärungsverfahren,  über  dem 
sich  die  Teleologie  als  das  höhere  endgültige  Verständnis  des 
Zusammenhanges  erheben  muss.  Bloss  regulativ  sind  beide, 
ebenso  wie  beide  bloss  subjektive  Gültigkeit  haben  und  uns 
nichts  über  die  Beschaffenheit  der  Dinge  an  sich  lehren  können. 
Die  antiteleologischen  Anhänger  der  mechanistischen  Welt- 
anschauung sehen  an  Kant  nur  das,  was  ihnen  passt,  aber  nicht, 
dass  sie  mit  in  die  Luft  fliegen,  wenn  er  recht  hat,  und  dass  die 
Begründung  für  beides  bei  Kant  mit  einander  steht  und  fällt 

Die  Wolffsche  Schule  hatte  das  Zweckmässige  in  der  Natiur 
nur  als  das  für  die  beschränkten   Zwecke  des  menschlichen  Be- 


Kanu 


45 


wusstseins  Dienliche  und  Nützliche  aufgefasst;  von  diesem  banau- 
sischen UtiHtarismus  befreit  Kant  die  Teleologie,  indem  er  die 
Naturzweckmässigkeit  nur  als  innere  gelten  lässt.  Innere  Zweck- 
mässigkeit findet  Kant  da,  wo  die  Teile  ihrem  Dasein  und  ihrer 
Form  nach  nur  durch  ihre  Beziehung  auf  das  Ganze  möglich 
sind»  und  wo  das  Ganze  sich  durch  Wechselwirkung  seiner  Teile 
erhält  Solche  Teile  eines  Ganzen  sind  die  Organe  eines  Orga- 
nismus; der  Organismus  ist  die  reale  Wirkung  und  die  ideale 
Ursache  seiner  selbst.  Auch  die  Natur  als  Ganzes  ist  ein  Organis- 
mus oder  ein  .^System  nach  der  Regel  der  Zwecke*;  aber  Kant 
verkennt  die  Zwischenglieder  zwisciien  dem  Naturganzen  und 
den  Einzelindividuen,  weil  ihm  die  Relativität  des  Individualitäts- 
begriffes  und  der  schon  von  Spinoza  und  Leibniz  durchschaute 
Stufenbau  der  ineinander  geschachtelten  Individualitäten  fremd 
ist.  Er  übersieht  deshalb  auch,  dass  dieselben  Beziehungen 
zwischen  mehreren  Individuen  niederer  Ordnung»  die  für  diese 
Individuen  äussere  sind,  für  die  sie  umspannende  Individualitäts- 
stufe zur  inneren  Beziehung  wird  und  deshalb  unter  den  Begriff 
der  inneren  Zweckmässigkeit  fallen  kann.  Nur  in  Bezug  auf  die 
Natur  als  Ganzes  lässt  er  die  innere  Zweckmässigkeit  aller  Teile 
gelten,  sofern  sie  als  Glieder  der  einheitlichen  Gesamtnatur  be- 
trachtet werden. 

Die  Hoffnung  der  Materialisten  und  Mechanisten,  jemals 
durch  bloss  mechanische  Erklärungen  auch  nur  die  Entstehung 
eines  Grashalms  erklären  zu  können,  nennt  Kant  ungereimt,  weil 
es  unmöglich  ist,  den  blinden  Zufall  zum  Erklärungsgrunde  des 
Zweckmässigen  zu  machen,  oder  die  Einheit  des  Organischen  aus 
den  äusserlichen  Beziehungen  eines  Aggregates  von  substantiell 
getrennten  materiellen  Elementen  abzuleiten,  gleichviel  ob  man 
diese  im  Sinne  des  Materialismus  für  leblos,  oder  im  Sinne  des 
Hylozoismus  für  lebendig  hält  Dies  ist  Kants  eigentliche 
Meinung;  der  Analogie  zu  Liebe  konstruiert  er  aber  auch  hier 
eine  Antinomie,  Die  Thesis  behauptet  mit  Recht,  dass  alles  ver- 
mittelst mechanischer  Gesetzmässigkeit  zustande  kommt  und 
nichts  ohne  sie,  die  Antithesis.  dass  einiges  nur  unter  Mitwirkung 
noch  anderer  Principien  zustande  komme*  Beides  widerspricht 
sich  gar  nicht,  sondern  macht  erst  vereint  die  volle  Wahrheit  aus. 
Die  Thesis  hat  aber  unrecht,  wenn  sie  die  bloss  mechanische 
Gesetzmässigkeit  allein  überall  für  ausreichend  erklärt,  und  nur 


A±  Kant. 

mit  dieser  falschen  Behauptung  steht  sie  mit  der  Antithesis  im 
Widerspruch.  Wäre  bei  richtiger  Deutung  der  absichtlich  unklar 
gefassten  Thesis  ein  Widerspruch  vorhanden,  so  würde  er  durch 
Beschränkung  beider  Seiten  auf  bloss  regulative  Gültigkeit  nicht 
gehoben,  sondern  nur  aus  der  Aussenwelt  in  die  Organisation 
unseres  Geistes  hinübergeschoben,  also  noch  verschärft.  Da  kein 
Widerspruch  vorhanden  ist,  so  kann  auch  aus  ihm  nichts  gegen 
die  konstitutive  Gültigkeit  beider  Seiten  gefolgert  werden.  Kant 
selbst  kehrt  sich  an  sein  Verbot  eines  konstitutiven  Gebrauchs 
der  Finalität  ebensowenig,  wie  an  sein  Verbot  eines  transcenden- 
talen  Gebrauchs  der  Kausalität  und  Substantialität. 

Wenn  nun  auch  Mechanismus  und  Teleologie  einander  nicht 
widersprechen,  so  bleiben  sie  doch  für  unseren  Verstand  disparate 
Betrachtungsweisen,  die  nicht  gleichzeitig,  sondern  nur  nach  ein- 
ander anzuwenden  sind,  und  von  denen  keine  in  die  andere  über- 
greifen darf.  Ihre  Vereinigung  in  einem  Zeitpunkt  ist,  obwohl 
nicht  widersprechend,  doch  thatsächlich  unvollziehbar  in  einem 
diskursiven,  abbildlichen  Verstände,  für  den  BegrüF  und  An- 
schauung, Mögliches  und  Wirkliches,  Teile  und  Ganzes,  Beson- 
deres und  Allgemeines,  reale  und  ideale,  kausale  und  finale  Ver- 
knüpfung auseinanderfallen.  Gäbe  es  einen  intuitiven,  urbildlichen 
Verstand,  der  alles  ideell  Gesetzte  zugleich  auch  realisierte,  oder 
eine  intellektuelle  Anschauung,  die  das  schauend  Gedachte  eo  ipso 
schüfe,  dann  läge  für  ihn  kein  Hindernis  vor,  auch  Kausalität  und 
Finalität  ineinander  zu  denken.  In  der  subjektiv  phänomenalen 
Stoffwelt  kann  freilich  ein  solcher  Verstand  ebensowenig  gesucht 
werden,  wie  in  ihrem  intelligiblen  Korrelat,  der  Welt  der  dyna- 
mischen Atome  und  Individualgeister.  Den  Spinozismus,  der 
gerade  diesen  Verstand  seiner  Substanz  zuschreibt,  kennt  Kant 
so  wenig,  dass  er  glaubt,  derselbe  nehme  dem  Urgründe  der 
Naturdinge  allen  Verstand  weg.  Kant  vermag  sich  einen  solchen 
intuitiven  Verstand  nur  in  einem  persönlichen  Gott  als  ausser- 
weltlichem  Weltgrunde  zu  denken.  In  seiner  zweiten  Periode 
nimmt  er  ihn  als  gewiss  an;  in  seiner  dritten  Periode  wird  da- 
gegen die  Existenz  desselben  völlig  problematisch,  weil  er  sie  als 
apodiktisch  gewiss  nicht  mehr  aufrecht  erhalten  kann  und  als 
bloss  wahrscheinlich  missachtet.  Die  Idee  des  intuitiven  Ver- 
standes bleibt  aber  auch  da  noch  bestehen  als  Princip  der  Ver- 
einigung  von  Kausalität  und  Teleologie,  und  sie  giebt  die  beste 


Kanu 


45 


Ausführung  für  die  auf  die  moralischen  Postulate  gestützte  Idee 
Gottes.  — 

Wenn  irgendwo,  so  hätte  Kant  der  Finalität  eine  bloss 
regulative  Bedeutung  da  zuschreiben  müssen,  wo  sie  auf  das 
Unbedingte  angewendet  wird,  wo  es  sich  um  den  absoluten  End- 
zweck des  Weltdaseins  und  Weltprozesses  handelt;  wenn  irgend- 
wo, wäre  hier  eine  skeptische  Selbstbescheidung  und  ein  Verzicht 
auf  den  transcendentalen  Gebrauch  dieser  Kategorie  am  Platze 
gewesen.  Aber  gerade  über  den  Endzweck  äussert  Kant  sich 
mit  voller  Entschiedenheit  Er  lehnt  es  ab,  ihn  in  der  Glück- 
seligkeit oder  Selbstbespiegelung  zu  suchen,  und  findet  ihn  aus- 
schliesslich in  der  Moralität  der  vernünftigen  Geschöpfe.  Diese 
sind  bei  dem  durchaus  formalistischen  Charakter  der  Kantschen 
Moral  bloss  dazu  da,  sich  formell  korrekt  zu  benehmen  in  einer 
Welt,  die  nur  dazu  da  ist,  dass  Geschöpfe  sich  formell  korrekt 
in  ihr  benehmen  können.  Das  Anstössige  dieses  leeren  Zirkels 
sucht  er  schliesslich  doch  wieder  dadurch  zu  umgehen,  dass  er 
für  das  Jenseits  die  Harmonie  von  Glück  Würdigkeit  und  Glück- 
seUgkeit  postuliert,  also  die  Glückseligkeit  doch  wieder  als  ein- 
zige Erfüllung  in  den  formalistischen  leeren  Endzweck  der  Welt 
hereinzieht.  Hätte  er  die  sittliche  Selbstbestimmung  als  eine  zu- 
gleich inhaltlich  teleologische  aufgefasst»  so  hätte  der  Stufenbau 
der  sitthchen  Zwecke  ihn  ganz  von  selbst  zu  einem  übersittlichen 
Endzweck  geführt,  wie  der  Stufenbau  der  natürlichen  Zwecke  in 
einen  übernatürlichen  Endzweck  mündet,  freilich  nur  induktiv, 
d.  h,  mit  blosser  Wahrscheinlichkeit,  da  zur  Deduktion  der  ge- 
setzmässigen  teleologischen  Weltordnung  der  menschliche  Ver- 
stand auf  dem  sittlichen  Gebiete  ebenso  unfähig  ist,  wie  auf  dem 
natürlichen,  — 

Jedenfalls  hat  Kant  das  Verdienst,  in  seiner  vierten  Periode 
als  der  erste  die  Kategorie  der  Finalität  zu  einer  universellen 
Kategorie  erhoben  und  durch  die  Proklamierung  ihrer  Einheit 
mit  der  Kategorie  der  Kausalität  im  göttlichen  Verstand  und  in 
der  durch  ihn  produzierten  Welt  dem  BegriflF  der  universellen 
Entwickelung  die  ihm  bis  dahin  fehlende  philosophische  Grund- 
lage gegeben  zu  haben.  Gegen  diese  grossartige  Leistung  treten 
alle  Mängel  in  den  Hintergrund»  die  seiner  eigentümlichen 
Fassung  der  Finalitätskategorie  noch  anhaften.  Erst  Hegel 
konnte    das  Werk   vollenden,   das   Kants   vierte   Periode  seinen 


46  Kaot. 

Nachfolgern  als  wichtigste  Aufgabe  hinterlassen  hatte.  Dadurch 
aber,  dass  Kant  an  dem  apriorischen  Rationalismus  festhielt,  ihn 
bloss  auf  das  subjektiv  phänomenale  Gebiet  hinüberspielte  und 
fortfuhr,  alle  Wahrscheinlichkeit  von  der  Philosophie  auszu- 
schliessen,  brachte  er  die  philosophische  Entwickelung  in  Deutsch- 
land für  längere  Zeit  in  eine  schiefe  Bahn,  die  schliesslich  mit 
einem  Zusammenbruch  der  ganzen  so  geführten  Spekulation 
enden  musste. 

Seine  Nachfolger  befanden  sich  in  dem  Glauben,  dass  durch 
Kant  die  Erkenntnistheorie  ein  für  allemal  ihre  Erledigung  ge- 
funden habe,  dass  durch  ihn  der  transcendentale  Idealismus  in 
unerschütterlicher  Weise  begründet  sei,  und  dass  es  nun  bloss 
noch  sich  darum  handeln  könne,  auf  dieser  erkenntnistheoretischen 
Grundlage  die  richtige  Metaphysik  zu  errichten.  Erst  als  nach 
dem  Zusammenbruch  der  so  entstandenen  spekulativen  Systeme 
der  Materialismus  sich  breit  machte,  griff  man  auf  Kants  Er- 
kenntnistheorie zurück,  um  den  Materialismus  durch  den  trans- 
cendentalen  Idealismus  zu  widerlegen  und  sich  an  Kant  neu  zu 
orientieren  (F.  A.  Lange).  Dabei  zeigte  sich  dann  aber  alsbald, 
dass  die  Kantsche  Grundlegung  der  Erkenntnistheorie  durchaus 
nicht  so  klar,  in  sich  geschlossen  und  zweifelfrei  war,  wie  man 
bis  dahin  angenommen  hatte.  Im  Gegenteil  bröckelte  der  so  er- 
wachsende Neukantianismus  in  zahllose  verschiedene  Richtungen 
und  Nuancen  auseinander,  von  denen  jede  behauptete,  allein  das 
wahre  Verständnis  Kants  zu  besitzen. 

Daraus  hätte  man  vor  allen  Dingen  das  eine  geschichtliche 
Ergebnis  ziehen  sollen,  dass  Kant  die  gesuchte  Grundlegung  der 
Erkenntnistheorie  jedenfalls  noch  nicht  in  deutlicher  und  zweifel- 
loser Weise  geliefert  hatte,  dass  sie  vielmehr  unter  Benutzung 
der  Kantschen  Anregungen  erst  neu  zu  beschaffen  seL  Man 
hätte  zweitens  daraus  entnehmen  sollen,  dass  die  Kantsche  Lehre, 
über  deren  Irrgänge  sich  nicht  einmal  die  Neukantianer  zu  einigen 
vermochten,  welche  ihr  Studium  zu  ihrer  Lebensaufgabe  gemacht 
hatten,  am  allerwenigsten  für  geeignet  gelten  könne,  unreife 
Jünglinge  in  das  Studium  der  Philosophie  einzuführen,  wie  dies 
leider  heute  üblich  ist. 

Die  sonstigen  Verdienste  Kants  auf  anderen  Gebieten  ge- 
hören nicht  in  die  Geschichte  der  Metaphysik.  Hier  sei  nur  er- 
wähnt, dass  er  der  Begründer  der  modernen  Axiologie,  der  Vater 


Kant. 


47 


des  modernen  Pessimismus,  der  Erlöser  der  Moral  aus  den  Banden 
des  Eudämonismus,  in  denen  sie  seit  der  Renaissance  geschmachtet 
hatte,  der  Urheber  der  wissenschaftlichen  modernen  Ästhetik 
und  ein  Naturforscher  war,  der  seinen  Namen  durch  unvergäng- 
liche Leistungen  in  die  Geschichte  der  Naturwissenschaften  ein- 
gezeichnet hat.*} 

Zum  Schlu&s  gebe  ich  eine  Zusammenstellung  aller  bei  Kant 
vorkommenden  Kategorien  im  weiteren  Sinne. 

I.  Die  Kategorien  der  Sinnlichkeit  oder  die  reinen  An- 
schauungsformen. 

1.  Die  einfachen: 

a.  Die  Form  des  inneren  Sinnes: 
Zeitlichkeit, 

b.  Die  Form  des  äusseren  Sinnes: 
Räumlichkeit. 

2,  Die  zusammengesetzten: 
Verändenmg,  Bewegung. 

IL  Die  Kategorien  des  Verstandes  oder  die  reinen 
VerstandesbegriflFe. 

1.  Die  mathematischen: 

a,  Quantität  (Bcgriffsumfang); 
Einheit,  Vielheit,  Allheit 

b.  Qualität  (Vorzeichen): 
Realität,  Negation,  Limitation. 

2.  Die  dynamischen: 

a.  Relation: 
Substanz,  Kausalität,  Wechselwirkung. 

b.  Modalität: 
Möglichkeit    und    Unmöglichkeit,    Dasein    und    Nichtsein, 
Notwendigkeit  und  Zufälligkeit. 

•)  VergL  Kants  Erkenotxustbeorie  und  Metaphysik  in  den  vier  Perioden  ihrer 
Entwickcltiug.  —  Kritische  Grimdlegimg  des  transcendentAlen  Realismus.  5.  Anfl.  — 
Zar  Geschichte  und  Begründung  des  Pessimismns .  2.  Aufl.,  S.  29  —  137.  —  PhiL 
Fragen  dct  Gegenwart,  S.  112 — 120.  —  Uns  sittHche  Bewusstsein*  2.  Aufl.  /siehe 
Register  unter  Kant)*  —  Die  deutsche  Ästhetik  seit  Kant,  S»  i — 27,  —  Gesammelte 
Studien  und  Aufsätze,  3.  Aufl«,  S.  526 — 529.  —  Nenkantianisnins,  Schopenhauenaois- 
nw«  und  Hegelianismus,  S.  ij^ig,  45  -ti8.  ^ —  Phil.  Fragen  der  Gegenwart,  S.  244 — 260. 
—  Prcuss.  Jahrbücher,  1893,  Heft  2,  S.  340—346. 


48 


Kant. 


in.  Die  Schemata  oder  die  aus  reinen  VerstandesbegxifFen 
und  Zeitlichkeit  zusammengesetzten  Kategorien. 

1.  Die  mathematischen: 

a.  Zeitliche  Einheit,  Vielheit,  Allheit. 

b.  Zeitliche  Realität,  Negation,  Limitation. 

2.  Die  dynamischen: 

a.  Zeitliche  Substantialität,  Kausalität,  Wechselwirkung. 

b.  Zeitliche  Möglichkeit,  Wirklichkeit,  Notwendigkeit. 

rV.  Die  reinen  Reflexionsbegriffe. 

1.  Diejenigen,     aus    denen    die    mathematischen    Urteilsformen 
entspringen: 

a.  Diejenigen,  aus  denen  der  Urteilsumfang  entspringt: 
Einerleiheit  (Ursprung  der  allgemeinen  Urteile), 
Verschiedenheit  (Urspnmg  der  besonderen  Urteile). 

b.  Diejenigen,  aus  denen  die  Urteilsqualität  entspringt: 
Einstimmung  (Ursprung  der  bejahenden  Urteile), 
Widerstreit  (Ursprung  der  verneinenden  Urteile). 

2.  Sonstige  Reflexionsbegriffe: 

a.  Inneres  und  Äusseres. 

b.  Bestimmbares  und  Bestimmung  (Materie  und  Form). 

V.  Die  reinen  Vernunftbegriffe  oder  Ideen. 

1.  Das  Unbedingte  im  Subjekt  (Idee  der  Seele). 

2.  Das  Unbedingte  in  einer  Reihe  (Idee  der  Welt). 

3.  Das  Unbedingte  im  System  (Idee  Gottes). 

VI.  Die  Kategorie  der  Urteilskraft. 
Die  Finalität. 

VII.  Die  Prädikabilien  a  priori  oder  die  abgeleiteten  reinen 
Verstandesbegriffe : 

Kraft,  Handlung,  Leiden,  Gegenwart,  Widerstand,  Entstehen, 
Vergehen  u.  s.  w. 


ReinhoM. 

2.  Die  Kantsche  Schule. 


49 


Die  Kantsche  Schule  bemühte  sich  in  erkenntnistheoretischer 
Hinsicht,  die  Widersprüche  in  der  Lehre  Kants  über  die  Gel  tun  gs- 

'sphäre  der  Kategorien  zu  erkennen  und  zu  beseitigen,  in 
metaphysischer  Hinsicht  die  Vielheit  der  Vermögen  und  die 
Mannigfaltigkeit  der  Kategorien  auf  ein  möglichst  einheitliches 
Grundvermögen  und  möglichst  einfache  Urkategorien  zurück- 
zuführen. Die  entscheidenden  Veröffentlichungen  erfolgten  in 
dieser  Ordnung:  Reiohold  1789,  SchuUc  1792,  Maimon  1790^1797, 
Beck  1796,  Bardili  1798  und  iBoo»  Bouterwek  1799,  Krug  1801, 
Fries  1807.  Deshalb  sind  sie  hier  in  dieser  Reihenfolge  erörtert 
ie  Bedeutung  dieser  ganzen  Schule  tritt  sehr  gegen  den  Einen 

'Fichte  zurück,  dessen  massgebende  Veröffentlichungen  1894— 1897 
erfolgten;  sie  ist  deshalb  auch  hier  nur  ganz  kurz  behandelt 
Einen  Einfluss  auf  die  Ent Wickelung  nach  Fichte  hat  wohl  nur 
Bouterwek  gewonnen,  und  zwar  dadurch,  dass  er  Schopenhauer 
eine  Anregung  mehr  zur  Gewinnung  seines  Princips  gab. 

I.  Reinhold  (1758—1823).  Reinhold  ging  von  dem  Bestreben 
aus,  ebensowohl  die  Vielheit  der  Kantschen  Kategorien  aus  ein- 
fachen Urkategorien  abzuleiten,  wie  die  Vielheit  der  Kantschen 
intellektuellen  Vermögen  aus  der  Einfachheit  des  Vorstellungs- 
vermögens.    In  der  Art  dieser  Ableitung  schloss  er  sich  auf  das 

'engste  an  die  von  Kant  gegebenen,  aber  nicht  benutzten  An- 
deutungen an.  Die  vier  letzten  Reflexionsbegriffe  spielen  schon 
?i  Kant  eine  grössere  Rolle,  als  er  ihnen  ausdrücklich  zugesteht; 
Leinhold  brauchte  sie  nur  ans  Licht  zu  stellen,  Stoff  und  Form, 
die  bei  Aristoteles  die  praktisch  wichtigsten  Kategorien  in  der 
Sphäre  der  realen  Existenz  gewiesen  w^aren,  werden  nun  zu  den 
Urkategorien  in  der  Sphäre  der  idealen  Vorstellung.  Die  Vor- 
stellung gilt  jetzt  als  eine  Einheit  von  Stoff  und  Form,  wie  es 
bei  Aristoteles  das  Ding  gewesen  war.  Der  Stoff  in  der  Vor- 
stellung entspricht  dem  vorgestellten  Objekt  die  Form  dem  vor- 
stellenden Subjekt.  Der  Stoff  ist  durch  Affektion  gegeben  und 
durch  Rezeptivität  aufgenommen;  die  Form  ist  durch  Spontaneität 
hervorgebracht  Der  Stoff  der  Vorstellung  fällt  nicht  mit  dem 
Gegenstande  zusammen,  denn  er  ändert  sich  oft,  während  der 
Gegenstand  derselbe  bleibt 

Erfolgt  die  Affektion  der  Rezeptivität  von  aussen,  so  ist  der 

E.V.  Hart  raa  DO,  Auiigew.  Werke.    Bd.  XU.  4 


50 


Reinhold. 


Stoff  objektiv,  erfolget  sie  von  innen,  so  ist  er  subjektiv.  Auch 
diese  Unterscheidung  ist  ganz  kantisch;  es  tritt  also  nun  das 
letzte  Paar  der  ReflexionsbegrifFe  hinzu,  um  objektiven  und  sub- 
jektiven Stoff  zu  unterscheiden.  Natürlich  ist  das  Äussere  und 
Innere  hier  nicht  räumlich  zu  verstehen;  das  äussere  Affizierende 
ist  vielmehr  das  unräumliche  Ding  an  sich,  und  das  innere  Affi- 
zierende ist  das  unräumliche  Subjekt  Ist  das  Affizierende  das 
Vorstellungsvermögen  selbst,  so  ist  der  Stoff  a  priori  oder  rein; 
ist  es  nicht  das  Vorstellungsvermögen  selbst,  so  ist  er  a  posteriori 
oder  empirisch.  Der  objektive  empirische  Stoff  der  Vorstellung 
ist  das,  was  Kant  die  vom  Dinge  an  sich  gegebene  Materie  der 
Empfindung  (oder  Wahrnehmung)  nennt;  ihm  steht  die  synthetische 
Intellektualfunktion  oder  die  transcendentale  Synthesis  der  Apper- 
zeption als  Form  gegenüber,  und  beider  Ursprung  verhält  sich 
zugleich  wie  Äusseres  und  Inneres  (Ding  an  sich  und  Subjekt). 

Indem  die  synthetische  Intellektualfunktion  formierend  an 
den  von  aussen  gegebenen  Stoff  herantritt,  erhebt  sie  ihn  zum 
geformten  Stoff.  Diese  Erhebung  vollzieht  sich  aber  stufenweise, 
und  auf  jeder  höheren  Stufe  wird  dasjenige  zum  Stoff  einer  neuen 
Formierung,  was  auf  der  niederen  Stufe  bereits  geformter  Stoff 
oder  Einheit  von  Stoff  und  Form  war.  So  erweist  sich  der 
Gegensatz  von  Stoff  und  Form  als  ein  relativer,  der  auf  ver- 
schiedenen Stufen  in  höherer  Potenz  wiederkehrt;  was  auf  der 
niederen  Stufe  dem  Stoff  als  Form  gegenüber  stand,  fällt  auf  der 
höheren  Stufe  mit  auf  die  Seite  des  Stoffs.  Auf  der  untersten 
Stufe  wird,  wie  schon  Kant  es  gelehrt  hat,  der  sinnliche  Stoff  in 
räumlicher  und  zeitlicher  Form  apprehendiert  und  dadurch  zur 
Empfindung  und  Anschauung  formiert.  Auf  der  zweiten  Stufe 
wird  die  Empfindung  und  Anschauung  durch  verstandesmässige 
Verknüpfung  und  Unterscheidung  vermittelst  der  Kategorien  und 
Urteile  in  Begriffe  formiert.  Auf  der  dritten  Stufe  werden  die 
reinen  Verstandesbegriffe  zu  Ideen  formiert.  Auf  allen  Stufen 
giebt  der  Stoff  das  Mannigfaltige,  das  durch  die  Form  zur  neuen 
höheren  Einheit  verknüpft  wird. 

Stoff  der  Anschauung  ist  der  von  aussen  gegebene  sinnliche 
Rohstoff;  Stoff  der  Begriffe  sind  die  Anschauungen,  Stoff  der 
Ideen  die  Kategorien  als  die  von  innen  gegebenen  Begriffe  a  priori. 
Form  auf  der  Stufe  der  Anschauung  ist  die  Zusammenfassung 
des    mannigfaltigen    Rohstoffs    zur    räumlich    zeitlichen    Einheit; 


Rdnhold. 


5^ 


Form  auf  der  Stufe  des  Begriffs  ist  die  Zusammenfassung  des 
mannig^fachen  Anschaiiungsstoffs  zur  kategorialen  Einheit;  Form 
auf  der  Stufe  der  Idee  ist  die  Zusammenfassung  des  mannig- 
faltigen Kategorienstoffes  zur  unbedingten  Einheit.  Im  Urteil 
sind  ebenfalls  die  Begriffe  Stoff  und  Form  massgebend,  die  hier 
als  logische  auftreten;  logischer  Stoff  des  Urteils  ist  das  Subjekt, 
logische  Form  das  Prädikat,  und  beider  Einheit  ist  das  Urteil. 
Diese  Einheit  kann  entweder  in  Rücksicht  auf  das  Subjekt,  oder 
auf  das  Prädikat,  oder  auf  beide  zusammen  oder  auf  das  Bewusst- 
sein  verstanden  werden;  daraus  ergeben  sich  die  Unterschiede 
der  Quantität,  Qualität,  Relation  und  Modalität  der  Urteile  und 
die  ihnen  nach  Kant  entsprechenden  Kategorien. 

Im   einzelnen    ist    dieser   Ableitungsversuch   sehr   willkürlich 

und   gewaltsam   ausgefallen»  indem   die  drei  Quantitätskategorien 

(Einheit,  Viellieit,  Allheit)  der  Reihe  nach  an  die  vier  Beziehungs- 

■      punkte  (Subjekt,  Prädikat,  Einheit  beider»  und  urteilendes  Bewusst- 

sein)  angelegt  werden.    In  Bezug  auf  das  Subjekt  bleiben  sie,  was 

»sie  sind.  In  Bezug  auf  das  Prädikat  wird  Einheit  in  Bejahung, 
Vielheit  in  Verschiedenheit  oder  Verneinung,  Allheit  in  gegen- 
seitige Einschränkung  der  umspannten  Glieder  umgedeutet.  In 
Bezug  auf  die  Einheit  von  Subjekt  und  Objekt  wird  die  Einheit 
als  substantielle  Einheit  des  Gegenstandes,  die  Vielheit  als  kausale 
Verknüpfung,  die  Allheit  als  allgemeine  Gemeinschaft  ausgelegt* 
In  Bezug  auf  das  urteilende  Bewusstsem  wird  die  Wirklichkeit 
und  Möglichkeit  willkürlich  mit  der  Einheit  und  Vielheit  paralleli- 
siert,  die  Allheit  als  Urteil  jedes  Bewusstseins  oder  Apodiktizität 
gedeutet. 

Die  Ideen  leitet  Reinhold  aus  den  vier  Kategorien  ab,  die  in 
jeder  Gruppe  das  erste  Paar  in  sich  zusammenfassen,  d.  K  aus 
der  Allheit,  Limitation,  Gemeinschaft  und  Notwendigkeit,  indem 
er  sie  in  die  Sphäre  des  Unbedingten  erhebt.  So  gewinnt  er  die 
unbedingte  Totalität,  die  Grenzenlosigkeit,  das  Allumfassende  und 
die  absolute  Notwendigkeit  Hieraus  sucht  er  dann  weiter  die 
Gesetze  der  Homogeneität,  Spezifikation  und  Formenkontinuität 
abzuleiten.  Die  Erhebung  der  objektiven  Einheit  von  Stoff  und 
Form,  oder  Subjekt  und  Prädikat  des  Urteils,  zur  absoluten 
soll  endlich  bewirken,  dass  die  drei  Kategorien  der  Relation, 
welche  dieser  objektiven  Einheit  entsprechen,  in  der  Sphäre 
der  Idee  selbst  zur  absoluten  Einheit  emporsteigen,  d,  h,  zu  dem 

4* 


52 


Schulze.  —  Maimon. 


absoluten    Subjekt,    der    absoluten    Ursache    und   der    absoluten 
Gemeinschaft.  — 

2.  Schulze  (1761— 1833).  Schulze  hat  für  die  Kateg-orien- 
lehre  wenig  gethan,  weil  er  sich  wesentlich  skeptisch  verhält 
Bemerkenswert  ist  jedoch,  dass  er  den  beiden  ersten  Kantschen 
ReflexionsbegrifFen,  Einerleiheit  und  Verschiedenheit,  wieder  mehr 
Bedeutung  zuschreibt,  indem  er  sagt,  dass  durch  sie  überhaupt 
Mannigfaltigkeit  zur  Einheit  zurückgeführt  werde.  Gerade  bei 
den  sinnlichen  Anschauungsformen  betont  er  diese  logische 
Grundlage,  um  derentwillen  die  Sinnlichkeit  als  ein  unvollstän- 
diger Verstand  erscheint.  Raum  und  Zeit  sind  sinnliche  Vor- 
stellungen der  Verschiedenheit,  oder  (logische)  Verschiedenheit  als 
Aussereinander  und  Nacheinander  vorgestellt,  und  zugleich  sinn- 
liche Formen  für  die  Zusammenfassung  des  Verschiedenen  zur  Ein- 
heit auf  Gnmd  der  (logischen)  Einerleiheit  des  Verschiedenen.  Den 
Widerspruch  zwischen  Kants  Verbot  eines  transcendentalen  Kate- 
goriengebrauchs und  der  Ableitung  des  Dinges  an  sich  aus  der 
transcendenten  Kausalität  seines  Affizierens  betonte  er  nach- 
drücklich. — 

3.  Maimon  (1754 — 1800).  Wenn  Jacobi  und  Schulze  (Aene- 
sidemus)  recht  hatten,  so  konnte  das  Verbot  eines  transcendentalen 
Gebrauchs  der  Kategorien  nicht  zusammen  bestehen  mit  der  Be- 
hauptung, dass  viele  existierende  reale  Dinge  an  sich  den  StoflF 
der  Empfindung  durch  Affizieren  der  sinnlichen  Rezeptivität 
geben.  Eines  von  beiden  musste  fallen.  Die  Absicht  der  deut- 
schen Philosophie  ging  dahin,  den  Rationalismus  als  apodiktischen 
Urteilsapriorismus  aufrecht  zu  erhalten  und  sicher  zu  stellen; 
durch  diese  Absicht  war  Kant  zum  transcendentalen  Idealismus 
hingeführt  worden,  und  dieser  Absicht  konnte  nur  Genüge  ge- 
schehen, wenn  das  Fundament  des  transcendentalen  Idealismus, 
d.  h.  das  Verbot  des  transcendentalen  Gebrauchs  der  Kategorien 
festgehalten  und  reiner  als  von  Kant  durchgeführt  wurde.  Es 
musste  versucht  werden,  wie  weit  auf  diesem  Wege  zu  gelangen 
sei,  ehe  man  einen  anderen  beschreiten  durfte.  Dazu  gehörte 
aber  vor  allem  die  Ausscheidung  des  Dinges  an  sich  und  seiner 
transcendenten  Kausalität  auf  die  Rezeptivität;  mit  ihnen  fiel  der 
Gegensatz  des  Äusseren  und  Inneren  im  transcendenten  Sinne 
fort,  und  der  sinnliche  Rohstoff  musste  aufhören,  als  ein  von 
aussen  gegebener  zu  gelten.     Stoff  und  Form  mussten  nicht  nur, 


^[ainion. 


53 


wie  bei  Reinhold,  als  ein  innerhalb  des  Bewiisstseins  fa-Uender, 
sondern  auch  als  ein  ausschliesslich  von  innen  bedingter  und  be- 
wirkter Gegensatz  gefasst  werden.  Wenn  Stoff  doch  nur  ein  rela- 
tiver BegriflF  ist  in  den  die  Form  einer  niederen  Stufe  mit  eingeht, 
so  kann  er  auch  ganz  durch  intellektuelle  Thätigkeit  von  innen, 
durch  vorbewusste  SelbstafFektion  gegeben  sein.  Dann  erst  wird 
die  Intellektualfunktion  alles  in  allem,  wenn  ihr  Gegenstück,  das 
Ding  an  sich,  hinwegfällt. 

Dieser  Standpunkt  tritt  zuerst  bei  Maimon  auf.  Zwar  hält 
auch  Maimon  ebenso  wie  Reinhold  an  der  Untrennbarkeit  von 
Bewusstsein  und  Vorstellung  fest»  aber  er  lehrt  die  Unbewusst- 
heit  der  Spontaneität  des  Setzens,  durch  die  das  Gesetzte  scheinbar 
zum  Gegebenen  wird.  Auch  diese  Unbewusstheit  der  Spontaneität 
versteht  er  nur  im  Sinne  der  Leibnizschen  petites  perceptions  als 
dunkle»  unklare  Vorstellung  von  geringerem  Bewiisstseinsgrade,  die 
sich  zuletzt  in  lauter  Differentiale  verhert.  Die  Unerkennbarkeit 
dieser  Bewusstseinsdifferentiale,  die  alle  Erfahrung  zu  einer 
irrationalen  Reihe  machen,  tritt  bei  Maimon  an  die  Stelle  der 
Unerkennbarkeit  des  Dinges  an  sich.  Rational  ist  nur  die  ihren 
Stoff  mit  dem  Bewusstsein  der  Spontaneität  erzeugende  Er- 
kenntnisthätigkeit,  das  synthetische  mathematische  Denken,  das 
Maimon  zugleich  als  das  reelle  Denken  bezeichnet  (während  wir 
jetzt  es  bloss  als  ein  formales  gelten  lassen). 

Der  rein  subjektive  Stoff  und  die  ebenso  subjektive  Form, 
oder  Subjekt  und  Prädikat,  werden  nun  durch  Maimon  zu  rein 
logischen  Abstraktionen  ausgehöhlt,  wenn  nicht  gar  zu  gramma- 
tikalischen Schematen  ausgedörrt.  Sie  verhalten  sich  wie  Be- 
stimmbares und  Bestimmung;  das  erstere  kann  ohne  die  letztere 
im  Bewusstsein  sein,  aber  nicht  umgekehrt,  wenn  nicht  das 
Denken  entweder  bloss  willkürlich  oder  bloss  formell  sein  soll. 
Der  Grundsatz  der  (einseitigen)  Bestimmbarkeit  ist  das  Grund- 
gesetz, nach  welchem  das  -reelle  Denken  verfährt;  aus  ihm,  als 
aus  dem  transcendentalen  Verhältnis,  werden  nun  die  sämtlichen 
Kategorien  abgeleitet.  Von  den  Urteilsformen  lässt  Maimon  nur 
die  der  Qualität  gelten;  die  Urteile  der  Quantität  verwirft  er  als 
abgekürzte  Schlüsse,  Von  den  Urteilen  der  Relation  lässt  er  nur 
das  kategorische  bestehen,  das  ihm  mit  dem  Urteil  der  Qualität 
zusammenfällt;  von  den  Urteilen  der  Modalität  nur  das  apodik- 
tische.    Das  assertorische  Urteil  wird  als  nicht  logisch,  sondern 


54 


Beck. 


empirisch  ausgeschieden;  das  apodiktische  Urteil  besagt,  dass  das 
Subjekt  die  notwendige  Voraussetzung  des  Prädikats  ist,  das 
problematische  besaget  ebenso  apodiktisch,  dass  das  Prädikat  die 
mögliche  Bestimmung  des  Subjekts  ist. 

Die  Deduktion  der  Kategorien  aus  dem  Grundsatze  der  Be- 
stimmbarkeit ist  nicht  minder  gewaltsam  wie  bei  Reinhold.  Das 
bestimmbare  Subjekt  vertritt  die  Einheit,  die  prädikativischen 
Bestimmungen  die  Vielheit,  die  Gesamtheit  der  Bestimmungen 
eines  Subjekts  die  Allheit.  Jedem  Subjekt  kommt  eins  von  allen 
möglichen  Prädikaten  oder  sein  Gegenteil  zu  (Realität,  Negation); 
objektive  Realität  haben  aber  nur  die  dem  Grundsatze  der  Be- 
stimmbarkeit gemässen  Bestimmungen.  Bestimmbares  und  Be- 
stimmung verhalten  sich  wie  Substanz  und  Accidens.  Die  Kau- 
salität ist  wie  bei  Kant  die  Bestimmung  der  Zeitfolge,  durch 
welche  erst  die  Mannigfaltigkeit  vorstellbar  w^erden  soll.  Die 
gesetzte  Bestimmung  ergiebt  die  Wirklichkeit,  während  Möglich- 
keit und  Notwendigkeit  aus  dem  Verhältnis  von  Subjekt  und 
Prädikat  ebenso  wie  bei  den  Urteilen  folgen.  — 

4.  Beck  (1761 — 1842).  Beck  verwirft  ebenso  wie  Maimon 
das  Ding  an  sich,-  will  aber  im  Gegensatz  zu  diesem  nicht 
Kritiker,  sondern  Ausleger  der  Kantschen  Philosophie  sein,  die 
er  als  erster  rein  und  einseitig  im  idealistischen  Sinne  deutet 
Die  Dinge  wirken  nach  ihm  nicht  wirkUch  auf  uns,  was  sie  als 
unsere  blosse  Vorstellungen  gar  nicht  können,  sondern  sie  werden 
von  uns  nur  so  angeschaut,  als  ob  sie  auf  uns  wirkten.  Ihre 
Kausalität  wird  zur  blossen  Einbildung.  Das  ursprüngliche  Vor- 
stellen ist  eine  Thätigkeit,  die  man  vollziehen  muss,  um  sie 
kennen  zu  lernen,  aber  nicht  eine  Thatsache,  die  uns  ohne  solche 
eigene  Thätigkeit  gegeben  wäre.  Das  ursprüngliche  Vorstellen 
ist  die  synthetische  Funktion  des  transcendentalen  Verstandes, 
giebt  aber  als  solche  noch  kein  Objekt.  Damit  eine  objektiv- 
synthetische Einheit  zustande  kommt,  muss  eine  das  Vorstellen 
festmachende  oder  fixierende  Anerkennung,  eine  Subsumtion  des 
Gegenstandes  unter  einen  Begriff  hinzutreten,  welche  Sache  der 
transcendentalen  Urteilskraft  ist  So  ist  z.  B.  das  ursprüngliche 
Vorstellen  zunächst  als  Synthesis  des  Gleichartigen  extensiv- 
räumliches Anschauen,  das  als  fortlaufendes  zugleich  zeitlich  ist; 
ein  Produkt  aber  liefert  es  erst  durch  eine  Fixierung  in  be- 
stimmter Zeit,  und  dieses  ist  dann  Figur  oder  Gestalt    Während 


Bardili, 


55 


in  dieser  ersten  Synthesis  die  Teile  dem  Ganzen  vorausgehen,  ist 
es  in  der  zweiten  umgekehrt;  wie  die  erste  extensiv -räumliches 
Anschauen  (Grösse)  ist,  so  die  zweite  empirisches  Anschauen 
(Sachheit  oder  Realität),  und  ihre  Fixierung  liefert  die  intensive 
GrTösse  oder  den  Grad  der  Empfindung.  Auch  diese  zweite  Syn- 
thesis ist  ebenso  wie  die  erste  zeithch;  der  zeitliche  Wechsel  ist 
aber  niu-  vorstellbar  durch  Anknüpfung  an  eine  beharrliche  Sub- 
stanz und  bestimmbar  nur  durch  Kausalität. 

Beck  schliesst  sich  ersichtlich  eng  an  Kants  Darlegungen 
in  den  Grundsätzen  des  reinen  Verstandes  an  und  sucht  in  ahn- 
lieber  Weise  auch  die  übrigen  Kategorien  aus  dem  Gegensatz- 
paar des  ursprünglichen  Vorstellens  und  seiner  Fixierung  ab- 
zuleiten, die  demnach  als  seine  Urkategorien  zu  bezeichnen  sind. 
Die  Untren nbarkeit  des  Bewusstseins  von  dem  ursprünglichen 
Vorstellen  und  Fixieren  hält  auch  Beck  fest,  obwohl  er  diese 
ursprünglich  objektiv -synthetische  Funktion,  durch  welche  die 
Gegenständlichkeit  erst  erzeugt  wird,  streng  sondert  von  der 
analytischen  Intellektualfunktion,  durch  welche  Gegenstände 
unter  Begriffen  gedacht  werden* 

5.  Bardili  (1761  — 1Ö08).  Bardili  greift  auf  die  Schulzesche 
Lnregung  zurück,  nach  welcher  die  Reflexionsbegriffe  der  Einer- 
leiheit  und  Verschiedenheit  als  die  Urformen  der  synthetischen 
Intellektualfunktion»  d,  h.  als  die  Urkategorien  zu  betrachten 
wären.  Der  Begriff  ist  das  Identische  in  den  mannigfachen  Vor- 
stellungen; die  allgemeinste  Form  des  Urteils  ist  die  Identität, 
die  sich  in  der  Verknüpfung  durch  die  Kopula  ausdrückt.  Sache 
des  Denkens  (Begriffbüdens,  Urteilens  und  Schliesseos)  ist  es, 
den  Stoff  als  solchen  zu  vernichten  und  in  Form  aufzulösen;  das 
Denken  braucht  Stoff  zum  gedanklichen  Verknüpfen,  aber  im 
Verknüpfen  hebt  es  ihn  als  Stoff  auf,  indem  es  ihn  zu  etwas  Un- 
wesentlichem herabsetzt  und  die  Form  als  das  Wesentliche  er- 
kennt. So  wird  das  Identitätsgesetz  oder  der  Satz  vom  Wider- 
spruch aus  einem  blossen  Merkmal  der  formellen  Richtigkeit 
zum  Hauptschlüssel  für  die  Beurteilung  des  Wahren  und  Reellen 
an  unserer  Erkenntnis.  Es  ist  dies  eine  ganz  strenge  und  not- 
wendige Folgerung  aus  dem  Standpunkt  des  Rationalismus  und 
apodiktischen  Urteilsapriorismus,  die  so  lange  gelten  muss,  wie 
der  Satz  vom  Widerspruch  als  oberstes  Denkgesetz  gilt,  aber  frei- 
lich auch  mit  diesem  zugleich  hinfällig  wird  (in  Hegels  Dialektik). 


56 


Bouterwek. 


Schwierig  bleibt  für  diesen  rationalistischen  Standpunkt 
zweierlei:  erstens,  wo  kommt  der  Stoff  her,  den  das  Denken 
zwar  vertilgen  soll,  ohne  den  es  aber  auch  gar  nicht  zum  Gre- 
dachten  kommen  kann,  und  zweitens,  wie  kommt  die  Vielheit 
und  Mannigfaltigkeit,  die  doch  bloss  dem  Stoffe  angehören  soll, 
in  die  einheitliche  Denkform ,  so  dass  diese  sich  zu  einer  Vielheit 
von  Anschauungsformen  und  Kategorien  besondem  muss,  die 
sich  nun  selbst  zu  ihr  wie  ein  (allerdings  reiner)  Stoff  zur  Form 
verhalten?  Die  Möglichkeit  der  Anwendung  des  Denkens  setzt 
eine  Veränderung,  einen  Anstoss  oder  Impuls  voraus,  die  von  Rein- 
hold Affektion  genannt  wurde  und  von  Maimon  in  den  unerkenn- 
baren Differentialen  des  Bcwusstseins  gesucht  wurde.  Für  Bardili 
steht  es  einerseits  fest,  dass  dieser  den  Stoff  gebende  Anstoss  nur 
aus  der  Identität  kommen  kann,  weil  diese  das  alleinige  Urprincip 
sein  soll;  andererseits  kann  er  sich  nicht  verhehlen,  dass  dieser 
Anstoss  aus  der  bloss  log^ischen  Identität  des  Selbstbewusstseins 
nicht  entspringen  könne.  Da  bleibt  ihm  nur  noch  das  Zurück- 
gehen auf  eine  metaphysische  Identität  übrig.  In  dieser  soll  der 
Stoff  als  Hypothesis  unvcrtilgbar  sein,  während  der  Mensch  die 
Aufgabe  hat,  ihn  denkend  zu  vernichten.  Wo  der  Stoff  in  der 
absoluten  metaphysischen  Identität  herkommt,  wissen  wir  nicht, 
haben  wir  auch  nicht  nötig  zu  wissen.  In  diesem  Rückgang 
Hegt  zwar  die  richtige  Anerkennung,  dass  das  Selbstbewusstsein 
den  Anstoss  zur  Erzeugung  des  Vorstellungsstoffes  von  einem 
ihm  Unbewussten  aus  erhalten  muss,  das  alle  individuellen  Be- 
wusstseine  überragt. und  in  sich  schliesst;  aber  die  Identität  als 
Urkategorie  geht  dabei  in  die  Brüche,  indem  die  Differenz  als 
ursprüngliche  in  sie  hineingelegt,  und  auf  den  Versuch,  sie  aus 
ihr  zu  entwickeln,  verzichtet  wird.  Damit  erweist  sich  der  auf 
seinen  schärfsten  Ausdruck  gebrachte  Rationalismus  des  Ver- 
standes als  leerer  Formalismus,  der  sich  im  Kreise  dreht  und 
über  die  Grenze  des  Begrifflichen  nicht  hinaus  kann  zum  Sach- 
lichen oder  Realen.  — 

6.  Bouterwek  (1766 — 1828).  Das  Verdienst,  die  Leerheit 
des  apodiktischen  Rationalismus  auf  dieser  Stufe  erkannt  und  ihn 
durch  das  richtige  Realprincip  ergänzt  zu  haben,  gebührt  Bouter- 
wek. Er  entlehnt  von  Maimon  und  Beck  die  Nichtigkeit  und 
Leerheit  des  transcendentalen  Objekts  oder  X,  das  der  Verstand 
notwendig   braucht,   um   seine  Begriffe   auf  etwas   beziehen,   um 


Boulerwek. 


57 


seinen  Synthesen  Haltung  geben  zu  können.  Aber  er  durch- 
schaut die  blosse  Subjektivität  alles  diskursiven  Denkens,  den 
rein  zerstörenden  Charakter  dieser  logischen  Apodiktik,  und  sucht 
sie  deshalb  durch  eine  transcendentale  Apodiktik  zu  ergänzen. 
Von  Jacobi  entnimmt  er  die  Bezeichnung  »Veniunftt  für  das 
höhere  Princip,  das  er  dem  Verstände  entgegensetzt,  und  das  er 
als  eine  Vereinigung  von  Synthesis  und  Anaiysis  betrachtet.  Der 
Verstand  ist  bloss  Form;  die  Vernunft  ist  darum  etwas  Höheres 
als  er.  weil  sie  selbst  ein  Ausfluss  des  Realprincips  ist,  weil  sie 
nicht  Form,  sondern  lebendige  Kraft  oder  Virtualität  ist.  Diese 
Bestimmung  des  Realprincips  entlehnt  Bouterwek  offenbar  von 
Leibniz.  Die  Vernunft  ist  hier  im  Jacobischen  Sinne  Kraft  des 
unmittelbaren  Glaubens  nicht  nur  an  das  Wirkliche  ausser  uns, 
sondern  auch  an  das  übersinnliche  absolute  Sein  als  an  das  Ur- 
wirkliche über  uns.  Weil  die  Vernunft  aus  dem  absoluten  Er- 
kenntnisvermögen entspringt  und  demgemäss  absolute  Über- 
zeugung verleiht,  ist  die  aus  ihr  folgende  Erkenntnis  ebenfalls 
apodiktisch  zu  nennen.  So  ist  die  Vernunft  der  gemeinsame 
Quell  der  Sinnlichkeit,  der  Gefühle  und  Gedanken;  sie  ist  es,  die 
den  inneren  Sinn  affiziert  und  in  ihm  die  Gefühle  erzeugt,  auf 
welche  wir  reflektieren,  wenn  wir  einen  Begriff  vom  Absoluten 
erhalten. 

Wenn  in  dem  Bouterwekschen  Begriff  der  t:- Vernunft  i  der 
Gegensatz  des  Realprincips  und  Idealprincips  bereits  zu  einer 
höheren  Einheit  verschmolzen  auftritt,  die  ihn  der  Gefahr  des 
Verschwimmens  aussetzt,  so  tritt  er  dafür  in  der  ^praktischen 
Apodiktik*  desto  schärfer  hervor.  Alles  Wissen  ist  ein  un- 
bedingtes Anerkennen  eines  Seins,  einer  Realität  überhaupt,  so- 
wohl in  uns  als  ausser  uns;  die  einzige  Realität  aber  ist  die 
Kraft,  und  ausser  dieser  oder  über  sie  hinaus  können  wir  keine 
denken.  Kraft  ist  nur  wirklich,  wo  sie  Widerstand  findet;  Realität 
ist  also  nur  die  Einheit  von  Kraft  und  Widerstand,  welche 
Bouterwek  mit  dem  Worte  > Virtualität«  bezeichnet.  Die  Seelen- 
kraft ist  mit  der  Realität  widerstehender  Naturkräfte  Eine  Vir* 
tualität  Das  Wollen  ist  nur  dannfmehr  als  Einbildung,  wenn  es 
lebendige  Kraft  ist  Wie  Realität  gleich  Virtualität  ist,  so  ist 
Kausalität  gleich  lebendige  Kraft.  Die  Dinge  an  sich  werden 
nun  wieder,  was  sie  vor  Kant  und  in  Kants  erster  Periode 
zweifellos  waren,  Produkte  einer  absoluten  Virtualität;   leider  hat 


58  Krag- 

Bouterwek  es  unterlassen,  in  demselben  Sinne  eine  realistiscfae 
Auslegung  der  Kantischen  Philosophie  durchzuführen,  wie  Beck 
es  mit  einer  idealistischen  gethan  hat  Während  der  Virtualismus 
der  realistischen  Leibnizianer  einen  mehr  naturphilosophischen 
Anstrich  hat  und  zu  Newton  hin  gravitiert,  bleibt  der  Virtualismus 
Bouterweks  ganz  auf  den  Höhen  metaphysischer  Spekulation  und 
darum  unfruchtbar. 

Subjekt  und  Objekt  sind  entgegengesetzte  Kräfte,  die  im 
Urg^nde  einer  absoluten  Realität  zusammenfallen;  denn  die 
virtuelle  Einheit  aller  Kräfte  allein  ist  das  Unbedingte.  Vor- 
stellung ist  die  Entgegensetzung  oder  unmittelbare  Wirkung  der 
Kräfte  selbst,  die  sich  in  Subjekt  und  Objekt  gesondert  haben. 
Der  Grund  der  besonderen  Virtualität,  die  unsere  menschliche 
Natur  heisst,  oder  der  Grund  der  transcendentalen  Einschränkung 
der  allgemeinen  Virtualität  zur  individuellen  bleibt  Geheimnis. 
Gerade  hier,  wo  die  Vernunft  als  absolute  Teleolog^ie  hätte  ein- 
greifen können,  weiss  Bouterwek  keinen  Gebrauch  von  ihr  zu 
machen.  — 

7.  Krug  (1770— 1842).  Auch  Krug  hat  ebenso  wie  Bouter- 
wek das  richtige  Gefühl ,  dass  das  Idealprincip  des  Wissens  oder 
Erkennens  der  Ergänzung  durch  ein  Realprincip  des  Seins  be- 
dürfe, und  dass  das  Sein  als  das  Erste,  das  Wissen  als  das 
Zweite  gedacht  werden  müsse,  weil  wohl  Sein  ohne  Wissen,  aber 
nicht  Wissen  ohne  Sein  sein  kann.  Aber  er  sucht  das  Real- 
princip nicht  in  einer  supraindividuellen  Sphäre  wie  Beck  und 
Bardili,  sondern  in  dem  existierenden  Ich  selbst  oder  dem  er- 
kennenden Subjekt,  das  zunächst  sein  muss,  um  erkennen  zu 
können.  Er  sucht  femer  das  Realprincip  nicht  wie  Bouterwek 
in  der  Energie  der  Thätigkeit,  sondern  in  der  ruhenden  Sub- 
stanz des  unthätigen  Subjekts,  und  rechnet  die  Thätigkeit  zum 
Idealprincip. 

Bewusstsein  zeigt  eine  Synthesis  des  Seins  und  Wissens  im 
Ich,  die  auf  eine  ursprüngliche,  transcendentale,  apriorische,  allem 
Bewusstsein  vorangehende,  unerklärliche  und  unbegreifliche  Ein- 
heit des  Realprincips  und  Idealprincips  zurückweist  Keines 
dieser  beiden  Principien  kann  von  dem  anderen  abgeleitet  werden. 
Weil  diese  erste,  allen  übrigen  Synthesen  zu  Grunde  liegende 
Synthese  transcendental  ist,  deshalb  nennt  Krug  seinen  Stand- 
punkt transcendentalen  Synthetism.   Weil  er  das  Realprincip  und 


Friet. 


59 


Idealprincip  in  transcendentaler  Einheit  enthält,  nennt  er  ihn 
auch  die  unzertrennliche  Vereinigung  von  transcendentalem 
Realismus  und  transcendentalem  Idealismus,  wobei  allerdings 
diese  Ausdrücke  in  ganz  anderem  Sinne  gebraucht  sind  als  von 
Kant.  In  der  näheren  Ausfühnmg  seiner  Ansichten  zeigt  sich, 
dass  Krug  festhält  an  der  dreifachen  Überzeugung  vom  eigenen 
Dasein,  vom  Sein  anderer  Dinge  und  von  der  Gemeinschaft  oder 
Wechselwirkung  beider.  Danach  ist  er  transcendentaler  Realist 
im  Kantschen  Sinne  des  Wortes  und  nicht  transcendentaler 
Idealist. 

Das  Idealprincip  zerfällt  in  Materialprincipien  und  Formal- 
principienj  die  ersteren  umspannen  die  ganze  unendliche  Mannig- 
faltigkeit der  empirischen  Thatsachen  eines  vorgefundenen  Be- 
wusstseinsinhalts,  die  letzteren  die  Anschauungs-  und  Denk  formen 
und  Denkgesetze.  Als  oberstes  Materialprincip  acceptiert  Krug 
von  Beck  das  ursprüngliche  Vorstellen;  d.  h.  die  allgemeinste 
Bewusstseinsthatsache  ist:  ich  bin  tiiätig.  Als  oberstes  Formal- 
princip  stellt  Krug  folgendes  auf:  Die  absolute  Harmonie  des 
Ich  in  aller  seiner  Thätigkeit  (Übereinstimmung  des  Mannig- 
faltigen) ist  oberster  Zweck,  Beide  vereinigt  lauten:  ich  bin 
thätig  und  suche  absolute  Harmonie  in  aller  meiner  Thätigkeit. 
Die  Krugschen  Urbegriffe  sind  demnach  Ich,  Thätigkeit  und 
Harmonie;  der  erste  macht  das  Realprincip,  die  beiden  letzten 
das  Idealprincip  aus,  — 

8.  Fries  (1773 — 1843).  Fries  hält  fest  an  dem  Kantschen 
Grundgegensatz  von  erkennendem  Subjekt  und  Ding  an  sich,  an 
der  Unerkennbarkeit  des  Dinges  an  sich  durch  Verstandes- 
erkenntnis Hnd  an  der  Erkennbarkeit  desselben  durch  die  Ver- 
nunfterkenntnis; aber  er  nennt  mit  Jacobi  die  letztere  -Glauben -x 
und  verwirft  mit  den  idealistischen  Kantianern  die  Affektion  der 
sinnlichen  Rezeptivität  durch  das  Ding  an  sich.  Die  Wahrheit 
der  Erkenntnis  liegt  nicht  in  ihrer  Übereinstimmung  mit  dem 
Gegenstande,  sondern  in  der  Übereinstimmung  der  mittelbaren, 
reflektierten  Erkenntnis  mit  der  unmittelbaren  intuitiven,  die 
ebenso  wie  der  Glaube  ein  Ausfluss  der  Vernunft  ist.  Die  Form 
der  Erkenntnis  gehört  der  Reflexion,  der  Inhalt  der  Vernunft 
und  dem  aus  ihr  entspringenden  unmittelbaren  intuitiven  Er- 
kennen und  Glauben  an.  Wenn  demnach  auch  die  Erkenntnis 
Aufschluss  über  die  Dinge  an  sich  giebt»  so  ist  sie  doch  formell 


6o  FrfM- 

nur  Selbsterkenntnis,  da  sie  rein  aus  inneren  Faktoren  entspringt. 
Ebenso  wie  die  transcendente  Kausalität  des  Dinges  an  sich  ver- 
wirft Fries  die  teleologische  Naturphilosophie  Kants,  und  be- 
hauptet, dass  in  der  organischen  Natur  der  Kreislauf  herrsche, 
wie  in  der  unorganischen  das  Gesetz  des  Gleichgewichts  oder 
der  Indifferenz,  dass  aber  in  beiden  die  mechanische  Erklärung 
ausreiche.  Die  Begriffe  der  Spontaneität  und  Rezeptivität  be- 
halten auch  bei  Fries  ihre  grundlegende  Bedeutung;  ihnen  ent- 
sprechen einerseits  Form  und  Inhalt,  andererseits  Denken  und 
Anschauen,  aus  deren  Kombinationen  Fries  die  vier  Gruppen  der 
reinen  Verstandesbegriffe  ableitet  Man  kann  demnach  sagen, 
dass  bei  Fries  wie  bei  Reinhold  die  Reflexionsbegriffe  Form  und 
Stoff  oder  Form  und  Inhalt  die  Urkategorien  darstellen,  aus 
deren  Anwendung  auf  die  verschiedenen  Vorstellungsarten  (Den- 
ken und  Anschauen)  die  reinen  Verstandesbegriffe  entspringen, 
so  dass  diese  auch  hier  aufhören,  ursprüngliche  St<mimbegriffe  im 
Sinne  Kants  zu  sein. 

Ein  Hauptunterschied  zwischen  Fries  einerseits  und  Kant 
und  seiner  idealistischen  Schule  andererseits  ist  der,  dass  Fries 
die  apriorische  synthetische  Intellektualfunktion  nicht  für  a  priori 
erkennbar  hält,  sondern  nur  für  a  posteriori  erkennbar.  Fries  sieht 
ein,  dass  es  eine  Selbsttäuschung  war,  wenn  Kant  und  seine  idea- 
listischen Nachfolger  sich  einbildeten,  die  apriorische  Intellektual- 
funktion auch  a  priori  in  ihrer  Thätigkeit  belauschen  und  mit 
dem  reflektierenden  Bewusstsein  unmittelbar  begleiten  zu  können. 
Er  begreift,  dass  wir  sie  nur  hinterdrein  a  posteriori  durch  Selbst- 
beobachtung zu  erfassen  vermögen.  So  wird  die  Kategorienlehre 
ein  Stück  der  inneren  Naturlehre  und  die  Pliilosophie  zum  psycho- 
logrischen  Empirismus  oder  Anthropologismus. 

Als  reine  Anschauungsformen  bezeichnet  Fries  die  Zeit,  das 
Ich  und  den  Raum.  Die  Zeit  ist  die  gemeinsame  Anschauungs- 
form des  inneren  und  äusseren  Sinnes;  das  Ich  dagegen  ist  die 
eigentümliche  Anschauungsform  des  inneren  Sinnes,  wie  der  Raum 
die  des  äusseren.  Dass  die  Zeit  als  allgemeine  Form  des  inneren 
und  äusseren  Sinnes  anerkannt  wird,  ist  offenbar  eine  Berich- 
tigung Kants,  die  es  auch  zugleich  erleichtert,  das  Verhältnis  der 
Schemata  zu  den  Kategorien  zu  erläutern.  Dagegen  erscheint  es 
nicht  glücklich,  das  Ich  für  die  Anschauungsform  des  inneren 
Sinnes  zu   erklären,  wenngleich  Kants  Bemerkung  dazu  Anlass 


Fries. 


6i 


geben  mochte,  dass  das  Jch  deoke<>  alle  meine  Vorstellungen 
müsse  begleiten  können.  Da  der  innere  Sinn  Empfindung  und 
Reflexion  umfasst,  so  kann  er  überhaupt  keine  einheitliche  An- 
schauungsform haben, 

Inhalt  plus  Anschauen  ist  gleich  inhaltlicher  Sinncsanschau- 
ung  oder  Sinneswahmehmung:  Qualität,  Form  plus  Anschau- 
ung ist  gleich  reiner  Anschauung:  Quantität.  Inhalt  plus 
Denken  ist  gleich  logischem,  analytischem  Denken  des  All- 
gemeinen: Modalität.  Form  plus  Denken  ist  gleich  metaphy- 
sischem, synthetischem  Denken:  Relation,  Jede  dieser  vier 
Hauptarten  der  Bewusstseinsthätigkcit  wird  gesondert  nach 
i.  Auffassung  des  Inhalts,  2.  Zusammenfassung  zur  Form,  3.  Ver- 
bindung des  Inhalts  mit  der  Form  oder  der  einheitlichen  Ganzheit 
Daraus  ergiebt  sich  dann  folgende  Ableitung  der  zwölf  reinen 
Verstandesbegriffe : 


Quantität 

Qualiült 

Relaüon 

Modal  tat 

FBegrUr  des  Inhalts 

Einbdt 

Realität 

Wesen  und 
Eigenschailten 

WirklieUcett 

Begriff  der  Form 

Vielheit 

Negativität 

Ursaclic  und 
Wirkung 

Möglichkeit 

Begpß  der  G«mheit 

Aimdi 

Limitadoii 

Wechsel. 
Wirkung 

Notwendigkeit 

Aus  der  Verbindung  der  zwei  besonderen  Anschauungsformen 
(Ich  und  Raum)  mit  den  reinen  Verstandesbegriffen  entwickelt 
Fries  dann  weiter  die  psychologischen  Kategorien  einerseits  und 
die  naturphilosophischen  andererseits,  die  wir  hier  übergehen 
können.  In  Betreff  der  Ideen,  die  durch  Aufhebung  der  Be- 
schränkung der  allgemeinen  Kategorien  entstehen,  sei  nur  be- 
merkt, dass  denen  der  Qualität  die  Idee  des  Absoluten,  denen 
der  Quantität  die  Ideen  der  Einfachheit,  Unermesslichkeit  und 
Vollständigkeit,  denen  der  Relation  die  Ideen  der  Seele,  Welt 
und  Gottheit  entsprechen. 

Die  Friessche  Kategorienlehre  hält  nicht,  was  ihr  methodo- 
logisches Princip  des  psychologischen  Empirismus  oder  der  Selbst- 
beobachtung verspricht.  Die  Tendenz  zu  willkürlichen  Konstruk- 
tionen und  Deduktionen,  wie  sie  in  der  Zeit  lag,  drängt  sich  von 
den  ersten  Schritten  an  in  den  Vordergrund^  und  giebt  etwas  für 


62  Fries. 

Resultate  des  phänomenologischen  inneren  Befundes  aus,  was 
doch  nur  erkünstelte  Beziehungen  zur  Herstellung  eines  syste- 
matischen Zusammenhanges  sind.  Die  Besonderung  der  synthe- 
tischen Intellektualfunktion  in  die  mannigfachen  Denkformen  ent- 
zieht sich  durchaus  der  Selbstbeobachtung;  gleichwohl  wird  die 
Ableitung  der  Kategorien  nicht  als  ein  problematisches  Hypo- 
thesengewebe, sondern  als  thatsächlicher  Befund  der  inneren 
Beobachtung  dargeboten. 


IL 


Der  Pantheismus* 


I.  X  G-  Fichte  (1762— 1814). 

richte  geht,  wie  Beck,  von  dem  Begriff  der  Thätigkeit, 
andlung  oder  Tliathandlung  aus.  In  seiner  ersten  Periode  gilt 
dieser  Begriff  als  der  letzte  Urbegriff,  über  den  nicht  hinaus- 
zukommen ist;  alles  Sein  soll  nur  ein  von  der  Thätigkeit  ge- 
setztes und  die  Substanz  bloss  ein  räumlichstnnliches  Sein  sein. 
In  seiner  zweiten  Periode  besinnt  er  sich  allerdings  darauf,  dass 
die  Thätigkeit  als  solche  doch  auch  etwas  Seiendes  oder  ein  Sein 
ist»  das  als  solches  dem  durch  sie  gesetzten  Sein  ebenso  vorauf- 
geht» wie  dem  aus  der  Thätigkeit  entspringenden  Wissen.  Bei 
der  Lektüre  des  Spinoza  findet  er  sogar,  dass  die  Thätigkeit  der 
Spinozistischen  Definition  der  Substanz  genüge,  nämlich  als  un- 
gewordenes  Sein  keines  anderen  bedürfe,  durch»  von  und  aus 
sich  selbst  sei,  und  nennt  sie  deshalb  auch  die  absolute  Substanz. 
Er  hat  also  nun  zwei  Arten  des  Seins,  das  Sein  der  Thätigkeit 
oder  das  dem  Wissen  vorausgehende  absolute  Sein,  und  das 
durch  die  Thätigkeit  gesetzte,  festgemachte,  fixierte  Sein,  das 
nur  ein  Sein  im  Wissen  und  für  das  Wissen  ist  Allerdings  ist 
die  Thätigkeit  an  sich  blosse  Thätigkeit;  dass  sie  als  solche  auch 
ist,  soll  nur  eine  Zuthat  des  Denkens  sein,  insofern  der  Philosoph 
nicht  umhin  kann,  ihr  das  Sein  zuzuschreiben.  An  sich  ist  die 
Thätigkeit  ebcnsow^enig  Sein  wie  Bew^usstsein ;  Sein  ist  sie  nur 
1  als  gedachte  oder  in  der  Form  des  Gedachtwerdens,  Diese  Ein- 
^Rfcchränkung  hängt  damit  zusammen,  dass  Fichte  ein  Sein,  das 
J  nicht  Sein  für  ein  Denken  wäre,  nicht  gelten  lassen  will,  also 
■      selbst  dem  unvordenklichen  Absoluten  ein  Sein  nur  von  Gnaden 


64  J-  G.  Fichte. 

des  philosophischen  Denkens  bewilligt.  Jedenfalls  ist  dieses  Sein 
der  Thätigkeit  ein  dem  Wissen  Voraufgehendes,  ein  Jenseits  des 
aus  der  Thätigkeit  entspringenden  Wissens  oder  ein  Nichtwissen, 
d.  h.  an  sich  unbewusstes  Sein. 

Diese  Abweichung  der  zweiten  Periode  von  der  ersten  be- 
trifft nicht  sowohl  die  Sache  als  den  Ausdruck,  insofern  in  der 
ersten  Periode  die  Bezeichnung  Sein  eindeutig  für  die  im  Wissen 
fixierte  Realität,  in  der  zweiten  Periode  zweideutig  sowohl  für 
diese  als  auch  für  die  Urthätigkeit  selbst  gebraucht  wird.  Es 
findet  sich  ausserdem  in  der  zweiten  Periode  auch  noch  eine 
sachliche  Abweichung,  insofern-  er  nicht  bei  der  Thätigkeit  als 
dem  rein  actu  Seienden  stehen  bleibt,  sondern  hinter  dieses  zu- 
rückgeht zu  dem  Vermögen  oder  der  Möglichkeit  der  Thätigkeit 
selbst.  Wie  die  Thätigkeit  die  Möglichkeit  des  Wissens  und  des 
fixierten  Seins  ist,  so  muss  etwas  gedacht  werden,  was  die  Mög- 
lichkeit der  Thätigkeit  oder  des  reinen  Seins  ist.  Die  Thätigkeit 
ist  das  Dasein  des  Vermögens,  aber  doch  als  Thätigkeit  ausser 
dem  reinen  Vermögen,  weil  es  erst  seine  Folge  ist.  Manchmal 
scheint  es,  als  ob  dem  Vermögen  ausser  dem  Können  auch  ein 
Sollen  beiwohne,  dass  es  zur  Bethätigung  nötigt  durch  den  idealen 
Drang  der  sittlichen  Weltordnung;  aber  überwiegend  ist  doch  die 
entgegengesetzte  Ansicht.  Nach  dieser  ist  die  Thätigkeit  eine 
schlechthin  freie,  eine  Freiheit,  die  sich  selbst  inhaltlich  zum  Sein 
und  Wissen  bestimmt  hat;  sie  hätte  sich  aber  auch  ebensogut 
zum  Nichtsein  und  Nichtwissen  bestimmt  haben  können.  Hinter 
der  positiv  aktuell  gewordenen  Freiheit  muss  es  also  noch  eine 
formale  Freiheit  geben,  die  zwischen  Sein  und  Nichtsein  noch 
unentschieden  in  der  Schwebe  oder  die  Indiffierenz  beider  ist. 
Diese  erst  wäre  die  reine  Möglichkeit  des  Seins  (und  Nichtseins), 
reines  Seinkönnen.  Fixiertes  oder  gegenständliches  Sein,  reines 
Actusein  oder  urständliches  Sein,  und  reines  Vermögen  oder  reine 
Möglichkeit  des  Seins  oder  reines  Seinkönnen  verhalten  sich  bei 
Fichte  genau  wie  bei  Plotin  Hypostase,  Energie  und  Dynamis, 
obwohl  Fichte  von  dieser  Übereinstimmung  nichts  gewusst  hat. 
Auch  die  spätere  Schellingsche  Principienlehre  ist  durch  die 
Fichteschen  Andeutungen  teilweise  antizipiert. 

Auf  keinen  Fall  hat  Fichte  die  Absicht  gehabt,  in  seiner 
letzten  Periode  ein  festes  Sein  hinter  die  Thätigkeit  zu  verlegen, 
wie   dies  von   den   meisten  Auslegern  angenommen   worden  ist. 


J.  G.  Fichte. 


6s 


Wenn  er  die  Thätigkeit  selbst  Sein,  Realität  oder  Substanz  nennt, 
so  meint  er  doch  damit  nur,  dass  sie  die  Stelle  dessen  zu  ver- 
treten habe,  was  in  anderen  Systemen  ein  Sein  oder  eine  Sub- 
stanz sei.  Wenn  er  von  dem  reinen  Thun  auf  das  reine  Thun- 
kunnen  (und  Nichtthunkönnen)  als  auf  die  indifferente  formelle 
Freiheit  des  Thuns  oder  Nichtthuns  zurückgeht,  so  denkt  er  dabei 
noch  weniger  an  ein  festes  substantielles  Sein;  denn  die  bloss 
mögliche  Thätigkeit  steht  einem  solchen  noch  ferner  als  die 
wirkliche  Thätigkeit.  Im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  Sub- 
stanz hat  Fichtes  Urthätigkeit  keine  Substanz  zur  Grundlage 
ihres  Seins  und  Wirkens;  sie  ist  subjektlose  Thätigkeit  ohne 
seienden  Hintergrund.  Sie  selbst  als  (mögliche  oder  wirkliche) 
Thätigkeit  ist  das  Absolute,  das  letzte,  hinter  dem,  unter  dem 
und  über  dem  nichts  melir  ist  Sie  schwebt  als  Thätigkeit  in 
der  Luft  und  heisst  deshalb  Sein  und  Substanz,  obwohl  sie 
beides  weder  ist  noch  hat*)  — 

Die  Urthätigkeit  muss  Intellektualfunktion  sein,  da  es  für 
Fichte  feststeht,  dass  es  kein  Sein  ausser  für  das  Wissen  und  im 
Wissen  giebt.  Sie  muss  aber  auch  bewusstlos  oder  vorbewusst 
sein,  da  ja  das  Bewusstsein  erst  aus  ihr  hervorgehen  solL  Sie 
wird  sich  als  synthetische  Intellektualfunktion  offenbaren,  sobald 
der  Stoff  da  ist,  den  sie  verknüpfen  kann ;  da  aber  nichts  Äusseres 
da  ist,  wodurch  ihr  dieser  Stoff  zur  Synthese  gegeben  werden 
kann,  so  muss  sie  ihn  selbst  erst  setzen,  also  zunächst  sich  als 
thetische  und  antithetische  Intellektualfunktion  erweisen,  ehe  sie 
sich  als  synthetische  bewähren  kann.  Sie  muss  das,  was  sie 
setzen,  statuieren  oder  aus  sich  herausstellen  (vor-stellen)  soll, 
erst  bilden  oder  produzieren,  muss  also  produktives  Bildungs- 
vermögen, oder,  da  sie  nur  in  sich  bildet,  Einbildungsvermögen 
sein,  welches  auch  schon  bei  Kant  als  ein  unbewusst  wirksames 
Seelenvermögen  gilt  Ihr  Setzen,  Produzieren  oder  in  sich  Bilden 
ist  eine  intuitive,  nicht  reflexive  oder  diskursive,  Thätigkeit,  also 
ein  Schauen,  wenn  auch  noch  unbevvusstes  Schauen.  Die  vor- 
bewusste  thetisch-synthetische  Intellektualfunktion  ist  also  intellek- 
tuelles Anschauen  in  demselben  Sinne,  wie  Kants  transcendentale 
Apperzeption,  aber  nicht  in  dem  Sinne  wie  das,  was  Kant  die 
intellektuelle     Anschauung    eines    intuitiven    Verstandes     nennt 


*)  Vcrgl.  Drews,  Die  deutsche  Si>ektilation  sdt  KAnt,  t  S.  153 — 170. 
E.  V.  Hartmiiaii,  Atagß^.  Werke.    Bd.  XU.  5 


66  J-  G-  Fichte. 

Letztere  soll  nämlich  die  Dinge  an  sich  erkennen;  da  es  aber 
keine  Dinge  an  sich  giebt,  so  kann  es  natürlich  auch  keine  An- 
schauungsweise geben,  die  sie  erkannte. 

Die  Urthätigkeit  ist  das  Gegenteil  der  toten  Starrheit,  sie  ist 
absolutes  Leben;  sie  ist  das  Gegenteil  jedes  äusseren  Zwanges 
oder  innerer  Nötigung,  d.  h.  Freiheit.  Sie  ist  ein  ins  Unendliche 
gehendes  Streben,  Wille  oder  praktische  Vernunft,  die  auf  die 
Produktion  eines  noch  nicht  Seienden  abzielt,  also  insofern 
ideal  ist.  Sie  hebt  von  sich  selbst  an  und  ist  insofern  subjektiv; 
was  sie  produziert,  projiziert  sie  von  sich  weg;  ihre  Richtung  ist 
also  eine  centrifugale,  ihr  Streben  ein  expansives,  das  nach  un- 
endlicher Entfaltung  der  in  ihr  schlummernden  idealen  Möglich- 
keiten drängft.  So  aber  geht  sie  ins  Leere,  Widerstandslose,  ist 
thätig,  ohne  etwas  zu  wirken,  zerstreut  sich  erfolglos  ins  Un- 
begrenzte und  verliert  sich  in  Nichts,  ohne  jemals  weder  zu  einem 
gegenständlichen  Sein  noch  zu  einem  Bewusstsein  von  sich  oder 
etwas  Gegenständlichem  zu  gelangen.  Sie  projiziert  und  produziert 
immerfort,  ohne  eine  Projektion  oder  ein  Produkt  zustande  zu 
bringen. 

Soll  die  Thätigkeit  nicht  schlechthin  leer  und  erfolglos  bleiben, 
so  muss  die  projizierende  Thätigkeit  sich  in  eine  reflektierende 
umbiegen,  die  produktive  durch  eine  fixierende  zum  Produkt 
stabiliert  werden,  die  Kraft  an  einer  Gegenkraft  einen  Wider- 
stand finden,  die  centrifugale  Richtung  einer  centripetalen  be- 
gegnen, die  Expansion  durch  Kontraktion  begrenzt  werden.  Das 
Leben  muss,  um  zum  Erleben  zu  werden,  sich  selbst  Lebens- 
hemmungen bereiten,  wenn  ihm  von  draussen  keine  entgegen- 
treten. Die  thetische  ITiätigkeit  muss  sich  zur  antithetischen,  das 
Setzen  sich  zum  Entgegensetzen  differenzieren,  die  subjektive 
Thätigkeit  sich  in  eine  objektivierende,  vergegenständlichende 
umwenden,  das  Streben  ins  Unendliche  sich  verendlichen  durch 
Grenzensetzung,  wenn  auch  diese  Grenzen  selbst  wieder  immer 
weiter  hinausgerückt  werden  mögen.  Die  Freiheit,  die  von 
keinem  äusseren  Zwange  belästigt  wird,  muss  sich  selbst  Gesetze 
auferlegen,  die  als  Zwang  wirken,  um  irgend  welches  Ziel  zu  er- 
reichen. Die  ideal  gerichtete  Thätigkeit,  welche  unbegrenzt  viele 
unbestimmte  ideale  Möglichkeiten  aus  sich  zu  entfalten  strebt, 
muss  sich  fixieren  und  stabilieren,  um  zu  irgend  welcher  Realität 
zu  gelangen.     Da  es  sich  aber  hier  nur  um  eine  Realität  inner- 


J.  G,  Fichte. 


67 


halb  der  intellektuellen  Thätig-keit  und  für  diese  handelt,  so  dient 
als  begrenzende,  fixierende  und  realisierende  Thätigkeit  die 
denkende  Erkenntnisthätigkeit  des  Verstandes  oder  die  theore- 
tische Vernunft,  ebenso  wie  als  projizierende,  ideale  Thätigkeit 
das  anschauende  Streben  oder  Wollen  des  produktiven  Ein- 
bildungsvermögens  oder  die  praktische  Vernunft  gedient  hatte, 
Dass  die  Objektivität  durch  die  Begriffe  des  Verstandes  gesetzt 
werde,  hatte  ja  auch  schon  Kant  gelehrt. 

Nun  erst  kann  die  intellektuelle  Urthätigkeit  sich  als  syn* 
thetische  bewähren,  indem  sie  die  setzende  und  entgegensetzende 
Thätigkeit  in  Eins  zusammenfasst,  die  subjektive  und  die  objektive 
zur  subjektiv -objektiven,  die  ideale  und  realisierende  zur  ideal- 
realen oder  real  idealen  verschmilzt.  Was  dabei  herauskommt,  ist 
das  Produkt,  das  Wissen  vom  Sein  und  das  Sein  im  Wissen  und 
fürs  Wissen,  das  Bewusstsein  als  Einheit  von  Wissen  und  Sein 
(d.  h,  genau  dasselbe,  was  bei  Plotin  der  Nus  bedeutet).  Was  so 
in  der  Identität  zusammengefasst  wird,  ist  dasselbe,  was  in  der 
Indifferenz  des  ersten  Anfangs  noch  unentfaltet  als  Keim  lag, 
bevor  es  sich  in  die  Differenz  des  Gegensatzes  (Thesis  und  Anti- 
thesis)  auseinanderlegte.  Das  Wissen,  das  aus  der  Differenziening 
und  ihrer  Synthese  hervorgeht,  ist  dasselbe,  was  das  intellektuelle 
Anschauen  im  Anbeginn  war;  aber  das  intellektuelle  Anschauen 
ist  nun  inhaltlich  erfülltes,  seinumspannendes,  gegenständliches» 
substantielles  Wissen  geworden ,  während  das  Wissen  im  Anfang 
inhaltloses,  formales,  leeres,  urständliches  Wissen  war,  das  so  gut 
wie  Nichtwissen  ist  — 

Der  hier  geschilderte  Prozess  hat  nun  aber  als  solcher  in 
formaler  abstrakter  Selbständigkeit  gar  keine  Existenz,  und  es 
wäre  ein  grobes  Missverständnis  der  Fichteschen  Absichten,  wenn 
man  ihn  irgendwo  vor  der  Welt,  oder  jenseits  der  Welt,  oder 
über  der  Welt,  etwa  in  einem  für  sich  seienden  traoscendenten 
Absoluten  suchen  wollte.  Das  Absolute  als  solches  hat  nach 
•ichte  weder  Bewusstsein  noch  Persijnlichkeit.  trägt  also  als 
Lbsolutes  auch  keinen  Prozess  in  sich,  der  mit  dem  Bewusstsein 
endet  Der  geschilderte  Prozess  als  solcher  existiert  nur  im 
Kopfe  des  Philosophen  als  eine  Abstraktion,  die  er  von  dem 
menschlichen  Bewusstseinsprozess  abzieht  Sieht  man  von  aller 
Besonderheit  des  Seins  und  Wissens  ab,  so  erhält  man  die  reinen 
Begriffe  des  Seins  und  Wissens,  und  nur  von  diesen  war  hier  die 

5* 


68  J.  G.  Fichte. 

Rede.  Lässt  man  alle  empirischen  Besonderheiten  des  Selbst- 
bewusstseins  beiseite,  so  nähert  man  sich  dem  reinen  BegriflF  des 
Selbstbewusstseins,  oder  dem  reinen  Selbstbewusstsein ,  das  in 
allen  empirischen  Ichs  das  gemeinsame  ist.  Der  geschilderte 
Prozess  ist  also  die  allen  empirischen  Beunisstseinsentstehungen 
gemeinsame  formelle  Schablone,  die  der  Philosoph  als  solche 
heraushebt,  da  nur  sie  ihn  interessiert  und  nicht  das  Besondere, 
woran  sie  haftet. 

Das  reine  Bewusstsein  oder  reine  Selbstbewusstsein  nennt 
Fichte  auch  das  reine  Ich  im  Gegensatz  zum  empirischen.  Dieses 
reine  Ich  der  intellektuellen  Anschauung  steckt  also  als  imma- 
nente Form  in  allen  empirischen  Ichs  drin;  als  selbständiges  aber 
existiert  es  nur  im  Kopfe  des  Philosophen  als  Begriff  und  sonst 
nirgend.  Ganz  anders  steht  es  mit  dem  reinen  Ich  als  praktischer 
Idee  oder  Ideal ;  dieses  ist  das  Endziel  des  Weltprozesses,  die  sich 
selbst  realisierende  Vernunft,  die  völlige  Unterwerfung  des  Objek- 
tiven unter  das  Subjektive,  die  Verwirklichung  der  moralischen 
Weltordnung  oder  der  idealen  Thätigkeit.  Das  reine  Ich  als  Ideal 
existiert  zwar  auch  als  selbständiges  ebensowenig  wie  das  reine 
Ich  der  intellektuellen  Anschauung,  aber  es  ist  doch  Ziel,  dem 
der  Weltprozess  sich  asymptotisch  nähert,  und  das  deshalb  je 
länger,  je  mehr  approximativ  verwirklicht  wird.  Der  Ausdruck 
reines  oder  unendliches  Ich  wird  auf  dieses  Endziel  des  Welt- 
prozesses nur  deshalb  übertragen,  damit  der  Kreis  völlig  ge- 
schlossen erscheint  durch  Deckung  des  Endpunktes  mit  dem 
Ausgangspunkte.  — 

Aus  derselben  Neigung  für  geschlossene  Kreisläufe  entspringt 
es  auch,  wenn  Fichte  innerhalb  des  thetisch- antithetisch -synthe- 
tischen Prozesses  das  reine  Ich  vom  letzten  Gliede,  dem  Bewusst- 
Sein,  auf  das  erste  Glied,  die  unbewusste  intellektuelle  Anschau- 
ung oder  die  Urthätigkeit  zurücküberträgt,  ebenso  wie  er  dies  in 
seiner  späteren  Periode  mit  dem  Begriff  des  Seins  thut  Diese 
Zurückübertragung  des  Ich  auf  den  Ausgangspunkt  in  der  ersten 
Periode  hat  ebenso  schwere  Missverständnisse  veranlasst,  wie  die 
des  Seins  in  der  zweiten,  und  aus  dem  Schaukelspiel  zwischen 
diesen  beiden  Grundmissverständnissen  der  beiden  Perioden  ist 
die  Fichtesche  Philosophie  überhaupt  bis  heute  nicht  heraus- 
gekommen. Wenn  Fichte  das  Sein  zurückverlegt  in  die  (wirk- 
liche  oder   mögliche)  Thätigkeit,   so   will   er  damit  nicht  sagen, 


J.  G.  Fkhte. 


69 


^ass  diese  selbst  ein  substantielles  Sein  oder  ein  reales  Subjekt 
ei  oder  zur  Seinsgrundlage  habe.  Wenn  er  das  reine  Ich  hinüber- 
trägt in  die  unbewusste  intellektuelle  Anschauung,  so  will  er 
damit  weder  sagen,  dass  ein  absolutes  Selbstbewusstsein  der  un- 
bewussten  Urthätigkeit  vorhergehe  oder  sie  durchleuchte,  noch 
auch,  dass  ein  reales  Subjekt  der  Träger  und  Produzent  dieser 
unbewussten  Urthätigkeit  sei.  Er  will  damit  bloss  zum  Ausdruck 
bringen,  dass  das  in  der  synthetischen  Thätigkeit  zur  Identität 
Zusammengefasste  implicite  schon  in  der  Indifferenz  des  Anfangs 
enthalten  sei,  dass  Ausgangspunkt  und  Endpunkt  wesentlich 
identisch  seien. 

Das  Ich  des  Endpunktes  ist  das  vom  Nichtich  begrenzte, 
und  insofern  endliche  Ich;  das  sogenannte  Ich  des  Anfangs- 
punktes hat  noch  kein  Nichtich  sich  gegenüber,  durch  das  es 
beschränkt  würde,  ist  also  insofern  unbeschränktes,  unbegrenztes, 
absolutes  Ich.  Dieser  Gegensatz  von  begrenztem  und  absolutem 
Ich  fällt  ganz  innerhalb  des  reinen  Ichs,  darf  also  nicht  mit  dem 
Gegensatz  des  reinen  und  empirischen  Ichs  verwechselt  werden. 
Das  absolute  Ich  setzt  das  begrenzte  Ich,  aber  das  reine  Ich  setzt 
nicht  das  empirische  Ich,  sondern  wird  an,  in  und  mit  diesem 
vom  absoluten  Ich  gesetzt.  Das  reine  Ich  steht  dem  empirischen 
Ich  wie  das  Abstrakte  dem  Konkreten,  wie  das  logisch  All- 
gemeine dem  Einzelnen  gegenüber;  das  absolute  Ich  dagegen 
steht  dem  Begrenzten  wie  das  Setzende  dem  Gesetzten,  wie  das 
Unbewusste  dem  Bewussten,  wie  das  Schrankenlose  dem  Be- 
schränkten gegenüber.  Das  empirische  Ich  ist  zwar  immer  be- 
grenztes Ich,  aber  das  begrenzte  Ich  ist  nicht  immer  empirisches 
Ich,  und  das  reine  Ich  ist  nicht  immer  absolutes  Ich;  das  reine  Ich 
schliesst  vielmehr  den  Gegensatz  von  absolutem  und  begrenztem 
Ich  in  sich.  Fichte  hat  sich  dadurch,  dass  das  empirische  Ich 
zugleich  immer  begrenztes  Ich  ist,  verleiten  lassen,  die  beiden 
Gegensätze  mit  einander  zu  vermengen,  wodurch  seine  Dar- 
stellung oft  unklar  wird. 

Das  absolute  Ich  ist  gar  kein  Ich,  nur  das  begrenzte  Ich 
kann  so  genannt  werden.  Mit  der  Übertragung  des  Wortes 
Ich  auf  die  unbewusste  unbegrenzte  Urthätigkeit  wird  diesem 
Worte  ebenso  Gewalt  angethan,  wie  in  der  zweiten  Periode  mit 
der  Übertragung  der  Worte  Sein  und  Substanz  von  dem  fixierten 
Sein    auf  die  subjektlose  Urthätigkeit.     Man   muss  sich  also  bei 


70 


J.  G.  Ficbte. 


Fichtes  absolutem  Ich  stets  gegenwärtig  halten,  dass  es  sich  um 
einen  eklatanten  Wortm issbrauch  handelt,  der  sich  aus  dem  Ent- 
wickelungsgange  Fichtes  erklärt.  Er  ging  von  Kants  Glei 
Setzung  der  transcendentalen  Synthesis  der  Apperzeption  mit  dei 
reinen  Selbstbewusstsein  oder  dem  i^lch  denke«  aus,  und  zweifei 
deshalb  von  vornherein  nicht  an  seiner  Berechtigung,  die  Ur- 
thätigkeit  der  intellektuellen  Anschauung  mit  dem  reinen  Selbst- 
bewusstsein oder  reinen  Ich  zu  identifizieren.  Er  wollte  wie 
Kant  die  Entstehung  des  apodiktischen  Wissens  durch  apriorische 
vorbewusste  Intellektualthätigkeit  mit  seinem  reflektierenden  Be- 
wiisstsein  in  statu  nascente  belauschen,  ohne  an  die  Unmöglich- 
keit dieses  Vorhabens  zu  denken.  Er  zweifette  so  wenig  wie 
Reinhold  und  Maimon  daran,  dass  Vorstellung  und  Bewusstsein 
untrennbar  seien,  und  glaubte,  die  von  der  Intellektualfunktion 
sich  selbst  bereiteten  Überraschungen  daraus  erklären  zu  können, 
dass  sie  häufig  ohne  reflektierendes,  auf  ihr  Thun  zu  rück  gerichtetes 
Bewusstsein,  wenn  auch  immerhin  mit  unmittelbarem  Bewusstsein 
arbeite.  Dieser  Standpunkt  war  es,  von  dem  aus  er  die  erste 
Darstellung  der  Wissenschaftslehre  im  Jahre  1794  lieferte. 

Allerdings    erkannte    er    an.    dass    die   das    Bewusstsein    er* 
zeugenden    Thätigkeiten    a   priori    oder   vorbewusst,    und    darum 
noch  nicht  bewusst,   also  unbewusst  sein  müssen,  und  da  er  sich 
die   Aufgabe  stellte,   das   Bewusstsein   genetisch  zu  erklären,   so 
konnte   er   nicht  stehen  bleiben  bei  einer  blossen  Unterscheidung 
von    unmittelbarem   und   reflektiertem   Bewusstsein,   da  mit  einer 
solchen    die    Entstehung    des    Bewusstseins    doch   nur  wieder  aus 
dem    schon    vorausgesetzten    Bewusstsein    erklärt    worden    wäre. 
Aber  er   machte  sich  die  Umwälzung»   die  aus  dem  Rückgang 
auf  wahrhaft  unbewusste  Thätigkeiten  als  Ursprung  des  Bewusst-       I 
seins  gegeben  war,   nicht  klar.     Die  betreffende  Andeutung  beim 
Beginn  seiner  Laufbalin  (S.W.,  I,  71 — 75)   bleibt  ein  vereinzelter 
Einfall,  ein  Keim,  der  nicht  zur  Entwickelung  gelangt,  sondern       1 
erst  von   Schelling   wieder  aufgenommen   wird.     Ebenso   geht  es 
mit   der  anderen   Andeutung,    dass  die   Urthätigkeit   wohl   etwas      j 
anderes  als  Vorstellungsthätigkeit  {im  Sinne  der  bewussten  Vox«^H| 
Stellung)   sein   möchte   (ebd.,  80 — 81).     Er  hielt  bis  an  seinen  Tod'*^ 
an  dem   Glauben   fest,   mit  Hilfe  der  ititellektuelleo  Anschauung 
die  vorbewussten  Thätigkeiten  unmittelbar  in  ihrer  Wirkungsw^ei: 
verfolgen  und  mit  dem  Bewusstsein  beobachten  zu  können. 


J.  G.  Fichte. 


7^ 


So  erklärt  es  sich,  dass  er  die  set2ende  Urthätigkeit  ebenso 
wie  das  gesetzte  Ergebnis  Ich  nennt,  und  dass  er  den  Gegensatz 
des  absoluten  und  begrenzten  Ich  mit  dem  des  reinen  und  em- 
pirischen Ich  vermengt.  Fichtes  System  wird  ganz  ungerecht 
beurteilt,  wenn  man  das  produzierende  Ich  für  das  empirische 
individuelle  Ich  nimmt,  während  es  doch  das  absolute  Ich  sein 
soll.  Es  wird  ebenso  ungerecht  beurteüt,  wenn  man  es  als  sub- 
jektiven Idealismus  in  dera  Sinne  charakterisiert,  als  ob  das 
individuelle  empirische  Ich  mit  seiner  beschränkten  Subjektivität 
die  Welt  setzte,  oder  sie  auch  nur  mit  seinem  Bewusstsein  um- 
spannte. Nichts  liegt  Fichte  ferner  als  die  Verabsolutierung  des 
beschränkten  empirischen  Ich,  und  sein  System  ist  absoluter 
Idealismus  in  dem  Sinne,  dass  es  das  Absolute  ist,  welches  als 
absolute  ideale  Urthätigkeit  die  Welt  der  empirischen  Ichs  und 
die  Welt  des  Nichtich  für  alle  diese  empirischen  Iche  setzt.  Der 
Fehler  liegt  nicht  darin,  dass  Fichte  das  (empirische)  Ich  mit 
seiner  (beschränkten)  Subjektivität  verabsolutierte,  sondern  darin, 
dass  er  das  Absolute,  d.  h.  die  unbewusste  ideale  Urthätigkeit, 
vericht  oder  zu  einem  (absoluten)  Ich  versubjektiviert  und  dadurch 
doch  w^ieder  den  absoluten  Idealismus  zu  einem  subjektiven  macht, 
allerdings  nicht  zu  einem  beschränkt  subjektiven,  sondern  zu  einem 
absolut  subjektiven.  Kur  in  diesem  Sinne  ist  der  Vorwurf  be- 
gründet, dass  Fichte  in  einem  subjektiven  Idealismus  stecken  ge- 
blieben sei.  — 

Die  Vermengung  der  Gegensätze  ^absolutes  und  begrenztes*, 
>reines  und  empirisches  Ich--  macht  es  ferner  erklärlich,  dass  er 
unter  der  an  die  Spitze  seines  Systems  gestellten  Formel  >Ich  = 
Ich«  drei  verschiedene  Gleichsetz un gen  mit  einander  verwirrt. 
»Ich  ^^  Ich<  bedeutet  nämlich  erstens  die  rein  logische  Identität 
von  Subjekt  und  Objekt  im  Akte  des  reinen  Selbstbewusstseins, 
zweitens  die  reale  metaphysische  Identität  des  setzenden  absoluten 
Ich  und  des  gesetzten  begrenzten  Ich  und  drittens  die  zeitliche 
Identität  des  Ich  in  zwei  rasch  auf  einander  folgenden  Zeitpunkten. 
Die  rein  logische  Identität  in  dem  »Ich  denke  mich«:  oder  »>ich 
w^eiss  mich<^  hat  gar  keine  metaphysischen  Folgerungen,  weil 
Subjekt  und  Objekt  hier  gleichniässig  blosse  Bewusstseinsinhalte 
sind,  von  denen  man  zunächst  gar  nicht  weiss,  ob  sie  blosse 
Illusionen  sind,  oder  ob  ihnen  irgend  etwas  Reales  entspricht. 
Sobald    dem    Subjekt    eine   transcendente   und    dem    Objekt   eine 


72  J.G.Fichte. 

transcendentale  Bedeutung  beigelegt  wird,  löst  die  logrische  Iden- 
tität sich  auf  und  macht  der  inhaltlichen  Übereinstimmung  von 
Gegenstand  und  Vorstellung  des  Gegenstandes  oder  der  Homo- 
geneität  von  Sache  und  Begriff  Platz,  die  weder  Dieselbigkeit 
(numerische  Identität)  noch  Einerleiheit  ist  Die  reale  metaphysische 
Identität  des  setzenden  und  gesetzten  Ich  ist  selbst  bei  Fichte 
unhaltbar;  denn  das  setzende  Ich  ist  das  absolute,  unbeschränkte 
und  ungeteilte  Ich,  während  das  gesetzte  Ich  das  endliche,  be- 
schränkte und  geteilte  Ich  ist.  Beide  können  auch  dann  nicht 
identisch  sein,  wenn  man  von  der  Unbewusstheit  des  ersteren 
und  der  Bewusstheit  des  letzteren  absieht. 

Die  zeitliche  Identität  des  Ich  in  verschiedenen  Zeitpunkten 
ist  nur  dann  wahre  Identität,  wenn  ein  mit  sich  selbst  identisches 
reales  metaphysisches  Subjekt  dem  Prozess  zu  Grunde  liegt  und 
die  Thätigkeit  aus  sich  hervorbringt  und  trägt.  Da  aber  Fichte 
ein  solches  leugnet,  so  kann  es  sich  nur  um  die  Identität  der 
unbewussten  setzenden  Thätigkeit  oder  um  die  Identität  des 
formellen  Ergebnisses  in  verschiedenen  Zeitpunkten  handeln.  Bei 
beiden  besteht  aber  keine  numerische  Identität,  denn  man  steigt 
nicht  zweimal  in  denselben  Fluss,  wie  Heraklit  sagt,  und  der 
Fluss  wirft  auch  nicht  zweimal  dieselbe  Welle.  Die  Thätigkeit 
mag  kontinuierlich  sein,  aber  inhaltUch  identisch  in  zwei  Zeit- 
punkten wird  sie  nur  heissen  können,  wenn  sie  in  beiden  gleichen 
Inhalt  (z.  B.  A)  setzt.  Wenn  A  =  A  ist,  dann  wird  auch  die  das 
erste  A  setzende  Thätigkeit  gleich  der  das  zweite  A  setzenden 
sein,  weil  und  sofern  ihre  Produkte  gleich  sind.  Die  Gleichheit  des 
Ergebnisses,  der  reinen  Form  des  Rewusstseins,  die  Thatsache, 
dass  A  sowohl  im  ersten  als  auch  im  zweiten  Zeitpunkt  gewusst 
wird,  mag  dazu  berechtigen,  das  begrenzte  Ich  in  beiden  Zeit- 
punkten, wenn  auch  nicht  numerisch  identisch,  so  doch  gleich 
zu  setzen;  aber  diese  beiden  Bewusstseinsmomente  sind  gesetzte 
Ichs  und  nicht  setzende  Ichs,  nicht  sie  haben  den  Vorstellungs- 
inhalt (das  A)  gesetzt,  sondern  sie  sind  an  und  mit  ihm  gesetzt 
Sie  können  nicht  einmal  ein  A  setzen,  geschweige  denn  einander. 

Das  Ich  =  Ich  auf  die  Gleichheit  der  reinen  Bewusstseins- 
form  in  zwei  verschiedenen  Setzungsakten  zu  verschiedenen  Zeit- 
punkten bezogen  ist  also  etwas  ganz  anderes  als  das  Ich  =  Ich 
auf  die  Gleichheit  des  logischen  Subjekts  und  Objekts  in  einem 
und   demselben  Bewusstseinsakt  in  demselben  Zeitpunkt  bezog^en 


J,  G.  Fichte- 


73 


und  wieder  etwas  ganz  anderes  als  das  Ich  =  Ich  auf  die  an- 
gebliche Identität  des  setzenden  absoluten  Ich  und  des  gesetzten 
begrenzten  Ich  bezogen.  Alle  diese  Verhältnisse  haben  ver- 
schiedene Bedeutung;  in  keinem  besteht  Gleichheit  in  demselben 
Sinne  wie  bei  dem  anderen,  in  keinem  Identität  als  numerische 
Einheit  oder  Dieselbigkeit  Keines  kann  das  andere  stützen,  und 
wenn  alle  sich  an  einander  anlehnen»  so  fallen  sie  alle  zusammen 
um,  weil  die  einzige  Rückenanlehnung,  die  ihnen  Halt  geben 
könnte,  die  Identität  eines  realen,  metaphysischen,  transcendenten 
Subjekts  bei  Fichte  ausgeschlossen  ist.  Die  unterschiedslose  Ver- 
mengung dieser  drei  Gleichsetzungen  samt  ihren  Unterbedeutungen 
w^irkt  aber  so  verwnrrend,  dass  der  minder  kritische  Leser,  dem 
wohl  gar  die  Identität  des  Subjekts  dunkel  als  Hintergrund  vor- 
schw^ebt,  sich  gefangen  giebt.  -  Auf  der  vieldeutigen  V^oraussetzung 
Ich  =  Ich  ruht  alsdann  der  ganze  Syllogismenbau  der  Wissen- 
schaftslehre,-  mit  dieser  Voraussetzung  wird  auch  dieser  ganze  viel- 
bewunderte Bau  hinfällig,  auf  den  Fichte  so  stolz  war.  Kein 
Wunder,  dass  er  sich  nicht  dazu  entschliessen  konnte  ihn  preis- 
zugeben, selbst  dann  nicht,  als  ihm  die  Bedenklichkeit  seiner 
Grundlage  aufzudämmern  begann»  dass  er  sich  vielmehr  bemühte, 
ihn  durch  neu  aufgesetzte  Stockwerke  und  vertiefte  Fundamente 
zu  ergänzen,  zu  verbessern  und  in  eine  höhere  Sphäre  zu  erheben. 
Wer  jedoch  den  wahren  Sinn  der  Fichteschen  Philosophie  ver- 
stehen will,  der  darf  sich  nicht  damit  begnügen,  die  oben  an- 
gedeuteten Grundmissverständnisse  der  beiden  Perioden  zu  über- 
winden und  die  Vieldeutigkeit  des  Wortes  Ich  und  des  Satzes 
Ich  =  Ich  zu  entwirren,  er  niuss  auch  die  ganze  Beweisform  und 
syllogistische  Einkleidung  von  dieser  Philosophie  abstreifen  und 
den  eigentlichen  Gedankenkern  aus  ihr  herausschälen,  ebenso  wie 
dies  bei  Spinoza  nötig  ist  Die  nächste  Aufgabe  hierzu  ist  die 
Vermittehin  g  des  einsamen  Ficht  eschen  Ich  mit  dem  gemeiJien 
Bewusstsein  von  einer  Vielheit  der  Ichs  und  Dinge  in  der  Welt  — 
Das  Nichtich,  das  Objektive,  Gegenständliche  ist  bei  Fichte 
das  unbedingt  Schlechte  und  Nichtseinsollende,  das  nur  dazu  be- 
stimmt ist,  vom  Ich  verschlungen  und  ins  Subjektive  aufgelöst 
zu  werden.  Da  entsteht  die  Frage,  warum  denn  die  Urthätigkeit 
ein  solches  Nichtich  erst  gesetzt  habe,  wenn  es  doch  zu  nichts 
gut  ist  als  zur  Vernichtung.  Die  Frage  fällt  mit  der  anderen 
zusammen,  warum  mehr  als  Ein  begreniftes  Ich  von  der  absoluten 


74  JG.  Fichte. 

Urthätigkeit  gesetzt  worden  sei.  Für  jedes  empirische  Ich  be- 
steht das  Nichtich  aus  einer  Summe  von  anderen  empirischen 
Ichs.  Diese  sollen  als  Ichs  nicht  vernichtet,  sondern  nur  alle  zu- 
sammen von  dem,  was  gar  nicht  Ich  ist,  von  der  schlechthin  wert- 
losen Besonderheit,  geläutert  und  zu  reinen  Ichs  erhoben  werden, 
die  als  reine  Ichs  sich  alle  mit  einander  identifizieren  und  in 
ihrer  Totalität  das  absolute  Ich  als  Idee  annähernd  verwirklichen. 
Kann  man  begreifen,  warum  mehrere  begrenzte  Ichs  gesetzt  sind, 
so  wird  es  dadurch  erklärlich,  dass  sie  zunächst  als  besondere  von 
einander  verschiedene  begrenzte  Ichs  gesetzt  werden  mussten, 
und  es  ihnen  erst  als  Aufgabe  gestellt  ist,  sich  zu  reinen  Ichs 
durchzuarbeiten.  Die  Lösung  liegt  eben  in  dieser  praktischen 
Aufgabe,  der  von  Fichte  ein  absoluter  Wert  als  Selbstzweck 
beigemessen  wird.  Die  ideale  Urthätigkeit  oder  sittliche  Welt- 
ordnung soll  realisiert  werden  durch  Annäherung  an  ein  absolutes 
Ich  als  einheitliche  Totalität  aller  begrenzten  reinen  Ichs.  Dazu 
müssen  aber  erst  begrenzte  Ichs  als  Mehrheit,  die  in  sittliche 
Beziehungen  zu  einander  treten  können,  gesetzt  werden,  und  da 
das  reine  begrenzte  Ich  zunächst  nur  eine  unwirkliche  Abstrak- 
tion ist,  so  kann  die  Mehrheit  begrenzter  Ichs  nur  als  Mehrheit 
besonderer  empirischer  Ichs  gesetzt  werden.  Der  Anstoss  für 
die  Spaltung  der  Urthätigkeit  in  eine  thetische  und  antithetische 
Richtung  ist  also  teleologischer,  und  zwar  ethischer  Art;  wie  die 
praktische  Vernunft  den  Vorrang  (Primat)  vor  der  theoretischen 
hat,  so  ist  auch  der  ethische  Idealismus  Fichtes  das  begp-iflFliche 
Prius  des  theoretischen.  Auf  diese  Weise  sucht  Fichte  das 
äusserliche  Ziel,  das  er  sich  gesteckt  hat,  zu  erreichen,  nämlich 
die  Verschmelzung  der  Kantschen  Kritik  der  praktischen  Ver- 
nunft mit  der  der  reinen  Vernunft  durch  Ableitung  beider  aus 
einem  gemeinsamen  Princip.  Damit  geht  er  über  Reinhold 
hinaus,  der  nur  die  verschiedenen  in  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft auftretenden  »Vermögen«  aus  einem  einheitlichen  Vor- 
stellungsvermögen abzuleiten  gesucht  hatte. 

Die  absolute  intellektuelle  Anschauung,  die  nur  Eine  ist 
(nach  Fichtes  Ausdrucksweise  das  absolute  Ich),  setzt  also  viele 
beschränkte  Ichs  in  sich,  die  für  einander  als  Nichtich  erscheinen, 
auch  mit  Besonderheiten  behaftet  sind,  die  in  keiner  Hinsicht 
zum  (reinen)  Ich  gehören.  Warum  mehr  als  zwei  beschränkte 
Ichs  nötig  sind,   um   die   sittlichen  Beziehungen  zu  einander  zu 


J.  G.  Fichte. 


75 


entfalten  ,  bleibt  allerdings  unbeantwortet.  Die  Summe  der  den 
begrenzten  Ichs  anhaftenden  Besonderheiten  (Leiber)  ist  die  Natur, 
die  nichtseinsollende,  die  überwunden  werden  soll  durch  Pflicht- 
erfüllung, und  insofern  versinnlichtes  Material  der  Pflicht  ist,  wie 
die  Summe  der  übrigen  Ichs  als  solche  für  jedes  Ich  versinn- 
lichtes Personal  der  Pflicht  heissen  kann»  Die  unbewusste  Ur- 
Ihätigkeit  träumt  einen  Welttraum,  in  welchem  verschiedene 
Personen  auftreten,  deren  jede  die  Würde  eines  Ich  hat,  deren 
jede  aber  auch  mit  Nichtich  (Natur)  behaftet  ist.  Eines  dieser 
begrenzten  Ichs  ist  mein  empirisches  Ich,  und  ich  weiss,  dass 
alles  nur  der  Traum  des  mit  meinem  Ich  identischen  absoluten 
Ich  (d,  h.  der  unbewussten  Urthätigkeit)  ist.  Indem  ich  mich  aber 
zur  sittlichen  Einwirkung  auf  diese  Traumwelt  verpflichtet  fühle, 
muss  ich  sie  wie  Wirklichkeit  behandeln,  obwohl  ich  weiss,  dass 
sie  nur  ein  Traumbild  ist.  — 

Die  praktische  Vernunft  zwingt  mich,  dasjenige  fiir  wahrhatte 
Realität  zu  nehmen,  was  meine  theoretische  Vernunft  als  traum- 
haften Schein  durchschaut  Der  kategorische  Imperativ  in  mir 
verbürgt  mir  den  Wirklichkeitscharakter  dessen,  was  meine  er- 
kenntnistheoretische Einsicht  mir  als  blosse  Vorstellung  enthüllt 
Der  praktische  Idealismus  soll  den  Traumidealismus  oder  ideellen 
Phänomenalismus  der  iheorelischen  Philosophie  durch  einen 
Machtspruch  in  sein  Gegenteil  verkehren,  nämlich  in  transccn- 
dentalen  Realismus.  Allerdings  gilt  dies  nur  für  die  anderen 
Ichs  als  sittliche  Personen,  mit  denen  ich  in  reale  sittliche  Be- 
ziehungen treten  soll,  nicht  für  die  ihnen  anhaftende  Natur,  welche 
blosse  Traumvorstellung  bleibt.  Ich  soll  auf  die  realen  anderen 
Ichs  handeln  vermittelst  Einwirkung  auf  ihre  Leiber  durch  meinen 
Leib,  die  doch  blosse  Vorstellungen  sind;  ich  soll  aus  sittlichen 
Gründen  die  von  mir  vorgestellten  Ziele  meines  Handelns  (die 
anderen  Ichs  meines  Welttraums)  für  transcendent-real  halten, 
w^ährend  ich  die  Mittel,  durch  welche  ich  auf  sie  wirken  soll,  für 
blosse  Traumvorstcllungen  nehmen  soll.  Theoretisch  betrachtet 
giebt  es  nur  Ein  Bewusstsein,  das  meines  empirischen  Ich,  und 
alle  übrigen  Ichs  sind  ebenso  wie  die  ihnen  anhaftende  Natur 
blosse  Vorstellungen  für  dieses  mein  Bewusstsein.  Praktisch- 
ethisch betrachtet  dagegen  giebt  es  so  viele  Bewusstseine  wie 
sittliche  Personen,  und  jedes  dieser  vielen  Bewusstseine  ist  für 
jedes    der    anderen    transcendent.     Theoretisch    ist    mein  Wirken 


7  6  JG.  Fichte. 

auf  die  anderen  von  mir  vorgestellten  Ichs  bloss  eine  Veränderung 
meines  Bewusstseinsinhalts,  ebenso  wie  ihr  Einwirken  auf  mich. 
Praktisch  ist  es  eine  transcendente  Wirksamkeit  der  verschiedenen 
Ichs  auf  einander. 

Über  diese  Widersprüche  ist  Fichte  nicht  hinausgelangt.  Er 
wollte  den  ethischen  Idealismus  sicher  stellen  durch  den  theore- 
tischen Idealismus,  aber  er  stellte  ihn  vielmehr  durch  die  un- 
gelösten Widersprüche  gegen  letzteren  in  Frage.  Ein  ethischer 
Idealismus  ist  nur  möglich  auf  der  theoretischen  Grundlage  eines 
unabhängig  von  ihm  gesicherten  transcendentalen  Realismus; 
auf  dem  Boden  eines  konsequenten  transcendentalen  Idealismus 
dagegen  kann  nur  ein  ethischer  Nihilismus  oder  ein  antiethischer 
Egoismus  erwachsen.  Diese  Konsequenz  wurde  auf  firischer  That 
von  Fr.  Schlegel  hauptsächlich  zu  Gunsten  der  Emanzipation  des 
Fleisches  von  dem  Sittengesetz  gezogen,  später  in  mehr  philo- 
sophischer Form  und  Durchbildung  von  Max  Stirner,  und  der 
Stirnersche  Standpunkt  würde  wieder  in  populär -geistreichelnder 
und  dichterisch -grüblerischer  Form  von  Fr.  Nietzsche  unter  An- 
lehnung an  Schopenhauers  Willensmetaphysik  und  Carlyles 
Heroenkultus  breiter  ausgeführt. 

Soll  der  Widerspruch  zwischen  Fichtes  theoretischer  und 
praktischer  Philosophie  gehoben  werden,  so  muss  entweder  der 
theoretische  Solipsismus  des  empirischen  Ich  oder  der  ethische 
Idealismus  einer  sittlichen  Weltordnung  unter  vielen  gleich- 
berechtigten empirischen  Ichs  gestrichen  werden.  Entweder  ver- 
wirklicht die  unbewusste  Urthätigkeit  sich  nur  in  Einem  Bewusst- 
sein,  so  dass  die  Vielheit  der  Personen  nur  ein  subjektiver  Schein 
für  dieses  eine  Ich  ist,  oder  sie  verwirklicht  sich  in  vielen  Be- 
wusstseinen,  die  nach  Form  und  Inhalt  für  einander  transcendent 
sind,  und  deren  jedes  in  den  anderen  nur  durch  ideelle  Vor- 
stellungsrepräsentanten abgespiegelt  und  mittelbar  erkannt  wer- 
den kann.  Im  ersteren  Falle  bleibt  der  transcendentale  Idealis- 
mus bestehen,  führt  aber  zum  Solipsismus  und  setzt  den  ethischen 
Idealismus  zur  psychologischen  Illusion  herab;  im  anderen  Falle 
wird  zwar  die  Wahrheit  des  ethischen  Idealismus  gerettet,  aber 
der  transcendentale  Idealismus  muss  dann  dem  transcendentalen 
Realismus  weichen,  wenigstens  in  Bezug  auf  die  Personen,  zu 
denen  ich  in  sittlicher  Wechselwirkung  stehe.  Im  ersteren  Falle 
giebt    es    nur   immanente    Kausalität   zwischen   dem   empirischen 


J.  G.  Fkhte. 


77 


Ich  und  dem  in  seinem  Bewtisstsein  gesetzten  (bloss  vorgestellten) 
Nichtich;  im  letzteren  Falle  giebt  es  nur  transcendente  Kausalität 
zwischen  den  verschiedenen  Ichs  oder  Bewusstseinen,  deren  keines 
in  das  andere  unmittelbar  hineinblicken  kann.  Im  crsteren  Falle 
ist  die  transcendentale  Projektion  des  sittlichen  Handelns  aus  der 
eigenen  Bewusstseinssphäre  hinaus  auf  andere  Ichs  eine  psycho- 
logisch bedingte  Illusion;  im  letzteren  Falle  ist  die  sogenannte 
immanente  Kausalität  zwischen  dem  vorgestellten  Ich  und  dem 
Vorstellungsrepräsentanten  der  anderen  Ichs  eine  bloss  subjektive 
Widerspiegelung  der  allein  wirklichen  transcendenten  Kausalität 
zwischen  den  verschiedenen  Bewusstseinen.  Im  ersteren  Falle 
setzt  die  einheitliche  unbewusste  Urtliätigkeit  oder  intellektuelle 
Anschauung  unmittelbar  die  Welt  als  vorgestelltes  Nichtich  in 
dem  Bewusstsein  des  einen  empirischen  Ich  und  ausser  ihm  gar 
nicht;  im  letzteren  Falle  dagegen  setzt  sie  unmittelbar  die  Welt 
als  Gesamtheit  der  vielen  Bewusstseine  oder  empirischen  Ichs  in 
ihrer  transcendentrealen  Wechsehvirkung  und  erst  mittelbar 
durch  diese  Wechselwirkung  in  jedem  dieser  Bewusstscine  eine 
ideelle  Abspiegelung  der  übrigen  oder  eine  subjektive  Er- 
scheinungswelt. — 

Fichte  blieb  sein  Leben  lang  dabei  stehen,  die  Welt  theore- 
tisch so  zu  betrachten,  als  ob  nur  der  erstere  Fall  mögüch  wäre, 
sie  aber  praktisch  so  anzusehen,  als  ob  ausschliessUch  der  zweite 
Fall  in  Geltung  wäre.  Dass  er  die  ürthätigkeit  nicht  einseitig 
als  intellektuelle  Anschauung  im  theoretischen  Sinne  des  Wortes 
auffasst,  sondern  zugleich  ebensosehr  als  praktische  Vernunft, 
Freiheit  oder  Wille,  und  dass  er  der  Seite  der  praktischen  Ver- 
nunft oder  des  Willens  innerhalb  dieser  Ürthätigkeit  den  Vorrang 
vor  der  Seite  der  theoretischen  Vernunft  oder  Erkenntnis  zu- 
schreibt,  ist  bereits  oben  bemerkt.  Es  ist  also  dem  Fichteschen 
Ideahsmus  nicht  der  Vorwurf  eines  einseitigen  Intellektualismus 
oder  eines  mangelnden  Realprincips  zu  machen»  sondern  man 
kann  ihm  nur  vorwerfen,  dass  er  das  Realprincip  des  Willens  auf 
die  Sphäre  sittlicher  Beziehungen  beschränkt  und  in  der  unter- 
sittlichen  Natur  verkennt,  so  dass  diese  zum  bloss  subjektiven 
Schein  verflüchtigt  wird.  Die  Korrekturbedürftigkeit  des  Systems 
in  dieser  Hinsicht  ist  ja  auch  allgemein  anerkannt  und  von 
SchelHng  und  Schopenhauer  vollzogen»  Die  Auffassung  der 
Natur  muss  aber  auch  nach  Eintritt  dieser  Korrektur  davon  ab- 


78 


J.  G.  Fichte. 


hängij^^  bleiben,  ob  und  in  welchem  Sinne  der  Widerspruch  in 
der  Sphäre  der  sittlichen  Personen  geschlichtet  wird,  ob  er  in 
der  Schwebe  bleibt,  oder  ob  er  zum  konsequenten  transcenden- 
talen  Idealismus  oder  Realismus  führt»  Gerade  darum  aber  ist 
der  Widerstreit  zwischen  transcendentalem  Idealismus  und  Realis- 
mus bei  Fichte  so  lehrreich,  weil  er  sich  ganz  innerhalb  der  sitt- 
lichen Sphäre  geistiger  Persönlichkeiten  hält  und  dadurch  das 
Problem  so  viel  enger  und  leichter  übersehbar  stellt. 

Was  Fichtes  theoretische  Betrachtung  in  den  Gesichtskreis 
des  transcendentalen  Idealismus  bannte,  ist  lediglich  die  falsche 
Bezeichnung  der  unbewussten  Urthätigkeit  mit  dem  Ausdruck 
absolutes  Ich,  Durch  diese  wurde  er  verleitet,  alles  der  un- 
bewussten Sphäre  der  metaphysischen  Urthätigkeit  Immanente 
als  ein  dem  absoluten  Ich  Immanentes  anzusehen;  die  falsche 
Identifikation  des  absoluten  und  begrenzten  Ich  und  des  be- 
grenzten und  empirischen  Ich  verleitete  ihn  dann  weiter  dazu, 
das  dem  absoluteo  Ich  Immanente  zugleich  für  ein  dem  em- 
pirischeo  Ich  Immanentes  zu  halten.  So  kam  er  dazu,  alles  er- 
kenntnistheoretisch Transcendente  schlechthin  zu  leugnen  und  die 
Einheit  der  von  der  unbewussten  Urthätigkeit  unmittelbar  ge- 
setzten Welt  der  vielen  Ichs  oder  Bewusstseine  mit  dem  von  ihr 
mittelbar  im  einzelnen  empirischen  Ich  gesetzten  Bewusstseins- 
inhalt.  d.  h,  die  allgemeine  objektiv- reale  Erscheinungswelt  der 
Individuation  mit  einer  einzelnen  subjektiv -idealen  Erscheinungs- 
welt zu  verwechseln»  d.  h.  die  Identität  beider  theoretisch  zu  be- 
jahen und  praktisch  zu  verneinen. 

Hätte  er  ernst  gemacht  mit  der  Unbewusstheit  der  thetischen, 
antithetischen  und  synthetischen  Funktion,  so  hätte  er  anerkennen 
müssen,  dass  alle  diese  Funktionen  für  jedes  Bewusstsein  trans^ 
cendent  sind,  dass  nur  die  Ergebnisse  dieser  Funktionen  ins  Be- 
wusstsein fallen  oder  immanent  werden,  aber  auch  filr  jedes 
Sonderbewusstsein  nur  der  es  unmittelbar  angehende  Teil  aller 
Ergebnisse  der  Urthätigkeit,  dass  dagegen  ftlr  jedes  Einzel- 
bewusstsein  der  übrige,  nur  die  anderen  Einzel  bewusstseine  be- 
treffende Teil  dieser  gesamten  Ergebnisse  ebenso  transcendent 
bleibt  wie  die  unbewussten  Funktionen  selbst  Mit  dieser  An- 
erkennung wäre  für  jedes  empirische  Ich  eine  unermesslich 
grosse  Sphäre  des  Transcendenten  entstanden,  welche  umfasst 
erstens  die  auf  es  selbst  bezüghchen  (intrasubjektiven)  unbewussten 


J.  G.  Fichte. 


n 


Funktionen»  zweitens  die  auf  andere  Ichs  bezüglichen  (trans- 
subjektiven) unbewussten  Funktionen,  und  drittens  die  (für  dieses 
Ich  ebenfalls  transsubjektiven)  bewussten  Ergebnisse  dieser  letzteren 
Funktionen  in  den  anderen  Ichs,  Damit  wäre  dann  das  em- 
pirische Ich  zu  einer  Monade  herabgesetzt  worden,  in  welcher 
die  Summe  der  übrigen  Monaden  sich  nur  unvollständig  und 
perspektivisch  verschoben  durch  subjektiv  ideale  Vorstellungs- 
repräscntanten  widerspiegelt,  d.h.  der  transcendentale  Idealismus 
wäre  auch  aus  theoretischem  Gesichtspunkt  durch  einen  trans- 
cendentalen  Realismus  ersetzt  worden.  — 

Da  die  Kategorien  die  Bethätigungsformen  der  unbewussten 
Urthätigkeit  sind,  so  musste  ihnen  unzweifelhaft  eine  Gültigkeit 
für  alles  dem  empirischen  Ich  Transcendente  (sowohl  Intrasubjek- 
tive als  Transsubjektive)  zugeschrieben  werden.  Nur  der  Um- 
stand, dass  die  unbewusste  Urthätigkeit  mit  dem  absoluten  Ich, 
dieses  mit  dem  begrenzten  Ich,  und  dieses  wieder  mit  dem  em- 
pirischen Ich  identifiziert  wird,  erweckt  für  Fichte  selbst  und  für 
seine  Leser  den  falschen  Schein,  als  ob  die  Kategorien  bei  ihm 
bloss  bewusstseinsimmanente  Funktionsformen  seien,  während  sie 
in  erster  Reihe  bewusstseinstranscendente  Formen  der  un- 
bewussten Intellektualfunktion  sind  und  nur  durch  diese  in  den 
Bewusstseinsinhalt  mit  eingeführt  werden. 

Der  wirkliche  Bewusstseinsprozess  ist  immer  nur  der  em- 
pirische Bewusstseinsprozess,  und  dieser  ist  ein  zeitUcher  Prozess, 
der  mit  der  Empfindung  beginnt,  von  da  zur  Anschauung,  und 
von  dieser  zum  Denken  fortschreitet.  Der  schematische  Prozess 
des  reinen  Beuaisstseins  dagegen  ist  nur  eine  Abstraktion  im 
Kopfe  des  Philosophen,  bei  welcher  er  von  den  zeitlichen  und 
räumlichen  Verhältnissen  und  Bedingungen  des  Prozesses  ebenso 
abstrahiert  wie  von  den  Besonderheiten  der  Individualität.  Es 
kommt  Fichte  zunächst  nur  auf  die  Erfassung  der  typischen 
Formen  an,  in  denen  die  Intellektualfunktion  sich  bewegt,  sofern 
sie  zu  keinem  anderen  Ergebnis  als  zum  reinen  Ich  führt.  Diese 
betrachtet  er  als  ein  (zwar  nicht  zeitliches,  aber  doch)  begriffliches 
Prius  des  wirklichen  Bewusstseinsprozesses.  So  erklärt  es  sich, 
dass  er  zuerst  aus  der  Genesis  des  reinen  Ichs  die  zeitlosen  Denk- 
formen abzuleiten  sucht,  bevor  er  sich  auf  die  Betrachtung  des 
empirischen  Bewusstseinsprozesses  einlässt,  die  dann  allerdings 
mit  der  Empfindung  beginnt.     Dabei  hegt  allerdings  der  Irrtum 


J.  G.  Fichte. 


81 


Formen  der  Urthätigkeit  in  ihren  Verzweigungen  und  der  Kolli- 
sion derselben  abgeleitet. 

Jede  der  beiden  entgegengesetzten  Thätigkeiten  will  sich 
ganz  und  schlechthin  realisieren,  jede  findet  aber  an  der  anderen 
ihre  Schranke,  so  dass  sie  sich  mit  einer  teil  weisen  Verwirk- 
lichung begnügen  muss.  Erst  dadurch,  dass  Ich  und  Nichtich 
sich  in  die  totale  Realität  teilen,  kommt  eine  eigentliche  Realität 
zustande.  Diese  Teilung  ist  aber  eine  quantitative»  also  liegt  in 
der  Kategorie  der  Limitation  bereits  die  der  Quantität  ein- 
geschlossen. Allerdings  entspricht  dieser  Begriff  mehr  der  von 
Kant  ausgeschlossenen  Kategorie  der  Quantität  als  der  Kantschen 
Gruppenbezeichnung,  die  von  der  Quantität  oder  dem  Umfang 
der  Urteile  entlehnt  ist,  Fichte  erklärt  seine  Lehre  für  idealen 
»Unitismus«  (Monismus)  in  Bezug  auf  die  Eine  unbewusste  Ur- 
thätigkeit, aber  für  realen  »Dualismus^  in  Bezug  auf  das  Bewusst- 
sein,  das  aus  dem  Gegensatze  einer  Zweiheit  von  Thätigkeiten 
entspringt.  Er  könnte  sie  weiterhin  für  Pluralismus  erklären  in 
Bezug  auf  den  Inhalt  des  Bewusstseins,  das  nicht  nur  Ich  und 
Nichtich  umspannt,  sondern  auch  ein  mannigfaltiges  ist,  das  viele 
andere  Ichs  einschliesst  So  wäre  die  Kategorie  der  Einheit 
in  dem  Urprincip,  die  der  Vielheit  in  der  Spaltung  der  Urthätig- 
keit zunächst  in  zwei  entgegengesetzte  Thätigkeitsrichtungen  und 
dann  in  viele  Produkte  (Ichs),  die  der  Allheit  in  der  unter  Ich 
und  Nichtich  verteilten  totalen  Realität  gegeben.  — - 

Sobald  man  die  Limitation  nicht  mehr  bloss  als  logische, 
sondern  als  reale  versteht,  zeigt  sie  nicht  nur  Beziehungen  zu  den 
Kategorien  der  Quantität,  sondern  auch  zu  denen  der  Relation. 
Die  wechselseitige  Einschränkung  der  thetischen  und  antithetischen 
Thätigkeit  ist  zugleich  wechselseitige  Bestimmung  oder  Wechsel- 
wirkung und  wird  im  Ergebnis  vom  Bewusstsein  als  Wechsel- 
wirkung des  begrenzten  Ich  und  Nichtich  angeschaut.  Indem 
das  Ich  sich  als  bestimmt  durch  das  Nichtich  anschaut,  fasst  es 
sich  auf  als  ein  durch  die  Kausalität  des  Nichtich  leidendes. 
Indem  es  das  Nichdch  als  bestimmt  durch  sich  anschaut^  fasst  es 
sich  auf  als  ein  auf  die  Aussen  weit  wirkendes.  Aus  der  ersten 
Art  der  Kausalität  geht  die  theoretische,  aus  der  letzten  Art  die 
praktische  Wissenschaftslehre  hervor.  Im  Erkennen  und  Handeln 
zerlegt  sich  die  Wechselwirkung  in  die  beiden  Arten  einseitiger 
Kausalität,  aus  denen  sie  zusammengesetzt  ist, 

E.  V.  UarlmafiB«  Ausgcw.  Werk«.    Bd.  XU.  6 


8o  JO.  Fichte. 

ZU  Grunde,  als  ob  ein  genetischer  Prozess  anders  als  zeitlich  zu 
denken  sei;  auch  zeigt  sich,  dass  in  diesem  Prozesse  dieselben 
Faktoren  und  Momente  vorkommen,  von  denen  im  empirischen 
Bewusstseinsprozesse  die  Empfindung  abgeleitet  wird.  Die  Ab- 
straktion der  zeitlosen  reinen  Denkformen  aus  diesem  Prozess 
und  die  Voranstellung  dieser  Abstraktion  erscheint  demnach  als 
eine  willkürliche,  im  Prozess  selbst  sachlich  nicht  gerechtfertigte, 
die  an  Kants  zeitlose  Kategorien  zu  enge  Anlehnung  sucht. 

Der  tlietischen,  produktiven,  ccntrifugalen  Thätigkeit  ent- 
spricht im  Ergebnis  das  Ich,  der  antithetischen,  fixierenden  oder 
centripetalen  Thätigkeit  das  Nichtich.  Denn  die  thetische  Thätig- 
keit wird  von  Fichte  mit  der  absoluten  Urthätigkeit  gleichgesetzt, 
diese  mit  dem  absoluten  Ich  und  dieses  mit  dem  begrenzten  Ich. 
Dass  das  begrenzte  Ich  eine  affirmative  logische  Position  (Realität 
im  Wortsinn  der  Kantschen  Kategorientafel)  ist,  unterliegt  keinem 
Zweifel,  ebensowenig,  dass  der  übrige  Vorstellungsinhalt  des  Be- 
wusstseins  logisch  negativ  ist,  wenn  er  in  Beziehung  auf  das  Ich 
als  Nichtich  bezeichnet  wird.  So  wird  denn  aus  der  thetischen 
Thätigkeit  die  RcaUtät  (als  logische  Affirmation),  aus  der  anti- 
thetischen die  (logische)  Negation  abgeleitet.  Ist  alle  Realität  in 
das  (begrenzte)  Ich  gesetzt,  so  bleibt  für  das  Nichtich  nur  die 
absolute  Nichtigkeit  übrig  (einseitiger  Idealismus);  ist  dagegen 
umgekehrt  alle  Realität  in  das  Nichtich  gesetzt,  so  ist  das  Ich 
bloss  eine  nichtige  Illusion  (Realismus). 

Fichte  will  keinen  dieser  extremen  Fälle  annehmen,  sondern 
den  mittleren,  dass  sowohl  Ich  als  auch  Nichtich  je  einen  Teil 
der  Realität  und  der  Negation  enthalten.  Nun  wird  also  sowohl 
der  thetischen  als  auch  der  antithetischen  Thätigkeit  Realitäts- 
setzung zugeschrieben,  insofern  beide  bloss  verschiedene  Rich- 
tungen der  Urthätigkeit  sind.  Aber  auch  die  thetische  Thätig- 
keit erscheint  nun  ebenso  negativ  in  Bezug  auf  die  antithetische, 
wie  diese  in  Bezug  auf  sie.  Der  vorher  bloss  logische  Gegensatz 
von  Bejahung  und  Verneinung  wird  nun  zum  realen  Gegensatz 
kollidierender  Thätigkeiten  (Kants  Realrepugnanz),  zur  gegen- 
seitigen realen  Einschränkung  oder  Limitation  der  Thätigkeiten, 
und  der  Gegensatz  des  einseitigen  Idealismus  und  Realismus  wird 
synthetisch  zum  Idealrealismus  gebunden,  der  sowohl  dem  Ich 
als  auch  dem  Nichtich  Realität  zugesteht.  So  sind  zunächst  die 
Kategorien  der  Qualität  (Realität,  Negation  und  Limitation)  als 


J,  G,  Fichte, 


8i 


Formen  der  Urthätigkeit  in  ihren  Verzweigungen  und  der  Kolli- 
sion derselben  abgeleitet. 

Jede  der  beiden  entgegengesetzten  Thätigkeiten  will  sich 
ganz  und  schlechthin  realisieren,  jede  findet  aber  an  der  anderen 
ihre  Schranke,  so  dass  sie  sich  mit  einer  teil  weisen  Verwirk- 
lichung begnügen  muss.  Erst  dadurch,  dass  Ich  und  Nichtich 
sich  in  die  totale  Realität  teilen,  kommt  eine  eigentliche  Realität 
zustande.  Diese  Teilung  ist  aber  eine  quantitative,  also  liegt  in 
der  Kategorie  der  Limitation  bereits  die  der  Quantität  ein- 
geschlossen. Allerdings  entspricht  dieser  Begriff  mehr  der  von 
Kant  ausgeschlossenen  Kategorie  der  Quantität  als  der  Kantschen 
Gruppenbezeichnung,  die  von  der  Quantität  oder  dem  Umfang 
der  Urteile  entlehnt  ist  Fichte  erklärt  seine  Lehre  für  idealen 
»LTnitismus«  (Monismus)  in  Bezug  auf  die  Eine  unbewusste  Ur- 
thätigkeit, aber  für  realen  ^Dualismus-^  in  EJezug  auf  das  Bewusst- 
sein,  das  aus  dem  Gegensatze  einer  Zweiheit  von  Thätigkeiten 
entspringt.  Er  könnte  sie  weiterhin  für  Pluralismus  erklären  in 
Bezug  auf  den  Inhalt  des  Bewusstseins,  das  nicht  nur  Ich  und 
Nichtich  umspannt,  sondern  auch  ein  mannigfaltiges  ist,  das  viele 
andere  Ichs  einschliesst  So  wäre  die  Kategorie  der  Einheit 
in  dem  Urprincip,  die  der  Vielheit  in  der  Spaltung  der  Urthätig- 
keit zunächst  in  zwei  entgegengesetzte  Thätigkeitsrichtungen  und 
dann  in  viele  Produkte  (Ichsj,  die  der  Allheit  in  der  unter  Ich 
und  Nichtich  verteilten  totalen  Realität  gegeben.  — 

Sobald  man  die  Limitation  nicht  mehr  bloss  als  logische, 
sondern  als  reale  versteht,  zeigt  sie  nicht  nur  Beziehungen  zu  den 
Kategorien  der  Quantität,  sondern  auch  zu  denen  der  Relation. 
Die  wechselseitige  Einschränkung  der  thetischen  und  antithetischen 
Thätigkeit  ist  zugleich  wechselseitige  Bestimmung  oder  Wechsel- 
wirkung und  wird  im  Ergebnis  vom  Bewusstsein  als  Wechsel- 
wirkung des  begrenzten  Ich  und  Nichtich  angeschaut  Indem 
das  Ich  sich  als  bestimmt  durch  das  Nichtich  anschaut,  fasst  es 
sich  auf  als  ein  durch  die  Kausalität  des  Nichtich  leidendes. 
Indem  es  das  Nichtich  als  bestimmt  durch  sich  anschaut,  fasst  es 
sich  auf  als  ein  auf  die  Aussen  weit  wirkendes.  Aus  der  ersten 
Art  der  Kausalität  geht  die  theoretische,  aus  der  letzten  Art  die 
praktische  Wissenschaftslehre  hervor.  Im  Erkennen  und  Handeln 
zerlegt  sich  die  Wechselwirkung  in  die  beiden  Arten  einseitiger 
Kausalität,  aus  denen  sie  zusammengesetzt  ist 

E.  V.  UiiTtmaas,  Atufew.  Werke.    Bd.  XÜ.  6 


82  J-  Cr.  Fichte. 

Es  ist  dabei  nur  zu  beachten,  dass  die  wirkliche  Kausalität 
sich  nur  zwischen  den  entgegengesetzt  gerichteten  unbewussten 
Thätigkeiten  vollzieht,  also  bewusstseinstranscendent  ist,  und  dass 
die  Anschauung  einer  gegenseitigen  Kausalität  des  Ich  und 
Nichtich  im  Bewusstseinsinhalt  ein  blosser  Schein,  eine  repräsen- 
tative Widerspiegelung  der  unbewussten  Vorgänge  im  Bewusst- 
sein  und  für  das  Bewusstsein  ist.  Dieser  Schein  enthält  Wahrheit, 
wenn  er  als  Abbild  auf  die  transcendenten  Vorgängfe  transcen- 
dental  bezogen  wird;  aber  er  wird  zum  falschen  Schein,  wenn 
den  partiellen  Bewusstseinsinhalten  selbst  eine  reale  Kausalität 
zugeschrieben  wird,  die  doch  nur  passive  Ergebnisse  der  bei  der 
Bewusstseinsentstehung  sich  abspielenden  kausalen  Vorgänge  sind. 
Fichte  hat  dies  nur  deshalb  übersehen,  weil  er  beständig  das 
produzierte  begrenzte  Ich  mit  der  produzierenden  Urthätigkeit 
(seinem  absoluten  Ich)  verwechselte  und  die  kausalen  Leistungen 
des  letzteren  dem  Konto  des  ersteren  gutschrieb.  Ebenso  ver- 
wechselte er  die  transcendent  reale  Summe  der  übrigen  Ichs  be- 
ständig mit  dem  immanent  idealen  Widerschein  derselben  im 
Bewusstsein  eines  einzelnen  empirischen  Ich.  In  der  praktischen 
Philosophie  wirken  die  sittlichen  Personen,  deren  jede  für  die 
andere  ein  transcendentes  Ding  an  sich  ist,  wirklich  auf  einander; 
in  der  theoretischen  Philosophie  aber,  wo  es  kein  Ding  an  sich 
geben  soll,  wird  auf  diese  transcendente  sittliche  Wechselwirkung 
der  Iche  unter  einander  nicht  reflektiert,  sondern  das  phänomenale 
Nichtich,  das  ein  ohnmächtiger  passiver  Schein  ist,  wird  (genau 
so  wie  bei  Beck)  mit  dem  vollen  Bewusstsein  der  Wahrheits- 
widrigkeit so  angeschaut,  als  ob  es  auf  das  Ich  wirkte. 

Wie  die  Kategorien  der  Wechselwirkung  und  Kausalität  aus 
dem  Verhältnis  der  thetischen  und  antithetischen  Thätigkeit  zu 
einander,  so  soll  die  der  Substanz  aus  dem  Verhältnis  der  produ- 
zierenden Thätigkeit  zu  ihrem  Produkt,  oder  in  Fichtes  Ausdrucks- 
weise des  absoluten  Ich  zum  begrenzten  abgeleitet  werden.  Das 
absolute  Ich  setzt  das  begrenzte  als  eine  Modifikation  seiner  selbst, 
d.  h.  als  ein  Accidens  seiner  selbst,  verhält  sich  also  zu  ihm  als 
Substanz.  In  demselben  Verhältnis  steht  es  natürlich  auch  zu 
jedem  anderen  begrenzten  Ich,  also  zu  allen  Ichs  und  nicht 
minder  zu  dem  Nichtich,  das  keinerlei  Ichheit  mehr  an  sich  hat 
(zur  Natur).  Das  absolute  Ich  oder  die  Urthätigkeit  verhält  sich 
somit  zu  allem  Sein  und  Wissen  als  Substanz  zu  ihren  Acciden- 


J,  5.  Fichte, 


83 


tien,  woraus  aber  keineswegs  zu  entnehmen  ist,  dass  sie  selbst 
ein  substantielles  Sein  wäre,  auch  abgesehen  von  diesem  Ver- 
hältnis zu  dem  von  ihr  Gesetzten.  Vielmehr  fällt,  wie  bei  Locke» 
die  Substanz  mit  der  Summe  ihrer  Accidentien  zusammen  und 
ißt  nichts  über  sie  Hinausgehendes,  Die  Substantialität  ist  nach 
Fichte  nur  zu  denken  als  Selbstbestimmung  der  unbestimmten 
Thätigkeit  zu  bestimmten  besonderen  Thätigkeiten,  wie  die  Kau- 
salität  nur  zu  verstehen  ist  als  Wechselbestimmung  der  besonderen 
bestimmten  Thätigkeiten,  die  einander  hemmen  und  einschränken. 
Das  Verhältnis  von  Substanz  und  Accidens  ist  dc'is  Verhältnis  der 
indifferenten  zur  differenzierten  Thätigkeit;  die  indifferente  Thätig- 
keit, welche  den  ganzen  Umkreis  aller  ReaHtäten  umfasst,  ist  die 
Substanz,  und  jede  einzelne  differenzierte  Thätigkeit  ist  als  eine 
der  von  jener  umfassten  Realitäten  Accidens, 

Die  Kategorien  der  Modalität  haben  in  dieser  Sphäre  der 
zeitlosen  Abstraktion  noch  keine  Stelle,  da  sie  Beziehungen  des 
Denkens  zu  bestimmten  Objekten  ausdrücken,  aber  nicht  die 
Objekte  formieren  helfen. 

Die  thetische  Thätigkeit  liefert  das  Denkgesetz  der  Identität: 
Ich  =  Ich,  dessen  Vieldeutigkeit  bereits  oben  besprochen  wurde. 
Die  antithetische  Thätigkeit  liefert  das  zweite  Denkgesetz  des 
Widerspruchs:  Nichtich  nicht  ^  Ich.  Der  Satz  ist  in  dieser 
Fassung  eine  leere  Tautologie,  aber  nicht  ein  Denkgesetz.  Die 
synthetische  Thätigkeit  liefert  das  dritte  Denkgesetz  des  Grundes, 
dem  Fichte  folgende  Deutung  giebt:  Alles  Entgegengesetzte  ist 
in  einem  bestimmten  Merkmal  gleich,  in  einem  anderen  bestimm- 
ten Merkmal  verschieden;  ersteres  heisst  der  Beziehungsgrund, 
letzteres  der  Unterscheidungsgrund.  Diese  Sätze  haben  mit  dem 
gewöhnlich  so  genannten  Satz  vom  Grunde  gar  nichts  zu  thun. — 

Gehen  wir  nun  von  dieser  zeitlosen  Abstraktion  des  be- 
wusstseinerzeugenden  Prozesses  zu  dem  wirklichen  bewusstsein- 
erzeugenden  Prozess  über,  so  knüpft  dieser  wiederum  daran  an, 
dass  die  unbewusste  Urthätigkeit  sich  in  eine  thetische  und  eine 
antithetische  Richtung  spaltet,  die  mit  einander  in  Widerstreit 
treten.  Wäre  die  thetische  Thätigkeit  bewusst,  so  bedürfte  es 
keines  bewusstseinerzeugenden  Prozesses  mehr;  sie  wirkt  viel- 
mehr als  unbewusste  Einbildungskraft,  Wäre  die  antithetische 
Thätigkeit  bewusst,  so  könnte  nicht  der  Schein  des  Leidens  im 
Ich  entstehen,  sondern   der  Widerstand  würde  als  selbstgesetzter 


84 


J.  G.  Fichte. 


und  selbstgewoüter  gewiisst.  Das  Bewusstsein  kann  nur  dadurch 
entstehen,  dass  die  unbewusste  thetlsche  Thätigkeit  auf  eine 
unbewiisste  antithetische  Thätigkeit  trifft,  und  den  durch  diese 
ihr  entgegengesetzten  Widerstand  als  ein  eigenes  Leiden  em- 
pfindet. Die  Gestalt,  in  der  das  ursprüngliche  Bewusstsein  ent- 
springt, ist  also  das  Innewerden  oder  Insichfinden  eines  nicht 
selbstgewollten »  nicht  mit  eigenem  Willen  und  Wissen  geset/ten 
Gegenstrebens  oder  Widerstandes»  und  dieses  Gewahrwerden  oder 
Perzipieren  des  Leideos  ist  die  Empfindung.  Diese  Darstellung 
der  Genesis  der  Empfindung  gehört  zu  den  genialen  Lichtblicken 
der  Fichteschen  Philosophie,  ebenso  wie  die  Unterscheidung  der 
thetischen  und  antithetischen  Thätigkeit»  welche  ihre  Voraus- 
setzung bildet  Sie  fordert  indes  zu  einer  erläuternden  Be- 
trachtung auf. 

Die  antithetische  Thätigkeit,  welche  die  Empfindung  erweckt 
und  damit  das  empirische  Ich  auf  seiner  primitivsten  Stufe  erst 
entstehen  lässt,  ist  selbstverständlich  nicht  in  diesem  empirischen 
Ich  und  noch  weniger  eine  von  diesem  empirischen  Ich  gesetzte 
Thätigkeit,  da  sie  nicht  von  dem  und  in  dem,  gesetzt  werden 
kann,  was  erst  vermittelst  ihrer  erzeugt  werden  soll;  deshalb 
wird  sie  auch  als  Thätigkeit  des  Nichtich  und  nicht  als  Thätig- 
keit des  begrenzten  Idi  angeschaut  Wohl  aber  ist  die  anti- 
thetische Thätigkeit  ebensowohl  wie  die  tlietische  eine  blosse 
Differenzierung,  Besonderung,  Richtungsvarietät  oder  Partial- 
funktion  der  Einen  absoluten  Urthätigkeit  (des  unbewussten 
absoluten  Ich);  denn  wenn  sie  das  nicht  wäre,  sondern  einem 
anderen  Subjekt  angehörte,  so  käme  gar  keine  Kollision  der 
beiden  Thätigkciten  zustande,  und  diese  würden  sich  gar  nicht 
treffen.  Die  Kausalität  der  beiden  entgegengesctHten  Thätig- 
keiten  darf  nicht  verschiedenen  Substanzen  oder  Vorstellungs- 
vermögen oder  Intelligenzen  zukommen,  weil  sie  sonst  transeunt 
wäre  und  bei  einander  vorbei  wirkte;  sondern  sie  muss  immanent 
sein  in  einem  einzigen  absoluten  Vorstellungsvermögen  (absoluten 
Ich),  welches  nach  Fichte  wiederum  nicht  bewusst  sein  kann. 
Für  das  begrenzte  bewusste  Ich  ist  also  die  antithetische  Thätig- 
keit, welche  die  Empfindung  erweckt,  in  der  That  transcendent 
oder  transsubjektiv,  für  das  absolute  unbewusste  Ich  dagegen  ist 
die  unbewusste  antithetische  Thätigkeit  ebenso  immanent  wie  die 
unbewusste  thetische  Thätigkeit  oder  die  ebenso  unbewusste  syn- 


J*  G.  Fichte. 


85 


thetische,  deren  unmittelbares  Produkt  das  Bewusstsein  in  Gestalt 
der  Empfindung  ist  Diese  Konsequenzen  liegen  unmittelbar  in 
den  Fichteschen  Voraussetzungen  vorgebildet,  und  nur  die  stän- 
dige Verwechselung  des  unbewussten  absoluten  Ich  mit  dem  be- 
wussten  begrenzten  Ich  hat  ihn  verhindert,  diese  Konsequenzen 
wirklich  zu  ziehen  und  auszusprechen,  durch  welche  sein  tlieore- 
tischer  transcendentaler  Idealismus  in  sein  Gegenteil  verkehrt 
und  mit  seinem  praktischen  traiiscendentalen  Realismus  in  Ein- 
klang gebracht  worden  w^äre.  — 

Fichte  hat  also  die  Doppelseitigkeit  der  Unbew^usstheit  und 
ßewusstheit  an  der  Urthätigkeit  wohl  erkannt,  infolge  deren  die 
Thätigkeit  an  sich  unbewusst  wirkt,  aber  in  dem  wirldichen 
Wirken,  das  erst  mit  der  Kollision  verschiedener  Thätigkeits- 
richtungen  eintritt,  sofort  auch  bewusst  wird.  Er  hat  richtig  er- 
kannt, dass  die  Thätigkeit,  von  ihrer  centralen  Seite  gesehen, 
unbewusst  ist,  von  ihrer  peripherischen  Seite  gesehen  dagegen 
als  bewusste  erscheint.  Er  hat  begriffen,  dass  wirkliche  Thätig- 
keit nur  Einheit  von  Thun  und  Leiden  ist,  und  dass  jede  Sonder- 
thätigkeit  als  aktive  unbewusst,  als  passive  bewusst  ist  Er  hat 
wohl  beachtet,  dass  die  wirkliche  Thätigkeit  sich  aus  einer  Zwei- 
heit  von  Wilknsthätigkeit  und  Erkenn tnisthätigkeit  zusammensetzt, 
und  dass  die  Willensseite  der  Thätigkeit  dem  Bewusstsein  noch 
ferner  steht  und  allezeit  ferner  bleibt,  als  die  Vorstellungsseite. 
Er  beging  aber  einen  Irrtum,  als  er  die  zweifache  Doppelseitigkeit 
der  '^Thätigkeit,  die  Bipolarität  von  Unbcw^usstheit  und  Bewusst- 
heit  und  die  Bipolarität  von  Willensthätigkeit  und  Erkenntnis- 
thätigkeit  mit  einander  konfundierte,  also  die  beiden  mit  einander 
kollidierenden  Partialfuiiktionen»  aus  deren  Kollision  das  Bewusst- 
sein entsteht,  gleichsetzte  mit  den  beiden  Thätigkeitsseiten  Wille 
und  Vorstellung,  aus  deren  Verschmelzung  jede  der  beiden  kolli- 
dierenden Thätigkeiten  entstehet!  niuss. 

Der  Gegensatz  des  Unbewussten  und  Bewussten  ergiebt  sich 
gleichsam  durch  einen  Querschnitt  der  Thätigkeit,  der  Gegensjitz 
von  Wille  und  Vorstellung  durch  einen  Längsschnitt  der 
Thätigkeit;  der  erstere  bildet  einen  realen  Widerstreit  entgegen- 
gesetzt gerichteter  Partialfunktionen  von  gleicher  Essenz,  der 
^^Jetxtere  zeigt  einen  idealen  Gegensatz  gleichgerichteter  Thätig- 
^H^Eeitsstränge  von  entgegengesetzter  Essenz  innerhalb  jeder  Par- 
W   tiaUunktion.      Das   Wollen    darf   also    nicht    mit    der    thetischen 


■ 


86  J.  G.  Fichte. 

Thätigkeit  in  der  bewusstseinerzeugenden  Kollision,  das  Vor- 
stellen nicht  mit  der  antithetischen  Thätigkeit  in  ihr  identifiziert 
werden,  wie  es  von  Fichte  geschieht,  denn  beide  gehören  ganz 
verschiedenen  Gegensatzpaaren  an.  Wäre  die  centrifugale  Thätig- 
keit vorstellungsloses  Wollen,  so  wäre  sie  inhaltleer  und  schlecht- 
hin unbestimmt;  sie  könnte  dann  gar  nicht  setzende  Thätigkeit 
heissen  und  durch  keine  bestimmte  entgegengesetzte  Thätigkeit 
reprimiert  und  restringiert  werden.  Wäre  die  centripetale  Thätig- 
keit willenlose  Vorstellung,  so  wäre  sie  kraftlos  und  unwirksam; 
sie  könnte  dann  zu  einer  bestimmten  thetischen  Thätigkeit  wohl 
in  idealen  Gegensatz,  aber  nicht  in  realen  Widerstreit  treten  und 
könnte  niemals  als  ein  realer  Zwang,  der  ein  Leiden  setzt,  em- 
pfunden werden.  Thetische  und  antithetische  Thätigkeit  müssen 
also  beide  gleichmässig  Wille  und  Vorstellung  in  sich  schliessen. 
Dass  Fichte  bei  der  Neuheit  dieser  Untersuchungen  nicht  alle 
diese  Unterschiede  sogleich  klar  herauszustellen  vermochte,  wird 
ihm  kein  billig  Denkender  zum  Vorwurf  anrechnen;  man  muss 
es  vielmehr  mit  Dank  anerkennen,  wie  sehr  er  dieses  schwierige 
Problem  der  Bewnisstseinsentstehung  aus  dem  Unbewussten  ge- 
fördert hat,  das  vor  ihm  fast  nur  von  Jakob  Böhme,  und  von 
diesem  mit  orakelhafter  Dunkelheit  berührt  worden  war.  — 

Die  thetische  Thätigkeit  ist  die  centrifugale,  die  antithetische 
ist  die  centripetale.  Es  liegt  in  der  Natur  der  ersteren,  dass  sie 
ins  Unendliche  strebt  und  darum  über  jede  zeitweilige  Hemmung 
und  Fixierung  durch  die  letztere  hinausstrebt.  So  wird  die  Em- 
pfindung durch  die  neu  anhebende  centrifugale  Thätigkeit  aus 
dem  Ich  hinausprojiziert  und  dem  Ich  gegenübergestellt  als  An- 
schauung, und  die  Anschauung  wieder  wird  vom  Verstände  durch 
Anwendung  der  schon  besprochenen  Kategorien  fixiert  und 
stabiliert  zum  Objekte.  Die  Form  der  Räumlichkeit  ergiebt  sich 
aus  der  Forderung,  verschiedene  Empfindungen  zugleich  als 
Anschauungen  hinauszuprojizieren ,  ohne  sie  mit  einander  ver- 
schmelzen zu  lassen,  was  nur  durch  ein  geordnetes  Nebeneinander 
und  eine  Sphäre  ihrer  synthetischen  Vereinigung  möglich  ist 
Wie  die  wechselseitige  Abhängigkeit  der  Objekte  ihr  Zugleich- 
sein im  Räume,  so  fordert  die  einseitige  Abhängigkeit  derselben 
ihr  Nacheinandersein  in  der  Zeit.  Fichte  folgt  also  hier  ganz 
dem  Vorbilde  Kants.  Darüber  ist  sich  Fichte  ganz  klar,  dass 
die  Annahme  einer  wirklichen  Vergangenheit,  d.  h.  einer  solchen. 


J.  G.  Ftclifr 


87 


die  ich  nicht  bloss  jetzt  als  Vergangenheit  vorstelle,  etwas  von 
meinem  Denken  Unabhängigem  setzen  und  damit  das  verpönte 
Ding  an  sich  wieder  herstellen  würde.  Auffallend  ist  dabei  nur, 
dass  Fichte  nicht  in  der  fortlaufenden  unbewussten  Urthätigkeit 
eine  solche  von  meinem  bewussten  Denken  unabhängige  Reihe 
einseitiger  Abhängigkeit  erkennt,  die  demgemäss  als  zeitHche 
Reihe  vorausgesetzt  werden  muss. 

Die  Kategorie  der  Notwendigkeit  entspringt  aus  dem  Gefühl 
des  Zwanges,  mit  dem  die  unbewusst  produzierten  Objekte  sich  dem 
Bewusstsein  aufdrängen,  also  letzten  Endes  aus  der  unbewussten 
antithetischen  Tliätigkeit,  welche  die  Urthätigkeit  zu  einer  Reihen- 
folge von  synthetischen  und  thetischen  Reaktionen  veranlassen. 
Das  Gegenteil  des  notwendigen  Leidens  ist  die  freie»  durch  keinen 
Zwang  gehemmte  Thätigkeit,  die  als  solche  unbegrenzte  Möglich- 
keit ist.  Die  Einbildungskraft  schaut  diese  Möglichkeit  als  das 
Schweben  zwischen  dem  Verrichten  und  Nichtverrichten  einer 
und  derselben  Handlung  an.  Das  Ding  in  der  synthetischen  Ver- 
einigung des  Notwendigen  und  Zufälligen  in  ihm  ist  das  wirkliche 
Ding.     Hiermit  sind  die  Kategorien  der  Modalität  nachgeholt  — 

Fichte  erhebt  nicht  mit  Unrecht  den  Anspruch,  zu  Kants 
Kritik  der  reinen  Vernunft  ein  System  der  reinen  Vernunft 
geliefert  zu  haben.  Sein  Monismus  der  absoluten  unbewussten 
Intellektualfunktion  oder  des  absoluten  unbewussten  Ich  ist  gross- 
artig  angelegt  und  eigenartig  durchgeführt  und  die  Mängel  dieser 
Durchführung  sind  wohl  durch  die  kühne  Neuheit  des  Unter- 
nehmens zu  entschuldigen.  Das  Absolute  ist  die  substanzlose 
und  subjektlose,  unbewusste,  einheitliche  Urthätigkeit,  die  nur 
missbräuchlich  absolute  Substanz,  absolutes  Subjekt  und  absolutes 
Sein  genannt  wird.  Fichte  erneuert  damit  gegen  Spinozas 
Renaissance  des  Eleatismus  den  Heraklitismus  des  verabsolu- 
tierten Flusses  und  inauguriert  damit  eine  spekulative  Periode 
des  substanzlosen  imd  subjektlosen  Absoluten,  die  sich  bis  zu 
Trendelenburg  und  Wundt  hin  erstreckt.  Gott  ist  ebensowenig 
wie  das  Absolute  ein  substantielles  seiendes  Subjekt  hinter  der 
(möglichen  oder  wirklichen)  Thätigkeit,  sondern  nur  die  ideale 
Seite  dieser  Thätigkeit,  oder  das  ihr  immanente  Gesetz»  oder  die 
ihr  immanente  Teleologie,  welche  sich  für  Fichte  ohne  Rest  mit 
der  moralischen  Weltordnung  deckt.  Das  unendliche  Ich  der 
Idee  ist  das  in  eine  unerreichbare  Zukunft  hinausprojizierte  Ideal 


88 


J.  G*  Fichte* 


der  verwirklichten  moralischen  Weltordnung  oder  des  in  der 
daseienden  Erscheinung  verwirklichten  Gottea  Grott  als  wirken- 
des Princip  ist  unbewusst  und  unpersönlich;  aber  in  dein  appro- 
ximativ zu  erreichenden  Ideal  des  unendlichen  Ich  findet  er  das 
KoUektivbewusstsein  und  die  SamtpersOnüchkeit  In  dem  Sj-stem 
der  gereinigten  Ichs  (Gottesreich)  ist  jedes  einzelne  empirische 
Ich  durch  Abstreifting  des  Zufälligen  und  Besonderen  annähernd 
zum  reinen  Ich,  und  damit  Eins  mit  Gott  und  alle  Eins  mit  ein- 
ander geworden;  denn  das  reine  Denken  oder  reine  Bewusstsein 
ist  zugleich  die  Seligkeit  und  die  wahre  Liebe  zu  Gott,  die  mit 
Gott  Eins  macht.  In  dieser  intellektuellen  Liebe  zu  Gott  als 
Endziel  und  Inhalt  des  Lebens  findet  sich  Fichte  mit  Spinoza 
zusammen;  in  ihr  wird  er  zum  mystisch  transcendentalen  Eu- 
dämonisten,  während  er  den  gemeinen  Eudamonismus  in  noch 
heftigerer  Weise  als   Kant  bekämpft   und   moralisch  brandmarkt 

Indem  Fichte  die  Natur  als  Gegenteil  des  Ich  zu  blossei 
subjektiven  Schein  herabsetzt  ond  nur  die  Vielheit  der  bewussten^ 
begrenzten  Ichs  in  dem  unbewussten  absoluten  Ich  als  wahre 
Realität  gelten  lässt,  überhebt  er  sich  der  Sorge,  das  innerliche 
Bewusstsein  und  das  äusserliche  natürliche  Dasein  identitäts- 
philosophisch zusammenzufassen,  wie  Spinoza  und  Leibniz  es  ver- 
sucht hatten,  und  wird  einseitig  der  Bewusstseinsseite  der  Welt 
gerecht.  So  bildet  sein  einseitig  idealistischer  Monismus  einen 
Gegensatz  gegen  den  identitätsphiiosophischen  Monismus  des 
Spinoza,  den  Fichte  irrtümlich  ftir  einen  einseitig  realistischen 
Monismus  hält.  Aber  in  seiner  Einseitigkeit  hat  er  die  Probleme 
wesentlich  gefördert,  so  dass  Schelling,  auf  ihn  gestützt,  den 
identitätsphilosophischen  Monismus  des  Spinoza  auf  höherer  Stufe 
erneuern  konnte.  Hinsichtlich  der  Kategorien  versagte  Fichte  sich 
jede  Kritik  der  Kantschen  Kategorientafel  und  bemülite  sich  nur 
um  die  Ableitung  derselben  aus  der  einheitlichen  Urthätigkeit 
der  unbewussten  intellektuellen  Anschauung,  immerhin  mit  mehr 
Glück  und  Geschick»  als  die  übrigen  Schüler  Kants.  Sein  Haupt- 
verdienst liegt  in  der  Einsicht,  dass  die  Genesis  des  Bewusstseins 
nur  in  unbewussten  Intellektualfunktionen  und  ihren  Kollisionen 
gesucht  werden  kann,  sein  Hauptmangel  in  der  LTnfähigkeit» 
diesen  Gesichtspunkt  festzuhalten  und  sicher  durchzuführen,  und 
sich  damit  gegen  die  beständige  Verwechselung  des  unbewussten 
absoluten  Geistes  mit  dem  bewussten  begrenzten  Ich  zu  schützen. 


et 


SchelUfig. 


8g 


Aus  diesem  Mangel  entspringen  alle  anderen  Mängel  seines 
Systems,  insbesondere  der  theoretische  traoscendentale  Idealismus 
und  sein  ungelöster  Widerspruch  gegen  den  praktischen  trans- 
cendentalen  Realismus, 

Der  Fortgang  der  philosophischen  Bewegung  konnte  nach 
doppelter  Richtung  gehen.  Entweder  konnte  in  Fichtes  Princip 
des  absoluten  Ich  der  Ausgangspunkt,  das  Ich,  festgehalten,  aber 
dann  musste  es  auch  da  gesucht  werden,  wo  es  allein  zu  finden 
war,  in  dem  empirischen,  beschränkten  Ich,  und  diesem  musste 
trotz  seiner  Beschränktheit  die  Absolutheit  zugesprochen  werden, 
Oder  aber  es  konnte  das  Absolute  festgehalten  werden;  aber 
dann  musste  der  Charakter  des  Ich  von  ihm  abgestreift  w^erden. 
Den  crsteren  der  beiden  Wege  schlug  Friedrich  Schlegel,  den 
letzteren  Schelling  ein.  Schlegel,  zu  dem  wir  erst  <in  späterer 
Stelle  gelangen,  geriet  damit  auf  einen  Irrweg,  der  den  eigent- 
lichen Zielen  Fichtes  völlig  entgegengesetzt  warj  Schelling  aber 
wurde  der  berufene  Fortbildner  Fichtes. 


2,  Schelling  (1775—1854) 
in  seiner  ersten  Periode  von  1794— 1806. 


Von  1794 — 1797  will  Schelling  bloss  den  Fichteschen  Stand- 
punkt» den  trän scen dentalen  Idealismus  des  absoluten  Ich,  aus- 
bauen und  verteidigen;  von  1797 — 1799  sucht  er  insbesondere  die 
von  Fichte  vernachlässigte  Naturphilosophie  in  das  Fichtesche 
System  einzufügen.  Von  1799^1800  lehrt  er  einen  gekoppelten 
Dualismus  von  Naturphilosophie  und  transcendentalem  Idealismus 
als  zweier  parallel  laufender,  gleichberechtigter  Momente  des 
Systems,  wobei  er  im  letzteren  auch  die  Philosophie  der  Kunst 
und  der  Geschichte  zu  berücksichtigen  beginnt.  Schellin gs  Vor- 
liebe für  die  Naturphilosophie  begnügt  sich  aber  nicht  lange 
damit,  dieselbe  als  gleichberechtigten  Bestandteil  neben  den 
transcendentalen  Idealismus  zu  stellen,  sondern  sie  schraubt  den 
Begriff  der  Natur  so  hoch,  dass  sie  die  andere  Seite  mit  um- 
spannt,   und    dass   der  Dualismus   zum  Monismus   zurückgeführt 


go  Schelling. 

wird  Damit  erreicht  SchelHng  in  den  Jahren  1801 — 1806  erst 
den  abschliessenden  Standpunkt  seiner  ersten  Periode,  welcher 
unter  dem  Namen  Identitätsphilosophie  bekannt  ist. 

Während  Kant  und  Fichte  noch  völlige  Laien  in  der  Gre- 
schichte  der  Philosophie  sind,  ist  Schelling  der  erste  bedeutende 
Denker,  der  eine  gewisse  Kenntnis  derselben  erwirbt  und  ver- 
wertet. Hauptsächlich  verdankt  er  sie  den  Anregungen  Jacobis. 
Schelling  denkt  niemals  selbständig,  sondern  immer  in  Anlehnung 
an  frühere  Philosophen,  und  jedesmal  ist  derjenige,  mit  dem  er 
sich  zuletzt  beschäftigt  hat,  tonangebend  für  die  Ausgestaltung 
seiner  Gedankenreihen.  Seine  zweite  Periode  blieb  unfruchtbar, 
weil  er  zu  wenig  neue  Anlehnungen  mehr  fand,  die  ihm  kongenial 
gewesen  wären;  seine  erste  wurde  dadurch  so  fruchtbar,  dass  so 
viele  fast  vergessene  Denker  von  ihm  in  umgewandelter  Form 
zu  neuem  I^-eben  erweckt  werden  konnten. 

Piatons  Ideen  versteht  er  weder  als  abstrakte  Begriffe,  noch 
als  physische  Existenzen,  sondern  als  metaphysische  Wesenheiten. 
Den  Dualismus  von  Gott  und  Materie  sucht  er  durch  Verflüch- 
tigung der  Materie  zu  Nichts  in  Monismus  aufzulösen.  Dadurch 
wird  der  Piatonismus  befähigt,  mit  dem  Spinozismus  verschmolzen 
zu  werden.  Wie  im  ersteren  die  Selbständigkeit  der  Materie 
neben  Gott,  so  muss  in  letzterem  der  Mangel  einer  Teleologie 
berichtigt  und  die  mechanische  Naturauffassung  durch  eine  dyna- 
mische ersetzt  werden.  Die  dritte  Erkenntnisgattung  Spinozas 
liefert  dann  die  Form,  in  der  die  Platonischen  Ideen  erkannt 
werden,  nämlich  die  intellektuelle  Anschauung.  Schelling  miss- 
versteht Spinoza  dahin,  als  ob  dieser  an  Stelle  des  Subjekts,  des 
Ich  oder  des  Wissens  ein  blosses  Objekt,  Dinge  oder  Sachen  oder 
Sein  setzte,  erkennt  aber  doch  an,  dass  trotz  entgegengesetzten 
Ausgangspunktes  Spinoza  ebenso  wie  Fichte  bei  dem  Absoluten 
mündet.  So  findet  er  zwischen  beiden  nur  einen  praktischen 
Unterschied,  den  von  Quietismus  und  energischer  Aktivität,  ver- 
kennt aber,  dass  dieser  Unterschied  mehr  in  den  Charakteren 
beider  Denker,  als  in  ihren  Lehren  begründet  ist. 

Er  fasst  den  Spinozismus  richtig  als  Akosmismus  und 
logischen  Emanationismus  auf.  Dass  die  Einzeldinge  non-entia 
seien,  darin  giebt  er  Spinoza  recht  gegen  Leibniz,  der  die 
Monaden  als  reale  entia  oder  Substanzen  festhält.  Mit  Unrecht 
wirft  er  ihm  vor,  dass  er  die  Substanz  als  ein  Ding  und  eine 


ScheMing. 


QT 


Sache  behandele,  die  Notvvendig^keit  im  Absoluten  unlebendig 
und  unpersönlich  auffasse»  die  Attribute  nicht  aus  der  Substanz 
deduziere,  sondern  nur  empirisch  aufgreife,  und  sie  ohne  gegen- 
seitige Erregung,  Durchdringung  und  Steigerung  neben  einander 
stehen  lasse.  In  der  That  ist  Spinozas  Substanz  durchaus  Sub- 
jekt und  lebendig,  im  intcllectus  infinitus  erlangt  sie  sogar  Per- 
sönlichkeit, und  nur  die  Finalität  fehlt  ihrer  notwendigen  Bc- 
thätlgung.  Die  Attribute  aus  der  Substanz  zu  deduzieren»  ist 
auch  Schelling  nicht  gelungen,  und  ist  überhaupt  eine  unlösbare 
Aufgabe.  Eine  gegenseitige  Erregung  und  Steigerung  der  Modi 
kennt  auch  Spinoza,  und  der  Begriff  der  Potenz  im  Sinne  von 
Stufe  ist  erst  in  der  zweiten  Periode  von  Schelling  mit  Unrecht 
auf  die  Attribute  selbst  übertragen  worden.  Der  Hauptunter- 
schied ist,  dass  nach  Spinoza  die  Attribute  in  jedem  Modus  im 
Gleichgewicht,  nach  Schelling  aber  bald  das  eine,  bald  das  andere 
im  Übergewicht  ist  Dass  Spinoza  das  zweite  Attribut  als  Aus- 
dehnung bestimmt,  daran  nimmt  Schelling  keinen  Anstoss,  weil 
er  selbst  die  erste»  unbegrenzte  Thätigkeit  Fichtes  als  Expansion, 
Raum  oder  materia  prima  betrachtet  und  schon  früh  die  Analogie 
mit  dem  Platonischen  äjieigov  erkennt. 

Leibniz  rühmt  er,  weil  derselbe  die  Sinnen  weit  aufhebe  und 
alle  Kräfte  des  Universums  auf  vorstellende  Kräfte  zurückführe. 
Die  ganze  Lehre  des  Leibniz  deutet  er  idealistisch,  so  dass  nichts 
als  Gott  und  Seelen,  d.h.  Anschauungen  Gottes  existieren;  den 
realistischen  Dynamismus  der  Leibnizschen  Naturphilosophie 
ignoriert  er  und  meint,  dass  Leibniz  die  Monadologie,  und  w^os 
daran  hängt,  gar  nicht  ernst  genommen  habe.  Nachdem  er  so 
selber  das  der  Vorstellung  entgegengesetzte  Princip  aus  der 
I-eibnizschen  Lehre  hinausgeworfen  hat,  macht  er  es  Leibniz  zum 
Vorwurf,  dass  er  durch  Weglassung  des  einen  Attributs  in  den 
Monaden  den  Spinozismus  zum  Unitarismus  verkümmert  und  den 
Gegensatz,  in  dem  erst  das  Leben  ist,  beseitigt  habe.  Nur  als  Idea- 
lismus soll  der  Leibnizianismus  wiedererweckt  werden  können,  und 
rdies  hat  Schelling  in  seinem  transcendentalen  Idealismus  versucht, 
wo  er  die  Fensterlosigkeit  der  Monaden,  d.  h.  die  Leugnung 
ranscendenter  Kausalität,  festhält  Für  Schellings  Naturphilo- 
>pbie  ist  die  Lcibnizsche  Deutung  der  verschiedenen  Naturreiche 
schlafender,  träumender  und  wacher  Monaden  von  Einfluss 
geworden.     Aber   in    der  Auffassung   der   Monaden    als  blosser 


92 


Scheilin^. 


Privationeii  oder  relativer  Negationen  dos  Absoluten  wendet  sich 
Schclling  von  Leibniz  zu  Spinoza  zurück  und  den  Optimismus 
der  Leibnizschen  Schule  erklärt  er  für  eine  philosophisch  nichtige 
und  mit  der  sittlichen  Ansicht  der  Welt  sehr  wenig  überein- 
stimmende Meinung, 

Den  Phänomen alism US  Humes  billigt  Schelling,  vermisst  aber 
in  ihm  die  von  innen  gesetzte  Vorstellungsfolge,  d.  h.  den  Aprio- 
rismus»  und  tadelt  die  Auffassung  der  Kausalität  als  einer  erst 
allmählich  durch  Erfahrung  und  Gewöhnung  erworbenen. 

Kant  wird  von  Schelling  anfänglich  überschwenglich  gepriesen, 
später  aber  um  so  kühler  von  ihm  beurteilt,  je  weiter  er  selbst 
sich  vom  transcendentalen  Idealismus  entfernt.  Die  Lehre  Kants 
von  den  Dingen  an  sich  ist  gänzlich  auszuscheiden  und  die  volle 
Identität  des  Dinges  mit  der  Vorstellung  an  seine  Stelle  zu  setzen. 
Das  Ding  an  sich  ist  ein  Ungedanke,  ein  X,  das  sich  zur  Null 
verflüchtigt;  da  ist  doch  das  Schwärmerische  noch  vorzuziehen, 
wie  wenn  bei  Berkeley  das  X  gleich  zu  Gott  wird.  Beck  ist  zu 
loben,  dass  er  die  Dinge  an  sich  aus  Kants  Lehre  ausgeschieden 
hat,  und  nur  darum  zu  tadeln,  dass  er  ohne  irgend  welchen  über- 
sinnlichen Grund  unserer  Vorstellungen  auskommen  zu  können 
glaubte.  Die  drei  Arten  des  Apriori:  Anschauungsformeo,  Denk- 
formen und  Ideen,  sind  nur  Anwendungen  der  Einen  Vernunft 
auf  verschiedene  Aufgaben.  Der  Unterschied  der  analytischen 
und  synthetischen  Urteile  ist  ebenso  bedeutungslos,  wie  der  des 
Apriorischen  und  Aposteriorischen;  denn  alles  wird  gleichmässi] 
zunächst  unbewusst  a  priori  produziert  und  dann  bewusst 
a  posteriori  perzipiert.  Ohne  Raum  und  Zeit  sind  die  Dinge  an 
sich  nichts;  daraus  folgert  Schelling  in  seiner  ersten  Periode, 
dass  es  gar  keine  Dinge  an  sich  geben  könne,  in  seiner  letzten 
dagegen,  dass  es  raumzeitliche  Dinge  an  sich  geben  müsse.  Die 
Behauptung  Kants  und  Reinhol ds,  dass  es  unräumliche  und  un- 
zeitliche Dinge  an  sich  gebe,  erklärt  er  für  ein  System,  das  keiner 
Widerlegung  bedarf.  In  Kants  Kritik  der  Urteilskraft  erblickt 
er  mit  Recht  den  Höhepunkt  des  Kantschen  Systems.  Eine  Ver- 
einigung der  drei  Kantschen  Kritiken  zu  einem  Werke  versucht 
er  zum  ersten  Male  in  seinem  ^System  des  transcendentalen 
Idealismus«  herzustellen. 

Fichte  wird  von  Schelling  dafür  gelobt,  dass  er  die  tote 
starre  Substanz  Spinozas  zum   lebendigen,  freien  Ich 


1  fortgebildet|^H 


Scheliiiig* 


93 


habe,  aber  dafür  getadelt,  dass  er  nicht  tief  genug  in  die  vor- 
bewusste  Entstehungsgeschichte  des  Bewusstseins  eingedrungen 
und  sich  die  Unbewusstheit  dieser  Vorgänge  nicht  stets  gegen- 
wärtig gehalten  habe.  Daher  stamme  Fichtes  beständige  Ver- 
wechselung des  bewussten  empirischen  Ich  und  des  noch  bewusst- 
losen  absoluten  Princips,  das  darum  eigentlich  weder  Ich  noch 
Subjekt  genannt  werden  darf,  sondern  nur  unbewusste  Indifferenz 
des  Subjektiven  und  Objektiven  ist  Ungerecht  ist  der  Vorwurf, 
dass  Fichte  das  empirische  Ich  eines  jeden  ^lenschen  für  die 
einzige  Substanz  erkläre»  und  dass  seine  späteren  Versuche,  die 
Ichlichkeit  und  Subjektivität  des  absoluten  Ich  zu  überwinden, 
nur  Plagiate  von  Schellings  Leistungen  seien.  Richtig  dagegen 
ist  die  Behauptung,  dass  nach  Fichtes  Begriffen  die  Natur  etwas 
Totes  sei,  das  nur  dazu  da  sei,  dem  Menschen  als  nützliches 
Mittel  und  anständige  ästhetische  Umgebung  zu  dienen.  Freilich 
konnte  die  Natur  als  subjektive  Erscheinung  nach  den  Grund- 
sätzen des  transccndentalen  Idealismus  nichts  weiter  als  ein 
Produkt  des  absoluten  Ich  für  das  empirische  Ich  sein;  aber 
Schelling  tadelt  Fichte  gerade  darum»  dass  er  sich  nicht  zu  einer 
höheren  übersinnlichen,  objektiv  idealen  Auffassung  der  Natur 
emporgeschwungen  habe.  Scharf  verurteilt  wird  von  Schelling 
die  imperative  Form  der  Fichteschen  Moral»  untl  dieser  Sklaverei 
des  Sitten gesetzes  die  Autonomie  der  sittlichen  Gesinnung  ent- 
gegengestellt, — 

Wie  der  gesamte  Rationalismus  seit  Descartes  geht  auch 
Schelling  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  die  Philosophie  nur 
dann  Wissenschaft  ist»  wenn  sie  notwendige»  sichere,  evidente  und 
gewisse  Erkenntnisse  Hefert,  dass  sie  eine  Methode  braucht»  die 
nicht  irren  kann,  dass  sie  aber  das  Hypothetische»  Wahrschein- 
liche und  bloss  Mögliche  nicht  verträgt.  Die  einzige  Methode, 
die  Evidenz  liefert,  ist  die  Demonstration  oder  Konstruktion,  die 
in  der  Mathematik  als  sinnlich  reflektierte,  in  der  Philosophie  als 
reine,  in  sich  selbst  reflektierte  Anschauung  der  Vernunft  auftritt 
Der  Sinn  erfasst  a  posteriori  das  Vernunftlose,  die  Menge  des 
Einzelnen  ohne  inneren  Zusammenhang»  der  Verstand  a  priori 
das  Allgemeine  ohne  Besonderung,  also  in  seiner  Leerheit;  die 
Einbildungskraft  vereinigt  beides  auf  besondere»  die  Vernunft  auf 
unendliche  Weise.  Konstruktion  ist  reale  Gleichsetzung  des  All- 
gemeinen   und    Besonderen   in    der   reinen  Anschauung,  die    als 


QA  Schelling. 

Besonderes  (z.  B.  als  dieses  Dreieck)  ein  Allgemeines  (das  Dreieck 
überhaupt)  darstellt  Da  die  Einheit  des  Allgemeinen  und  Be- 
sonderen nach  Schelling  die  Idee  ist,  so  werden  nur  Ideen  kon- 
struiert und  nichts  weiter,  oder  eigentlich  nur  die  Eine,  alle  um- 
fassende Idee,  für  den  Geometer  die  des  Raumes,  für  den  Philo- 
sophen die  des  Absoluten. 

Diese  Methode  hat  nur  dann  Wirklichkeit,  wenn  es  erstens 
eine  unmittelbare  intuitive  und  einfache  (weder  negative,  noch 
disjunktive,  noch  integrative)  Erkenntnis  des  Absoluten  im  Men- 
schen giebt,  wenn  zweitens  die  Idee  dieses  Absoluten  sich  pro- 
duktiv verhält,  d.  h.  mittelst  schöpferischer  Intellektualfunktion 
sich  stufenweise  zur  Vielheit  der  besonderen  Ideen  differenziert, 
und  wenn  drittens  diese  Produktivität  der  Idee  in  statu  nascente 
vom  Bewusstsein  belauscht  werden  kann.  Diese  drei  Voraus- 
setzungen sind  zusammengesetzt  in  der  intellektuellen  oder  trans- 
cendcntalen  Anschauung;  d.  h.  die  Wirklichkeit  der  intellektuellen 
Anschauung  im  Menschen  ist  die  unentbehrliche  Vorbeding^ung 
für  die  Möglichkeit  der  Philosophie  im  Sinne  schlechthin  gewisser 
Erkenntnis.  Hiermit  hat  Schelling  den  Anspruch  klar  hingestellt, 
der  in  verhüllter  Gestalt  schon  bei  Kant  auftritt,  nämlich  die 
transcendcntale  Anschauung  der  apriorischen  Intellektualfunk- 
tionen  als  apriorischer.  Wer  immer  den  Begriff  der  Philosophie 
als  einer  schlechthin  gewissen  Erkenntnis  festhält,  muss  nunmehr 
anerkennen,  dass  die  Wirklichkeit  der  intellektuellen  Anschauung 
im  angegebenen  Sinne  allein  das  Zustandekommen  einer  solchen 
Erkenntnis  möglich  macht.  Wenn  auch  nur  eine  der  drei  Vor- 
aussetzungen hinfällig  wird,  die  in  dem  Begriff  der  intellektuellen 
Anschauung  vereiniget  sind,  dann  ist  diese  so  verstümmelt,  dass 
sie  ihrer  Aufgabe,  evidente  Erkenntnis  zu  vermitteln,  nicht  mehr 
genügen  kann.  (Schelling  fügt  in  seiner  ersten  Periode  noch 
eine  vierte  Voraussetzung  hinzu,  nämlich,  dass  das  Absolute  kein 
Sein  und  keine  Realität  habe  als  durch  seinen  Begriff  und  in 
seiner  Idealität,  lässt  aber  in  seiner  zweiten  Periode  diese  Voraus- 
setzung thatsächlich  fallen.) 

Angenommen,  die  erste  und  zweite  Voraussetzung,  die  An- 
schauung der  absoluten  Idee  und  die  Besonderung  derselben  in 
Einzelideen,  wäre  erfüllt,  so  würde  doch  an  der  dritten  Voraus- 
setzung alles  scheitern.  Die  Anschauung  der  absoluten  Idee  und 
ihrer  Selbstdifferenzierung  ist  nämlich  das  absolute  Erkennen  des 


Schelling, 


95 


Absoluten  selbst,  eine  unbewusste,  hellsehende,  un zeitliche,  supra- 
indiväduelle  Bethätigiing  der  schlechthin  allgemeinen  Vernunft; 
die  philosophische  Reflexion  verhält  sich  dabei  nur  einerseits  als 
passiver  Zuschauer,  der  den  unbewussten  Vorgang  mit  seinem 
Bewusstsein  auffasst,  andererseits  als  retardierende  Kraft  dieser 
Bewegung,  die  ihre  unzeitlichen  Momente  stand  zu  halten,  zeit- 
lich zu  verweilen  und  keinen  zu  überspringen  nötigt  Das  indivi- 
duelle Bewusstsein  ist  aber  ganz  ausser  stände,  weder  dem  supra- 
individuellen unbewussten  Prozess  des  absoluten  Erkennens  über 
die  Achse!  zu  gucken,  noch  auch  ihn  zeitlich  zu  hemmen  oder 
sachlich  zu  leiten.  Es  kann  immer  nur  die  fertigen  Produkte, 
aber  niemals  die  produktive  Thätigkeit  selbst  perzipieren,  die 
ihnen  vorangeht  und  etwas  ganz  anderes  ist  als  sie.  Das  perzi- 
pierende  Bew^usstsein  hinkt  hinterdrein  ^  und  kommt  immer  eine 
Station  zu  spät;  nur  dadurch  gelangt  es  zu  der  Welt  der  sub- 
jektiven Erscheinung,  deren  Genesis  das  ^System  des  transcen- 
dentalen  Idealismus^;  schildert.  Auch  die  >transcendentale  Er- 
innerung<  vermag  hier  nicht  zu  helfen;  als  Selbstbeobachtung  ist 
die  Rekognition  unmöglich,  weil  das  Erinnerte  noch  gar  nicht 
zum  Bewusstsein  gelangt  war,  als  Hypothese  aber  hört  die 
transcendentale  Erinnerung  auf,  schlechthin  gewisse  Erkenntnis 
zu  sein  und  wurd  zu  einer  höchstens  wahrscheinlichen  Rekon- 
struktion der  Ursache  aus  der  Wirkung* 

Auch  die  zweite  Voraussetzung  ist  unhaltbar,  selbst  wenn  die 
erste  zugegeben  wird.  Denn  sie  schliesst  das  Problem  ein,  wie 
die  ursprüngliche,  über  allen  Gegensätzen  stehende,  abstrakte, 
leere  Einheit  sich  zur  Vielheit  auseinanderlegen  könne.  Schelling 
musste  zuletzt  selbst  die  Unlösbarkeit  dieses  Problems  anerkennen 
und  wurde  gerade  dadurch  zu  einer  konkreteren,  innerlich  ge- 
gliederten Einheit  hingedrängt,  wie  er  sie  in  seiner  zweiten 
Periode  ausgestaltet,  namentlich  zu  einem  Begriff  des  Absoluten, 
in  welchem  die  Initiative  des  Prozesses  und  die  Bestimmung 
seines  Endzieles  nicht  mehr  einseitig  und  ausschUesslich  vom 
Logischen  ausgeht.  — 

Während  alle  intellektuelle  Anschauung  besonderer  Ideen 
oder  bestimmter  Intellektualfunktionen  erst  abgeleitete  Erkennt- 
nis darstellt,  ist  die  intellektuelle  Anschauung  des  Absoluten 
selbst,  als  der  Einen  absoluten  Idee,  oder  der  absoluten  Identität 
von  Form  und  Wesen,  Denken  und  Sein,  Wissendem  und  Ge- 


q6  Schelling. 

wusstem,  Subjekt  und  Objekt,  die  ursprüngliche,  allgemeine  in- 
tellektuelle Uranschauung  oder  Grundanschauung,  an  der  sich 
erst  alle  besonderen  ableiten,  und  damit  die  Identität  des  formalen 
und  inhaltlichen  Princips  der  Philosophie  (oder  ihres  Erkenntnis- 
grundes und  ihres  Gegenstandes).  Schon  das  absolute  Ich  Fichtes 
wird  sofort  bei  Schelling  zu  einer  intellektuellen  Selbstanschauung, 
die  ausserhalb  alles  Bewusstseins  liegt,  weder  Bewusstsein,  noch 
Persönlichkeit  hat,  und  deshalb  auch  im  Bewusstsein  nicht  vor- 
kommen kann ;  deshalb  ist  auch  die  Existenz  einer  intellektuellen 
Anschauung  aus  dem  Bewusstsein  weder  zu  beweisen,  noch  zu 
widerlegen.  Diese  Thätigkeit  des  absoluten  Ich  ist  transcenden- 
tale  Anschauung  und  transcendentale  Freiheit,  Erkennen  und 
Handeln  in  Einem,  und  darum  auch  das  unbewusste  Princip  der 
prästabilierten  Harmonie  zwischen  Natur  und  Freiheit,  bewusst- 
loser  und  bewusster  Thätigkeit  im  Menschen.  Unbewusst  ist 
bereits  diejenige  eingeschränkte  intellektuelle  Anschauung,  welche 
den  Bewusstseinsinhalt,  die  sinnliche  Erscheinungswelt,  vorbewusst 
produziert;  unbewusst  ist  ferner  die  zu  Sonderideen  eingeschränkte 
intellektuelle  Anschauung,  weil  auch  in  ihr  schon  der  Gegensatz 
von  Subjekt  und  Objekt  verschwunden  ist;  erst  recht  unbewusst 
ist  die  absolute  intellektuelle  Anschauung,  das  ewig  Unbewusste, 
das  nie  zum  Bewusstsein  gelangen  kann,  weil  die  Bedingung  des 
Bewusstseins  Duplizität  ist.  Die  absolute  Identität,  die  mit  der 
absoluten,  uneingeschränkten  intellektuellen  Anschauung  zu- 
sammenfällt, wird  also  erst  dann  wahrhaft  an  sich  erkannt,  wenn 
man  sie  auch  von  der  Beziehung  auf  das  Bewusstsein  befreit.*) 
Dass  es  ein  solches  unbewusstes  Absolutes  giebt,  welches 
zugleich  unbewusstes  intuitives  Erkennen,  unbewusstes  absolutes 
Wissen,  oder  unbewusste  intellektuelle  Anschauung  ist,  soll  nicht 
bestritten  werden,  wohl  aber,  dass  ein  solches  anders  in  die 
Individuen  eingeht  als  in  Gestalt  eingeschränkter  intellektueller 
Anschauungen  oder  spezifisch  determinierter  unbewusster  Intellek- 
tualfunktionen,  die  den  Bewusstseinsinhalt  vorbewusst  produzieren. 
Das  Individuum  als  solches  hat  also  mit  dem  absoluten  Erkennen 


♦)  Schelling  hält  leider  diese  Ergebnisse  nicht  fest,  sondern  braucht  den  Ausdruck 
»Bewusstseinc  auch  weiter  hin  für  absolut  unbewusste  Zustande,  wenn  sie  nur  die 
Möglichkeit  in  sich  tragen,  irgend  welches  Bewusstsein  aus  sich  hervorzutreiben.  So 
spricht  er  von  nicht  wissendem  Wissen  und  bewusstlosem  Bewusstsein,  wogegen  doch 
wohl  unbewusstes  Vorstellen  den  Vorzug  verdient. 


Schilling. 


97 


dei  Absoluten  keinesfalls  etwas  zu  schaffen  und  kann  am  wenigsten 
in  ihm  den  Ausgangspunkt  seiner  philosophischen  Reflexionen 
suchen;  denn  die  intellektuelle  Anschauung  ist  nur  als  ein- 
geschränkte produktiv  und  nur  als  produktive  aktuell  Damit 
sind  denn  alle  drei  Voraussetzungen  der  Schellingschen  Kon- 
struktionsmethode als  unhaltbar  anerkannt;  ohne  ihre  Verbindung 
ijur  intellektuellen  Anschauung  ist  aber  überhaupt  keine  apodik- 
tisch gewisse  philosophische  Erkenntnis  möglich,  Die  Philosophie 
muss  demnach  entweder  sich  selbst  als  Wissenschaft,  oder  aber 
ihren  Anspruch  auf  Gewissheit  ihrer  Erkenntnisse  aufgeben*  Da 
die  Philosophie  sich  hartnäckig  weigerte,  das  letztere  zu  thun,  so 
hat  der  fortschreitende  Zeitgeist  das  erstere  gethan,  d.  h.  die 
Philosophie  als  Wissenschaft  aufgegeben.  — 

Schellings  Erkenntnistheorie  geht  zunächst  ganz  von  Fichte 
aus.  Danach  ist  alles  Sein  als  Produkt  des  absoluten  Ich  auch 
nur  ein  Sein  für  das  absolute  Ich;  indem  aber  das  empirische 
Ich  mit  dem  absoluten  Ich  von  Fichte  verwechselt  und  vermengt 
wird,  geschieht  dasselbe  auch  mit  demjenigen,  was  Sein  bloss  für 
das  absolute  Ich  ist»  aber  als  Sein  für  das  empirische  Ich  be- 
handelt wird.  Während  Schelling  die  erstere  Verwechselung 
bald  durchschaut,  bleibt  er  doch  zunächst  noch  in  der  zweiten 
stecken,  bis  er  sich  ganz  allmählich  auch  von  dieser  losringt. 
Dabei  ist  ihm  die  falsche  Bezeichnung  der  unbewussten  Vor- 
stellungsweise des  absoluten  Erkennens  mit  dem  Ausdruck  Be- 
wusstsein  hinderlich.  Bei  Fichte  ist  alles  Sein  nicht  bloss  ideelles 
Sein,  sondern  auch  Sein  für  ein  Bewusstsein.  nämlich  sofern  es 
nicht  Sein  für  das  empirische  Individualbewusstsein  ist,  doch  Sein 
für  das  absolute  Bewusstseln  des  absoluten  Ich;  bei  Schelhng 
hingegen  ist  zwar  auch  noch  alles  Sein  ideelles  Sein,  aber  nicht 
mehr  alles  ideeUe  Sein  Sein  für  ein  Bewusstsein»  nämlich  nur 
noch  Sein  im  ewig  unbewussten  Erkennen  des  absoluten  un* 
bewussten  Subjekt- Objekt.  Der  nicht  ins  empirische  Individual- 
bewusstsein fallende  Teil  dieses  unbewusst  idealen  Seins  ist  also 
für  dieses  Individualbewusstsein  ein  übersinnliches,  supraindivi* 
duelles,  bewusstseinstranscendenteSi  metaphysisches  Ansich,  ob- 
wohl es  an  sich  etwas  rein  Ideales  ist 

Dieses  Ansich  ist  das  Wesen  alles  Seins,  der  übersinnliche 
Grund  der  Erscheinungen,  das  wahrhaft  Reale  in  allen  Dingen, 
dasselbe,  was  Piaton  Idee  nannte.     Das  Ansich  steht  nicht  unter 

E.  V.  Hartman a,  Ausgew.  W«rke,    Bd.  XII,  7 


gg  Schell  ing  . 

sinnlichen  oder  Verstandesbestimmungen,  d.  h.  unter  Relationen; 
das  Objektivwerden  der  Idee  für  das  Bewusstsein  des  empirischen 
Ich  ist  ihr  Geborenwerden  unter  Relationen  und  Privationen,  die 
an  sich  nichtig  sind,  oder  die  Entstehung  des  Phänomens.  Das 
Ansich  kann  nur  etwas  Lebendiges  sein;  das  »Dingt  dagegen 
vermag  Schelling  sich  nur  als  ein  totes  stoffliches  Substrat  der 
Einbildungskraft  zu  denken,  das  nur  für  das  Bewusstsein  des 
empirischen  Ich  und  nur  in  den  Anschauungs-  und  Denkformen 
existiert.  Unter  diesen  terminologischen  Voraussetzungen  kann 
natürlich  kein  Ansich  ein  Ding,  und  kein  Ding  ein  Ansich  sein, 
und  ist  das  »Ding  an  sich«  eine  widerspruchsvolle  Begriffs- 
Zusammenstellung.  Dass  die  vorstellenden  Monaden  des  Leibniz 
»Ansiehst  seien,  räumt  Schelling  ein  und  bestreitet  nur,  dass  sie 
Dinge  an  sich  seien. 

Dieses  Bedenken  gegen  den  Ausdruck  Ding  an  sich  wird 
natürlich  hinfällig,  wenn  man  das  Wort  Ding  ganz  auf  ein  be- 
wusstseinstranscendentes  Korrelat  des  Vorstellungsobjekts  bezieht, 
die  subjektiv  idealen  Erscheinungen  im  Bewusstsein  aber  gar 
nicht  mehr  Dinge,  sondern  nur  noch  Vostellungsobjekte,  Objekte 
oder  Gegenstände  nennt;  denn  alsdann  hört  das  Ding  ohnehin 
auf,  tot,  sinnlich  und  stofflich  zu  sein.  Erst  durch  das  Wollen 
gelangen  die  Ideen  zu  einer  mehr  als  idealen,  zu  einer  realen 
Existenz,  d.  h.  werden  sie  zu  Seelen  oder  Monaden;  die  mona- 
disch verselbständigten  oder  individuierten  Ideen  sind  stets  als 
Einheit  von  Seele  und  I.eib  zu  denken.  Die  praktische  Nötigung 
zur  Anerkennung  gleicher  oder  ähnlicher  Wesen  hat  Schelling 
ebensowenig  wie  Fichte  jemals  verkannt,  sondern  hat  sie  sogar 
mit  Leibniz  auf  die  Tiere,  Pflanzen  und  niederen  Naturwesen 
ausgedehnt  und  hat  anerkannt,  dass  jede  Monade  nicht  die  Ideen, 
wie  sie  unabhängig  von  ihr  an  sich  sind,  schaut,  sondern  nur 
deren  subjektiv  ideale  Repräsentanten,  wie  sie  als  Bilder  im 
Spiegel  ihres  Bewusstseins  entstehen.  Man  mag  zugeben,  dass 
auf  Ideen  der  realistische  Ausdruck  Dinge  nicht  passt;  aber  auf 
psychophysische  Individuen  von  menschlicher,  tierischer,  pflanz- 
licher Art,  die  mit  wirkungskräftigem  Willen  und  leiblicher  Or- 
ganisation begabt  sind,  scheint  seine  Anwendung  doch  kaum 
bedenklich.  Diese  Zugeständnisse  Schellings  stossen  seine  an- 
fängliche Behauptung  um,  dass  es  für  unsere  repräsentativen 
Vorstellungsobjekte  keine  Originale  ausserhalb  des  Bewusstseins 


Schelling. 


99 


gebe,  und  es  bleibt  nur  soviel  von  ihr  zunächst  bestehen,  dass 
die  wirklich  vorhandenen  Originale  (die  seelisch -leibüchen  und 
lenskräftigen  Monaden)  nicht  unter  den  Anschauungs*  und 
enkformen  wie  ihre  Bewusstseinsrepräsentanten  stehen,  dass  es 
also  insbesondere  keinen  gemeinsamen  allumfassenden  Zeitverlauf 
für  sie  und  keine  Kausalität  unter  ihnen  giebt  — 

Raum  und  Zeit  sind  blosse  modi  imaginandi;  Zukunft  und 
Vergangenheit  sind  blosse  Imaginationsprodukte,  und  selbst  in  der 
Gegenwart  ist  nicht  das  Zeitliche  das  Reelle,  sondern  das  Ewige, 
d.  h,  die  Idee.  Für  Gott  hat  die  Natur  nur  unrauraliche  intelligible 
Verhältnisse,  und  im  absoluten  Erkennen  ist  keine  Zeit,  da  diese 
nicht  unabhängig  vom  Selbstbewusstsein  ist  Das  wahre  All  oder 
intelligible  Universum  ist  unzeitlich,  hat  also  weder  angefangen, 
noch  nicht  angefangen;  auch  ist  es  unräumlich,  ohne  Quantität, 
also  weder  quantitativ  endlich,  noch  unendlich.  Der  Weltkörper 
mit  den  ihm  eingegliederten  Weltkörpem  (Gestirnen)  ist  un- 
körperlich. Die  bloss  ideelle  Selbständigkeit  der  vielen  Sonder- 
ideen wird  erst  für  die  sinnliche  Anschauung  in  ein  räumliches 
Aussereinander  verwandelt  Unter  diesem  Gesichtspunkt  allein 
kann  die  ganze  Schellingsche  Naturphilosophie  verstanden  werden. 
Unbewusst  und  aus  uns  selbst  heraus,  d.  h.  a  priori,  produ- 
zieren wir  unseren  ganzen  Bewusstseinsinhalt,  sowohl  nach  seinem 
EmpfindungsstoflF,  als  auch  nach  seinen  Anschauungs-  und  Denk- 
formen; bewusst  werden  wir  uns  seiner  nur  als  eines  fertig  Ge- 
gebenen, d.  h.  a  posteriori.  Anschauungsformen  und  BegriflFe 
entstehen  in  der  ursprünglichen  Anschauung  zugleich;  erst  für 
die  hinzukommende  Reflexion,  die  den  ßcvvusstseinsinhalt  in  seine 
Bestandteile  zerlegt,  sind  die  herausgeschälten  Begriffe  (als  Ab- 
strakta)  später  als  die  Anschauung  und  blosse  Schatten  einer  von 
der  Anschauung  gelieferten  Realität  Die  Begriffe,  die  a  priori 
in  den  noch  einheitlichen  Bewusstseinsinhalt  vorbewusst  hinein- 
gewoben werden,  sind  also  nicht  als  abstrakte  Begriffe  zu  ver- 
stehen, sondern  als  die  von  der  Existenz  unabhängigen  unend- 
lichen Begriffe,  die  mit  dem  Wesen  oder  der  Idee  zusammenfallen 
und  machen,  dass  das  Ewige  in  den  zeidichen  Erscheinungen  als 
das  sie  für  die  Anschauung  positiv  Erfüllende  geahnt  wird.  Die 
Anschauungsformen  sind  rein  begriff  loses  Anschauen,  die  rein 
logischen  Kategorien  aber  anschauungslose  Begriffe;  erst  die 
Kategorien  mit  Schema  sind  wirkliche  Anschauungsformen.   Kants 

7* 


I 


ehre,  dass  die  Zeit  das  transcen dentale  Schema  hinzubringe, 
giebt  er  nicht  gerade  auf,  behandelt  aber  im  Unterschiede  von 
Kant  die  Zeit  als  Vermittlerin  zwischen  dem  inneren  und  äusseren 
Sinne,  und  denkt  sich  unter  dem  Schema  die  sinnlich  angeschaute 
Regel  zur  Her\^orbringung  eines  empirischen  Gegenstandes.  — 

Alle  Kategorien  sind  bloss  subjektive  Modi  der  Reflexion, 
die  nichts  Objektives  in  die  Dinge  setzen,  Bestimmungen  des 
Endlichen,  und  darum  Privationen  und  Relationen,  d,  h.  Imagina- 
tionen, die  nur  bezüglich  unseres  Verstandes,  nicht  in  Ansehung 
Gottes  Geltung  haben.  D^is  Ewige  allein  ist;  das  Sein  des  End- 
lichen ist  so  wenig  im  ideellen  wie  im  reellen  Sinne  zuzugeben. 
Wie  die  ganze  subjektiv  phänomenale  Erscheinungswelt  eine  un- 
wirkliche Dichtung  der  Reflexion  und  gleich  Nichts  ist,  so  ge- 
hören auch  die  Kategorien,  die  es  als  Endliches  bestimmen,  der 
Nichtigkeit  an.  Die  besonderen  konkreten  Existenzen  oder  Dinge 
an  sich  sind  so,  wie  Gott  sie  anschaut;  Gott  aber  schaut  sie  nicht 
unter  den  Relationen  endlicher  Bestimmtheit  an,  sondern  so,  dass 
jede  Sonderidee  wieder  ein  in  sich  Unendliches  ist,  und  darum 
können  auch  die  Kategorien  im  intelligiblen  Universum  keinen 
Platz  finden,  weil  sie  in  Gottes  Erkennen  keinen  haben. 

In  jeder  Klasse  der  Kantschen  Kategorien  bezeichnet  die 
erste  das,  was  dem  Objekt  der  äusseren  Anschauung  angehört 
(z.  B.  Einheit,  Position),  die  zweite  das»  was  der  inneren  An- 
schauung angehört  (z.  B.  Vielheit  als  Produkt  des  zeitlichen 
Zählens,  Negation  als  produzierende  zeitliche  Empfindung),  die 
dritte,  synthetische,  die  Gnindkategorie,  die  sich  bloss  für  die 
Reflexion  in  die  beiden  ersten  gespaken  hat  (z.  B.  Allheit,  Limi- 
tation). Bei  den  Relationskategorien  tritt  innerhalb  der  beiden 
ersten  Kategorien  dieselbe  Spaltung  für  die  Reflexion  hervor, 
wie  bei  den  mathematischen  Kategorien  nur  zwischen  der  ersten 
und  zweiten  Kategorie;  so  spaltet  sich  z.  B.  die  Inhärenz  in 
Substanz  und  Accidens,  deren  erstere  als  Raumgrösse  dem 
äusseren,  deren  letztere  als  Zeitgrösse  dem  inneren  Sinn  an- 
gehört. Die  Notwendigkeit  soll  die  Summe  von  Möglichkeit  und 
Wirklichkeit  sein;  ihr  soll  die  Anschauung  entsprechen,  wie  der 
Wirklichkeit  die  Empfindung  und  der  Möglichkeit  das  ursprüng- 
liche (noch  unbewusste)  Selbstbewusstsein. 

Aus  der  Gruppe  der  Quantitätskategorien  ist  der  BegrilF  der 
Unendlichkeit    hervorzuheben.      Schellin  g   unterscheidet    von    der 


SchcHing- 


lOI 


ipirischen,  potentiellen,  bloss  imaginierten  Unendlichkeit  des 
aechanischcn  Aussereinander  die  wahre,  aktuelle,  dynamische, 
ideelle  Unendlichkeit.  Ersteres  ist  der  Gegensatz  des  Endlichen, 
letzteres  steht  über  dem  ganzen  Gegensatze  des  Endlichen  und 
empirisch  Unendlichen,  weil  es  über  Quantität,  Raum,  Zeit  und 
Zahl  erhaben  ist.  Das  wahrhaft  Unendhche  ist  kraft  absoluter 
Position  oder  Affirmation  oder  kraft  des  Wesens  gesetzt,  aber 
nicht  als  etwas  unbestimmt  Formloses,  sondern  als  in  sich  Ab- 
geschlossenes und  Vollendetes,  wie  die  Idee  als  Typus  und 
System  es  ist.  So  fällt  die  supraqiiantitative  Unendlichkeit 
eigentlich  aus  den  Kategorien  der  Quantität  heraus  und  bereits 
in  die  der  Qualität  hinein»  w^eil  sie  sich  mit  der  der  Realität  deckt 
Denn  Realität  ist  Affirmation  oder  Position,  und  zwar  als 
Affirmiertes,  Gesetztes  oder  Gewusstes  oder  Objektives  oder  Sein, 
während  das  Affimiierende ,  Setzende,  Wissende,  Subjektive  oder 
der  Begriff  ihm  gegenüber  die  Idealität  repräsentiert  Zuerst  auf 
dem  Standpunkt  des  transcen dentalen  Idealismus  ist  die  Realität 
die  subjektiv -ideale,  phänomenale  oder  empirische  Realität  des 
individuellen  Bewusstseinsinhalts.  Dann  wird  sie  in  der  Identitäts- 
philosophie zum  absoluten  Objekt  oder  zur  objektiven  Seite  im 
absoluten  Subjekt -Objekt  oder  im  absoluten  unbewussten  Er* 
kennen  oder  in  der  absoluten  Idee,  während  die  phänomenale 
Realität  des  Bewusstseinsinhalts  zu  einer  nichtigen  Illusion  und 
Pseudorealität  herabgedriickt  wird.  Dann  aber  besinnt  sich 
Schelling  darauf,  dass  der  Gegensatz  de^  Idealen  und  Realen 
gar  kein  realer  Gegensatz  wäre,  wenn  er  nicht  in  einer  höheren 
Reaütät  wurzelte,  dass  der  absolute  Idealismus  der  absolute  Tod 
alles  Reellen  als  solchen  ist,  und  dass  er  als  einzige  wahre 
Realität  den  Begriff  oder  die  Idee  oder  das  absolute  Erkennen 
selbst  übrig  lässt  Damit  ist  dann  die  dritte  Bedeutung  der 
Realität  erreicht,  aber  nur  durch  einen  Gewaltstreich,  indem  das 
Ideale  selbst  als  das  Reale  dekretiert  und  damit  der  Unterschied 
beider  Begriffe  aufgehoben  ist 

Alle  Kategorien  zerlegen  nur  dasjenige  in  Reflexionen  des 
inneren  und  äusseren  Sinnes,  was  die  Kategorien  der  Relation 
anschauend  zusammenfassen;  die  Deduktion  der  Relationskate- 
gorien schliesst  also  die  aller  Kategorien  ein,  zwar  nicht  für  die 
anschauende  Intelligenz,  wohl  aber  für  das  rekonstruierende 
Denken  des  Philosophen.    Die  beiden  ersten  Relationskategorien 


102  Schelling. 

sind  aber  wieder  eine  reflektierende  Zerlegung  dessen,  was  in 
der  dritten  vereinigt  ist,  deshalb  ist  diese  »die  Kategorie  der 
Relation  €  schlechthin  und  kann  als  Vertreter  aller  Kategorien 
gelten.  Denn  in  der  Wechselwirkung  ist  jedes  der  aufeinander 
wirkenden  Dinge  als  Ursache  Substanz,  als  Wirkung  Accidens;  also 
sind  Inhärenz  und  Kausalität  in  sie  eingeschlossen ;  die  Kausalität 
aber  ist  hier  nicht  mehr  eine  einseitige,  herausgeschälte,  sondern 
allseitige,  erschöpfende  Relation.  So  kann  die  Wechselwirkung, 
oder  Ursache  und  Wirkung  in  ihrer  Universalität  genommen, 
alle  Kategorien  vertreten;  sie  ist  der  einheitliche  Ausdruck  der 
Kategorien  hinsichtlich  des  Ergebnisses,  wie  die  Eine  Vernunft, 
die  sich  in  allen  entfaltet,  hinsichtlich  ihres  Ursprungs. 

Unter  Substanz  denkt  sich  Schelling  ein  Substrat,  d.  h.  ein 
stabiliertes,  fixiertes  Sein,  und  findet  dieses  zunächst  nur  in  etwas 
Stofflichem,  Endlichem,  Produziertem,  in  einer  realisierten  Form 
oder  einem  Objekt.  Alles  stoffliche  Substrat  ist  aber  wieder 
bloss  eine  Projektion  der  Einbildungskraft  für  ein  empirisches 
Ich.  Wie  in  der  gemeinen  Ansicht  die  (unbewusste)  Produktivität 
über  dem  (bewussten)  Produkt  verschwindet,  so  in  der  philoso- 
phischen Ansicht  das  Produkt  über  der  Produktivität.  Die  Sub- 
stanzen sind  also  hier  bloss  illusorische  Ruhepunkte  in  dem  nie 
stillstehenden  Strom  der  Produktivität,  phänomenale  Pseudo- 
Substanzen,  ebenso  trügerisch  in  ihrem  Beharren  wie  in  ihrer 
Vielheit.  In  der  Identitätsphilosophie  wird  das  Imaginäre  dieser 
Scheinsubstantialität  durchschaut;  die  Substanz  zieht  sich  zur 
Einheit  zusammen  und  wird,  objektiv  betrachtet,  dem  All,  an 
sich  betrachtet  aber  dem  Wesen  gleichgesetzt.  Das  Wesen  hat 
wiederum  die  doppelte  Bedeutung  als  Wesen  im  Gegensatz  zur 
Form  und  als  Wesen,  das  als  absolutes  Erkennen  über  dem 
Gegensatz  von  Wesen  und  Form  steht,  und  an  beiden  Be- 
deutungen nimmt  die  Substanz  teil.  Die  Begriffswandelungen 
des  Wortes  Substanz  laufen  also  denen  des  Wortes  Realität 
durchaus  parallel,  ja,  genauer  besehen,  decken  sie  sich  vollständig 
mit  ihnen.  Aber  für  das  Wesen  als  absolutes  Erkennen,  Affir- 
mieren,  reine  Produktivität  oder  Thätigkeit  scheut  Schelling  sich, 
den  Ausdruck  Substanz  anzuwenden,  weil  er  in  seinen  Gedanken 
die  Nebenvorstellung  der  Stofflichkeit  nicht  ganz  von  ihm  ab- 
zustreifen vermag,  die  er  an  dem  im  Gegensatz  zur  Form 
stehenden  Wesen  unbesorg^t  haften  lässt.  — 


Sch<?lling. 


i03 


Nach  den  Grundsätzen  des  transcendentalen  Idealismus  kann 
Kausalität  nur  zwischen  VorsteÜungsobjekten  ein  und  desselben 
Bewusstseins  geben  (immanente  Kausalität),  aber  weder  zwischen 
einem  Erscheinungsobjekt  und  einem  Ansich,  noch  zwischen  ver- 
schiedenen Ansichs,  Demnach  ist  jede  (transcendente)  Kausalität 
unmöglich  sowohl  zwischen  Leib  und  Seele,  Gehirn  und  Vor- 
stellung, als  auch  zwischen  verschiedenen  Intelligenzen.  Dass 
eine  Vorstellung  durch  eine  AJFektion  des  Organismus  verursacht 
werde,  ist  eine  Täuschung,  die  nach  Schellin g  daraus  entspringt, 
dass  für  unser  Bewusstsein  das  Bewusstwerden  der  Affektion  des 
Organismus  Bedingung  für  das  Bewusstwerden  der  Vorstellung 
und  darum  auch  ihr  zeitliches  Prius  ist.  (Freilich  zeigt  in  den 
meisten  Fällen  die  Erfahrung  das  Gegenteil.) 

Ebenso  ist  es  eine  Täuschung,  dass  das  Ich  auf  einen  äusseren 
Gegenstand  handelnd  einwirken  könne;  die  bewusste  ITiätigkeit 
des  Handelns  bestimmt  nicht  einmal  die  unbewusste  produktive 
Thätigkeit  des  Anschauens  zu  einer  Modifikation,  sondern  beide 
Seiten  der  Thätigkeit  in  demselben  Subjekt  stehen  in  prästabi- 
lierter  Harmonie.  Um  die  prästabiÜerte  Harmonie  der  Leib- 
nizianer  zwischen  Leib  und  Seele  zu  umgehen,  hat  Schelling  sich 
dem  transcendentalen  Idealismus  zugewandt;  aber  er  kann  auch 
bei  diesem  die  prästabilierte  Harmonie  des  bewussten,  freien 
Handelns  und  unbewussten,  notwendigen  Produzierens  der  An- 
schauungen nicht  entbehren. 

Ohne  dass  irgend  eine  wirkliche  Einwirkung  zwischen  Leib 
und  Seele,  zwischen  verschiedenen  Leibern  in  verschiedenen  Be- 
wtisstseinen  und  zwischen  verschiedenen  Intelligenzen  stattfindet, 
muss  jedes  Bewusstsein  die  Sache  so  ansehen,  als  ob  eine  Wechsel- 
wirkung der  verschiedenen  Intelligenzen  vermittelst  der  Wechsel- 
wirkung ihrer  Leiber  stattfände.  Objektiv  wird  jedem  die  Welt 
erst  dadurch,  dass  er  viele  andere  Intelligenzen  (Bewusstseine) 
annimmt,  in  welchen  die  phänomenalen  Spiegelungen  des  idealen 
LTrbilds  fortbestehen,  wenn  sie  in  ihm  zeitweilig  oder  dauernd 
verlöschen,  und  die  alle  mit  einander  im  Einklang  stehen.  Da 
aber  transcendente  Kausalität  ausgeschlossen  ist,  so  kann  dieser 
Einklang  wieder  nur  durch  eine  präsLibilierte  Harmonie  der  Vor- 
stellungsabläufe in  den  verschiedenen  Intelligenzen  erklärt  werden. 
Das  ist  aber  gerade  die  prästabilierte  Harmonie  zwischen  den 
Monaden,  die  Leibniz  selbst  gelehrt  hat;   Schelling  kann  sie  nicht 


Schilling. 

nur  nicht  entbehren,  sondern  braucht  neben  ihr  noch  eine  zweite 
zwischen  freiem  bewusstem  Handeln  und  notwendiger  unbewusster 
Anschauungsproduktion  in  jeder  Monade.  Untersucht  man  die 
prästabilierte  Harmonie  der  Monaden  genauer,  so  führt  sie  zur 
transcen deuten  Wechselwirkung  zurück. 

Jede  Intelligenz  findet  in  sich  drei  Begrenztheiten:  erstens 
die  Endlichkeit  des  empirischen  Ich  überhaupt,  zweitens  das  Gre* 
stelltsein  in  einen  bestimmten  Zeitpunkt  der  Zeitreihe  und  drittens 
das  Behaftetsein  mit  einem  Leibe  von  bestimmter  Beschaffenheit. 
Jede  Intelligenz  schaut  alles  dasjenige,  was  nicht  ihre  Thätigkeit 
ist,  als  die  Thätigkeit  anderer  Intelligenzen  an,  indem  sie  die 
Negation  als  Passivität  empfindet  und  jeder  den  ihr  gebülirenden 
(intelligiblenj  Ort  anweist.  Die  prästabilierte  Harmonie  der 
Monaden  soll  dadurch  gleichsam  zu  einer  bloss  negativen  herab- 
gesetzt werden.  Das  (unendliche)  Quantum  der  Aktivität,  die 
das  absolute  Ich  oder  das  ewig  Unbewusste  entfaltet,  wird 
gleichsam  über  alle  Intelligenzen  ausgebreitet;  alle  haben  sich 
darein  zu  teilen»  und  jede  kann  sich  nur  so  viel  davon  aneignen, 
als  die  anderen  ihr  übrig  lassen.  Die  Aneignung  der  übrigen 
ist  demnach  die  transcendente  Ursache  für  das  Übrigbleiben 
eines  bestimmten  Teiles  des  Ganzen  für  mich.  In  diesem  Sinne 
erkennt  ScheUing  die  nie  aufhörende  Wechselwirkung  vernünf- 
tiger Wesen,  die  er  Erziehung  nennt,  und  die  Bedeutung  der 
geschichtlichen  Tradition  und  Forlwirkung  der  früheren  Genera» 
tionen  auf  die  späteren  an. 

Der  letzte  Grund  aller  prästabilierte n  Harmonien  liegt  also 
in  der  absoluten  unsichtbaren  Wurzel,  von  der  alle  Intelligenzen 
nur  Zweige  sind,  in  dem  Einen  Geiste,  der  in  aUen  dichtet  und 
handelt,  während  die  Einzelintelligenzen  nur  die  disjecta  membra 
poetae  sind,  in  welchen  und  durch  welche  der  mit  ihnen  iden- 
tische Eine  Geist  handelt.  Wenn  die  Thätigkeiten,  die  ver- 
schiedenen Wesen  anzugehören  scheinen,  nur  Abzweigungen  der 
Einen  Thätigkeit  des  Absoluten  sind,  dann  ist  die  prästabilierte 
Harmonie  aller  unter  einander  begreiflich,  aber  doch  nur  in  dem 
Sinne  der  ideellen  Wechselbedingung  der  Momente  der  all -einen 
Thätigkeit,  die  eine  zwar  metaphysisch  immanente,  aber  erkenntnis- 
theoretisch transcendente  Kausalität  heissen  muss.  Den  Unter- 
schied des  erkenntnistheoretisch  und  metaphysisch  Immanenten 
und  Transcendenten ,    und  damit  auch  den  des  erkenntnistheore* 


* 


Schelling. 


105 


fien  und  metaphysischen  Idealismus  hat  sich  Schelling  leider 
nicht  zum  Bewusstsein  gebracht,  sonst  hätte  er  schon  damals  den 
erkenntnistheoretischen  IdeaUsmus  fallen  lassen,  um  den  meta- 
physischen sicher  zu  stellen.  Das  aber  ist  ihm  schon  beim  Über- 
gang von  seiner  ersten  zu  seiner  zweiten  Periode  klar  geworden, 
dass  die  metaphysisch  immanente,  aber  erkenntnistheoretisch 
transcendente  Wechselbedingtheit  der  Teilthätigkciten  des  Abso- 
luten, d.  h,  der  Einzelintelligenzen,  ein  kraftloses  ideelles  Schatten- 
spiel ist,  so  lange  das  Realprincip  fehlt,  das  sie  realisiert  und 
dadurch  zur  reellen  Kausalität  erhebt. 

In  der  zweiten  Hälfte  seiner  ersten  Periode,  wo  der  er- 
kenntnistheoretische Idealismus  sich  zum  Illusionismus,  der  ab- 
strakte Monismus  sich  zum  Akosmismus  verschärft,  wird  auch 
die  Kausalität  zur  Illusion  im  höchsten  Grade  verflüchtigt.  Sie 
ist  nun  so  nichtig,  wie  das  Endliche,  worauf  sie  sich  bezieht, 
nichtig  vor  der  Vernunft,  der  höchste  Ausdruck  der  Negation 
und  des  Nichtseins  der  Dinge;  sie  ist  ein  bloss  subjektiver  Modus 
der  Reflexion,  der  nur  fiir  das  gilt,  was  ohne  Wahrheit  ist,  der 
Ausdruck  der  Eitelkeit,  der  das  Endliche  durch  seine  Beziehung 
auf  ebenso  nichtiges  Endliches  unterworfen  ist,  und  seines  Zurück- 
strebens  zur  Einheit  Damit  sind  aber  nicht  die  Relationen  be- 
troffen, in  welchen  die  Principien  des  Absoluten  unter  einander 
vor  seiner  Zerspaltung  in  Individuen  stehen,  und  durch  welche 
sie  sich  gegenseitig  erregen  und  steigern*  auch  nicht  der  vom 
Menschen  ausgehende  Einfluss,  durch  den  die  Natur  verschlechtert 
wird,  so  wie  der.  durch  welchen  sie  wiedererlöst  werden  soll. 
Aus  der  Erwägung  dieser  Relationen  musste  sich  für  Schellings 
zweite  Periode  eine  ganz  veränderte  Auffassung  der  Kausalität 
ergeben.  — 

Die  *  Natur  <s:  kann  nach  den  Grundsätzen  des  transcendentalen 
Idealismus  nur  die  dem  Ich  gegenüberstehende  subjektive  Er- 
scheinungswelt im  Bewusstsein  sein,  oder  das  rein  Objektive  in 
der  unbewussten,  produktiven,  intellektuellen  Anschauung.  Ihre 
Objektivität  und  All  gemeingültigkeit  liegt  nicht  etwa  in  einem 
transcendenten  Korrelat,  das  für  alle  Individuen  dasselbe  wäre, 
oder  gar  sie  kausal  affizierte,  sondern»  lediglich  in  der  gesetz- 
mässigen  Gleich mässigkeit  und  Ähnlichkeit  der  subjektiv  phäno- 
menalen Natur  für  alle  Intelligenzen.  So  ist  die  Natur  nichts 
weiter    als    eine    Hilfskonstruktion    des    Ich    zu    seiner    Selbst- 


Io6  Schelling. 

anschauung;  die  Natur  oder  der  Allorganismus  und  der  Leib  als 
individueller  Organismus  existieren  nur  als  Vorstellungsobjekte 
und  als  entferntere  und  nähere  Bedingung  für  das  Selbstbewusst- 
sein.  Das  Ich  konstruiert  sich  selbst,  indem  es  die  Materie  kon- 
struiert, und  schaut  in  der  Materie  nur  den  eigenen  Geist  im 
Gleichgewicht  seiner  konstruktiven  Thätigkeiten  an.  Die  Auf- 
gabe der  Naturphilosophie  besteht  darin,  diesen  unbewussten 
Konstruktionsprozess  bewusst  zu  rekonstruieren,  —  selbstver- 
ständlich nur  nach  seinen  allgemeinen  Principien,  nicht  bis  in 
seine  unendlichen  Einzelheiten.  Die  Naturphilosophie  hat  es  also 
nur  mit  dem  Stufengang  der  Produktivität  im  Ich  zu  thun, 
während  die  gemeine  empirische  Auffassung  es  nur  mit  den 
Produkten  zu  thun  hat. 

Das  einheitliche  Produkt  ist  der  Allorganismus,  und  die 
Einzelorganismen  sind  nur  seine  Glieder;  das  Unorganische  als 
solches  existiert  gar  nicht,  oder  doch  nur  als  Folge  der  Natur- 
verschlechterung durch  den  Abfall  des  Menschen,  Die  Natur- 
philosophie ist  höhere  Dynamik,  insofern  die  produzierenden 
Thätigkeiten  im  Ich  als  Kräfte  aufzufassen  sind,  nicht  aber  in 
dem  Sinne,  als  ob  es  vom  Ich  unabhängige  Naturkräfte  als  trans- 
cendente  Korrelate  des  Geschauten  gäbe.  Die  Dynamik  von 
Leibniz  und  Kant  fasst  Schelling  durchaus  nur  so  im  Sinne  des 
transcendentalen  Idealismus  auf  und  denkt  gar  nicht  daran,  dass 
sie  auch  eine  realistische  Bedeutung  haben  könnte.  Er  tadelt 
Kants  Dynamik,  weil  sie  nur  die  unterste  Stufe  der  Natur,  die 
Theorie  der  Materie,  behandle. 

Das  Absolute  gliedert  seine  Thätigkeit  einerseits  in  eine 
Vielheit  von  Intelligenzen,  Monaden,  Individual-Bewusstseinen 
oder  Ichs,  oder  die  Geisterwelt  oder  ideale  Welt,  andererseits  in 
die  Vielheit  der  subjektiven  Erscheinungs weiten,  deren  je  eine  in 
je  einem  Individualbe wusstsein  den  Inhalt  bildet,  oder  die  Natur. 
Die  ideale  oder  Geisterwelt  enthält  nun  aber  Monaden  von  sehr 
ungleicher  Stufe,  nämlich  ausser  den  wachen  auch  träumende 
und  schlafende,  ausser  Menschen  auch  Tiere,  Pflanzen  und  noch 
tiefere  Individualitätsformen.  Von  Herder  hatte  Schelling  gelernt, 
dass  der  Mensch  ein  Produkt  dieses  untermenschlichen  Monaden- 
reichs sei,  und  dass  das  geistige  Leben  erst  aus  dieser  unter- 
menschlichen, noch  gleichsam  im  Somnambulismus  befangenen 
Entwickelungsreihe  hervorbreche.     Dies  giebt  nun  einen  zweiten 


ScTielliJit: 


107 


BegfTiff  der  Natur,  der  etwas  ganz  anderes  bedeutet  als  der  erste, 
die  untere  Schicht  der  idealen  Welt  oder  des  Monadenreiches. 
Wir  nennen  jetzt  die  erste  Natur  subjektiv -ideal,  die  letztere 
objektiv  real;  Schelling  dagegen  nennt  die  erstere  objektiv  und 
real,  letztere  aber,  als  einen  Teil  der  idealen  Welt,  ideal. 

Schellings  Interesse  geht  zunächst  nur  auf  die  erstere,  die 
Fichtesche  Nattir  als  Anschauung  im  Bewusstsein;  wo  er  diese 
Beschränkung  als  unthunlich  empfindet,  überspringt  er  den 
zweiten  Leibniz-Herderschen  Begriff  der  Natur,  um  sofort  zu 
einem  dritten  Begriff  der  Natur  im  Sinne  des  Platonischen 
Reiches  der  Ideen  aufzusteigen.  Die  Natur  im  ersten  Sinne  ist 
blosse  Erscheinung  des  Ich  im  Ich  und  für  das  Ich;  das  em- 
pirische Ich  ist  andererseits  blosse  Erscheinung  der  Natur  im 
zweiten  Sinne;  beide  aber  sind  an  sich  betrachtet  Eins  in  der 
Natur  im  dritten  Sinne,  der  ewigen,  intelligiblen  Natur  oder  dem 
Ideenkosmos.  Die  Natur  im  ersten  Sinne  hat  bei  Schelling  durch- 
aus nur  eine  absteigende  Entwickelung  vom  Allorganismus  durch 
die  höheren  und  niederen  Organisationsstufen  und  die  unorgani- 
schen Imponderabilien  hindurch  zu  der  wägbaren  Materie  hinj 
die  Natur  im  zweiten  Sinne  heit  nur  eine  aufsteigende  Ent- 
wickelung  vom  unorganischen  Stoff  bis  zum  Menschen  als 
höchstem  Organismus;  die  Natur  im  dritten  Sinne  hat  gar  keine 
Entwickelung,  überhaupt  kein  zeitliches  Geschehen  mehr,  sondern 
ist  nur  noch  ein  ewiges  Verhältnis  idealer  Momente. 

Schelling  wusste  mit  der  Natur  im  zweiten  Sinne  nichts  an- 
zufangen, weil  er  nicht  veraiocht  hatte,  sich  von  Spinoza  und 
Leibniz  den  Gedanken  anzueignen »  durch  den  dieser  Naturbegriff 
erst  fruchtbar  wird,  den  Stufenbau  der  Individuation  und  die 
Zusammensetzung  der  höheren  psychosomatischen  Individuen  aus 
niederen  psychosomatischen  Individuen.  Er  übersah  deshalb  auch, 
dass  die  Natur  im  zweiten  Sinne  eben  das  von  ihm  geleugnete 
erkenntnistheoretisch -transcendente  Korrelat  der  Natur  im  ersten 
Sinne  sei,  und  sprang  gleich  zu  dem  metaphysisch  transcendenten 
Korrelat  der  Natur  im  dritten  Sinne  hinüber.  Anstatt  den  wich- 
tigen Unterschied  und  Gegensatz  der  Natur  im  ersten  und  zweiten 
Sinne  klar  zu  stellen,  verwischte  er  ihn  geflissentlich  mit  der 
Beruhigung,  dass  doch  beide  nur  Erscheinungen  der  Natur  im 
dritten  Sinne  seien.  Der  allzueilige  Fortgang  zur  Platonischen 
Ideenlehre  hinderte  ihn,  seine  im   Fichteschen   Sinne  entworfene 


I08  SchellinR. 

Naturphilosophie  zunächst  im  Leibniz-Herderschen  Sinne  aus- 
zubauen; beim  späteren  Altersrückblick  auf  die  Naturphflosophie 
seiner  Jugend  sucht  er  aber  dieselbe  der  geschichtlichen  Treue 
zuwider  im  transcendentalrealistischen  Sinne  so  umzudeuten,  als 
ob  es  sich  schon  damals  für  ihn  um  die  Natur  im  zweiten  Sinne 
gehandelt  habe. 

So  lange  Schelling  die  Natur  nur  im  ersten  Sinne  auffasste, 
musste  der  transcendentale  Idealismus  wie  bei  Fichte  die  Priorität 
vor  der  Naturphilosophie  schlechthin  behaupten.  Unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Natur  als  Gesamtheit  der  schlafenden,  träumenden 
und  schliesslich  erwachenden  Monaden  erscheinen  Transcendental- 
philosophie  und  Naturphilosophie  als  zwei  entgegengesetzte  Wissen- 
schaften, die  nie  in  eine  übergehen  können;  und  zwar  kommt 
nun  der  Naturphilosophie  die  genetische  und  systematische  Priori- 
tät, der  Transcendentalphilosophie  aber  immer  noch  die  Priorität 
der  Dignität  zu.  Unter  dem  Gesichtspunkt  des  Ideenkosraos  oder 
der  ewigen  intelligiblen  Natur  wird  die  Naturphilosophie  zum 
Ganzen  der  Philosophie  als  Lehre  vom  absoluten  All,  in  welchem 
der  Gegensatz  eines  idealen  und  realen  Universums  aufgehoben 
ist.  »Natur«  bedeutet  dann  dasselbe  wie  vorher  »das  ewig  Un- 
bewusste«,  nämlich  den  absoluten  unbewussten  Geist,  in  dessen 
intellektualer  Anschauung  alle  Gegensätze  aufgehoben  sind,  aber 
auch  der  latente  Grund  aller  Gegensätze  enthalten  ist.  Es  ist 
klar,  dass  diese  Erweiterung  des  Begriffes  »Natur«  ein  Miss- 
brauch ist,  der  von  der  Nachahmung  abschrecken  sollte.  Die 
Natur  kann  wohl  ebenso  wie  der  bewusste  Geist  aus  »un- 
bewusstem  Geiste«  entsprungen  gedacht  werden,  aber  niemals 
kann  der  unbewusste  und  der  bewusste  Geist  aus  Natur  ent- 
sprungen gedacht  werden,  und  noch  weniger  kann  einer  von 
ihnen  oder  gar  beide  unter  den  Begriff  »Natur«  einfach  sub- 
sumiert werden.  — 

Piatons  Ideenlehre  wird  nun  mit  Spinozas  Identitätsphilo- 
sophie  verschmolzen.  In  der  natura  naturans,  dem  absoluten  All 
oder  dem  Einen  identischen  Subjekt -Objekt,  ist  Vorstellen  und 
Hervorbringen,  Begriff  und  That,  Idee  und  Ausbreitung  oder 
Entfaltung  der  Idee  in  die  unendliche  Vielheit,  ideales  und  reales 
All  Eins.  In  der  Vernunft  ist  keine  reale  und  keine  ideale  Natur, 
sondern  nur  die  Eine  ewige  Natur,  die  erst  für  das  Bewusstsein 
des  Ich    sich   in    eine    ideale    und    eine   reale  Welt  (d.  h.  in   ein 


Schellio^, 


log 


Gelsterreich  und  die  subjektiv  idealen  Erscheinungswelten  dieser 
Geister)  spaltet.  Die  wahre  Natur  ist  also  die  urbildHche  intelli- 
gible  Natur,  oder  die  Kategorien  für  die  Konstruktion  aller 
phänomenalen  Natur.  Nur  dem  Bewusstsein  erscheint  die  Natur 
als  ein  Gegenbild  der  Idee  oder  als  eine  bewusstlose  Kunst,  die 
unbewusster  Weise  die  intelligiblen  Formen  der  ewigen  Vernunft 
in  sich  ausprägt. 

Dabei  tritt  aber  sofort  die  Frage  auf,  woher  denn  der  Schein 
der  Zw^eiheit  und  des  Gegensatzes  zwischen  der  idealen  und  realen 
Seite  in  der  phänomenalen  Natur  stamme,  wenn  nicht  aus  der  jen- 
seit  des  Gegensatzes  liegenden  Einen  Natun  Das  Eine  setzt  oder 
affirmiert  sich  selbst:  in  dieser  Bethätigung  liegt  aber  auch  schon 
der  Gegensatz  des  Einen  als  Affirmierenden  (Subjekts)  und  Affir- 
mierten  (Objekts),  der  in  die  Erscheinung  treten  muss»  wo  über- 
haupt  eine  Erscheinung  zustande  kommt.  Die  Zweiheit  ist  schon 
in  der  Einen  absoluten  Natur  vorhanden,  aber  als  latente,  ge- 
bundene, die  erst  in  der  Erscheinung  offenbar  wird.  Diese 
Doppelheit  drückt  ScheUing  als  Gegensatz  der  natura  naturans 
idealis  und  der  natura  naturans  realis  aus.  welche  den  Übergang 
zwischen  der  natura  naturans  absoluta  einerseits  und  der  natura 
naturata  idealis  und  realis  andererseits  machen.  Die  natura 
naturans  idealis,  oder  das  System  der  Ideen  als  solches,  und  die 
natura  naturans  realis,  oder  das  aufgeschlossene  System  der  Ideen 
oder  der  unkörperliche,  unräumliche,  unzeithche  Weltkörper,  der 
alle  einzelnen  Weltkörper  in  sich  schliesst,  sind  schwer  zu  unter- 
scheiden, da  ein  unkörperlicher  Weltkörper  nicht  zu  denken  ist 
und  jeder  Versuch,  ihn  zu  denken,  sofort  in  das  System  der  Ideen 
umschlägt. 

Die  natura  naturans  absoluta  oder  das  absolute  All  deckt 
sich  hier  völlig  mit  dem  unpersönlichen  Gott.  ScheUing  glaubt, 
dass  die  durch  ihn  %^ollbrachte  Wiedergeburt  der  Natur  zum 
Symbol  der  ewigen  Einheit  eine  neue  Religion  herbeifuhren 
werde,  die  zugleich  die  christliche  Religion  vollenden  und  die 
Heiterkeit  und  Reinheit  der  griechischen  Naturanschauung  er- 
neuern werde.  Will  man  diesen  übersinnlichen  Naturahsmus 
Atheismus  nennen,  so  bekennt  sich  ScheUing  zu  diesem  Atheismus. 
Nun  ist  aber  in  der  natura  naturata,  sowohl  der  idealen  als  der 
sogenannten  realen,  keine  andere  Realität  mehr  als  eine  illu- 
sorische,  und   in   der  natura  naturans   keine   andere  als  die  der 


1 1  o  Schelling. 

Idee;  es  fehlt  also  diesem  intelligiblen  Naturalismus  an  einem 
Realprincip;  die  Natur  ist  idealistisch  verflüchtigt,  als  naturata  in 
erkenntnistheoretischen,  als  naturans  in  metaphysischen  Idealismus. 
Der  so  gewonnene  Gott  bleibt  ein  unbewusster  unpersönlicher. 
Als  Schelling  ein  Realprincip  und  einen  persönlichen  Gott  zu 
suchen  begann,  musste  er  diesen  Standpunkt  verlassen.  — 

Die  Naturphilosophie  im  engeren  Sinne  beschäftigt  sich  mit 
der  natura  naturans  realis  als  der  Produktivität,  welche  die 
natura  naturata  realis  (die  subjektiv  ideale  Erscheinungswelt)  zum 
Produkt  hat.  Dieses  reale  All  oder  der  Allorganismus  spaltet 
sich  zunächst  wieder  in  eine  relativ  ideale  und  eine  relativ  reale 
Seite,  die  Weltseelc  und  den  Allleib,  der  auch  noch  unkörperlich 
zu  denken  ist  und  sich  in  die  Weltkörper  (Gestirne)  gliedert 
Diese  sind,  wie  schon  die  Alten  lehrten,  unsterbliche  Götter  im 
Vergleich  mit  den  sterblichen  Menschen,  oder  auch  selige  Tiere 
zu  nennen,  und  verhalten  sich  zu  der  Vielheit  der  einzelnen  Dinge 
wie  Urbilder  zu  den  Erscheinungen,  wie  eine  intelligible  Unend- 
lichkeit zu  der  gemeinen.  Da  alle  Sonderwesen  Glieder  des  All- 
organismus sind,  und  dieser  ihr  allgemeines  Apriori  ist,  so  liegt 
in  ihm  auch  eine  innerliche  Verknüpfimg  aller  Dinge,  die  sich  als 
Sympathie  und  Antipathie,  als  Vorgefühl  des  Künftigen  und 
Fernen,  Ahnung,  Divination  offenbart.  Die  ganze  Natur  ist  ja 
im  Somnambulismus.  Der  Instinkt  der  Tiere  zeigt,  dass  sie  Aus- 
druck und  Werkzeug  der  Allvernunft  sind,  ohne  selbst  (im  sub- 
jektiven Sinne  und  in  bewusster  Weise)  vernünftig  zu  sein.  Die 
Instinkthandlungen  haben  eine  objektive  Zweckmässigkeit  ohne 
subjektive  und  sind  mit  Notwendigkeit  vernünftig,  nicht  mit  Be- 
wusstsein.  Teleologie  im  Sinne  bewusster  Absichtlichkeit  eines 
Schöpfers  annehmen,  ist  das  Grab  aller  gesunden  Philosophie; 
Naturteleologie  ist  zwar  zweckmässige  Thätigkeit,  aber  bewusst- 
los  zweckmässige.  Die  Organisation  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung 
ist  in  diesem  Sinne  ein  zweckmässiges,  aber  nicht  bewusst- ab- 
sichtlich hervorgebrachtes  Produkt;  der  Allorganismus  als  Produk- 
tivität fällt  demnach  mit  der  unbewussten  Teleologie  zusammen. 

Der  Natur,  die  das  absolute  Produkt,  den  allgemeinen  Or- 
ganismus erstrebt,  ist  das  Individuelle  zuwider;  die  Indi\'iduen 
sind  nur  Hemmungen,  misslungene  Versuche,  die  absolute  Syn- 
these der  Aktionen  darzustellen.  Darum  steht  das  Allgemeine 
mit  dem  Einzelnen  im  beständigen  Kampf,  in  dem  das  Einzelne 


Scbelliny:. 


ftl 


zuletzt  unterliegen  muss.  Erst  durch  ein  Losreissen  vom  All- 
Organismus  wird  das  Einzelne  zum  Individuellen.  Man  sieht,  wie 
wenig  Schelling  imstande  ist,  den  Allorganismus  selbst  als  Stufen- 
bau  von  ineinandergefügten  Individualitäten  zu  begreifen,  und 
wie  der  abstrakte  IMonismus  ihn  treibt,  das  Einzelne  statt  als 
teleologisch  wertvolles  Glied  des  Ganzen  als  einen  nicht  sein 
sollenden  Auswuchs  zu  verurteilen.  — 

Die  Wcltseele  ist  der  Allorganismus  nach  seiner  idealen  Seite, 
oder  im  Zustande  der  höchsten  Konzentration,  oder  als  Subjekt, 
der  Geist  der  organischen  Natur,  der  Geist  oder  das  Princip  des 
Lebens,  die  allbewegende  Naturseele,  der  Thätigkeitsquell.  Denn 
Seele  heisst  der  Geist  als  Princip  des  Lebens  gedacht,  also  eine 
bestimmte  Seite  des  Geistes,  durch  die  er  mit  der  Natur  in  Be- 
ziehung tritt.  Die  Weltseele  ist  also  nicht  der  Geist,  sofern  er 
Quelle  des  Geisterreiches  ist,  nicht  die  natura  naturans  idealis, 
das  System  der  Ideen;  sondern  sie  gehört  zum  realen  All  und 
wird  insofern  von  SchelUng  ein  materielles  Princip  genannt.  Als 
das  den  Streit  der  unorganischen  Kräfte  Regelnde  muss  sie 
freilich  nicht  im  physikalischen  oder  chemischen  Sinne,  sondern 
nur  in  einem  höheren  Sinne  ein  materielles  Princip  sein;  es  ist 
aber  wohl  zu  beachten  ^  dass  selbst  die  untersten  materiellen 
Kräfte  nach  Schellings  Dynamismus  die  Materie  nur  zum  Pro- 
dukt haben,  und  selbst  als  immaterielle  hinter  der  Materie  liegen, 
was  also  für  die  Weltseele  in  noch  verstärktem  Grade  gelten 
muss.  Sie  heisst  nur  darum  ein  materielles  Princip »  weil  das 
einzige  Produkt  ihrer  Thätigkeit  materielle  Veränderungen  sind. 
ScheUing  trägt  Bedenken,  das  Lebensprincip  '•  Lebenskraft^  zu 
nennen,  weil  »Kraftt  gewöhnlich  bloss  auf  die  niederen  mate- 
riellen Sphären  bezogen  wird.  Besser  scheint  ihm  schon  i^ Bildungs- 
trieb* ,  obschon  der  vom  Individuum  gespürte  Trieb  nur  die  in- 
dividuelle Gefühlsresonanz  des  ausserhalb  der  individuellen  Sphäre 
belegenen  Lebensprincips  ist.  Dieses  allgemeine  Princip  indivi- 
dualisiert sich  in  jedem  Einzelwesen  nach  dem  Grade  seiner  Re- 
zeptivität ;  der  allgemeine  Strom  des  Lebens  trifft  die  Organe,  die 
für  ihn  empfänglich  sind. 

Ursprünglich  dachte  ScheUing  sich  den  Einfluss  der  Weltseele 
so,  dass  die  Wirksamkeitsweise  der  niederen  materiellen  Kräfte 
durch  ihn  gestört  und  in  eine  völlig  andere  umgewandelt  werde; 
gegen   Ende   seiner   ersten   Periode   erkannte   er   aber,   dass  die 


Schell  ini:» 


I 


I 
I 


Aunifbung  und  Veränderung  der  Naturkräfte  auch  eine  solche 
[ihrer  Gesetze  in  sich  schliessen  würde.  Er  betont  nun  die  Un- 
verbrüchlichkeit der  Naturgesetze  und  erkennt  an,  dass  nur  das 
Gesamtergebnis  durch  den  Hinzutritt  des  Lebensprincips  modi- 
fi/Jcrt  wird.  So  wirkt  dieses  z.  B.  durch  die  Nerven  auf  die 
irritablen  Organe  und  befähigt  diese  unter  anderem  dazu»  das  sie 
durchströmende  Blut  auf  bestimmte  Art  zu  entmischen,  um  da- 
durch sich  selbst  auf  bestimmte  Art  zu  regenerieren.  Eine 
zweite  Aufgabe  des  Lebensprincips  soll  die  sein,  den  Konflikt 
der  unorganischen  Kräfte  immer  neu  anzufachen  und  vor  dem 
Zurruhekommen  im  Gleichgewicht  zu  bewahren;  denn  dieser 
Antagonismus  ist  zwar  nicht  positive  Ursache,  aber  doch  unent- 
behrliche Bedingung  des  Lebens. 

Schelling  verwirft  jede  mechanische  Präformation  und  In- 
einanderschachtelung  der  Keime  und  lässt  nur  eine  dynamische 
Präformation  gelten,  d.h.  eine  bestimmte  Mannigfaltigkeit  dyna- 
mischer Tendenzen  mit  präformierter  Entwickelungsrichtung  für 
den  Fall  ihrer  Auslösung  durch  äussere  Anlässe.  Die  Verwandt- 
schaft der  Naturtypen  tasst  Schelling  nicht  als  phytogen  et  isclie 
Entwickelung  durch  Abstammung»  sondern  lediglich  als  ideelle 
Verwandtschaft  durch  gemeinsame  ideelle  Abkunft  von  derselben 
geistigen  Produktivität  auf.  Die  dynamische  Stufenfolge  in  der 
organischen  Fomienwelt  ist  als  Streben  der  Natur  nach  Verwirk- 
lichung eines  Ideals  vermittelst  einer  unendlichen  Mannigfaltig- 
keit möglicher  Abweichungen  Naturgeschichte.  Eine  wissen- 
schaftliche Naturgeschichte  kann  es  nicht  geben,  weil  das 
Moment  der  Freiheit  in  den  möglichen  Abweichungen  nur  in- 
duktiv zu  erfassen  ist,  die  Wissenschaft  aber  auf  Deduktion  zu 
beschränken  ist 

Die  Äusserungen  des  Lebensprincips  sind  dreifach  gegliedert 
nach  den  drei  Urthätigkeiten  des  Geistes:  die  Produktivität  (ein- 
schliesslich der  Reproduktion)  entspricht  der  ersten,  positiven, 
thetischen,  die  Rezepti\ität  oder  Sensibiütät  der  zweiten,  nega- 
tiven, antithetischen,  die  Irritabilität  oder  das  organische  (reflek* 
torisdie)  Reaktionsvermögen  der  dritten,  synthetischen  Thätigkeit» 
durch  welche  das  gestörte  Gleichgewicht  wieder  hergestellt  wird.j 
Die  Rezeptivntät  oder  Sensibilität  ist  eine  allgemeine  Eiger 
der  Natur,  nicht  bloss  der  organischen,  und  selbst  im  Organischen 
ist   sie   früher  als  ihr  Produkt,   Gehirn  und  Ner\en.    Somit  bat 


Schelüng, 


113 


auch  die  pflanzliche  und  unorganische  Natur  seelische  Innerlich- 
keit; denn  alles  ist  ichartig,  weil  in  allem  die  Weltseele  flmk- 
tioniert  Schellings  Versuche»  die  drei  Ausserungsformen  des 
Leben sprincips  mit  den  Imponderabiliea  zu  parallelisieren ,  sind 
schwankend  und  wertlos.  — 

Da  sich  in  der  Schellingschen  Naturphilosophie  alles  nur  um 
ideelle  Ableitung  der  Formen  der  absoluten  Produktivität  handelt, 
so  kann  auch  die  absteigende  Entwickelung  oder  Devolution  in 
ihr,  z.  B.  die  Ableitung  des  Unorganischen  aus  dem  Organischen 
nicht  stören,  während  dieselbe  sofort  anstössig  wird,  wenn  man 
sie  auf  die  reale  Genesis  im  Monadenreich  überträgt  Aus  dem 
Allorganismus  folgt  zunächst  im  allgemeinen  die  Einheit  aller 
organischen  und  unorganischen  Naturkräfte,  sodann  im  besonderen 
die  der  drei  organischen  (Produktivität,  Sensibilität  und  Irrita- 
bihtät)  und  w^eiter  die  der  drei  Imponderabilien  oder  impon- 
derablen  Fluida  (Magnetismus»  Elektrizität,  Chemismus).  Diese 
Sphäre,  die  zwischen  der  Organisation  und  der  trägen,  bloss  den 
mechanischen  Gesetzen  unterworfenen  Masse  in  der  Mitte  liegt, 
nennt  Schelüng  die  dynamische  im  engeren  Sinne.  Die  Materie 
der  Imponderabilien  ist  der  Ätlier,  IJchtäther,  LichtstofiF,  oder,  da 
Schelling  Stoff  und  Wesen  vielfach  synonym  braucht,  das  Licht- 
wesen, von  dem  d^ts  Licht  nur  eine  Erscheinungsform  ist. 
Schelling  setzt  aber  häufig  das  licht  für  das  Lichtwesen,  wie  die 
Schwere  für  die  wägbare  Materie,  und  stellt  dann  Licht  und 
Schwere  einander  gegenüber  statt  Äther  und  wägbare  Materie. 
Beide  sind  immaterielL  insofern  sie  nicht  durch  ihr  substantielles 
Dasein,  sondern  niu*  durch  ihre  dynamische  Thätigkeit  den  Raum 
erfüllen,  beide  sind  materiell,  insofern  sie  die  Materie  zum  phäno- 
menalen Produkt  haben.  Licht  und  Schwere,  d.  h,  Äther  und 
wägbare  Materie,  bilden  die  relativ  ideale  und  reale  Seite  der 
unorganischen  Natur.  Licht  und  Wärme,  die  aus  einer  Quelle 
stammen,  stellen  die  ursprüngliche  Einheit  der  Ätlierfunktion 
dar,  aus  %velcher  die  drei  polarischen  Imponderabilien  sich  erst 
herausdifferenzieren. 

Die  Erw^eiterung  der  Polarität  vom  Magnetismus  und  der 
Elektrizität  auf  den  Antagonismus  der  Anziehung  und  Abstossung 
hatte  schon  Kant,  die  auf  den  organischen  Geschlechtsgegensatz 
sclion  Herder  vollzogen.  Schelling  brauchte  sie  nur  auf  den 
Chemismus  zu  übertragen,  alle  diese  Polaritäten  in  einen  Begriflf 

L.  V.  ilArimiinD,  Aiugew.  Werke,     hd.  XU,  8 


114 


SdieUlfl^. 


zusammenzufi:tssen  und  diesen  auf  den  Gegensat/  der  beiden 
geistigen  Urthätigkciten  im  Sinne  des  transcendentalen  Idealis- 
mus zu  stützen.  Die  Polarität  ist  im  (Stab-)  Magneten  linear 
oder  eindimensional,  in  der  (Reibungs-)  Elektrizität  flächenhaft 
oder  zweidimensional;  im  Chemismus  durchdringt  sie  dreidimen- 
sional die  ganze  Masse  der  sich  trennenden  oder  verbindenden 
Stoffe.  Die  Unterschiede  der  Qualität  leitet  Schelling  anfänglich 
aus  graduellen  Verschiedenheiten  in  der  Intensität  der  beiden 
materiellen  Grundkräfte,  Anziehung  und  Abstossung,  später  aus 
dem  Mischungsverhältnis  der  Imponderabilien  ab.  Während  die 
Organismen  individuell  und  die  Anziehung  und  Abstossung 
atomistisch  konkresziert  sind,  schweben  die  Imponderabilien  ohne 
jede  monadische  Individualion  in  der  Luft  als  Erscheinungen,  die 
bloss  von  den  Intelligenzen  als  illusorische  Projektionen  für  ihre 
bewusste  Auffassung  herausgesponnen  werden,  aber  nicht  wie 
die  Organismen  und  Atomkräfte  als  Abbilder  von  monadischen 
Existenzen  ausserhalb  des  Bewusstseins  gedeutet  werden  können. 
Dass  auch  der  Äther  aus  ichartigen  Kraftmonaden  bestehen 
könne,  daran  hat  Schelling  noch  nicht  gedacht  — 

In  Betreff  der  Theorie  der  Materie  stützt  Schelling  sich  auf 
Kants  Dynamismus,  sucht  diesen  aber  einerseits  mit  der  expan- 
siven und  kontraktiven  geistigen  Urthätigkeit  des  Ich,  anderer- 
seiis  mit  der  von  Ixsage  erneuerten  Atomistik  Epikurs  und 
Gassendis  zu  verschmelzen.  Er  stellt  demgemäss  einen  atomis- 
lischen  Dynamismus  auf,  d.  h.  er  lässt  die  atom istische  Gliederung 
zwar  für  die  Kräfte  gelten,  aber  nicht  für  die  stofFliclie  Masse, 
die  erst  als  Produkt  aus  dem  Widerspiel  der  Kräfte  resultieren 
solL  Die  Mechanik  erklärt  die  Bewegung  aus  Bewegung,  die 
Dynamik  aus  Rulie,  d.  h.  aus  der  ruhenden  Kraft.  Diese  ist  un- 
zerstörbar nur  darum,  weil  sie  als  reine  Intensität  oder  Entelechie 
jenseits  des  Raumes  liegt.  Die  Materie,  der  erfüllte  Raum»  ist 
nur  das  Phänomen  eines  Strebens,  dessen  Princip  selbst  nicht  im 
Räume  ist,  und  die  Kraft  allein  ist  es,  die  den  Raum  von  innen 
heraus  erfüllt.  Der  bloss  von  Imponderabilien  erfüllte  Raum 
heisst  aber  in  materieller  Hinsicht  noch  leer;  materiell  erfüllt 
helsst  er  erst»  wenn  die  ganz  bestimmten  Kräfte  der  wägbaren 
Materie  ihn  erfüllen. 

Diese  Kräfte  sind  nun  Anziehung  und  Abstossung  in  Gestalt 
von  Gravitation    und  Elastizität.     Bloss  positive,  repulsive   oder 


: 


: 


expansive  Kräfte  wurden  ins  Unendliche  auseinanderfohreti,  bloss 
negative »  attraktive  oder  kotitraktivc  sich  auf  einen  Punkt  zu- 
sammenziehen. Materielle  Raumerfiillung  kann  also  nur  im 
reellen  Konflikte  beider  Kraftarten  entstehen.  Eigentlich  sind 
beide  Kraftarten  unendlich  in  ihrer  Wirkungsfähigkeit  und 
wirken  in  die  Feme;  denn  die  Kräfte  sind  metaphysisch  ge- 
nommen nirgends,  phänomenal  genommen  aber  da,  wo  sie  wirken 
(d.  h.  überall).  Die  phänomenale  Fern  Wirkung  ist  also  meta- 
physisch erklärt  durch  die  unräumliche  Einheit  der  Kräfte  im 
Absoluten.  Die  Ani^iehung  wirkt  ins  Unendliche,  die  Abstossung 
aber  erhält  eine  Begrenztheit,  eine  zufällig  hinzugefügte  Schranke, 
durch  die  sie  nur  bei  der  Berührung  oder  doch  nur  innerhalb 
gewisser  Grenzen  (Molekularentfernungen)  wirksam  ist  Hierbei 
ist  teils  Kants  Lehre  von  der  Abstossung  als  Oberflächenkraft, 
teils  das  Schema  des  Magneten  massgebend,  nach  welchem  die 
vom  Nordpol  aus  wirkenden  beiden  Kräfte  sich  im  Südpol  die 
Grenze  der  ganzen  Kraftlinie  setzen  sollen, 

Schelling  denkt  bei  seiner  Konstruktion  niemals  an  die 
Wechselwirkung  gleicher  oder  entgegengesetzter  Kräfte  in  ver- 
schiedenen Dingen  oder  Monaden,  wie  die  Naturwissenschaft  es 
thut,  sondern  immer  nur  an  die  Wechselwirkung  einer  positiven 
und  einer  negativen  Kraft,  die  an  demselben  Punkte  ihren  ge- 
meinsamen phänomenalen  Sitz  haben,  insofern  dieser  eine  Punkt 
Ausgangspunkt  für  die  Abstossung  und  Zielpunkt  für  die  An- 
ziehung ist  Er  geht  dabei  von  der  ursprünglichen  Einheit  eines 
thätigcn  Subjekts  aus,  die  sich  erst  ftir  den  dynamischen  Prozess 
in  eine  positive  und  eine  negative  Tendenz  oder  Aktion  differcn- 

tziert  oder  polarisiert  hat,  und  hält  stets  den  Gesichtspunkt  fest. 
dass  diese  Konstruktion  der  Materie  nur  ein  subjektiv  phänome- 
naler Vorgang  im  Ich  ist,  dessen  Momente  sich  mit  der  positiven 
und  negativen  geistigen  Urthätigkeit  des  Ich  decken.     So  wenig 

^nach  den  Grundsätzen  des  transcendenlalen  Idealismus  eine  trans- 
cendente  Kausalität  möglich  sein  soll,  ebenso  wenig  eine  solche 
zwischen  verschiedenen  Kraftmonaden.  Mit  solcher  Beschränkung 
und  Isolierung  verliert  aber  der  Dynamismus  jeden  Wert,  weil 
aus  einem  einzigen  Kräftepaar  niemals  die  Materie  zu  konstruieren 
ist,  sondern  nur  aus  dem  Gegeneinanderwirken  vieler. 

Deshalb    sind    die   atomistisch   gegliederten    Kräfte    der  An- 
ziehung und  Abstossung  nur   »ideelle  Erklärungsgründe. ,  Denk- 
st 


ii6 


Scbcllitig. 


notwendigkeiten ,     deren    Gegenstände    hinter    dem    Bewiisstsein 

liegen,  also  nicht  reell  im  Sinne  der  »empirischen  Realität«  sind. 
Auch  ilire  Denknotwendigkeit  besteht  nur  unter  der  unwirklichen, 
ja  sogar  unmöglichen  Voraussetzung,  dass  die  Natur  ihre  Devo- 
lution oder  absteigende  Entwickelung  vom  Allorganismus  bis 
zum  Einfachen  fortgeführt  und  zu  Ende  gebracht  hätte.  Die 
einfachen  Aktionen  oder  Entelcchien  existieren  gar  nicht.  Vom 
Jahre  i8oi  an  giebt  deshalb  ScheUing  diese  ganze  dynamische 
Atomistik  preis,  und  ist  auch  später  auf  sie  nicht  zurück- 
gekommen ^  als  er  die  Naturphilosophie  auf  die  Monadenwelt  und 
ihre  aufsteigende  Entwickelung  umzudeuten  versucht,  wo  sie  doch 
gerade  die  tragende  Grundlage  des  ganzen  Baues  hätte  werden 
müssen. 

An  Stelle  der  intramonadischen  Anziehung  und  Abstossung 
tritt  in  der  zweiten  Hälfte  der  ersten  Periode  die  Gravitation 
oder  Schwere,  die  nun  nicht  mehr  als  identisch  mit  der  Attrak- 
tion, sondern  als  eine  dritte,  supraatom istische  Kraft  auftritt  und 
sich  in  intermonadischen  Erscheinungen  äussert  Von  Baader 
entlehnt  Schelling  einen  Begriff  der  Gravitation»  wonach  diese 
eine  Thätigkeit  ist,  durch  welche  ein  Centralkörper  die  zu  seinem 
System  gehörigen  Trabanten  in  dynamische  Beziehung  setzL 
Alle  Systeme  sind  zuletzt  durch  ein  gemeinsames  Gravitations- 
centrum der  Welt  in  dynamische  Beziehung  gesetzt.  Diese  Kraft 
ist  zum  ersten  Mal  eine  transitive,  wälircnd  die  Attraktion  und 
Repulsion  intransitive  sein  solken,  und  an  die  Stelle  des  atomis- 
tischen  Dynamismus  tritt  mit  ihr  ein  monistischer.  Die  allgemeine 
Schwere  soll  sowohl  die  ursprüngliche  Einheit  sein,  aus  welcher 
Anziehung  und  Abstossung  sich  hcrausdifferenziert  haben,  als 
auch  die  synthetische  Einheit,  durch  welche  und  in  welche  sie 
wieder  zusammen gefasst  werden;  sie  vertritt  also  die  ganze  Sphäre 
der  wägbaren  Materie,  wie  das  Licht  die  der  Imponderabihen,  und 
ist  hier  das  Band  der  Einheit,  wie  jenes  dort.  In  der  Schwere 
ist  das  Reale,  im  Licht  das  Ideale  im  Übergewicht,  in  der  Or- 
ganisation sind  beide  im  Gleichgewicht;  Schwere,  Licht  und 
Organismus  sind  darum  die  drei  Stufen  oder  Potenzen  der 
Natur.  Jedes  dieser  drei  5. Bändern  spiegelt  die  metaphysische 
Einheit  des  Absoluten   auf  der  betreffenden  Naturstufe  wider.  — 

In  seinem  Alter  hat  Schelling  selbst  zugestanden,  dass  seine 
Naturphilosophie  teils  aus  empirischen  Beobachtungen,   teils  aus 


Schelling. 


^«7 


Schlüssen  von  zweifelhaftem  Werte  bestehe,  und  hat  damit  den 
Anspruch  auf  apodiktische  Gewissheit  seiner  Konstruktionen 
fallen  lassen.  Völlig  unhaltbar  auf  dem  Boden  des  transcenden- 
talen  Idealismus  orgiebt  sie  doch  manches  Brauchbare,  wenn  sie 
im  Sinne  eines  transcendentalen  Realismus  umgedeutet  wird, 
nämlich  den  Begriff  der  Natur  als  eines  Allorganismus,  den  Pan- 
psychismus,  der  die  Seele  allein  als  bewegendes  Princip  in  ihm 
gelten  lässt,  die  Verllüchtigung  der  trägen,  kraftlosen  Stuffmasse 
zu  einem  blossen  Nichts,  die  unbewusste  Teleologie  als  Princip 
der  Biologie  und  den  atomistischen  Dynamismus  als  innere  funk- 
tionelle Mann  igt  altigkeit  eines  monistischen  Dynamismus.  Die 
Gliederung  der  Natur  bei  Schelling  wird  durch  folgende  tabel- 
larische Übersicht  verdeutlicht,     (Siehe  Seite   118-)  — 

Über  den  Kategorien  stehen  die  Principien,  In  der  ersten 
Hälfte  der  ersten  Periode  betrachtet  Schelling  die  Thätigkeit  als 
das  letzte;  da  können  auch  die  Principien  nur  als  Thätigkeiten 
igefasst  werden,  und  diese  haben  hier  noch  nicht  einmal  die  Be- 
rzeichnung  Prineipien*  erhalten.  In  der  zweiten  Hälfte  der  ersten 
Periode  iiieht  die  Eine  Urthätigkeit  sich  in  die  Identität  von 
Thätigkeit  und  Ruhe  zurück;  da  werden  die  Principien  zu 
ewigen  idealen  Momenten  der  absoluten  Identität  oder  zu  den 
ihr  immanenten  Keimen  einer  eventuellen  Differenzierung. 

Die  Urthätigkeit  oder  Produktivität  ist  das  Sein  selbst;  nicht 
sie  ist  zu  erklären,  sondern  das  Seiende  als  ihr  Produkt  Sie  ist 
zu  denken  als  eine  Expansion  ins  Unbestimmte,  die  zugleich 
Repulsion  ist,  etwa  nach  Aj-t  der  sphärischen  Ausbreitung  eines 
komprimiert  gewesenen  Gases  oder  einer  Lichtvvelle  aus  einem 
Lichtquell.  Deshalb  nennt  Schelling  sie  die  thetis(^he  <»der  posi- 
tive Thätigkeit,  und  denkt  als  ihren  Ausgangspunkt  das  Ich  oder 
das  noch  seiner  unbew^usste  Subjekt  des  Erkenntnisprozesses.  Da 
diese  Thätigkeit  ins  Unbestimmte  geht,  so  wird  durch  sie  nichts 
bestimmt;  wohl  aber  ist  diese  nichts  bestimmende  Thätigkeit  be- 
stimmbar, wenn  eine  entgegengesetzt  gerichtete  Thätigkeit  ihr 
Schranken  setzt  Diese  zweite,  negative,  antithetische,  kontrak- 
tive»  attraktive,  hemmende  und  rezeptive  Thätigkeit  ist  bestim- 
mend, aber  nicht  bestimmbar,  sie  wirkt  als  ein  hemmender  Im- 
puls von  demselben  Centrum,  dem  Ich,  aus  und  bringt  die 
Expansion  ins  Unbestimmte  zum  zeitweiligen  Stillstand.  Das  so 
filr  eine  gewisse  Dauer  fixierte  Produkt   erst  ist  das  Seiende  im 


ii8 


Sctielling. 


Natura  natarans  absoluta 
oder  absolutes  All 


Natura  naturans  idealis 

oder  ideales  All 

oder  System  der  Ideen 


Natura  naturans  realis 

oder  reales  All 
oder  Allorganismus 


Relativ  ideale  Seite: 
We  1 1  s  e  e  1  e 


Relativ  reale  Seite: 

unräumlicher  All-Leib 

oder  unkörperlicher  Weltkörperbau 


Imponderabilien 


polarische :  unpolarische : 

Magnetismus  Licht-  und 

Elektrizität  Wärme -Äther 

Chemismus  (Licht) 


Wägbare    Materie 

atomistischer  Dyua- 

mismus,  später 

Schwere. 


Unorganische  Natur 


Organische  Natur 
Th.  I :  Produktivität 
Th.  2:  Rezeptive  Sensibilität 
Th.  3 :  Reflektorische  Reagi- 
bilität  oder  Irritabilität 


Natura  naturata  idealis 

oder  Geisterreich  oder 

geistige  Monadenwelt 


Natura  naturata  realis 
oder  subjektiv  phänomenale,  sinnlich- 
stoffliche Erscheinungswelt 


Welt  der  vollständigen  Monaden  (mit 

Seele  und  Leib)  oder  psychophysischen 

Individuen 


Schclling. 


objektiven  Sinne,  wie  der  Magnet  nach  Schelling  die  Begrenzung 
der  vom  Nordpol  ausgehenden  Kraft  am  Südpol  durch  die  eben- 
falls vom  Nordpol  ausgehende  Kraft  der  Hemmung  ist. 

Die  ursprüngliche  Thätigkeit  ist  Wollen  als  blinde  unbcwusste 
Thätigkeit,  ein  Wollen,  das  erst  der  Bestimmung  und  Begrenzung 
durch  die  zweite,  antithetische  Thätigkeit  harrt.  Nur  das  bereits 
bestimmte,  autonome  Wollen  ist  Quelle  des  Selbstbewusstscins 
und  gemeinsames  Princip  des  Erkennens  und  Handelns;  aber  so 
ist  es  immer  schon  Zusammenwirken  der  bestimmbaren  und  der 
bestimmenden  Intellektiialfunktinn.  Die  zweite  Tliätigkeit  ist 
Anschauen,  da  Begreir/.en  und  Anschauen  Eins  sind;  genauer  ist 
sie  das  unbegrenzbare  Streben,  sich  in  der  begrenzbaren  Thätig- 
keit anzuschauen.  Sie  steht  deshalb  der  ersten  Thätigkeit  gegen- 
über wie  das  Anschauen  dem  Wollen,  wie  das  Ideelle  dem 
Reellen»  wie  das  Denken  dem  Sein,  wie  der  auffassende  Gedanke 
der  stofFHchen  Emanation,  oder  in  einem  gröberen  Bilde,  wie  das 
Dünne  und  Leere  dem  Dicken  und  Vollen.  Fichte  nannte  gerade 
die  erste  Thätigkeit  ideal  und  subjektiv»  weil  sie  nicht  nur 
schlechthin  intellektuell  ist,  sondern  auch  aus  sich  die  ideale  sitt- 
hche  Weltordnung  entfaltet  und  vom  Subjekt  ausgeht;  ScheUing 
nennt  sie  real  und  objektiv,  weil  er  nicht  auf  ihren  Ausgangs- 
punkt und  ihre  eigene  BeschaflFenheit,  sondern  ayf  ilirc  produktive 
Leistung,  ihr  Ziel  oder  Produkt  blickt  Fichte  nannte  die  zweite 
Thätigkeit  objektiv  oder  rea!,  weil  sie  erst  durch  ihre  Begrenzung 
der  unendlichen  Produktivität  ein  Objekt  setzt  und  eine  Realität 
fixiert;  ScheUing  nennt  sie  ideal  und  subjektiv,  weil  er  An- 
schauen und  Begrenzen  gleichsetzt  und  die  mit  ihr  hinzu- 
kommende Anschauungstendenz  als  subjektiv  bezeichnet  Bei 
Fichte  war  es  die  zweite  Thätigkeit»  bei  Schelling  ist  es  die 
erste,  die  als  reales  Objekt  angeschaut  wird. 

Die  tlietische  und  die  antithetische  Thätigkeit  sind  beide 
Momente  der  absoluten  Urthätigkeit ,  beide  ideelle  Intellektual- 
funktionen  oder  Differenzierungen  des  unendlichen  Erkennens. 
Die  ursprüngliche  Produktivität  ist  die  Identität,  die  sich  in  dem 
Widerstreit  der  beiden  ThäLigkeiten  in  die  Duplizität  spaltet. 
Die  thetische  Thätigkeit  fliegst  bei  Schelling  zunächst  noch  eben- 
so wie  bei  Fichte  mit  der  absoluten  Urthätigkeit  als  der  un- 
differenzierten Emheit  zusammen  und  hebt  sich  erst  in  der 
2weiten   Hälfte    der   ersten  Periode    deuthcher   von   ihr  ab.     Der 


1 20  Schelling. 

Gegensatz  von  Wollen  und  Anschauen  wird  zwar  als  ein  (phäno- 
menal-) reeller,  aber  doch  als  der  Gegensatz  zweier  gleich  ideellen 
Intellektualfunktionen  aufgefasst;  das  Wollen  ist  hier  durchaus 
nur  als  erste  Bethätigung  der  Vernunft  zu  verstehen,  die  schon 
praktisch  auftritt,  aber  noch  der  Selbstbesinnung  crmangelt. 

Ursprünglich  sind  beide  Thätigkeiten  ebenso  unendlich  wie 
ideell.  Die  erste  Thätigkeit  überschreitet  deshalb  mit  ihrer  ex- 
pansiven Tendenz  jede  (Jrenze,  die  ihr  zeitweilig  von  der  zweiten 
gezogen  wird;  die  zweite  aber  folgt  ihr  bei  jeder  Grenzüber- 
schreitung nach  und  setzt  ihr  eine  neue  Grenze.  Zu  ihnen  kommt 
dann  die  dritte  oder  synthetische  Thätigkeit  hinzu,  welche  keinen 
neuen  Inhalt  beibringt,  sondern  nur  den  fixierten  Streit  beider 
oder  ihr  zeitweiliges  Gleichgewicht  zusammenfassend  zum  Be- 
wusstsein  bringt.  Sie  erst  fügt  zum  Reellen  und  Ideellen  die 
Form  des  Bewusstseins  hinzu;  sie  erst  ist  die  bewusst  an- 
schauende, oder  ihrer  Anschauung  sich  bewusste  Thätigkeit. 
Erst  mit  ihr  beginnt  das  Selbstbewusstsein  oder  das  Ich  in  der 
einzigen  ihm  rechtmässig  zukommenden  Bedeutung  als  em- 
pirisches Ich.  Die  zweite  Thätigkeit  ist  die  gegen  die  reelle  ge- 
richtete ideale  oder  Anschauen,  die  dritte  ist  die  gegen  sich 
selbst  gerichtete  ideale  Thätigkeit,  oder  Anschauen  des  An- 
schauens.  Die  ideale  Thätigkeit  begrenzt  die  reelle  zum  Objekt, 
sich  selbst  aber  zum  Ding  an  sich;  so  sind  beide  für  die  philo- 
sophische Betrachtung  verschieden,  während  sie  für  das  naive 
Bewusstsein  identisch  sind,  auch  von  Fichte  im  Nicht- Ich  ver- 
schmolzen werden. 

Dem  gegenüber  ist  zu  bemerken,  dass  die  drei  Thätigkeiten 
als  Vorgänge  innerhalb  einer  monadischen  Intelligenz  auf  keine 
Weise  weder  ein  Nicht-Ich,  noch  ein  Ding  an  sich  liefern  können, 
als  supraindividuelle  Vorgänge  im  Absoluten  aber  nur  dann,  wenn 
eine  transcendente  Kausalität  zwischen  Thätigkeiten  stattfindet, 
die  verschiedenen  Monaden  oder  Individuen  angehören.  Ein 
intraindividueller  Intellektualprozess  kann  nie  über  das  Objekt 
hinausführen,  das  als  Bewusstseinsinhalt  innerhalb  der  Sphäre  des 
empirischen  Ich  verbleibt.  Wenn  das  empirische  Ich  das  einzig 
mögliche,  und  dieses  erst  das  Produkt  oder  Kompositum  der  drei 
Thätigkeiten  ist,  dann  gehören  zwar  die  betreffenden  Thätigkeiten 
derjenigen  monadischen  Funktionengruppe  an,  die  gerade  dieses 
Individualich   hervorbringt;    aber   sie   dürfen   nicht   als  Attribute 


Schelling. 


121 


an  ihrem  Produkt,  nicht  a|s  Folgen  des  Ich,  und  das  Ich  nicht 
wieder  als  die  ihnen  zu  Grunde  hegende  Substanz  behandelt 
werden.  Gleichwohl  thiit  Schelling  dies  häufig  und  fällt  damit 
In  den  von  ihm  an  Fichte  so  streng  gerügten  Fehler  der  Ver- 
wechsehmg  des  empirischen  und  absoluten  Ich  zurück.  Nur  das 
absolute  Ich  ist  der  absolut  unbewussten  Urthätigkeit  oder  Ur- 
produktivität  gleichzusetzen,  die  der  Grund  und  Quell  der  drei 
Thätigkeiten  ist,  nicht  aber  das  empirische  Ich  oder  Selbst- 
bewusstsein. 

Wir  haboti  somit  in  der  ersten  Hälfte  der  ersten  Periode 
\'ier  Principien  zu  unterscheiden:  i,  die  noch  undifterenziertc  Ur- 
thätigkeit als  reine  Identität  (Th,  o),  2.  die  thetische,  positive, 
reelle»  objektive,  produktive,  expansive,  repulsive,  bestimmbare, 
begrenzbare,  blinde,  bewusstlose,  wollende,  notwendige  Thäügkeit 
(Th,  i),  3.  die  antithetische,  negative,  ideelle,  subjektive,  rezeptive, 
kontraktive,  bestimmende,  begrenzende,  anschauende,  freie  Thätig- 
keit  (Th.  2),  4.  die  synthetische,  bewusste,  das  Anschaoen  an- 
schauende Thätigkeit  (Th.  3).  — 

In  der  zweiten  Hälfte  der  ersten  Periode  rückt  der  Schwer- 
punkt auf  die  ursprüngliche  Identität  der  Thätigkeiten  (Th,  o) 
hinüber;  daher  heisst  sie  mit  Recht  Identitätsphilosophie.  Die 
(ursprüngliche)  Einheit,  der  zweigliedrige  Gegensatz  und  die 
wiederherge,stellte  (Verknüpfungs-)  Einheit  bilden  nun  die  drei 
höchsten  VernunftbegriffH  und  iieissen  zusammengenommen  die 
{synthetische)  Einheit  der  (ursprünglichen)  Einheit  und  des  Gegen- 
satzes. Die  ursprüngliche  Einheit  heisst  in  der  ersten  Periode 
»absolute  Identität-,  die  synthetische  Einheit  *  Indifferenz:  oder 
»Identität-  schlechtweg  (in  der  zweiten  Periode  heisst  die  ur- 
sprüngliche Einheit  Indifferenz^t ,  die  synthetische  >Identität^). 
Die  ursprüngliche  Einheit  oder  absolute  Identität  ist  das  schlecht- 
hin reale  Existierende,  ausser  dem  nichts  real  ist;  sie  ist  das  X, 
das  im  Gegensatze  sich  in  A  und  B  spaltet,  um  auf  Grund  des 
X  in  A  und  des  X  in  B  auch  dasjenige  zur  synthetischen  Ein- 
heit zu  führen,  was  in  A  und  B  nicht  X  ist  Die  synthetische 
Einheit  ist  nicht  Einerleiheit.  sondern  Nexus,  organische  Einheit, 
Vereinigung  von  Gliedern,  die  zu  Einem  Wesen  (X)  zugehörig 
sind.  Dass  das  mathematische  Gleichheitszeichen  nicht  geeignet 
ist,  diese  Verknüpfung  auszudrücken,  hat  Schelling  später  ein- 
gesehen,   aber    nicht,    dass    die    grammatische    Kopula    ebenso- 


122 


Sdhelling. 


wenig  dazu  geeignet  ist  Auch  dass  das  Wort  Identität  falsch 
angewendet  ist  zur  Bezeichnung  einer  Einheit,  ist  ihm  nicht 
eingefallen. 

Das  vollständige  Absolute  ist  erst  die  Einheit  der  Einheit 
und  des  Gegensatzes;  das  implicite  Absolute  vor  seiner  Entfaltung 
in  die  drei  Principien,  das  Absolute  schlechthin,  was  von  sich 
selbst  und  durch  sich  selbst  ist,  ist  die  ursprüngliche  Einheit  oder 
absolute  Identität,  Letztere  ist  demnach  die  substantielle  oder 
wesentliche  Einheit,  die  über  numerischer  Einheit  und  Vielheit 
steht  und  in  jeder  der  vielen  Monaden  ganz  und  ungeteilt  ist 
(d.  h,  die  absolute  Substanz  im  Spinozistischen  Sinne  des  Wortes). 
Denken  (bewusstes  Erkennen)  und  Sein  (objektiv  reales  Dasein) 
sind  nur  Reflexe  des  Absoluten  in  den  Gegensatzgliedern,  dem 
Idealen  und  Realen  oder  der  Form  und  dem  Wesen,  gehören 
also  der  absoluten  Identität  als  solchen  nicht  an.  Diese  ist  viel- 
mehr das  über  dem  Gegensatze  des  Idealen  und  Realen  stehende 
absolut  Ideale,  das  zugleich  das  einzige  absolut  Reale  ist,  oder 
das  über  dem  Gegensatze  von  Form  und  Wesen  stehende  abso- 
lute Wesen.  Aus  der  Fülle  ihrer  Absolutheit  fliesst  ohne  ihr 
Zuthun  als  eine  bloss  ideale  Folge  die  Thätigkeit  ab,  die  gleich 
der  tiefsten  Ruhe  ist.  Diese  Thätigkeit  ist  zunächst  Einbildung 
des  (übergegensätzlichen)  Wesens  in  die  Form,  der  Übergang 
von  der  Einheit  oder  dem  Centrum  zur  Vielheit  oder  der  Peri- 
pherie, d.  h.  Sein  als  Produktivität,  und  ihr  Ergebnis  die  reale 
Welt  oder  Natur  oder  das  Reale.  Die  andere,  ihr  gegenüber- 
stehende Thätigkeit  ist  die  Wiedereinbildung  der  Form  in  das 
Wesen,  die  Rückkehr  von  der  Vielheit  oder  Peripherie  zur  Ein- 
heit oder  zum  Centrum,  d.  h.  Wissen  oder  Erkennen,  und  ihr 
Ergebnis  ist  die  ideale  oder  geistige  Welt 

Das  Wesen  ist  das  Allgemeine,  der  Begriff,  das  Innere;  die 
Form  dagegen  ist  das  Besondere»  die  besondere  ideelle  Bestim- 
mung, das  Princip  der  Absonderung  und  Unterscheidung,  die 
Gestalt »  das  Äussere.  Wenn  die  ursprüngliche  Einheit  mler  ab- 
solute Identität  der  Urthätigkeit  (Th.  o)  entspricht,  so  führt  die 
thetische  reale  Thätigkeit  (Th.  i)  vom  Wesen  als  Ausgangspunkt 
zur  Form  als  Zielpunkt,  die  antithetische,  ideale  Thätigkeit  (Th.  2) 
von  der  Form  als  Ausgangspunkt  zum  Wesen  als  Zielpunkt  Bei 
dieser  Wechselbeziehung,  aus  der  das  Reale  und  Ideale  ent- 
springt ,  soll   das  Wesen  bloss   Grund ,   Idealgrund  oder  Möglich- 


ScbcUing. 


123 


keit  von  Realität,  die  Form  aber  die  positive  Ursache,  der  Real- 
grund oder  die  Wirklichkeit  der  Realität  sein.  Beides  sind  ideale 
PVincipicn,  aus  deren  Zusammentreffen  die  Realität  entspringen 
soll;  aber  nur  noch  die  eine  der  beiden  Thätigkeiten  geht  dem 
Realen  voran,  die  andere  folgt  ihm  nach  und  von  einer  Kollision 
dieser  Thätigkeiten  kann  nun  nicht  mehr  die  Rede  sein.  Wesen 
und  Form  geben  gleichsam  die  zwei  idealen  Richte ngspankte 
ab,  durch  Beziehung  auf  welche  bald  in  diesem,  bald  in  jenem 
Sinne  die  eine  Urthätigkeit  imstande  ist,  sich  in  zwei  entgegen- 
gesetzte Thätigkeiten  zu  spalten.  Wesen  und  Form  stellen  sich 
somit  als  die  zwei  Principien  dar,  die  der  Einheit  implicite  und 
latenter  Weise  als  Keim  für  die  Duplizität  der  eventuellen  Thätig- 
keit  immanent  sind.  — 

Die  dritte  synthetische  Thätigkeit  wird  bei  dieser  Umwand- 
lung zu  dem  Bande  der  Verknüpfung  oder  der  Kopula  zwischen 
Wesen  und  Form  als  Gegensatzgliedern  und  heisst  als  solches 
Vernunft,  Urvernunft,  Xoyo*^,  Wort  (auch  die  Ewigkeit);  wird  aber 
darauf  reflektiert »  dass  die  Verknüpfungseinheit  nicht  bloss  das 
verknüpfende  Band  ist,  sondern  auch  die  Verknüpften  einschlicsst, 
also  das  Absolute  in  seiner  Vollständigkeit  darstellt,  dann  heisst 
sie  die  Idee  (oder  auch  das  Ewige).  Dieser  Unterschied  zwischen 
Vernunft  und  Idee  wird  aber  nicht  streng  festgehalten,  sondern 
die  Ausdrücke  fliessen  öfters  durcheinander,  ebenso  w^ie  auch 
Wesen  und  Form  häufig  statt  der  Richtungspunkte  die  zwischen 
ihnen  hin  und  her  spielenden  Thätigkeiten  bezeichnen. 

Die  Vernunft  ist  nicht  die  abstrakt  diskursive  der  mensch- 
lichen Vernunft,  sondern  die  objektive  oder  vielmehr  absolute 
(intuitive)  Vernunft,  von  der  die  Reflexionsmenschen  keine 
Ahnung  haben.  Sie  ist  die  erste  Synthesis,  aus  der  alles,  die 
reale  und  die  ideale  Welt  entspringt,  das  völlige  fjrleicl  ige  wicht 
des  Subjektiven  und  Objektiven,  die  unendliche  Erkenntnis,  die 
Gott  von  sich  selbst  hat,  d.  h.  die  intellektuelle  Anschauung  des 
Absoluten  im  Absoluten.  Da  nun  aber  das  verknüpfende  Band 
desjenigen  in  den  Gegensatzgliedern  A  und  B,  was  nicht  X  ist, 
doch  wieder  nichts  weiter  ist  als  das  X,  das  in  ihnen  beiden  das 
Seiende  ist,  so  ist  eigentlich  schon  dieses  X,  die  ursprüngliche 
Einheit  oder  absolute  Identität,  das  Absolute  an  sich  und  vor 
sich  selbst,  die  Vemimft,  so  dass  die  Vernunft  alles  und  ausser 
ihr  nichts  ist     Dieser  Gesichtspunkt  ist  es,   der  von  Hegel  auf- 


124  Schclling. 

gegriflfen  und  systematisch  durchgeführt  wurde:  als  leeres 
Formalprincip  ist  das  Absolute  Vernunft,  in  seiner  selbstgesetzten 
Erfüllung  ist  es  Idee. 

Die  Idee,  das  vollständige  Absolute,  ist  ihrer  Natur  nach 
nur  Eine,  nämlich  die  des  Ewigen,  oder  der  ewige  Begriff  als 
Einheit  des  unendlichen  und  endlichen  Begriffes,  oder  des  Be- 
griffs und  der  Anschauung.  Das  Absolute  ist  dasjenige,  welches 
unmittelbar  durch  seine  Idee  auch  ist,  das  kein  Sein  und  keine 
Realität  hat  ausser  seinem  Sein  als  Idee  und  seiner  abso- 
luten Idealität.  So  erneuert  der  absolute  metaphysische  Idealis- 
mus den  ontologischen  Beweis  a  priori,  der  mit  seiner  Wahrheit 
steht  und  fällt. 

Die  zur  Einen  Idee  konkreszierte  Vernunft  ist  Gott  oder  das 
absolute  All  als  die  Identität  des  idealen  und  realen  All. 
Keinerlei  Differenz  ist  im  absoluten  All  denkbar,  nur  im  Nicht- 
wesen  (Schein)  als  negierte  in  Bezug  auf  das  All  ist  sie  denkbar, 
also  als  relatives  Nichtsein  des  Besonderen  im  All,  das  der  Keim 
der  gesamten  Endlichkeit  ist.  Die  Eine  absolute  Idee  umspannt 
alles  wSein,  und  edles  ist  im  wahrhaften  Sinne  nur  so,  wie  es  in 
der  Einen  Idee  ist.  Alles  andere,  was  ausser  der  Idee  ist,  oder 
sofern  es  ausser  der  Idee  ist,  hat  kein  Sein,  sondern  ist  blosser 
Schein.  Selbst  die  Vielheit  der  Sonderideen  und  ihre  besondere 
Bestimmtheit,  z.  B.  das,  was  die  Idee  zur  Idee  der  Pflanze 
macht,  ist  nichts  an  sich,  ist  nicht  substantiell  und  nicht  reell  im 
höheren  Sinne  dieser  Worte,  sondern  bloss  ein  Schematismus 
der  Einbildungskraft  für  eine  untergeordnete  Reflexion.  Durch 
Symbolisierung  in  den  Dingen  werden  die  Ideen,  die  an  sich 
Formen  des  Erkennens  sind,  zu  Formen  des  Seins  ertötet,  wie 
auch  die  plastische  Kunst  ihre  Ideen  tötet,  um  ihnen  Objektivität 
zu  geben. 

Danach  wäre  alles  Besondere,  alle  Unterschiede,  selbst  die 
der  vielen  Teilideen  und  der  der  geistigen  und  natürlichen  Welt 
von  einander,  blosser  Schein  der  Imagination,  eine  rein  subjektive 
Illusion;  das  Absolute  bliebe  als  starre,  unbewegliche,  nichts  be- 
wegende, einfache  Einheit  stehen,  und  eine  wirkliche  Selbst- 
differenzierung desselben  wäre  damit  ausgeschlossen.  Diesem 
akosmistischen  Illusionismus  will  aber  der  abstrakte  Monismus 
der  Identitätsphilosophie  sich  doch  nicht  hingeben,  so  nahe  er 
ihn    auch    streift,    und    so    unentrinnbar    diese    Konsequenz    ist. 


Schellin^* 


t^5 


Schelling-  springt  von  der  Einen  Idee  zu  den  vielen  Ideen  hin- 
über, indem  er  behauptet,  Gott  sei  auf  unendliche  Weise  die 
Affirmation  seiner  selbst  oder  die  unendliche  Position  von  un- 
endlichen Positionen,  oder  die  Zeugung  ewiger  Gegenbilder.  Er 
bemerkt  aber  nicht,  dass  er  damit  schon  aus  der  wahren  Unend- 
lichkeit in  die  falsche,  von  ihm  perhorreszierte ,  hinübergleitet, 
gerade  wie  Spinoza  mit  der  Annahme  unendlich  vieler  Attribute 
Gottes.  Von  einer  einfachen  Einheit  aus  lässt  sich  niclit  weiter 
kommen»  und  ein  Absolutes»  das  bloss  Vernunft  ist,  kann  niemals 
einen  vernünftigen  Grund  haben,  seine  Einheit  in  eine  Vielheit 
zu  zerspalten. 

Wir  haben  in  der  Identitätsphilosophie  als  vier  Principien  im 
Absoluten  zu  unterscheiden r  i.  Die  absolute  Identität  oder  das 
absolut  Ideale  oder  das  Wesen  an  sich  {Pr.  o),  2.  die  beiden 
Glieder  des  Gegensatzes,  Wesen  (Pr,  i)  und  Form  (Pr*  2),  3.  die 
Idee  (Pr.  3)  oder  den  ewigen  Begriff  oder  das  Ewige  als  syn- 
thetische Einheit  der  ursprünglichen  Einheit  und  des  Gegen- 
satzes» vi^obei  die  Vernunft  die  Rolle  des  verknüpfenden  Einlieits- 
bandes  spielt  — 

Das  Problem,  wie  sich  das  Individuum  zum  Absoluten 
verhält,  hat  Schelling  in  allen  Phasen  seiner  Entwickelung  be- 
schäftigt. Von  den  drei  Begrenztheiten,  die  er  im  r. System  des 
transcendentalen  Idealismus^^  aufstellt,  ist  offenbar  die  dritte,  der 
singulare  Leib,  die  wichtigste,  und  kann  so  gedeutet  werden» 
dass  sie  die  beiden  anderen  {Endlichkeit  überhaupt  und  Ein- 
gliederung in  einen  bestimmten  Zeitpunkt  der  Zeitreihe)  mit  um- 
st.  Dcmgcmäss  machen  erst  Leib  und  Seele  zusammen  die 
lonas  completa  oder  substantia  completa  oder  das  Individuum 
aus,  innerhalb  dessen  sie  die  beiden  Seiten  des  Realen  und 
Idealen  darstellen.  Als  Begriff  des  Leibes  oder  idca  corporis  ist 
die  Seele  gleich  nichtig  und  ilhisorisch  wie  der  Leib;  nur  als 
Idee  hat  sie  ihr  wahres  Leben  im  Absoluten.  Als  Begriff  des 
Leibes  gehört  sie  zu  einem  Modus  des  unendlichen  Erkennens» 
als  Idee  ist  sie  das  supraiodividuelle  unendliche  Erkennen  selbst, 
Begriff  der  Seele  oder  idea  ideae  corporis.  Wenn  der  Leib  oder 
die  Seele  zu  handeln  scheint,  so  handelt  in  ihnen  und  durch  sie 
das  Absolute,  und  zur  scheinbaren  Handlung  dieser  Individual- 
seele  wird  die  Handlung  nur  dadurch,  diiss  sie  von  dieser  ge- 
wusst   w^ird,  d.h.  dass  sie  in  die  Sphäre  dieses  empirischen  Be- 


126 


Schcliintj. 


wusstseins  fällt.  Bei  Spinoza  ist  die  idea  idcae  Bewusstseins- 
princip,  also  individuell»  bei  Sohelliiig  Idee  im  Absoluten  oder 
supraindividuelles,  unendliches,  unbewusstes  Erkennen.  Schelling 
bemerkt  nicht,  dass  beide  Deutungen  sich  ausschhessen ,  und 
sucht  sie  beide  fest  zu  halten. 

Hiermit  sind  die  Individuen  samt  allem  ihrem  Vorstellen  und 
lliun  zu  unwahrem  Schein  verflüchtigt.  Was  wahrhaft  ist,  ist 
nur  die  Eine  absolute  Idee,  und  schon  die  einzelnen  Spezialideen 
sind  in  ihrer  Besonderung  nicht  wahrhaft.  Aber  wären  auch  sie 
noch,  so  ist  doch  nicht  abzusehen,  wie  sie  dazu  kommen,  sich  zu 
Individuen  zu  verendlichen,  ihre  Rehitionslosigkeit  unter  einander 
aufzugeben  und  sich  unter  Relationen  zu  stellen.  Die  verendlichte, 
unter  Relationen  gestellte  Idee  oder  das  Individualich  bezeichnet 
so  den  äussersten  Punkt  der  Gottesferne  und  Entfremdung  vom 
Centrum;  ihre  Vielheit  besteht  ebenso  sehr  bloss  in  der  Imagina- 
tion, wie  ihre  Freiheit,  Persönlichkeit,  zeitliche  individuelle  Un- 
sterbhchkeit  u.  s.  w.  Die  Individuation  ist  im  Akosmismus  unter- 
gegangen; aber  das  Problem  bleibt  bestehen:  woher  kommt 
innerhalb  des  abstrakten  Monismus  der  nichtige,  trügerische 
Schein  einer  Vielheit  realer  Individuen?  Wie  ist  es  möglich,  dass 
die  Idee  von  sich  selbst  abfällt,  um  sich  unter  den  Schein  vieler 
endlicher  Individuen  und  ihrer  nichtigen  Relationen  zu  stellen? 
Aus  dem  Einen,  Ewigen,  Unendlichen  kann  er  nicht  herkommen, 
da  dieses  nicht  von  sich  selbst  abfallen  kann;  wo  anders  soll  da 
die  Quelle  des  Abfalls  und  des  Scheins  gesucht  werden,  als  in 
den  Individuen  selbst?  Das  Absolute  mag  den  Abfall  zulassen, 
damit  die  endlichen  Individuen  als  solche,  die  ein  selbständiges 
Leben  in  sich  heiben,  versöhnt  zu  ihm  zurückkehren  und  dann 
ewig  in  ihm  seien;  aber  ausgehen  kann  die  Gottentfremdung 
nicht  von  ihm,  sondern  nur  von  den  Individuen.  Die  Entfrem- 
dung kann  auch  nicht,  wie  in  den  Emanationssystemen,  als  eine 
allmähliche,  stufenweise  oder  stetige  Verminderung  des  GöttUchen 
gedacht  werden,  sondern  nur  als  ein  plötzliches  Abbrechen,  ein 
einmaliger  Sprung,  in  welchem  das  Individuelle  durch  eine  centri- 
fugale  Tendenz  sich  von  dem  Allgemeinen  losreisst,  um  ein 
eigenes  selbständiges  Leben  in  sich  mit  selbständigem  Centrum 
zu  gewinnen, 

Dass  hierin  ein  Widerspruch  Hegt,  dass  unmöglich  das  Indi- 
viduum  sich  losreissen    kann,  bevor   es   existiert,   und   wenn    es 


Schelltng. 


127 


schon  existiert,  nicht  mehr  nötig  hat,  sich  durch  Losreissung  die 
Existenz  zu  geben,  ist  Schelling  nicht  deutlich  geworden;  sonst 
hätte  er  diese  ganze  Theorie  der  Individuation  durch  Abfeil  der 
Individuen  beiseite  schieben  müssen.  Er  hat  sich  nur  mit  der 
sekundären  Frage  beschäftigt,  wie  (bei  Voraussetzung  der 
Existenz  des  Individuums  vor  seiner  Existenz)  die  Beschaffenheit 
des  Individuums  gedacht  werden  müsse »  damit  es  fähig  sei,  sich 
vom  Centrum  los  zu  rcissen.  So  fuhrt  das  Problem  der  Indivi- 
duation zu  dem  der  Freiheit,  — 

Anfanglich  hatte  ScheUing  unter  Freiheit  nur  Aktivität  im 
Gegensatz  zu  passivem  Quietismus  verstanden;  dann  hatte  er  die 
absolute,  unbcwusste  Freiheit  des  absoluten  Ich  und  die  bewusste 
transcendentale  Freiheit  des  empirischen  Ich  oder  die  Willkür 
unterschieden  und  unter  letzterer  die  Erscheinung  des  absoluten 
Willens  unter  den  Schranken  der  Endlichkeit  verstanden.  Weiter- 
liin  waren  ihm  dann  aber  diese  beiden  Arten  der  Freiheit  unter 
der  Hand  zerronnen,  und  zwar  die  absolute  darum,  weil  die 
absolute  Thätigkeit  ebenso  über  der  Freiheit  wue  über  der  Not- 
wendigkeit steht  und  der  Grund  für  die  prästabilierte  Harmonie 
beider  in  den  Individuen  ist,  die  bewusste,  transcendentale,  indi- 
viduelle darum,  weil  sie  doch  wieder  in  unbewusster  Weise  durch 
jene  prästabilierte  Harmonie  prädeterminiert  ist.  In  der  Identitäts- 
philosophie sinkt  die  Willkür  von  der  sittlichen  Freiheit  zur  Sünde 
herab,  weil  sie  darin  besteht,  das  Nichtige  als  Realität  zu  er- 
greifen; frei  heisst  jetzt  nur  noch  dasjenige  Handeln  Gottes  durch 
das  Individuum,  welches  wissentlich  aus  adäquaten  Ideen  folgt. 
Hiernach  unterscheidet  das  freie  Handeln  sich  vom  unfreien  nicht 
mehr  durch  ihre  Quelle  oder  die  Art  ihrer  Motivation,  sondern 
lur  noch  durch  das  Vorhandensein  einer  sie  begleitenden  Re- 
flexion des  wissenden  Be\vT.isstseins;  sie  ist  das  Wissen  von  dem 
aus  Gott  Stammen  des  scheinbar  eigenen  gottgemässen  Handelns, 
also  als  individuelle  eine  Scheinfreiheit,  und  selbst  das  nur  zum 
rGuten,    nicht    zum    gottwidrigen    und   der   Idee   unangemessenen 

BD.  Die  zum  Losreissen  von  Gott  erforderliche  Freiheit 
musste  aber  eine  wirkliche  individuelle  Freiheit  zum  Bösen  oder 
zum  Sündenfall  sein. 

So  wurde  Schelling  durch  das  Individuations-  und  Freiheits- 
problem dazu  gedrängt,  seine  Principienlehre  und  Kategorien- 
lehrc  zu  revidieren.    Denn  wenn  es  der  Wille  sein  musste,  der 


128 


Solgcr. 


dem   Individimm    die   Fähigkeit    zum   Abfall   verlidi,   so    mussten ' 
die  Individuen   als  ebensoviel   Individuahvillcn  angesehen  werden, 
die  von  einem  Urvvillen  unifasst  wurden,  und  niusste  demgemäss 
der  Wille   auch   im    Absoluten   eine   gesteigerte    und   veränderte 
Bedeutung  gewinnen.*)  — 

Von  Anhängern  Schellings  aus  seiner  ersten  Periode  sind 
der  Ästhetiker  Solgcr»  der  Metaphysiker  Johann  Jaknb  Wagner, 
und  die  Naturphilosophen  Oken,  Schubert  und  Planck  hervor- 
zuheben. 

Solger  {1780 — 1819)  identifiziert  göttliches  Wesen  und  Natur, 
göttliches  Wesen    und    Dasein,  Wesen    und    Thütigkeit,   Denken 
und  Schaffen,  schaflcndc  Thätigkeit  und  Geschaffenes,  Produzieren 
und  Produkt.     Er  leugnet  die  Transcendenz  und  Persönlichkeit 
Gottes  und  behauptet,  dass  er  ohne  Offenbarung  auch  sich  selbst 
unerkennbar   sein   würde.     Gottes  Bewusstscin   oder  Subjekt- Ob- 
jektivität, oder  die  absolute  Erkenntnis,  ist  der  mystische  Über- 
gang  des  Wesens   in   die  Existenz,   wodurch   es   sich   selbst   als 
Wesen    und   Existenz    sowohl   schafft  als  aiifliebt     Gott  hat   das 
Moment  der  Negation  in  sich,  wodurch  er  in  die  Nichtigkeit  der 
Existenz    und    des   Erkann tw^crdens    tritt;    das   Einzelwesen,   derJ 
nichtige  Schein   des  Existierens  und  Erkenn ens  hat  aber  wieder-" 
um    die    Macht    an    sich,    sich   zu    opfern    und    seine   Nichtigkeit 
aufzugeben.      Das     Mannigfaltige     der     gemeinen     Welt     kann 
nur     in     der     Strahlenbrechung,     die     es    durch    die    getrennten        i 
Standpunkte    der    erkennenden     Individuen     erleidet,    als    etwas 
der    Einheit    des   Wesens  Entgegengesetztes    aufgefiisst   werden. 
Der     abstrakte     Monismus     sucht     also     auch     bei     Solger    den        ' 
Schein    der    objektiven    Vielheit    aus    der    Illusion    des    subjek- 
tiven Erkennens   zu   erklären,   ohne   doch   die  Vielheit   der  hidi- 
viduellen   Erkenntnissubjekte  erklären   zu   können.     Die  Mannig- 
ftdtigkeit  des  Vielen   wird  als  unwesentliche   Zußilligkeit  beiseite 
geschoben,    und    doch    soll    diese    Zufälligkeit    von    Gott    direkt 
bestimmt    sein,    eine    wesentliche   Verknüpfung    der   Notwendig-^M 
keit   ausdrücken,    und   mit   der  Wirklichkeit   gleiclizusetzen    seia.^^ 
Er  verwnckelt   sich  mit   dem  Begriff  der  Zufälligkeit  bereits  in 


♦)  Veirgl.  ^Schellings  phiJosophisches  System«  ^Leipzig,  Haackc,  1897);  »Ges. 
Stud.  und  AiifsÄtze»  ♦  3.  Aull.»  S.  572 — 6oj;  »Über  die  diidcktische  Methode«, 
S,  iS— 34;  iDaa  sittliche  Bewiisstsein-,  2.  Amil.,  5^587—389;  *Die  dfutädie  ^\Äthctik 
»dt  Kant«.  S.  27—44,  385—3871  4^3— 4*4.  435—436,462—468,485—486,526—550, 


Solger. 


129 


dieselben  Schwierigkeiten,  die  nachher  für  Hegel  verhängnisvoll 
wurden. 

All  unser  Erkennen  ruht  auf  dem  Selbstbewusstscin.  das 
wieder  ein  allgemeines  Bcwusstsein  voraussetzt.  Mit  diesem  all- 
gemeinen Bewusstsein  ist  jedes  menschliche  Bcwusstsein  Eins, 
und  ist  von  ihm  nur  eine  besondere  Äusserung,  Es  ist  dies  die 
letxtc  und  tiefste  Erfahrung,  von  der  alles  Philosophieren  ausgeht. 
Wir  sind  uns  der  Existenz  des  allgemeinen  Bewusstseins,  oder 
der  absoluten  Idee  oder  des  Wesens  in  uns»  zugleich  bewusst 
und  nicht  bewusst:  bewusst,  insofern  sie  als  zu  Grunde  liegende 
Thatsache  jedem  unserer  Zustände  seine  unmittelbare  Walirheit 
giebt;  nicht  bewusst,  insofern  wir  sie  als  solche  immer  nur  in 
bestimmten  Beziehungen  denken.  Diese  Thatsache  haben  wir  als 
göttliche  Offenbarung  oder  absolute  Erfahrung  hinzunehmen,  und 
dieses  Hinnehmen  ist  Glaube,  oder  unmittelbares  Wissen,  oder 
Vernunft.  Hiermit  nähert  sich  Solger  stark  dem  Jacobischen 
Vernunftglauben.  Die  Philosophie  hat  nur  ein  Bewusstsein 
dessen  zu  vermitteln,  was  im  unmittelbar  gewissen  Glauben  er- 
fahren und  als  Offenbarungsthatsache  gegeben  ist;  sie  hat  die 
Idee  in  ihren  verscliiedenen  Beziehungen  zu  verfolgen,  in  ilire 
Gegensätze  zu  entwickeln,  und  dieselben  wieder  zur  Einheit  der 
Idee  zurückzuführen.  Dies  geschieht  durch  die  Dialektik;  das 
Ergebnis  aber  ist  die  Spaltung  der  Idee  zunächst  in  die  Idee 
des  Wahren  und  Guten  oder  in  die  theoretische  und  praktische 
Idee,  alsdann  die  Cbcrwindung  dieser  Spaltung  durch  die  Idee 
des  Schönen  und  endlich  der  Umschlag  dieser  in  die  Idee  Gottes, 
womit  die  Einheit  wieder  hergestellt  ist. 

Bei  diesem  ganzen  Prozess  handelt  es  sich  darum,  die 
niederen  menschlichen  Erkenntnisarten  des  geraeinen  unvoll- 
ständigen Bewusstseins  zu  der  höheren  Erkenntnisart  des  auf 
göttUcher  Offenbarung  beruhenden  wesentlichen  Bewusstseins 
empor  zu  führen.  Dies  geschieht,  indem  die  Ideen  des  Wahren 
und  Guten  zu  der  des  Schonen  emporgehoben  werden.  Denn 
jene  höhere  Erkenntnisart  fällt  mit  der  Idee  zusammen;  in  üir 
denkt  ein  dem  gewöhnlichen  Verstand  überlegener  künstlerischer 
Verstand,  ein  Abkömmling  des  göttlichen,  und  stellt  seine  Er- 
gebnisse als  Gestalten  der  Phantasie  dar,  wodurch  eben  die 
Phantasieanschauung  zur  intellektuellen  Anschauung  wird,  Diese 
intellektuelle    Phantasieanschauung    enthält    nämhch    die    Gegen- 

E.  V    llarlcuan  n,  Autgevr    Werke     Itil«  XII.  9 


I30  Solger. 

Sätze  der  schöpferischen  produktiven  Phantasiethätigkeit  und  der 
sinnlichen  Gegenständlichkeit  in  sich,  die  dem  Gegensatze  von 
Wesen  und  Erscheinung  in  der  Idee  entsprechen. 

Nun  ist  die  Erscheinung  als  Erscheinung  des  Wesens  oder 
der  Idee  anerkannt.  Aber  Solger  verbietet,  bei  der  Idee  an  ein- 
zelne Gattungsideen  oder  an  Partialideen  der  Einen  absoluten 
Idee  zu  denken;  solche  erklärt  er  vielmehr  für  Produkte  der  ge- 
meinen Einbildungskraft,  für  eingebildete  Abbilder  der  wirklichen 
Dinge,  kurz  für  Gegenstände  der  unwahren  Erkenntnis  des 
niederen  Bewusstseins.  In  jedem  Einzelnen,  sofern  es  schön  ist, 
soll  die  ganze  Idee  als  einheitliche  Totalität  des  göttlichen 
Wesens  gegenwärtig  sein;  die  Erscheinung,  sofern  sie  dem 
Wesen  entgegengesetzt  ist,  fällt  ins  leere  Nichts.  Dieser  Stand- 
punkt hebt  aber  sich  selbst  auf,  weil  aus  der  wechsellosen,  selig 
ruhenden  ewigen  Einheit  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinung 
in  ihrer  raumzeitlichen  Besonderheit,  Veränderlichkeit  und  Zu- 
fälligkeit nicht  zu  erklären  ist.  Die  ganze  Erscheinung  ist  nur 
Erscheinung,  sofern  sie  vom  Wesen  verschieden  und  ihm  nach 
Dasein  und  Beschaffenheit  entgegengesetzt  ist,  also  ins  leere 
Nichts  fällt.  Ein  Besonderes  ist  und  bleibt  vom  Standpunkt  des 
abstrakten  Monismus  ein  unerklärliches  Unding,  das  kein  Recht 
hat,  zu  existieren. 

Damit  zersprengt  die  Schönheit  der  Welt  sich  selbst,  wenig- 
stens für  unsere  gemeine  Erkenntnisweise,  weil  das  Verhältnis 
ihrer  Momente  zu  einander  (Wesen  und  Erscheinung)  sich  als 
unmöglich  herausstellt;  nur  für  Gott  soll  in  dem  idealen  Univer- 
sum eine  vollendete  Harmonie  zwischen  Wesen  und  Erscheinung, 
d.  h.  Schönheit,  möglich  bleiben.  Für  uns  ist  der  Widerspruch 
nur  dadurch  zu  beseitigen,  dass  die  Ironie  die  Henkersarbeit  an 
der  inkorporierten  Idee  vollzieht,  uns  auf  die  Seite  der  Er- 
scheinung verzichten  lehrt,  und  uns  zu  einer  höheren  Art  und 
Weise  der  Erfassung  des  Göttlichen,  nämlich  zu  der  religiösen 
emporhebt.  Dass  der  Widerspruch  in  dem  idealen  Universum, 
sofern  dieses  mehr  sein  will  als  die  abstrakte  Identität  von  Sub- 
jekt und  Objekt,  ganz  derselbe  bleibt  wie  in  dieser  Well;  und 
dort  ebensogut  der  Lösung  bedarf  wie  hier,  das  ist  Solger  nicht 
klar  geworden. 

Religiös  betrachtet  stellt  sich  die  beständige  Schöpfung  und 
Vernichtung,  das  Hervorgehen  der  Dinge  aus  Gott  und  ihr  Zu- 


J.  J.  Wagner. 


131 


rück  gehen  in  ihn  darin  dar,  dass  der  Vater  sich  im  Sohne  be- 
ständig zum  Schein  herablässt  und  in  dem  Bewusstsein  eines 
jeden  Frommen  sich  immer  von  neuem  opfert  und  vernichtet. 
Dies  aber  ist  es»  was  wir  Liebe  nennen,  das  lebendige  Gefühl 
in  uns,  dass  wir  nur  sind,  weil  Gott  sich  sein  selbst  entäussert, 
und  dass  wir  doch  immer  bei  ihm  bleiben,  weil  er  sich  in  dieser 
Entäusserung  immer  selbst  aufhebt  imd  seinen  Schein  vernichtet. 
So  stellt  sich  das  Nämliche,  was  unter  dem  ästhetischen  Gesichts- 
punkt als  auflösende  Ironie  erschien,  unter  dem  rehgiösen  Ge- 
sichtspunkt als  aufopfernde  Liebe  dar*  Die  romantische  Ironie 
Schlegels  wird  damit  zu  einer  religiösen  Bedeutung  vertieft,  in 
welcher  bald  darauf  Weisse  sie  aufnahm.'*')  — 

J,  J,  Wagner  (1775 — 1821)  sucht  eine  Kategorienlehre,  die 
ebenso  über  die  Logik  wie  über  die  Mathematik  hinausüegen, 
aber  beide  nebst  der  Sprachphilosophic  unter  sich  begreifen  soll, 
eine  Topik  der  BegriiFe,  die  als  Architektur  des  Weltgesetzes 
zugleich  Heuristik  für  die  Lösung  aller  Aufgaben  der  Wissen- 
schaft und  des  Lebens  sein  soll  (» Organ on  der  menschlichen  Er- 
kenntnis«, Erlangen  1830,  Vorwort,  S.  XLI— XLIII).  Er  setzt 
die  Idee  der  lebendigen  Gottheit  als  Grundlage  der  idealen  und 
realen  Dinge  voraus»  und  mit  ihr  die  Idee  des  Lebens,  in  welchem 
sich  Sein  und  Werden  durchdringen.  In  dem  Leben  sieht  er 
das  Wesen  der  Dinge,  und  in  den  Dingen  die  unendUch-endliche 
Form  dieses  Wesens,  So  ergeben  sich  ihm  .^ Wesen  und  Form* 
als  das  erste  Paar  von  Urbegriffen,  die  zu  einander  in  einem 
Gegensatze  stehen,  aber  auch  durch  das  Leben  vermittelt  sind. 
Es  schiebt  sich  also  als  das  zweite  BegrifiFspaar  ^Gegensatz  und 
Vermitteiung'*  in  das  erste  ein;  das  Wesen  geht  durch  ver- 
mittelte  Gegensätze    in    die   Form    über.     Das   Urschema   lautet 

demgemäss: 

Wesen 

Gegensatz  Vermittelung 

Form 


Nach  diesem  Urschema  spaltet  sich  nun  jeder  der  vier  ur- 
sprünglichen Urbegriffe  in  vier  abgeleitete  Urbegriffe,  so  dass 
folgende  Tafel  entsteht: 


*)  Vergl  »Die  deutsche  Ästhetik  seit  KaaU,  S.  61— 72,  und  die  im  Register  an- 
geführten Slifücn, 


132  J.J.Wagner. 

Wesen 
Endlichkeit 
Quantität  Qualität 

Realität 
Gegensatz  Vermittelung 

absoluter  absolute 

quantitativer  qualitativer  qantitative  qualitative 

relativer  relative 

F  omn  r 
Thesis 
Analysis  Antithesis 

Synthesis 

Die  lliesis  nennt  Wagner  die  Begründungsstufe,  die  Analysis 
die  Entwickelungsstufe »  die  Antithesis  die  Verdoppelungsstufe, 
die  Synthesis  die  Vollendungsstufe.  Diese  vier  Stufen  ent- 
sprechen offenbar  der  ursprünglichen  Einheit  oder  absoluten 
Identität,  der  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  bei  SchcUing,  der 
nur  der  heiligen  Dreizahl  zu  Liebe  die  Vierheit  abwehrte.  Die 
Schellingsche  Schule  lässt  den  auch  von  Hegel  geteilten  Aber- 
glauben an  die  Heiligkeit  der  Dreizahl  fallen  und  erkennt  die 
Tetraktys  als  die  einzig  mögliche  Konsequenz  der  Fichteschen 
und  Schellingschen  Voraussetzungen  offen  an. 

Zu  dem  Urschema  gesellt  sich  dann  ferner  ein  Schema  rein 
formaler  Begriffe,  welche  Wagner  Prädikamente  nennt,  nämlich 

Identität 

Verhältnis  Beziehung 

Reziprozität 

Dieses  verhält  sich  zum  Urschema  wie  Form  zum  Wesen, 
so  dass  die  Glieder  beider  sich  in  folgender  Art  entsprechen: 

1.  Das  Wesen  ist  identisch. 

2.  Der  Gegensatz  ist  ein  Verhältnis. 

3.  Die  Vermittelung  ist  eine  Beziehung. 

4.  Die  Form  ist  die  Reziprozität  der  Beziehungen  und  Verhält- 
nisse mit  dem  Wesen. 

Von  der  Menge  von  Tafeln,  die  Wagner  über  jedes  einzelne 
Glied  aufstellt,  seien  hier  nur  einige  als  Probe  herausgegriffen, 
nämlich  die  Tafeln  der  vier  Stufen,  in  denen  Wagner  die  eigent- 


J.  J.  WairncT,  ^^^^^^         133 

liehen  Kategorientafeln  erblickt.  Man  sieht  daraus  einerseits. 
wie  stark  das  Bestreben  war,  die  Kategorien  systematisch  zu 
ordnen,  und  andererseits,  wie  schlechthin  unfruchtbar  solches 
Hingeben  an  einen  schablonenhaften  Schematisierungstrieb  bleibt. 
Als  warnendes  Beispiel  möge  deshalb  Wagner  hier  einen  Platz 
finden,  wie  Raimundus  Lullus  im  Mittelalter.*) 

I.  Die  Tafel  der  thetischen  oder  Begründungsstufe. 

Dasein 

Grundwesen 
Ursprung  Ursache 

Wirkung 
Faktoren  Prozesse 

Inhalt  Grenze  Setzen»  aufheben 

Positiv,  negativ;   aktiv,  Differenzieren,  indiff.  Verbinden, 

passiv  trennen 

central,  peripherisch  durchführen,  zurückführen 

Produkt 
ein- 
zwei-  drei- 

viergliedrig 

2,  Die  Tafel  der   analytischen    oder  Entwickelungsstufe. 

Substrat 
Anlage 
Eigenschaften  Zustände 

Beschaffenheit 
Seiten  ent  Wickelung  Fortschreitung 

Urpriocipien  Beg^ründung 

Arten         Gattungen  Entwickelung      Selbstv'^erdoppelung 

Gebiete  Vollendung 

Erscheinung 
Grundlage 
Natur  Geschichte 

Totalent  Wickelung 


•)  D.1SS  <{uldic  Wiirminj^ien  auch  heute  ntich  nicht  übcrllüssig  sind,  zeigt  Alltrecht 
ause,   drr  in  scir>'*n    •GcSfft/cn  f\c^  menschlichen  Heniens*  (Lahr  tH^fi)  die  Wagner* 
sehe  VicTRliedrijjkeit  %-rni  K;inlscbeiii  Ausgangnpmikte  aus  zu  erneuern  sucht. 


134  J.J.Wagner. 

3.  Die  Tafel  der  antithetischen  oder  Verdoppelungsstufe. 

Subjekt 
Selbstheit 
Strebung  Zurückdrängung 

Äusserlichkeit 

Subjektivobjektiv  Objektivsubjektiv 

Bemächtigen  Berühren 

Vorbereiten  Bearbeiten  Erregen  Aneignen 

Umwandeln  Einswerden 

Objekt 

Widerstand 

Wirksamkeit  Bildsamkeit 

Selbständigkeit 

4.  Die  Tafel  der  synthetischen  oder  Vollendungsstufe. 

Individualität 

Abgesondert 

Eigenartig  Eigenthätig 

Abgeschlossen 

Ent  Wickelungssystem  Individualleben 

Aufschliessen  Erzeugung 

Aufnahme  Verwandlung  Reproduktion  Produktion 

Ausscheidung  Centralleben 

Totalitätsform 

Neben- 

Mit-  Durch- 

Ineinander. 

Jeder  dieser  vier  Tafeln  entspricht  ebenso  wie  der  Tafel 
der  Urbegriffe  ein  Schema  zugehöriger  Prädikamente,  und  diese 
vier  Schemata  ordnen  sich  zu  folgender  Tafel  der  Prädikamente 
zusammen : 


Oken. 


135 


I. 

Unbestimmt 

Bestimmbar  Bestimmend 

Bestimmt 


Mögflich 
Räumlich  Zeitlich 

Wirklich 


3- 

Innen 

Von  Innen  Von  Aussen 

Aussen 


4< 
An  sich 
Abhängig  Gegenseitig 

Notwendig, 

Diese  Topik  der  Begriffe  soll  nach  Wagners  Ansicht  das 
ewige  Weltgesetz  enthüllen,  die  abenteuerlichen  Versuche  der 
philosophischen  Spekulation  für  immer  abschneiden,  die  Empirie 
zur  Wissenschaft  gestalten  und  dasjenige  verwirklichen,  was 
Raimund  Lullus  und  Giordano  Bruno  auf  abenteuerliche  Weise 
gesucht  hatten,  ^ 

Oken  (1779  —  1851)  lehrt,  dass  die  Bestimmungen  des  Abso- 
luten sich  mit  denen  des  matliema tischen  Zero  decken,  und  dass 
die  Welt  aus  dem  gleich  Nichts  seienden  Absoluten  hervor- 
gegangen ist,  wie  die  Mathematik  aus  der  Null.  Das  Absolute 
ist  weder  räumlich  noch  zeitlich,  weder  endlich  noch  unendlich, 
weder  gross  noch  klein,  weder  ruhend  noch  bew^egt.  Dasselbe 
gilt  von  der  Null ;  sie  ist  weder  Etwas  noch  Nichts,  weder  seiend 
noch  nichtseiend»  weder  positiv  noch  negativ,  weder  Eins  noch 
Vieles.  Absolutes  und  Zero  sind  nur  verschiedene  Benennungen 
von  den  verschiedenen  Wissenschaften  her;  wesentlich  sind  sie 
Eins.  Es  existiert  nichts  als  dieses  Absolute  oder  Zero  oder  un- 
bestimmte Monas,  xmd  alle  Einzelexistenz  ist  eine  Trugexistenz. 
Schelling  hatte  die  absolute  Identität  des  Idealen  und  Realen  in 
die  Formel  A  ^  A  gefasst,  oder  vielmehr,  da  jede  Seite  schon 
wieder  eine  Identität  in  sich  fasst,  in  die  genauere  Formel 
(A  =  A)  =  {A  =  A);  dabei  war  aber  das  durch  das  Gleichheits- 
zeichen ausgedrückte  Rand,  die  Kopula»  das  allein  begrifflich  zu 
fassende,  während  das  A  auch  durch  ein  Fragezeichen,  oder 
wegen  seiner  Begrifflosigkeit  durch  die  Null  ersetzt  werden 
konnte.     Oken  hat  den  Mut,  die  Konsequenz  auszusprechen,  dass 


136 


Oken. 


es  eine  blosse  Null  ist,  die  sich  polarisch  in  Plus  und  Minus 
spaltet  oder  zur  Gegensätzlichkeit  differenziert 

In  der  zweiten  Auflage  seines  Lehrbuchs  der  Naturphilo- 
sophie setzt  er  das  Zero  mit  dem  Urakt  oder  der  Schellingschen 
Urthätigkeit  vor  der  Spaltung  gleich;  es  ist  dann  kein  absolutes 
Nichts,  sondern  ein  Akt  ohne  Substrat  (ein  substantielles  Nichts, 
aber  aktuelles  Etwas).  Auch  dies  entspricht  ganz  dem  Sinne 
der  Schellingschen  ersten  Periode.  Aber  in  der  ersten  Auflage 
seiner  Naturphilosophie  unterscheidet  Oken  den  Nichts-Gott  von 
seinem  Handeln,  seiner  Thätigkeit,  in  der  erst  sein  sich  Setzen 
und  sein  Sein  besteht;  die  Null  ist,  so  zu  sagen,  das  Subjekt 
dieser  subjektlosen  Thätigkeit,  und  als  solche  ist  sie  wirklich 
reines  Nichts,  das  erst  in  der  noch  unbestimmten  Urthätigkeit 
zum  Sein  wird.  Das  Nichts  wird  ein  Etwas,  ein  Endliches,  durch 
die  blosse  Position  seiner  selbst;  die  Null,  poniert  oder  bestimmt, 
wird  zur  Eins,  oder  o  einmal  als  o  gesetzt  ist  =  i.  Das 
Nichts  ist  die  monas  indeterminata,  das  ponierte  Nichts  die 
monas  determinata.  Die  Idee,  die  als  solche  gleich  Nichts  ist, 
poniert,  ist  eine  endliche  Realität.  Das  Etwas  wird  dagegen  zu 
einem  Nichts  durch  blosse  Vernachlässigung  seiner  Selbstposition. 

Die  Welt  oder  die  Gesamtheit  des  Gesetzten  ist  demnach 
wie  im  esoterischen  Buddhismus  ein  Schein,  der  auf  dem  Nichts 
ruht,  oder  in  welchem  das  Nichts  das  Scheinende  ist.  Aber  es 
ist  nicht  wie  dort  bloss  ein  Schein  für  die  Unwissenheit  der 
Individualbewusstseine,  sondern  eine  Selbsterscheinung  des  Abso- 
luten für  sein  absolutes  Erkennen.  Nur  als  sich  erkennender, 
affirmierender  oder  ponierender  ist  Gott  seiend  oder  Gott,  und 
das  Gesetzte,  Reale  ist  nichts  als  das  Absolute  selbst  als  Er- 
kanntes, das  seiende  Nichts.  Das  Setzen  des  Absoluten  und  die 
Gesamtheit  des  Gesetzten  ist  gleich  ewig  mit  dem  Absoluten 
selbst.  Die  Null  wird  aber  nicht  nur  positiv  gesetzt,  sondern 
auch  negativ,  d.  h.  alles  Seiende  wird  wieder  in  das  Nichts  auf- 
gehoben oder  kehrt  in  Gott  zurück.  Wie  er  aber  die  einen  Indi- 
viduen in  sich  zurückruft,  so  lässt  er  andere  aus  sich  ausgehen; 
dieses  Erscheinen,  Verschwinden  und  Wiedererscheinen  von  Indi- 
viduen ist  der  Weltprozess.  Er  ist  eine  Seelenwanderung,  aber 
nur  in  dem  Sinne,  dass  jede  Seele  sich  völlig  wieder  in  Gott 
oder  das  Nichts  auflöst  und  an  ihrer  Statt  eine  neue  Setzung 
aus  Gott  oder  dem  Nichts  auftaucht. 


Schubert» 


137 


Die  ursprüngliche  Einheit  oder  noch  undifferenzierte  Ur- 
thätigkeit  der  Null  nennt  Oken  das  Wesen  oder  die  Usia  (wobei 
nicht  etw-a  an  ein  Substrat,  oder  eine  Substanz  zu  denken  ist); 
die  synthetische  Einheit  des  durch  die  Entzweiung  hindurch- 
gegangenen Wesens  nennt  er  die  Form  oder  Gestalt,  Der 
Naturprozess  ist  also  bei  ihm  wie  bei  Schclling  Einbildung  des 
Wesens  in  die  Form,  Die  Entzweiung  der  Thätigkeit  in  die 
polarische  Duplizität  des  Positiven  und  Negativen  nennt  er  die 
Entelechie  Gottes;  mit  ihr  erst  tritt  Zeit,  Raum  und  Bewegung 
auf,  indem  der  in  jeder  Kraft  belegene  centriperipherische  Ur- 
gegensatz  der  centrifugalen  und  centripetalen  Tendenzen  die 
Kräfte  zur  räum  zeitlichen  Erscheinung  kommen  lässt  Das  da- 
seiende Nichts  ist  zunächst  der  Äther,  innerhalb  dessen  die 
Schwere  die  centripetale»  das  Licht  die  centrifugale  Tendenz,  und 
die  Wärme  die  synthetische  Einheit  beider  vertritt.  Die  Form 
des  Äthers  ist  das  Feuer,  als  die  erscheinende  Dreieinigkeit 
seiner  Momente. 

Der  Mensch  ist  ein  Einzelding,  welches  alle  Einzelne  in  sich 
aufgenommen  hat,  und  darum  in  seiner  Einzelheit  dem  Absoluten 
selbst  gleich  ist.  Er  ist  das  reale  Absolute  als  bestimmte  Monas» 
der  endlich  und  leiblich  gewordene  Gott»  oder  diejenige  Idee 
Gottes,  in  der  Gott  sich  ganz  zum  Objekt  wird.  Er  ist  Gott 
vorgestellt  von  Gott;  Gott  ist  ein  Mensch,  vorstellend  Gott  in 
seinem  Selbstbew^usstsein.  Der  Mensch  ist  nur  Mensch,  sofern 
er  den  Dünkel  hat,  Gott  gleich  sein  zu  wollen;  aber  des 
Menschen  Erkenntnis  seiner  Gleichheit  mit  Gott  ohne  die  Er- 
kenntnis seiner  Ungleichheit  ist  ein  hoffärtiger  Abfall  von  Gott 
Die  Versöhnung  oder  Rückkehr  zu  Gott  entspringt  aus  der  Er- 
kenntnis des  Menschen  von  seiner  Gleichheit  mit  der  Natur  und 
von  seiner  notwendigen  Naturbedingtheit.  —  Als  Schelling  zu 
seiner  zweiten  Periode  fortging,  entstand  zwischen  ihm  und 
Oken  eine  weite  Kluft.  Oken  hat  das  Verdienst,  den  abstrakten 
Monismus  durch  seine  Formulierung  des  Absoluten  als  Null 
oder  Nichts  ad  absurdum  geführt  zu  haben;  denn  um  von  diesem 
Absoluten  zur  Welt,  wenn  auch  nur  zu  einer  trügerischen  Schein- 
weit  zu  gelangen,  musste  er  den  Satz  beiseite  schiebeUp  dass  aus 
Nichts  auch  nichts  werden  kann.  — 

Schubert  (1780  —  1860)  übernimmt  aus  der  zweiten  Hrdfte  der 
&n  Periode  SchcUings  die  Lehre,  dass  die  Natur  sich  in  einem 


Zustande  der  Verschlechterung  befinde,  und  dass  es  die  Aufgabe 
des  Geistes  sei,  vermittelst  der  Wiedergeburt  selber  in  Gott  zu- 
rückzukehren und  die  Natur  mit  zu  reinigen  und  zu  erneuern. 
Das  ihm  Eigentümliche  liegt  darin,  dass  er  den  allmählichen 
Durchbruch  der  neuen  Natur  durch  die  vorhandene  in  indivi- 
duellen Vorgängen  sucht,  in  denen  die  Einzclseele  sich  von  den 
Schranken  der  gemeinen  Natur  und  der  Sinne  losringt  und  zu 
magischem  Schauen  und  Wirken  befähigt  sind.  Der  Traum,  der 
Somnambulismus,  der  tierische  Magnetismus  und  die  Magie  sind 
die  Erscheinungen,  in  denen  das  Verständige  oder  Intelligible  der 
Natur  die  Nachtseite  derselben  durchbricht  und  das  Leben  des 
von  der  gemeinen  Natur  befreiten  und  nur  noch  mit  seinem  un- 
sichtbaren Leibe  bekleideten  Geistes  ahnen  lässt  Dabei  bleibt 
aber  Schubert  dem  Monismus  treu,  betrachtet  alle  Individuen 
und  Dinge  nur  als  Modifikationen  der  einen  Substanz,  und 
findet  ihre  tiefste  Sehnsucht  in  dem  Streben  nach  Vereinigung 
mit  der  Ursiiche  alles  Seins,  wie  es  sich  in  dem  Zeugungsakt 
der  Liebenden  und  in  dem  Verlangen  nach  Vermählung  mit  dem 
Welt  ganzen  oder  dem  Sterben  in  der  Nähe  (jottes  ausdrückt 
Schubert  zuerst  nimmt  in  der  neuesten  Philosophie  die  mystisch- 
magische Richtung  von  Paracelsus  und  van  Helmont  wieder  auf; 
durch  ihn  ist  sie  einerseits  auf  Schopenhauer  und  den  transcen- 
dentalen  Individualismus  seiner  Schule,  andererseits  auf  Fcchner 
übertragen  worden,  — 

Planck  {1819 — 1880}  steht  als  ein  sonderbarer  Anachronis- 
mus, als  Überrest  der  deduktiven  und  konstruktiven  Naturphilo- 
sophie in  dem  naturwissenschaftlichen  Zeitalter  da  und  ist  sich 
dabei  seiner  Abhängigkeit  von  Schelling  und  Oken  nicht  einmal 
klar  bewusst.  Er  w^andelt  den  naturalistischen  Pantheismus 
Schellings»  dessen  Absolutes  schon  bei  Oken  auf  das  Nichts  zu- 
rückgeführt war,  in  einen  schroff  ausgesprochenen  Atheismus  um; 
infolge  dessen  schrumpft  ihm  die  Religion  bei  dem  Mangel  eines 
religiösen  Objekts  zur  blossen  Sittlichkeit  zusammen.  Er  kämpft 
ebenso  heftig  gegen  allen  Idealismus,  den  er  als  Produkt  einer 
religiösen  Weltanschauung  verwirft,  wie  gegen  den  Materialismus 
und  die  mechanistische  Weltanschauung  der  modernen  Natur- 
wissenschaft. Er  bestreitet,  dass  aus  dem  Gedanken  zur  Wirk- 
lichkeit zu  kommen  sei,  wenn  man  diese  nicht  von  vornherein  in 
Raum    und    Zeit,    Nebeneinander   und    Nacheinander    voraussetzt 


Sdüelermacher. 


139 


Er  bestreitet  aber  auch,  dass  die  Materie  etwas  anderes  sei  als 
eine  bestiminte  qualitative  Existenz  des  Ausgedehnten,  die  als 
Produkt  des  reinen  Wirkens  zu  betrachten  ist,  und  bestreitet, 
dass  aus  einer  Vielheit  unabhängiger  Stoffteile  jemals  zu  einer 
Erklärung  der  Lebensvorgänge  und  des  Geistes  zu  gelangen  sei. 
Planck  erkennt  nur  Eine  Substanz,  die  ausgedehnte,  an, 
die  reine  Natur;  der  Geist  ist  nur  ihre  vollendete  innerliche 
Existenzweise,  Diese  eine  Substanz  ist  aber  wiederum  nichts 
anderes,  als  das  substratlose  reine  Wirken,  durch  welches  die 
Einheit  des  Raumes  die  räumlichen  Unterschiede  zusammenftisst 
und  aufeinander  bezieht.  Ohne  den  Gedanken  als  formierende 
Norm  des  Naturprozesses  gelten  zu  lassen,  glaubt  er  doch,  durch 
abstrakte  Begriffe,  wie  hineingewendete  und  liin ausgewendete 
Intensität,  konkrete  Naturerscheinungen,  wie  Schwere,  Wärme 
u.  s.  w..  dialektisch  konstruieren  zu  können.  Ohne  ein  Absolutes 
zuzugeben,  will  er  doch  Monist  sein,  indem  er  die  Einheit  des 
Raumes  für  genügend  hält,  um  die  Einheit  des  Ineinanderwirkens 
aller  seiner  Teile  sicher  zu  stellen.  Das  reine  Wirken  und  der 
Raum  sind  zwei  Phncipien  und  sollen  doch  nur  Eines  sein;  des- 
halb bleibt  auch  unklar,  auf  welchem  von  ihnen  die  Realität  be- 
ruhen soll,  ob  wie  bei  Scbelling  auf  der  Intensität  des  reinen 
Wirkens,  oder  wie  bei  Spinoza  auf  der  Ausdehnung.  Plancks 
Selbstvertrauen  ist  ebenso  gross  wie  die  Unklarheit  seiner  Begriffe 
und  seiner  Darstellung. 


3.  Schleiermacher  (1768^1834). 

Aus  der  Gefühlsreligion  der  Brüdergemeinde,  aus  welcher 
Schleierm acher  hervorgegangen  war,  hat  er  die  Neigung  1h?- 
halten,  das  Wesen  der  Religion  zuerst  in  Anschauung  und  Gc* 
fühl,  dann  im  Gefühl  schlechthin,  endlich  in  der  Passivität  des 
schlechthinigcn  Abhängigkeitsgefühls  zu  suchen.  Von  Piaton  hat 
er  die  Hochschätzung  der  Dialektik,  in  welcher  er  nicht  nur  eine 
Kunstlehre  der  Gesprächführung  und  Streitschlichtung,  sondern 
zugleich  die  Kunstlehre  der  Produktion  des  Wissens  sucht,  und 
die  er  deslialb  als  zusammenfassende  Bezeichnung  für  Erkenntnis- 


I40 


Schleiermacher. 


theorie,  Methodologie  und  Metaphysik  benutzt.  Der  Wolffsche 
Rationahsmiis  musste  ihn  ebenso  wie  die  Kantsche  Religions- 
Philosophie  abstossen »  der  eine,  weil  er  die  Religion  auf  theore- 
tische Reflexion,  der  andere,  weil  er  sie  auf  das  blosse  Gesetz 
des  Wollens  zurückführt.  Beiden  Einseitigkeiten  stellt  er  seine 
Gefühlsreiigion   als  ebenso  einseitige  Ergänzung  gegenüber. 

Er  verwirft  Kants  transcendentalidealistische  Lehre,  nach 
welcher  auf  die  Dinge  an  sich  wieder  unsere  Denkformen,  noch 
unsere  Anschauungsfornnen  anwendbar  sein  sollen,  und  behauptet 
im  transcendentalrealistischen  Sinne,  dass  die  für  alle  Subjekte 
gemeinsame  Welt»  welche  die  Gesamtheit  der  Individuen  sowohl 
als  Geister  wie  als  leibliche  Organismen  umfasst,  nicht  nur  unseren 
Denkformen  gemäss,  sondern  auch  räumlich  und  zeitlich  sei. 
Dem  gemäss  nimmt  er  auch  eine  allgemeine  Wechselwirkung  oder 
Gemeinschaft  unter  den  leiblich-geistigen  Individuen  an,  die  sich 
aus  lauter  Akten  transeunter  Kausalität  zusammensetzt.  Er  hat 
also  keinen  Grund,  die  bei  Kant  stehen  gebliebene  Annahme, 
dass  die  Dinge  an  sich  uns  kausal  affi zieren,  zu  streichen,  sondern 
macht  sie  zum  Grundpfeiler  seiner  Erkenntnistheorie,  für  die  er 
auch  den  Kantschen  Gegensatz  von  Materie  und  Form  der  An- 
schauung, Sinnlichkeit  und  Verstand  übernimmt.  Während  Kant 
die  philosophische  Erkennbarkeit  des  realen  Universums  oder  des 
erkenntnistheoretisch  Transcendenten  leugnet .  nimmt  Schleier- 
macher eine  allerdings  nur  approximative  Erkenntnis  desselben 
an,  stimmt  aber  mit  Kant  darin  überein,  die  philosophische  Er* 
kennbarkeit  des  metaphysisch  Transcendenten,  oder  des  gemein- 
samen Grundes  des  Seins  und  Denkens,  der  Welt  und  ihrer  Er- 
kenntnis zu  leugnen,  freilich  aus  abweichenden  Gründen.  Bei 
Kant  folgt  die  Unerkennbarkeit  des  metaphysisch  Transcendenten 
einfach  aus  der  des  erkenntnistheoretisch  Transcendenten,  bei 
Schleiermacher  daraus,  dass  das  erkenntnistheoretisch  Transcen- 
dente  als  frei  von  Gegensätzen  vorausgesetzt  wird,  während  das 
Erkennen  sich  lediglich  in  Gegensätzen  bewegt. 

Mit  Fichte  verbindet  ihn  der  etliische  Idealismus  und  die 
Autonomie  der  individuellen  Entwickelung  zum  Mikrokosmos. 
Wie  Schellin g  und  Fichte  begeistert  er  sich  für  die  Freiheit  im 
Sinne  einer  von  innen  heraus  bedingten  Selbstentwickelung,  be- 
tont aber  nach  dem  Vorgang  von  T.eibniz,  Goethe,  Friedrich 
Schlegel    und  Jacobi    die    individuelle  Eigentümlichkeit   in   dieser 


ScHleicnnacher. 


141 


Selbstent Wickelung  stärker  als  jene  beiden.  Gleich  Schell ing- 
sucht  er  aber  zu  diesem  Subjektivismus  des  freien  sich  selbst 
Auslebens  ein  objektives  Gegengewicht,  eine  Gebundenheil  des 
Einzellebens  im  allgemeinen  Sein,  durch  w^elchc  die  individuelle 
Freiheit  mit  der  ewigen  Notwendigkeit  des  Ganzen  verschmolzen 
wird  und  findet  sie  gleich  diesem  bei  Spinoza,  der  durch  Lessing, 
Herder  und  Jacobi  dem  unverdienten  Verkannt-  und  Vergessen - 
sein  entzogen  w^orden  war.  Spinozistisch  ist  die  Gleichsetzung 
Gottes  mit  dem  absoluten  Sein,  die  Ablehnung  eines  Kraftüber- 
schusses in  Gott  über  die  in  die  Welt  eingegangenen  Kräfte,  die 
abstrakt  monistische  Auffassung  des  absoluten  Seins  als  einer  ein- 
fachen, leeren,  über  und  hinter  allen  Gegensätzen  stehenden,  aber 
aUe  aus  sich  heraussetzenden  Einheit,  die  Einheit  von  Freiheit 
und  Notwendigkeit  in  Gott  und  die  blosse  Negativität  des  Bösen, 
die  zugleich  von  Leibniz  vertreten  wird.  Nicht  spinozistisch  da- 
gegen ist  bei  Schleiermacher  die  begriffliche  Un erkennbar keit 
dieser  absoluten  Substanz,  die  Unpersönlichkeit  Gottes,  die  teleo- 
logische und  cvolutionistische  Auffassung  des  Weltprozesses,  die 
stärkere  Betonung  der  individuellen  Eigentümlichkeit  und  Selbst- 
entwickclung  und  die  Fassung  des  GottesbegrifiFes  mit  Aus- 
schluss des  attributiven  (regensatzes,  statt,  wie  bei  Spinoza,  mit 
Einschluss  desselben.  Ungerecht  ist  Schleiermachers  Vorwiu^ 
gegen  Spinoza,  dass  sein  Absolutes  starr  und  tot  sei,  da  es  viel- 
mehr die  Quelle  ewiger  Lebendigkeit  ist,  diese  Quelle  der 
Lebendigkeit  selbst  aber  bei  Schleiermacher  ebenso  ruhend  und 
unveränderlich  ist,  w^ie  bei  Spinoza.  Dieser  Vorwurf  ist  nur 
daraus  zu  erklären,  dass  Schleiermacher  sich  gewohnt  hatte, 
unter  Leben  freie,  teleologische  Selbstent  Wickelung  zu  verstehen, 
und  den  Mangel  derselben  als  Tod  zu  bezeichnen.  — 

Hiernach  ist  es  genau  so  unrichtig,  Schleiermacher  als 
Spinozisten,  wie  als  Fichteaner  zu  bezeichnen,  denn  er  zielte, 
ebenso  wie  Schelling,  auf  die  Synthese  beider  ak  Dabei  waren 
zwar  Lessing  und  Herder  in  mancher  Hinsicht  für  den  Theologen 
Schleiermacher  weg^^eisend;  in  der  Hauptsache  aber  ist  es  doch 
SchelUngs  Identitätsphilosophie,  welche  für  den  Philosophen 
Schleiermacher  bestimmend  geworden  ist.  Die  Identität  des 
Idealen  und  Realen,  des  Subjekts  und  Objekts,  der  Unterschied 
von  ursprünglicher  und  Verknüpfungs- Einheit,  IndüFerenz  und 
(synthetischer)  Identität,  die  Relativität  aller  Gegensätze  im  be- 


142 


Schldcrmachcr, 


Stimmten  Sein  und  Denken,  die  sich  im  Übergewicht  der  einen 
oder  anderen  Seite  ausdrückt,  die  Umw:indliing  des  spinozistischen 
(iegensatzes  von  Denken  und  Ausdehnung  in  den  von  Geist  und 
Natur,  Idealem  und  Realem  und  die  Wiederkehr  dieses  Gegen- 
satzes auf  jeder  seiner  Seiten,  das  alles  hat  Schleiermacher  von 
Schelling  übernommen.  Deshalb  ist  er,  wenigstens  als  spekula- 
tiver Philosoph,  durchaiis  nur  als  ein  Schellingianer  zu  bezeichnen ; 
denn  er  hat  von  Spinoza  kaum  so  viel  übernommen,  wie  Schelling 
und  auch  das  noch  in  Schellin gscher  Umgestaltung  und  Färbung. 
Wie  Hegel  den  Schellingschen  Panlogismus  von  1801,  Schopen- 
hauer die  Schellingsche  Willensmetaphysik  von  1807  in  Ver- 
bindung mit  der  Schellingschen  Identitätsphilosophie  auf  trans- 
cendentaüdealistischer  Grundlage,  so  hat  Schleiermacher  die 
Schellingsche  Identitätsphilosophie  von  180 1  —  1804  ^.nf  transcen- 
dentalrealistischer  Grundlage  als  Princip  seines  Systems  an- 
genommen und  nach  einer  bestimmten  Richtimg  durchgebildet. 

Was  ihn  von  dem  Schelling  der  Identitätsphilosophie  unter- 
scheidet, ist  nur  das  eine,  dass  Schelling  in  erkenntnistheoretischer 
Hinsicht  noch  ganz  in  dem  transcendentalen  Idealismus  von  Beck 
und  Fichte  stecken  geblieben  war,  ohne  zu  bemerken,  dass  er 
ihn  als  Metaphysiker  bereits  weit  überschritten  hatte,  Schleier- 
macher aber  die  Konsequenzen  der  Identitätsphilosophie  auch  für 
die  Erkenntnistheorie  zieht,  freilich  anscheinend  ohne  ein  deut- 
liches Bewusstsein  davon»  in  wie  scharfem  Gegensatz  er  sich 
damit  zu  den  seine  Zeit  beherrschenden  Ansichten  setzt  Schel- 
lin gs  Identitätsphilosophie  wird  durch  den  noch  unüberwundenen 
transcendentalen  Idealismus  dazu  hingedrängt,  die  reale  Welt 
mehr  und  mehr  in  blossen  Schein  zu  verflüchtigen  und  damit 
sich  selbst  in  abstrakten  Monismus  aufzulösen.  Schleiermacher 
rettet  die  Identitätsphilosophic  vor  dieser  Auflösung  in  spino- 
zistischen Akosmismus  und  abstrakten  Monismus  dadurch,  dass 
er  den  transcendentalen  Idealismus  durch  den  transcendentalen 
Realismus  ersetzt.  Als  Schelling  später  zu  dem  gleichen  Ent- 
schluss  kam,  hatte  er  sich  in  seiner  metaphysischen  Ent Wickelung 
von  der  Identitätsphilosophie  seiner  Jugend  schon  weit  entfernt. 
Schleiermaclier  sah  von  Anfang  an  die  Schellingsche  Natur- 
philosophie bloss  in  der  transcendentalrealistischen  Beleuchtung, 
in  welche  Schelling  sie  später  beim  Rückblick  auf  seine  Jugend 
auch    zu   rücken   versuchte.     Deshalb    besteht  auch  bei   Schleier- 


Schlcicnnacber. 


M3 


macher  eine  reelle  Weclisehvirkunjjf  zwischen  den  Gegensatz- 
gliedcrn.  unbeschadet  dessen  oder  vielmehr  gerade  darum,  weil 
auf  jeder  Seite  doch  auch  schon  wieder  eine  Bindung  der  Gegen- 
saUglicder,  wenn  auch  im  Übergewicht  hier  des  einen,  dort  des 
andern,  zu  finden  ist,  — 

Schelling  ging  von  einem  schlechthin  und  unmittelbar  ge- 
wissen Wissen»  der  transcendentalen  oder  intellektuellen  An- 
schauung aus  und  glaubte  an  ihr  den  festen  Punkt  iür  seine 
philosophisclie  Konstruktion  zu  besitzen,  d.  h.  für  die  Deduktion 
apodiktisch  gewisser  Erkenntnis,  Schleiermachcr  weiss,  dass  der 
Mensch  über  ein  solches  höchstes,  schlechthin  gew^isses  Wissen 
nicht  verfügt,  und  kann  deshalb  die  Deduktion  nur  auf  Induktion 
stützen.  Auch  Schelling-  kommt  schliesslich  in  seiner  positiven 
Philosophie  zu  einem  Kompromiss  zwischen  Deduktion  und  In- 
duktion, wobei  allerdings  aller  Inhalt  auf  Seiten  der  Deduktion 
bleibt  und  die  Induktion  nur  die  reale  Existenz  des  Deduzierten 
verbürgt.  Schleiermacher  schliesst  das  Kompromiss  so,  dass  der 
gleiche  Inhalt  auf  beiden  Wegen  erreichbar  scheint,  aber  die 
reale  Existenz  nur  durch  ihr  Zusammentreffen  an  einem  Punkte 
verbürgt  ist.  Beide  suchen  also  von  der  einseitig  deduktiven 
Behandlimgsweise  der  bisherigen  Philosophie  loszukommen,  beide 
bleiben  in  der  Halbheit  eines  Kompromisses  stecken.  Dabei  hält 
aber  Schelling  den  Anspruch  der  deduktiven  Philosophie  auf 
apodiktische  GewMssheit  fest,  während  Schleiermacher  sich  mit 
einer  allmählich  fortschreitenden  Annäherung  des  Wissens  an  die 
Gevvissheit  begnügt.  Nichts  hat  so  sehr  zur  Missachtung  des 
Philosophen  Schleiermacher  bei  den  späteren  Resten  der  speku- 
lativen Schulen  beigetragen,  als  dass  er  den  Mut  hatte,  auf 
apodiktische  Gewissheit  zu  verzichten  und  trotzdem  das  Philo- 
sophieren nicht  einstellte. 

Aber  auch  er  verkennt  noch,  dass  die  Annäherung  an  das 
Ideal  des  Wissens  uns  für  immer  zum  Begnügen  mit  der  Wahr- 
scheinlichkeit verurteilt;  denn  er  will  im  Prozess  des  Denkens 
»die  richtige  Meinung«  ebenso  ausgeschlossen  haben  wie  ^den 
Irrtums  und  den  Durchgang  zum  wahren  Wissen  nur  durch  die 
skeptische  Annahme  und  das  freie  Phantasieren  gestatten  {Dialek- 
tik, S.  i88).  Damit  ist  der  Mensch  auf  die  Schwebe  zwischen 
problematischer  Ungew^issheit  und  phantastischem  Glauben  an- 
gewiesen   und   die  Wissenschaftlichkeit   der  Philosophie   auf  den 


144 


Schlciermachcr, 


Zeitpunkt  vertaget,  wo  das  Ideal  duü  gewissen  Wissens  erreicht 
sein  wird,  d.  h,  aufs  Nimmermehr.  Schleiermadier  ist  durch  diese 
Halbheit  seiner  Stellungnahme  zum  Vorläufer  des  skef)tisch- 
phantastischeii  philosophischen  Neukantianismus  und  des  zugleich 
skeptischen  und  massiv  gläubigen  theolügischen  Neukantianismus 
geworden.  Bei  diesen  transcendentLdidcalistischen  Richtungen  ist 
die  Schwebe  zwischen  Skepsis  und  Phantasie  oder  Skepsis  und 
Autoritätsglaube  die  letzte  Zuflucht;  bei  Schleiermacher  aber  ist 
sie  eine  Inkonsequenz,  die  nur  daraus  entspringt,  dass  er  die 
blosse  Wahrscheinlichkeit  alles  menschlichen  Wissens  noch  nicht 
als  die  mitgesetzte  Folge  seines  transcendentalen  Reahsmus  be- 
griff, sondern  an  dem  überkommenen  Ideal  des  schlechthin  ge- 
wissen Wissens  als  dem  allein  wertvollen  und  wahren  Begriff 
des  Erkenn ens  festhielt,  — 

Schleicrmachers  Erkenntnistheorie  geht  von  einer  Doppclheit 
zweier  Thäligkeiten  in  der  subjektiven  oder  idealen  Sphäre  aus, 
der  sensuellen  und  der  intellektuellen,  oder  der  organischen  und 
der  Vernunftthätigkeit.  Die  erstere  allein  gäbe  die  chaotische 
Unbestimmtheit  der  Sinnesaffektion,  Denksloff  vor  aller  Formung,  ^M 
der  überall  derselbe  ist;  die  letztere  allein  gäbe  einen  bloss  mög*  " 
liehen  Anfang  des  Denkens,  der  aus  Mangel  eines  Denkstoffes 
nicht  zwt  Verwirklichung  kommt  Nur  das  Ineinanderscin  und 
aufeinander  Bezogensein  beider  Thätigkeitcn  lässt  ein  wirkliches 
Denken  zustande  kommen  (Dial,  S,  38g — 3Q0,  4Q4);  wer  diese 
unbeweisbare  Grundvoraussetzung,  die  Zusammengehörigkeit 
beider  Thätigkeiten ,  anfechten  will,  der  muss  das  Denken  auf- 
geben (457,  460).  Das  Cogito  ergo  sum  ist  eine  ganz  leere 
Behauptung,  so  lange  nicht  zu  der  Denkthätigkeit  durch  die 
organische  ein  Denkstoff  hinzugefügt  wird,  der  eine  Verschieden- 
heit in  die  aufeinander  folgenden  Denkmoniente  hineinbringt; 
denn  erst  mit  der  Verschiedenheit  des  Denkinhalts  gewinnt  die 
Reflexion  auf  die  Identität  des  denkenden  Subjekts  einen  Grund 
(52g).  Das  Selbstbewusstsciii,  abgesehen  von  allem  bestimmten 
Inhalt,  ist  nichts  anderes,  als  das  Bewusstsein  von  dem  Einssein 
und  der  Zusammengehörigkeit  der  beiden  Thätigkeiten  (414), 
Das  Selbstbewusstsein  ist  als  unmittelbares  gleich  Gefühl,  als 
reflektiertes  gleich  Ich  (42g).  Beim  Erfahningsdenken  giebt  jeder 
zu,  dass  wir  den  Stoff  durch  die  Organisation  empfangen;  aber 
selbst    die    Formen    des    Denkens    (Kategorien)    können    wir  (be- 


Sdildennadier. 


wusst)  nur  denken  in  der  Wahrnehmung  oder  Erinnerung  des 
wirklichen  Denkens,  also  mit  Hilfe  der  Organisation,  des  inneren 
Ohres  (387),  welches  das  innere  Sprechen  vernehmlich  macht  (492). 
Vernunftthätigkeit  ohne  organische  ist  nur  in  Gott;  im  Menschen 
ist  sie  immer  durch  organische  bedingt.  Das  Übergewicht  der 
ersteren  giebt  das  eigentliche  Denken,  das  der  letzteren  das  Wahr- 
nehmen,  das  oscillicrende  Gleichgewicht  beider  das  selbstgenüg- 
same Anschauen  (60 — 62,  39^),  So  ist  das  Wissen  ein  Oscillieren 
zwischen  Denken  und  Wahrnehmen  (392).  Vom  ersten  Denken 
des  Kindes  an  bis  zu  dem  des  höchsten  Denkers  wachsen  beide 
Seiten  mit  einander  und  entsprechen  einander  auf  jeder  Stiife  (28). 
Alle  Indi\nduen  haben  sowohl  in  Bezug  auf  die  organische  als 
auch  in  Bezug  auf  die  intellektuelle  Thätigkeit  eine  gleiche  Or- 
ganisation, so  dass  ihre  verschiedenen  Thätigkeiten  für  einander 
substituiert  werden  können  (65—67,  387,  390),  Dies  ist  die  erste 
unerlässliche,  innere  Bedingung  für  Übereinstimmung  des  Denkens 
in  den  verschiedenen  Denksubjekten,  wie  die  Identität  des  Seins, 
auf  welches  sich  das  Denken  aller  bezieht,  die  zweite  unerläss- 
liche äussere  Bedingung  ist  (485 — 487),  Insbesondere  muss  es  die 
Eine  allgemeine  Vernunft  sein,  die  sich  in  der  Vernunftthätigkeit 
aller  Subjekte  äussert  (67).  Sie  ist  es,  welche  zu  der  durch  die 
organische  Thätigkeit  gesetzten  verworrenen  Mannigfaltigkeit  die 
Bestimmung,  Sonderung,  Einheitsetzung  und  Entgegensetzung, 
kurz  die  *BegrifFsanfänge<^  oder  :^ intellektuellen  Orter^  hinzubringt 
und  in  dem  vorgefundenen  Denkstoff  ihre  Denkformen  entfaltet 
{492 — 497)*  Die  Vernunft  ist  ^der  Ort  aller  waliren  Begriffe« 
und  die  lebendige  Kraft  zu  ihrer  Produktion;  ihr  Wesen  ist  die 
lebendige  Totalität  des  Schematismus  der  Begriffe  {104 — 105). 
Die  Vernunftthätigkeit  will  das  System  der  Begriffe  zum  Be- 
wusstsein  bringen  {2^$).  Als  Begriffe  sind  sie  erst  im  Bewnsst- 
sein,  auf  Anlass  der  organischen  ITiätigkeit;  die  Vernunft  ist  die 
transcendente  Voraussetzung  sowohl  des  Bewusstseins  als  der 
Begriffe,  darf  also  nicht  in  das  Gebiet  des  Bewusstseins 
hereingezogen  werden  (105).  Die  intellektuelle  Vernunft- 
thätigkeit ist  unbewusst  und  allgemein,  strebt  aber  zum  Be- 
wusstsein  zu  kommen  mit  ?Iilfe  der  organischen  Thätigkeit,  die 
im  Gegensatz  zu  ihr  bewusst  und  in  unbestimmte  Mannigfaltig- 
keit be&ondert  ist  (195 — 196)*  Die  Vernunft  ist  also  das  all- 
gemeine,  einheitliche,   unbewusste  Princip,   das  sich  in  die  den 

£.  ««  H ar  t m a  n n ,  Auagcw.  Werke.     Bd.  KU.  10 


146 


Schlererinaclitfr* 


DenkstofF  formierenden ^  unbewusstcn  IntellcktuaUuuktionen  (Kate- 
gorialfunktionen)  entfaltet,  oder  das  dem  Denken  immanente  un- 
bcwusste  System  von  Bethätigungsnormen,  die  aber  nur  uneigent- 
lich Begriffe  genannt  werden.  — 

Die  zweite  unerlitssliche  Bedingung  fCir  gleiche  Denkergeb- 
nisse verschiedener  Subjekte  ist  die  Beziehung  ihres  Denkens  auf 
ein  und  dasselbe  (numerisch  identische)  Sein  (67,  4S4— 486).  So 
lange  das  Denken  in  sich  bleibt,  ohne  auf  ein  identisches  Sein 
bezogen  zu  werden»  giebt  es  nur  Verschiedenheit  der  Gedanken 
ohne  Widerstreit;  widerstreitend  können  die  Gedanken  mehrerer 
nur  dadurch  werden,  dass  sie  von  demselben  Sein  Ent^t^egen- 
gesetztes  behaupten  (44g,  485 — 486»  584 — 589),  Die  Überein* 
Stimmung  des  Denkens  in  vielen  Subjekten  giebt  wohl  der  Ver- 
mutung Raum,  dass  ihr  Denken  ein  Wissen  sein  möchte,  aber 
die  Wahrheit  des  Wissens  hängt  doch  ganz  an  der  Überein- 
stimmung des  Denkens  mit  dem  Sein,  auf  das  es  sich  bezieht, 
und  die  subjektive  l'berzeugung  an  der  Übereinstimmung  der 
organischen  und  intellektuellen  Thätigkeit  {6,  55,  386,  392 — 393, 
396,  487),  welche  innerhalb  des  Denkens  den  Gegensatz  des 
Realen  und  Idealen,  Objekts  imd  Subjekts»  Seins  und  Denkens 
repräsentieren  (75 — 76), 

Die  intellektuelle  Tliätigkeit  bezieht  sich  nicht  unmittelbar 
auf  das  Sein,  sondern  auf  die  organische  Thätigkeit,  deren  Pro- 
dukte ilir  das  Sein  repräsentieren,  und  erst  durch  diese  vermittelt 
auch  auf  das  Sein,  Die  organische  Thätigkeit  bezieht  sich  un- 
mittelbar auf  ein  Sein,  entweder  auf  ein  äusseres,  oder  auf  ein 
inneres.  Wenn  der  Sinn  sich  nach  innen  öffnet,  heisst  die  or- 
ganische Thätigkeit  Empfindung  und  bezieht  sich  auf  das  eigene 
Sein;  wenn  er  sich  nach  aussen  öffiiet,  heisst  sie  Wahrnehmung 
und  bezieht  sieh  auf  die  Aussenwelt,  und  zwar  zunächst  auf  das 
Sein  anderer  Menschen  (123,  453,  491).  Auch  das  Individuelle 
im  Denken  ist  auf  ein  inneres  Sein  zu  beziehen,  nämlich  auf  die 
seiende  Eigentümlichkeit  der  individuellen  Organisation ,  aus  der 
die  eigenartige,  von  anderen  abweichende  Auft'assung  des  Indivi- 
duums entspringt  (490,  287). 

Die  Beziehung  des  Denkens  nach  innen  auf  das  eigene 
Sein  w^ird  auch  vom  Skeptiker  nicht  bestritten,  dej*  zugiebt,  dass 
die  Bilder  im  Wachen  ebenso  wie  im  Schlafe  aus  inneren  or- 
ganischen Aflfektionen  entspringen;  nur  die  Beziehung  der  Bilder 


Sckleiennadier. 


»47 


des  wachen  Bewussteeins  auf  ein  äusseres  Sein  verwirft  der 
Skeptiker,  indem  er  den  Traum  zum  Urtypus  nimmt  (452, 
488 — 489).  Wir  sind  denkend  und  denken  seiend;  in  uns  also 
ist  Donken  und  Sein  als  Eins  gesetzt.  Dem  Denken  vorher  geht 
das  WissenwoUen,  das  uns  nicht  als  Denken,  sondern  als  Sein 
gegeben  ist  (488);  denn  auch  als  Wollende  und  Wirksame  fühlen 
wir  uns  als  Glieder  des  gesamten  Seins  (517).  Indem  der  Streit 
der  Meinungen  uns  über  die  Existenz  einer  Mehrheit  denkender 
Subjekte  belehrt  (54),  müssen  wir  anerkennen,  dass  nicht  nur 
jeder  Mensch  für  sich,  sondern  auch  alle  für  jeden  ein  Sein  sind 
(460).  Zunächst  sind  die  anderen  für  jeden  nur  denkendes  Sein, 
aber  indem  sie  ihr  Denken  nur  durch  Reden  kund  thun,  müssen 
wir  ihnen  eine  Organisation  gleich  uns  selbst  zuschreiben  (4H9). 
Der  Grund  davon,  dass  wir  ein  Sein  ausser  uns  annehmen, 
liegt  darin,  dass  wir  uns  solcher  Einwirkungen  auf  uns  bewusst 
sind,  die  nicht  von  uns  herrühren  (48g — 490).  In  der  Empfindung 
ist  ebenso  wie  im  Denken  eine  (transccndentale)  Beziehung  auf 
ein  ausser  ihnen  selbst  Gesetztes,  nämlich  auf  die  sie  veranlassende 
Ursache  (384),  die  als  ein  jenseits  des  empirischen  Bewusstseins 
Liegendes  etwas  Transcendentes  ist  (583).  Schleiermachcr  unter- 
scheidet leider  nicht  zwischen  transccndent  und  transcen dental  (38), 
sondern  versteht  unter  beiden  Ausdrücken  dasjenige,  was 
dem  Formalen  oder  der  Denkthätigkcit  gegenübersteht,  wie  das 
Reale  dem  Idealen  (33 — 34)  oder  mit  anderen  Worten  dasjenige, 
was  wir  niemals  unmittelbar  anschauen,  sondern  dessen  wir  uns 
nur  (mittelbar)  als  eines  notwendig  Anzunehmenden  (d,  h.  einer 
unentbehrlichen  Hypothese)  bewusst  werden  können  (78).  Auch 
im  allgemeinsten  Begriff  des  Dinges  ist  noch  die  Fähigkeit,  uns 
organisch  zu  affizieren,  mitgesetzt;  nimmt  man  ihm  diese  Fähig- 
keit, so  bleibt  nur  der  leere  Begriff  eines  beziehungslosen  Seins 
ohne  Thun  übrig,  der  gleich  Nichtsein  ist  (388 — 389).  Alles 
Thun  oder  Handeln  ist  ein  transcuntes,  selbst  dann,  wenn  es  sich 
anf  das  eigene  Sein  bezieht,  also  immanent  scheint;  denn  das 
Sein,  das  durch  das  Handeln  verändert  werden  soll,  ist  ein  anderes 
als  das  Sein  des  Wollens^  welches  die  Veränderung  hervorbringt 
(518—519),  Subjekt  und  Objekt  (Ding  an  sich)  sind  beide  aktiv 
und  beide  passiv  (552 — 553).  Durch  die  organische  Impression 
wird  das  ausser  dem  Menschen  befindliche  Sein  in  das  Sein  in 
ihm  (repräsentativ)  übertragen;  durch  die  organische  Wirksamkeit 


148 


Schlciemmcher. 


oder  das  Handeln  des  Menschen  wird  das  in  ihm  liegende  Sein 
in  das  Sein  ausser  ihm  {abbildlich)  gesetzt  (460—461).  So  hängt 
der  Mensch  durch  das  Gebiet  des  Organischen  mit  dem  übrigen 
Sein  zusammen  (460);  das  Korrespondieren  des  Denkens  und 
Seins  ist  vermittelt  durch  die  reale  Beziehung,  in  welcher  die 
Totalität  des  Seins  mit  unserer  Organisation  steht  (54).  Sein  und 
Denken  sind  beide  geteilt,  aber  nicht  in  übereinstimmender  Weise; 
darin  liegt  der  Grund  der  relativen  Nichtübereinstimmung  beider, 
wie  in  der  Einheit  des  Wesens  auf  jeder  Seite  der  Grund  ihrer 
relativen  Übereinstimmung  (55).  Wahr  ist  ein  einzelnes  Wissen, 
insofern  es  zu  dem  Teile  des  Seins,  den  es  zum  Gegenstand  hat, 
dasselbe  Verhältnis  hat,  welches  im  allgemeinen  zwischen  Weissen 
und  Sein  stattfindet  (6). 

Das  äussere,  ausser  uns  gegebene  (transcendente)  Sein  ist  ein 
(für  alle  Denkenden  und  Wahrnehmenden)  Gemeinsames  und  zu- 
sammengenommen mit  dem  menschlichen  Sein  (d,  h.  der  Gesamt- 
heit der  Menschen)  eine  gemeinsame  Welt,  die  Einheit  von 
denkendem  und  nicht  denkendem  Sein  (490—492).  Dieses  sie 
alle  affizierende  Sein,  oder  die  fär  alle  identische  Aussenwelt 
schliesst  ein  System  der  gegenseitigen  ursächlichen  Einwirkung 
der  Dinge  aufeinander  ein  (123,  125 — 126).  Dieses  System  der 
allgemeinen  Wechselwirkung  oder  Gemeinschaft  entspricht  der 
steten  Veränderlichkeit  der  organischen  Funktion,  ebenso  wie  das 
System  der  unzeitlichen  substantiellen  Formen  im  Sein  der  Prä- 
formation der  intellektuellen  Funktion  entspricht  (127 — 130}.  Der 
organischen  Funktion  ist  deshalb  das  Sein  immer  nur  in  seiner 
Aktivität  gegeben  (324).  — 

Die  Aktivität,  den  Wechsel  des  Seins,  das  Moment  der 
Thätigkeit  und  Leide ntlichk ei t  (d,  h,  Veränderung,  Vorgang,  Ge- 
schehen, Prozess),  bezeichnet  Schleiermacher  sonderbarer  Weise 
mit  dem  Ausdrucke  >Thatsache«  (512).  So  wird  das  Zeitwort, 
der  ursprüngliche  Ausdruck  des  Prädikats,  zum  Repräsentanten 
der  kausalen  Aktivität  und  Passivität  im  Urteilen  (323);  das 
Siibstantivum,  der  ursprüngliche  Ausdruck  des  grammatischen 
Subjekts  dagegen  wird  zum  Repräsentanten  der  unzeitlichen  sub- 
stantiellen  Seinsfonnen  im  Urteilen  (200).  Das  Urteil  selbst 
repräsentiert  die  thatsächliche  Veränderung  des  Seins  und  den 
Wechsel  der  organischen  Eindrücke  im  Denken,  weil  die  Ver- 
knüpfung mit  dem  Prädikat  (Zeitwort)  den  Subjektbegriff  mit  in 


Sckleiemiadier. 


149 


den  Strudel  der  Veränderung  hineinzieht;  der  Begriff  dagegen 
repräsentiert  die  unzeitliche,  feste,  stehende,  substantielle  Seins- 
form im  Denken  (509).  So  kommt  Schleiermacher  zu  der  An- 
nahme, dass  Begriff  und  Urteil  sich  zu  einander  verhalten  wie 
intellektuelle  und  organische  Thätigkeit  (466)  oder  wie  Ideales 
und  Reales»  obschon  er  daran  festhält,  dass  in  beiden  beide 
Thätigkeiten  zusammenwirken  müssen  und  nur  immer  die  eine 
im  Übergewicht  über  die  andere  ist  (122).  Das  System  der  Be- 
griffe bildet  im  Denken  das  stehende  Gerüst,  das  dem  Sein  der 
Gattungen  und  Arten  entspricht;  das  System  der  Urteile  liefert 
die  lebendige  Ausfüllung  dazu,  die  dem  System  der  Aktionen 
oder  der  allgemeinen  Wechselwirkung  oder  der  Gesamtheit  der 
Thatsachen  (Veränderungen)  entspricht  (325,  509). 

Die  untere  Grenze  der  Urteilsbildung  ist  das  unpersönliche 
Erfahrungsurteil.  z.  B.  '»da  glänzt's«  (561),  die  erste  Heraus- 
hebung eines  Bestimmten  aus  der  unbestimmten  Mannigfaltigkeit 
der  Eindrücke  oder  aus  der  chaotischen  Materie  der  Empfindung 
(116— 117,  iiq).  Die  obere  Grenze  ist  das  absolute  Urteil:  malles 
Sein  ist  Wechselwirkung«,  oder  »die  Einheit  des  aufeinander 
Bezogenseins  ist*,  oder  ^die  Welt  ist«  {261,  562),  Die  untere 
Grenze  des  Begriffs  ist  ebenfalls  verworrene  Indifferenz  (409), 
die  dem  Sein  mit  aufgehobenem  Gegensatz,  d.  h,  dem  leeren  Sein 
ohne  Thun,  entspricht  {407,  388 — 389);  denn  in  dem  unvoll- 
kommenen Begriff  ist  noch  manches  in  dem  Gegenstande  Ent- 
haltene nicht  aufgenommen  (408).  Die  obere  Grenze  des  Begriffs 
wäre,  objektiv  gedacht,  nur  die  höchste  Gattung,  das  allgemeinste 
Ding,  das  cns  summum  universalissimum.  dem  die  allgemeinste 
Kraft  im  Sein  entspräche  (121);  der  Form  nach  wäre  sie  kein 
Begriff  mehr,  weil  wir  keine  Mannigfaltigkeit  von  Merkmalen 
davon  aufstellen  können;  da  sie  aber  allen  Inhalt  des  Seins  um- 
spannte, so  entSprüche  sie  dem  absoluten  Sein.  Die  untere  Be- 
griffsgrenze verhält  sich  zur  oberen  wie  o  zu  co  oder  wie  In- 
differenz zu  Zusammenfassung  (465).  Nur  in  der  Art,  wie  das 
Denken  zu  ihnen  kommt,  ist  die  untere  und  obere  Grenze,  der 
Begriff  von  der  unteren  und  oberen  Grenze  des  Urteils  ver- 
schieden, sachlich  drücken  aber  beide  dasselbe  Sein  aus,  fallen 
also  in  Eins  zusammen,  nämlich  in  die  verw^orrene  Indifferenz  einer- 
seits und  in  das  allen  Seinsinhalt  umspannende  absolute  (gramma- 
tikalische)   Subjekt    andererseits    (99 — 101,    506).     Das    absolute 


i^o 


Schlei  ermadier. 


Subjekt  ist  nicht  der  leere  Gedanke  einer  Einheit  des  Seins, 
sondern  der  aus  der  Vielheit  entstandene  Gedanke  einer  die  Viel- 
heit einschliessenden  (synthetischen)  Einheit  (507—508),  Ihm  ent- 
spricht im  Sein  einerseits  die  höchste  Kraft  oder  höchste  Gattung 
als  Inbegriff  des  substantiellen  testen  Seins,  andererseits  die  all-  ^ 
gemeine  Wechselwirkung  als  Gesamtheit  der  Thatsaclien  (Ver- 
änderungen)» welche  beide  von  einander  unzertrennlich  sind  und 
in  ihrer  Einheit  die  Welt  ausmachen  {115,  99,  506).  Wäre  das 
dem  Begriff  und  das  dem  Urteil  zu  Grunde  liegende  Sein  nicht  i 
dasselbe,  dann  gäbe  es  keinen  wahrhaften  Übergang  zwischen 
Begriff  und  Urteil  {507).  — 

Alles  Erkennen,  alles  wirkliche  Begriffsbilden  und  Urteilen 
liegt  zwischen  der  unteren  und  oberen  Grenze  (562),  Die  untere 
Grenze  bat  eine  reale  Bedeutung  als  Ausgangspunkt  des  Er- 
kennens  beim  Erwachen  des  Bewusstseins;  die  obere  Grenze 
stellt  sich  als  ein  Ziel  des  Erkenntnisprozesses  dar»  das  schon 
darum  unerreichbar  ist,  weil  es  weder  Begriff  noch  Urteil  ist, 
also  überhaupt  nicht  mehr  die  Formen  des  bcwussten  Denkens 
und  Erkennens  zeigt.  Die  obere  Grenze  ist  die  Fiktion  eines 
absoluten  Wissens,  das  die  P'ormen  des  Wissens  überwunden  hat. 
In  ihm  soll  nicht  nur  der  Gegensatz  von  Begriff  und  Urteil, 
intellektueller  und  organischer  Thätigkeit,  der  innerhalb  des 
Idealen  liegt,  sondern  auch  der  von  Begriff  und  Gegenstand, 
Urteil  und  Thatsache  erlöschen  (93);  das  Wissen  soll,  indem  es 
seine  eigene  Form  überschreitet,  mit  dem  Sein,  auf  das  es  als 
Wissen  sich  bloss  bezieht,  identisch  werden,  oder  als  Ideales  mit 
dem  bisher  ausser  ihm  verbliebenen  Realen  oder  als  Formales 
mit  dem  Transcendenten  zusammenfallen  (397,  3Ö2).  Diese  Iden- 
tität des  Idealen  und  Realen,  des  Denkens  und  Seins  nennt 
Schlei ermacher  auch  >die  Idee  des  absoluten  Seins  ^  die  nur  noch 
dem  Inhalt,  aber  nicht  mehr  der  Form  nach  ein  Begriff  oder  ein 
Wissen  ist  (86 — Üy).  Das  Ztisammenfallen  des  Wissens  und  Seins, 
des  Formalen  und  Transcendenten  erklärt  Schleiermacher  aus- 
drucklich für  die  Bedingung ^  unter  der  allein  die  Aufgabe  des 
Erkennens  lösbar  ist  (382),  oder  für  die  allem  Wissen  zu  Grunde 
hegende  Voraussetzung  (397),  oder  für  den  transcendenten  Grund 
des  Wissens  (86 — ^87).  Um  zu  dieser  Einheit  des  Wissens  und 
Seins  eine  Brücke  zu  finden,  müht  er  sich  so  ab  mit  der  Einheit 
des  Begriffs  und  Urteils  in  ihrer  oberen  Grenze,  und  nennt  auch 


wohl  schon  diese  selbst  den  transcendenten  Grund  des  Wissens, 
insofern  sie  nämlich  auf  jene  andere  Einheit  transcendental  be- 
zogen  wird»  oder  sie  für  das  Bewusstsein  repräsentiert  (loi).  Die 
Neigung  zur  Vermengung  beider  Gleichsetzungen  wurde  aber 
Schleiermacher  später  doch  wieder  bedenklich,  so  dass  er  die 
obere  Grenze  und  das  Transcendentc,  das  absolute  Subjekt  in 
unserm  Denken  und  das  Absolute  selbst  doch  wieder  auseinander- 
iuhaltcn  sucht  (500,  503,  vergl.  die  Anmerkungen  des  Heraus- 
gebers S.  80,  115 — 116,  145 — 146). 

Die  Fiktion  der  oberen  Grcns^e  des  Begriffs  und  Urteils  ver- 
liert aber  jede  Bedeutung,  \venn  sie  nicht  die  Identität  von  Wissen 
und  Sein,  Begriff  und  Gegenstand,  Formalem  (Bewusstseins- 
immanentem)  und  Transcendentem  unmittelbar  einschliesst;  denn 
eine  Ableitung  dieser  Identität  aus  der  Gleichsetzung  von  Begriff 
und  Urteil  in  der  oberen  Grenze  ist  von  Schleiermacher  nicht 
versucht  und  ist  überhaupt  gar  nicht  möglich.  Eine  blosse 
Fiktion  k*mn  niemals  die  Brücke  vom  Wissen  zum  transcendenten, 
realen  Sein  schlagen;  was  bloss  als  Ziel,  und  noch  dazu  als  un- 
erreichbares, also  ewig  unwirkliches  Ziel  der  Entwickelung  des 
Wissens  hingestellt  wird,  kann  niemals  (irund  des  Wissens  sein, 
der  ein  reales  Prius  des  Wissens  sein  mQsste,  Jede  Steigerung 
des  bewussten  Denkens  muss  auch  mit  einer  Verschärfung  der 
Gegensätze  des  Denkens  verbunden  gehen,  kann  aber  nicht  zu 
ihrem  Erlöschen  führen;  verschwunden  können  die  Gegensätze 
nur  in  einem  unbewussten  Denken  oder  in  einer  unbewussten 
Intellektualfijnktit>n  sein,  w*ie  Schleiermacher  seihst  sie  in  der 
dem  Wissen  vorhergehenden  Vernunftthätigkeit  dargestellt  hat. 
Wäre  das  bewusste  Wissen  zu  seiner  htichsten  VoDendung  ge- 
führt, so  würde  es  sich  zwar  seinem  Inhalt  nach  mit  dem  Inhalt 
des  Seins  decken,  aber  es  wäre  doch  selbst  dieser  Inhalt  im 
Wissen  und  Sein  trotz  aller  Gleichlieit  ein  numerisch  verschiedener 
und  stellte  sich  in  beiden  in  verschiedener  Form  (Bewusstsein 
und  Dasein)  dar.  Der  von  Schleiermacher  gew^ihlte  Weg,  um 
zur  Identität  des  Idealen  und  Realen  zu  gelangen,  erscheint  dem- 
nach in  jeder  Hinsicht  ungangbar,  und  seine  Fiktion  der  oberen 
(iren/e  eine  v<»llig  verlorene  Mühe.  Dass  die  Korre^jiondenz  von 
Denken  und  Sein  im  Wissen  nur  möglich  ist  unter  der  Voraus- 
setzung, dass  Denken  und  Sein  im  Absoluten  in  gewissem  Sinne 
identisch  sind  (530,  532),  das  kann  auch  dann  bestehen  bleiben, 


^ 


152 


Schleieniuiiclier. 


wenn  die  Identität  von  Denken  und  Sein  in  der  fiktiven  oberen 
Grenze  des  Wissens  als  ein  in  sich  unhaltbarer  und  leistung^- 
unfähiger  Vermittelungsversuch  wieder  ausgeschieden  wird.  — 

Schleiermacher  unterscheidet  Begriff  und  eigentliches  Urteil 
so,  dass  ersterer  nur  das  beharrende  Sein,  die  unvergängliche 
Kraft,  die  substantielle  Form,  den  Typus  der  Erscheinung; 
letzteres  aber  die  Verteilung  auf  Zeit  und  Raum  und  das  je- 
weilige Thun  und  Leiden  des  Subjekts  darstellt  (466).  Zu  dem 
Zweck  muss  er  alle  begrifflichen  Subsumtionsurteile  als  un eigent- 
liche Urteile  beiseite  schieben.  Der  Subjektsbegriff  muss  die 
Möglichkeit  enthalten,  dass  das  Subjekt  hier  oder  dort  sei  und 
die^  oder  das  thun  oder  leide;  das  Urteil  lelirt,  dass  das  Subjekt 
wirklich  jetzt  hier  oder  dort  ist  und  das  oder  das  thiit  oder  leidet 
{265 — 280).  Nur  durch  die  organische  Thätigkeit  kann  festgestellt 
werden,  dass  gerade  jetzt  und  hier  dieses  Ding  ist  und  das  thut 
oder  leidet;  in  diesem  Sinne  bringt  das  auf  die  Wahrnehmung 
gestützte  Urteil  etwas  zu  demjenigen,  was  im  Begriff  als  bloss 
möglich  gesetzt  ist,  nämlich  die  Wirklichkeit  hinzu  (122).  In 
Bezug  auf  den  vollständigen  Subjektbegriff  giebt  es  keine  syn- 
thetischen, sondern  nur  analytische  Urteile;  synthetisch  kann  ein 
Urteil  nur  in  Bezug  auf  den  unvollständigen,  noch  in  der  Bildung 
begriffenen  Subjektbegriff  scheinen.  Der  Unterschied  zwischen 
synthetischen  und  analytischen  Urteilen  ist  also  nicht  festzuhalten 
und  ist  überhaupt  keiner  (89,  563).  Nur  durch  Urteilsbildung 
kann  auch  die  Begriffsbildung  fortschreiten. 

In  seiner  Methodologie  geht  Schleier macher  von  dem  rich- 
tigen Gedanken  aus,  dass  das  Wissen  weder  einseitig  aus  der 
intellektuellen,  noch  einseitig  aus  der  organischen  Thätigkeit, 
sondern  nur  aus  einem  Zusammenwirken  beider  an  jedem  Punkte 
entspringen  könne.  Es  giebt  also  weder  ein  Wissen,  das  bloss 
a  priori  wäre,  noch  ein  solches,  das  bloss  a  posteriori  wäre; 
sondern  Wissen  findet  sich  nur  da,  wo  die  Vereinigung  beider 
Seiten  gegeben  ist  (467,  502).  Einen  Standpunkt,  der  der  orga- 
nischen Tliätigkeit  die  Beteiligung  am  Wissen  abspricht  und  es 
bloss  auf  Begriffs-  und  Urt  ei  Isapriorismus  gründen  will,  nennt 
Schleiermacher  Idealismus  (richtiger  rationalistischen  Apriorismus); 
die  entgegengesetzte  Einseitigkeit,  welche  das  Wissen  bloss  aus 
der  organischen  Funktion  entwickeln  und  die  Begriffe  als  leere 
Formeln   und   Zeichen  beiseite  schieben  will,  nennt  er  Realismus 


SchlcicmiAcher. 


153 


(itiger  sensualistischen  Nominal ismus)  (411,  95—97»  467).  Er 
selbst  strebt  die  rechte  Mitte  zwischen  beiden  an,  aber  er  ver- 
fehlt sie  dadurch,  dass  er  doch  noch  ein  doppeltes  Wissen,  statt 
eines  einfachen  annimmt,  dass  er  also  nicht  die  Faktoren  des 
Wissens  im  einfachen  Wissen  zu  verschmelzen  sucht,  sondern 
zwei  Arten  des  Wissens,  die  jenen  unwirklichen  Extremen  ent- 
sprechen, zu  koppeln  bemüht  ist. 

In  der  Begriffsbildung  findet  er  ein  Übergewicht  Jlt  intellek- 
tuellen Thätigkeit,  in  der  Urteilsbildung  ein  solches  der  organi- 
schen (.|66);  dies  ist  daraus  zu  erkhlren,  dass  er  einerseits  die 
fertigen  Resultate  der  intellektuellen  Thätigkeit,  die  bewussten 
Begriffe  irrtümlicher  Weise  der  intellektuellen  Thätigkeit  näher 
stehend  glaubt,  als  die  Urtcilsbildung,  mit  welcher  die  Begriffs- 
bildung gleichen  Schrittes  fortschreitet,  und  d*iss  er  andererseits 
in  der  raumzeitlichen  Bestimmtheit  der  Urteile  die  Mitwirkung 
der  intellektuellen  Thätigkeit  verkennt.  So  kommt  er  dazu,  das 
spekulative  Wissen  als  ein  überwiegend  begriffliches  und  aprio- 
risches, das  empirische  und  geschichtliche  als  ein  überwicgcml 
auf  Urteil  beruhendes  und  aposteriorisches  zu  betrachten,  und  in 
beiden  ein  Gemenge  von  Wahrheit  und  Irrtum  zu  sehen  (26 — 30, 
130 — 131,  467).  Eine  völlige  Durchdringung  beider  scheint  ihm 
nur  in  der  Totalität,  im  einzelnen  aber  nur  eine  begleitende  Be- 
ziehung des  einen  auf  das  andere  oder  eine  fortlaufende  wissen- 
schaftliche Kritik  möglich  (142 — 144). 

Das  begriffliche  Erkennen  nennt  er  auch  Deduktion,  das 
urteilende  Induktion.  Unter  Deduktion  versteht  er,  was  man 
sonst  Begriffseinteilung  (Division)  nennt,  nämlich  eine  formelhafte 
Ableitimg  von  Artbegriffen  aus  einem  Gattungsbegriff  am  Leit- 
faden begrifflicher  Gegensätze  und  Unterschiede,  die  im  Gattungs- 
begriff gebunden  sind  und  in  den  Artbegriffen  auseinandertreten. 
Unter  Induktion  versteht  er  dagegen  das,  was  man  sonst  Ab- 
straktion nennt,  d.  h.  die  Ilerausziehung  allgemeiner  Bilder  oder 
Schemata  aus  den  Wahrnehmungen.  So  führt  die  Deduktion 
(Division)  zur  Formel  (Definition)  des  Artbegriffs,  die  Induktion 
(Abstraktion}  nur  zu  seinem  Schema  (ins  allgemeine  abgeblasstem 
Bilde).  Das  Ideal  der  Erkenntnis  ist  die  vollständige  Durch- 
dringung von  Tormel  und  Schema  (Difinition  und  Bild),  deren 
er&tere  das  Wesen,  letzteres  die  Erscheinung  des  Begriffes  giebt 
Die  Formel  wird  im  Absteigen  immer  komplizierter,  das  Schema 


154 


Schlciermaclicr, 


im  Aufsteigen  immer  scbeniatischer  und  abstrakter.  Die  an- 
nähernde Deckung  von  Formel  und  Schema  ist  deshalb  nur  in 
der  Mitte  zu  finden,  und  darum  muss  die  Deduktion  von  der 
Mitte  anfangen,  die  ihr  von  der  Induktion  geliefert  wird  (201 — 202, 
238—254).  Sehr  charakteristisch  für  den  Entwickelungsgang  des 
Schlei  er  niacherschen  Denkens  ist  es  dabei,  dass  er  die  Induktion 
erst  als  eine  untere  Vorstufe  des  reinen  Denkens  gelten  lässt,  dle^J 
noch  in  das  Gebiet  der  gemeinen  Erkenntnis  gehört  und  nicht ^^ 
als  stetige  Entwickelung  von  Anfang  bis  zu  Ende  fortgehen 
kann  (220—222,  551),  die  Deduktit>n  (Division)  aber  für  eine  be- 
sondere begriffliche  Art  der  Erkenntnis  halt,  obwohl  sie  ein- 
gestandener Massen  die  Ergcbniisse  der  Induktion  zum  Ausgangs- 
punkt nehmen  (250^251),  überall  auf  di(*  Induktion  hinsehen  und 
zurückgehen  muss  (234,  240),  und  schliesslich  doch  nichts  weiter 
kann,  als  den  von  der  Induktion  bereits  zurückgelegten  Weg 
noch  einmal  in  umgekehrter  Richtung  durchlaufen.  Hier  steckt 
eben  noch  ein  Rest  des  alten  aprioristischen  Vorurteils,  als  ob 
man  durch  formale  Operationen  mit  reinen  Begriffen  zu  irgend 
welcher  realen  Erkenntnis  gelangen  könnte,  und  hernach  nur 
nötig  hätte,  das  so  Erdachte  mit  den  Ergebnissen  der  empirischen 
Erkenntnis  zu  vergleichen  und  in  Einklang  zu  setzen.  Schleier- 
macher hat  immer  noch  zwei  relativ  selbständige  Wissensarten 
oder  Erkenntnismethoden  im  Sinne,  die  verschiedenen,  aber  auch 
gleichen  Inhalt  haben  kuimen,  und  nur  insoweit  zu  verbürgtem 
Wissen  fuhren,  als  sie  gleichhaltig  sind  und  einander  bestätigen. 
In  der  That  giebt  es  aber  nur  einen  einzigen  Erkenntnisweg,  der 
nur  da  einen  Fortschritt  zeigt,  wo  beide  Thätigkeiten ,  die  in 
ihrer  Einseitigkeit  noch  gar  keine  Erkenntnis  sind,  zur  Ent- 
stehung von  Erkenntnis  zusammenw^irken  l^()2 — 393,  396).  — 

So  wäre  Sclileiermachers  Erkenntnistheorie  umrissen.  Das 
Ideale,  das  Reich  des  Geistes,  ist  aber  nicht  im  Erkennen  er- 
schöpft, sondern  umfasst  auch  Wollen  und  GefühL  Vom  Gefülil 
steht  es  für  Schleiermacher  fest,  dass  es  die  relative  Identität  von 
Denken  und  Wollen  ist,  und  dass  die  im  Denken  und  Wollen  nur 
vorausgesetzte  (supponierte)  Einheit  des  Idealen  und  Realen  in 
ihm  wirklich  vollzogen  ist  (151,  152},  Denken  und  Wollen  sind 
noch  im  Gegensatze  stehende  Funktionen  (42S);  das  Gefühl  ver- 
mittelt nicht  nur  den  Übergang  zw^ischen  ihnen,  sondern  läuft 
auch    als    beständiger    Begleiter    neben    ihnen    her    {429).     Jedes 


Schleiemmchcr. 


1^55 


^Wollen  ist  nach  Massgabe  seiner  Klarheit  in  einem  Denken» 
üämlich  in  einem  ZweckbegrifF  gegründet,  und  jedes  Denken  ist 
als  Produktivität  auch  Wollen;  darum  muss  ihr  transcendenter 
Gnmd  ein  einheitlicher  sein  (427 — 42H).  Als  gegensätzliche  Funk- 
tionen müssen  sie  innerhalb  der  Sphäre  des  Geistigen  den  Grund- 
gegensatz des  Realen  und  Idealen,  wenigstens  im  Übergewicht 
der  einen  Seite,  dcirstellen,  den  ihre  Einheit,  das  Gefühl,  zum 
Gleichgewicht  gebunden  enthält.  Aber  Schleiermacher  sagt  nicht» 
welches  von  ihnen  dem  Idealen  und  welches  dem  Realen  ent- 
spricht Nach  heutiger  Auffassung  könnte  man  geneigt  sein,  im 
Wollen  das  Reale,  im  Denken  das  Ideale  zu  sehen;  aber  das 
würde  nicht  Schleiermachers  Meinung  entsprechen.  Das  Wollen 
ist  zwar  nach  ihm  ein  Glied  des  gesamten  Seins,  sowohl  als 
Kraft  wie  als  Thatsache,  aber  nicht  in  anderem  Sinne»  wie  dies 
auch  vom  Denken  gilt  (517—519).  Das  Wollen  ist  bloss  das 
Denken  in  seiner  höchsten  Wirksamkeit  oder  Aktivität  und  so  in 
seinem  schärfsten  Gegensatz  zu  dem  nichtdenkeoden  passiven 
Sein  (42g);  es  bildet  also  den  Gipfel  des  Idealen,  wenn  das  Ur- 
bild des  Realen  in  dem  letzteren  zu  suchen  ist.  Die  Kraft  wird 
ja  gleichfalls  von  Schleiermacher  auf  die  Seite  des  Idealen  ge- 
stellt, und  ihr  Gegensatz,  die  Thatsache  (Veränderung),  haftet 
dem  Denken  ebensogut  wie  dem  Wollen  an.  Das  Wollen  ver- 
steht Schleiermacher  noch  ebenso  wie  Kant,  Fichte,  Schelli ng  in 
seiner  ersten  Periode  und  Hegel  als  praktische  Vernimft  oder 
ethische  Zwecksetzung.  Im  Ethischen  ist  aber  die  Vernunft  (das 
Ideale)  das  Ursprüngliche,  und  der  (legenstand  (das  Reale)  bildet 
sich  erst  aus  ihr  heraus;  im  Physischen  dagegen  ist  das  Objektive 
(Reale)  das  Ursprüngliche  und  die  Vernunft  (das  Ideale)  bildet 
sich  (als  bew^usste)  erst  aus  ihm  heraus  (327),  Daraus  kann  man 
entnehmen,  dass  bei  Schleiermacher  in  dem  Gegensatz  von  Wollen 
und  Denken  das  Wollen  (als  vernünftige  ethische  Zweckthätigkeit) 
das  ideale,  das  Denken  aber  (als  bewusste  präsentative  Rekon- 
struktion des  realen  Seins)  das  reale  (Tlied  darstellt  Das  Wollen 
eritspricht  der  intellektuellen,  das  Denken  der  organischen 
Funktion  in  dem  erkenntnistheoretischen  Gegensatze;  denn 
Wollen  und  intellektuelle  Funktitm  formieren  die  vorgefundenen 
äusseren  oder  inneren  Daten  nach  idealen  Normen,  Denken 
und  organische  Funktion  dagegen  spiegeln  das  reale  Sein 
in   der  idealen   Sphäre   beziehungsweise   im    Denken   wider,   und 


156 


Schleierrnacher, 


Kwar  um  so  treuer»  je  weniger  sie  das  Urbild  im  Abbilde 
verändern.  — 

Wir  kommen  nun  zu  der  Seite  des  Realen,  das  als  Objek- 
tives oder  Reich  der  Natur  dem  Idealen,  Subjektiven,  oder 
Reiche  des  Geistes  g-e  gen  übersteht  und  das  für  unser  Bewusst- 
sein  transcendente  Sein  umfasst,  auf  welches  wir  all  unser  Denken 
(transcendental)  beziehen.  Unser  Denken  hätte  kein  reales  Objekt, 
durch  Beziehung  auf  welches  und  durch  Übereinstimmung  mit 
welchem  es  zum  Wissen  werden  könnte»  wenn  das  Absolute  sich 
nicht  in  zwei  entgegengesetzte,  parallel  laufende  und  aufeinander 
bezogene  Arten,  Formen  oder  Modi  des  Seins  dirimicrte  (77)^ 
Wie  alle  Gegensätzlichkeit  nur  eine  relative  ist,  so  auch  die 
beider  Modi  (335);  das  Ideale  lässt  den  Begriff,  das  Reale  das 
Objekt  heraustreten,  oder  im  Übergewicht  erscheinen,  während 
die  Verabsolutierung  des  Gegensatzes  zu  reiner  Materie  und  reinem 
(bewHssten)  Geist  beide  Glieder  mythisch  machen  würde  (333). 

Das  Reale  oder  die  Natur  zerfällt  selbst  wieder  in  den  rela- 
tiven Gegensatz  des  Realen  und  Idealen.  Dasjenige  an  ihr,  was 
der  organischen  Funktion  im  Denken  entspricht»  ist  das  relativ 
Reale,  dasjenige,  was  der  intellektuellen  entspricht,  das  relativ 
Ideale  am  Realen,  Ersteres  Ist  dasjenige,  was  dem  Bilde  der 
Wahrnehmung  zu  Gronde  liegt,  als  stetig  Gegebenes  {trag  be- 
harrende Materie),  letzteres  das,  was  dem  Begriff  zu  Grunde  liegt 
als  lebende  Entgegensetzung  {Divisionstendonz)  (,^97).  Der  be- 
harrende Stoff  ist  aber  auch  zugleich  wieder  dasjenige,  woran 
die  Gestaltungskraft  des  Begriffs  sich  offenbart  und  was  durch 
diese  in  den  Prozess  der  Veränderung  hineingezogen  wird; 
andererseits  ist  die  Division  der  Begriffe  nach  Gegensätzen  eine 
begrenzte,  die  sich  in  einem  festen  System  substantieller  Formen 
vollzieht  und  zu  konstanten  Typen  führt,  d.h.  zu  Formen,  die 
sich  im  Wechsel  des  Stoffes  erhalten  (511).  Den  Begriffen  im 
Denken  entsprechen  im  realen  Sein  die  festen,  substantiellen 
F'ormen,  die  sich  nach  Gegensätzen  gliedern  und  reproduzieren, 
den  Urteilen  das  System  der  Ursachen  und  Wirkungen  oder  die 
Gesamtheit  der  Thatsachen  (Veränderungen)  (120,  412,  509}.  Die 
ersteren  sind  die  Gattungen;  die  letztere  ist  das  Sein  der  Ak- 
tionen, welches  mit  dem  Sein  der  Gattungen  zusammen  die 
Totalität  des  Seins  ausmacht  (321,  325),  Erstere  sind  als  das  für 
sich  Gesetzte  die  Substanz,  letztere   als  das  gemeinschaftlich  (im 


Schleiermacher. 


157 


commercium)  Gesetzte  das  Gebiet  der  Wechselwirkung,  erstere 
das  der  Selbstent wickehing  oder  Freiheit,  letztere  das  der  Not- 
wendigkeit (514).  Erstere  sind  die  Kräfte,  letztere  die  KausaU 
Verhältnisse  oder  Kausalitätssysteme,  welche  auf  die  Kräfte  zu- 
rückweisen» die  in  ihnen  sich  auswirken  (135).  Erstere  ent- 
sprechen dem  festen  Sein  der  Eleaten,  letztere  dem  Heraklitischen 
Fliessen  des  Alls  {129—150).  — 

Schleiermacher ,  huldigt  einem  Begriffsreal  ismus  oder  einer 
Ideenlehre  in  dem  Sinne,  dass  das  dem  Begriff  entsprechende 
Sein  ebenso  wie  der  BegrifiF  im  Denken  nach  Allgemeinem  und 
Besonderem  gegliedert  ist  (in),  dass  das  Allgemeine,  die  Gat- 
tungen, zwar  kein  Sein  ausser  dem  Besonderen,  sondern  nur  in 
und  mit  diesem  hat,  dass  aber  das  Besondere,  die  Arten  und 
Einzeldinge,  doch  sein  Sein  nur  durch  das  Sein  des  jn  ihm 
wesenden  Allgemeinen  hat  (320—321).  Die  Teilung  nach  Gegen- 
sätzen, die  wir  im  Denken  als  Begriflfsdivision  kennen,  vollzieht 
sich  auch  im  Sein  (411—412),  aber  hier  als  Verhältnis  von  Kraft 
und  Erscheinung  (iii — 112,  414,  471).  Jede  niedere  substantielle 
Form  ist  die  Erscheinung  einer  höheren,  die  sich  zu  ihr  als  die 
sie  produzierende  Kraft  verhält;  sie  selbst  ist  aber  wieder  die 
Kraft»  die  die  unter  ihr  befassten  substantiellen  Formen  als  ihre 
Erscheinungen  hervorbringt  {113,  415).  Erscheinung  ist  bereits 
doppelsinnig;  einerseits  ist  sie  feste  Form  des  Seins,  Species  einer 
Kraftgattung  oder  niederer  Begriff,  andererseits  beständig  sich  ver- 
ändernde Mannigfaltigkeit  der  Kraftäusserungen  oder  Thatsacben, 
also  Korrelat  des  Urteils  (510).  Die  Erscheinung  schillert  also 
bei  Schleierm acher  zwischen  Kraftäusserung  in  Bezug  auf  die 
höhere,  und  Kraft  in  Bezug  auf  die  niedere  substantielle  Form. 
und  schlägt  in  dieser  Zweideutigkeit  die  Brücke  zwischen  der 
substantiellen  Form  und  der  Summe  kausaler  Veränderungen. 
Auf  allen  Mittelstufen  ist  festes  Sein  und  Aktion,  Substanz  und 
Kausalität  vertauschbar,  je  nachdem  man  die  betreffende  Stufe  als 
erzeugende  Kraft  der  niederen  Stufen,  oder  als  Erscheinung  der 
höheren  Stufe  ansieht  (199,  326).  Ganz  dem  Begriff  als  höchster 
allgemeinster  Gattung  ohne  Urteilsbeimischung  oder  dem  abso- 
luten Subjekt  entspricht  demnach  nur  die  höchste,  allgemeinste, 
alles  aus  sich  hervorbringende,  weltbildende  Kraft,  deren  Er- 
scheinungen die  Ideen  sind,  die  selbst  in  keinem  Sinne  Er- 
scheinung sind,   ganz   dem  Urteil  nur  die  Wechselwirkung  des 


«58 


SchltfiermacJiCT. 


Einzelnen,  die  bloss  noch  Erscheinung,  aber  nicht  mehr  all- 
gemeine erzeugende  Kraft  für  etwas  noch  unter  ihr  Stehendes 
ist  (155,   121,  512). 

Wenn  sich  auf  der  Seite  der  substantiellen  Formen  der  rela- 
tive Gegensatz  des  Idealen  und  Realen  in  Kraft  und  Erscheinung 
wiederholt,  so  auf  der  Seite  der  Veränderung  in  Zeit  und  Raum 
(^qH).  Die  allgemeine  Wechselwirkung  oder  die  Gemeinschaft- 
lichkeit  (commercium)  alles  Seins  ist  die  in  einander  aufgehende 
Raum-  und  Zeit-ErfüUung  {468,  463);  Raum-  und  Zeit-Erfüllung 
ist  auch  der  bei  der  Erhaltung  der  vsubstantiellon  Formen  wech- 
selnde Stoff  (511).  Die  Raumerfüllung  entspricht  dem  Sein,  dem 
Realen,  der  organischen  Funktion,  dem  Bilde,  die  Zeiterfüllung 
dem  Denken»  dem  Idealen,  der  intellektuellen  Funktion,  dem  Be- 
gritf  (398),"')  Raum  und  Zeit  sind  nicht  bloss  die  Formen,  oder 
die  Art  und  Weise  zu  sein,  für  unsere  Sinnlichkeit  und  unsere 
Vorstellungen,  sondern  auch  für  die  allgemeinen  Dinge,  nämlich 
für  die  Verbreitungsart  der  lebendigen  Kräfte  auf  der  Erde,  für 
ihr  Wirkungsmass  und  ihre  Funktionsverhältnisse.  Alles,  was 
Quantum  ist  oder  an  quantitativen  Verhältnissen  teil  hat,  steht 
unter  den  Bedingungen  von  Raum  und  Zeit;  das  trifft  aber  nicht 
bloss  für  das  Einzelne  und  Besondere,  sondern  auch  für  das  All- 
gemeinste zu  {335).  Raum  und  Zeit  sind  eben  die  Formen,  in 
denen  alle  Veränderung,  d.  h.  alle  Kausalität  sich  vollzieht 
Hiermit  sagt  Schleiermacher  sich  ausdrücklich  von  der  trans- 
cendentalen  Ästhetik  der  Kantschen  Vernunftkritik  h:is,  deren 
Ati sehen  damals  noch  fast  unerschütterlich  feststand.  Er  zieht 
damit  die  Konsequenzen  seines  transcenden taten  Rctdismus  eben- 
so nach  Seiten  der  Anschauungsform eu,  wie  nach  Seiten  der  Denk- 
formen, leider  aber  ohne  diesen  erkenntnistheoretischen  Fragen 
eine  eingehendere  Erörterung  und  Begründung  zu  widmen. 

Leeren  Raum  giebt  es  nicht;  auch  wenn  er  nicht  mit  Materie 
erfüllt  ist,  ist  er  mit  Aktion  erftillt.  Zwei  Agentia  sind  sich  un- 
mittelbar gegenwärtig; ,  die  Aktion  vernichtet  den  Raum  (actio 
in  distans)  {336).  Diese  Andeutungen  zeigen,  dass  Schleiermacher 
auf  eine  dynamische  Raumtheorie  abzielte,  wobei  ihn  nur  einer- 
seits die  blosse  Idealität  seines  Kraftbegriffs  und  andererseits  der 
Begriff   der   unbestimmten    chaotischen   Materie   behindert    hätte. 


*)  Aof  S.  462  ist  das  Verhältnis  umgekelirt  angegeben,  oflfcnbar  nur  aus  Versehen. 


SchJ  eiermach  er. 


159 


Zwar  weiss  Schleiermachcr  ganz  genau,  dass  die  Materie  in 
diesem  Sinne  eine  ganz  leere,  verworrene  Vorstellung,  ein 
leerer  Gedanke,  nur  Abstraktion  vom  substantiellen  Sein,  das 
Nichts,  die  Negation  von  allem  ist  (121  —  122,  13S,  141);  er 
weiss,  dass  sie  nur  die  Totalität  unserer  organischen  Funktionen 
ist,  abstrahiert  von  allem»  was  durch  die  intellektuelle  Funktion 
entsteht  (ui),  also  ein  blosses  Produkt  unserer  rezeptiven  Sinn- 
lichkeit unter  Ausschluss  des  Verstandes,  ein  subjektiver  Gedanke 
ohne  entsprechendes  Sein,  also  reell  genommen  Nichts  ist.  Das 
Sein  als  höchste  Kraft  ist  eine  dem  wirklidien  Denken  zu  Grunde 
liegende  Voraussetzung,  und  als  solche  gilt  auch  die  unbestimmte 
Materie  (516);  aber  die  erstere  muss  gemacht  werden,  die  letztere 
braucht  es  nicht  (121  — 122). 

Trotz  alle  dem  hält  Schleiermacher  diesen  scholastischen  Un- 
begriff,  der  zu  keiner  Erklärung  das  mindeste  beitragen  kann 
und  sich  als  Trug  und  \Vahngespenst  entlarvt»  als  untere  Grenze 
der  Regriflfs*  und  Urteilshildung  und  als  vorhergehende  Be- 
dingung für  das  Einzcldasein  und  bestimmte  Urteil  fest  {riy,  141). 
Ja  sogar,  was  noch  schlimmer  ist,  dieser  scholastische  UnbegriflF 
fälirt  fort,  für  ihn  das  typische  Urbild  des  Realen  zu  sein,  das  in 
allen  seinen  Entscheidungen  dafür  massgebend  ist,  welches  von 
zwei  Gcgensatzgliedern  er  als  das  reale  bestimmt  Nur  darum 
rückt  in  der  Natur  die  Kraft,  im  Geiste  das  Wollen  auf  die 
äiisserste  Seite  des  Idealen,  weil  sie  der  chaotischen  Materie 
möglichst  fern  und  entgegengesetzt  scheinen;  dass  aber  gerade 
in  ihnen  das  Kealprincip  zu  suchen  sein  könnte,  kommt  Schleier- 
macher nicht  in  den  Sinn.  Damit  hat  er  sich  aber  den  wahren 
Gegensatz  zum  Idealen  verschüttet,  und  der  Fehler  wird  dadurclj 
nicht  gebessert,  sondern  verschlimmert,  dass  er  in  der  Natur  zu 
einem  scholastischen  BegrüFsrcalisnius  hinneigt,  der  das  Gegen- 
stück zu  seinem     begrifflichen  Wissen*  bildet.  - — 

Das  Ideale,  der  Begriff  nimmt  in  der  Natur  nach  unten  hin 
ab,  verschwindet  aber  nie  ganz;  was  uns  als  tot  erscheint,  kann 
so  nicht  für  sich  gedacht  werden,  sondern  muss  nur  in  eine 
höhere  Sphäre  aufgenommen,  als  Glied  eines  grösseren  Zu- 
sammenhanges aufgefasst  werden,  um  in  dieser  Beziehung  als 
Moment  einer  Einheit  von  Idealem  und  Realem  begriffen  zu 
werden  (334}.  So  ist  auch  das  Reale  oder  die  Natur  ganz  von 
der    relativen  Identität    des  Realen   und    Idealen    durchdrungen, 


wie  dies  auf  der  anderen  Seite  auch  das  Ideale,  oder  der  Geist 
ist  Das  ganze  Sein  ausser  uns,  als  Wissen  von  der  organischen 
Seite  her  gesetzt,  müsste  die  ganze  Vernunft  abspiegehi,  wie  das 
ganze  Wissen  auch  das  ganze  Sein  in  sich  hätte;  beide  lassen 
sich  einander  substituieren,  müssen  also  gleich  sein  (78).  Die 
Gesamtheit  der  Dinge  und  die  der  Begriffsanfänge  (formierenden 
Intellektualfunktionen)  entsprechen  einander,  zwar  nicht  als  Aggre- 
gate, wohl  aber  als  Totalitäten  (497—498).  In  der  Gesamtheit 
des  Realen  ist  auch  das  denkende  Sein,  die  Gesamtheit  der 
denkenden  Individuen  samt  ihrem  Bewusstseinsinhalt  mit  ent- 
halten; in  der  Gesamtlieit  des  Idealen  ist  alles  Denken  sowohl 
als  denkendes  Sein  wie  als  (repräsentativ)  gedachtes  Sein  gesetzt, 
also  die  Identität  beider  unmittelbar  gegeben  {461).  Dass  diese 
Identität  auch  auf  der  Seite  des  Realen  gegeben  ist,  nur  nicht 
unmittelbar  für  das  Bewusstsein.  folgt  sowohl  aus  der  überein- 
stimmenden Gliederung  der  substantiellen  Formen  und  Begriffe, 
als  auch  aus  der  Aufnahmeftihigkeit  des  äusseren  Seins  für  das 
ideale  Gepräge  des  vernünftig -sittlichen  Wollens  (150). 

Fassen  wir  Reales  und  Ideales,  Natur  und  Geist,  Sein  und 
Denken  (in  dem  weiteren,  das  Wollen  mit  umspannenden  Sinne) 
zusammen,  so  haben  wir  die  Welt,  d.  h,  das  Ineinander  von  Natur 
und  Geist  (526)  oder  das  Gleichgewicht  von  Realem  und  Idealem, 
oder  die  synthetische,  die  Gesamtheit  der  Gegensätze  ein- 
schliessende  Einheit  beider  (162,  433).  Als  diese  letzte  synthe- 
tische Einheit  des  Idealen  und  Realen  ist  die  Idee  der  Welt  der 
terminus  ad  quem,  auf  den  unser  ganzes  Wissen  abzielt  und 
dem  es  sich  annähert  (434,  164),  Von  Seiten  der  Natur  ist  die 
Welt  zu  definieren  als  die  Identifikation  von  absoluter  Kraft- 
einheit  und  absoluter  Erscheinungsfülle,  von  Seiten  des  Geistes 
als  die  Identität  des  absoluten  Subjekts  und  der  absoluten  Ge- 
meinschaftlichkeit (Wechselwirkung)  (431,  476).  Beides  sind  aber 
einseitige  Definitionen,  die  in  eine  zusammengezogen  werden 
müssen.  — 

Der  Prozess  muss  aber  nicht  nur  einen  terminus  ad  quem, 
sondern  auch  einen  terminus  a  quo  haben;  wenn  die  Gegensätze 
in  dem  Gleichgewicht  einer  synthetischen,  sie  einschliessenden 
Einheit  münden,  so  müssen  sie  doch  aus  einer  ursprüngUchen  in- 
differenten, sie  ausschliessenden  Einheit  hervorgehen  (434,  164). 
Wenn  die  Korrespondenz   von  Denken  und  Sein  im  Wissen  nur 


Sclüeicnnficber, 


i6[ 


aus  ihrer  ursprünglichen  Identität  im  Absoluten  ableitbar  ist  (330, 
332),  so  ist  es  nicht  minder  die  Korrespondenz  der  vernünftigen 
Formen  und  des  realen  Geschehens  im  Sein.  Diese  ursprüng- 
liche Einheit  muss  als  Grund  des  sowohl  der  Natur  als  auch 
dem  Geiste  einwohnenden  Gesetzes  aufgefasst  werden,  d.  h.  als 
Grund  dessen,  was  zusammengefasst  eben  die  Idee  der  Welt  aus- 
macht (526).  Die  passendsten  Namen  für  diese  ursprüngliche 
Identität  sind  Gottheit,  unbedingtes  Sein,  höchstes  Wesen ,  Abso- 
lutes, TO  oi^cot;  ov  (416,  534).  Gott  und  Welt  gehören  zusammen; 
sie  dürfen  weder  identifiziert  werden»  da  sie  sich  als  gegensatz- 
lose ursprüngliche  Einheit  und  gegensatz volle  synthetische  Ein- 
heit begrifflich  unterscheiden,  noch  dürfen  sie  gänzHch  getrennt» 
auseinandergerissen  und  gegen  einander  isoliert  werden  (167  — 168, 
432 — 434)*  Denn  die  ursprüngliche  Einheit  ohne  die  aus  ihr  aus- 
fliessenden Gegensätze,  Gott  ohne  die  Welt,  wäre  gleich  Nichts 
(416).  ein  leeres  Phantasma  (162);  die  synthetische  Einheit  der 
Gegensätze  ohne  den  ihr  immanenten  Wesensgrund,  aus  dem  die 
Gegensätze  erst  ausfliessen,  wäre  unmöglich.  Gott  nicht  ohne 
die  Welt,  die  Welt  nicht  ohne  Gott  (167,  476,  432);  beide  sind 
Korrelate  (162). 

Schleiermacher  darf  hiernach  wohl  sagen,  dass  das  Absolute 
die  reine  Identität  von  Sein  und  Thun  (Denken  im  weiteren 
Sinne)>  Gegenstand  und  Begriff  sei  (326);  nur  ist  dabei  fest- 
zuhalten, dass  ?' reine  Identität--  hierbei  als  das  Jenseits  aller 
Gegensätze  {434}  oder  als  die  den  Gegensatz  ausschli essende  In- 
differenz zu  verstehen  ist  (433).  Jede  Bestimmung,  die  wir  dem 
Absoluten  beilegen  wollen,  ist  ihm  unangemessen,  wenn  sie  etA\^as 
von  dem  Gegensatze  wieder  in  dasselbe  hineinträgt,  jenseits  dessen 
es  erst  gesucht  werden  darf.  Es  darf  weder  als  Natur  oder 
Materie,  noch  als  bewusster  Geist,  weder  als  weltbüdende  Kraft 
oder  natura  naturans,  noch  als  vatg  (473),  weder  als  naturgesetz- 
mässige  Weltordnung,  noch  als  Sittengesetz  (160,  420 — 428, 
519 — 525.  474),  weder  als  kausale  Notwendigkeit,  noch  als  fVei- 
heit  des  sich  aus  sich  selbst  Entwickeins,  weder  als  Schicksal,  noch 
als  Vorsehung  (420—422,  136)  aufgefasst  werden,  weil  alle  diese 
Bestimmungen  schon  dem  Gegensatze  von  Natur  und  (bewusstem) 
Geist  angehören,  der  von  Gott  fern  gehalten  werden  muss.  — 

Das  Absolute  ist,  als  das  die  Gegensätze  aus  sich  Ent- 
wickelnde, immer  Leben,   aber   weil  zeitlos,  geht  es  nicht  in  sie 

K.  V,  Hartm^aD,  Aufeg«w.  Werke.    Bd*  XU,  1  1 


l62 


Seh  leicmi  ach  er , 


Über.  Das  religiöse  Interesse  geht  dahin,  Gott  nicht  bloss  als 
Lebeiisquell ,  sondern  auch  als  das  Leben  selbst  zu  fassen  (531). 
Dadurch  lässt  es  sich  verleiten,  Gott  als  persönliches  Einzelwesen 
zu  setzen,  weil  es  von  der  Erfahrung  seines  Selbstbewusstseins 
ausgeht  und  die  bestimmte  Form  des  Lebens,  in  welcher  das 
Selbstbewusstsein  ist,  von  derjenigen,  in  welcher  es  nicht  ist, 
nicht  scheidet  (532 — 533,  529).  Die  spekulative  Richtung  nimmt 
diese  Scheidung  vor  und  setzt  den  transcendenten  Grund  alles 
Geschehens  als  einen  (ob  zwar  ohne  Selbstbewusstsein)  leben- 
digen, so  dass  dem  religiösen  Bedürfnis  genug  gcthan  ist  (530), 
Gott  als  persönhches  Einzelwesen  zu  fassen,  ist  inadäquat,  un- 
angemessen, anthropoid  {529,  525 — 526);  die  höchste  Lebenseinheit 
des  Absoluten  kann  nie  als  eine  persönliche  gesetzt  werden  (155). 
Gott  als  bewusstes  absolutes  Ich  denken,  heisst,  ihn  wieder  in 
das  Gebiet  des  Endlichen  und  des  Gegensatzes  hineinwerfen  (158). 
Der  Spiritualismus,  der  das  Absolute  als  bewusstes  Ich  fasst. 
bleibt  ebenso  in  einer  Seite  des  Gegensatzes  stecken,  wie  der 
Materialismus,  der  es  als  Materie  fasst  (331).  Am  wenigsten  aber 
kann  das  Absolute  als  synthetische  Einheit  von  beiden  Seiten 
des  Gegensatzes  aufgefasst  werden;  denn  in  formeller  Hinsicht 
käme  man  damit  doch  nicht  zu  der  ursprünglichen  gegensatz- 
losen Einheit,  und  in  sachlicher  Hinsicht  geriete  man  damit  in 
den  Widerspruch,  die  Vereinigung  von  Bewusstlosigkeit  und 
Bewusstsein  vollziehen  zu  sollen,  was  eben  nicht  geht  {136}. 

Das  Leben  des  Absoluten  kann  schon  darum  nicht  als  ein 
bewusstes  oder  selbstbewusstes  angenommen  werden»  weil  das 
Selbstbewusstsein  nur  dtis  Bewusstsein  von  dem  Einssein  der 
beiden  Thätigkeiten  ist  (414),  weil  die  intellektuelle  Tbätigkeit 
allein  ohne  die  organische  nicht  zum  Selbstbewusstsein  füliren 
kann  (529),  und  weil  in  Gott  jedenfalls  die  organische,  rezeptive, 
sinnliche  Thätigkeit  fehlt  {60),  Als  jenseits  aller  Gegensätze 
stehend  und  alle  von  sich  ausschMessend ,  muss  Gott  nicht  bloss 
den  des  Geistes  und  der  Natur,  sondern  aucli  den  des  Denkens 
und  Seins  von  sich  ausschliessen.  Er  muss  ebenso  übergeistig 
wie  übernatürlich,  ebenso  unvordenklich  wie  überseiend  genannt 
werden.  Diese  Folgerung  liegt  unmittelbar  in  den  Sclileier- 
macherschen  Prämissen  enthalten,  wenn  sie  auch  nicht  in  diesen 
Worten  von  ihm  formuliert  wird.  Sein  Absolutes  ist  die  abso- 
lute   Substanz    mit    Ausschluss    ihrer  Attribute,    das  ""'Er  Plotins, 


* 


Schleiermocher. 


J63 


oder  das  zweiheitlos  Eine  der  Vedantalehre.  Denn  sobald  man 
die  absolute  Substanz  mit  ihren  Attributen  zusammendenkt, 
schliesst  man  schon  den  attributiven  Gegensatz  in  sie  ein,  den 
Schleiemiiicher  von  ihr  fernhalten  will. 

Die  absolute  Substanz  wird  erst  zu  etwas  Lebendigem,  wenn 
man  sie  mit  Einschluss  des  abttributiven  Gegensatzes,  als  ein 
Vieleiniges  auffasst,  das  vermittelst  seiner  Attribute  funktioniert 
und  in  den  Prozess  eingeht  Sie  bleibt  dagegen  ein  selbst  un- 
lebendiger, unwandelbitr  starrer  Lebensquell,  wenn  sie  als  gegen- 
satzlos Eines  in  ewiger  Sichselbst gleichheit  hinter  der  Funktion 
stehen  bleibt,  ohne  in  den  zeitlichen  Prozess  mit  einzugehen. 
Während  Spinoza  den  Tadel  Schleiermachers  wegen  eines  un- 
lebendig starren  Absoluten  nicht  verdient,  zieht  gerade  Schleier- 
macher sich  denselben  durch  seine  Abweichung  von  Spinoza  und 
seinen  Rückgang  auf  Plotin  und  die  Vedantalehre  zu.  Indessen 
selbst  wenn  Schleiermacher  mit  der  Behauptung  recht  hätte,  dass 
sein  gegensatzloses  Absohites  nicht  bloss  Lebensquell,  sondern 
selbst  Leben  wäre,  so  hätte  er  doch  noch  unrecht  in  der  Be- 
hauptung, dass  ein  bloss  lebendiges  Absolutes  dem  religiösen 
Bedürfnis  als  Objekt  des  religiösen  Verhältnisses  genügen  könne. 

Das  religiöse  Bewusstsein  verlangt  von  seinem  Gott  weit 
mehr  als  Leben;  denn  das  hat  auch  die  Pflanze  und  das  Tier, 
Es  verlangt  ein  nicht  bloss  natürliches,  untermenschliches,  sondern 
ein  geistiges  übermenschliclies  Leben  für  seinen  Gott,  und  darum 
kann  ihm  nur  die  absolute  Geistigkeit  seines  Gottes  Genüge 
thun.  Das  Leben  kennt  der  Mensch  auch  in  einer  nicht  selbst- 
bewussten  und  nicht  persönlichen  Form,  aber  die  Geistigkeit 
kennt  er  zunächst  nur  in  dieser  Form,  und  darum  verlangt  das 
religiöse  Bewusstsein  zunächst  nach  einem  selbstbewussten  und 
persönlichen  Gott,  aus  Furcht,  bei  einem  unbewussten  und  un- 
persönlichen Absoluten  die  Gei&tigkeit  einzubüssen  und  in  eine 
untermenschliche  Stufe  des  Lebens  hinabzugleiten.  Schleier- 
macher hat  wohl  einen  Anlauf  dazu  genommen,  die  übermensch- 
liche absolute  Geistigkeit  als  unbewusste,  überindividuelle  Ver- 
nunft aufzuzeigen;  aber  indem  er  Gott  von  jedem  Gegensatz 
freihalten  will,  muss  er  ihn  auch  von  der  unbewussten  Vernunft 
freihalten,  die  auch  nur  als  Idealprincip  das  andere  Gegensatz- 
glied  zu  dem  Realprincip  bildet  — 

Schleiermacher  giebt  zu,   dass  er  aus  der  von  ihm  voraus- 


164 


Seh  leicmiaclier. 


gesetzten  absoluten  Indifferenz  der  Gegensätze  das  im  Wissen 
dargestellte  Sein  nicht  ableiten  könne  (79);  damit  ist  aber  der 
Erklärungswert  der  ganzen  Hypothese  in  Frage  gestellt.  Er 
geht  noch  weiter  und  behauptet,  dass  wir  sie  weder  denken, 
noch  wahrnehmen,  am  wenigsten  also  anschauen  können,  duss 
alle  Bilder  für  sie  nur  poetische  Bedeutung  haben,  alle  Begriffe 
nur  negative  Bestimmungen  enthalten,  dass  wir  sie  also  über- 
haupt nicht  in  Gedanken  fassen  können  (78 — 79).  Wir  können 
das  Absolute  nicht  im  wirklichen  Denken  vollziehen,  weil  die 
Vorstellung  desselben  weder  ins  empirische,  noch  ins  spekokttive 
Wissen  eingeht;  wir  müssten  hierzu  die  Durchdringung  beider 
Formen  haben  und  mit  ihr  die  Totalität  des  Seins  erfassen 
können  (144 — 145),  Durch  keinen  unendlichen  Prozess  könnten 
wir  ihr  näher  kommen,  weil  das  Vieiheitlose  nur  uno  actu  zu 
erschauen  ist,  und  weil  wir  nur  organisch  (rezeptiv  sinnlich)  er- 
kennen können,  während  sie  organisch  nicht  zu  erfassen  ist  (163), 
Einen  Begriff  von  Gott  kann  es  nur  geben  in  der  Identität  mit 
dem  Gegenstande,  also  nur  insofern  wir  Gott  sind,  oder  ihn  in 
uns  haben;  nun  haben  wir  ihn  zwar  nach  Seiten  der  Vernunft, 
aber  nicht  nach  Seiten  der  organischen  Funktion  in  uns,  da  es 
unmöglich  ist»  dass  es  eine  auf  Gott  an  sich  sich  beziehende 
organische  Funktion  gebe  (328,  158).  So  sind  alle  Bezeichnungen 
für  die  gegensatzlose  Einheit  nur  Schemata,  die,  sobald  sie 
lebendig  werden  sollen,  wieder  in  das  Gebiet  des  Gegensatzes 
und  des  Endlichen  hineinfallen  (156 — 158).  Nur  das  Gefühl  als 
Einheit  von  Denken  und  Wollen  hat  den  transcendenten  Grund 
wirklich,  aber  selbst  als  religiöses  Gefühl  besitzt  es  Gott  niemals 
rein  und  isoliert  für  sich,  sondern  immer  nur  in  und  an  einem 
Anderen,  Endlichen.  Das  rehgiöse  Bewusstsein  hat  auch  gar 
nicht  das  Bestreben,  Gott  zu  isolieren;  tritt  das  spekulative 
Denken  in  dieses  Bestreben  ein,  so  gerät  es  in  ein  leeres,  be- 
wusstloses  Brüten,   eine  Mystik»   die   ihren   Gegenstand   einbüsst 

Es  ist  klar,  dass  die  Unerkennbarkeit  Gottes  bei  Schleier- 
maclier  lediglich  dadurch  herbeigeführt  ist,  dass  Gott  als  das 
vielheitlos  und  gegensatzlos  Eine  bestimmt  ist  Denn  bei  einem 
so  völlig  leeren  Begriff  muss  einem  natürlich  das  Denken  aus- 
gehen; es  bleibt  einem  dabei  ebensowenig  zu  denken  übrig,  wie 
man   etwas   daraus  ableiten   oder  erklären  kann.     Schleiermacher 


Schlcicnnacher* 


165 


hat  darin  ganz  recht,  dass  diejenigen  Gegensätze,  welche  der 
Sphäre  der  Erscheinungswelt  angehören  und  erst  als  Ergebnisse 
aus  dem  Weltprozess  hervorgehen,  von  Gott  ferngehalten  werden 
müssen,  also  vor  allem  der  Gegensatz  von  natürlichem  Dasein 
und  bewusstem  Insichsein,  Natur  und  Geist  Aber  er  verkennt» 
dass  die  ursprüngliche  Einheit  nur  dann  als  Voraussetzung  oder 
HyfKjthese  einen  Wert  zur  Erlclärung  des  Weltprozesses  hat, 
wenn  sie,  als  vieleinige,  Gegensätze  anderer  Art  einschliesst, 
attributive  essentielle  Gegensätze»  die  als  gegensätzliche  Princi- 
pien  für  die  spätere  Entfaltung  der  innerweltlichen  Erscheinungs- 
gegensätze wenigstens  die  Möglichkeit  in  sich  tragen.  Zu  einem 
Idealprincip  in  diesem  Sinne  hat  Schleiermacher  mit  der  un- 
bewussten  Vernunft  einen  Anlauf  genommen;  aber  er  kam  nicht 
zur  Synthese  desselben  mit  einem  entsprechenden  Realprincip  im 
Absoluten,  weil  er  das  Realprincip  in  einer  ganz  verkehrten 
Richtung  (im  Stoffe)  suchte  und  das  hier  zu  Findende  schlechter- 
dings nicht  in  Gott  hineinprojizieren  konnte. 

Was  Schleiermacher  ebenso  wie  Hegel  fclilt,  ist  der  Fort- 
gang zu  Schellings  zweiter  Periode,  Beide  bleiben  bei  den  Er- 
gebnissen von  Schellings  erster  Periode  stehen.  Hegel  setzt  das 
Idealprincip  an  Stelle  der  Identität  des  Idealen  und  Realen; 
Schleiermacher  sucht  die  Identität  als  ein  dem  Idealprincip  über- 
geordnetes Princip  festzuhalten,  gerät  aber  in  Ermangelung  eines 
in  Gott  erträglichen  Realprincips  in  die  leere  Identität  einer 
gegensatzlosen  IndiflFerenz,  die  ebenso  unerkennbar,  wie  praktisch 
wertlos  ist.  Die  Hilfe  in  dieser  Not  konnte  nur  von  einem 
Philosophen  kommen,  der  es  sich  zur  Lebensaufgabe  machte,  zu- 
nächst einmal  das  Realprincip,  mit  dessen  Auffindung  Schelling 
in  seine  zweite  Periode  eingetreten  war.  ebenso  einseitig  durch- 
zuarbeiten, wie  Hegel  das  Idealprincip  Schellings  durchgearbeitet 
hatte,  und  es  ebenso  an  Stelle  der  synthetischen  Einheit  zu 
setzen,  wie  Hegel  das  Idealprincip  an  Stelle  der  synthetischen 
Einheit  gesetzt  hatte,*} 

Die  Hauptergebnisse  der  Schleiermacherschen  Philosophie 
lassen  sich  in  nachstehender  tabellarischen  Übersicht  veran- 
schaulichen. 


^  Vcrgi.  »Die  Jentscbe  AsthcÜk  seit  KanU,  156—169»  398»  420 — 421,  474—475, 
S^J'-SÄS.  S40— 542»  559- 


i66 


Schleiermachcr. 


Absolutes  Sein  oder  Gott 

Vielheitlose,  gegensatzlose  Einheit 

Transcendeuter  Grund  des  Seins  und  Wissens 


Ideales  (Geist) 
Denken  (im  weitesten  Sinne) 


Reales  (Natur) 
Sein 


Ideal: 
Wollen 


Real: 
Denken  (im  engeren  Sinne) 


Gleichgewicht:    Gefühl 


Ideal: 
Vernunftthätigkeit 


Real: 
Organische  Thätigkeit 


Selbstbewusstsein: 
Gleichgewicht 


Übergewicht 

der  Vernunftthätigkeit 

Denken  (im  engsten  Sinne) 


Übergewicht  der  organischen 

Thätigkeit : 

Wahrnehmen 


Gleichgewicht : 
Anschauen 


Ideal: 

Begriffliches 

Erkennen, 

Deduktion, 

Spekulatives 

Wissen 


Real: 

Ur  t  e  il  e  n 

Induktion, 

Empirisches 

ui^d  historisches 

Wissen 


Ideal: 

Real: 

Substan- 

Prozess 

tielle 

der  allge- 

Formen 

meinen 

(Gattungen 

Wechsel- 

und Arten, 

wirkung 

Kräfte  und 

(Gesamt- 

Erschei- 

heit der 

nungen). 

That- 

sachen). 

Ideal:    ZeiterfüUung 


Welt. 
Synthetische  Einheit. 


Schopenhauer. 


167 


4.  Schopenhauer  (1788 — 1860). 


Den  ontologischen  Monismus,  nach  welchem  das  innere 
Wesen  in  allen  Dingen  schlechthin  eines  und  dasselbe  ist,  ent- 
lehnt Schopenhauer  von  der  Vedantalehre ,  den  Eleaten,  Skotus 
Erigena,  Giordano  Bruno»  Spinoza  und  Schelling;  aber  was 
dieses  Eine  sei,  nämlich  Wille,  das  hat  er  zum  ersten  Mal  als 
alleiniges  metaphysisches  Princip  hingestellt  und  systematisch 
ausgeführt»  wenn  sich  auch  in  Andeutungen  dafür  eine  Menge 
Vorgänger  finden  (Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  3.  Aufl., 
II,  736;  Parerga,  2.  Aufl.,  I,  144 — 146).  Die  Begründung,  warum 
das  Wesen  in  allen  Dingen  eines  ist»  schöpft  er  aus  Kants  trans- 
cendentalem  Idealismus,  der  dem  Ding  an  sich  Raum»  Zeit  und 
Kategorien»  also  auch  die  Vielheit,  abspricht.  Wenn  Fichte  sich 
um  des  ethischen  Idealismus  willen,  Schelling  um  des  metaphy- 
sischen Idealismus  willen  an  den  erkenntnistheoretischen  Idealls- 
mus Kants  angeklammert  hatte,  so  thut  Schopenhauer  es  ledig- 
lich um  des  Monismus  willen,  weit  er  nur  hierdurch  die  Einheit 
des  Weltwesens  trotz  des  Scheines  seiner  individuellen  Zer- 
splitterung  sicher  beweisen  zu  können  glaubt.  Darum  ist  es 
unrichtig,  ihn  als  Individualisten  zu  betrachten;  er  schöpft  zwar 
aus  der  individuellen  inneren  Erfahrung  den  Fingerzeig  für  das» 
was  das  Weltwesen  ist,  aber  sein  ganzes  Interesse  geht  dahin, 
die  Einheit  desselben  zu  sichern.  — 

Schopenhauer  will  das  Ergebnis  Berkeleys  erneuern»  dass 
alle  Objekte  nur  Vorstellungen  seien  (Welt  etc.,  II,  13—14). 
Locke  hatte  die  sekundären  Qualitäten  der  Objekte  als  bloss 
subjektiv  nachgewiesen;  dass  aber  auch  die  primären  bloss  sub- 
jektiv sind»  hat  erst  Kant  in  seiner  transcendentalen  Ästhetik 
streng  bewiesen.  Von  Kant  übernimmt  er  ferner  die  dynamische 
Auffassung  der  Materie»  die  Unterscheidung  von  Erscheinung 
und  Ding  an  sich,  empirischem  und  intelligiblem  Charakter,  die 
transcen dentale  Freiheit»  das  Nichterforderlichsein  von  (bewusster) 
Intelligenz  und  Absicht  für  die  zweckmässige  Einrichtung  der 
Naturerscheinungen»  das  interesselose  Wohlgefallen  am  Schönen» 
den  Primat  des  Praktischen  über  das  Theoretische  im  Bewusst- 
sein,  den  empirischen  Pessimismus  und  die  moralische  Gering- 
schätzung  der  Menschen.  Während  aber  bei  Kant  praktische 
Vernunft    und    iranscendentale    Freiheit    zusammenfallen»    unter- 


l58  Schopenhauer. 

scheidet  Schopenhauer  beide  scharf,  indem  er  die  Vernunft  auf 
abstrakte  diskursive  Reflexion  und  die  P'reiheit  auf  die  Fähigkeit 
der  Vernichtung  des  ganzen  Eigenwillens  beschränkt  (Nachlass, 
herausgeg.  v.  Grisebach,  III,  S.  loo).  Er  sieht  die  Kantsche 
Philosophie  ganz  durch  die  Brille  der  idealistischen  Schule  Kants, 
(Parerga,  II,  97),  nach  welcher  der  Verstand  wohl  durch  seine 
Einrichtung  genötigt  ist,  die  Sache  so  anzuschauen,  als  ob  das 
Ding  Ursache  der  Sinnesempfindung  wäre,  thatsächlich  aber 
weder  das  Ding  an  sich,  noch  das  Objekt  Ursache  derselben  sein 
kann.  Ersteres  kann  es  nicht  sein,  weil  es  keine  transcendente 
Kausalität  giebt  (Welt  etc.,  I,  516,  529 — 530),  letzteres  nicht,  weil 
das  Objekt  bloss  die  unbewusste  kausale  Projektion  der  Empfin- 
dung nach  aussen,  also  das  Posterius  der  Empfindung,  ist  (W., 
I,  527,  II,  26).  Von  Bouterwek  entlehnt  er  die  nähere  Aus- 
führung des  Kantschen  Dynamismus,  nach  welcher  die  ganze 
Welt  ein  System  von  Kräften  ist,  und  die  Wirklichkeit  in  der 
Virtualität  besteht.  Nach  seiner  idealistischen  Deutung  Kants 
fasst  er  die  Kräfte  als  bewusstseinsimmanente  Erscheinungen  auf, 
setzt  sie  mit  der  Materie  überhaupt  identisch  und  erklärt  es  für 
falsch,  die  Materie  als  ihr  Resultat,  und  die  Kräfte  als  über- 
sinnliche Principien  zu  betrachten,  aus  denen  die  Materie  erst 
wird  (Nachl.,  ed.  Grisebach,  III,  19—20,  145).  In  seiner  An- 
lehnung an  Bouterwek  aber  macht  er  die  mit  dem  Willen  iden- 
tischen Naturkräfte  allerdings  zu  übersinnlichen  Principien,  aus 
denen  alle  Natur  und  Wirklichkeit,  also  auch  alle  Objekte  und 
Materie  erst  als  ihr  Resultat  entspringen.*)  Die  erste  Bedeutung 
von  Kraft  ist  die  erkenntnistheoretisch  idealistische,  die  letztere 
die  realistische. 

Mit  Fichtes  erstem  Standpunkt  stimmt  Schopenhauer  darin 
überein,  dass  der  letzte  Grund  nicht  ein  Dasein  oder  auch  nur 
Sein,  sondern  ein  Thun,  eine  Thathandlung  und  zwar  ein  Thun 
bloss  um  der  Thätigkeit  willen ,  d.  h.  ein  ziellos  blindes  Wollen 
ist,  während  das  Deisein  und  Sein  nur  ein  Produkt  der  Thätig- 
keit für  das  Bewusstsein  (Nachl.,  III,  56,  IV,  195)  und  die  Sub- 
stanz nur  erfüllter  Raum  ist  (ebend.,  HI,  15).  Wollen  und  Spon- 
taneität  sind   ein    und  dasselbe  (ebend.,   III,  112).    Er  teilt  zwar 


*)  Vergl.  über  Schopenhauers  Verhältnis  zu  Bouterwek   meine   Besprechung   der 
Dissertation  von  Th.  Lorenz  in  der  »Gegenwart«,  1898,  No.  27,  S.  15. 


S€ho))cn1iouer. 


i6q 


Fichtes  Missachtung  für  die  Natur  und  Wirklichkeit,  aber  nicht 
seinen  Glauben  an  die  sittliche  Vernünftigkeit  der  Urthätigkeit 
und  an  die  fortschreitende  Vergeistigung  und  Versittlichung  des 
Natürlichen.  Von  Kant  und  Fichte  hat  Schopenhauer  gelernt, 
dass  die  ganze  Welt  nur  dann  Sinn  und  Bedeutung  hat,  wenn 
man  sie  ethisch  auffasst;  er  erkennt  deshalb  schon  früh  eine 
Teleologie  der  Natur  in  Bezug  auf  sittliche  Zwecke  an  (Nachl,, 
in,  88).  Dagegen  verwirft  er  Fichtes  Glauben,  dass  ein  seliges 
Leben  vor  dem  Tode  möglich  sei;  denn  es  ist  eben  die  Arbeit 
des  Lebens,  in  der  langen  Reihe  der  dumpfen,  trüben  Stunden 
das  mühsam  durchzuführen,  was  man  in  den  wenigen  erhabenen, 
hellen  Stunden  erkannt  hat  (ebend.,  122,  119). 

Schopenhauer  wirft  Fichte  vor,  dass  er  das  unerkennbare 
iubjekt  des  Erkennens  {*Ich*)  zum  Objekt  (»das  Ich«)  gemacht 
habe;  aber  er  thut  ihm  damit  unrecht,  indem  auch  bei  Fichte 
das  absolute  Ich  unerkennbar  für  das  empirische  Bewusstsein,  das 
empirische  Ich  aber  nur  Erscheinung  ist.  Er  wirft  ihm  ferner 
vor»  dass  er  das  freie  Wollen»  die  Spontaneität,  und  jene  streng 
gesetzmässige  unbewusste  Thätigkeit  verwechsele,  durch  welche 
unser  Wahrnehmen  produziert  wird  (99—100),  während  er  selbst 
die  Sonderung  von  Wollen  (ohne  Objekt)  und  Erkennen  {ohne 
Trieb)   streng   durchführen    will   {99).     Am  heftigsten   richtet  sich 

rüein  Tadel  gegen  Fichte,  weil  dieser  das  Entstehen  des  empi- 
rischen Bewusstseins  und  seiner  Gesetze  und  Formeti  erklären 
will.  w*obei  er  sich  zu  seinen  Deduktionen  eben  jener  erst  zu  er- 
riärenden    Gesetze    bedienen    und    die    Kategorien    transcendent 

rgebrauchen  muss  (95,  iii).  Dieses  Verhalten  ist  offenbar  sich 
selbst  widersprechend,  wenn  die  bloss  immanente  Gültigkeit 
Jieser  Gesetze  und  Formen  für  das  empirische  Bewusstsein  eln- 
lal  zugestanden  ist,  d,  h.  wenn  die  negativen  Grunddogmen  des 
transcendentalen  Idealismus  richtig  sind.  — 

Schelling  ist   derjenige,   der  Schopenhauer  seine  wichtigsten 

^Gedanken,  soweit  sie  von  denen  Kants  und  seiner  Schule  ver- 
chieden  sind,  geliefert  haL  Schopenhauer  hat  in  den  Jahren 
181 1 — 1813  sämtliche  bis  zum  Jahre  1812  von  ihm  erschienenen 
Schriften  sorgfältig  studiert  (Nachl,  III,  123  —  171;  Parerga,  IL  iii^)* 
Nach  Schelling  sind  der  Verstand  (in  konstruierender  Thätigkeit) 
und  das  Objekt  ein  und  dasselbe  (Schellings  Werke,  I,  i,  410); 
das  Subjekt  ist  nicht  ohne  das  Objekt  aufzuheben  und  umgekehrt 


17° 


SchopenliattWt 


(I,  I,  327},  Die  Kausalität  kann  zugleich  als  Vertreterin  der 
Relationskategorien  und  damit  auch  aller  übrigen  Kategorien 
gelten  (I,  3,  514  fg.;  I,  2,  33).  Die  physikalische  Atomistik  ist 
eine  philosophisch  ganz  unhaltbare  Ansicht  (I,  2,  200 — 212,  vergl. 
Schop.,  Par,  II,  118).  Der  Regriff  ist  nur  der  Schatten  einer 
Realität»  die  allein  von  der  Anschauung  geliefert  wird  (I,  3,  427), 
Alles  dies  klingt  bei  Schopenhauer  nach  und  findet  nur  seine 
genauere  Ausführung.  Auch  die  intellektuelle  Anschauung,  den 
Centralgedanken  der  Schellingschen  Philosophie,  billigt  und  über- 
nimmt Schoi>enhauer  ausdrücklich  (Nachl.,  III ,  128)  und  verwirft 
nur  die  Ansicht,  als  ob  die  überzeitliche,  übersinnliche  intellek- 
tuelle  Anschauung  vom  empirischen  Willen  und  der  Verstandes- 
bildung  abhängig  sein,  dem  Verstände  philosophische  Erkennt- 
nisse übermitteln,  oder  als  übersinnlicher  Erklärungsgrund  des 
empirischen  Bewusstseins  und  seiner  Gesetze  und  Formen  dienen 
könne  (ebend.,  131,   141,  153,   162,  165). 

Schelhng  tadelt  Beck,  dass  er  das  Ding  an  sich  nur  zu 
exterminieren,  aber  nichts  anderes  an  seine  Stelle  zu  setzen  wisse, 
da  man  doch  ohne  übersinnlichen  Grimd  der  Realität  unserer 
Vorstellungen  nicht  abkommen  könne;  Beck  bemühe  sich  ver- 
geblich, das  Reale  unserer  Empfindungen  zu  erklären,  weil  er 
nur  ideale  Thätigk ei t  kenne  {I,  1,  S.  423).  Das  Hinausgehen  zum 
übersinnlichen  Gnmd  der  Realität  unserer  Vorstellungen  oder  zu 
dem  positiven  Ersatz  des  Kantschen  Dinges  an  sich  erfolgt  bei 
Schelling  in  doppelter  Weise:  in  seiner  ersten  Periode  durch  die 
Platonische  Idee  (I,  i,  406—407  und  415),  beim  Übergang  zur 
zweiten  Periode  durch  Betonung  des  Willens  als  der  realen 
Thätigkeit  neben  und  hinter  der  idealen. 

Die  Platonische  Idee,  die  mit  dem  Kantschen  Ding  an  sich 
zusammenfällt,  erfassen  wir  in  der  unbewussten  Seligkeit  der 
intellektualen  oder  transcendentalen  Anschauung,  in  welcher 
Subjekt  und  Objekt  mit  einander  verschwinden  (I,  i,  317—327) 
und  nur  das  reine  Subjekt- Objekt,  das  absolute  Erkennen,  das 
absolute  Ich,  die  Form  aller  Formen  übrig  bleibt  (I,  4,  327}.  In 
dieser  intellektuellen  oder  transcendentalen  Anschauung  werden 
die  Dinge  nicht  für  die  Erscheinung,  sondern  ihrem  ewigen 
Charakter  nach,  oder  wie  sie  an  sich  sind,  bestimmt  (I,  4,  326). 
Offenbar  hat  Schelling  hier  die  Platonischen  Ideen  durch  Ver- 
schmelzung mit  der  dritten  Erkenntnisgattung  Spinozas  aus  der 


Scbopenba 


171 


nüchternen  BegriflFssphäre  in  dte  einer  mystischen,  unbewussten, 
überindividuellen  Anschauung  erhoben  und  damit  etwas  ganz 
anderes  aus  ihnen  gemacht  Schopenhauer  sieht  die  Platonischen 
Ideen  lediglich  mit  den  Augen  Schellings,  ohne  seine  Quelle  zu 
nennen;  auch  bei  ilim  sind  sie  unbewusste  Intuitionen,  die  der 
bewtissten  ästhetischen  Anschauung  ähnlich  gedacht  sind  und 
dieser  zu  Grunde  liegen  sollen.  Aber  die  unbewusste  intuitive 
Vernunft,  mit  der  bei  Schelling  sich  die  Besonderung  der  Einen 
absoluten  Idee  zu  Gattungsideen  und  Einzelideen  vollzieht,  über- 
nimmt Schopenhauer  nicht  mitj  ebenso  verwirft  er  Schellings 
Bezeichnung  der  Ideen  als  ewiger,  unendlicher  Begriffe  (Nachl., 
in,  136).  Schopenhauer  unterscheidet  Begriff  und  Idee  so,  dass 
ersterer  auch  Artefakte  und  das  unter  Relationen  Steheode, 
letztere  aber  nur  Übersinnliches  und  Naturformen  ausdrückt. 
(NachL,  III,  209 — 210).  Er  w^eiss  auch,  dass  Pia  ton  seine  Ideen 
auch  auf  Artefakte  ausdehnt  (Nachl.»  IV,  267),  also  etwas  ganz 
anderes  unter  Idee  versteht,  als  er  selbst.  Trotzdem  fahrt  er  fort, 
seinen  Begriff  der  Idee  als  Platonische  Idee  zu  bezeichnen.  — 
Schon  in  seiner  ersten  Periode  sagt  Schelling  gelegentlich, 
dass  Wollen  die  Quelle  alles  Selbstbewusstseins,  und  Geist  ur- 
sprüngliches Wollen  sei  (I,  1,  401»  3^9);  aber  er  zieht  daraus  noch 
keine  Konsequenzen*  In  der  Schrift  über  die  Freiheit  dagegen 
lehrt  er  einen  realistischen  Pantheismus  des  Urwullens,  in  dem 
alle  Einzelwillen  begriffen  sind  (I,  7,  352,  337).  Nun  ist  der  posi- 
tive Begriff  des  Ansich  die  Freiheit  (I,  7,  352).  Schon  bei  Kant 
entpuppt  sich  das  Ansich  des  Menschen  überall  als  Freiheit,  wo 
es  positiv  auftritt;  es  blieb  also  nur  der  Schritt  übrig,  diese 
Freiheit  als  Wille  zu  bestimmen  und  auf  alle  Kreatur  aus- 
zudehnen. Indem  Schelling  diesen  Schritt  that,  lieferte  er 
Schopenhauer  auch  die  andere  Seite  seines  Systems,  was 
Schopenhauer  ebenfalls  ignoriert  (W.,  I,  595 — 597).  Die  all- 
gemeine Virtualität  als  Charakter  des  Daseienden  war  Schopen- 
hauer bereits  durch  Bouterwek  gegeben,  der  auch  den  Willen 
als  eine  Art  der  Kraft  bestimmt;  es  bedurfte  nur  noch  der  Ver- 
allgemeinerung des  Begriffes  Wille,  um  auch  die  Kraft  als  eine 
Art  des  Willens  zu  bestimmen.  Indem  Schelling  diese  Verall- 
gemeinerung voltzog,  lieferte  er  Schopenhauer  die  Grundlinien 
seiner  Willensmetaphysik.  Auch  als  Willensmetaphysiker  bleibt 
Schopenhauer    ebenso   wie    Schelling    ein    deduktiver    Philosoph; 


J?^ 


ScboppnhÄUcir. 


»nicht  aus  der  Erscheinung  das  Ding  an  sich,  was  ewig  mis 
lingen  musste,  sondern  umgekehrt  soll  erklärt  werden«  (Nachl., 
IV,  342).  Bei  Schopenhauer  ist  ebenso  wie  in  Schelling^s  zweiter 
Periode  der  Wille  als  wollender  ein  Nichtseinsollendes,  und  seine 
Erhebung  zum  Wollen  eine  Schuld  und  die  Quelle  alles  Übels, 
die  zu  sülinen  und  wieder  zu  verschliessen  Aufgabe  des  Welt- 
prozesses ist. 

Bei  Schelling  läuft  neben  dem  principiellen  Monismus  des 
Urwillens  eine  gewisse  individualistische  Neigung  zur  Hyposta- 
sierung  des  Individual willens  einher,  und  über  diese  anhängende 
Inkonsequenz  ist  auch  Scho]>enhauer  nicht  völlig  hinausgekommen. 
Die  transcendentale  Freiheit  und  den  intelligiblen  Charakter  Kants 
betrachtet  Schopenhauer  gefärbt  durch  die  Schcllingsche  Frei- 
heitsichre. Auch  die  Unterscheidung  von  praeter  und  extra 
scheint  er  aus  Schellings  Schriit  über  die  Freiheit  entnommen  zu 
haben,  ebenso  wie  die  Ansicht,  dass  der  Mensch  die  Natur  an 
sich  nehme  und  erlöse  {I,  7,  544»  411).  Was  er  Schelling  vor- 
zuwerfen bat,  ist,  dass  er  das  Ideale  und  Reale  zur  Identität  ver- 
schmelzen will,  anstatt  es  auseinanderzuhalten;  dabei  übersieht 
er  nur,  dass  die  Identität  bei  Schelling  nur  Einheit  bedeutet,  und 
dass  er  selbst  sich  letzten  Endes  der  Einheit  des  absoluten 
Subjekt -Objekts  mit  dem  Urwiüen  doch  ebensowenig  entziehen 
kann   wie  der  Einheit  des  Subjekts  und  Objekts  in  der  Idee.  — - 

Neben  diesen  Einflüssen  machen  sich  noch  zwei  andere 
geltend:  der  französische  Materialismus  und  die  indische  Reli- 
gionsphilosophie, Den  ersteren  glaubte  er  ungescheut  in  sein 
System  aufnehmen  zu  können,  wofern  er  nur  alle  seine  Leliren 
im  Sinne  des  Berkeley- Hu m  eschen  Phänomenalismus  oder  des 
Kantschen  transcendentalen  Idealismus  umdeutete,  und:  dasjenige, 
was  der  Materialismus  für  eine  bew^usstseinstranscendente  Realität 
hielt,  als  bewusstseinsimmanente,  phänomenale,  empirische  Reali- 
tät auslegte. 

Die  indische  Religionsphilosophie  bestätigte  ihm  nicht  nur 
die  Wesenseinheit  des  Alls,  sondern  lehrte  ihn  auch,  den  Phäno- 
menalismus als  Begründung  dieses  Monismus  auffassen.  Sie  wies 
ihn  ferner  auf  den  Monismus,  das  tat  twam  asi,  als  die  meta- 
physische Begründung  der  Moral,  und  auf  das  Mitleid  und  die 
quietistische  Askese  als  die  exoterische  und  esoterische  Be- 
thätigungsform    des    monistischen    Moral princips    unter    den    ge- 


Scliopenbauer. 


173 


Jaclituri  phänonienalistischcn  Voraussetzungen  hin.  Sie  zeigte 
ihm  weiterhin  die  Vertiefung  des  Kantschen  empirischen  Pessi- 
misTnus  zum  metaphysischen,  gab  ihm  ein  Vorbild  in  der  falschen 
Übertragung  ethischer  Begriffe  (Schuld  und  Sühne)  auf  die  meta- 
physische Sphäre  und  machte  ihm  die  geschichtslose  Weltanschau- 
ung des  absoluten  Illusionismus  vertraut.  Sie  lehrte  ilim  endlich 
die  Wiederverk(')rperungsleiire  als  exoterischen  Ausdruck  für  die 
Unzerstörbarkeit  des  monistischen  Wesens  durch  den  Tod  bc- 
ifen  und  das  Nichtmehrwiedergeborenwerden  als  Sinnbild  der 
vollzogenen  Verneinung  des  Willens  zum  Leben. 

Alle  diese  weit  auseinanderliegenden  Bestandteile  sind  in 
Schopenhauers  Philosophie  nur  lose  mit  einander  verknüpft  und 
in  keine  widerspruchslose  und  organische  Verbindung  gebracht 
Sehr  lehrreich  ist  die  antipodische  Stellungnahme  Schopenhauers 
Hegel  gegenüber.  Hegel  übernahm  von  Schelüng  gerade  das, 
was  Schopenhauer  verwarf;  die  Vernunft  als  Formalprincip  der 
Selbstentfaltung,  Besonderung  und  Fortentwickelung  der  Idee, 
wovon  Schopenhauer  nichts  wissen  wollte.  Er  kennt  nur  eine 
bewusste,  diskursiv  reflektierende,  abstrakt  begriiFliche  Vernunft, 
aber  keine  unbewiisste,  zeitlose»  intuitive,  wie  Hegel  sie  annimmt, 
und  si^hiebt  deshalb  Hegel  seinen  andersartigen  Begriff  von  Ver- 
nunft unter  Er  kennt  nur  abstrakt  allgemeine,  aus  der  An- 
schauung abgezogene  Begriffe,  und  bemerkt  nicht,  dass  Hegel 
gar  nicht  von  diesen  redet,  sondern  von  unbewussten,  normativen 
Intellektualfunktionen,  die  ein  Prius  der  Anschauung  sind  und 
als  Einheit  des  Allgemeinen  und  Besonderen  mit  den  Ideen  oder 
»unendlichen  Begriffen-  Schellings  zusammenfallen.  Er  bekämpft 
die  Hegeische  Idee  in  einer  Weise,  die,  wenn  sie  berechtigt  wäre, 
gerade  ebenso  gut  seine  eigene  Idee  als  metaphysisches  Prius 
der  Individuen  und  ihrer  bewussten  Erkenntnis  treffen  und  nur 
die  ästhetische  Idee  als  tertiäres  Produkt  des  Willens  übrig  lassen 
würde.  Wenn  schon  seine  Urteile  über  Fichte  und  Schelling 
nichts  weniger  als  unbefangen  und  gerecht  sind,  so  hat  ihn  seine 
Antipathie  gegen  Hegel  gänzlich  verhindert,  dessen  Absichten 
zu  verstehen  und  sachlich  zu  kritisieren. 

Crusius  und  Rüdiger  hat  Schopenhauer  erst  in  den  Jahren 
1821  und  1S28  kennen  gelernt,  also  erst  nach  der  Fertigstellung 
seines  Systems.  Er  konstatiert,  dass  Rüdiger  Erkennen  und 
Wille    als    mens    und   anima  sondert   und   dem  Willen  oder  der 


«74 


Schopenhauer. 


anima  ausser  der  Muskelbewi.*giing  auch  die  Formation  des 
Fötus,  Instinkt  und  Divination  zusclireibt»  und  dass  Cnisius  dem 
Willen  die  Priorität  vor  dem  Verstände  zuspricht  und  die  Gründe 
in  Ideal-  und  Realgründe»  letztere  wieder  in  Existentialgründc 
und  Ursachen  (der  Veränderung)  einteilt.  Er  selbst  ist  auf  seine 
vierfache  Wuri^el  des  Satzes  vom  Grunde  dadurch  gekommen. 
dass  er  zunächst  auf  (irund  seines  Willensprincips  zu  der  üblichen 
Unterscheidung  von  Ursache  und  Erkenntoisgrund  das  Motiv  als 
drittes  hinzufügte  und  die  Ursache  ratio  essendi  nannte  (Naclil,, 
in,  45,  59),  dann  aber  auch  die  ratio  essendi  bei  mathema- 
tischen Sätzen  von  der  ratio  fiendi  oder  Veränderungsursache 
sonderte  (Nachl.,  111,  75 — 76),  Wie  nahe  er  damit  der  Vier- 
teilung Wolffs  gekommen  ist,  scheint  ihm  unbekannt  geblieben 
zu  sein,  — 

In  den  Jahren  1811  — 1814  nahm  Schopenhauer  einen  Stand- 
punkt ein.  der  sich  noch  nicht  mit  seinem  späteren  deckt,  wohl 
aber  die  Keime  zu  demselben  enthält  und  insbesondere  dem- 
jenigen Schellings  noch  näher  steht  Er  ist  als  der  Standpunkt 
des  besseren  Bewiisstseins^^  zu  bezeichnen.  Da  er  von  1811  ab 
in  Berlin  Vorlesungen  hörte,  so  ist  es  nicht  unwahrscheinlich, 
dass  er  auch  bei  Solgör  gehört  hat,  der  bei  der  Gründung  der 
Universität  Berlin  von  Frankfurt  dorthin  berufen  war.  Der 
Standpunkt  6es  besseren  oder  höheren  Bewusstseins  stimmt  so 
auffallend  mit  demjenigen  Solgers  über  ein  (vergl.  meine  ^^  Deutsche 
Ästhetik  seit  Kant«,  S.  66 — 67),  dass  es  überaus  merkwürdig 
wäre,  wenn  Schopenhauer  unabhängig  von  Solger  und  doch  in 
paralleler  Gedaokencntwickelung  mit  diesem  aus  SchelJing  die 
nämlichen  Konsequenzen  abgeleitet  haben  sollte.  In  dem  curri- 
culum  vitae,  das  er  seinem  Habilitationsgesuch  beifügte,  nennt 
er  allerdings  Solger  nicht  imter  seinen  Lehrern,  erwähnt  aber 
auch  Fichte  nur  nachträglich  und  anhangsweise. 

Es  besteht  eine  Duplizität  des  Bewusstseins  (Nachl.,  IV,  179, 
221);  das  eine  Bewusstsein  ist  das  niedere,  gemeine,  empirische, 
zeitliche,  sinnliche,  kategoriale,  bedingte,  persönliche,  das  andere 
das  höhere,  bessere,  ewige,  imzeitliche,  übersinnliche,  kategorien- 
lose, unbedingte,  unpersönliche,  absolute  Bewusstsein.  Das  erstcre 
teilt  sich  in  Verstand  und  Vernunft,  das  letztere  steht  hoch  über 
allem  Verstand  und  aller  Vernunft,  wie  über  aller  Natur  (III,  69  —  70, 
86,  96,    142,  155).     Nur    im    Zustande    des   ersteren    wird    philo- 


Schopenhauer. 


175 


sophiert,  in  dem  des  letzteren  nicht;  tlenn  in  üim  ist  der  Gegen- 
satz von  Unbedingtem  und  Bedingtem,  Gott  und  Welt  ver- 
schwunden {III,  I  IG,  140,  95).  Der  Philosoph  in  seinem  niederen, 
philosophierenden  Bewoisstsein  hat  nur  ein  bedingtes  Wissen  vom 
Absoluten;  sofern  er  aber  sich  in  den  absoluten  Zustand  des 
besseren  Bewusstseins  oder  in  die  absolute  Erkenntnisweise  er- 
hebt, weiss  er  nichts  vom  Absoluten,  sondern  ist  dieses  selbst 
(NachL»  III,  38,  140),  Das  empirische  Bewusstsein  besteht  m  dem 
Gegensatze  von  Subjekt  und  Objekt  und  fällt  mit  ihm  hinweg 
(160,  161),  das  bessere  Bewusstsein  hat  keinerlei  Objekte  mehr, 
also  auch  kein  Subjekt  (gi).  Das  bessere  Bewusstsein  ist  als«* 
ein  Bewusstsein  ohne  Subjekt  {IV,  223),  wenn  man  Subjekt  im 
immanenten  Sinne  versteht,  wo  es  das  Objekt  als  sein  Korrelat 
fordert;  versteht  man  dagegen  unter  Subjekt  das  Unerkannte, 
das  Noumenon,  das  Ding  an  sich  (111,  47),  dann  ist  das  Subjekt 
das  Absolute  selbst  und  fällt  demnach  mit  dem  besseren  Be- 
wusstsein zusammen.  Man  könnte  den  Ausdruck  Gott  dafür 
brauchen,  wenn  von  diesem  Begriffe  nicht  Persönlichkeit  und 
Kausalität  unabtrennbar  wären  (IV,  236),  Der  absolute  Zustand 
des  besseren  Bewusstseins  (HI,  143)  Hegt  jenseits  aller  Erfalirung, 
so  dass  er  positiv  unsagbar  ist,  und  wir  nur  negativ  von 
ihm  sprechen  können  (IV,  145).  Er  ist  wieder  theoretisch,  noch 
praktisch  (ebend.)  und  überhaupt  nichts  meinem  jetzigen  Be- 
wusstsein Analoges  (III,  142);  er  ist  über  Sündhaftigkeit, 
Übel  und  Tod  (IV,  179).  Zwischen  beiden  iVrten  des  Bewusst- 
seins giebt  es  keine  Vermittelung;  wo  die  eine  auftritt,  muss  die 
andere  zurücktreten  (IV,  222 — 223),  Die  wahre  F*hilosophie  oder 
der  Kriticismus  hat  nur  die  Aufgabe,  alle  Äusserungen  des 
besseren  Bewusstseins  zw  sammeln  und  es  vom  gemeinen  Be- 
wusstsein zu  unterscheiden. 

Es  fragt  sich  also:  welches  sind  die  Äusserungsformen  des 
besseren  Bew^usstseins,  wenn  doch  dieses  selbst  über  und  jenseits 
aller  Vernunft  und  Erfahrung  liegt?  Nach  der  Seite  des  Willens 
sind  dies  das  Sittengesetz,  die  Heiligkeit  und  Seligkeit,  nach  der 
Seite  der  sinnlichen  Vorstellung  die  Anschauung  des  Schönen 
und  Erhabenen,  nach  der  Seite  des  Denkens  die  Einsicht,  dass 
der  Mensch  ein  ausserzeitliclies,  übersinnliches,  freies,  unbedingt 
seliges  Wesen  ist  (III,  7g).  Der  Duplizität  des  Bewusstseins  ent- 
spricht die  Duplizität  der  Willensrichtung:    liedonik  und  Askese 


176 


Schopenhauer. 


(IV,  2  21,  III,  80);  der  natürliche  glücksuchendc  Wille  wird  von 
der  praktischen  Vernunft  oder  dem  Instinkt  geleitet,  und  das 
bessere  Bewusstscin  erscheint  ihm  dann  nur  als  gebietendes  Ge- 
setz oder  Sollen  (IV,  14=1)  oder  kategorischer  Imperativ.  Die 
Askese  negiert  das  Zeitliche  als  solches,  das  von  der  Moralität 
noch  bejaht  und  nur  nach  Massgabe  des  besseren  BewTisstseins 
geregelt  wird  (111,  80).  Für  den  Standpunkt  des  gemeinen  Be- 
w^usstseins  Tod  und  Vernichtung  bedeutend,  ist  doch  das  bessere 
Bewusstsein  an  sich  selbst  Quelle  aller  wahren  Seligkeit  und 
alles  echten  Trostes  (IV,  219).  Laster  ist  Negation  des  besseren 
Bewusstseins  (III,  81). 

Beim  Heiligen  herrscht  das  bessere  Bewusstsein  so  ungestört, 
dass  ihm  die  Sinnenwelt  verblasst;  beim  künstlerischen  Genie 
dagegen  ist  ein  ebenso  lebendiges  besseres  Bewusstsein  begleitet 
von  einem  lebhaften  Bewusstsein  der  Sinnenwelt  (III»  71),  und 
das  Ergebnis  ist  die  Platonische  Idee  mit  dem  Eindruck  des 
Schönen  und  Erhabenen-  Es  ist  der  P^ehler  der  Kantschen 
Ästhetik,  dass  sie  nur  Begriff  und  Gefühl,  aber  nicht  das  bessere 
Bew^usstsein  kennt»  aus  dem  die  Apodiktizität  des  ästhetischen 
Urteils  ebenso  wie  die  des  kategorischen  Imperativs  stammt 
{III,  68 — 69).  Die  Platonische  Idee  ist  somit  eine  Ausserungs- 
form  des  besseren  Bewusstseins,  aber  nicht  mit  ihm  identisch, 
weil  sie  noch  Objekt  oder  Erscheinung  ist,  das  bessere  Bewiisst- 
sein  aber  frei  von  Objekt  und  Subjekt  ist  (IV,  26).  Das  bessere 
Bewusstsein  im  Genie  erscheint  der  theoretischen  Vernunft  gar 
nicht,  so  dass  dieses  von  seinen  eigenen  Werken  niemals  durch 
vernünftige  Reflexion  Rechenschaft  geben  kann  (IV,  145^ — 146). 
Will  man  sich  dem  besseren  Bewusstsein  nähern,  während  man, 
wie  der  Philosoph  es  muss,  auf  dem  Reflexionsstandpunkte  des 
empirischen  rationalen  Bewaisstseins  bleibt,  so  thut  man  besser, 
vom  Subjekt  auszugehen,  statt  vom  Objekt;  deshalb  hat  auch 
Schopenhauer  in  seiner  Schrift  *die  vierfache  Wurzel  u.  s.  w.« 
diesen  Weg  eingeschlagen  (IV,  223).  Denn  der  Übergang  zum 
besseren  Bewusstsein,  der  alle  Klassen  der  Objekte  vernichtet, 
geschieht  am  besten  von  dem  Punkte  aus,  den  alle  Klassen  von 
Objekten  gemein  haben,  d.  i.  vom  Subjekt  aus  (IV,  224).  Die 
verschiedenen  Ausserungsformen,  in  denen  das  bessere  Bewusst- 
sein sich  uns  zeigt,  sollen  weder  Mischungen  des  besseren  und 
gemeinen    Bew^usstseins,    noch    kausale  Wirkungen    des   ersteren 


* 


177 


auf  das   letztere  sein,  sondern   gleichsam  als   ma^fischer  Einfluss 
zu  deuten  sein  (IV,  191).  — 

Warum  sind  wir  nun  nicht  in  dem  Zustande  des  besseren 
Benaisstseins?  (III,  145).  Warum  besteht  der  Zustand  des  em- 
pirischen Bevvusstseins»  wenn  er  doch  aus  dem  besseren  Bewusst- 
sein  nicht  abzuleiten  ist?  Die  Antwort  lautet:  durch  die  Schuld 
es  Willens,  der  sich  erkennen  wollte  (IV,  343),  sich  aber  durch 
3is  bessere  Be\^aisstscin  nicht  erkennen  kann,  sondern  dazu  des 
gemeinen  Bewusstseins  bedurfte.  Es  ist  die  Urschuld  des  blinden 
Willens,  dass  eine  Welt  samt  Übel  und  Sünde  entstanden  ist; 
Aufgabe  des  besseren  Bewusstseins  ist  die  Welterlösung  und 
Wiederherstellung  seiner  ungetrübten  Seligkeit  Zwischen  dem 
Willen  zum  Leben  und  dem  besseren  Bewusstsein  besteht  also 
ein  Widerstreit;  der  erstere  stört  das  letztere  in  seiner  Seligkeit 
und  schränkt  es  in  seiner  Absolutheit  ein,  und  wird  dagegen 
vom  letzteren  verneint  und  aufgehoben.  Dieser  Antagonismus 
macht  es  unmöglich,  dass  der  Wille  etwa  eine  Erscheinungsform 
des  besseren  Bewusstseins  sei;  er  muss  etwas  Selbständiges 
neben  ihm  sein*  Dann  ist  aber  auch  das  bessere  Bewusstsein, 
die  absolute  Erkenntnisweise,  nicht  melir  das  Absolute  selbst, 
wie  es  in  Schellings  Identitätsphilosophie  der  Fall  war  (III,  140), 
sondern  nur  ein  Moment  oder  eine  Seite  des  Absoluten,  dessen 
andere  Seite  der  Wille  zum  Leben  ist. 

Auf  dem  ^  Standpunkt  des  besseren  Bewusstseins^  erscheint 
der  Wille  noch  wie  etwas  Hinzukommendes  zu  dem  eigentlichen 
Inhalt  des  Absoluten,  der  eben  in  dem  besseren  Bewusstsein 
besteht.  Der  Übergang  zu  dem  eigentlichen  System  Schopen- 
hauers vollzieht  sich  dadurch,  dass  beide  ihre  Stelle  tauschen, 
also  der  Wille  in  die  erste  Reihe  als  Ding  an  sich  oder  Abso- 
lutes tritt,  und  das  bessere  Bewusstsein  als  etwas  zu  Ihm  Hinzu- 
kommendes sich  darstellt.  Aus  keinem  anderen  Ausgangspunkte, 
auch  nicht  aus  dem  besseren  Bewusstsein,  lässt  sich  der  Wille 
gum  Leben  ableiten;  deshalb  muss  er  selbst  zum  Ausgangspunkt 
snommen  werden.  Und  das  darf  man,  denn  er  ist  zwar  nicht 
"zu  erklären,  aber  auch  nicht  zu  bezweifeln,  das  seinem  Dasein 
nach  Gewisse  {IV,  122),  Nach  diesem  Umschwung  werden  nun 
die  transcendentale  Freiheit  und  der  kategorische  Imperativ  mehr 
als  Erscheinungsweisen  des  Willens  aufgefasst,  der  den  Schleier 
der  Maja  oder  den  Trug  des  gemeinen  Bewusstseins  durchbricht 

B»  ».Hart  mann,  AuiKOw.  Wtftkö.     Dd.  XU.  12 


178 


Sdiofwnlunier. 


Für  das  bessere  Bewusstsein  bleibt  dann  eigentlich  nur  noch  das 
Gebiet  des  Schönen  übrig,  da  das  empirische  rationale  Bewusst- 
sein des  Philosophen  sich  dem  Ding  an  sich  doch  nur  durch 
negative  Bestimmungen  nähern  kann,  und  das  unmittelbare  Inne- 
werden des  eigenen  Willens  einerseits  schon  wieder  auf  die  Seite 
des  Willens  fällt,  andererseits  doch  in  der  Erscheinung  stecken  | 
bleibt.  Auf  dem  Gebiete  des  Schönen  liegt  die  Bedeutung  des 
besseren  Bewusstseins  in  der  Idee;  die  Idee,  die  vorher  bloss 
eine  der  Äusserungsformen  des  besseren  Bewusstseins  war,  tritt 
also  nun  an  die  Stelle  des  besseren  Bewusstseins  selbst,  und 
dieser  Ausdruck  verschwindet  aus  den  Schopenhauerschen  Schrif- 
ten  seiner  Reifezeit  — 

Schopenhauer  sagt,  dass  in  der  transcen dentalen  Ästhetik 
Kants  alle  Lehrsätze  wirklich  bewiesen  seien,  in  der  transcenden- 
talen  Analytik  aber  als  blosse  Behauptungen  dastehen.  Den 
Beweis  für  die  ausschHessHche  Subjektivität  der  Anschaimngs- 
formen  findet  er  in  demjenigen  ihrer  Apriorität;  d.h.  er  hält  die 
Frage  ihres  Geltungsbereichs  mit  derjenigen  ihres  Ursprungs  für 
unmittelbar  mit  erledigt  (W,,  1,  495;  11',  12;  F.,  II,  39),  obwohl 
doch  beide  gar  nichts  mit  einander  zu  thun  haben.  Kant  glaubte  die 
Geltungsfrage  durch  die  Antinomien  in  dem  Sinne  entschieden  zu 
haben,  dass  eine  doppelte  Gültigkeit  der  Anschauungsformen  {nicht 
nur  im  Bewusstseinsinhalt,  sondern  auch  im  Bereich  der  Dinge ^j 
an  sich)  ausgeschlossen  sei ;  Schopenhauer  erklärt  aber  mit  Rech!^^ 
die  Antinomien  für  haltlose  Spiegelfechtereien  {W.,  I,  585^602). 
Kant  lehnte  die  doppelte  Geltung  der  Anschauungsformen  als 
eine  blosse  Hypothese  ab,  die  keinen  Anspruch  auf  apodiktische 
Gewissheit  habe  und  deshalb  unter  der  Würde  der  Philosophie 
sei,  die  sich  mit  bloss  Wahrscheinlichem  nicht  zu  befassen  habe. 
Bei  Schopenhauer  ist  aber  der  Kreis  des  durch  Urteile  a  priori 
zu  Bestimmen  den  so  eingeschränkt  (W.,  II,  55),  dass  der  bei 
weitem  grössere  Teil  seiner  Philosophie  sich  mit  blosser  Wahr- 
scheinhchkeit  begnügen  muss.  Es  fallen  also  diese  beiden 
Kantschen  Gründe  weg,  um  die  doppelte  Geltung  beiseite  zu 
schieben. 

Für  Schopenhauer  tritt  ergänzend  die  völlige  Diversität  von 
Objekt  und  Ding  an  sich  ein,  welche  es  hindert,  dass  ein  dem 
einen  zukommendes  Prädikat  jemids  dem  anderen  beigelegt 
werde.     Nun  ist  es  ja  ein  grosses  Verdienst  Schopenhauers,  Ob- 


Schopenhauer, 


179 


jekt  und  Ding  an  sich  streng  auseinanderzuhalten  und  zu  zeigen, 
dass  ein  Objekt  immer  nur  Vorstellung  oder  subjektive  Er- 
scheinung, aber  niemals  Ding  an  sich  ist,  dass  das  Ding  an  sich 
niemals  Objekt  sein  kann  (W.,  I,  17,  596 — 597),  und  dass  es 
zwischen  Vorstellung  und  Ding  an  sich  nichts  Drittes  {Kants 
transccndentales  Objekt  oder  Objekt  an  sich)  geben  könne 
(W.»  I,  524,  526 — 528}.  Aber  daraus  folgt  doch  nur  die  Son- 
derung, nicht  die  verschiedene  Beschaffenheit  beider.  Ihre  vöUigc 
Verschiedenartigkeit  muss  doch  erst  durch  den  Nachweis  der 
bloss  subjektiven  Geltung  von  Raum,  Zeit  und  Kausalität  erwiesen 
werden  und  kann  darum  nicht  als  Voraussetzung  für  deren  Be- 
weis mit  benutzt  werden.  Hiernach  schwebt  die  blosse  Subjek- 
tivität der  Anschauungsformen  bei  Schopenhauer  ohne  jede  Be- 
gründung in  der  Luft.  — 

Dass  Kant  keinen  Beweis  für  die  bloss  subjektive  Geltung 
der  Kausalität  geliefert  habe,  zeigt  Schopenhauer  in  ausführlicher 
Weise  (Vierfache  Wurzel,  §  23).  Die  völlige  Diversität  von  Ob- 
jekt und  Ding  an  sich  kann,  wie  gesiigt,  zum  Beweise  der  bloss 
subjektiven  Geltung  der  Kausalität  nicht  mitbenutzt  werden,  da 
sie  selbst  erst  auf  den  bereits  erbrachten  Beweis  derselben  sich 
stützt.  Für  Schopenhauer  liegt  nun  der  Beweis  ganz  einfach  iii 
der  ausschließlichen  Subjektivität  von  Raum  und  Zeit  und  der 
Unmöglichkeit  der  Kausalität,  wo  Raum  und  Zeit  ausgeschlossen 
sind  (NachL,  III,  35)*  Die  Kausalität  ist  die  Kette  der  gesetz- 
mässigen  Zustands- Veränderungen,  die  sich  an  der  Materie  ver- 
rmöge  der  Naturkräfte  vollzieht  (W.,  U,  52;  I,  545);  diese  Kette 
der  Veränderungen  ist  aber  eine  Wechseldurchdringung  von 
Raum  und  Zeit  (P.,  II,  287)  und  findet  nur  da  eine  Stätte,  wo 
Raum  und  Zeit  walten.  Was  durch  die  Kausalität  bestimmt 
wird,  ist  die  zeitliche  Succession  der  Zustände  an  einem  be- 
stimmten Ort,  und  das  örtliche  Dasein  derselben  zu  bestimmter 
Zeit  (W,,  I,  11).  Wären  also  Raum  und  Zeit  zugleich  Daseins- 
formen im  Reiche  der  Dinge  an  sich,  so  müsste  auch  die  Kau- 
salität für  dieses  Reich  Geltung  haben.  Wäre  umgekehrt  die 
Kausalität  als  Form  des  Geschehens  im  Reiche  der  Dinge  an 
sich  nachweisbar,  so  wäre  damit  zugleich  die  Nötigung  gegeben, 
auch  Raum  und  Zeit  als  dessen  Daseinsformen  anzuerkennen 
und  vorauszusetzen. 

Demgemäss    behauptet    Schopenhauer,    dass    Kausalität    nur 


zwischen  Erscheinungen,  Objekten  oder  Vorstellungen  stattfinde, 
aber  weder  zwischen  Subjekt  und  Objekt,  noch  zwischen  Wille 
und  Erscheinung  (W.,  1,  13,  15,  601).  Ebenso  soll  der  Einfluss, 
den  das  Subjekt  des  Wollens  auf  das  Subjekt  des  Erkcnnens  bei 
der  Lenkung  der  Aufnicrksamkeit  und  dem  Hervorrufen  von 
Gedanken  übt,  keine  eigentliche  Kausalität  sein  (Vierf.  Wurzel, 
§  44).  Dagegen  soll  die  Hervorrufung  eine^  bestimmten  Willens- 
aktes  durch  ein  Motiv,  das  in  einer  blossen  Vorstellung  besteht, 
eine  echte  Gestalt  der  Kausalität,  ja  sogar  die  von  innen  ge- 
schehene Kausalität  selbst  sein  (ebend.  §  43),  während  die  Ver- 
änderungen der  Objekte  nur  ihre  Aussenseite  darstellen.  Werden 
die  Willensakte  als,  wenn  auch  nicht  räumliche,  so  doch  zeitliche 
Erscheinungen  aufgefasst,  so  bleibt  in  beiden  Fällen  gleichmässig 
der  Übergriff  in  die  Sphäre  des  Dinges  an  sich  vermieden;  wird 
aber  der  Willensakt  schon  als  Ding  an  sich  genommen,  so  ist  in 
beiden  Fällen  der  Übergang  in  ein  anderes  Gebiet  volkogen.  Es 
liegt  also  kein  Grund  vor,  beide  mit  verschiedenem  Masse  zu  messen. 
Die  Kausalität  nach  ihrer  äusseren  Seite  stellt  sich  im  un- 
organischen Gebiet  als  mechanische  Ursache,  im  organischen  als 
Reiz,  bei  intelligenten  Individuen  als  Motiv  dar.  Wenn  aber 
aUe,  auch  die  niederen,  Kräfte  in  der  Natur  Wille  sind,  so  wird 
man  auch  bei  der  mechanischen  Ursache  und  dem  organischen 
Reiz  eine  niedere  Stufe  innerlicher  Motivation  voraussetzen 
müssen.  Die  äussere  Kaus^dität  und  die  Motivation  im  erweiterten 
Sinne  stellen  somit  die  Aussenseite  und  Innenseite  der  realen 
ursächlichen  Veränderung,  oder  der  realen  Seite  des  Satzes  vom 
^^^  Grunde  dar, 
^^l  Ausser  ihnen  giebt  es  noch   zwei  bloss  ideale  Gestalten  des 

^^^        Satzes  vom  Grunde,   wie  sie  sich  in   der  Logik  und  Mathematik 

■  darstellen.  In  ihnen  handelt  es  sich  um  die  unzeitliche  Bedingt- 
I  heit  der  Begriffe  und  Urteile,  beziehungsweise  der  raumzeitlichen 

■  Grössenverhältnisse  durch  einander.  Insofern  letztere  die  empi- 
I  rische  Realität  unseres  Bewusstseinsinhalts  bestimmen,  wird  diese 

■  Gestalt  des  Satzes  vom  Grunde  massgebend  für  das  Sein  in 
I  unserer  Welt  der  Objekte  oder  der  subjektiven  Erscheinungen. 
I  Die  Kausalität  hat  es  nur  mit  den  vollständigen  anschaulichen 
I  Objekten   und  ihren  thatsächlichen  Veränderungen  zu  thun,   nicht 

■  mit  mathematischen  oder  logischen  Abstraktionen  von  diesen  oder 
I  mit  rein  jEfedanklichen  Reflexionen,  — 


i8i 


Die  Kausalität  ist  ferner  diejenige  intellektuelle  Urfunktion, 
welche  die  Empfindung  zur  Anschauung  intellektualisiert ,  indem 
sie  dieselbe  gleichzeitig  mit  der  Verräumlichung  und  räumlichen 
Hinausversetzung  auch  ursächlich  hinausprojiziert  (Vierf.  Wurzel, 
§  2r).  Dieser  Akt  vollzieht  sich  ohne  Bewusstsein  (W.,  II,  26), 
wie  ja  überhaupt  mehr  als  die  Hälfte  unseres  Denkens  unbewusst 
ist  (R,  TL  58;  W„  II.  148—149).  Diese  unbewusste  Intellektual- 
fiinktion  will  deshalb  Schopenhauer  auch  nicht  1^ Denken ^  nennen 
(W„  I,  564),  um  ihre  Verwechselung  mit  dem  bewussten  begriff- 
Udien  Denken  zu  vermeiden,  die  sich  durch  die  ganze  Kantsche 
Kategorienlehre  hindurchzieht  (W.,  I,  565,  519^525)*  Das  Denken 
in  dieseiTi  engeren  Sinne  ist  Sache  der  abstrakten,  diskursiven 
bewusstreflektierenden  Vernunft,  während  die  alleinige  Funktion 
des  konkreten»  intuitiven,  unbewusst  projizierenden  Verstandes  die 
Kausalität  (als  synthetische  Kategorialfunktion)  ist  (W,,  I,  46,  13). 
Diese  unbewusste  Projektion  der  Empfindung  soll  nun  das  Objekt 
zum  Ergebnis  haben,  so  dass  das  Objekt  als  äussere  Ursache  der 
Sinnesempfindung  angeschaut  wird,  während  es  doch  nur  das 
Posterius  der  Empfindung,  nämlich  ihre  intellektuelle  Projektion 
in  den  svibjektiven  Bewusstseinsraum  ist 

Schopenhauer  hat  die  unbewusste  apriorische  Intellektual- 
funktion,  welche  aus  der  Empfindung  die  Anschauung  des  Ob- 
jekts macht,  richtig  erkannt;  er  hat  ebenso  richtig  festgestellt, 
dass  das  auf  diesem  Wege  rückwärts  Erschlossene  für  die  Ur- 
sache der  Empfindung  vermittelst  der  Affizierung  des  eigenen 
Leibes  gehalten  wird.  Aber  indem  er  aus  der  Apriorität  oder 
dem  subjektiven  Ursprung  der  Funktion  sofort  die  ausschliesslich 
subjektive  Geltung  folgerte,  hat  er  dem  Intellekt  einen  schreien- 
den Widerspruch  in  seine  Grundfianktion  hinein  gedichtet.  Die 
Veränderung  im  äusseren  Objekt  soll  eine  Veränderung  in  den 
Zuständen  des  unmittelbaren  Objekts,  d.  h.  des  eigenen  Leibes 
hervorrufen,  die  als  Empfindung  bewusst  wird;  diese  Empfin- 
dung soll  dann  hinausprojiziert  werden  und  das  Objekt  produ- 
zieren, welches  den  Leib  affiziert.  So  wird  das  Objekt  zum 
Produkt  der  von  ihm  produzierten  Empfindung,  und  die  Empfin- 
dung ZMT  Wirkung  des  erst  durch  ihre  Projektion  produzierten 
Objekts. 

Es  ist  unverständlich,  wie  Schopenhauer  darin  einen  von 
ihm    gelieferten    Beweis    der  Apriorität    des    Kausalgesetzes    er- 


l82 


Schopenhauer, 


blicken  kann  (Vierf.  Wurzel,  §  23»  S.  84),  anstatt  darin  den  Beweis 
zu  sehen»  dass  in  seinen  Voraussetzungen  ein  Fehler  stecken 
nuiss.  Der  Instinkt  projiziert  allerdings  die  Ursache  der  Empfin- 
dung durch  unbewusste  Intellcktualfunktlon»  aber  er  sucht  sie 
auch  nicht  melir  in  einer  seiner  subjektiven  Erscheinungen  oder 
Vorstellungsobjekte,  sondern  lediglich  im  Ding  an  sich,  wie  auch 
Kant  noch  wusste.  D.  h.  der  instinktive  Verstand  intellektuahsiert 
die  Empfindung  nur  durch  Anwendung  der  transcendenten 
Kausalität  auf  dieselbe,  nicht  der  immanenten,  die  er  gar  nicht 
besitzt  und  kennt,  ebenso  wenig  wie  er  das  falsche  Verbot  des 
transcendenten  Gebrauchs  dieser  Intellektualfunktion  kennt  oder 
beachtet.  Damit  entgeht  er  allen  Widersprüchen,  in  die  der 
transcendentale  Idealismus  sich  verwickelt.  Dieser  Ausweg  aus 
allen  Schwierigkeiten  war  aber  für  Schopenhauer  ungangbar, 
weil  ihm  die  bloss  subjektive  Gültigkeit  der  Kausalität  durch 
sein  Vorurteil  feststand.  — 

Die  Kausalität  im  engeren  Sinne  bedeutet  bei  Schopenhauer 
bloss  die  gesetzmässige  Folge  von  Zustandsändcrungen  auf  ein- 
ander; aus  diesem  engeren  Begriff  der  Kausalität  ergiebt  sich 
als  logische  Konsequenz  die  Unmöglichkeit  der  Wechselwirkung, 
weil  die  zeitlich  frühere  Ursache  nicht  zugleich  Wirkung  der 
zeitlich  späteren  Wirkung  sein  kann  (W.,  I,  545 — 549).  Der  Be- 
griff der  Kausalität  im  weiteren  Sinne  schliesst  dagegen  auch 
die  beiden  Bedingungen  der  Kausalität  im  engeren  Sinne  mit 
ein;  diese  sind  einerseits  die  Materie  als  der  beharrende  Träger 
oder  die  Substanz  der  an  ihr  vorgehenden  Veränderungen,  anderer- 
seits die  Kräfte,  vermöge  deren  die  Veränderungen  sich  voll- 
ziehen. Beide  bleiben  vom  Gesetz  der  Kausalität  unberülirt, 
gerade  weil  erst  durch  sie  die  Kausalität  zustande  kommt 
(W.,  II,  52;  I,  545),  Die  Materie,  oder  der  in  Raum  und  Zeit 
beharrende  Träger  der  Veränderungen,  oder  die  Substanz,  bleibt 
immer  noch  lediglich  Vorstellung  (W.,  I,  527);  aber  die  Kräfte 
gehören  bereits  der  Welt  als  Wille  an  (W.,  II,  52),  Die  Kate- 
gorie der  Substanz  ist  eine  unentbehrliche  zweite  Kategorie 
neben  der  der  Kausalität,  wenn  man  die  letztere  im  engeren 
Sinne  nimmt;  aber  sie  ist,  ebenso  wie  die  Kraft»  nur  eines  der 
Momente  der  Kausalität,  wenn  man  diese  im  weiteren  Sinne 
versteht. 

Die  einzige  Substanz  ist  die  Materie;    denn  sie  ist  das,  was 


«83 

Übrig  bleibt  nach  Abzug  aller  Eigenschaften  von  den  Objekten. 
das  Unentständliche  und  Unvergängliche,  ewig  Beharrende,  weil 
vom  Kaiisalitätsgesetz  Unberührte,  d.  h,  das  Unbedingte,  das 
Absolute  (W^,  I,  580»  560 — 561,  576,  574;  R,  n,  114;  Vierf, 
Wurzel,  42).  Substanz  ist  nur  eine  Abstraktion  von  der  Materie, 
gemacht,  um  als  zweite  Spezies  dieser  neu  gebildeten  Gattung 
den  Begriff  einer  immateriellen  Substanz  zu  erschleichen  (W.,  I, 
582—585).  Nun  ist  aber  die  Materie  als  subjektive  Erscheinung 
oder  raumerfülleiider  sinnenfälliger  Stoff  bloss  eine  Abstraktion 
von  den  sinnlichen  Objekten  durch  Weglassung  ihrer  sämtlichen 
Eigenschaften  (W.,  I,  580),  und  die  Objekte  sind  wieder  nur 
intcllektuale  Synthesen  und  Projektionen  von  Empfindungen,  so 
dass  die  Materie  nur  eine  Abstraktion  von  Empfindungs- Projek- 
tionen ist  Als  solche  kann  sie  unmöglich  Substanz,  Unbedingtes 
und  Absolutes  genannt  werden,  sondern  diese  Bezeichnungen 
können  ihr  nur  in  einer  anderen  Bedeutung  zukommen.  Als 
subjektive  Bewusstseinserscheinung  ist  die  Materie  wohl  raum- 
erfüllend, aber  schlechthin  trag,  passiv,  energielos,  leistungs- 
unfähig, unwirksam  und  kraftlos.  Die  Vorstellungen  in  meinem 
Bewusstsein  haben  als  solche  keine  Kräfte  zur  Verfügung,  son- 
dern können  höchstens  Kräften,  die  ausser  meinem  Bewusstsein 
existieren,  repräsentativ  entsprechen. 

Diejenige  Materie,  welche  Schopenhauer  als  die  Substanz 
und  das  Absolute  bezeichnet,  ist  gar  nicht  trag  und  passiv,  son- 
dern das  Wirken,  die  Wirksamkeit  oder  Wirklichkeit  selbst,  das 
reine  Wirken  in  abstracto,  d,  K  die  reine  KausaHtät  selbst  (W*,  I, 
10,  14,  561;  IT,  53).  Das  ist  also  diejenige  Materie,  von  welcher 
die  dynamische  Theorie  der  Materie  gilt,  wie  Schopenhauer  sie 
von  Kant  und  Bouterwek  übernommen  hat,  die  Materie,  die 
durch  lauter  Kräfte  konstituiert  wird  oder  selbst  nur  eine  An- 
ordnung von  Kräften  ist.  Die  Kräfte  allein  sind  es  ja.  vermöge 
deren  die  kausalen  Veränderungen  sich  vollziehen;  sie  allein  sind 
also  auch  das  Wirksame.  Die  Kräfte  sind  ebenso  wie  die  be- 
wusstscinsimmanente  Materie  von  dem  Gesetz  der  Kausalität 
unberührt,  also  ebenso  unwandelbar  beharrlich  und  unbedingt 
wie  diese.  Sie  sind  aber  auch  zugleich  der  Wille,  oder  das  Ding 
an  sich  der  bewusstseinsimmancnten  Materie,  von  welchem  diese 
nur  die  objektive  Sichtbarkeit  (W.,  II,  52)  oder  subjektive  Er- 
scheinung ist.     Nicht  die   passive,   unwirksame   Abstraktion    von 


184  Schopenhauer. 

Empfindungsprojektionen  kann  das  Absolute  oder  die  Substanz 
heissen,  sondern  nur  die  Gesamtheit  der  Naturkräfte  oder  des 
Weltwillens,  die  ihr  als  Ding  an  sich  zu  Grunde  liegt.  Hier- 
gegen sträubt  sich  Schopenhauer  bloss,  weil  er  die  Geltung  der 
Substautialität  auf  eine  subjektive  Erscheinung,  auf  eine  Vor- 
stellung beschränken  möchte;  denn  er  fürchtete  mit  Recht,  dass, 
wenn  einmal  die  Kraft  oder  der  Wille  als  absolute  Substanz  und 
reines  Wirken  zugestanden  sei,  damit  auch  die  Kausalität  aus 
dem  bewusstseinsimmanenten  in  das  bewusstseinstranscendente 
Gebiet  verschoben  werde  und  Raum  und  Zeit  unweigerlich  nach 
sich  ziehen  müsse. 

Wäre  die  bewusstseinsimmanente  Materie,  oder,  wie  ich 
lieber  sage,  der  Stoff,  nicht  der  Bewusstseinsrepräsentant  der  be- 
wusstseinstranscendenten  Materie  oder  des  Kräftesystems,  dann 
wäre  sie  ein  blosses  Trugbild,  ein  leerer  Wahn.  Dann  hätte 
Berkeley  gegen  Schopenhauer  recht,  dass  die  philosophische  Be- 
sinnung die  Materie  in  ein  blosses  Vorstellungsprodukt  ver- 
flüchtige und  als  Realität  aufhebe,  also  zum  Immaterialismus 
führe.  Dann  hätte  auch  Hume  gegen  Schopenhauer  recht,  dass 
die  Substanz  bloss  ein  äffender  Spuk  hinter  den  Eigenschaften 
der  Objekte  sei,  der  von  der  Kritik  in  Nichts  aufgelöst  werde. 
Schopenhauers  Festhalten  an  der  Materie  als  Substanz  wäre  dann 
ein  Rückfall  in  einen  erkenntnistheoretischen  Standpunkt,  der  an 
kritischer  Besonnenheit  tief  unter  dem  von  Berkeley  und  Hume 
läge.  Sein  Recht,  die  Materie  und  die  Substanz  aufrechtzuerhalten, 
stützt  sich  lediglich  auf  die  Materie  als  bewusstseinstranscendentes 
Kräftesystem,  d.h.  auf  dasjenige  Ding  an  sich,  auf  welches  die 
Materie  als  subjektive  Erscheinung  (transcendental)  bezogen  wird. 
Er  sucht  aber  diesen  Unterschied  zu  verwischen,  um  nicht  ein- 
zugestehen, dass  auch  die  bewusstseinsimmanente  Kausalität  der 
Vorstellungsobjekte  unter  einander  nur  ein  repräsentatives  Abbild 
oder  eine  subjektiv  ideale  Widerspiegelung  der  realen  bewusst- 
seinstranscendenten  Kausalität  ist,  welche  sich  im  Spiel  der  be- 
wusstseinstranscendenten  Kräfte  oder  Individualwillen  vollzieht. 

Auch  die  Anerkennung,  dass  die  Motivation  die  von  innen 
gesehene  Kausalität  sei,  musste  ihn  zu  der  Einsicht  führen,  dass 
die  Kausalität  lediglich  durch  eine  Kollision  von  Individual- 
willen möglich  ist,  deren  jeder  für  das  Bewusstsein  des  anderen 
transcendent  ist,  ebenso  wie  beide  für  das  Bewusstsein  eines  zu- 


schauenden  Dritten  transcendent  sind.  Wo  Kausalität  ist,  da  ist 
Wille,  und  kein  Wille  agiert  ohne  Kausalität  (> Wille  in  der 
Natur«,  86),  Das  Motiv,  welches  im  Bewusstsein  eines  jeden  der 
beteiligten  Individuen  die  Willensreaktion  vermittelt,  ist  dann 
nichts  weiter  als  der  subjektive  Bew^usstseinsrepräsentant  von  der 
transcendenten  Willensbethätigung  des  anderen,  und  besteht  in 
der  Wahrnehmung,  die  aus  der  transcendenten  Kausalität  dieser 
Willensbethätigung  auf  die  Sinnlichkeit  entspringi:.  Damit  hätte 
aber  Schopenhauer  gerade  die  transccndentc  Kausalität  des  affi- 
zierenden  Dinges  an  sich  zugegeben,  die  zu  leugnen  er  durch 
sein  Vorturteil  genötigt  war.  Seine  ganze  Naturphilosophie  hat 
nur  einen  Sinn,  w^enn  man  die  transcendente  Kausalität  der 
Naturkräfte  auf  einander  annimmt,  seine  Mitleidsmoral  nur,  wenn 
man  die  transcendente  Kausalität  der  Menschen  unter  einander 
als  Individualwillen  zugiebt.  Aber  seine  falsche  Erkenntnistheorie 
hindert  ihn,  diesen  Sachverhalt  einzugestehen,  und  nötigt  ihn  zu 
einem  fortgesetzten  Versteckspielen  mit  Widersprüchen. 

Nachdem  Schopenhauer  die  Kantschen  Relation skategorien 
unter  die  der  Kausalitätskategorie  zusammen gefasst  hat,  verwirft 
er  die  übrigen  gänzlich  als  Kategorien.  Soweit  dieselben  nicht 
Ableitungen  von  der  Kategorie  der  Kausalität  sind,  gehören  sie 
dem  begrifflichen  reflektierenden  Denken  der  abstrakten  diskur- 
siv^en  Vernunft  an  (W.,  I,  539),  würden  also  nach  Kantscher  Aus- 
drucksweise unter  die  >>  Reflex lonsbegrifFe«  einzureihen  sein.  Damit 
hört  aber  auch  eigentlich  die  Berechtigung  auf,  aus  der  Ungültig- 
keit der  Kategorien  im  bewusstseinstranscen  deuten  Gebiet  un- 
mittelbar abzuleiten,  dass  dem  Ding  an  sich  weder  Vielheit,  noch 
auch  Einheit  im  Gegensatze  zur  Vielheit  zukomme.  Gleichwohl 
stellt  Schopenhauer  diese  Behauptung  auf,  giebt  ihr  jedoch  zu- 
gleich eine  anderweitige  mittelbare  Begründung.  Er  lehrt  näm- 
lich mit  Recht,  dass  Raum  und  Zeit  das  alleinige  principium 
individuationis  seien.  Daraus  folgt,  dass  Vielheit  nur  da  zu  finden 
ist,  wo  Raum  und  Zeit  gegeben  sind,  dass  aber  da,  wo  Raum 
und  Zeit  fehlen,  auch  die  Möglichkeit  der  Vielheit  ausgeschlossen 
ist.  Da  nun  Raum  und  Zeit  nur  im  Bewusstseinsinhalt  vor- 
kommen sollen,  aber  nicht  im  bewusstseinstranscendenten  Dinge 
an  sich,  so  folgt  weiter,  dass  auch  Vielheit  nur  im  Bewusstseins- 
inhalt anzutrefi*en  ist.  die  Sphäre  des  Dinges  an  sich  aber  der 
Vielheit  entrückt    ist     So  wird   durch   das  ZusammentrefiFen  der 


i86 


Scliopenliaucr- 


transcendentaleri  Idealität  von  Raum  und  Zeit  mit  der  Lehre, 
dass  Raum  und  Zeit  das  alleinige  principium  individuationis  seien, 
der  metaphysische  oder  ontologische  Monismus  bejt^ündet,  der 
den  Mittelpunkt,  Angelpunkt  und  Schwerpunkt  des  ganzen 
Schopcnhauerschen  Systems  bildet. 

Auch  die  Teleologie  oder  Finalität  sucht  Schopenhauer  aus 
der  vielheitlosen  Einheit  und  Zeitlosigkeit  des  Dinges  an  sich  zu 
erklären,  so  dass  sie  ebenso  wie  die  Kausalität  zu  einer  Kate- 
gorie von  bloss  subjektiver  Gültigkeit  herabgesetzt  wird.  Indem 
die  subjektive  Auffassung  die  Einheit  des  Dinges  an  sich  räum- 
lich, zeitlich  und  kausal  auseinanderlegt,  muss  in  dem  Gefüge  der ' 
Teile  die  ursprüngliche  Einheit  irgendwie  durchschimmern,  und 
dieses  Zuein  and  erpassen  der  Bruchstücke  des  ursprünglichen 
Ganzen  ist  es,  was  die  Verwunderung  des  Beschauers  über  die 
Zweckmässigkeit  des  Gefiiges  und  der  Anordnung  wachruft 
(W.,  I»  186;  II,  373—375;  Wille  in  der  Natur,  53—54).  Nur  eine 
besondere  Art  der  phänomenalen  Auscinanderzcrrung  des  im 
Ding  an  sich  Geeinten  ist  die  Antizipation  des  Zukünftigen,  die 
im  tierischen  Instinkt  und  im  vorausschauenden  Hellsehen  solche 
Verwunderung  erregt,  während  doch  für  das  Ding  an  sich  die 
Zeit  keine  Bedeutung  hat  (W.,  II,  397 — 398).  Denn  alles  in  der 
subjektiven  Erscheinung  in  ein  zeitliches  Nacheinander  Aus-i 
einandergezogene  ist  im  Ding  an  sich  als  ein  ewiges  Ineinander,  — 

Von  der  (bewussten)  Vorstellung  muss  man  als  dem  Ge- 
gebenen oder  als  der  ersten  Thatsache  des  Bewusstseins  aus*] 
gehen;  diese  zeigt  als  ihre  Grundform  das  Zerfallensein  in  Sub- 
jekt und  Objekt  (W,,  I,  30,  40).  Nimmt  man  eines  der  Glieder 
dieses  Gegensatzes  fort,  so  hebt  man  die  ganze  (bewusste)  Vor- 
stellung, und  damit  auch  das  andere  Gegensatzglied,  auf 
(W.,  II,  1 7).  Das  Objekt  hat  zur  Grundform  Zeit,  Raum  und  Kausa- 
lität oder  den  Satz  vom  Grunde  in  seinen  verschiedenen  Gestalten 
( W,,  I,  40) ;  sie  kommen  dem  Objekt  allein  zu,  nicht  dem  Subjekt, 
können  aber,  sofern  sie  dem  Objekt,  und  dieses  dem  Subjekt 
wesentlich  ist,  auch  von  diesem  aus  a  priori  gefunden  werden 
{W.,  I,  30).  Dem  Subjekt  kommen  die  Formen  des  Objekts  eben 
nicht  zu;  es  steht  also  auch  jenseits  des  Princips  der  Individuation, 
d,  h.  jenseits  der  Vielheit  {W.,  I,  6).  Es  ist  ^dasjenige,  was  alles 
erkennt  und  von  keinem  erkannt  wird,  . .  .  der  Träger  der  Welt, 
die  durchgängige,  stets  vorausgesetzte  Bedingung  alles  Erscheinen- 


den*  (W,.  I,  5)-  Es  ist  nicht  in  der  Zeit,  und  die  Beharrlichkeit 
der  Materie  ist  zu  betrachten  als  der  Reflex  seiner  Zeitlosigkeit 
(W.,  n,  i8).  Dieses  Subjekt  bin  auch  ich  selbst,  wie  jedes  Er- 
kennende es  ist  (W.,  n,  7). 

Dieses  allgemeine,  Eine  Subjekt  oder  Weltsubjekt  ist  zu- 
nächst zu  unterscheiden  vom  erkennenden  Individuum  (W.,  II, 
7,  21).  Die  erkennenden  Individuen  entstehen  und  vergehen  als 
lebende  Organismen;  aber  dies  ist  selbst  nur  eine  Illusion,  die 
durch  den  Apparat  zweier  geschliffener  Gläser  (Anschauungs- 
formen) entsteht,  und  das  Eine  unvergängüche,  ewige  Sub- 
jekt wird  von  ihr  nicht  berührt  (R,  II,  287;  W.,  II,  21).  Das 
allgemeine  Subjekt  wird  zum  erkennenden  Individuum  oder  Indi- 
vidualbewusstsein  dadurch,  dass  es  sich  als  Bewusstsein  auf  ein 
bestimmtes  Objekt  als  sein  nnmittelbares  Objekt  oder  seinen  Leib 
bezieht  (W,,  I,  123),  (Schellings  dritte  Begrenztheit).  Nur  in  der 
Sphäre  des  Objekts  giebt  es  Raum,  Zeit,  Individualität  und  Viel- 
heit; nur  in  ihr  ist  deshalb  das  Objekt  zu  suchen,  durch  Be- 
ziehung auf  welches  das  Bewusstsein  zum  individuellen  wird. 
Dass  aber  dieses  eine  Objekt  aus  allen  anderen  herausgehoben 
wird,  ist  dadurch  bedingt,  dass  dieses  eine  Objekt,  der  eigene 
Leib,  zugleich  als  äussere  Erscheinung  (raumzeit liehe  Vorstellung) 
und  als  zeitliche  innere  Erscheinung  (Individualwnlle)  bewusst 
wird,  alle  übrigen  Objekte  aber  blosse  Vorstellung,  d.  h.  blosse 
Phantome  sind  (W,,  I,  124).  Somit  ist  es  letzten  Endes  doch  mü- 
der Individual Wille,  der  die  individuelle  Beschränktheit  in  das 
Erkennen  setzt  (oder  das  absolute  Subjekt  des  Erkennens  zum 
individuellen  einschränkt);  nicht  das  allgemeine  Subjekt,  sondern 
der  Individualwille  ist  die  Wurzel  des  Intellekts  in  den  Schranken 
der  Individualität  (W.,  II,  153  —  155). 

Von  dem  erkennenden  Individuum  oder  dem  individuell  be- 
schränkten Intellekt  ist  drittens  zu  unterscheiden  das  Bew^usst- 
seinsich.  Dieses  ist  eine  blosse  Erscheinung  und  verhält  sich  zu 
der  Basis  dieser  Erscheinung  wie  das  Bild  im  Brennpunkt  des 
Hohlspiegels  zu  dem  abgespiegelten  Gegenstände;  es  ist  ver- 
gänglich wie  das  erkennende  Individuum,  und  nicht  ein  Erstes, 
Primäres,  sondern  ein  Tertiäres  (W.,  II,  314).  Als  subjektive  Er- 
scheinung, die  sich  auf  ein  Ding  an  sich  bezieht,  als  Vorstellung, 
die  ein  direkt  Unerkennbares  für  das  Bewusstsein  repräsentiert, 
als   Abbild    des   Einen   allgemeinen   Subjekts    des   Erkennens   in 


seiner  individuellen  Einschränkung,  ist  das  Bewusstseinsich  ein 
phänomenales  Objekt  unter  anderen  Objekten,  bloss  mit  dem 
Unterschiede,  dass  es  Vertreter  oder  Bild  des  Subjekts  fiir  die 
Vorstellung  ist  Dieser  Zusammenhang  schimmert  bei  wSchopen- 
hauer  nur  unausgesprochen  hindurch;  er  vermengt  sogar  später 
das  Bewusstseinsich  wieder  mit  dem  Subjekt  des  Erkennens 
(R,  TI,  48). 

Die  ganze  Zeit  und  die  in  ilir  verlaufende  kausale  Ent- 
wickelungsreihe  ist  nur  in  der  Identität  eines  Bewusstseins 
mögh'ch;  andererseits  findet  das  erste  erkennende  Tier  sich  be- 
reits in  diese  zeithche  Ursachenkette  hineingestellt  und  seine 
eigene  Existenz  mit  aller  ihrer  besonderen  Bestimmtheit  als  ein 
Produkt  dieser  Entwickelung  vor.  Diese  zw^ei  einander  wider- 
sprechenden Ansichten  erkennt  Schopenhauer  als  eine  Anti- 
nomie in  unserem  Erkenntnisvermögen  an,  glaubt  aber  ihre 
Lösung  darin  zu  finden,  dass  die  Welt  als  Vorstellung  samt  ihren 
Formen  nur  die  äussere  Seite  der  Welt  ist.  der  noch  eine  innere 
als  Wesen  oder  Ding  an  sich  zu  Grunde  liegt  {A¥,»  I,  36).  Da 
indes  in  dieser  Innenseite  der  Welt  Raum,  Zeit,  Kausalität  und 
Vielheit  keine  Stätte  finden»  so  ist  auch  nicht  ersichtlich,  wie 
durch  sie  die  Lösung  der  Antinomie  herbeigeführt  werden  soll 
Ein  zeitloses  Wesen  kann  w^ohl  von  sich  aus  eine  zeitliche  Ent* 
wickelungsreihe  von  Anfang  beginnen,  aber  niemals  von  sich 
aus  den  Zeitpunkt  in  der  Mitte  einer  zeitlichen  Entwickelungs* 
reihe  bestimmen,  in  welchen  das  neu  anhebende  Bewusstsein  sich 
gestellt  finden  soll. 

Wenn  es  keine  Individuation  im  Willen  giebt,  die  von  der 
Vielheit  der  Objekte  in  der  subjektiven  Erscheinungswelt  unab- 
hängig ist,  so  kann  es  niemals  zu  einer  Vielheit  von  Individual- 
intellekten ,  Bewusstseinen ,  subjektiven  Erscheinungswelten  und 
Bewusstseinsichs  kommen.  Will  der  Allwille  seine  Allgemeinheit 
durchaus  einschränken,  so  mag  er  es  tliun,  aber  er  kann  es  ohne 
principium  individuationis  niemals  zu  einer  Vielheit  von  Individual- 
willen  bringen,  die  eine  Vielheit  von  Individualbewusstseinen  zur 
Folge  hätte.  Das  Höchste,  wohin  er  gelangen  könnte,  wäre  die 
Herstellung  Eines  bewussten  Intellekts.  Eines  Bewusstseins. 
Aus  den  Seh openhau ersehen  Voraussetzungen  ist  deshalb  der 
Solipsismus  oder  theoretische  Egoismus  nicht  nur  unwiderleglich, 
sondern    ohne  Widerspruch    un überschreitbar;    wird    dieser 


^ 


Schopenhauer. 


189 


Standpunkt  für  ToUhäiislerei  erklärt,  so  liegt  darin  das  unbeab- 
sichtigte Eingeständnis,  dass  irgend  ein  Fehler  in  den  Voraus- 
setzungen stecken  muss  (W.,  I,   124),  — 

Könnten  wir  das  den  Formen  des  Raumes,  der  Zeit,  der 
Kausalität  und  der  Vielheit  entrückte  Subjekt  erkennen,  so  hätten 
wir  das  Ding  an  sich  erkannt.  Dies  ist  aber  unmöglich»  weil  es 
seiner  Natur  nach  unerkennbar  ist;  wir  können  uns  ihm  nur  auf 
Umwegen  nähern. 

Das   Subjekt    des   Erkennens    ist    eigentlich    ein    ungenauer 
Ausdruck;    denn  wir  wissen,  dass,  wo  das  Objekt  fehlt,  auch  das 
Subjekt  aufgehoben  ist.    Wir  entnehmen  Subjekt  und  Objekt  aus 
der  bewussten  Vorstellung,  in  welcher  beide  auseinander  getreten 
sind.     Aber   die    bewusste  Vorstellung    oder    die    Thatsache    des 
Bewusstseins  ist   erst   d^ts  Ergebnis  des  Zerfallenseins  in  Subjekt 
und  Objekt;    deshalb  kann  es,  genetisch  betrachtet,  nicht  die  be- 
wusste   Vorstellung    sein,    die    in    Subjekt    und    Objekt    zerfällt, 
sondern  nur  etwas  anderes,  in  welchem  beide  noch  nicht  zerfallen 
sind,  wohl  aber  die  Möglichkeit  ihres  Ausein andertretens  besteht 
»Ein  Wesen  ist  es  im  Grunde,  welches«  (als  Subjekt)  isich  selbst 
anschaut    und«    (als    Objekt)    »von    sich   selbst   angeschaut    wird, 
dessen  Sein   an   sich  aber  weder  im   Anschauen,    noch  im  An- 
geschautwerden   bestehen    kann,    da    diese    zwischen  .  .  .  beide* 
(Seiten,  nämlich  Subjekt  und  Objekt)   »verteilt  sind*  (W.,  II,  21), 
Dies   ist  offenbaLT   das  Nämliche,   was  Schelling  als  das  absolute 
Erkennen,  das  ewig  Unbewusste,  das  nicht  wissende  Bewusstsein, 
das  absolute   Subjekt -Objekt,    oder   die    absolute   Identität  (d,  h. 
ursprüngliche  Einheit)    des  Subjekts  und  Objekts  bezeichnet  hat. 
Schopenhauer   beschreibt   es  näher  als  das  aus  allen  Wesen 
blickende,   ewig  mit  sich  identische  Wellauge,   das  zugleich  der 
Träger   der  Welt  der   beharrenden   Ideen    ist  (W.,  II,   433),  öder 
als    das    überindividuelle    und    darum    auch    unbewusste    Selbst- 
bewusstsein  des  absoluten  Subjekts  (W.,  I,  230,  276,  200;  II,  370), 
in   welchem   sich  Subjekt    und  Objekt  nicht  mehr  unterscheiden, 
sondern   sich  gegenseitig  vollkommen  erfüllen  und  durchdringen 
(W.,  1,  212).    Er  findet  aber  nicht  den  Ausdruck  des  unbewussten 
Vorstellens  dafür,  sondern  sucht  im  Gegenteil  zu  zeigen,  dass  das 
Einssein   von  Erkennendem   und  Erkanntem   zwar  das  Erkennen 
aufhebe,   welches   in   der  Entgegensetzung  beider  wurzelt,  aber 
nicht  gerade  Bewusstlosigkeit  mit  sich  zu  führen  braucht  (P.,U,  291)* 


igo 


Er  plagt  sich  also  wie  Schelling  mit  einem  nicht  wissenden 
(nicht  erkennenden)  ßewusstsein,  statt  von  einem  nicht  bewussteii 
Wissen  oder  unbewussten  Erkennen  zu  reden.  Denn  das  Zu- 
sammenfallen von  Erkennendem  und  Erkanntem  ist  doch  gewiss 
die  höchste  Form  des  Erkennens.  Nicht  das  Erkennen  oder 
Vorstellen  als  solches  verlangt  den  Gegensatz  von  Subjekt  und 
Objekt,  sondern  nur  diejenige  Form  des  Erkennens,  die  uns  als 
bewusstes  Erkennen  oder  Vorstellen  bekannt  ist  Daraus  folgt» 
dass  das  überindividuelle  Erkennen  zugleich  eine  andere  als  die 
bewusste  Form  haben  müsse,  die  wir  nur  als  unbewusste  und 
überbewusste  bezeichnen  können. 

Die  Idee  steht  noch  unter  der  Form  des  Objekts,  wenn  man 
sie  unter  Abstraktion  von  dem  Einen  Subjekt  denkt,  und  kann 
darum  so  gefasst  noch  nicht  das  Ding  an  sich  selber  sein,  sondern 
nur  seine  unmittelbarste  Objektität,  die  Form  des  Objektseins  für 
ein  Subjekt  (W.,  I,  206)  r  aber  die  ungeschiedcne  Einheit  von 
Subjekt  und  Objekt  in  der  Idee  kann  man  nicht  mehr,  wie 
Schopenhauer  thot  (W.»  I,  247),  die  adäquate  Objektität  des  Dinges 
an  sich  nennen,  da  sie  vielmehr  über  die  Form  des  Objektseins 
ebenso  liinweg  ist,  wie  über  die  übrigen  Formen  der  Erscheinung, 

Dieses  unbewusste  Selbstbewusstscin  des  Absoluten  erst  ist 
die  i^eigentliche  Welt  als  Vorstellung^:,  die  jenseits  der  Indivi- 
duation  Hegt  (W.,  I,  212),  ^Die  Welt  der  beharrenden  Ideen« 
(SchelUngs  ideales  Universum)  gliedert  sich  in  verschiedene 
Stufen,  jede  Stufe  in  Gattungsideen  und  Artideen,  die  höchsten 
Artideen  wieder  in  Indivadualideen.  Diese  Partialideen  sind  die 
species  rerum,  die  universaüa  ante  rem  oder  unitates  ante  rem 
(W.,  II,  414,  417;  I,  277),  die  Grundtypen  für  die  Erscheinungen 
und  Individuen  {W,,  I,  170),  also  deren  Prius  und  nicht  etwa 
durch  sie  bedingt.  Durch  den  leiblichen  Organismus  und  dessen 
Teile  (Gehirn)  bedingt  ist  nur  der  bewusste  Individualintellekt,  in 
welchem  Subjekt  und  Objekt  auseinander  getreten  ist,  und  die  für 
das  Individualbewusstsein  sich  entfaltende  subjektive  Erscheinungs- 
welt Die  eigentliche  Welt  als  Vorstellung,  die  Welt  der  be- 
harrenden Ideen,  bleibt  als  ewige,  überindividuelle,  überbewusste» 
Subjekt  und  Objekt  in  indifferenter  Einheit  enthaltende,  von  jedem 
Erklärungsversuch  unberührt,  der  sich  auf  die  Objekte  oder  die 
Materie  stützt  — 

Wie  kann  nun  der  Mensch  überhaupt  Kenntnis  erlangen  von 


Schopenliauer. 


ig! 


diesem  Reich  der  Idee,  wenn  es  über! ndividu eil  und  übcrbewusst 
ist?  Nur  dadurch,  dass  er  gleichsam  einen  doppelten  Intellekt 
hat,  einen  subjektiv  individuellen,  bewussten,  und  einen  objektiv 
universellen,  genialen,  instinktiven,  unbevvussten  (P.,  II,  78—79; 
I,  2 78).  Genauer  betrachtet  erweist  sich  dieser  scheinbar  doppelte 
Intellekt  nur  als  das  Ineinander  des  All -Einen  Subjekts  und  des 
individuell  eingeschrjinkten  Subjekts,  oder  der  unbewussten  und 
bewussten  Vorstellungsform,  oder  der  übersinnlichen  und  sinn- 
lichen Anschauungsw^eise.  Wenn  der  Mensch  die  sinnliche  An- 
schauung vom  Willen  als  dem  Realprincip  und  von  der  instin k- 
tiven  Beziehung  auf  eine  willensartige,  dingansichliche  Realität 
losreisst»  und  rein  als  ästhetische  Anschauung  (ästhetischen 
Schein)  auffasst,  so  bleibt  sie  zw^ar  noch  sinnlich  und  darum  auch 
raumzeitlich  und  mit  kausalen  und  finalen  Beziehungen  behaftet, 
aber  sie  tritt  aus  dem  Zusammenhange  der  Wirklichkeit  in  rein 
kontemplativer  Weise  als  ästhetische  Idee  heraus.  Wenn  er  dann 
von  der  ästhetisch  sinnlichen  Anschauung  zur  transcendentalen 
übergeht,  so  erfasst  er  die  dieser  ästhetischen  Idee  zu  Grunde 
liegende  transcendentale  Idee,  die  von  Raum,  Zeit  und  Kausalität 
frei  ist  Freilich  kann  er  das  nur,  indem  er  sich  über  seine  Indi- 
\idualität  und  sein  Bewusstsein  für  einen  Augenblick  erhebt  und 
das  in  ihm  wesende  absolute  Subjekt  des  Erkenoens  rein  zur 
Geltung  kommen  lässt  Als  bewusstes  Individuum  kann  er  die 
transcendentale  Idee  nur  in  der  ästhetischen  Idee  implicite  und 
gefühlsmässig  cdmen.  Darum  zeigt  die  ästhetische  Kontemplation 
wohl  einen  Weg  zum  Ding  an  sich,  führt  ihn  aber  nicht  zu 
Ende;  indem  sie  das  Bew*usstsein  auf  halbem  Wege  stehen  lässt, 
ändert  sie  nichts  an  der  Unerkennbarkeit  des  Dinges  an  sich,*) 
Das  Bedenklichste  an  Schopenhauers  Idecnlehre  ist  der  Um- 
stand, dass  die  Ideenwelt  als  Ding  an  sich  frei  von  den  An- 
schauungs-  und  Denkformen  sein  solL  Unabhängig  von  dem 
zufäUigen  Hier  und  Jetzt  der  Verkörperung  ist  schon  die  sinnliche 
Anschauung  der  ästhetischen  Idee;  die  transcendentale  Anschau- 
ung der  transcendentalen  Idee  soll  aber  auch  die  räumlichen  und 
zeitlichen  Bestimmungen  und  die  kausalen  und  finalen  Beziehun- 
gen abgestreift  haben.  Es  ist  schwer,  zu  sagen,  welche  Bestimmt- 
heit dann  für  die  transcendentale  Idee  noch  übrig  bleiben  könnte, 


♦)  Vcrgl,  meine  »Deutsche  Ästhetik  seit  Kant«,  S.  47 — 52. 


IQ2  Schopenhauer. 

um  sie  zu  kennzeichnen,  da  ihr  die  sinnlichen  Qualitäten  erst 
recht  nicht  zukommen  können.  Aber  die  Idee  zerfliesst  nicht 
nur  in  ein  unbestimmbares  Nichts,  wenn  ihr  Räumlichkeit  und 
Zeitlichkeit  entzogen  wird,  sondern  sie  wird  auch  unfähig,  sich 
in  eine  Vielheit  von  Partialideen  zu  zerlegen  oder  in  eine  Welt 
von  Ideen  zu  gliedern.  Denn  Raum  und  Zeit  sind  ja  das  einzige 
principium  individuationis,  und  wenn  das  Ding  an  sich  vielheits- 
los ist,  können  der  transcendentalen  Ideen  nicht  viele  sein.  Die 
Idee  schlechthin  könnte  gleich  einem  lebendigen,  sich  entwickeln- 
den, zeugungsfähigen  Organismus  die  nicht  in  ihm  eingeschachtelt 
liegende  Vielheit  von  Ideen  hervorbringen  (W.,  I,  276,  277);  aber 
wie  soll  sie  ohne  Zeit  sich  entwickeln,  ohne  Raum  und  Kausa- 
lität ein  Organismus  und  zeugungsfähig  sein?  — 

Vielleicht  führt  der  andere  Weg  zum  Ding  an  sich  besser 
zum  Ziele;  denn  auf  dem  Wege  der  Vorstellung  kann  man  über 
die  Vorstellung  nicht  hinaus  (W.,  I,  596),  und  die  transcendentale 
Idee  bleibt  für  das  Bewusstsein  immer  hinter  der  ästhetisch- 
sinnlichen Anschauung  verschleiert.  Wir  brauchen  einen  Weg, 
der  unser  bewusstes  Erkennen  zum  Ding  an  sich  hinleitet,  und 
uns  nicht  zumutet,  uns  zunächst  unserer  Individualität  und  unseres 
Bewusstseins  zu  entäussern,  damit  unserem  unbewussten  Wissen 
das  Ding  an  sich  als  die  Einheit  des  absoluten  Subjekts  mit  der 
absoluten  Idee  aufgehe.  Dieser  andere  Weg  kann  nur  nach  innen 
fuhren,  da  der  Weg  nach  aussen  versagt.  Die  innere  Erscheinung 
steht  zwar  noch  unter  der  Form  der  Zeit,  aber  nicht  mehr  unter 
der  des  Raumes,  wie  die  äussere  Erscheinung  thut  (W.,  II,  220), 
und  steht  dadurch  dem  Dinge  an  sich  um  eine  Stufe  näher  als 
die  äussere  Erscheinung  (P.,  11,  100).  Die  Kausalität  haftet  ihr 
nicht  mehr  als  äussere,  sondern  nur  noch  als  innere,  d.  h.  als 
Motivation  an;  frei  von  der  Kausalität  ist  aber  die  innere  Er- 
scheinung des  Willens  nicht,  wie  denn  z.  B.  jede  äussere  Ein- 
wirkung auf  den  Leib  sofort  als  innere  Einwirkung  auf  den 
Willen  empfunden  wird  (W.,  I,  120). 

Da  Schopenhauer  alle  Gefühle  mit  zu  den  Willensakten 
rechnet,  so  kann  er  nicht  daran  zweifeln,  dass  wenigstens  die 
zeitliche  Thätigkeit  eines  bestimmten  WoUens  unmittelbar  em- 
pfunden werde.  Unterscheidet  man  aber  Fühlen  und  Wollen,  so 
kann  man  sagen,  dass  man  selbst  das  zeitliche  Wollen  nur  aus 
seiner  inneren  Erscheinung,  den  begleitenden  Gefühlen,  und  aus 


Schopenliaucr. 


193 


seiner  äusseren  Erscheinung,  der  entsprechenden  Leibesbeweg-ung, 
erscUiesst,  aber  niemals  sich  seiner  unmittelbar  bewusst  werden 
kann.  Schopenhauer  hingegen  hält  daran  fest,  dass  man  die 
Willensaktion  in  ganz  unvergleichlicher  Weise  mit  unmittelbarem 
Bewusstsein  erfiisse  (W.,  I,  122,  135,  598),  und  dass  Willensaktion 
und  Leibesaktion  nicht  im  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung 
stehen,  sondern  identisch  sind  (W.,  I,  119).  Er  sieht  darin  die 
xoT  i^QX^'^v  philosophische  Wahrheit,  also  sozusagen  die  nach 
innen  gerichtete  transcendentale  Anschauung,  wie  die  Idee  die 
nach  aussen  gerichtete  darstellt.  Aber  eine  adäquate  Erkenntnis 
des  Dinges  an  sich  liefert  dieser  Weg  auch  nicht,  da  er  unmittel- 
bar nur  bis  rur  zeitlichen  inneren  Erscheinung  führt  (W»,  II,  220; 
P.,  n,  99).  Immerhin  weist  er  uns  einen  Weg,  auf  dem  wir 
weiter  schliessen  können,  wie  das  Ding  an  sich,  das  hinter  dieser 
Elrscheinung  steht,  zu  denken  sei,  wenn  wir  es  auch  niemals 
direkt  erkennen  können  (W.,  11,  221).  In  Bezug  auf  alles  Wirk- 
liche, Existierende,  Seiende  muss  das  Ding  an  sich  der  Willens- 
erscheinung ein  relatives  Nichts  sein  (W.,  I»  483 — 487).  An  sich 
aber  muss  es,  wie  a  priori  einzusehen  ist,  das  wollen  und  nicht 
wollen  Könnende  sein,  die  hinter  dem  Aktus  des  Wollens  stehende 
Potenz,  die  sowohl  fähig  sein  muss,  das  Phänomen  des  Woüens 
hervorzubringen»  als  auch  dies  nicht  zu  thun  (P„  II,  334). 

Dieser  wollen  und  nicht  wollen  könnende  Wille  oder  dieses 
Vermögen  des  Wollens  und  Nichtvvollens  muss  zugleich  als  Sub- 
jekt des  Wollens  oder  der  Willensbethätigung  aufgefasst  werden. 
Er  ist  das  von  allen  Erscheinungsformen  freie  Diog  an  sich,  also 
auch  frei  vom  principium  iodividuationis  und  der  erst  aus  ihm 
entspringenden  Vielheit.  Der  Wille  als  Ding  an  sich  ist  der  All- 
wille oder  Wcltwille  oder  das  absolute  Subjekt  alles  Wollens  in 
der  Welt,  Wenn  das  Individuum  glaubt,  dass  es  als  Individual- 
subjekt  wolle,  so  täuscht  es  sich,  denn  das  absolute  Subjekt  des 
Wollens  oder  der  Wille  als  vielheitloses  Ding  an  sich  ist  es  allein, 
was  in  ihm  will.  Dass  es  eine  Mehrheit  von  wollenden  Indivi- 
duen gebe,  ist  bloss  ein  Schein,  den  uns  das  Bew^usstsein  vor- 
spiegelt; denn  da  die  Mehrheit  erst  mit  Raum  und  Zeit  auftreten 
kann,  so  ist  eine  Individuation  vor  dem  Auftreten  des  Bewusst- 
seins  unmöglich  und  kann  nur  durch  dieses  vermittelt  sein.  — 
i  Mein   Bewusstsein    weiss   zunächst   nur  von   meinem  Wollen 

|0|ivas,    dem    die    Bewegungen    meines   Leibes    entsprechen.     So 

B.Y.  H»rtsiaDn,  Au«e«w.  Werke,     bd.  XJJ.  tS 


I 


194 


SdiDpenhftuer. 


lange  die  übrigen  mittelbarea  Objekte  meines  Bewusstscins  blosse 
Phantome  sind  {W.,  I,  124),  können  sie  mich  auch  nicht  veran- 
lassen, hinter  ihnen  Willensakte  zu  suchen.  Der  Solipsismus  ist 
also  aus  dem  Gesichtspunkte  des  WoUens  ebenso  unwiderleglich, 
wie  aus  dem  des  Vorstellens.  Bleibe  ich  im  Gebiete  der  Vor- 
stellung, so  komme  ich  über  die  Grenze  meines  Bewusstseins- 
inhalts  nicht  hinaus;  will  ich  mich  aber  eines  Anal<>gieschlusses 
aus  dem  Verhältnis  von  Wille  und  Vorstellung  in  dem  unmittel- 
baren  Objekt  meines  Leibes  bedienen,  so  versagt  auch  dieser. 

Ich  kann  erstens  aus  der  Zusammengehörigkeit  von  Vor- 
stellung und  Wille  in  meinem  unmittelbaren  Objekt  nicht  auf 
ihre  Zusammengehörigkeit  auch  in  meinen  mittelbaren  Ob- 
jekten schliessen.  Ich  kann  zweitens  aus  der  Korrespondenz 
meines  Wollens  mit  einem  meiner  Vorstellimgsobjekte  nicht 
auf  die  Korrespondenz  fremden  Wollens  mit  einem  meiner 
Vorstellungsobjekte  schliessen.  Ich  kann  drittens  auf  die  Korre- 
spondenz fremden  Wollens  mit  dem  unmittelbaren  Objekt  eines 
fremden  Bewusstseins  nur  dann  schliessen,  wenn  ich  von  der 
Existenz  eines  fremden  Bewusstseins  mit  Wollen  und  l.eibes- 
vorstellung  bereits  Kenntnis  habe.  Ich  kann  viertens  aus  der 
Korrespondenz  meines  Wollens  und  meiner  Leibesvorstellung  in 
meinem  Bewusstsein  und  aus  der  des  fremden  Wollens  und  der 
fremden  Leibesvorstellung  in  dem  fremden  Bewusstsein  zusammen 
keineswegs  auf  eine  Korrespondenz  meines  WoUens  mit  einem 
bestimmten  Vorstellungsobjekt  in  dem  fremden  Bewusstsein.  oder 
auf  eine  Korrespondenz  des  fremden  Wollens  mit  einem  be- 
stimmten Vorstelhuigsobjekt   in    meinem  Bewusstsein   schliessen* 

Alle  solche  Schlüsse,  die  die  Grenzen  meines  Bewusstseins 
überschreiten  und  auf  das  für  mich  Transcendente  übergreifen, 
sind  mir  vielmehr  schlechthin  abgeschnitten,  wenn  es  keine  reale 
Einwirkung  des  fremden  Wollens  auf  mich  und  meines  Wollens 
auf  das  fremde,  d.  h.  keine  die  Bewusstseinsgrenzen  über- 
schreitende  (transcendente)  Kausalität  zwischen  den  Individuen 
giebt,  sondern  Kausalität  nur  zwischen  Objekten  (desselben  Be- 
wusstseins) möglich  ist.  Das  Bew^usstsein  mit  seinen  Formen 
Raum  und  Zeit  ist  demnach  ganz  unfähig,  eine  Mehrheit  von 
Individuen  zustande  zu  bringen,  wenn  der  vorbewusste  Prozess 
sie  nicht  schon  vorher  fertig  gestellt  hat;  es  muss  bei  dem  Solip- 
sismus mit  umgebenden  Phantomen  stehen  bleiben.  — 


Schopenba 


195 


In  der  That  ist  aber  auch  Schopenhauer  weit  entfernt  davon, 
die  strenge  Einheit  des  gesamten  WiUens  jenseits  des  Bewusst- 
seins  festzuhalten.  Wie  Kant  sich  über  sein  Verbot  des  trans- 
cendentalen  Gebrauchs  der  Kausalität  praktisch  hinwegsetzt,  so 
Schopenhauer  über  seine  Lehre,  dass  Vielheit  nur  durch  die 
Anschauungsformen  im  Bewusstsein  zustande  kommen  könne. 
Nach  seinen  erkenntnistheoretischen  Grundsätzen  dürfte  Schopen- 
hauer keinen  Augenblick  darüber  in  Zweifel  sein  können,  dass 
die  Wurzeln  der  Individuation  nicht  tiefer  hinabreichen  als  Raum 
und  Zeit,  d.  h.  das  jenseits  des  Bewusstseins  Belegene  gar  nicht 
berühren.  Dass  er  es  als  ein  Problem  hinstellt,  wie  tief  die 
Wurzeln  der  Individuation  im  Wesen  der  Welt  gehen  {W,»  U, 
734)»  gG"ögt  schon,  um  die  Richtigkeit  seiner  Erkenntnistheorie 
in  Frage  zu  stellen.  Er  löst  das  Problem  in  dem  Sinne,  dass 
die  Individuation  nicht  bloss  dem  Intellekt  und  seiner  subjektiven 
Erscheinungswelt,  sondern  auch  dem  Willen  angehört,  sofern  der 
Charakter  individuell  ist  (W,,  II,  6g8;  P„  II,  243);  damit  des- 
avouiert er  aber' geradezu  seine  Erkenntnistheorie,  und  das  Ge- 
fühl dieses  Widerspruchs  mit  seinen  eigenen  Lehren  ist  es,  was 
ihn  dem  Individuationsproblem  gegenüber  so  zaghaft  macht 

Das  bleibt  auch  für  Schopenhauer  zweifellos,  dass  der  Wille 
im  Zustande  der  Verneinung  (oder  der  ruhenden  Potenz)  nicht 
von  der  Individuation  und  Vielheit  berührt  wird,  dass  diese  sich 
vielmehr  nur  auf  den  Willen  im  Zustande  der  Bejahung  (oder 
der  aktualisierten  Potenz)  erstrecken  kann  (W.,  ü,  698»  734). 
Daraus  ist  denn  zu  schliessen,  dass  auch  der  Wille,  sofern  er  den 
Zuständen  der  Bejahung  und  Verneinung  {Ruhe  und  Bethätigung) 
als  ewig  unwandelbares  Wesen  oder  Subjekt  zu  Grunde  liegt, 
d.  h*  der  wollen  und  nicht  wollen  könnende  Wille,  ebenfalls  von 
Individuation  und  Vielheit  unberührt  bleibt  Was  die  Welt  der 
realen  Individuation  ausmacht  und  nicht  nur  Vielheit,  sondern 
auch  ein  Mehr  oder  Minder  an  Energie  zeigt  (W.,  I,  152—153), 
das  ist  die  Spaltung  oder  Gliederung  der  Aktualität  des  Welt- 
willens  in  die  Naturkräfte  verschiedener  Stufen  und  in  die  Gat* 
tungs-,  Art-  und  Individuakharaktere.  Diese  verhalten  sich  zu 
dem  Einen  absoluten  Willenssubjekt,  wie  Erscheinungen  zum 
Wesen;  da  sie  aber  das  Prius  der  subjektiven  Erscheinungs- 
welten sind,  die  erst  in  den  durch  sie  gesetzten  Individuen  ent- 
stehen   können,    so    verhalten    sie   sich   zu    den    subjektiven    Er- 


Schopenhauer. 


Scheinungsobjekten  in  den  Bewusstscinen  wie  Dinge  an  sich  zu 
ihren  Erscheinungen. 

Die  subjektive  Erscheinung^  wird  dadurch  zu  einer  Er- 
scheinung aus  zweiter  Hand,  welche  die  vorbewusste  metaphy- 
sische Erscheinung  des  Wesens  nur  für  das  Bewusstscin  ab- 
spiegelt (W..  II,  698).  Dann  ist  aber  auch  die  Vielheit  in  der 
subjektiven  Erscheinungswelt  nur  eine  Abspiegelung  der 
Vielheit  in  der  realen  Welt  der  Individuation;  die  imma- 
nente Kausalität  der  kraftlosen  Vorstellungsobjekte  im  Bevvusst- 
sein  ferner  wird  zu  einer  blossen  Abspiegelung  der  realen 
bewusstseinstranscendenten  Kausalität  der  auf  einander 
wirkenden  und  mit  einander  kämptenden  und  ringenden  Natur- 
kräfte und  Individualwillen.  Endlich  rücken  Raum  und  Zeit  in 
die  reale  Welt  des  Geschehens  als  Formen  ihres  Daseins  und 
Geschehens  hinüber,  einesteils  dadurch,  dass  die  Kausalität  der 
Individualwillen  sich  formell  in  einer  Wechseldurchdringung  von 
Raum  und  Zeit  vollzieht  und  ohne  diese  undenkbar  ist,  anderer- 
seits dadurch,  dass  die  Individuation  und  Vielheit  der  Individual- 
willen ohne  Raum  und  Zeit  (oder  analoge  und  korrespondierende 
Daseins-  und  Werde -Formen)  nicht  vollziehbar  ist  — 

Die  Welt  der  individuation  des  Einen  Willens  zu  vielen 
Naturkräften  und  Individualwillen  ist  Eine  für  alle  individuellen 
Intellekte  gemeinsame  Welt  der  realen,  bewusstseinstranscen* 
deuten  Erscheinung  des  metaphysischen  Wesens;  die  subjektiven 
Erscheinungswelten  in  den  individuellen  Intellekten  sind  so  viele 
ideale,  bewusstseinsimmanente  Erscheinungen  der  realen  Er- 
scheinungswelt aus  zweiter  Hand,  als  es  erkennende  Individuen 
giebt.  Damit  wäre  denn  Kants  falsche  Gleichsetzung  des  Wesens 
und  des  Dinges  an  sich  wieder  aufgelöst;  das  Wesen  bleibt  ein 
unzeitlich  und  unräumlich  vielheitloses;  die  Willensindividuen  der 
realen  Individuationswelt  bilden  hinfort  die  vielen  Dinge  an  sich, 
denen  die  subjektiv  idealen  Erscheinungen  entsprechen,  und  auf 
welche  sie  bezogen  werden. 

So  gedeutet  stürzt  die  Schopenhauersche  Willensmetaphysik 
seinen  transcendentalen  Idealismus  völlig  um  und  setzt  an  seine 
Stelle  einen  transcendentalen  Realismus.  Den  erkenntnistheore- 
tischen Idealismus  hält  Schopenhauer  selbst  nicht  für  das  letzte 
Wort  der  Erkenntnistheorie.  Wenn  das  angeschaute  Objekt  bloss 
etwas  für  andere  und   nicht  auch  etwas  für  sich  selbst  wäre,  so 


: 


Sc!iopenliftU€r- 


197 


waSes  schlechthin  Vorstellung,  und  wir  hätten  einen  absoluten 
Idealismus,  der  am  Ende  theoretischer  Egoismus  würde,  bei 
welchem  alle  Realität  wegfällt  und  die  Welt  zum  blossen  sub- 
jektiven Phantasma  wird  (W.,  II,  216).  Jede  Erscheinung  ist  auf 
ein  Ding  an  sich  zu  beziehen  {P»  II,  100),  d.  h.  dem  Objekt  ist 
eine  die  Bewusstseinssphäre  überschreitende,  transcendentale  Be- 
ziehung auf  ein  Bewusstseinstranscendentes  beizulegen.  Die  end- 
lose Mannigfaltigkeit  der  subjektiven  Erscheinungen  in  den 
Naturobjekten  und  Individualphysiognomien  muss  überall  der 
vorsteLlungsmässige  Ausdruck  oder  die  sinnliche  Abbildung 
ebenso  mannigfaltiger  Modifikationen  der  Dinge  an  sich,  d,  h.  der 
Individualwillen  sein;  jeder  Verschiedenheit  im  Objekt  muss  eine 
im  Ding  an  sich  entsprechen  {P.,  II,  188 — 189;  Frauenstädt: 
A.  Schopenhauer.  Von  ihm,  über  ihn,  594;  NachL,  ed.  Gris., 
IV,  1 64-- 166}. 

Die  transcendentale  Beziehung  des  Objekts  auf  das  Ding  an 
sich  und  die  Korrespondenz  zwischen  den  Verschiedenheiten  in 
*den  Objekten  und  in  den  Dingen  an  sich  wird  also  von  Schopen- 
hauer zugestanden;  nur  die  transcendente  Kausalität  zwischen 
Ding  an  sich  und  Objekt,  das  Kantsche  Affizieren  der  Sinnlich- 
keit durch  das  Ding  an  sich,  wird  von  ihm  principieil  geleugnet 
(\V,,  I,  562—563),  weil  von  Beck  bis  Schelling  diese  Leugnung 
als  Kennzeichen  Icritischer  philosophischer  Besonnenheit  gegolten 
hat.  Trotzdem  bleibt  er  im  Konkreten  seinen  Grundsätzen  auch 
hierin  nicht  treu;  er  lehrt  2.  B.:  »Der  Körper  ist  rot,  bedeutet, 
dass  er  im  Auge  die  rote  Farbe  bewirktet  (Über  das  Sehen  und 
die  Farben,  20).  Und  in  der  That  ist  schwer  begreiflich,  wie 
eine  Korrespondenz  der  Verschiedenheiten  zwischen  Dingen  an 
sich  und  Objekten,  wie  eine  Abspiegelung  der  einen  realen 
Individuationswelt  durch  die  vielen  subjektiven  Erscheinungs- 
welten anders  zustande  kommen  sollte,  als  durch  transcen- 
dente Kausalität,  So  zieht  sich  bei  Schopenhauer  ebenso  wie 
bei  Kant  unter  der  transcendentalidealistischen  Oberfläche  des 
Systems  eine  realistische  Unterströmung  hin,  deren  Widerspruch 
gegen  die  offen  und  feierlich  verkündeten  Grundsätze  unaus- 
geglichen bleibt.  — 

Wir  haben  nun  auf  zwei  verschiedenen  Wegen  zwei  ver- 
schiedene Bestimmungen  für  die  Dinge  an  sich  und  das  Welt- 
1  Wesen  erhalten,   nämlich  einerseits  die  Gattungs-  und  Individual- 


198 


Schopenhauer. 


Charaktere  und  den  Willen  zum  Leben,  andererseits  die  Gattungs- 
und Individualideen  und  die  Einheit  von  Erkenntnissubjekt  und 
Idee  schlechthin.  Da  entsteht  nun  die  Frage»  wie  sich  beide  Be- 
stimmungen zu  einander  verhalten,  oder  genauer:  wie  verhält 
sich  erstens  der  Individiialcharaktcr  zur  Individualidee,  zweitens 
das  Wollen  schlechthin  zur  Idee  schlechthin  und  drittens  das 
Subjekt  des  Wollens  zu  dem  des  Erkennens?  Die  Antworten 
lauten:  i.  Gattungscharakter  und  Gattungsidee,  Individiialcharak- 
ter,  Individualwille  und  Individualidee  fallen  zusammen  (W.,  I, 
184 — ^185);  2.  das  Wollen  schlechthin,  oder  der  Wille  zum  Leben, 
ist  Wille  zum  Erkennen  (W.,  L  323—324),  d.  h.  das  Erkennen  ist 
Ziel  des  Wollens  schlechthin;  3,  das  Subjekt  des  Wollens  und 
das  des  Erkennens  sind  ein  und  dasselbe  Subjekt. 

Man  darf  nicht  ohne  weiteres  die  Dinge  an  sich  und  das 
Wesen  als  ein  unbekanntes  Drittes  ansehen,  von  w^elchem  jene 
doppelseitigen  Bestimmungen  nur  subjektiv  gefärbte  Auffassungen 
aus  verschiedenen  Gesichtspunkten  liefern.  Die  Doppelheit  von 
Wollen  und  Vorstellen,  Realem  und  Idealem  ist  in  jedem  ein- 
zelnen Individuum  thatsächlich  gegeben,  und  nur  durch  diese 
verschiedenen  Ausgangspunkte  wird  es  möglich,  dass  das  Er- 
kennen von  zwei  verschiedenen  Seiten  lier  zum  Wesen  gelangt* 
Die  wesentliche  Diversität  des  Idealen  und  Realen  muss  als  un- 
erschütterliche Thatsache  bestehen  bleiben  und  darf  nicht  in  eine 
unerklärliche  Zweiseitigkeit  der  bloss  subjektiven  Auffassung  auf- 
gelöst werden. 

Jeder  einzelne  Willensakt  hat  Grand,  Motiv,  Objekt,  Ziel 
und  Zweck,  das  gesamte  Wollen  hat  keines  von  alledem,  sondern 
ist  ein  blindes  endloses  Streben,  das  durchaus  nicht  weiss,  was 
es  will  (W.,  I,  194 — iq6).  Die  einzige,  aber  auch  noch  rein 
formale  Bestimmung  desselben  besteht  darin  ,  dass  es  Wille  zum 
Leben,  d.h.  zum  Erkennen  oder  Vorstellen  ist{W.,  1,323 — 324); 
denn  die  Welt  (als  Vorstellung)  ist  der  Spiegel  oder  die  Selbst- 
erkenntnis des  Willens  (W.,  I,  485),  In  seiner  Besonderung  zu 
Individual willen  oder  Individualcharakteren  erhält  diese  rein  for- 
male Bestimmung  {Wille  zum  Erkennen)  einen  Inhalt  an  den 
Individualideen,  wie  die  einzelnen  Willensakte  des  Individuums 
ihren  Inhalt  durch  die  Vorstellungen  erhalten,  die  von  den 
Motiven  geweckt  w^erden  (W,,  I,  194 — 195).  Wie  der  Inhalt  des 
einzelnen  individuellen  Willensaktes  eine  einzelne  bewusste  (oder 


1 


Schopenhauer. 


199 


auch  unbewusste)  Vorstellung  ist,  so  ist  der  des  Individualwillens 
als  ständigen  Individualcharakters  die  Individualidee  als  un- 
bewusste Vorstellung,  und  der  Inhalt  des  Weltwollens  ist  *die 
eigentliche  Welt  als  Vorstellung  ä  oder  ^die  Welt  der  beharrenden 
Ideen*.  Unmittelbares  Ziel  dt^  Wollens  schlechthin  ist  die 
Idee  schlechthin,  durch  welche  erst  das  blinde,  leere  und  un- 
bestimmte Wollen  Inhalt  und  Bestimmtheit  erhält  j  Endziel  des 
formellen  Strebens  nach  Erkenntnis  ist  allerdings  die  bewusste 
Selbsterkenntnis,  die  aber  erst  durch  die  Individuation  vermittelt 
werden  kann,  wie  diese  durch  die  Idee.  Denn  das  Endziel  des 
Erkenn tntsstrebcns  ist  diejenige  Erkenntnis,  welche  den  Willen 
zur  Erlösung  vom  Wollen  fiihrt,  und  das  thut  unmittelbar  nur 
die  bewusste,  durch  die  Individuation  bedingte. 

Wie  im  Individuum,  so  kommt  auch  im  ganzen  dem  Wollen 
der  Primat  über  die  Vorstellung  zu*  Wie  die  Welt  als  Vor- 
stellung oder  die  Aktualität  des  Erkcnnens  erst  mit  der  Be- 
jaliung  des  Willens  zum  Leben  aufgetreten  ist,  so  verschwindet 
sie  auch  wieder  mit  seiner  Verneinung  {W.,  I,  485).  Gewöhnlich 
fasst  Schopenhauer  den  Willen  als  Vermögen  und  das  gesamte 
Wollen  in  Eins  zusammen  und  stellt  ihnen  die  Idee  als  ihre 
Objektität  unter  Absehung  von  dem  Subjekt  des  Erkennens 
gegenüber;  dann  kann  er  mit  Recht  sagen,  dass  der  Wille  das 
Ansich  der  Idee  sei  (W.,  I,  212),  weil  das  Subjekt  des  Erkennens 
dabei  schon  unwillkürlich  mit  auf  die  Seite  des  Willens  hin  über- 
geworfen ist.  Praktisch  und  theoretisch  steht  fiir  Schopenhauer 
überall  der  Wille  im  Vordergrimde;  seine  Idee  leistet  fiir  Natur- 
philosophie, Psychologie  und  Ethik  eigentlich  gar  nichts,  und 
läuft  nur  behufs  der  Ästlietik  als  fünftes  Rad  am  Wagen  neben- 
her. Das  kommt  daher,  weil  die  Lehre  von  der  unbewussten 
Vorstellung  im  Keime  stecken  geblieben,  die  Vernunft  auf  ab- 
strakt diskursive  Reflexion  beschränkt  und  die  Bedeutung  der 
Idee  für  die  Teleologie  von  Schopenhauer  verkannt  ist. 

Seine  Nachfolger  hatten  die  Wahl,  entweder  der  Idee  die  ihr 
entzogene  Bedeutung  zurückzugeben,  oder  sie  auch  in  der  Ästhetik 
als  übertlüssig  zu  beseitigen  und  sich  mit  der  sinnlichen  ästhe- 
tischen Anschauung  und  der  sinnlichen  ästhetischen  Idee  als 
tertiärem  Produkt  zu  bchelfen.  Schopenhauers  Principien  fordern 
als  systematische  Konsequenz  die  Unterordnung  der  bewussten 
Vorstellung  (einschliesslich  der  relativ  unbewussten)  als  eines  ter- 


200 


SchopenBauer. 


tiären    Produktes   unter   den  Willen,    aber   gleichzeitig   auch   di< 
Nebenordnung  und  Gleichstellung  der  transcendentalen  Idee  i 
ihrer  Einheit   mit  dem   Erkenntnissubjekt   (d,  h,  der   absolut  un 
bewussten  Vorstellung)   mit  dem  Willen   anzuerkennen»     Aber  er] 
selbst   hat   durchaus   keine   klare   Einsicht   in    diese    Konsequeni] 
seiner  Principien,  sondern  äussert  sich  an  den  meisten  Stellen  s< 
als  ob  auch  die  Idee  etwas  Sekundäres  und  allein  der  Wille  das 
Primäre    wäre.     Daher    macht    bei    oberflächlicher    Lektüre    sein 
System  den  Eindruck,  als  ob  es  nicht  zwei  koordinierte  Principien 
Wille  und  Idee,  sondern  nur  eines,  den  Willen  habe,   und  dieser, 
Eindruck   wird  verstärkt   durch   die  Unfruchtbarkeit  der  Idee  a 
Erklärungsprincip  in  seinem  System,  die  ihre  Aufstellung  als  eine 
unmotivierte    Entlehnung    erscheinen    lässt,    so    ^^ne    durch    sein 
Schelten    auf  die    metaphysische  Idee    bei   Hegel.     Es   ist    dalier 
kein  Wunder,   dass  die  meisten  Schopenhauerianer   dem   Grund- 
princip   ihres  Meisters   zu    reinerem   Ausdruck   zu    verhelfen   und 
es    von    einer    ebenso    inkonsequenten    wie    wertlosen    Zutbat    zu 
reinigen   glaubten,    wenn    sie    die   metaphysische   transcendental 
Idee    hinauswarfen    und    nur    die  bewusste,  sinnliche,  ästhetisch! 
Idee  festhielten.  — 

Das  Subjekt  des  Wollens  und  das  Subjekt  des  Erkennens  sind 
identisch;  diese  Identität  ist  unerklärlich,  weil  unsere  Erkenntiiis- 
regeln  und  Erklärungen  nur  für  Objekte  gelten,  und  kann  darum 
der  Wcltknoten  oder  das  Wunder  xar  i^ox^iv  genannt  werden 
(Vierf.  Wurzel,  136;  W.,  I,  lai,  296;  II,  226).  Allerdings  bringt 
Schopenhauer  sich  dieses  Problem  zunächst  im  Individuum  beim 
Begriff  des  individuellen  Ich  zum  Bewusstsein;  aber  da  nach 
seiner  Auffiissung  in  allen  Individuen  Ein  Wille  will  und  eil 
Erkenotnissubjekt  vorstellt,  so  ist  das  Subjekt  des  Wollens  und 
das  des  Erkennens  zugleich  als  absolutes  Subjekt  des  Wollens 
und  Erkennens  zu  verstehen.  Die  Identität  beider  Subjekte  im 
Individuum  wäre  nicht  nur  unerklärlich,  sondern  geradezu  un 
möglich,  wenn  sie  nicht  vorweg  zwischen  den  beiden,  absoluten,' 
unvergänglichen,  unsterblichen,  ewigen  Subjekten  gälte  und  von 
diesen  nur  auf  die  individuell  eingeschränkten  beiden  Subjekte 
übertragen  w^ürde* 

Wir  haben  also  Ein  absolutes  Subjekt,  das  wollen  und  nicht- 
wollen, erkennen  und  nichterkennen  kann,  das  aber,  wenn  es 
will,   auch  erkennt,   und  wenn  es  nicht  w^ill,  auch  nicht  erkennt, 


I 


ScbopenhsLuct, 


201 


d,  h.  ein  Subjekt  mit  zwei  verschiedenen  (realen  und  idealen) 
Thätigkeitsmöglichkeiten,  deren  zweite  aber  in  ilirer  Bethätigung 
von  der  ersten  abhängig  ist.  Die  Entscheidung  zum  Wollen  oder 
Nichtwollen,  zur  Bejahung  oder  Verneinung  des  Willens  zum 
_Leben  oder  Erkennen,  ist  seine  transcendentalc  Freiheit,  und 
grundlose  Entscheidung  bOdet  den  einzigen  Inhalt  seiner 
Freiheit  Dieses  Subjekt  mit  seinen  Fähigkeiten  oder  Vermögen 
ist  das  unwandelbare,  ewige  Wesen,  das  allen  Erscheinungen 
und  ihrem  Wechsel  zu  Grunde  liegt,  wovon  sie  alle  ausgehen 
und  in  das  sie  alle  zurückkehren,  der  wirklich  beharrende  Pol  in 
der  Erscheinungen  Flucht,  das  einzige,  was  weder  quantitativ, 
noch  quahtativ  verändert  werden  kann.  Dies  allein  kann  also 
mit  Recht  das  Unbedingte,  Absolute,  oder  die  Substanz  genannt 
werden,  nicht  das  sinnliche  Trugbild  des  räumlichen  Stoffes. 
Da  sowohl  das  Wollen  als  auch  die  Idee  ihrer  selbst  absolut 
unbewusst  ist,  so  muss  auch  das  Subjekt  beider  als  absolutes 
Subjekt  seiner  unbewusst  sein  und  kann  erst  als  individuell 
eingeschränktes,  d,  h.  in  den  Erscheinungsindividuen,  seiner 
mittelbar  durch  das  Spiegelbild  des  Erscheinungsich  bewusst 
werden.  — 

Da  Schopenhauer  unter  Gott  nicht  das  irgendwie  beschaffene 
Objekt  des  religiösen  Bewusstseins ,  sondern  nur  ein  persönliches 
und  selbstbewusstes  Absolutes  versteht,  so  lehnt  er  nicht  nur  die 
Bezeichnung  des  Theismus  mit  Recht,  sondern  auch  die  des 
Pantheismus  filr  seinen  Standpunkt  ab.  Nach  dem  Sprach- 
gebrauch des  neunzehnten  Jahrhunderts  unterscheidet  sich  der 
Theismus  vom  Pantheismus  gerade  dadurch,  dass  ersterer  einen 
persönlichen  Gott  voraussetzt,  letzterer  nicht.  Liesse  Schopen- 
hauer im  Pantheismus  einen  unpersönlichen  Gottesbegriff  gelten, 
so  hätte  er  keinen  triftigen  Grund  mehr,  diese  Bezeichnung  von 
seinem  Monismus  abzuwehren;  denn  nur  bei  einem  selbstbewussten 
persönlichen  Gott  wäre  es  unbegreif heb ,  wie  er  sich  in  blindes 
Wollen  und  durch  dieses  in  alles  Leid  der  Welt  verstricken 
konnte  (R,  11,  io6).  Schopenhauers  Subjekt  des  Wollens  und  Er- 
kennens  fällt  ja  keineswegs  mit  der  Welt  zusammen  (R,  II,  105), 
sondern  steht  als  überweltliches  Wesen  hinter  seiner  Erscheinung, 
der  Welt,  hegt  ihr  zu  Grunde  und  besteht  fort,  wenn  die  Welt 
verschwindet.  Da  wir  nun  den  Ausdruck  Pantheismus  nach  dem 
heutigen    allgemeinen    Sprachgebrauch    anwenden    müssen,    nicht 


202 


Schopenhauer. 


nach  dem  Schopenhauerschen,  so  sind  wir  auch  genötigt,  Schopen- 
hauers System  trotz  seiner  Proteste  unter  ^Pantheismus^  ein- 
zureihen. Atheismus  ist  es  nur  in  dem  Sinne,  dass  es  nicht 
Theismus  ist.  d.  k  keinen  persönlichen  selbstbewussten  Gott 
gelten  lässt,  aber  nicht  in  dem  Sinne,  als  ob  es  jedes  Absohite 
leugnete,  das  zum  Objekt  eines  religiösen  Verhältnisses  geeignet 
wäre.  Sein  Standpunkt  ist  nicht  mit  dem  Buddhismus,  sondern 
nur  mit  der  Vedantalehre  in  Parallele  zu  steUen.  — 

Schopenhauer  ist  von  Grund  aus  religiös  gestimmt;  es  ist 
ihm  tiefer  ynd  beiliger  Ernst  mit  der  ethischen  Bedeutsamkeit 
der  Welt,  mit  tibel  und  Schuld,  Gnade  und  Wiedergeburt,  und 
das  Centrum  seiner  Gesinnung  ist  die  Erlösungssehnsucht 
Der  Weltprozess  ist  der  Heilsweg,  und  der  einzige  Heilsweg 
führt  durch  Leiden  zur  Erkenntnis  und  Wiedergeburt,  während 
Selbstmord,  Fruchtabtötung  u.  s.  w,  nur  die  Erscheinung  an 
diesem  Ort  und  zu  dieser  Zeit  zerstören.  Die  Natur  führt  eben 
den  Willen  zum  Lichte,  weil  er  nur  am  Lichte  seine  Erlösung 
finden  kann.  Daher  ist  der  einzige  Weg  des  Heils  dieser,  dass 
der  Wille  ungehindert  erscheine,  um  in  dieser  Erscheinung 
sein  eigenes  Wesen  erkennen  zu  können.  Durum  sind  die  Zwecke 
der  Natur  auf  alle  Weise  zu  befördern  (W.,  I,  474),  Nur  in  der 
Menschheit  gelangt  die  Erkenntnis  zu  solcher  Klarheit,  dass  sie 
zur  Erb'jsung  führen  kann;  infolge  des  Zusammenhanges  aller 
Willenserscheinungen  würde  aber  mit  der  höchsten  Willens- 
erscheinung  auch  ihr  schwächerer  Widerschein,  die  Tierheit  und 
die  übrige  Welt  wegfallen.  Daher  ist  die  Menschheit  berufen* 
der  ganzen  Natur  die  Erlösung  zu  vermitteln  (W.,  I,  449—450), 
und  zwar  dadurch,  dass  sie  den  WUlen  ungehindert  erscheinen 
lässt  und  die  Zwecke  der  Natur  auf  alle  Weise  befördert,  bis 
endlich  der  nötige  Grad  der  Erkenntnis  in  der  Menschheit  er- 
reicht ist  (W.,  I,  474). 

Dies  ist  diejenige  Stellungnahme  Schopenhauers  in  der  Er- 
lösungslehre, welche  allein  seinem  metciphysischen  Monismus  ent* 
spricht.  Sie  bleibt  aber  auf  flüchtige  Andeutungen  beschränkt, 
während  seine  näheren  Ausführungen  sich  in  schroffen  Wider- 
spruch mit  ihr  setzen.  Zunächst  lässt  die  transccndentalidcal istische 
Erkenntnistheorie  keine  thätige  Beteiligung  an  der  Förderung 
der  Naturzwecke  und  des  allgemeinen  Heilsprozesses  aufkommen, 
sondern  verurteilt  zu  geduldigem  Zuwarten  und  unthätigem  Quie- 


Schop«DhaiieT. 


203 


tismus.  Denn  der  transcendentale  Idealismus  verflüchtigt  Zeit, 
Kausalität,  Finaütät  und  Vielheit  der  Erscheinungsindividuen  zu 
einem  bloss  subjektiven  Schein  ohne  jede  transcendentale  Realität» 

|Und   hebt    damit   nicht    nur  jede    Möglichkeit   einer   zweckvollen 

.Entwickelung,  sondern  überhaupt  die  Möglichkeit  einer  gescliicht- 
lichen  Weltanschauung  auf.  Jeder  Versuch,  etwas  zu  fördern, 
wäre  auf  dieser  Grundlage  die  bare  Thorheit 

Es  kommt  aber  noch  eine  pliu-aUstische  Tendenz  hinzu,  die 
>wohl  mit  dem  metaphysischen  Monismus,  als  auch  mit  dem 
transcendentalcn  Idealismus  in  Widerspruch  steht.  Von  Schelling 
übernimmt  Schopenhauer  die  Selbstsetzung  des  intelligiblen 
Charakters  durch  einen  freien  vorzeitlichen  Willensakt,  von  den 
Indern  die  Selbsterlösung  des  Individuums  durch  Askese,  Die 
Freiheit  der  grundlosen  Entscheidung  zum  Wollen  oder  nicht 
Wollen,  die  nur  dem  absoluten  Subjekt  des  Wollens  beiwohnt, 
wird  damit  auf  den  Individualwillen  übertragen;  die  bloss 
formelle  Entscheidung  dieser  Freiheit  zwischen  ja  und  nein  wird 
zugleich  zu  einer  inhaltlichen  Entsrhliessung  über  die  Beschaffen- 
heit des  anzunehmenden  Individualcharakters.  Der  noch  nicht 
seiende  Individualwille  giebt  erstens  sich  selbst  die  fehlende 
Existenz  und  zw^eitcns  wählt  er  als  noch  essenzloser  sich  die  ihm 
zusagende  charakterologische  Essenz,  Damit  wird  der  Individual- 
wille zur  causa  sui»  die  doch  Schopenhauer  selbst  durch  den  Ver- 
gleich mit  dem  sich  an  seinem  Zopfe  aus  dem  Wasser  ziehenden 
Münchhausen  verspottet  (Vierf,  Wurzel,  14). 

Die  Absonderung  des  In  dividual  willens  vom  All  willen  er- 
scheint auch  deshalb  schon  unmöglich,  weil  der  letztere  als  viel- 
heitloses Subjekt  des  Wollens  unteilbar  ist  und  in  jedem  indivi- 
duell eingeschränkten  Subjekt  ganz  und  ungeteilt  gegenwärtig 
ist  (P.,  II,  2g6).  Was  sich  aber  selbst  Existenz  und  Essenz  nicht 
verleihen   kann,   das   kann   sie   auch  sich  selbst  nicht  nehmen; 

bfreiwilliges  Verhungern  kann  in  dieser  Hinsicht  nicht  mehr  leisten, 
ds   eine   andere    Art   des    Selbstmords.     Auch    Keuschheit    kann 

^ebenso  wie  Fruchttötung  nur  die  Geburt  eines  neuen  Individuums 
an  diesem  Ort  und  zu  dieser  Zeit,  d.  h.  eine  bestimmte  Er- 
scheinung des  Willens  hindern.  Am  wenigsten  kann  das  Un- 
mögliche möglich  gemacht  werden  durch  die  Askese,  die  den 
Naturzwecken  am  meisten  zuwiderläuft;  denn  wenn  auch  die 
Mortifikation    des  Wollens    in    dieser   Erscheinung    gelänge,    so 


204 


Schopeniuiiier. 


würden  doch  dip  Wurzeln  der  Individuation  keinenfalls  bis  über 
die  Sphäre  der  Bejahung  des  Willens  zum  Leben  (die  Erscheinungs- 
welt) hinausreichen,  also  das  Subjekt  des  Wollens  und  Nic&ti^ 
wollens  völlig  unberührt  lassen.  Schopenhauer  folgte  daher  eineni 
gesunden  Instinkte,  wenn  er  dieses  krankhafte  indische  Pfropfreis 
seiner  Lehre  praktisch  für  seine  Person  missachtete,  — 

Die  Freiheit  der  individuellen  Entscheidung  zum  Wollen  oder 
nicht  Wollen  passt  nur  in  ein  pluralistisches  System,  in  welchem 
alle  Individuahvillen  ungeworden  und  unvergängiich,  d.  h,  Sub- 
stanzen sind.  Die  einmalige  freie  Selbstbestimniiing  des  Cha- 
rakters aber  passt  selbst  in  solchen  substantiellen  Pluralismus 
nicht»  da  in  diesem  die  Essenz  jedes  Individualwillens  als  gleich 
ewig  mit  seiner  Existenz,  also  als  schlechthin  gegeben,  ge- 
dacht werden  muss.  Dieser  Pluralismus  ist  ein  dem  System  in 
allen  seinen  Teilen  widersprechender  und  es  lediglich  verunstal- 
tender Auswuchs. 

Im  übrigen  stimmt  der  Monismus,  die  Willensmetaphysik* 
der  metaphysische  Idealismus  und  der  axiologische  Pe^mismus 
des  Schopenhauerschen  Systems  vollkommen  zusammen.  Der 
MateriaHsmus  ist  auf  dem  Boden  des  erkenntnistheoretischen 
Idealismus  ganz  unfähig,  irgend  etwas  zu  erklären;  auf  dem 
Boden  der  Willensmetaphysik  und  des  metaphysischen  Idealismus 
kann  ihm  eine  gewisse  sekundäre  Bedeutung  zugeschrieben 
werden,  aber  mit  einer  erheblichen  Einschränkung,  nämlich  der 
auf  das  bewusste  Vorstellungsleben.  Der  erkenntnistheoretische 
Idealismus  ist  mit  allen  übrigen  Teilen  des  Systems  gleich  un- 
vereinbar, und  wird  deshalb  auch  überall,  wo  es  sich  um  kon- 
krete Erklärungsversuche  handelt,  nicht  nur  beiseite  geschoben, 
sondern  unvermerkt  durch  die  entgegengesetzte  Ansicht  ersetzt 
Der  Monismus,  den  er  stützen  soll,  ist  auch  ohne  ihn  gesichert. 
Die  Astlietik  Schopenhauers  ist  nur  eine  Popularisierung  der 
Schellingschen,  die  in  sein  System  nicht  recht  passt;  sie  als 
Mittelpunkt  seines  Systems  und  seines  persönlichen  Interesses 
betrachten,  ist  eine  einseitige  Übertreibung.  Schopenhauers  Inter- 
esse hatte  seinen  Schwerpunkt  im  Erlösungsbedürfnis  auf  Grund 
des  gefuhlsmässigen  Pessimismus;  sein  transcen dentalidealistischer 
Quietismus  liess  ihm  allerdings  kaum  ein  anderes  praktischesi 
Verhalten  übrig,  als  einen  ästhetisch  verfeinerten  und  ver- 
geistigten Epikureismus, 


Schopenhauer. 


20S 


Dcis  Entscheidendste  und  Wichtigste  an  der  Stellung  Schopen- 
hauers in  der  Geschichte  der  Philosophie  ist,  dass  zum  ersten 
Male  in  ihm  ein  Denker  mit  tiefem  ethischen  und  religiösem  Be- 
dürfnis sich  schroff  gegen  den  Theismus  kehrt,  weil  er  seinem 
ethischen  und  religiösen  Bedürfnis  nicht  Genüge  tluit  Diese 
Verurteilung  des  jüdisch -christlichen  Theismus  aus  ethischen  und 
religiösen  Gründen  und  die  harte  Ablehnung  jedes  Vertrag- 
schliessens  mit  ihm  ist  in  der  Geschichte  der  christlichen  Philo- 
sophie etwas  Neues  und  Unerhörtes,  da  alle  bisherigen  Denker 
ausser  einem  Teile  der  Materialisten  das  Christentum  in  ihrem 
Sinne  umzudeuten  bemüht  gewesen  waren.  Wer  ohnehin  Theist 
war,  hiess  den  Theismus  im  Christentum  willkommen;  wer  nicht 
Theist,  sondern  Pantlieist  war,  suchte  die  Sache  so  zu  drehen,  als 
^ob  auch  das  Christentum  eigentlich  pantheistisch  sei  und  zwischen 
Theismus  und  Pantheismus  philosophisch  gar  kein  so  grosser 
Unterschied  bestehe.  Schopenhauer  zuerst  findet  den  Mut,  mit  der 
ganzen  christlichen  Religionsentwickeiung  zu  brechen,  weil  sie 
theistisch  sei,  und  auf  die  pantlieistische  indische  Religion  als  die 
allein  wahre  hinzuweisen.  Damit  hat  er  in  der  Religionsphilo- 
sophie und  in  der  KuUurgeschichte  der  europäischen  Völker  eine 
neue  Epoche  inauguriert  und  gezeigt,  dass  man  auch  als  Europäer 
religiös  sein  kann»  ohne  christlich  zu  sein.  Der  pantheis- 
tischen  Philosophie  aber  hat  er  dadurch  erst  die  Augen  geöffnet 
über  die  Schärfe  ihres  Gegensatzes  zu  aller  theistischen  Philo- 
sophie und  hat  dadurch  auch  die  philosophische  Entwickelung  in 
eine  ganz  neue  Bahn  gedrängt*) 

Die  vorbewussten,  metaphysischen  und  die  bewussten  er- 
kenntnistheoretischen Zusammenhänge  im  Schopenhauerschen 
System  lassen  sich  folgendermassen  tabellarisch  veranschau- 
lichen: 


*)  VcrgL  Ges.  Stud.  u.  Aufs.,  S.  569—572,  656—640.  679—695;  Phil.  Fragptt 
Gegenwart,  S.  25 — 57;  die  dcutschr  Äsüietik  seit  Kant,  S»  44 — 61,  3S8 — 391, 
5—417,  436—430,  453—454,  468—469,  48S— 491,  532—513»  559;  clas  sittliche 
2.  Aufi^  S.  49—53'  19*— 202,  225—229,  381—387,  408— 411,  621—626^ 
J3;  krit.  Grundlegung  des  traiisc.  Re»listniis,  3.  A116.,  S,  35^ — 36»  49—52, 
84 — ^90;  Neukantianismus,  Schop.  u.  Hegcüanisnius,  ttq — 257;  krit  WAndcrungen 
durcJi  die  Phil.  d.  Geg..  S.  26—42  In  der  Gesamtheit  der  angeführten  Stellen  finden 
alle  Seilen  der  Schopenhauerschen  Philosophie  eine  ausführliche  knlische  Durch» 
arbeitiing. 


2o6 


Schopenhauer. 


I.  Metaphysischer   Zusammenhang. 

Identisches  Subjekt  des  WoUens  und  £r- 
kennens,    als    das  zu  wollen  und  zu  er- 
kennen,  oder  nicht  zu  wollen  und  nicht 
zu  erkennen  Fähige. 


Das  Wollen  als  Bejahung  des  Willens 
zum  Leben  oder  Erkennenwollen. 


Die   transcendentale   Idee    als   Einheit 
von  Subjekt  und  Objekt. 


Die  Welt  der  Willensindividuen,  oder 
die  Vielheit  der  Charaktere. 


Die   eigentliche  Welt  als  Vorstellung, 
oder  die  Welt  der  beharrenden  Ideen. 


Die  Welt  der  realen  Individuen  als  Elinheit 

der    vielen    Individualwillen    (Charaktere) 

und  entsprechenden  Sonderideen. 


IL  Erkenntnistheoretischer  Zusammenhang. 

Das    reale    Individuum    als   Einheit    von 

Individualwille  (Charakter)  und  Idee. 

Zerfallen  der  Idee  in  ihm  in: 


Mittelbares, 
als  Summe  von  Phanto- 
men, die  auf  andere  reale 
Individuen  als  Dinge  an 
sich  bezogen  werden. 


Unmittelbares, 

als  der  eigene  Leib,  die 

unmittelbare  Objektität 

des    eigenen   Individual- 

willens. 


Subjekt, 

als   das  all -eine  Subjekt 

des  Erkennens  in  dieser 

bestimmten  individuellen 

Erkenntnisthätigkeit. 


Materie 
als   objektive  Darstellung  von 

räum-  und  zeiterfüllender 
Kausalität  und  Substantialität. 


Die  Welt  als  subjektive  Er- 
scheinung   im    Bewusstsein 
dieses  Individuums. 


Hegel. 


5.  Hegel  (1770— 1831). 


207 


Hegel  ist  der  erste  Philosoph»  der  den  Anspruch  erhebt,  die 
WahrheitsmoTTiente  aller  bisher  aufgetretenen  philosophischen 
Systeme  in  seinem  System  aufgehoben  zu  haben.  Die  Geschichte 
der  Philosophie  ist  ihm  die  Eine  Philosophie  in  ihrer  Entwicke- 
lung,  das  sich  selbst  Erkennen  des  Einen  Geistes  in  seinen  aus- 
einandergelegten Momenten,  das  wahrhafte  Geisterreich,  das 
einzige,  das  es  giebt,  die  Enthüllung  Gottes,  wie  er  sich  in  seiner 
Wahrheit  weiss  (S.W.,  XV,  691,  686).  Hegel  unterscheidet  fol- 
gende  Haupttypen,  die  sich  mit  den  Hauptabschnitten  seiner 
Logik  decken  sollen:  1,  Das  Sein  in  der  älteren  hellenischen 
Philosophie,  2,  das  Wesen  in  der  objektiven,  substantiellen  Idee 
Piatons,  3.  den  Begriff  bei  Aristoteles,  4.  den  Begriff  als  für  sich 
werdendes  Subjekt  in  abstrakter  Trennung  bei  den  Stoikern, 
Epikureern  und  Skeptikern,  5.  die  konkrete,  aber  nicht  sich 
wissende  Idee  bei  Plotin,  6.  den  Geist  als  die  sich  wissende  Idee 
in  der  modernen  Philosophie,  und  zwar  zunächst  als  inhaltliche, 
substantielle,  äusserliche  Anschauimg  der  Identität  von  Denken 
und  Sein  bei  Spinoza,  7.  als  reine,  unendliche  Form  des  Er- 
kennens,  als  Subjektivität  des  Selbstbewusstseins  oder  Ich  bei 
Fichte,  8,  als  konkrete  Identität  des  absoluten  Inhalts  und  der 
absoluten  Form,  des  Objektiven  und  Subjektiven  bei  Schelling 
(XV,  686-688). 

Spinozas  Monismus  teilt  er,  aber  nicht  seinen  Akosmismus. 
Er  tadelt,  dass  seine  Substanz  bloss  unthätige,  ruhende  Substanz 
ohne  EntWickelung,  ohne  Böhmesches  Quellen,  ohne  sich  Auf- 
schliessen,  ohne  Zweck,  ohne  Subjektivität,  Individualität  und 
Persönlichkeit  sei,  und  dass  er  die  Individuation  nur  als  Zu- 
sammensetzung aus  Teilen  kenne,  also  als  Gegenteil  der  Ichheit 
P^V,  375,  377,  390,  395).  Immer  von  neuem  kommt  er  darauf 
zurück,  dass  die  Substanz,  die  er  als  blosse  Sache,  Gegenständ- 
liches, Objekt  des  Denkens  oder  bloss  Gedachtes  auffasst,  zum 
Subjekt  des  Denkens,  zum  Geiste  als  reiner  Thätigkeit,  zur  Per- 
son werden  müsse  (z.  B.  VI,  366—367).  Dass  Spinozas  intellectus 
infinitus  alle  diese  Forderungen  mit  Ausnahme  der  Zwecktliätig- 
keit  erfüllt,  hat  er  übersehen;  es  bleibt  also  nur  ein  zwiefacher 
Unterschied  übrig.  Einerseits  tritt  an  Stelle  der  rein  formal- 
logischen Notw^endigkeit  die  teleologische,  andererseits  an  Stelle 


208 


H<^. 


des  Denkens  als  Attribut  und  Funktion  der  Substanz  das  Denken 
selbst  als  die  Substanz  der  äusserlichen  Dinge  wie  des  Geistigen 
(VI,  46,  47,  51). 

Was  er  bei  Spinoza  und  auch  bei  Piaton  vermisst,  findet  er 
bei  Aristoteles,  den  er  ganz  rationalistisch  auslegt.  Bei  diesem 
ist  der  Zweck  nicht  nur  das  Allgemeine  (wie  die  Platonische 
Gattungsidee),  sondern  auch  das  Bewegende,  die  Energie  und 
Entelechic,  d,  h.  das  sich  selbst  Bestimmende  und  Realisierende. 
Die  Materie  ist  nur  an  sich  oder  der  Möglichkeit  nach  das  Sub- 
stantielle, die  Form  als  Entelechie  ist  es  der  Wirklichkeit  nach 
(XIV,  319 — 321).  Die  höchste  absolute  Substanz,  in  der  Möglich- 
keit und  Wirklichkeit  vereint  sind,  ist  reine  Thätigkeit  ohne 
Passivität,  also  auch  ohne  Materie,  der  vovg,  das  reine  absolute 
Denken,  genauer  das  Denken  des  Denkens,  in  welchem  das 
Denken  und  das  Gedachte  Eins  ist  (XIV,  326,  327,  330 — 332). 

Die  WolfFsche  Metaphysik  hat  darin  recht,  dass  sie  die 
Wesenheit  des  Seienden  allein  im  Gedanken  sucht,  bleibt  aber  in 
abstrakten  und  unangemessenen  Vorstellungen  stecken,  so  z.  B. 
indem  sie  die  Seele  zu  einem  sinnlich  existierenden  Ding  mit 
einem  räumlichen  Sitze  und  Gott  zum  allerärmsten  und  leersten 
Wesen  macht  (VI,  65—76). 

Der  Empirismus  trägt  im  Gegensatz  zu  den  abstrakten  Ver- 
standestheoricn  dem  Bedürfnis  eines  konkreten  Inhalts  und  festen 
Haltes  Rechnung,  aber  er  leugnet  entweder  das  Übersinnliche 
oder  doch  die  MögUchkeit  seiner  Erkenntnis  und  gerät  so  konse- 
quenter Weise  entweder  in  Materialismus  oder  Skeptizismus.  Er 
treibt  selbst  Metaphysik,  gebraucht  aber  die  Kategorien  und  ihre 
Verbindungen  auf  eine  völlig  unkritische  und  bewusstlose  Weise 
(VI,  78 — 83,  122).  Eigentlich  muss  er  mit  IJume  die  allgemeinen 
Denkbestimmungen  und  Gesetze  leugnen,  weil  sie  in  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  selbst  als  solche  nicht  angetroflFen  werden 
(VI,  84.  99). 

Kant  wird  von  Hegel  nur  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  als 
wahrhaft  spekulativ  anerkannt,  in  welcher  der  Zweck  als  der 
thätige  Begriff  und  das  sich  selbst  bestimmende  konkret  All- 
geraeine  aufgefasst  wird  (VI,  117,  118).  Im  übrigen  lobt  er 
Kants  Entthronung  der  WolfFschen  Metaphysik,  erklärt  aber  das 
Warum  fiir  ganz  verfehlt  (VI,  101)  und  spottet  über  den  Versuch 
der  Erkenntnistheorie,  schwimmen  lernen  zu  wollen,  bevor  man 


Hegel. 


209 


ins  Wasser  gehe.  Richtig  ist,  dass  Kant  die  Denkformen  unter- 
sucht, falsch,  dass  er  in  ihnen  bloss  unsere  subjektiven,  indivi- 
duellen Gedanken,  nicht  das  allgemeine   und  notwendige  Ansicb 

rder  Dinge  sieht  (VI,  85—89).     Indem  er  das  wahrhaft  Wirkliche, 

pdas  Ewige  und  Göttliche  für  unerkennbar  erklärt  und  ihre  Be- 
mühungen auf  die  Erscheinung,  d.  h.  auf  das  Zeitliche,  Zufällige 

itind  Eitle  beschränkt,  erweist  er  bloss  die  Eitelkeit  und  Gehalt- 

[losjgkeit  seines  kritischen  Bemühens  (VI,  S.  XXXIX— XL). 

Fichte  bleibt  das  Verdienst,  daran  erinnert  zu  haben,  dass 
die  Denkbestim mungen  in  ihrer  Notwendigkeit  aufzuzeigen  und 
zu  deduzieren  oder  abzuleiten  seien  (VI,  90),  Aber  die  Natur  des 
»Aostosses«  der  Denkbewegung,  des  Fichteschen  Dinges  an  sich, 
bleibt  ein  unbekanntes  Draussen,  ein  absolutes  Nichtich;  damit 
bleibt  wiederum  das  Ich  ein  bedingtes  EndUches,  das  ein  Anderes 
sich  gegenüber  hat  (VI,  124 — 12$). 

Jacobi  hat  darin  recht,  dass   die  endlichen,  abstrakten,  Ver- 

' Standesbestimmungen  nicht  zur  Erkenntnis  des  Absoluten,  wahr- 
haft Unendlichen  führen,  dass  es  dazu  eines  Höheren,  der  Ver- 
nunft, bedarf,  und  dass  dieses  höhere  Wissen  die  Gewissheit  von 
dem  Sein  seines  Gewussten  in  sich  schliesst.  Aber  er  hat  un- 
recht, dieses  höhere  Wissen  als  unmittelbares  Wissen,  Glaube,  zu 
bestimmen    (VI,    127—128,     131).      Ein    unmittelbares  Wissen    in 

^diesem  Sinne  giebt  es  gar  nicht;  denn  das  vermeintlich  unmittel- 
bare Wissen  ist  ja  doch  durch  Entwickelting,  Erziehung,  Bildung 
vermittelt  (VI,  143—144,  135).  Das  unmittelbare  Bewusstsein  von 
der  Existenz  äusserer  Dinge  ist  nichts  anderes  als  das  sinnliche 
Bewusstsein,  d.  h.  Täuschung,  Irrtum,  Schein  ohne  Wahrheit 
(VI,  144).  Was  der  einzelne  in  seinem  individuellen  Bewusstsein 
vorfindet,  wird  dabei,  ohne  das  Besondere  und  Zufällige  abzu- 
sondern, zur  allgemeinen  Natur  des  Bewusstseins  selbst  erhoben 
und  aufgebauscht  (VI,  139),  Das  unmittelbar  im  Bewusstsein 
Vorgefundene  muss  aber  erst  durch  vernünftiges  Denken  ver- 
mittelt werden,  um  zu  einem  Begriffenen  und  damit  wahrhaft 
Gewussten  zu  werden.  — 

SchelUng  stellt  die  höchste  bisher  erreichte  Stufe  der  Philo- 

^sophie  dar.  Sein  erstes  Verdienst  ist,  dass  er  das  Absolute  aus 
dem  objektiven  Sein  oder  Wesen  (Spinozas)  zum  absoluten  Er- 
tennen,   zur   absoluten    Form   oder   zum   selbstbewussten  Wesen 

'erhebt,  und  damit  Wesen  und  Form,  Reelles  und  Ideelles.  Ob- 

£.T.HArtmaDD,  Auag«w, Werke.    Bd.XIL  14 


2IO 


HegeL 


jektivcs  und  Subjektives,  Objekt  und  Subjekt,  Möglichkeit  und 
Wirklichkeit  zur  Einheit  der  absoluten  Vernunft  oder  absoluten  Idee 
zusanimenfasst  (XV»  665;  VT,  388).  Sein  zweites  Verdienst  besteht 
darin,  dass  er  zuerst  die  Natur  als  erstarrte  Intelligenz,  als  die 
äusserhche  Weise  auffasst»  in  der  das  System  des  Begriffs  oder 
der  Gedankenformen  (d.  h.  die  noch  rein  logische  Idee)  ihr  Da- 
sein hat  (XV.  673}.  Dem  steht  aber  der  Mangel  der  richtigen 
Methode  gegenüber. 

Das  Resultat  tritt  bei  ihm  als  unmittelbares  und  unvermitteltes 
durch  intellektuelle  Anschauung  hervor,  und  seine  Beweisführungen 
für  die  Identität  des  Subjektiven  sind  nur  Schein,  w^eil  sie  immer 
das  zu  Beweisende  schon  voraussetzen  (XV,  673).  Sein  »Kon- 
struieren <»  ist  höchst  formell,  meist  blosse  Versicherung,  zum  Teil 
mit  sinnlichen  Ausdrücken  durchgeführt  (XV,  675,  676);  sein  Er- 
gebnis ist  darum  auch  nur  ein  äusserlicher  Formalismus  nach 
einem  vorausgesetzten  Schema,  das  den  Gegenständen  willkürlich 
angehängt  wird  (XV,  679,  683).  Schelling  hat  sich  in  immer 
neuen  Formen  der  Darstellung  versucht,  weil  keine  ihn  befriedigte 
(XV,  649,  674);  auch  die  Schrift  über  die  Freiheit  rechnet  Hegel 
zu  diesen  Anläufen,  ohne  zu  bemerken,  dass  ScheUing  mit  ihr 
neue  Bahnen  einschlug.  Weil  es  ScheUing  an  einer  Methode 
der  logischen  Entwickelung  fehlt,  vermittelst  deren  die  Idee  sich 
selbst  hervorbringt  und  in  ihrer  Notwendigkeit  erkannt  wird 
(XV,  682 — 684),  darum  sinkt  bei  ihm  die  absolute  Idee  von  einer 
konkreten,  geistigen  Einheit,  die  die  Unterschiede  in  sich  hat,  zu 
biner  abstrakten,  geistlosen  Einheit  herab,  in  der  alles  Eins  ist, 
weil  alle  Unterschiede  ausgetilgt  sind  (VI,  S.  XV— XVI).  So  ist 
der  Name  »Identitätsphilosophie«  durch  Schelling  ebenso  diskre- 
ditiert worden,  wie  die  Naturphilosophie,  die  noch  mehr  bei  seinen 
Nachahmern  als  bei  ihm  selbst  in  ein  nichtiges  aber  anspruchs- 
volles Spiel  mit  leeren  äusserlichen  Analogien,  in  einen  elenden 
Formalismus,  in  eine  gedankenlose  Vermischung  der  gemeinsten 
Empirie  mit  den  oberflächlichsten  ideellen  Bestimmungen  aus- 
artet {VI,  358;   XV,  681—682}. 

Schelling  ist  in  seinen  Veröffentlichungen  nicht  an  die  Philo- 
sophie des  Geistes  gekommen  (XV,  680).  Wie  Schelling  ur- 
sprünglich nur  das  Fichtesche  System  durch  eine  ihm  fehlende 
Naturphilosophie  ergänzen  wollte,  so  Hegel  das  Schellingsche 
System   durch  eine  ihm  fehlende  Geistesphilosophie,     Wie  Schel- 


iegcL 


2It 


ling  damit  begann»  Fichte  vorzuwerfen,  dass  er  der  Natur  nicht 
die  richtige  Stellung  zur  Transcendentalphilosophie  eingeräumt 
habe,  so  tadelte  Hegel  an  Schelling,  dass  er  der  Geistesphilo- 
sophie nicht  die  richtige  Stellung  zur  Naturphilosophie  gegeben 
habe.  Nach  Hegel  darf  die  Geistesphilosophie  der  Naturphilo- 
sophie weder  als  gleichberechtigtes  Glied  nebengeordnet  (wie  in 
Schellings  gekoppeltem  Dualismus),  noch  gar  ihr  untergeordnet 
werden  (wie  in  Schellings  Naturphilosophie  am  Ende  seiner 
ersten  Periode);  sie  muss  ihr  vielmehr  unbedingt  übergeordnet 
werden  (wie  in  Schellings  Schrift  von  der  Freiheit),  so  dass  die 
Natur  nur  als  Durchgangspunkt  und  Mittel  zur  Entfaltung  des 
Geistes  ihr  Recht  und  ihre  Bedeutung  hat.  —  Hegels  Phänomeno- 
logie des  Geistes  stellt  seinen  ersten  Versuch  dar,  Schellings 
System  des  transcendeotalen  Idealismus  durch  Einfügimg  kunst- 
geschichtlicher, religioosgeschichtlicher  und  geschichtsphilosophi- 
scher  Betrachtungen  zum  Entwurf  einer  Geistesphilosophie  zu 
erweitern.  Er  hält  dabei  den  Gedankengang  Schellings  fest, 
wonach  jeder  Fortschritt  von  einer  niederen  zu  einer  höheren 
Stufe  darin  besteht ,  dass  derjenige  Inhalt,  der  auf  der  niederen 
Stufe  noch  nicht  für  das  betreffende  Subjekt,  sondern  nur  fiir 
uns»  die  betrachtenden  Philosophen,  und  ausserdem  an  sich,  d.h. 
als  bewusstlose  keimartige  Anlage  vorhanden  ist,  auf  der  höheren 
Stufe  sich  auch  für  das  Bewusstsein  des  betreffenden  Subjekts 
entfaltet  und  damit  zu  etwas  scheinbar  anderem  wird. 

Zugleich  enthält  hiermit  die  Phänomenologie  auch  den  Keim 
der  Hegeischen  Logik,  die  denselben  Gang  nachahmt,  aber  in 
dem  Sinne,  dass  der  ganze  entfaltete  Gedankengehalt  zunächst 
ein  bloss  möglicher  bleibt,  ein  rein  logisches  Ansich,  ein  blosses 
'  Netz  von  Kategorien ,  das  System  aller  abstrakten  Gedanken- 
bestimmungen, die  erst  in  der  bewusstlosen  Natur  und  im  be- 
wussten  Geiste  ihre  Anwendung  und  Verwirklichung  finden 
(VII  2,  14,  29;  m,  35—36;  VI,  S.  Xm-XIV,  49,  163),  in  der 
Logik  stellt  sich  Hegels  principieller  metaphysischer  Standpunkt 
und  seine  Methode  am  deutlichsten  dar:  in  seinen  späteren  Aus- 
führungen zur  Rechtsphilosophie,  Ethik,  Ästhetik,  Religions- 
Philosophie  und  Geschichtsphilosophie  ist  dagegen  alles  enthalten, 
worin  seine  kulturgeschichtliche  und  litterarhistorische  Bedeutung 
liegt.  Seine  Naturphilosophie  ist  ein  Lückenbüsser,  der  zu  den 
Leistungen  Schellings  und  seiner  Schule  nichts  neues  hinzugefügt 


Hcgd- 


hat,  sondern  nur  deren  schlimmste  Auswüchse  vermeidet  Seine 
Logfik  ist  mit  der  Form  der  dialektischen  Methode  dem  Urteil 
der  Geschichte  anheimgefallen,  weil  ihr  Inhalt  von  ihrer  Form 
untrennbar  ist,  und  die  verfehlte  Form  die  Konsequenz  eines  in 
seiner  Einseitigkeit  falschen  principiellcn  Standpunktes  ist. 

Sein  Ruhm  als  Systematiker  und  sein  weitreichender  Einfluss 
ruht  weder  auf  seinem  einseitigen  panlogistischen  Pnncip,  noch 
auf  seiner  absurden  dialektischen  Methode,  sondern  auf  seiner 
Geistesphilosophie,  deren  Inhalt  von  der  Wahrheit  sowohl  des 
panlogistischen  Princips,  als  auch  der  dialektischen  Methode  pfanz 
unabhängig  ist.  lo  einer  Geschichte  der  Metaphysik  kann  aber 
die  Bedeutung  seiner  Geistesphilosophie  nicht  so  voll  gewürdigt 
werden,  wne  in  einer  allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie; 
hier  muss  deshalb  Hegel  das  Schicksal  der  anderen  grossen 
Systematiker,  eines  Aristoteles,  Thomas,  Kant  teilen,  dass  gerade 
seine  negative  Bedeutung,  d,  h,  die  Einseitigkeit  und  Unzuläng- 
lichkeit seines  metaphysischen  Standpunktes  zur  Betrachtung 
kommt  und  seine  vielseitigen  positiven  Verdienste  unberück* 
sichtigt  bleiben. 

Wer  an  die  Lektüre  Hegels  neu  herantritt,  dem  ist  dringend  zu 
raten,  dass  er  die  Phänomenologie  und  die  einbändige  Encyklo- 
pädie  meidet,  erstere,  weil  sie  als  ein  Werk  von  gährender  Unreife 
und  durch  ihre  Verwirrung  der  erkenntnistheoretischen  und  geistes- 
philosophischen Betrachtung  das  schwerverständliche  seiner  Werke 
ist,  letztere,  weil  sie  nur  als  Diktatheft  für  Vorlesungen  bestimmt, 
ohne  solche  Bekleidung  mit  Fleisch  und  Blut  ungenlessbar  ist 
und  das  unfruchtbare,  eintönige  Geklapper  der  abstrakten  Hegel- 
schen  Dialektik  in  der  abschreckendsten  Gestalt  zeigt.  Man  lese 
zunächst  die  Ästhetik,  Religionsphilosophie  und  Philosopliie  der 
Geschichte,  die  allerdings  aus  Vorlesungsheften  zusammengestellt 
sind  und  darum  ermüdende  Wiederholungen  zeigen,  dann  die 
Rcchtsphilosopliie,  und  wenn  man  in  Hegels  Metaphysik  ein- 
dringen will,  den  dritten,  und  ganz  zuletzt  den  ersten  Teil  der 
dreibändigen  Encyklopadie.  Die  Phänomenologie  sollte  nur  der- 
jenige lesen,  der  sich  für  die  Entstehungsgeschjchte  des  Hegel- 
schen  Systems  im  Kopfe  seines  Urhebers  interessiert.  Die  erkennt- 
nistheoretischen Bestandteile  der  Phänomenologie  sind  schärfer 
und  klarer  herausgeschält  in  dem  so  betitelten  Abschnitt  des 
dritten   Bandes   der  Encyklopädie,   die   philosophiegeschichtlichen 


HcgeL 


213 


in  der  Einleitung  zum  ersten  Bande  der  Encyklopädie  und  aus- 
führlicher in  den  drei  Bänden  Vorlesungen  über  Geschichte  der 
Philosophie.  Es  ist  geradezu  Hegels  Unglück  zu  nennen,  dass 
so  viele  ihn  nur  aus  der  Phänomenologie»  oder  aus  der  einbän- 
digen Encyklopädie,  oder  aus  diesen  beiden  Büchern  kennen.  — 

Hegel  stützt  seine  Metaphysik  nicht  auf  die  unmittelbare  Er- 
fahrung; diese  zieht  er  vielmehr  nur  in  Betracht,  um  zu  zeigen, 
dass  über  sie  hinausgegangen  werden  müsse  durch  alle  Stufen 
des  erkennenden  Bewusstseins  hinauf  bis  zur  begrifflichen  Er- 
kenntnis. Diesen  Prozess  muss  zwar  der  einzelne  in  sich  nach- 
bilden, aber  die  Geschichte  der  Philosophie  hat  ihn  bereits  vor- 
gebildet, denn  sie  ist  die  höchste  Gestalt,  in  welcher  die  Vernunft 
Wirklichkeit  gewinnt.  So  lange  der  einzelne  nur  nachdenkt, 
was  ihm  die  Geschichte  der  Philosophie  vorgedacht  hat,  ist  er  in 
dieser  bloss  reproduktiven  Thätigkeit  unproduktiv;  soll  die 
Philosophie  über  die  bisher  erreichte  Stufe  hinaus  von  ihm  ge- 
fordert werden,  so  muss  er  das  Problem  da  aufnehmen,  wo  die 
Geschichte  der  Philosophie  es  hat  stehen  lassen.  Für  Hegel  ist, 
wie  gezeigt,  der  Schellingsche  Standpunkt  der  höchste  bisher 
erreichte,  auf  dem  er  fortbauen  muss.  Das  Problem  präcisiert 
sich  also  für  ihn  dahin:  Wie  muss  die  absolut  konkrete  Idee 
gedacht  werden,  wenn  sie  alles  wahrhaft  Wirkliche  sein  soll? 
Oder  mit  anderen  Worten:  Was  muss  unter  Vernunft  verstanden 
werden,  wenn  sie  alles,  und  nichts  ausser  ihr  sein  soll?  Aus  der 
Untersuchung  dieses  Problems  ergiebt  sich  für  Hegel  sowohl  der 
Inhalt  als  auch  die  Form  seiner  Metaphysik. 

Wenn  die  absolute  Idee  schlechthin  konkret,  absolut,  das 
allumfassende  Wirkliche  sein  soll,  so  darf  sie  kein  schlechthin 
anderes  sich  gegenüber  haben  {VII  2,  4),  sondern  muss  alles, 
was  ist,  die  ganze  Welt  der  Wirklichkeit,  Natur  und  Geist,  oder 
Natur  und  Geschichte  {XV,  684;  VII  1,  25),  in  sich  einschliessen. 
Als  verwirklichte,  der  Welt  immanente  Idee  ist  die  Idee  einer- 
seits die  in  Raum  und  Zeit  aussereinandcrgelegte  natürliche  Idee, 
andererseits  die  wieder  verinnerlichte  geistige  Idee,  aber  sie  ist 
nicht  mehr  die  bloss  logische  Idee,  die  vielmehr  erst  das  Ansich, 
oder  der  Begriff,  oder  die  Möglichkeit  der  absolut  konkreten  Idee, 
oder  die  Idee  im  Elemente  des  reinen  abstrakten  Gedankens  ist*) 


•)  Vcrgl.  meine  »Deabcbe  AsibeUk  seit  KxnU,  S,  109—110. 


«H 


Hegel. 


Nun  ist  aber  das  Sein  der  Idee  in  der  Natur  ein  ilir  als  logischen 
Idee  Unangemessenes,  ein  Anderssein  oder  Aussersichsein  ihrer 
selbst,  ein  ihrer  Form  Widersprechendes  {VII  2,  30)»  der  unauf- 
gelöste Widerspruch  (VII  i,  28),  also  etwas  Unlogisches,  der 
Überwindung  Bedürftiges.  Diese  Überw^indung  findet  das  Un- 
logische des  Andersseins  beständig  im  Geiste,  aber  doch  nur  in 
dem  Sinne,  dass  es  beständig  neu  gesetzt  wird,  um  immer  wieder 
überwunden  zu  werden.  Die  absolut  konkrete  Idee  muss  dem- 
nach so  gedacht  werden,  dass  sie  das  Gegenteil  ihrer  selbst,  das 
Anderssein  oder  Unlogischsein  nicht  aus-,  sondern  einschliesst-i 
wenn  sie  alle  Wirklichkeit  sein  soll.  ■! 

Unter  Vernunft  ist  hier  das  logische  Formalprincip,  die  Essenz 
des  Logischen,  von  welcher  die  Selbstbestimmung  der  logischen 
Idee  abhängt,  das  ewige  Gesetz  der  Selbstbewegung  des  absoluten 
Denkens  zu  verstehen.  Wenn  die  Vernunft  sich  zur  logischen 
Idee  determiniert  hat,  so  würde  daraus  doch  niemals  eine  Welt 
entspringen,  falls  nicht  ein  Unlogisches  entweder  ausserhalb  ihrer 
gegeben  wäre,  oder  aber  von  ihr  selbst  als  Gegenteil  ihrer  selbst 
gesetzt  würde.  Gäbe  es  ausser  der  Vernunft  noch  etwas  anderes, 
das  nicht  Vernunft  wäre,  ausser  dem  Logischen  ein  Unlogisches, 
dann  wäre  die  Vernunft  nicht  alles,  nicht  allumfassend,  nicht 
absolut  Sie  wäre  dann  auch  kein  Unendliches,  kein  Un- 
beschränktes, kein  Freies,  denn  sie  hätte  an  dem  Unlogischen 
ihr  Ende,  ihre  Grenze,  ihre  Schranke,  durch  die  ihre  Freiheit 
beschränkt  würde.  Soll  die  Schellingsche  Voraussetzung,  der 
Panlogismus,  aufrecht  erhalten  werden,  so  muss  die  Vernunft 
selbst  es  sein,  durch  welche  das  Gegenteil  ihrer  selbst,  das 
Unlogische,  gesetzt  wird.  Und  zwar  muss  dieses  Gegenteil  ein 
in  Bezug  auf  sie  schlechthin  Negatives,  ein  absolut  Unlogi- 
sches sein,  nicht  bloss  etwas  relativ  Unlogisches.  Die  Vernunft 
muss  im  Panlogismus  notwendig  so  gedacht  werden,  dass  sie 
das  absolute  Gegenteil  ihrer  selbst  als  etwas  von  ihr  selbst 
Gesetztes,  wenn  auch  bloss  zur  steten  Überwindung  Gesetztes 
einschMesst 

Das  Wesen  der  Vernunft  muss  also  darin  gesucht  werden, 
dass  sie  den  Widerspruch  nicht  etw^a  von  sich  abwehrt,  sondern 
ihn  beständig  antithetisch  aus  sich  erzeugt,  um  ihn  synthetisch  in 
sich  zurückzunehmen  und  ihn  als  aufgehobenes  Moment  in  sich 
zu  konservieren.    Der  Panlogismus  muss  entweder  nicht  sein,  oder 


HegeL 


215 


er  muss  dialektisch  im  Sinne  der  Hegeischen  Widerspruchs- 
dialektik sein.  Schelling  hatte  mit  keiner  systematischen  Durch- 
führung zustande  kommen  können,  weil  er  diese  Wahrheit  ver- 
kannte. Hegel  gelingt  die  Systembildung  auf  Grund  des  panlo- 
gistischen  Princips,  weil  er  diese  Wahrheit  begriffen  und  den  Mut 
gehabt  hat,  in  seiner  Dialektik  ihre  Konsequenz  zu  ziehen.  Der 
Panlogismus  steht  und  fällt  mit  der  Widerspruchsdialektik  und 
sie  mit  ihm.  Ist  die  Widerspruchsdialektik  als  unmöglich  und 
absurd  erwiesen,  so  ist  damit  auch  der  Panlogismus  als  alleiniges 
Princip  ad  absurdum  geführt;  ist  der  Panlogismus  in  seiner  Ein- 
seitigkeit  als  unhaltbar  und  ergänzungsbedürftig  erwiesen,  so  fällt 
damit  auch  jede  Nötigung  hinweg,  dem  Verstände  mit  der  Wider- 
spruchsdialeklik  Gewalt  anzuthun.  — 

Bei  Schelling  ist  es  ein  einfaches  Postulat,  dass  die  Einheit  des 
Gegensatzes  von  Idealem  und  Realem,  oder  von  Geist  und  Natur, 
im  Idealen  zu  finden  sei,  oder  dass  das  über  den  Gegensatz  er- 
habene absolut  Ideale  zugleich  das  absolut  Reale  in  einem  über 
den  Gegens^itz  erhabenen  Sinne  sei.  Es  wird  von  ihm  einfach 
dekretiert,  dass  das  indifferente  absolut  Ideale  sich  zum  Gegen- 
satz eines  Idealen  und  Realen,  oder  von  Geist  und  Natur  aus- 
einanderlege oder  spalte.  Bei  Hegel  dagegen  liegt  es  im  Wesen 
der  Vernunft  oder  des  logischen  Formalprincips,  dass  es  sich 
Jurch  eine  Antithese  das  absolute  Gegenteil  seiner  selbst  gegen- 
überstellt, oder  in  das  Anderssein  umschlägt.  Dieses  Anderssein 
äer  logischen  Idee  ist  nun  ebensowohl  das  Gegenteil  des  Logi- 
schen, als  auch  das  Gegenteil  des  Idealen  oder  Idealprincips;  es 
ist  die  Natur,  in  welcher  zuerst  die  an  sich  bloss  mögliche  logische 
Idee  zur  wahrhaften  Wirklichkeit  gelangt,  und  vermittelst  deren 
sie  auch  in  den  Stand  gesetzt  wird,  sich  durch  Insichzurücknahme 
aus  dem  Anderssein  als  bewusster  Geist  zu  verwirklichen.  Das 
Realprincip  deckt  sich  also  hier  mit  dem  absolut  Unlogischen; 
das  Reale  oder  das  Objekt  ist  nicht  nur  dem  Geiste,  sondern 
auch  sich  selbst  äusserlich,  d.  h.  dem  Begriff  als  solchen  inadäquat 
und  mit  der  Form  der  Unvernunft  behaftet  (VII  2,  316.  320). 
Wenn  es  richtig  ist,  dass  das  Unlogische  als  logisch  notwendige 
Antithese  vom  Logischen  gesetzt  wird,  dann  ist  mit  ihm  auch 
das  Realprincip  logisch  deduziert.  Wenn  dagegen  die  Ableitung 
les  absolut  Unlogischen  aus  dem  Logischen  unmöglich  wäre,  so 
wäre  damit  zugleich  besiegelt,  dass  auch  die  Ableitung  des  Real- 


n6 


Hegel 


princips  aus  dem  Idealprincip  unmöglich  ist,  und  der  Panlogismus 
die  wirkliche  Welt  nicht  zu  erklären  vermag. 

Die  Natur  ist  die  logische  Idee  im  Zustande  des  Ausser- 
einanderseins  der  in  der  logischen  Idee  ineinander  seienden  Denk- 
bestimmungen, und  dieses  begriffliche  Aussereinander  stellt  sich 
als  räumliches  Nebeneinander  und  zeitliches  Nacheinander  dar. 
Das  in  der  Natur  sich  offenbarende  Realprincip  ist  also  das 
räumliche  und  zeitHche  ^sich  Ausbreitend^,  dessen  Ergebnis  die 
raumzeitliche  Ausdehnung  ist,  d.  h,  das  spinozistische  Attribut 
der  extensio.  Der  Unterschied  von  Spinoza  ist  ein  zwiefacher. 
Einerseits  ist  das  Aussereinandersein  oder  die  extensio  nicht  ein 
gleichberechtigtes  Princip  neben  dem  Denken,  sondern  ein  ledig- 
lich vom  Denken  als  sein  Widerpart  Gesetztes,  Andererseits  ist 
sowohl  das  Denken  wie  das  Aussereinandersein  nicht  Attribut 
einer  Substanz,  die  als  unvordenklich  seiende  metalogisch  heissen 
müsste,  sondern  das  absolute  Denken  ist  selbst  das  letzte,  hinter 
dem  nichts  anderes  mehr  zu  suchen  ist.  Wäre  es  anders,  so 
wäre  das  Logische  nicht  das  Absolute,  alles  Seiende,  so  hätte  es 
eine  Grenze  und  Schranke  an  dem  unvordenklichen  Sein  der 
Substanz,  so  hätte  der  Panlogismus  eine  Lücke  oder  Ausnahme. 

Eine  Substanz  hinter  der  Vernunft  darf  weder  in  dem  Sinne 
angenommen  werden,  den  Hegel  der  spinozistischen  Substanz 
unterlegt,  nämlich  dem  eines  Gegenständlichen  oder  Objekts  für 
das  Denken,  noch  auch  in  dem  Sinne  eines  tragenden  und  aus- 
übenden Subjekts  der  Denkthätigkeit  Denn  Objekt  und  Subjekt 
sind  ja  ftir  Hegel,  ebenso  wie  für  Fichte  und  Schelling,  lediglich 
die  Produkte  der  phänomenalen  Spaltung  des  Denkens,  bewusst- 
seinsimmanente  Erscheinungen  für  das  Denken  selbst.  Der  sich 
selbst  bewegende  Begriff,  oder  die  als  reine  Thätigkeit  zu 
denkende  Vernunft  ist  sowohl  das  Objekt  wie  das  Subjekt 
(Vn  2,  13;  V,  9)  und  damit  die  Wahrheit  der  Substanz  (V,  6,  31). 
Das  Denken  wird  nur  dadurch  zum  Subjekt,  dass  es  als  Denken- 
des vorgestellt  wird,  und  der  einfachste  Ausdruck  des  existieren- 
den Subjekts  ist  das  Ich  (VI,  34).  Begriff  oder  Subjektivität  und 
Objekt  sind  an  sich  identisch,  weil  sie  beide  das  Denken  sind; 
nur  im  Fürsichsein,  als  Erscheinung  für  das  Beuusstsein  sind  sie 
verschieden  (VI,  362)*  Die  Subjektivität  beginnt  nach  Hegel 
schon  in  der  organischen  Individualität,  insofern  hier  das  All- 
gemeine bei  sich  selbst  bleibt,  in  der  Berührung  und  dem  Prozess 


Hegel. 


217 


mit  der  äusseren  Welt  sich  selbst  erhält  (VII  i,  550).  Deutlicher 
tritt  das  Subjekt  als  Selbstgefühl  im  Tiere  hervor,  ist  aber  hier 
noch  nicht  Selbstbewusstsein  als  sich  selbst  Denken  oder  Ich 
(VII  1,  551}.  Auf  allen  Stufen  bleibt  es  jedoch  bewusstseins- 
immanente  Erscheinung  für  das  Denken,  also  ein  Produkt  des 
Denkens,  ist  aber  keinenfalls  sein  Produzent  und  Träger,  — 

Eine  Welt  der  Wirkhchkeit,  die  nur  vom  Denken  fürs  Denken 
produziert  wird,  kann  nicht  ausser  dem  Denken  sein.  Alles  Sein 
ist  nur  Gedachtwerden,  und  was  nicht  gedacht  ist»  das  ist  nicht. 
In  der  Welt  der  Wirklichkeit  ist  einerseits  kein  Inhalt,  der  nicht 
durch  Auseinanderlegen  der  reinen  Denkbestimmungen  der  logi- 
schen Idee  hervorgebracht  wäre,  und  andererseits  ist  dieser  Inhalt 
nur  wirklich  für  ein  bewusstes  Denken,  das  ihn  auffasst  Die 
Natur  ist  nur  in  dem  Geist  und  für  den  Geist  wirklich;  abgesehen 
von  ihrem  Vorgestelltwerden  ist  sie  nicht  wirklich,  sondern  eine 
blosse  Möglichkeit,  die  nach  allen  ihren  Bestimmungen  in  der 
absoluten  Idee  enthalten  ist.  Wenn  sie  für  irgend  einen  be- 
wussten  Geist  Wirklichkeit  gewinnt,  so  muss  es  eine  solche  sein, 
wie  sie  durch  die  ewige  Vernunft  bestimmt  ist  Da  die  Indivi- 
dualseele  nur  die  individuell  bestimmte  Weltseelc  ist  (VII  2,  146» 
175 — 176),  so  begreift  sich  daraus  die  Übereinstimmung  der  Natur 
in  allen  Seelen,  vorbehaltlich  ihrer  individuell  verschiedenen  Auf- 
fassung. Für  alle  Geister,  die  sich  zur  Stufe  des  begreifenden 
Erkennens  hindurchgerungen  haben,  sind  die  vielen  Ichs  zur 
Einheit  des  allgemeinen  Selbstbewusstseins  verschmolzen,  und 
hat  der  Geist  nicht  mehr  einen  Gegenstand,  sondern  nur  noch 
eine  Bestimmtheit  in  seinem  selbsterzeugten  Wissen  (VII  2,  275, 
283—287,  291). 

So  führt  der  Panlogismus  zu  einem  metaphysischen  absoluten 
Idealismus  (VI,  315),  der,  wenn  er  auch  den  subjektiven  Idealis- 
mus im  Sinne  einer  subjektiven  Besonderheit  aufhebt,  doch  in 
erkenntnistheoretischer  Hinsicht  transcenden taler  Idealismus  bleibt 
Er  leugnet  jedes  von  aussen  an  den  Geist  kommende  Objekt, 
jede  wirkHche  Selbständigkeit  und  Widerstandsfähigkeit  des  Ob- 
jekts gegen  das  Subjekt  (VIT  2,  289,  295,  271),  jede  bewusstseins* 
transcendente  Kausalität  (VII  2,  302)  und  setzt  alles,  was  dem 
gemeinen  Menschenverstand  als  wirklich  gilt  (z.  B,  die  sinnliche 
Existenz  der  Dinge,  Materie,  Bewegung)  zum  blossen  Schein  im 
Bewusstsein  und  für  das  Bewusstsein  herab  (II,  104;   VII    i,  16; 


VI.  144).  Andererseits  erhellt  daraus,  dass  es  eine  Natur  im  er- 
kenntnistheoretisch transcendenten  Sinne,  ein  System  von  Kräfte- 
verbindungen  jenseits  des  Bewusstseins»  durch  dessen  transcen- 
dente  Kausalität  erst  die  wahrnchmungsfähigen  Individuen  zur 
Produktion  ihrer  bewusstseinsimmanenten  Erscheinungs weiten  ge- 
nötigt  würden,  überhaupt  nicht  giebt  und  nicht  geben  kann.  Die 
einzige  existierende  Natur  ist  diejenige,  welche  im  Bewusstsein 
für  das  Bewusstsein  erscheint,  und  darum  hat  auch  die  wirklich 
existierende  Natur  alle  diejenigen  Eigenschaften,  die  das  Bewusst- 
sein ihr  beilegt,  z.  B.  die  sinnlichen  Empfindongsqualitäten. 

Der  Panlogismus  vermengt  notwendig  das  subjektive  und 
absolute,  individuelle  und  universelle,  bcwusste  und  unbcwusste 
Denken,  Da  alles  Objekt  nur  für  den  Geist  ist,  und  der  Geist 
alle  Objektivität  ohne  transcendente  äussere  Einwirkungen  rein 
aus  sich  herauszuspinnen  hat,  so  muss  notwendig  das  unbewusste, 
universelle,  absolute  Denken  in  allen  Individual geistern  das  aus- 
schliesslich  Aktive  und  Produzierende  sein,  wenn  irgend  welche 
Übereinstimmung  der  subjektiv  idealen  Erschcinungswelten  in 
den  verschiedenen  Bewusstseinen  dabei  herauskommen  soll.  Das 
individuelle  Bewusstsein  schaut  passiv  dem  Schauspiel  zu,  das 
der  aktive  und  produktive  Geist  vor  ihm  aufführt  Der  einzelne 
denkt  nicht  etwa  reproduktiv  die  Schöpfung  nach,  die  von  der 
absoluten  Vernunft  ausser  ihm  vollzogen  ist,  sondern  die  un- 
bewusste  Genesis  der  Natur  und  des  Geistes  aus  der  Vernunft 
vollzieht  sich  in  jedem  einzelnen.  Das  subjektive,  bewusste, 
individuelle  Denken  hat  nichts  weiter  nötig,  als  den  falschen 
trügerischen  Schein  der  Besonderheit,  SinnUchkeit,  Zufälligkeit 
und  Vereinzelung  abzustreifen,  damit  das  allgemeine  Selbst- 
bewusstsein  herausspringt,  das  in  seiner  Form  ebenso  universell 
ist,  wie  sein  Inhalt  die  wahre  Objektivität,  das  wahrhaft  Wirk- 
liche ist. 

So  lange  der  Mensch  in  seinem  Meinen  dem  Schein  und  der 
Unwahrheit  verfallen  bleibt,  ist  sein  Denken  freilich  von  dem 
absoluten  Denken  verschieden,  das  die  Wahrheit  und  Wirklich- 
keit selbst  ist.  Sobald  er  sich  aber  in  seinem  Bewusstsein  zum 
reinen  Denken  erhebt,  ist  das  vom  ihm  Gedachte  nicht  bloss  der 
Wirklichkeit  adäquat,  sondern  es  ist  mit  ihr  numerisch  identisch, 
weil  sein  Geist  nun  als  absoluter  Geist  ist  und  sein  Bewusstsein 
jetzt  die  Eine  absolute  Persönlichkeit  des  Geistes  darstellt.    Der 


■ 


Hegel. 


219 


Panlogismus  Ist  also  zwar  in  Bezug  auf  alle  noch  unterhalb  der 
Stufe  des  reinen  Denkens  stehen  gebliebene  Erkenntnis  transcen- 
dentaler  Idealismus,  in  Bezug  auf  das  reine  Denken  aber  naiver 
Realismus.  Und  zwar  ist  er  naiver  Realismus  sowohl  nach  Seiten 
des  Objekts  wie  des  Subjekts;  denn  das  rein  Gedachte  ist  das 
Wirkliche  und  der  rein  Denkende  ist  deis  absolute  Subjekt,  und 
beide  sind  im  Akt  des  reinen  Denkens  identisch.  In  Bezug  auf 
die  dem  falschen  Schein  angehörigen,  individuell -partikulären 
Weltanschauungen  ist  der  Panlogismus  erkenntnistheoretischer 
Dualismus,  weil  das  Inadäquate  und  Unwahre  in  der  Vorstellung 
etwas  anderes  ist,  als  das  wahrhaft  Wirkliche,  welches  doch  da- 
durch für  das  Bewusstsein  vorgestellt  werden  soll.  In  Bezug  auf 
das  rein  Gedachte  aber  ist  der  Panlogismus  erkenntnistheore- 
tischer Monismus,  weil  und  sofern  er  naiver  Realismus  ist.  Wer 
das  bewusste,  individuelle  Denken  mit  dem  unbewussten,  abso- 
luten Denken  identifiziert,  der  muss  eben  auch  den  Inhalt  und 
das  formelle  Subjekt  beider  identifizieren.  — 

Hieraus  erhellt  schon,  dass  der  Panlogismus  notwendig  zu 
einem  Universalismus  führt,  in  welchem  das  Individuelle  weder 
Wert  noch  Interesse  hat.  Es  kommt  lediglich  auf  den  Prozess 
des  absoluten  Denkens  an,  der  sich  vom  universellen  Ausgangs- 
punkt zu  universellem  Ziel  hin  vollzieht  Dass  der  Durchgang 
durch  das  Individuelle  unvermeidlich  ist  um  von  der  unbewussten 
und  unpersönlichen  logischen  Idee  zur  selbstbewussten  Persön- 
lichkeit des  absoluten  Geistes  zu  gelangen,  ist  richtig;  aber  dieser 
Durchgangspunkt  ist  das  der  Idee  Unangemessene  und  Unwahre, 
das  möglichst  rasch  durchschritteo  und  wieder  abgestreift  werden 
muss.  Der  Geist  hat  sich  dieser  Durchgangspunkte  seiner  Ent- 
stehungsgeschichte wohl  zu  schämen,  wenn  er  sich  zu  lange  von 
ihnen  düpieren  lässt,  aber  er  hat  keinerlei  Grund,  mit  Schonung 
oder  gar  mit  Zärtlichkeit  und  Rührung  auf  sie  zurückzublicken. 
Allen  individualistischen  Ansprüchen  und  Interessen  muss  der 
Panlogismus  auf  das  schroffste  entgegentreten.  Selbst  das  Ich 
kennt  er  nur  als  den  abstrakten  Begriff  des  Ich,  der  bei  allen 
Menschen  ein  und  derselbe  ist;  die  unsagbare  Partikidarität 
dieses  bestimmten  Ich,  auf  welche  der  Individualismus  allen 
Wert  legt,   verwirft   der   Panlogismus  gerade   als  das  Unwahre. 

Das  Unsagbare  am  Ich,  das  sich  in  die  Maschen  des  Begriffs 
nicht  einfangen  lässt,  ist  ebenso  wie  das  Unsagbare  am  sinnlichen 


220 


Hegel. 


-Dieses«»    ^Hier«    und    ^Jetzt^     etwas    völlig   Vernunftloses,    daaj 
darum    gänzlich  der  Wahrheit   und   wahrhaften  Wirklichkeit  ent- 
behrt, und  an   dem  nur  das  am  Scheine  und  der  vernunftlosen 
Zufälligkeit  haftende  sinnliche  Bewusstsein    ein   Interesse   nimmt. 
Der  Panlogismus   ist   nicht  nur  Begriffsrealismus   im   mittelalter- 
lichen Sinne  des  Wortes»  er  muss  sogar  allem,  was  nicht  BegriflFI 
ist,  und  soweit  es  nicht  Begriff  ist,  die  Realität  absprechen.    Nur] 
ein  logisches  Idealprincip,   das  ein  koordiniertes  Unlogisches  sich 
gegenüber   hat   und  von  der  Beziehung  zu  diesem   Impulse  em- 
pfingt,  kann    zu    einem   anschaulich  erfüllten   Denken    gelangen; 
ein   Logisches  aber,  das  auf  sich  allein   angewiesen  ist.  wnrd   es.^^j 
wenn  es  überhaupt  zum  inhaltvoUen  Denken  kommt,  doch  sicher^^H 
lieh  nicht  über  formale  Denkbestimmungen  genereller  Art,  Kate-  ^^ 
gorien,  hinausbringen,   die,    weil  sie   keinen   anderweitigen   Stoff 
zu    ihrer  Anwendung   finden,  ewig  formal   und    generell  bleiben 
müssen.  ^M 

Der  ganze  Reichtum  der  Erfüllung,  durch  welche  diese^^ 
Formen  erst  zur  Anschauung  werden,  ist  aus  dem  logischen 
Princip  allein  nicht  abzuleiten.  Dies  gilt  nicht  nur  für  die  | 
sinnlichen  Empfindiiogsqualitäten,  mit  denen  die  sinnliche  An- 
schauung des  bewusstcn  Geistes  den  Kategorien  zur  Konkre- 
tion verhilft,  sondern  auch  für  die  reinen  Anschauungsformen'] 
Raum  und  Zeit,  durch  welche  die  intellektuelle  Anschauung 
des  absoluten  Denkens  erst  konkret  wird.  Es  ist  ein  gross- 
artiger Zug  in  Hegel,  dass  er  Raum  und  Zeit  mit  richtigem 
Denk  Instinkt  aus  den  Kategorien  der  rein  logischen  Idee  aus- 
geschieden und  auf  die  Seite  der  unlogischen  Existenzweise  der 
Idee,  auf  die  Natur,  verwiesen  hat,  obwohl  er  damit  die  Sphäre 
der  logischen  Idee  in  bedenklichster  Weise  ins  Schattenhafte  ver- 
flüchtigte. Dass  die  logische  Idee  intellektuelle  Anschauung  sei, 
wird  ja  offenbar  zur  unhaltbaren  Fiktion,  wenn  man  ihr  das 
einzige  entzieht,  wodurch  die  reinen  Denkformen  konkret  und 
damit  intuitiv  werden  können,  Räumlichkeit  und  ZeitlichkeiL 
Sein  Fehler  liegt  nicht  darin,  dass  er  Raum  und  Zeit  aus  der 
logischen  Idee  ausschied,  weil  er  sie  als  unlogisch  erkannte» 
sondern  darin,  dass  er  alle  übrigen  Kategorien,  die  ebenfalls  von 
der  Beziehung  zum  Unlogischen  abhängig  sind,  in  der  rein  logi- 
schen Idee  Hess,  obwohl  er  diese  ihre  Abhängigkeit  vom  Un- 
logischen  sich    nicht  verhehlte.     Anderenfalls  hätte    er  aber  die 


i^ 


Hegel, 


221 


absolute  Leerheit  und  Inhaltlosigkcit  des  rein  Logischen  an- 
erkennen, den  Unterschied  der  logischen  von  der  konkreten 
Weltidee  aufgeben  müssen  und  die  Kategorien  nur  als  die  der 
konkreten  Welt  Idee  immanenten  Denkbestimmungen  be- 
handeln dürfen. 

Der  Panlogismus  hebt  nicht  nur  den  Wert  des  Individuellen 
und  der  sinnlichen  Anschauung  auf,  sondern  auch  den  der  Ge- 
fühle, des  Gemütslebens  und  der  Willensseite  des  Geistes.  Über 
Gefühl  und  Gemüt  kann  Hegel  sich  nicht  verächtlich  genug 
äussern,  als  über  die  unmittelbarste  und  schlechteste  Weise,  wie 
das  Wahre  ins  Bewusstsein  treten  kann;  einer  axiologischen 
Wertbemessung  der  Welt,  die  sich  auf  Gefühle  stützt,  spricht 
er  deshalb  jeden  Wert  und  jede  Berechtigung  ab.  Der  Schmerz 
ist  nur  der  empfundene  Widerspruch,  das  Übel  oder  das  Un- 
angenehme ist  die  Unangemessenheit  des  Seienden  zu  dem, 
was  es  sein  soll,  also  ebenfalls  ein  Widerspruch  {VII  2,  25, 
564 — 365).  Ist  nun  der  Widerspruch  selbst  ein  unentbehrliches 
Moment  der  Vernunft,  und  die  Vernünftigkeit  der  einzige  Wert- 
massstab,  der  im  Panlogismus  geduldet  werden  darf,  so  sind 
alle  Klagen  über  das  Leid  der  Welt  und  ihre  Schmerzen 
nicht  bloss  thöricht,  sondern  eigentlich  eine  Sünde  gegen  den 
heiligen  Geist  des  Panlogismus.  Der  Panlogismus  kann  gar  nicht 
umhin,  einseitiger  Intellektualismus  zu  sein  und  das  Gefühl  als 
einen  des  Gedankens  unwürdigen  Bestandteil  des  Scheines  bei- 
seite zu  schieben.  — 

Der  Panlogismus  muss  sich  auch  darin  als  Intellektualismus 
behaupten,  dass  er  den  Trieb,  das  Begehren  und  den  Willen  im 
menschlichen  Geiste  nicht  als  etwas  Selbständiges  neben  dem 
Denken  gelten  lässt,  sondern  aus  diesem  ableitet.  Auch  hier 
hilft  der  Widerspruch  aus,  der  einmal  als  Moment  ins  Logische 
hereingenommen  ist  Was  die  Welt  überhaupt  bewegt,  ist  der 
Widerspruch,  weil  das  Logische,  das  ihn  setzt,  auch  notwendig 
die  Tendenz  hat,  ilin  durch  Aufhebung  zu  überwinden  (VI,  242). 
Die  aus  dem  Widerspruch  entspringende  Tendenz  zur  Aufhebung 
des  Widerspruchs  ist  für  die  Empfindung  Trieb  oder  Begierde 
(VII  2,  270),  wie  der  empfundene  Widerspruch  selbst  Schmerz 
oder  Übel  ist.  Der  Wille  ist  nichts  als  das  Insichgchen  der 
InteUigenz,  die  sich  als  das  Bestimmende  des  seienden  Bewusst- 
seinsinhalts  weiss  (VII  2,  358),    Das  Denken  ist  die  Substanz  des 


Willens;  nur  fiir  die  Vorstellung,  die  den  Überg*ang  vom  einen 
zum  anderen  nicht  zu  fassen  vermag,  fallen  beide  auseinander 
(VII  2,  358).  Der  Wille  ist  dadurch  von  der  Vielheit  der  Triebe 
unterschieden,  dass  in  ihm  die  Vernünftigkeit  sich  in  Einem  all- 
gemeinen Zwecke  offenbart,  der  über  die  vielen  Sonderzwecke 
der  Triebe  übergreift,  sei  dieser  allgemeine  Zweck  nun  die  indi- 
viduelle Glückseligkeit  oder  das  sittlich  Gute  (VIT  2,  371 — 373; 
VI,  405 — 407).  Der  Wille  wird  frei,  indem  er  den  Schein  durch- 
schaut, als  ob  er  et\vas  anderes  wäre  als  Denken,  und  sich  als 
Selbstbethätigung  der  Vernunft  begreift;  denn  damit  erhebt  er 
sich  über  die  zufälligen  Besonderheiten  des  individuellen  Trieb- 
lebens zur  Allgemeingültigkeit  seines  Inhalts.  Der  Wille  fände 
freilich  nichts  zu  thun,  wenn  er  nur  Widersprüche  aufzuheben 
hätte  und  keine  neuen  setzte:  erst  im  beständigen  Setzen  und 
Wideraufheben  der  Widersprüche  ist  Welt  vernünftig  im  Sinne 
des  Panlogismus  und  der  Wille  hat  sich  ebenso  an  den  Anti- 
thesen  wie  an  den  Synthesen  zu  bethätigen,  da  beide  durch  die 
Lebendigkeit  des  Subjekts  hervorgebracht  und  erst  aus  dieser  in 
die  Objektivität  übersetzt  werden  müssen  (VII  2,  371,  370). 

Das  Wollen  im  weitesten  Sinne  ist  also  aus  dem  Unlogischen 
abgeleitet,  und  jeder  Panlogismus,  der  nicht  das  Unlogische  als 
ein  vom  Logischen  Gesetztes  in  die  Vernunft  hereinnimmt,  ist  zu 
solcher  Ableitung  unfähig*  Erst  durch  die  Existenz  des  Un- 
logischen wird  die  logische  Tendenz  zu  seiner  Überwindung 
wachgerufen.  Es  begreift  sich  leicht,  dass  solche  Tendenz  sich 
als  Wollen  äussern  muss,  wo  einmal  die  Vernunft  zum  Inhalt 
eines  sie  realisierenden  WoUens  geworden  ist,  aber  schwer,  wie 
die  logische  Verurteilung  des  Unlogischen  sich  realisieren  soll, 
wo  es  an  einem  Wollen  fehlt,  dem  die  Vernunft  sich  zum  Inhalt 
geben»  und  dessen  sie  sich  als  Werkzeug  zur  Vollstreckung  ihres 
Urteils  bedienen  könnte.  Noch  schwerer  aber  begreift  es  sich, 
wie  die  Vernunft  dazu  kommt,  von  sich  aus  das  LTnlogische  zu 
setzen,  d.  h.  demjenigen  reale  Existenz  zu  geben»  was  sie  sich 
sofort  bemülien  muss,  wieder  aufzuheben.  Der  Wille  innerhalb 
der  logischen  Idee  ist  erst  der  BegriflF,  oder  das  Ansich»  oder  die 
Möglichkeit,  oder  der  reine  Gedanke  des  Willens,  aber  noch 
nicht  der  wirkliche  Wille,  Dieser  tritt  zum  ersten  Male  auf,  wo 
die  logische  Idee  in  das  absolute  Gegenteil  ihrer  selbst,  in  die 
unlogische,  reale  Existenz  der  Natur  umschlägt,   wo  der  Trieb, 


^ 


HegcL 


123 


ihre  blosse  Idealität  aufzuheben,  in  ihr  erwacht  (V,  352),  und  sie 
sich  entschliesst,  sich  als  Natur  frei  aus  sich  zu  entlassen 
(VI,  414).  Aller  Wille  in  Natur  und  Geist  ist  nur  Folgeerschei- 
nung' dieses  ursprünglichen  Willensaktes.  — 

Die  Frage  ist  also,  weshalb  die  Idee  die  Tendenz  hat,  sich 
in  eine  ihr  widersprechende  Form,  in  ihr  Gegenteil  zu  stürzen 
(VII  2,  30).  Mit  anderen  Worten:  wie  kommt  das  Allgemeine 
zur  besonderen  Selbstbestimmung,  das  Unendliche  zur  Verend- 
lichung,  Gott  zur  Weltschöpfung  (VII  1,  21)?  Warum  setzt  der 
Geist  selbst  die  EndHchkeit,  d,  h,  das  Scheinen  innerhalb  seiner, 
jene  Schranke,  die  wieder  aufgehoben  werden  muss  (VII  2,  36)? 
Die  Natur  ist  ein  seiender  Widerschein  der  Idee  (VI,  414),  ein 
Abfall  von  der  Idee  und  der  unaufgelöste  Widerspruch,  an  dem 
alles  Endliche  zu  Grunde  geht  (\^I  1,  28,  27);  nicht  Freiheit 
wohnt  in  ihr,  sondern  der  Widerspruch  zwischen  der  Notwendig- 
keit der  Naturgebilde  und  der  begriff  losen  Zufälligkeit  eines 
regellosen,  zügellosen  und  ungebundenen  Formenspiels  (VII  i, 
^9»  30»  3^)-  I"  <i^r  Natur  ist  der  Begriff  zu  schwach  und  zu 
ohnmächtig,  sich  in  seiner  Ausführung  festzuhalten  (VII  i,  652, 
37 — 3^)1  darum  ist  das  Leben  des  Lebendigen  verkümmert,  un- 
sicher, angstv^oll,  unglücklich,  krank  von  Haus  aus  und  mit  dem 
Keim  und  der  Notwendigkeit  des  Todes  behaftet  (VII  1,  654, 
652,  691 — 693},  Trotz  alledem  muss  die  logische  Idee  durch 
diesen  Durchgangspunkt  hindurch,  den  Hegel  so  wenig  über- 
einstimmend mit  dem  Panlogismus  scliildert,  weil  sie  sich  zum 
Geist  vollenden  und  als  Geist  bewähren  will,  und  dies  nur  ver- 
mittelst der  Überwindung  ihres  Gegenteils  vermag  (VII  2,  25, 
30—31;   II,  611). 

Es  fragt  sich  also  weiter:  welche  Vorzüge  hat  der  Geist  vor 
der  logischen  Idee,  dass  um  ihretwillen  die  Übelstände  der  Natur 
von  der  Idee  mit  in  den  Kauf  genommen  werden?  Die  Antwort 
lautet:  der  Geist  ist  bewusst  und  persönlich,  während  die  logische 
Idee  noch  unbewusst  und  unpersönlich  ist.  Es  ist  unrichtig»  mit 
der  gewöhnlichen  Logik  die  logischen  Formen  nur  als  Bestim- 
mungen des  bewussten  Denkens  aufzufassen,  da  sie  noch  frei  sind 
von  dem  Gegensatze  des  Bewusstseins  (VI,  318 — 319;  III|  37)- 
Auch  in  der  Natur  darf  man  nur  ein  System  bei^^sstloser  Ge- 
danken, oder  besser  Denkbestimmungen,  sehen  und  darf  den 
natürlichen  Dingen  darum,  weil  das  Allgemeine  in  ihnen  Begriffs* 


224 


HegeL 


momente  sind,  noch  kein  Bewusstsein  zuschreiben  (VI,  46,  45). 
Auch  in  der  Geschichte  des  Geistes  vollbringt  sich  der  ver- 
nünftige Zweck  und  Plan  der  Weltgeschichte  noch  durch  einen 
bewusstlosen  instinktiven  Trieb  der  Individuen,  der  sie  als  Mittel 
zu  einem  ihnen  unbewussten  Zwecke  dienen  lässt,  w^ährend  sie 
ihren  bewussten  Zwecken  zu  dienen  glauben  (Phil*  d,  Gesch*,  31,  32). 
Ebenso  ist  die  künstlerische  Phantasie  noch  eine  Weise  instinkt- 
artiger Produktion  und  bewusstlosen  Wirkens  {Ästh.»  I,  53).  Erst 
dadurch  entsteht  das  Bewusstsein,  dass  die  unbestimmte  all- 
gemeine Seele  sich  individualisiert  (VII  2»  52),  und  dieser  zum 
Ich  individualisierten  Seele  die  Gegenstände,  die  durch  Selbst- 
teilung des  Geistes  in  Ich  und  Nichtich  gesetzt  sind,  als  nicht 
selbstgesetzte,  sondern  von  aussen  gegebene,  selbständig  seiende 
erscheinen  (VII  2,  252). 

Die  unbewusste  logische  Idee  geht  also  durch  die  unbewusste 
Natur  hindurch,  um  als  Geist  zum  Bewusstsein  zu  gelangen,  das 
als  Wissen  von  der  Identität  ihres  Gegenstandes  mit  sich  selbst 
zugleich  Selbstbewusstsein  ist  (VII  2,  285).  Sie  muss  sich  zuerst 
zur  Natur  besondern  imd  dann  in  der  individuellen  Vereinzelung 
das  Besondere  mit  dem  Allgemeinen  wieder  zusammenschliessen. 
Indem  das  Selbstbewusstsein  reines  Denken  wird  und  das  All- 
gemeine zu  seinem  Gegenstande  nimmt,  erhebt  es  sich  selbst 
über  seine  Individualität  zur  Allgemeinheit,  und  so  w^ird  auch 
das  Ich  zum  allgemeinen,  in  allen  Individuen  identischen  Ich 
(VII  2,  283 — 284,  275),  Das  allgemeine  Selbstbew^usstsein  oder 
Ich  ist  zugleich  die  absolute  Persönlichkeit  des  Geistes;  denn 
das  Princip  der  Persönlichkeit  ist  die  Allgemeinheit  {VI,  322). 
In  diesem  Selbstbewusstsein  des  Geistes  findet  also  das  Absolute 
oder  Gott  seine  Persönlichkeit,  d.  h.  in  einem  dem  reinen  Denken 
und  allen  rein  denkenden  Menschen  zukommenden  allgemeinen 
Gedanken,  nicht  etwa  in  einem  besonderen  empirischen  Ich 
(VI,  129)*)  Gottes  sich  Wissen  ist  sein  Selbstbewusstsein  im 
Menschen,  d.  h.  das  Wissen  des  Menschen  von  Gott,  das  zugleich 
ein  sich  Wissen  des  Menschen  in  Gott  ist  (VII  2,  448).  Als 
logische  Idee  ist  das  Absolute  noch  nicht  Gott,  sondern  sie  ist 


•)  Damm  kann  auch  bei  Heg^l  nicht  von  der  zeitlkhen  Fortdauer  des  empirischeDt 
besonderen  indmduclk-n  Ich,  sondern  nur  von  dem  cwigeo  Leben  des  allgemeinen  Idi, 
der  absoluten  Persütdichkeit  des  Geisles  die  Rede  sein,  die  ihre  Wirklichkeit  nur  in 
dem  gesaroten  Reiche  der  endlichen  Geister  hat» 


HcgeL 


225 


CS  erst  als  Geist,  der  sich  selbst  weiss,  also  erst  nach  dem  Durch- 
gang durch  die  Natur,  Die  logische  Idee  ist  erst  der  an  sich 
seiende  Geist,  noch  nicht  der  wirkliche  Geist  (VII  2,  22,  zg),  und 
alle  ihre  Kategorien  enthalten  reine  Abstraktionen  (VI,  28)  oder 
nur  mögliche  Denkbestimmungen,  die  erst  bei  der  Anwendung 
der  logischen  Idee  auf  Natur  und  Geschichte  (VI,  S.  XIII)  Wirk- 
lichkeit erlangen.  In  diesem  Sinne  ist  auch  die  sich  wissende 
Subjektivität  oder  I'ersönlichkeit  im  Bereiche  der  logischen  Idee 
als  eine  bloss  mögliche,  abstrakte  Denkbestimmung  zu  betrachten, 
die  erst  in  der  wirklichen  Welt  realisiert  wird  und  ihre  eigent- 
liche Erfüllung  erst  in  der  Geschichte  der  Philosophie  findet 
PCV,  686,  691). 

Ohne  Zweifel  erscheint  für  den  menschlichen  Erkenntnistrieb 
das  Bewusstsein  und  Selbst bewusstsein  der  Idee  als  etwas  Höheres» 
Vollendeteres  als  ihr  unbewusstes  Ansichsein,  besonders  im  Sinne 
eines  Intellektualismus»  der  in  der  Erkenntnis  das  höchste  denk- 
bare Ziel  der  Entwickelung  sieht  und  selbst  an  der  Persönlichkeit 
nur  das  Allgemeine,  Intellektuelle  zu  schätzen  weiss,  das  Indivi- 
duelle aber  missachtet.  Für  einen  Geist,  der  so  veranlagt  ist, 
dass  der  Drang  nach  Erkenntnis  die  mächtigste  charakterologische 
Bcthätigung  seines  Willens  darstellt,  ist  es  ganz  begreiflich,  dass 
er  in  dem  Sich -Wissen  dessen,  was  er  an  sich  ist,  die  Vollendung 
und  Bewährung  seines  Seins  erblickt.  Aber  dabei  ist  doch  immer 
schon  ein  Wille,  und  zwar  ein  Wille  zum  bewussten  Erkennen 
vorausgesetzt.  Die  Frage  ist  nur:  welches  Recht  hat  der  Mensch, 
seinen  Erkenntnistrieb  der  unbew^ussten  Vernunft  zu  unterstellen, 
wenn  dieselbe  zunächst  bloss  logisches  Formalprincip  sein  soll? 
Wie  kommt  das  unbewusste  substantielle  Wissen  dazu,  sich  als 

tdas,  was  es  ist,  auch  betrachten  zu  w^oüen,  welches  Interesse  hat 
es  aus  reiner  Vernunft  an  solcher  Selbstbespiegelung?  Für  uns 
und  unsere  Bestimmung  mag  ja  das  Bewusstsein  das  Höhere 
sein,  aber  warum  sollte  aus  reiner  Vernunft  das  bewusste  Wissen 
einen  Vorzug  haben  vor  dem  unbewussten? 

Kann  das  wirklich  eine  Vollendung  und  Bew^ährung  heissen, 
wenn  die  logische  Idee  sich  in  die  ihr  unangemessene,  also  un- 
wahre   Daseinsform    des   Aussereinander   stürzen,   wenn    das   Be- 

P"Wusstsein  mit  der  Vorspiegelung  eines  unwahren  trügerischen 
Scheines  erkauft  werden  muss?  Mag  immerhin  das  reine  Denken 
in  seiner  theoretischen  Abstraktion  die  Unwahrheit  des  sinnlichen 

£.  V  UartmADtt,  Aa%6w.  W«rk«.     Bd.  XU^  15 


226 


HcgftL 


Scheines  und  der  Vorstellung  überwinden  und  sich  in  gehobenen 
Augenblicken  als  das  allgemeine  Selbstbewusstsein  erkennen;  in 
seiner  konkreten  Anschauung  bleibt  das  menschliche  Bewnisstsein 
für  gewöhnlich  doch  dem  theoretisch  überwundenen  Schein  einer 
selbständigen  Aussenwelt  und  eines  individuell  beschränkten  Ich 
verhaftet.  Das  Sichwissen  der  Idee  ist  teuer  genug  bezahlt  mit 
einer  Entstellung  und  Verzerrung  der  Wahrheit,  welche  von  der 
Reflexion  wohl  durchschaut  aber  nicht  vernichtet  werden  kann. 
Erst  mit  dem  Tode  des  Individuums  erlischt  der  Schein  der 
Aussenwelt  und  des  empirisch  beschränkten  Ich  und  tritt  die 
Wahrheit,  wie  sie  ohne  Hülle  an  und  für  sich  selbst  ist  (III»  56), 
wieder  an  ihre  Stelle;  der  Tod  ist  aber  die  Rückkehr  der  im 
bewussten  Geist  verzerrten  und  entstellten  logischen  Idee  zu  sich 
selbst  Die  Vernunft,  das  logische  Formal princip  ist  an  und  ftir 
sich  völlig  gleichgültig  gegen  Wissen  und  Nichtwissen,  Bewusst- 
heit  und  Unbewusstheit,  ebenso  wie  sie  gleichgültig  ist  gegen 
Ruhe  und  Thätigkeit,  Verschlossenbleiben  und  sich  OfFenbaren» 
Nichtsein  oder  Sein  eines  Prozesses  und  einer  Welt.  Der  Panlogis- 
mus  ist  unfähig,  das  Eintreten  der  Vernunft  in  den  Prozess  zu 
erklären,  weil  er  unfähig  ist,  den  Umschlag  des  Logischen  in 
das  Unlogische  zu  erklären. 

Lassen  wir  die  Erklärung  des  Umschlags  beiseite,  so  ist  es 
klar,  dass  der  Prozess  darin  besteht,  das  zunächst  unbewusste 
Absolute  zum  Bewusstsein  zu  bringen,  oder,  wie  Hegel  sagt»  die 
Substanz  zum  Subjekt  zu  erheben.  Die  unbewusste  logische 
Idee  ist  nur  der  abstrakte  Inbegriff  der  gedanklichen  Möghch- 
keiten,  die  erst  in  der  Natur  und  im  Geiste  zu  wirklichen 
immanenten  Denkbestimmungen  werden;  konkret  wird  dieses 
System  der  Kategorien  erst  in  der  bewusstlosen  Natur  und  dem 
bewussten  Geiste.  Die  logische  Idee  ist  also  das  genetische 
Prius  der  Natur  und  des  Geistes,  aber  nicht  ihr  zeitliches  Prius. 
Der  ewige  Prozess  ist  vielmehr  ein  simultanes  Strömen  nach 
zwei  entgegengesetzten  Richtungen,  die  sich  schlechtliin  in  Einem 
begegnen  und  durchdringen  (VII  1,  41),  Die  logische  Idee  isi 
ebensowohl  das  Omega  wie  das  Alpha,  das  letzte  wie  das  erste 
(VII  I,  32);  denn  in  der  höchsten  Blüte  des  Geistes  ist  die 
logische  Idee  das  letzte  Resultat,  zu  dem  der  Geist  sich  erhoben 
hat»  indem  er  sich  als  sie  weiss  (VI,  468).  Ebenso  einseitig  ist 
es  aber  auch,  den  absoluten  Geist  nur  als  das  letzte  zu  betrachten, 


Hfget. 


227 


da  er  ebensowohl  das  erste,  d*  h,  als  der  Zweck  der  Natur  ihr, 
freilich  nicht  empirisches,  wohl  aber  Ideelles  Priiis  ist  (VII  1, 
^96— 697).  In  demselben  Sinne  ist  überall  das  Konkrete  das  ideeUe, 
teleologische  Prius  des  Abstrakten  (VII  2,  46,  211  — 212),  und  es 
ist  nur  das  Bedürfnis  und  die  Bequemlichkeit  unseres  diskursiven 
und  abstrakten  Denkens,  wenn  wir  den  Weg  vom  Abstrakten 
und  Einfachen  zum  Konkreten  und  Verwickelten  dem  umge- 
kehrten vorziehen,  um  uns  die  zu  setzenden  Begriffsbestimmungen 
einzeln  klar  zu  machen,  ehe  wir  sie  zusammenfassen  (VII  i,  41). 

Genauer  ist  nicht  bloss  eine  zweifache,  sondern  eine  dreifache 
Betrachtungsweise  möglich.  Erstens  ist  die  logische  Idee  die  Sub- 
stanz der  Natur  wie  des  Geistes,  die  beide  setzt  und  durchdringt. 
Zweitens  ist  die  Natur  die  Wirklichkeit,  an  welcher  auch  die  lo- 
gische Idee  erst  konkrete  Wirküchkeit  gewinnt,  und  durch  welche 
erst  der  Geist  vermittelt  ist.  Drittens  ist  der  Geist  das  Ziel,  um 
dessentwillen  die  logische  Idee  sich  erst  in  den  Prozess  der  Be- 
sonderung  begeben,  die  Natur  gesetzt  hat  Hegel  drückt  das  in 
seiner  Weise  so  aus.  dass  das  Verhältnis  der  drei  Glieder  drei 
Schlüsse  seien,  in  deren  je  einem  je  eines  der  Glieder  die  Mitte 
bilde,  welche  die  anderen  beiden  zusamraenschliesst  (VI,  353 — 354, 
412 — 413;  VII  2,  468 — 469),  Es  geht  daraus  so  viel  hervor,  dass 
Hegel  das  Verhältnis  der  drei  Glieder  des  Absoluten  durchaus 
nicht  als  einen  Prozess  im  zeitlichen  Sinne,  sondern  lediglich  als 
ein  ewiges  logisches  Verhältnis  aufgefasst  wissen  will,  dessen 
Glieder  gegeneinander  (mit  einer  gewissen  Änderung  des  Sinnes 
ihrer  Beziehungen)  vertauschbar  sind.  Dieses  Verhältnis  kann 
demnach  auch  noch  nicht  eigentlich  Entwickelung  genannt  werden, 
da  eine  solche  ohne  zeitlichen  Verlauf  nicht  zu  denken  ist.  — 

In  der  logischen  Idee  selbst  ist  keine  Entwickelung,  denn  es 
ist  keine  Zeit  und  keine  Geschichte  in  ihr.  Der  BegriflF  der  Ent- 
wickelung als  abstrakte  Denkbestimmung  oder  blosse  Möglichkeit 
für  eventuelle  Anwendung  in  der  Welt  hat  in  der  logischen 
Idee  allerdings  seinen  Platz,  aber  doch  auch  nur  in  dem  Sinne, 
dass  die  Selbstbewegung  des  Begriffes  hier  gleichsam  nur  ein 
Spiel  ist,  da  er  in  seiner  Form  Veränderung  bei  sich  selbst  bleibt 
und  nichts  inhaltlich  Neues  hervorbringt  (VI,  317 — 318)*  Hegel 
nennt  die  logische  Idee  zwar  einen  Prozess  (VI,  390),  bemerkt 
aber  selbst,  dass  die  Bewegung  des  Begriffs  nicht  zeitlich  ist 
(VI,  389).    Das  bedeutet  aber  nichts  weiter,  als  den  ewigen  Be- 


228 


Hegel. 


griiF  des  Prozesses  oder  der  Gedankenbewegung  im  ruhenden 
Verhältnis  seiner  Momente  zu  einander,  oder  die  Prädetermination 
der  Art  und  Weise  des  Prozesses  für  den  Fall  seines  wirklichen 
Eintretens.  Anders  ausgedrückt:  wenn  der  menschliche  Geist  die 
logische  Idee  betrachtet  und  sich  ihre  Momente  philosophisch 
klar  machen  will,  kann  er  dies  nur  durch  eine  subjektive  Ge- 
dankenbewegung, oder  einen  Denkprozess.  der  ihre  Momente  in 
einer  Weise  durchläuft,  welche  durch  das  ewige  Verhältnis 
derselben  zu  einander  bestimmt  ist.  Dass  dies  geschieht,  ist 
dann  weiterhin  nichts  Zufälliges i  sondern  im  We^en  des  Geistes 
belegen,  also  auch  im  Wesen  der  Idee,  da  der  Geist  selbst  nur 
die  für  sich  seiende  Idee,  und  die  Idee  nur  der  an  sich  seiende 
Geist  ist  (VII  2,  22,  25). 

In  der  Natur  ist  zwar  zeitliche  Veränderung,  aber  nach  Hegel 
keine  Geschichte  und  darum  auch  keine  Entwickelung  zu  finden. 
Die  Natur  hat  ein  Nebeneinander  verschiedener  Stufen;  aber  die 
Stufen  gehen  nicht  auseinander  hervor,  und  Metamorphose  giebt 
es  nur  im  Individuum  (VII  i,  32 — 35),  Individuum  und  Gattung 
stehen  ganz  wie  bei  Schelling  im  Widerspruch  zu  einander;  nicht 
der  Generationsprozess,  der  w'ieder  nur  ein  Einzelnes  hervor- 
bringt, sondern  nur  der  Tod,  der  das  Individuum  in  die  AJlge- 
meinheit  der  Gattung  wieder  aufhebt,  löst  diesen  Widerspruch 
(Vn  I,  645,  648}.  Das  Sterben  ist  die  Vollendung  des  Einzelnen, 
das  sich  damit  zum  Allgemeinen  macht,  aber  die  Allgemeinheit 
nicht  ertragen  kann,  und  die  Gegensatzlosigkeit  erst  in  der  Ruhe 
des  Todes  erreicht  (VII,  693—694).  Aber  diese  Vernichtung  der^ 
Einzelheit  kann  nicht  ihre  erhaltende  Aufliebung,  nicht  die  ^H 
lebendige  Versöhnung  des  Allgemeinen  und  Einzelnen  hervor- 
bringen, die  sich  im  bewussten  Geist  vollzieht.  Der  dialektische 
Übergang  von  der  Natur  zum  bewussten  Geiste  ist  Hegel  ebenso* 
wenig  gelungen,  wie  der  von  der  logischen  Idee  zur  Natur  (VTI  i, 
694^696;  VII  2,  18).  Das  Sterben  ist  nicht  Erwachen  des  Be- 
wusstseins,  sondern  sein  Wiederlöschen;  das  Bewusstsein  entspringt 
nur  aus  dem  Leben,  nicht  aus  dem  Tode  und  hat  mit  der  Inkon- 
gruenz von  Individuum  und  Gattung  gar  nichts  zu  thun. 

Die  Entwickelung  beginnt  erst  mit  dem  bewussten  Geiste, 
weil  er  allein  nach  Hegel  eine  Geschichte  hat.  Das  ganze  Ge- 
schäft der  Weltgeschichte  ist  die  Arbeit,  den  innersten,  bewusst- 
Tosen   Trieb»    in    welchem    der   vernünftige    Zweck    w^altet,    zum 


Hegel. 


229 


iewusstsein  zu  bringen  (PhiL  d.  Gesch.,  S.  31).  Dies  ge- 
schieht stufenweise  in  der  Entwickelung  des  Individualgeistes, 
der  objektiven  sozialethischen  Institutionen  (Recht,  Staat  u.  s.  w,) 
und  der  Kunst,  Religion  und  Philosophie.  In  der  (ieistes- 
philosophie  allein  ist  also  die  Stätte  des  EntwickelungsbegrifFes 
bei  Hegel,  in  ihr  hat  er  ihn  aber  auch  in  so  glänzender 
Weise  durchgeführt  und  zur  Anerkennung  gebracht»  dass  seit- 
dem die  ganze  Kulturwelt  direkt  oder  indirekt  von  diesen 
Leistungen  des  Hegeischen  Genius  gezehrt  hat.  Die  moderne 
Naturphilosophie  hatte  nur  nötig,  den  Entwickelungsbegriff  auch 
auf  das  Gebiet  der  Natur  zu  übertragen.  Wenn  in  der  Geistes- 
geschichte alle,  Entwickelung  auf  einer  Erhebung  des  anfänglich 
Bewusstlosen  zum  Bewusstsein  beruht,  so  tritt  die  Entwickelung 
der  Natur  aus  bewusstlosen  Stufen  zu  solchen,  die  dem  bewussten 
Geist  als  Grundlage  dienen  können,  nun  mit  in  diesen  allgemeinen 
Entwickelungsprozess  ein.  In  diesem  Sinne  ist  auch  die  Hegel- 
sche  Philosophie  Philosophie  des  Unbewussten,  und  der  nächste 
Entwickelungsschritt  der  Geschichte  der  Philosophie  musste  darin 
bestehen,  die^e  unbewusste  Philosophie  des  Unbewussten  zur  be- 
wussten Philosophie  des  Unbewussten  zu  erheben.  — 

Wenn  nun  die  logische  Idee  das  genetische  Princip  ist,  aus 
dem  durch  Antithese  die  Natur  und  durch  Synthese  der  Geist 
entspringt,  so  kommt  es  vor  allem  darauf  an,  die  logische  Idee 
richtig  aufzufassen  und  zu  begreifen,  und  auf  diese  Leistung  ist 
auch  Hegel  besonders  stolz.  Die  logische  Idee  muss  die  Möglich- 
keit der  Natur  imd  des  Geistes  nach  allen  wesentlichen  Denkbe- 
stimmungen der  beiden  letzteren  in  sich  tragen,  aber  auch  wieder 
nicht  mehr  als  ihre  blosse  Möglichkeit,  ihr  Ansich  oder  ihren  Be- 
griflf  in  der  Sphäre  des  reinen,  und  zwar  unbewussten  Gedankens* 
Sie  nnuss  also  Natur  und  Geist  gleichsam  ideell  antizipieren,  oder 
in  einem  reinen  Gedankenbilde  prädeterminieren,  das  seine  Ver- 
wirklichung erst  dann  findet,  wenn  die  logische  Idee  Uire  Sphäre 
verlässt  und  sich  ins  Anderssein  stürzt,  um  sich  als  bewussten 
Geist  zu  sich  zurückzunehmen. 

Die  logische  Idee  selbst  braucht  in  dieser  Sphäre  der  logischen 
Möglichkeit  nicht  mit  abgespiegelt  zu  werden;  sie  kann  es  nicht 
einmal,  weil  sie  selbst  diese  ganze  Sphäre  ist,  d.  h.  der  Spiegel, 
der  alles  abspiegeln  kann,  nur  sich  selbst  nicht  Die  logische 
Idee  müsste  also  eigentlich  eine  blosse  Zweiteilung  zeigen  in  die 


230 


Hegel. 


Möglichkeit  oder  das  Aosich  der  Natur,  wie  sie  sich  ohne  Rück- 
sicht auf  den  sie  betrachtenden  Geist  darstellt  und  in  die  Mög- 
lichkeit des  Geistes.  Der  Geist  zerfällt  aber  nach  Hegel  in  end- 
lichen und  absoluten  Geist;  die  beliebte  Dreiteilung  wird  also 
wiederhergestellt,  wenn  die  logische  Idee  in  das  Ansich  der  Na- 
tur, das  Ansich  des  endlichen  Geistes  und  das  Ansich  des  ab- 
soluten Geistes  gegliedert  wird,  Hegel  nennt  diese  drei  Teile 
der  Logik  die  Lehre  vom  Sein,  Wesen  und  BegriflF.  Da  er  in 
dem  dritten  Teil  die  Lehre  von  Begriff,  Urteil  und  Schluss  be- 
handelt, so  nennt  er  ihn  auch  die  subjektive  Logik.  Dies  ist  aber 
ungenau  und  irreleitend,  weil  nur  der  erste  Abschnitt  des  dritten 
Teils  sich  mit  Begriff,  Urteil  und  Schluss  beschäftigt,  und  oben- 
ein sogar  es  sich  zur  Aufgabe  setzt  zu  zeigen,  dass  diese  logischen 
Formen  nicht  bloss  subjektive  Denkformen,  sondern  zugleich  die 
Formen  sind,  in  denen  das  absolute  Denken  und  damit  auch  das 
wirkliche  Geschehen  in  der  Welt  sich  vollzieht,  Demgemäss  passt 
auch  die  Zusammenfassung  der  beiden  ersten  Teile  unter  den 
Namen  objektive  Logik  gar  nicht  Hegels  ganze  Logik  ist  durch 
und  durch  objektiv,  ohne  darum  die  Subjektivität  einzubüssen.  Sie 
ist  Logologie,  d.  h.  Lehre  vom  Logos  oder  vom  Logischen,  das 
sich  sowohl  in  der  Objekti\dtät  wie  in  der  Subjektivität  offenbart, 
oder  Kategorienlehre  (VI,  S.  Xlll — XIV)  ^  d*  h,  Lehre  von  den 
Kategorien  oder  Formen  oder  Denkbestimmungen,  in  welchen  das 
Logische  sowohl  im  Okjektiven  als  auch  im  Subjektiven  sich 
offenbart. 

Wie  die  Natur  die  seiende  Idee  (VI,  414),  so  ist  das  Sein  die 
Idee  der  Natur,  oder  die  Sphäre  des  Seins  in  der  logischen  Idee 
ist  das  Ansich  der  Natur,  wenn  sie  in  ihrer  Unmittelbarkeit  ge* 
nommen  wird,  wie  sie  als  gegeben  vom  Bewusstsein  vorge- 
funden wird. 

Das  Wesen  ist  zunächst  das  Ansich  des  endlichen  Geistes, 
das  Innere,  welches  sich  selbst  noch  unbewusst  ist,  aber  doch 
schon  im  Gegensatz  steht  zu  dem  äusseren  Schein,  den  es  aus 
sich  heraussetzt  und  diesen  auf  sich  als  seine  Erscheinung  bezieht 
Das  Wesen  ist  so  zwar  noch  nicht  Fürsichsein  (Selbstbewusstsein)» 
aber  Insichsein  (VI,  223,  228);  als  Identität  mit  sich  im  Gegen- 
satz zu  der  Mannigfaltigkeit  seiner  Erscheinungen  (VI»  229)  und 
als  Idealität  im  Gegensatz  zu  der  Realität  seiner  Erscheinungen 
(VI,  231)  ist  es  die  Möglichkeit  oder  das  Ansich  oder  die  Form  des 


I 


H^el. 


231 


'^ch  und  damit  des  endlichen  Geistes  (VI,  232;  VII  2,  247).  Als 
Ich,  d.  h.  als  endlicher  Geist,  ist  der  Geist  Wesen  (VII  2,  252). 
Erst  mittelbar  wird  der  Begriff  des  Wesens  vom  eigenen  Ich  auch 
Inf  andere  Gegenstände  übertragen;  indem  sie  auf  eine  dem  Ich 
gleiche  Weise  bestimmt  werden  (VII  2.  264),  wird  auch  an  ihnen 
eine  äussere  Erscheinung  und  ein  inneres  Wesen  unterschieden. 
Wenn  es  der  Wesen  so  viele  giebt,  wie  es  in  sich  reflektierte 
Existenzen  (VI,  250),  d,  h,  Ichs  oder  als  Ichs  aufgefasste  Gegen- 
stände, giebt,  so  giebt  es  doch  nur  Einen  Begriff,  welcher  das 
Princip  des  Lebens,  die  unendliche  schöpferische  Form,  welche 
die  Fülle  alles  Inhalts,  alles  Sein  und  alle  Wesen  in  sich  beschliesst 
und  zugleich  aus  sich  entlässt  (VI,  324,  315 — 316,  312),  Er  ist 
das  schlechthin  Konkrete,  das  Subjekt  als  solches,  das  punctum 
saliens  aller  Lebendigkeit  (VI,  324,  328),  Er  ist  das  Verstehen 
seiner  selbst  und  der  begrifflosen  Gestalt  (VI,  S.  XXVIIIJ  und 
damit  das  an  und  für  sich  Seiende,  wie  das  an  und  für  sich 
Seieode  nichts  anderes  als  gewusster  Begriff  ist  (III,  35).  Was 
in  uns  denkt,  sind  nicht  wir,  sondern  der  Begriff,  und  was  von 
uns  gedacht  wird,  die  Gegenstände,  sind,  was  sie  sind,  nur  durch 
die  Thätigkeit  des  ihnen  innewohnenden  und  in  ihnen  sich 
offenbarenden  Begriffs  (VI,  322—323).  So  ist  der  Begriff  das 
Ansich  oder  die  Möglichkeit  des  absoluten  Gebtes  oder  des  Be- 
wusstseins  von  der  Einheit  des  Subjekts  und  Objekts.  — 

Hegel  versteht  dabei  unter  Begriff  nicht  die  durch  Abstrak- 
tion vom  Besonderen  entstandene  allgemeine  Vorstellung,  die  er 
als  hohlen  und  leeren  Schemen  und  Schatten  verachtet,  sondern 
das  sich  selbst  spezifizierende  konkret  Allgemeine  (VI,  321,  324), 
das  gleich  dem  unendlichen  oder  ewigen  Begriff  Schellings  die 
Einheit  des  Allgemeinen,  Besonderen  und  Einzelnen  darstellt 
(VI,  323).  Der  spekulative  Hegeische  Begriff  verhält  sich  zu  den 
endlichen  Kategorien  und  einseitigen  Abstraktionen  des  verständigen 
Denkens  wie  bei  'Homer  die  Sprache  der  Götter  zu  der  der  Men- 
schen (VI,  S.  XVI}.  Der  Hegeische  Begriff  ist  mit  anderen  Worten 
das  logische  Formalprincip  selbst  in  seiner  dialektischen  Bethäti- 
gung,  während  die  logische  Idee  der  synthetische  Inhalt  ist,  der  durch 
diese  Bethätigung  des  Begriffs  bis  zu  dem  Umschlag  in  die  Natur 
gewonnen  wird.  Schelling  macht  diesen  Unterschied  zwischen 
dem  sich  bethäügenden  logischen  Formalprincip  und  der  erfüllten 
logischen  Idee    noch    nicht,    sondern  setzt  die  Ausdrücke  unend- 


232 


Hegel. 


licher,  ewiger  Begriff  und  Idee  einander  gleich.  Wenn  die  kon- 
krete  Idee  auch  nach  Hegel  nur  die  in  Natur  und  Geist  ver- 
wirklichte Idee  ist,  und  die  rein  logische  Idee  nur  den  Inbegriff 
der  möglichen  Denkbestimmungen  darstellt,  in  welche  der  BegriflF 
oder  das  logische  Formalprincip  sich  in  der  konkreten  Welt- 
idee entfaltet,  dann  erscheint  die  inhaltlich  erfüllte  logische 
Idee  im  Stadium  der  blossen  Möglichkeit  lediglich  als  eine 
Zwischenstufe  unseres  bewussten  Denkens,  das  sich  durch  ihre 
Einschiebung  das  Verständnis  des  Zusammenhanges  zwischen  dem 
logischen  Formalprincip  und  der  konkreten  Weltidee  erleichtern 
will.  In  Wahrheit  ist  auch  nach  Hegel  die  logische  Idee  nichts 
weiter  als  das  logische  Netz  von  Kategorien,  in  welches  das 
logische  Formalprincip  bei  seiner  Entfaltung  zur  konkreten  Welt- 
idee deren  konkreten  Inhalt  einspannt,  hat  aber  nirgends  eine 
selbständige  Existenz. 

Der  Begriff  ist  dann  zu  verstehen  als  das  in  Natur  und  Geist 
unbewusst  thätige  logische  Formalprincip,  wie  die  logische  Idee 
als  das  dem  Wcltinhalt  unbewusst  immanente  System  der 
Kategorien.  So  verstanden,  als  unbewusstes  Princip  der  unbe- 
wussten  kategorialen  Intellektualfunktionen  in  Natur  und  Geist, 
kann  man  den  Begriff  mit  Recht  das  konkret  Allgemeine  nennen. 
Aber  so  geht  er  nicht  in  irgend  welches  Bewusstsein  ein.  Wenn 
das  subjektive  individuelle  Denken  sich  des  Systems  der  Kate- 
gorien und  des  sich  zu  ihnen  spezifizierenden  logischen  Formal- 
princips  bewusst  werden  will,  bleibt  ihm  nur  der  Weg  der  Ab- 
straktion und  Induktion,  auf  dem  es  zuerst  die  einzelnen  Kate- 
gorien aus  den  konkreten  Anschauungen  herausschält  und  von 
dem  System  der  Kategorien  zu  dem  logischen  Formalprincip  als 
ihrem  genetischen  Prius  aufsteigt.  Wenn  wir  mit  unserem  Be- 
wusstsein das  sich  spezifizierende  konkret  Allgemeine  denken 
wollen,  so  können  wir  es  nur  in  der  Form  eines  abstrakt  iVllge- 
meinen,  Was  als  unbewusst  produktives  Princip  mit  intellektueller 
Anschauung  denkt,  das  kann  vom  Bewusstsein  nur  als  ein  von 
der  sinnlichen  Anschauung  abstraliierter  Begriff  reproduziert 
werden. 

Alles  dies  verkennt  Hegel  vollständig  und  hält  dagegen  mit 
Kant,  Fichte  und  Schellin g  an  dem  Irrtum  fest,  als  ob  das  Be- 
wusstsein die  unbewussten,  intuitiv  intellektuellen,  logischen  Pro- 
duktionsvorgänge unmittelbar  beobachten  könnte.     Was  bei  seinen 


Hegel 


233 


Vorgängern  unkritischer  Glaube  gewesen  war,  das  wird  bei  ihm 
grundsätzliches  Postulat,  nämlich  die  Identität  des  bewussten 
und  unbewussten,  subjektiven  und  absoluten,  individuellen  und 
universellen  Denkens;  denn  sie  ist  von  ihm,  wie  oben  gezeigt, 
als  unentbehrliche  Voraussetzung  der  Möglichkeit  des  Panlogis- 
mus  begriffen  worden.  Thatsächlich  sind  aber  auch  bei  Hegel  alle 
Bestimmungen,  die  in  der  logischen  Idee  vorkommen,  sowohl  in- 
haltlich aus  seiner  empirischen  Kenntnis  der  Natur  und  des 
Geistes  geschöpft,  als  auch  bestehen  sie  formell  in  mehr  oder 
minder  abstrakten  Begriffen.  Sein  Vorgeben,  dass  in  seiner  Logik 
die  Begriffe  selbst  einander  hervorbringen,  oder  dass  der  Begriff 
sich  selbst  vom  leersten  unbestimmtesten  Sein  bis  zur  Fülle  der 
logischen  Idee  entwickelt,  ist  offenbare  Selbsttäuscliung.  Auch 
sein  Mühlwerk  fördert  genau  nur  so  viel  Mehl  zu  Tage,  wie  Korn 
aufgeschüttet  ist,  und  wenn  es  leer  ginge,  so  würde  es  aus 
seinem  Räderwerk  niemals  das  kleinste  Stäubchen  Mehl  hervor- 
bringen, und  wenn  es  noch  so  sehr  im  Takte  klapperte.  — 

Die  Logik  beginnt  mit  dem  Sein,  worunter  Hegel  die  ganz 
abstrakte,  unmittelbare  Realität,  d,  h.  etwas  schlechthin  Objektives, 
Leibliches,  Ungeistiges»  Natürliches  versteht  (VII  2,  33,  200,  210)* 
Es  ist  zwar  auch  so  noch  ein  Moment  des  Begriffes  (VI,  312),  das 
sich  gegenständlich  gewordene  reine  Denken  (VI,  168),  oder 
reiner  Gedanke  (VI,  166),  aber  nicht  die  Aufhebung  aller  Be- 
stimmtheit, sondern  die  Bestimmuogslosigkeit  vor  aller  Bestimmt- 
heit als  Allererstes  (VI,  166).  Dieser  Begriff  ist  die  materia  prima  des 
Aristoteles  und  Plotin,  oder  der  bestimm  imgslose  Stoff  der  Natur, 
wenn  man  von  ihm  noch  die  beiden  Bestimmimgen  des  in  allem 
Wechsel  Beharrenden  und  des  gegen  die  Form  Passiven  abzieht 
(VI,  167;  IV,  83).  Was  dann  übrig  bleibt,  ist  der  reine  Begriff  des 
Gegenstandes,  dem  alle  Bestimmtheiten  und  Beziehungen  abge- 
streift sind,  d,  h.  das  Kantsche  Ding  an  sich  als  negativer 
Grenzbegriff  (VI,  257).  Unter  Ding  versteht  Hegel  ebenso  wie 
SchelUng  ein  nach  sinnlichen  Verhältnissen  Bestimmtes,  Natür- 
liches und  (körperlich  und  stofflich)  Seiendes  (VII  2,  50,  199);  ein 
solches  ist»  was  es  ist,  natürlich  nur  durch  seine  Beziehungen  zu 
anderen,  und  wenn  ihm  diese  geraubt  werden,  so  ist  es  gleich 
Nichts  (VI,  16S;  IV,  131;  III,  127).  Ohne  Zweifel  ist  der  antike 
Begriff  des  Stoffes  ebenso  wie  der  Kantsche  negative  Grenzbegriff 
des  beziehungslosen    Dinges   an    sich   gleich    Nichts,  weil    beide 


widerspruchsvoll  gebildete  Unbegriffe  sind  und  unmögliche 
Denkaufgaben  stellen.  Der  Widerspruch  steckt  somit  schon  im 
Ausgangspunkte»  und  er  muss  es,  indem  dieser  Ausgangspunkt 
nur  die  letzte  abstrakteste  Verflüchtigung  des  NaturbegrifiFes  ist, 
der  selbst  die  dem  Logischen  widersprechende  Form  des  Anders- 
seins an  sich  hat  Indem  Hegel  von  dem  Sein  ausgeht,  geht  er 
von  der  Kontraposition  aus,  die  das  Denken  nach  panlogistischer 
Auffassung  sich  selbst  gesetzt  hat  Ohne  das  Unlogische  schon 
im  Ausgangspunkt  vorauszusetzen,  würde  die  logische  Entwicke- 
lung  keinen  einzigen  Schritt  thun  können. 

Wäre  bloss  das  Nichts,  so  könnte  dieses  ruhig  bei  sich  be- 
harren; wäre  das  Sein  als  ein  nicht  unlogisches,  als  ein  in  sich 
widerspruchsloses  gegeben,  so  hätte  es  gleichfalls  keinen  Grund, 
aus  sich  herauszuschreiten.  Nur  weil  das  Sein  als  ein  den 
Widerspruch  in  sich  einschliessendes,  unlogisches  gegeben  ist, 
wird  dieser  Widerspruch  zum  Trieb  des  Fortschrittes  (VI,  170). 
Denn  dieser  Widerspruch  ist  die  Unruhe  in  sich  (VI,  175).  das 
durchaus  Rastlose,  ein  Feuer,  welches  in  sich  erhscht,  indem  es 
sein  Material  verzehrt  (VI,  177).  So  erweist  sich  das  unlogische 
Sein  als  Werden  und  Vergehen;  das  Werden  ist  das  Unlogische 
am  Sein,  das  nun,  aus  dem  Sein  herausgetreten  und  sozusagen 
abdestilliert  ist,  das  Gegenteil  des  logischen  Gesetzes  der  Identität 
Es  liegt  hierin  die  richtige  Erkenntnis,  dass  die  Veränderung 
einseitig  logisch  nicht  zu  erklären  ist,  sondern  als  etwas  Un- 
logisches auf  ein  Unlogisches  zurückgeführt  werden  muss.  — 

Wie  nun  aus  dieser  rastlosen  Unruhe  auch  nur  der  flüchtige 
Schein  eines  relativ  beständigen  Daseins  entspringen  soll,  hat  Hegel 
nicht  deutlich  zu  machen  vermocht.  Das  unerschöpfliche  Material 
des  Entstehenden  müsste  zu  einem  unerschöpflichen  Vergehen 
führen,  ohne  dass  es  in  dieser  Unruhe  auch  nur  zu  dem  kleinsten 
Ruhepünkte  eines  Resultates  käme.  Aber  das  Dasein  ist  einmal 
in  der  unlogischen  Natur  empyisch  gegeben ,  und  darum  muss 
auch  sein  Begriff  in  der  Entwickelung  der  logischen  Idee  vor- 
kommen. —  Bei  jedem  weiteren  Fortschritt  der  Logik  handelt  es 
sich  wieder  um  ein  Hereinziehen  des  Unlogischen,  durch  das 
allein  der  Prozess  im  Gange  erhalten  wird.  Wie  das  Sein  die 
erste  noch  ganz  un bestmimte  Weisse  der  Realität  ist,  so  bedeutet 
Realität  im  engeren  Sinne  bei  Hegel  die  Bestimmtheit  des  Seins, 
und  diese  ist  auch  ihm  eine  viertache.    Das  Dasein  ist  die  Realität 


Hegel. 


235 


in  der  logischen  Sphäre  des  Seins,  die  Existenz  in  der  des 
Wesens»  die  Objektivität  in  der  des  Begriifes  und  die  konkrete 
Wirklichkeit  der  Natur  und  des  Geistes  ist  die  ReaHtät  in  der 
antithetischen  Sphäre  des  Andersseins  und  der  synthetischen 
Sphäre  des  Beisichseins  (V.  240,  66,  172 — 177).  In  jeder  der  drei 
Sphären  der  Logik  muss  der  Begriff  sich  genau  so  in  sein  Ge- 
genteil stürzen,  wie  die  logische  Idee  es  beim  Übergang  in  die 
Natur  thut;  denn  nur  auf  diesem  Wege  kann  die  logische  Idee 
das  Abbild  oder  abstrakte  Urbild  der  wirklichen  Welt  geben,  und 
damit  ihre  Möglichkeit  oder  ihr  Ansich  darstellen.  —  Die  Natur  ist 
auf  allen  drei  Stufen  der  Hegeischen  Logik  Gegenstand  der  Be- 
trachtung.  Auf  der  ersten  stellt  sie  sich  dar,  wie  sie  unmittelbar 
gegeben  ist,  bevor  die  Reflexion  sich  mit  ihr  beschäftigt  hat, 
d  h.  als  blosses  Sein;  auf  der  zweiten  so.  wie  die  denkende  Re- 
flexion sie  nach  Analogie  des  endlichen  Geistes  auffasst,  d.  h.  als 
Gegensatz  und  Einheit  von  Wesen  und  Erscheinung;  auf  der 
dritten  Stufe  so  wie  die  spekulative  Vernunft  sie  auffassen  muss, 
d,  h,  als  objektiv  gewordener  Begriff.  Wie  das  Denken,  um  zu 
einem  Ausgangspunkte  der  dialektischen  Entwickelung  zu  ge- 
langen, sich  zunächst  in  das  unbestimmte  gegenständliche  Sein 
stürzen  und  von  da  zum  Werden  und  Dasein  fortgehen  muss, 
so  muss  das  innerliche  ideale  Wesen  sich  in  die  phänomenale 
Existenz  entäussern,  um  als  Wirklichkeit  zur  Einheit  des  Wesens 
und  der  Existenz  zu  gelangen,  so  muss  der  Begriff  aus  der  ihm 
zunächst  eignen  Subjektivität  in  die  Objektivität  umschlagen,  um 
sich  als  logische  Idee  zu  sich  zurückzunehmen,  die  in  der  Einheit 
des  Begriffes  und  seiner  Objektivität  besteht.  Diese  drei  Über- 
gänge des  Logischen  ins  Unlogische,  des  Idealen  ins  Reale,  des 
Subjektiven  ins  Objektive,  sind  doch  nur  ebensoviele  Abspiege- 
lungen oder  abstrakte  Antizipationen  des  Überganges  der  logischen 
Idee  in  die  unlogische  Natur.  Sie  sollen  die  Schroffheit  dieses 
letzten  Überganges  mildern  und  auf  ihn  vorbereiten,  indem  sie  all- 
mählich von  Stufe  zu  Stufe  an  den  Umschlag  des  Logischen  in 
sein  Gegenteil  in  abstrakterer  Gestalt  gewöhnen.  Aber  sie  hätten 
gar  keine  Berechtigung,  wenn  sie  eine  solche  nicht  aus  dem  Um- 
schlag der  Idee  in  die  Natur  schöpften,  indem  sie  diese  in  die 
Sphäre  des  reinen  Gedankens  und  der  blossen  vorwegnehmenden 
MögHchkeit  zurückprojizieren.  Ist  jener  entscheidende  Schritt  von 
der  logischen  Idee  zur    unlogischen  Natur  im  Rahmen    des  Pan- 


logismus  unmöglich,  dann  sind  es  auch  alle  seine  abstrakten 
Widerspiegelungen.  Das  Unmögliche  wird  dadurch  nicht  mög- 
licher, dass  man  es  dem  Denken  allmählich  und  stufenweise  mund- 
gerecht zu  machen  sucht 

Bei  keinem  einzigen  Schritt  der  Hegeischen  Logik  ist  mehr 
geleistet  als  eine  geschickte  oder  ungeschickte  Sophistik,  Nirgends 
wird  ein  Beispiel  von  einem  Begriffe  gezeigt,  der»  wenn  richtig 
gebildet,  die  Tendenz  hätte,  in  einen  anderen  umzuschlagen,  und 
die  Identität  mit  sich  selbst  zu  Gunsten  einer  dialektischen 
Flüssigkeit  verleugnete.  Nirgends  wird  aus  dem  Widerspruch, 
der  sich  bei  solchem  Umschlagen  ergiebt,  ein  Fortschritt  zu  begriff- 
lich höherer  Stufe  wirklich  abgeleitet  Überall  wird  der  neue  Begriff 
willkürlich  aufgenommen  und  durch  künsthche  Beziehungen  an- 
geknüpft, die  zum  Teil  äusserst  lose  sind;  überall  ist  das  Ziel,  auf 
welches  der  Philosoph  den  Leser  hinführen  will,  nämlich  die  lo- 
gische Idee  mit  dem  Zweck  des  Bewiisstwerdens,  das  geheime  Motiv, 
welches  die  Auslese  der  hervorgezogenen  Begriffe  regelt,  sowohl 
beim  Umschlag  als  auch  bei  dem  Fortgang  zu  höherer  Stufe.— 

Hegels    Kategorienlehre    ist  nun  folgen  de  rmassen    geordnet: 

I.  Die  Lehre  vom  Sein. 

A.  Qualität  {Sein,  Dasein,  Fürsichsein). 

B.  Quantität  (Reine  Quantität,  Quantum,  Grad). 

C.  Mass. 

n.  Die  Lehre  vom  Wesen, 
A*  Grund  {die  reinen  Reflexionsbcstimmiingen,  Existenz,  Ding), 

B.  Erscheinung  (Welt  der  Erscheinung,  Inhalt  und  Form,  Ver- 
hältnis). 

C,  Wirklichkeit  {Substaotialität,    Kausalität,  Wechselwirkung), 

III.  Die  Lehre  vom  Begriff 

A.  Subjektiver  Begriff  {Begriff,  Urteil,  Schluss). 

B.  Objekt  (Mechanismus,  Chemismus,  Teleologic). 
C  Idee  (Leben,  Erkennen,  absolute  Idee). 

Das  aus  dem  Werden  hervorgegangene  Dasein  ist  endliches 
bestimmtes,  qualitativ  und  quantitativ  begrenztes  Sein,  also  endliches 
Sein,  i^  Wer  gegen  das  Endliche  zu  ekel  ist,  der  kömmt  zu  gar  keiner 
Wirklichkeit,  sondern  er  verbleibt  im  Abstrakten  und  verglimmt  in 
sich  selbst«  (VI,   182).    Alles  Endliche  hat  ein  Anderes  sich  gegen- 


Hegel. 


m 


und  dieses  Andere  ebenso  bis  ins  Unendliche;  diese  Un- 
endlichkeit des  Fortschreitens  von  einem  zum  anderen  verwirft 
aber  Hegel  ebenso  wie  Schelling  als  die  schlechte  Unendlichkeit, 
und  setzt  ihr  als  die  wahre  ein  sich  Zurückziehen  in  die  Idea- 
lität des  Fürsichseins  entgegen,  welche  eben  dadurch  über  quali- 
tative und  quantitative  Begrenztheit  und  Grenzenlosigkeit  zugleich 
hinaus  ist  Dass  dieses  wahre  Unendliche  auch  über  jede  be- 
griffliche und  ideelle  Bestimmtheit  hinaus  sei,  ist  nicht  Hegels 
Meinung;  aber  jede  begriffliche  Bestimmtheit  gilt  ihm  bloss  als 
logisches  oder  dialektisches  Moment  des  Einen  absoluten  Begriffs 
und  hat  nur  als  solches  Wahrheit,  wie  nach  Schelling  alle  Sonder- 
ideen nur  als  Momente  der  Einen  absoluten  Idee  Wahrheit  haben. 

Das  Fürsichsein  antizipiert  schon  auf  der  Stufe  des  Seins 
den  endlichen  Geist,  das  Ich  (VI,  189),  soll  aber  hier  nur  dazu 
dienen,  um  zu  der  Kantschen  Konstruktion  der  Materie  aus  Ab- 
stossung  und  Anziehung  eine  spekulative  Grundlage  zu  gewinnen, 
von  der  sie  deduziert  werden  kann  (VI,  194).  Die  Selbst- 
unterscheidung des  für  sich  seienden  Einen  von  den  anderen 
soll  zugleich  Repulsion  des  Eins,  und  diese  wieder  das  Setzen 
vieler  Eins  sein.  Andererseits  soll  die  begriffliche  Einerleiheit 
der  numerisch  verschiedenen  Eins  zugleich  ihre  gegenseitige 
Anziehung  sein.  Durch  diese  Vermittelung  soll  die  Qualität  die  im 
Eins  ihren  Abschluss  erreicht  hat,  in  die  Vielheit  der  einander  ab- 
stossenden  und  anziehenden  Eins,  d*  h.  in  die  Quantität  übergegan- 
gen sein  (VI,  192,  196).  Hegel  giebt  von  diesem  Übergange,  wie 
von  allen  anderen,  die  er  nur  durch  dialektische  Sophistik  er- 
zwingt, bereitwillig  zu,  dass  er  sich  nicht  in  unserem  gewöhn- 
lichen Bewusstsein  findet  (VI,  197),  Selbst  wenn  man  mit  Hegel 
alles  natürliche  Sein  und  Dasein  auf  Bewusstseinsinhalt  zurück- 
führt, so  wird  seine  irrtümliche  Behauptung,  wenn  auch  minder 
paradox,  doch  immer  noch  nicht  beweisbar.  Wenn  man  aber 
unter  dem  Dasein  gerade  die  Sphäre  ausserhalb  und  jenseits  des 
Bewusstseins,  die  auseinandergefallene  und  noch  nicht  zum 
Bewusstsein  gelangte  Idee  versteht,  dann  kommt  die  Qualität  in 
ihr  überhaupt  nicht  vor,  da  dieselbe  erst  mit  der  Entstehung  der 
sinnlichen  Empfindung  als  Inhalt  eines  Bewusstseins  auftritt. 

Unter  Quantität  versteht  Hegel  diejenige  gleichgültige, 
äusserliche  Bestimmtheit,  bei  deren  Veränderung  ein  Ding  doch 
bleibt  was  es  ist  (VI,  196).    Gewiss  bleibt  ein  Vorstellungsobjekt 


Hcg«L 

trotz  quantitativer  Veränderung  in  qualitativer  Hinsicht  das.  was 
es  ist;  aber  ebenso  bleibt  es  trotz  qualitativer  Veränderung  in 
quantitativer  Hinsicht  das,  was  es  ist.  Gleichg-ültig  für  seinen 
Bestand  sind  sowohl  qualitative  wie  quantitative  Veränderungen 
nur  innerhalb  gewisser  Grenzen;  darin  hat  also  keine  der  beiden 
Bestimmungen  etwas  vor  der  anderen  voraus.  Die  herkömm- 
liche Unterscheidung  der  Quantität  in  eine  intensive  und  exten- 
sive behält  Hegel  bei;  aber  das  reine  Quantum  oder  die  Zahl, 
die  er  beiden  vorangeschickt,  ist  weiter  nichts  als  das  quanti- 
tative Verhältnis  zweier  Quanta,  und  das  Mass  ist  nicht  aus  ihr 
zu  entwickeln,  sondern  geht  ihr  (als  dasjenige  Quantum,  womit 
das  andere  verglichen  wird)  voran.  Jedes  zum  Messen  dienende 
Mass  ist  ein  qualitatives  Quantum,  aber  nicht  jedes  qualitative 
Quantum  wird  als  Mass  benutzt,  wenn  es  auch  fähig  ist»  dazu 
benutzt  zu  werden,  Hegel  spielt  mit  einem  Doppelsinn  des 
Wortes  Mass  als  Massstab  oder  Masseinheit  und  als  bestimmte, 
typische  Grösse  der  Abmessungen  und  der  Kraft,  die  beide 
gar  nichts  mit  einander  zu  thun  haben,  und  zwischen  denen  es 
keinen  dialektischen  Übergang  giebt.  Nur  der  letztere  Begriff 
giebt  ihm  die  Anknüpfung,  um  zur  innerlichen  Bestimmtheit  des 
Wesens  einen  Übergang  zu  gewinnen.  — 

Die  Refiexionsbestimmungen  der  Gleichlieit  und  des  Unter- 
schiedes, der  Identität  und  des  Gegensatzes  werden  von  Hegel 
zwar  schon  in  der  Sphäre  des  Seins  bei  jedem  einzelnen  dialek-' 
tischen  Schritte  benutzt,  aber  erst  in  der  des  Wesens  ausdrücklich 
erörtert,  anknüpfend  an  die  Identität  des  Wesens  mit  sieh  und 
die  Unterscheidung  seiner  selbst  (als  des  Wesens  oder  Wesent- 
lichen) von  dem  Gegensatz  seiner  selbst  (d,  h*  dem  Schein  oder 
dem  Unwesentlichen).  Auch  die  Steigerung  des  Unterschiedes 
zum  polarischen  Gegensatze  gehört  nicht  bloss  der  Sphäre  des 
Wesens  an,  sondern  ist  bereits  in  der  des  Seins  (z,  B,  in  An- 
ziehung und  Abstossung)  aufgetreten. 

Wenn  nun  der  Grund  als  die  Einheit  der  Identität  imd  des  i 
Unterschiedes  erklärt  und  so  aus  diesen  Reflexionsbestimmungen J 
abgeleitet  wird,  so  lässt  sich  dabei  gar  nichts  denken.  Die  Ver- 
wechselung von  logischem  Erkenntnisgrimd  und  genetischem 
Realgrund  geht  durch  die  ganze  Hegeische  Philosophie  hindurch, 
und  ist  hier  nicht  Versehen,  sondern  Absicht,  um  sich  das  dialek- 
tische   Spiel    mit  der  Vertauschung   des   Prius   und   Posterius   in 


Hegel. 


539 


Natur  und  Erkenntnis  offen  zu  halten.  Wenn  aber  das  Wesen 
als  der  innere  Grund  der  phänomenalen  Existenz  bestimmt  wird, 
SD  kann  damit  offenbar  nur  der  genetische  Realgrund  gemeint 
sein.  Dieser  kann  und  muss  für  die  Erkenntnis  allerdings  etwas 
Vermitteltes  sein,  aber  doch  nur  insofern  aus  der  wahrgenommenen 
Erscheinung  auf  ihn  zurückgeschlossen  wird,  nicht  in  dem  Sinne, 
als  ob  er  aus  abstrakten  Reflektionsbestimmungen  deduziert  werden 
könnte.  Freilich  darf  der  aus  der  Erscheinung  erschlossene  Grund 
sich  nicht  darauf  beschränken,  das  in  der  Erscheinung  Gesetzte 
noch  einmal  unter  dem  Namen  eines  Grundes,  eines  materiellen 
Fluidums,  oder  einer  spezifischen  Kraft  zu  setzen,  denn  dann  sinkt 
das  Begründen  zur  leeren,  unfruchtbaren  Tautologie  und  der  Grund 
zum  hohlen  Scheingrund,  zu  blossen  Fiktionen  des  Verstandes 
herab  {VI,  246,  255 — 256»  270).  Aber  die  Synthese  zweier  abstrak- 
ter Begriffe,  wie  Identität  und  Unterschied,  mag  sie  nun  vollzieh- 
bar sein  oder  nicht,  bringt  es  nicht  einmal  zum  Scheingrund,  ge- 
schweige denn  zu  einem  echten  Grund,  sondern  bleibt  immer  Be- 
griffsverknüpfung. Das  Wortspiel,  dass  in  der  Synthese  die  ein- 
seitigen Gegensätze  zu  Grunde  gehen  {VI,  243),  hilft  hier  nichts, 
w*eil  die  Sprache  beim  zu  Grunde  gehen  keineswegs  auf  den 
Wesensgrund,  sondern  auf  den  Meeresgrund  abzielt,  auf  weichen 
die  untergehenden  Schiffe  hinabsinken. 

Grund  ist  das  Wesen  nur,  insofern  es  Grund  von  etwas,  von 
einem  anderen  ist,  das  aus  ihm  hervorgeht  (VI,  243,  250). 
Merkwürdigerweise  schliesst  aber  Hegel  dabei  jede  hervor- 
bringende Thätigkeit  des  Grundes  aus  und  fasst  den  Grund  zu- 
nächst als  völlig  passiven  Mutterschoss  des  Entstehens  auf,  um 
ihn  von  der  später  erst  hinzuzufügenden  Bestimmung  der  Kraft 
zu  unterscheiden;  ja,  er  spricht  ihm  sogar  vorläufig  jede  inhaltliche 
Bestimmtheit  ab,  unbekümmert  darum,  dass  damit  jede  Möglich- 
keit aufhört,  eine  bestimmte  Folge  aus  ihm  abzuleiten  (VI,  250). 
So  schrumpft  der  Grund  zum  Ding  an  sich  zusammen,  dass  sich 
mit  dem  den  Raum  durch  seine  Existenz  lückenlos  füllenden  Stoffe 
deckt  (VI,  252,  257,  259},  Alle  Bestimmtheit  der  Existenz  fällt 
bei  dieser  Auffassung  auf  die  Seite  der  Erscheinung.  Dadurch, 
dass  es  das  Wesen  ist,  welches  existiert,  ist  die  Existenz  Er- 
scheinung; die  Erscheinung  ist  dadurch  etwas  Höheres  als  das 
scheinbar  auf  sich  beruhende  Sein,  dass  sie  auf  einem  anderen,  dem 
Wesen,  beruht,  welches  eben  in  ihr  sich  offenbart  (VI,  260 — 262). 


240 


He^cl. 


Wesen    und    Erscheinung   verhält   sich   wie  Inhalt   zu  Form,, 
wie  das  mit  sich  selbst  identische  Ganze  zu  den  Teiloffenbarungen  I 
seiner  Wesenheit   in  seinen  wechselnden  Erscheinungen,  wie  die 
Kraft   zur   Kraft äusserung,  also  auch  wie   Inneres   und    Äusseres 
(VI,  264 — 276).     Erst  durch  diese  Denkbestimmungen  erhält  der« 
anfangs  ganz  leere  Begriff  des  Wesensgrundes  einen  gewissen  In- 
halt.    Es    ist   aber  dabei  charakteristisch  für  die   Hegeische  Dia- 
lektik, dass  sie  in  jedem  dieser  Paare  von  Beziehungsbegriffen  die 
beiden   GUeder  für  schlechthin    vertauschbar   und    von  selbst   in 
einander  umschlagend  ausgiebt,  weil  sie    bedingungsweise,   unter 
gewissen  Umständen,  insbesondere  da,  wo  ein  völliger  Standpunkt- 
wechsel  des  Betrachtenden   möglich  ist,  ihre  Stellung  umkehrea.  ] 

Wenn  die  Möglichkeit  das  noch  nicht  zur  Äusserung  gelangte 
Innere»  der  Begriff,  die  leere  Abstraktion  der  Reflexion  in  sich 
ist  (Vn  2,  2g;  VI,  284,  288;,  wenn  dagegen  die  mit  der  Zufällig- 
keit behaftete  Existenz  das  aus  dem  Grunde  Herausgegangene  und 
Hervorgetretene,  die  Negation  des  Grundes,  bedeutet  (VI,  250 — 251), 
so  ist  die  Wirklichkeit  oder  hiQyua  nunmehr  die  gesetzte  Ein- 
heit des  Wesens  und  der  Existenz,  des  Inneren  und  Äusseren,  der 
bloss  innerlichen  Möglichkeit  des  Grundes  und  der  bloss  äusser- 
lichen   ZufäUigkeit  der  Existenz  (VI,  281 — 282,  284,  287).  — 

Das  Denken  bleibt  aber  nicht  bei  der  Wirklichkeit  und  ihren 
beiden  Momenten,  der  Möghchkeit  und  Zufälligkeit,  stehen,  son- 
dern dringt  über  sie  zur  inneren  Notwendigkeit  der  Sache  vor, 
die  allerdings  ihrem  eigentlichen  Kerne  nach  erst  im  Begriff  er- 
fasst  wird  (VI,  290 — 294).  Zunächst  stellt  sich  die  Wirklichkeit 
als  etwas  bloss  AccidentieOes  dar,  und  die  Macht,  die  in  ihr  den 
Reichtum  ihres  Inhalts  offenbart,  ak  Substanz  (VI,  500)*  Die  Sub- 
stanz wiederum  erweist  sich  bei  näherer  Betrachtung  als  Ursache, 
und  zwar  sowohl  ihrer  selbst  als  auch  ihrer  Accidentien;  denn 
Hegel  berücksichtigt  an  der  Ursache  nicht  sowold  (wie  Schopen- 
hauer) das  Moment  der  Veränderung,  als  vielmehr  das  der  Be- 
harrung, die  in  Ursache  und  Wirkung  sich  gleichbleibende  Kraft 
oder  Materie,  z.  B.  das  Wasser  im  Regen  und  in  der  von  ihm 
bewirkten  Nässe  (VI,  304),  Deshalb  erblickt  er  auch  das  Kau- 
salitätsverhältnis in  seiner  vollständigen  Entwickeln ng  gesetzt 
erst  in  der  Wechselwirkung,  in  welcher  der  schlechte  unendliche 
Progress  von  Ursache  und  Wirkung  auf  wahrhafte  Weise  aufge- 
hoben sein  soll  (VI,  308,  306),     Die  Wechselwirkung  ist  damit  zu- 


Hegel, 


241 


fgteich  die  enthiillte  oder  >^esetzte  Notu'endigkeit,  deren  Wahrheit 
die  Freiheit  ist»  wie  die  Wahrheit  der  Substanz  der  Begriff  ist 
(VI,  309—310).  — 

Wie  Hegel  unter  dem  BegrifiF  das  eine  absolute  Subjekt  des 
logisch-dialektischen  Prozesses  versteht  (VI,  324,  327).  so  unter 
dem  Urteil  die  Selbstdiremtion  des  Begriffes  in  seine  unter- 
schiedenen Momente,  oder  die  Urteilung  des  konkret  Allgemeinen 
in  das  abstrakt  Allgemeine,  Besondere  und  Einzelne  (VI,  328),  und 
unter  dem  Schluss  das  sich  wieder  Zusammenschliessen  der  im 
Urteil  auseinandergetretenen  Momente  des  Begriffs  zu  der  nun- 
mehr vermittelten  und  verwirklichten  Einheit  des  konkret  Allge- 
meinen (VI,  345).  So  ist  es  der  ScUu&s,  durch  den  die  Subjek- 
tivität des  Begriffs  ihre  Schranke  dialektisch  durchbricht  und  sich 
zur  Objektivität  oder  zum  realisierten  Begriff  erschliesst  (VI,  360). 

Der  lohalt  der  Objektivität  ist  die  Naturphilosophie  nach 
ihren  letzten  Kategorien  betrachtet.  Als  solche  bezeichnet  Hegel 
erstens  den  Mechanismus^  oder  die  bloss  äusserlichc  rein  quanti- 
tative Beziehung  der  nach  ihrer  Innerlichkeit  hierbei  gleichgültigen 
Körper  auf  einander  durch  Druck,  Stoss,  Verschiebung  der  Teile 
u.  s.  w,  (VI,  36g),  zweitens  den  Chemismus  oder  die  qualitative 
Beziehung  der  Korper  auf  einander  nach  ihrer  spezifischen  Be- 
schaffenheit und  Wirkungsweise  (in  der  Naturphilosophie  »Physik« 
genannt),  und  drittens  die  Teleologie,  Die  Centralität  der  mecha- 
nischen Kraftwirkung  erkennt  Hegel  ausschliesslich  bei  der  Gravi- 
tation an,  setzt  sie  aber  hier  auch  sofort  mit  Subjektivität  gleich 
(VI,  371).  Dass  alle  physikalischen  und  chemischen  Vorgänge 
bloss  ein  molekularer  Mechanismus  von  Centralkräften  seien»  ond 
der  Schein  ihrer  qualitativen  Bestimmtheit  erst  durch  die  sinn- 
Uche  Empfindung  in  die  rekonstruktive  Wahrnehmung  hinein- 
komme, wäre  von  Hegel  für  eine  ebenso  grundverkehrte  An- 
sicht erklärt  w^orden  wie  die  Annahme  von  Poren  in  den  Kör- 
pern (VI,  259)  oder  die  Behauptung,  dass  die  Eingeweidewürmer 
aus  verschluckten  Eiern  entstehen  (VII  i.  675)-  Wird  die  Physik 
und  Chemie  in  Mechanik  der  Atome  und  Moleküle  aufgelöst,  so 
hört  ihr  principieller  Unterschied  von  der  Mechanik  auf,  wogegen 
beide  mit  der  Theorie  der  Materie  vereinigt  werden  müssen,  die 
Hegel  schon  in  der  Lehre  vom  Sein  unter  Fürsichsein  erledigt  hat. 

Im  Zweck  wird  das  vorausgesetzte  Objekt  negiert  und  seine 
Realität  als  eine  nur  ideelle»  an  sich  nichtige  behandelt  (VI,  376); 

£.T.  Uartmaaii,  Aiqgev.Wetke.     Bd.  XU.  t<> 


242 


Hegel. 


der  Zweck  ist  die  Macht  über  das  Objekt,  muss  sich  aber  seiner 
wie  die  Seele  ihres  Leibes  erst  bemächtigen,   um  es  zu  seinem 

Mittel  zu  machen  (VI,  381—382),  Darum  ist  auch  das  Negieren 
des  Objekts  genauer  als  blosses  Limitieren,  Modifizieren,  Unter- 
werfen oder  gemäss  Machen  zu  verstehen  {VI,  383).  Der  Zweck 
ist  erstens  als  subjektiver,  d.  h.  nicht  etwa  als  bewusster,  sondern 
als  bloss  ideale  Tendenz,  zweitens  als  sich  vollftihrende,  reali- 
sierende Thätigkeit  und  drittens  als  volllülu-ter,  realisierter  Zw^eck 
(VI,  380).  Als  realisierter  erweist  der  Zweck  die  Objektivität  als 
das  was  sie  ist,  als  eine  blosse  Hülle,  unter  der  der  Begriff  ver- 
borgen liegt  (VI,  3S4),  Dem  endlichen  Zweck  steht  das  Material, 
in  welchem  er  sich  realisiert,  als  etwas  Fremdes,  Gegebenes 
gegenüber;  aber  dieses  Fremde  ist  nur  eine  Täuschung,  die  die 
Idee  selbst  als  unendlicher  Zweck  sich  vorgemacht  hat,  und  ihr 
Thun  besteht  nur  darin,  die  Täuschung  aufzuheben,  als  ob  der 
unendliche  Zweck  noch  nicht  vollfuhrt  sei  (VI,  384),  Der  unend- 
liche, ewig  vollführte  Zweck,  als  Einheit  des  Begriffes  imd  seiner 
Objektivität,  ist  die  Idee  (VI,  384),  — 

Jede  Kategorie  gicbt  eine  relativ  richtige  Definition  des  Ab-J 
soluten,   insbesondere  jede   Thesis    und   Synthesis,   während    die 
Antithesen  dem  Gebiete  der  Endlichkeit  angehören  (VI,   163);   die 
Definition    des  Absoluten,    dass   es    die   Idee    ist,   ist  nun   selbst 
absolut  (VI,   385).     Denn   in   ihr  ist  die  Einheit  aller  Gegensätze, 
des  Subjekts  und  Objekts  u.  s.  w.  erreicht  (VI,  388).     Hegel  son- 
dert  die  Idee   noch  einmal   in   die  Idee  des  Lebens   und  des  Er- 
kennens,    und    fasst   die    absolute    Idee   als   synthetische   EinheitJ 
beider.     Die    Idee    des    Lebens    ist    eine    abstrakt    logische   Ab-' 
Spiegelung  dessen,  was  Hegel  Anthropologie  nennt,  die  des  Er- 
kennens  eine  Abspiegelung  dessen,   w^as  er  Phänomenologie  des 
Geistes,  Psychologie  uud  Lehre  vom  objektiven  Geist  nennt.    Die 
Idee  des  Erkennens  zerfällt   nämlich   wieder   in    die  theoretische^ 
und  praktische  Idee,  oder  in  Erkennen  und  Wollen. 

Dieses  Flereinziehen  der  Idee  des  Guten  in  die  Fog-ik  ist 
selbst  von  strengen  Hegelianern  gemissbilligt  wurden.  Freilich 
ist  es  unmöglich,  den  Begriff  des  Zweckes  ohne  den  des  WoUens 
zu  fassen;  aber  dann  muss  man  dies  auch  offen  eingestehen  und 
das  Wollen  als  Vorbedingung  des  Zweckes  anerkennen,  anstatt 
es  hintennach  aus  dem  Zweck  hervorzuziehen  (VI,  405),  in  den 
man    es   vorher   unvermerkt   hineingestopft  hat.     Auch   ist   nicht 


HegcL 


243 


abzusehen,  was  dem  Wollen  vernünftiger  Weise  noch  zu  thiin 
übrig  l>leibt,  wenn  alles  Wirkliche  ohnehin  schon  vernünftig,  und 
der  unendliche  Zweck  ewig  realisiert  ist.  Der  Ausführung  eines 
endlichen  Zweckes  kann  die  Setzung  weiterer  endlicher  Zwecke 
nachfolgen;  aber  die  realisierte  absolute  Finalität  hebt  sich  selbst 
als  Finalität  auf.    Im  Endlichen  können  wur  es  nicht  erleben  oder 

.sehen,  dass  der  Zweck  wahrhaft  erreicht  wird  (VI,  384);  auch 
der  unendhche  Zweck  besteht  nur  durch  den  Prozess,  indem  er 
sich  beständig  hervorbringt  und  in  der  geistigen  Welt  sogar  fort- 
schreitet (\T,  407).  Dieses  Fortschreiten  ist  nur  denkbar,  wenn 
zwischen  vollkommener  und  unvollkommener  Verwirklichung  des 
unendlichen  Zweckes  unterschieden,  und  in  der  ziuiehmendcn  Ver- 
vollkommnung die  schlechte  Unendlichkeit  des  endlosen  Progresses 
wiedereingeführt  wird,  die  Hegel  bei  Fichte  so  scharf  bekämpfte. ^ — 
Hegel  schwankt  zwischen  einem  Begriff  des  Wirklichen,  der 
sich  mit  dem  Wahren,  der  Idee,  Gott,  deckt  (VI,  9--10,  30—32) 
und  alles  Unwahre,  dem  Begriff  Unangemessene,  Endliche,  Zu- 
fällige als  nichtigen  und  der  Vernichtung  verfallenen  Schein  von 
sich  ausschliesst  (VI,  52,  385;  V,  238 — 239),  und  einem  Begriff  des 
Wirklichen,  der  die  Zufälligkeit  der  äusserllchen  Existenz  ebenso 
in  sich  einschliesst  wie  die  Möglichkeit  des  Wesens  und  die  innere 
Notwendigkeit  des  BegriiFs  (VI,  287 — 290),  Nur  für  den  ersten 
Begriff  der  Wirklichkeit  trifft  es  zu,  dass  alles  Vernünftige  wirk* 
lieh  und  alles  Wirkliche  vernünftig  ist,  weil  alles  nur  wirklich  in 

(diesem  Sinne  ist,  sofern  es  vernünftig  ist  (VI,  10).  Für  den 
zweiten  Begriff  der  Wirklichkeit  gelten  aber  diese  Sätze  nicht, 
da  von  ihm  die  Zufälligkeit  der  begriflFlosen  und  begriffwidrigen 
Existenz  mit  umspannt  wird.  Es  geht  nach  Hegel  nicht  an,  die 
Zufälligkeit  der  Existenz  bloss  in  den  falschen  Schein  einer  sub- 
jektiven Betrachtungsweise  zu  werfen  (VI,  290);  es  hilft  auch 
nichts,  sie  als  eine  bloss  oberflächliche  Entstellung  der 
Welt    beiseite    zu    sckieben,    die    in    ihrem    wesentlichen    Kerne 

rdoch  Verwirklichung  der  Vernunft  ist  (VII,   100),  denn  dazu  dringt 

rdie  Zufälligkeit  doch  viel  zu  tief  in  die  Natur  und  das  natorbe- 
dingte  Geistesleben  ein  (VEL  i,  29,  30,  37^38.  652).  Es  ist  viel- 
lehr  anzuerkennen,  dass  der  erste  BcgrifT  von  Wirklichkeit  ein 

"tinwahrer,  abstrakter  Begriff  ist,  der  aus  dem  Verkennen  ent- 
springt» wie  unentbehrlich  dem  Begriff  und  der  bloss  logischen 
Idee  das  Hineinstürzen  in  die  unlogische  Endlichkeit,  Zufälligkeit 

l6« 


244 


Hegel. 


und  Äusserlichkeit  der  Existenz  ist,  um  zu  einer  Wirklichkeit  zu 
gelangen,  die  über  das  Ansichsein  einer  bloss  ideellen  Möglich- 
keit hinausgeht.  — 

Weil  es  Hegel  an  einem  selbständigen  unlogischen  Princip 
fehlt,  weiss  er  sich  die  Alogicität  der  Existenz  nicht  anders  vor- 
zustellen ,  als  in  einer  begrifFwidrigcn  Vernunftlosigkeit  des  Ein- 
zeldaseins, die  eine  Ohnmacht  und  Schwäche  der  Vernunft  anzeigt. 
Eine  solche  darf  aber  nicht  einmal  in  einem  System  mit  zwei 
koordinierten  Principien  vorkommen.  Die  Existenzform  als  solche 
mag  unlogisch  sein,  weil  das  Logische  als  solches  an  ihr  kein 
Interesse  hat;  aber  das  Einzelne  muss  selbst  dann  noch  streng 
logisch  bestimmt  und  bis  ins  Kleinste  durchgebildet  sein,  wenn 
die  Vernunft  sich  im  Ganzen  zum  Inhalt  eines  unlogischen  Real- 
princips  daliingegeben  hat  Im  Panlogismus,  wo  die  begrifF- 
widrige  Seinsform  der  realen  Existenz  bloss  die  dialektische 
Antithese  sein  soll,  die  das  Logische  selbst  sich  gesetzt  hat,  ist 
noch  viel  w-enigcr  abzusehen,  woher  eine  begrifFwidrige  Zufällig- 
keit des  Einzelnen  kommen,  und  wie  die  Vernunft  in  eben  der 
Antithese  im  Einzelnen  schwach  werden  soll,  die  als  Ganzes  ge- 
rade ihre  Stärke  offenbaren  soll.  Der  Begriff  der  Zufälligkeit  bei 
Hegel  ist  denn  auch  von  jeher  als  die  Achillesferse  seines  Systems 
erkannt  worden,  als  eine  Verlegenheitsausflucht  des  Panlogismus, 
die  das  Unlogische  im  Einzelnen  und  an  der  Oberfläche  ein- 
schmuggeln soll,  diis  im  Ganzen  nicht  zu  erklären  ist. 

Die  Hegeische  Logik  ist  der  imponierende  Versuch  eines 
grossen  Geistes,  eine  unmögliche  Aufgabe  zu  lösen.  Keinem 
Schüler  und  Anhänger  Hegels  hat  diese  Lösung  voll  genügt; 
fast  jeder  hat  versucht,  sie  zu  verbessern,  ohne  damit  dem  un- 
möglichen Ziele  näher  zu  kommen,  und  uhne  den  Meister  an 
formeller  dialektischer  Gew^andtheit  zu  erreichen.  Diese  Versuche 
sind  nicht  nur  von  reinen  Panlogisten  ausgegangen,  sondern  auch 
von  solchen  spekulativen  Theisten,  welche  die  dialektische  Methode 
Hegels  als  die  einzig  w^ahre  Methode  anerkannten.  In  der  That 
ist  Hegels  Logik  nur  ein  Versuch,  dem  viele  andere  in  ganz 
anderer  Stoffanordnung  zur  Seite  treten  könnten,  wenn  mehrere 
gleich  gewandte  Talente  sich  mit  der  Lösung  derselben  Aufgabe 
befassten,  ohne  die  von  Hegel  eingeschlagenen  Wege  zu  kennen 
und  durch  sie  voreingenommen  zu  sein.  Als  nebensächlich  erscheint 
es  dabei,  dass  Hegel  Spezialkategorien   aus   der  Naturphilosophie 


Uegsl 


245 


und  Ethik  in  die  allgemeine  metaphysische  Kategorienlehre  herein- 
gezogen hat,  und  dass  die  Gliederung  in  das  Ansich  der  Natur,  des 
endlichen  und  des  absoluten  Geistes  in  den  drei  Hauptabschnitten 
der  Logik  nicht  rein  durchgeführt  ist,  sondern  Stoffverschiebungen 
in  allen  Teilen,  unnötige  Anticipationen,  Wiederholungen  unter 
anderem  Namen,  Zerreissungen  des  Zusammengehörigen  u,  s,  w. 
.vorkommen.  Das  Hauptbedenken  muss  sich  dagegen  richten» 
dass  die  logische  Idee  überhaupt  als  Sphäre  eines  eigenen  Pro- 
zesses von  der  absoluten  Idee  abgetrennt  ist  und  alle  Kategorien 
in  ilir  ohne  Beziehung  auf  Raum  und  Zeit  gedacht  werden  sollen. 
Das  Logische  oder  der  Ilegelsche  Begriff  als  Subjekt  des 
Prozesses  ist  in  sich  selbst  aktuell  inhaltleer,  und  sogar  die  in 
ihm  eingesclilossenen  Möglichkeiten  sind  selbst  als  reine  Möglich- 
keiten von  ihrex  Anwendung  und  Beziehung  auf  das  absolut  Un* 
logische  abhängig.  Es  ist  nun  eine  unhaltbare  Fiktion  Hegels, 
dass  das  Logische  irgendwo  anders  in  das  Unlogische  hineinstürze, 
als  da,  wo  die  logische  Idee  in  das  Anderssein  der  natürlichen 
Existenz  übergeht.  Die  vielen  Antizipationen  dieses  einmaligen 
Schrittes,  die  in  der  Logik  vorkommen,  schöpfen  ihre  Denkbar- 
keit nur  aus  dem  Hinblick  auf  diesen  einen  Schritt,  den  sie  im 
voraus  abspiegeln;  dass  aber  eine  solche  Abspiegelung  im  voraus 
möglich  sei,  hängt  wieder  von  zwei  Bedingungen  ab.  Erstens 
muss  das  Unlogische  nichts  weiter  sein  als  die  vom  Logischen 
selbst  gesetzte  Antithese,  und  zweitens  muss  im  Logischen  vor 
dem  Eintritt  dieser  endgültigen  Antithese,  d,  h.  vor  dem  Über- 
igang  in  die  Natur  ein  Prozess  möglich  sein.  Keine  dieser  Be- 
I  dingungen  kann  als  erfüllt  zugegeben  werden.  Die  erste  ist  die 
Ipanlogistische  petitio  principii;  die  zweite  ist  nicht  erfüllt,  weil 
ein  zeitlicher  Prozess  in  der  logischen  Idee  ausgeschlossen,  ein 
ewiger  Prozess  aber  ein  sich  selbst  widersprechender  Begriff  ist. 
Die  Kategorien  lehre  darf  selbst  im  Panlogismus  nicht  als 
Lehre  von  dem  Inhalt  der  logischen  Idee  behandelt  werden,  son- 
dern nur  als  Lehre  von  der  absoluten  Weltidee,  nicht  als  Lehre 
von  den  formellen  Müglichkeiten,  die  im  Logischen  an  und  für  sich 
enthalten  sind,  sondern  nur  als  Lehre  von  den  formellen  Möglich- 
keiten, die  das  Logische  in  Bezug  auf  das  Antilogische  bei  der 
Aufgabe  der  Setzung  einer  Welt  aus  sich  entfaltet.  Bei  einer 
solchen  aber  muss  Zeitlichkeit  und  Räumlichkeit  mit  in  erster 
Reihe  stehen,   da  ohne  sie  keine  Vielheit,    die  über  abstrakt  be- 


246 


HegcL 


grifFliche  Verschiedenheit  hinausginge,  keine  Individuation,  und 
keine  Veränderung,  kein  Werden  möglich  ist  Schon  dem  unbe- 
stimmten Sein  Hegels  Hegt  unausgesprochen  die  Räumlichkeit 
des  Stoffes,  dem  Werden  die  Zeitlichkeit  der  Veränderung  zu 
Grunde.  Das  Eine  und  Andere,  Eins  und  Viele,  Abstossuiig  und 
Anziehung,  Ganzes  und  Teile,  Inhalt  und  Form,  Inneres  und 
Äusseres,  Kraft  und  Kraftäiisserung.  Objekt,  Mechanismus,  Che- 
mismus und  Zweck tliiitigkeit  sind  sämtlich  undenkbar,  wenn  mit 
der  Ausschliessung  von  Zeit  und  Raum  Ernst  gemacht  wird. 
Deshalb  ist  die  unentbehrlichste  Verbesserung  der  Hegclschen 
Kategorienlehre  die  Wiederhereinnahme  der  Zeithchkeit  und  Räum- 
lichkeit, was  auch  von  Trendelenburg,  Weisse  und  Gustav  Engel 
anerkannt  worden  ist.  Aber  diese  Verbesserung  ist  nur  dann 
ohne  Widerspruch  durchführbar,  wenn  dies  System  der  Kategorien 
nicht  mehr  auf  die  rein  logische  Idee,  sondern  auf  die  absolute 
Weltidee  bezogen  wird;  die  logische  Idee  Hegels  erweist  sich 
damit  als  eine  unberechtigte  fiktive  Einschaltung  zwischen  dem 
sich  entfaltenden  logischen  Formalprincip  und  der  absolut  kon- 
kreten Weltidee,  zu  welcher  das  an  sich  leere  logische  Formal- 
princip sich  in  seiner  Anwendung  auf  das  unlogische  Realprincip 
entfaltet. 

Man  kann  Hegels  Irrtum  in  der  Stellung,  die  er  dem  Logi- 
schen zum  Unlogischen  gegeben  hat,  offen  kennzeichnen  und  doch 
seinen  Verdiensten  um  die  Metaphysik  vollauf  gerecht  werden. 
Ihm  bleibt  vor  allem  das  negative  Verdienst,  mit  diesem  Irrtum 
die  Konsequenzen  des  Schell  in  gschen  Panlogismus  gezogen  und 
damit  zugleich  ihn  als  Princip  ad  absurdum  gefülirt  zu  haben. 
Ihm  bleibt  aber  auch  das  positive  Verdienst,  auf  die  entscheidende 
Wichtigkeit  einer  systematischen  Kategorienlehre  für  die  Meta- 
physik hingewiesen  und  gezeigt  zu  haben,  dass  das  zunächst 
inhaltleere  Logische  nur  in  Beziehung  auf  irgendwelches  Un- 
logisches einen  Inhalt  in  sich  entfalten  kann.*)  — 


■ 


♦)  Vt?rgL  Krit  Wanderungen  durch  die  PhiL  der  Gegenwart»  S,  45— 751  ^*i*^ 
deutsche  Ästhetik  seit  Kant,  S.  107 — ^129  und  die  im  Namenregister  angegebenen 
Stellen;  Kalegorienlelire,  S.  X  — Xllj  Ges.  Studien  u.  Aufsätze,  S.  604—635,  661—662, 
603—669;  Das  sittliche  Bewusstsrin,  2.  Aitli,  S.  442—443,  524,  5/8—579»  ^^^ — ^»22 
(vcrgl,  auch  das  Naiiieuregistcr) ;  Fhil.  des  ITubewussten,  10.  Aufl.»  1,  S.  2} — 24,  280, 
327—328,  343;  11,  S.  168—169,  180  Anui.,  253—254,  419—423;  ÜbtT  die  dinkk tische 
Meihodc»  S,  35 — 124;  Schdlings  phü,  System^  S.  25 — ij. 


Rochtc  und  liiik€  Seil*    «Irr   Iftgelstben  Scluik 


Hegel  hatte  behauptet»  mit  seiner  Philosophie  den  wahren 
Gehalt  der  christlichen  Religion  zur  Stufe  des  Begriffs  erhoben ^ 
zu  haben.  Dieses  Erheben  von  der  Stufe  des  Gefühls  und  der 
Vorstellung-  zu  der  des  Begriffs  schloss  aber  eine  völlige  Um- 
deutung  des  Gehalts  ein.  Megel  hatte  sowohl  sich  selbst  als  auch 
seine  Zeitgenossen  durch  dialektische  Zweideutigkeiten  darüber 
hinwegzutäuschen  gewusst;  aber  alsbald  nach  seinem  Tode  ent- 
brannte gerade  hierüber  der  Streit  in  seiner  Schule,  Der  rechte 
Flügel  suchte  Hegels  Lehre  so  auszulegen,  dass  sie  mit  den 
Ilauptdogmen  des  Christentums,  der  selbstbewussten  Persönlich- 
keit Gottes,  der  Menschwerdung  Gottes  in  dem  einzigen  Jesus 
Christus  und  der  individuellen  Unsterblichkeit  des  Menschen  ver- 
träglich wurde,  verkehrte  aber  damit  den  Sinn  des  Hegeischen 
Panlogismus  in  sein  Gegenteil.  Der  hnke  Flügel  suchte  die  wahre 
Bedeutung  der  Hegeischen  Lehre  scharf  herauszustellen,  geriet 
aber  damit  über  die  Grenze  hinaus,  wo  die  Übereinstimmung  mit 
dem  christlichen  Theismus  noch  aufrecht  zu  erhalten  war.  Wenn 
er  trotzdem  das  Christentum  auf  ihre  Wahrheit  zurückzufuhren 
behauptete,  so  war  dies  doch  nur  im  Sinne  einer  völligen  Um- 
gestaltung  seiner  Grundlagen  möglich.  Gerade  der  rechte  Flügel 
sorgte  dafür,  klarzustellen,  dass  diese  pantheistische  LTmgestaltung 
des  Christentums  etwas  ganz  anderes  sei  als  das  historisch  über- 
lieferte christliche  Dogma,  und  der  radikalere  Teil  des  linken 
Flügels  richtete  nun  um  so  schärfere  Angriffe  gegen  dieses  über- 
lieferte Dogma,  entfernte  sich  aber  gleichzeitig  dal>ei  mehr  und 
mehr  von  dem  panlogistischen  Mr>nisnms,  den  Hegel  gelehrt  hatte, 
nach  der  Seite  eines  naturalistischen  oder  gar  materialistischen 
Monismus.  — 

Nur  einer  war  es.  unter  seinen  philosophischen  Jüngern,  der 
streng  an  der  Hegeischen  Lehre  festhielt,  sich  aber  dabei  nicht 
scheute,  sie  in  liezug  auf  ihr  Verhältnis  zum  Christentum  von 
jeder  Zweideutigkeit  zu  befreien  und  ihre  Konsequenzen  in  aller 
Folgerichtigkeit  und  Deutlichkeit  offen  zu  entwickeln.  Michel  et 
(1801  —  1894)  fasste  die  genannten  drei  Probleme  in  das  Problem  der 
ewigen  Persönlichkeit  des  Geistes  zusammen.  Die  Individualität 
ist  die  besondere,  zufällige  Einzelheit,  die  mit  dem  Aufhören  ihrer 
natürlichen  Bedingungen  verschwindet;  die  Persönlichkeit  dagegen 
ist  die  dem  Geiste  angemessene  Form  der  Einzelheit,  welche 
lediglich   die  Verwirklichung  des  Allgemeinen  darstellt  und  sich 


daher  auch  bei  dem  Untergange  der  einzelnen  Persönlichkeit  er- 
hält. Alles,  was  ein  Individuum  an  Leistungen  von  bleibendem 
Werte  herv^or gebracht  hat,  fällt  unter  die  Allgemeinheiten  des 
Rechts,  der  Sittlichkeit,  der  Kunst,  Religion»  Wissenschaft  u.  s.  w. 
und  damit  unter  diesen  Begriff  der  Persönlichkeit.  Alles  was  ein 
Individuum  an  Leistungen  von  allgemeinem  Werte,  oder  was  es 
als  Persönlichkeit  hervorgebracht  hat,  gehurt  zu  dem  bleibenden 
unverlierbaren  Schatz  des  geistigen  Besitzes  der  Menschheit,  und 
ist  insofern  als  Moment  der  Persönlichkeit  des  Geistes  unsterblich. 
Gott  ist  keine  besondere  Person,  weder  im  juridischen,  noch 
im  ethischen,  noch  in  sonst  einem  Sinne.  Er  ist  nicht  eine  durch 
Naturbestimmtheiten  individualisierte  Seele,  nicht  Eigentümer,  der 
seine  Besitzsphäre  von  der  anderer  abgrenzte,  nicht  ein  Ich,  das 
ein  anderes  Ich  als  ein  Du  von  sich  unterscheiden  könnte;  über- 
haupt hat  er  kein  Bewusstsein ,  weil  dieses  die  Trennung  von 
Subjekt  imd  Objekt  voraussetzt,  während  Gott  ihre  Identität  ist. 
Gott  ist  vielmehr  die  Denksubstanz  imd  das  Denksubjekt  aller 
einzelnen  Selbstbewusstseine,  das  allgemeine  Band  der  Geister,  in 
welchem  sie  alle  Ein  Geist  sind,  die  allgemeine  geistige  Substanz, 
aus  welcher  die  Individuen  die  Thaten  schöpfen,  die  ihnen  die 
Unsterblichkeit  als  Moment  der  allgemeinen  Persönlichkeit  sichern. 
Gott  ist  nicht  eine  Person,  sondern  die  allgemeine  ewige  Persön- 
lichkeit schlechthin,  der  wahrhafte  Begriff  der  Pers<'3nlichkeit ,  die 
nicht  ausser  den  besonderen  Personen,  sondern  in  ilinen  und  ver- 
mittelst ihrer  sich  verwirklicht  und  allseitig  entfaltet  Die  Idee 
dieser  Persönlichkeit  ist  das  zweite  Moment  der  Dreieinigkeit,  das 
aber  seine  Wirklichkeit  nicht  im  transcendenten  Jenseits,  sondern 
im  Diesseits  in  der  Menschwerdung  Gottes  findet.  Das  Abso- 
lute ist  Persönlichkeit  in  dreifachem  Sinne,  erstens  als  zu  ver- 
w^irkUchender  Begriff  (Ansich,  Möglichkeit  oder  Kategorie)  der 
Persönliclikeit,  zweitens  als  sich  personifizierende  absolute  Substanz 
oder  absolutes  Subjekt,  drittens  als  Kollektivum  alles  allgemein 
Wertvollen  in  den  Geistesprodukten  der  besonderen  Personen. 
Die  Ewngkeit  dieser  göttlichen  Persönliclikeit  bleibt  unberührt 
davon,  dass  dem  menschlichen  Bewusstsein  der  Prozess,  in  dem 
ihre  Verwirklichung  besteht,  als  ein  zeitÜch  begrenzter  erscheint, 
weil  die  zeitliche  Anschauungsform  nur  für  die  phänomenale  Auf- 
fassungsweise des  Bewusstseins,  aber  nicht  für  das  Absolute  als 
solches  Geltung  hat 


i 


Vfttke. 


249 


Es  ist  klar,  dass  der  blosse  Begriff  der  Persönlichkeit  noch 
keine  wirkliche  Persönlichkeit  ist,  dass  das  sich  personifizierende 
absolute  Subjekt  als  solches  noch  unpersönlich  sein  muss,  denn 
sonst  brauchte  es  nicht  erst  zu  personifizieren,  und  dass  das  Kol- 
lektivum  der  Geistesprodukte  der  Menschheit  von  allgemeinem 
bleibenden  Wert  am  allerwenigsten  dem  entspricht,  was  man  sich 
unter  Persönlichkeit  denkt.  Das  Ergebnis  ist  also»  dass  nur  die 
besonderen,  endlichen  Geister  selbstbewusste  Personen  heissen 
können,  dass  aber  das  Absolute  des  Panlogismus  nicht  nur  kein 
Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein ,  sondern  auch  keine  Persön- 
lichkeit in  einem  mit  dem  Sprachgebrauch  zu  vereinbarenden 
Sinne  hat  Dieses  Ergebnis  wird  aber  dadurch  verschleiert,  dass 
dem  Worte  Persönlichkeit  ein  aus  drei  Bedeutungen  zusammen- 
geschweisster  Sinn  beigelegt  wird,  die  alle  drei  gleich  wenig  zu 
dem  Worte  passen. 

Der  Versuch  Michelets,  die  absolute  Persönlichkeit  Gottes 
durch  ihr  Hinüberspielen  in  eine  abstrakte  KoUektivpersöolich- 
keit  des  Menschheitsgeistes  zu  retten,  konnte  bei  den  tlieologischen 
Hegelianern  ebensowenig  Beifall  linden,  wie  bei  denjenigen,  die 
nach  der  Seite  des  Atheismus  und  Materialismus  hinneigten.  Es 
musste  jemand  den  Mut  finden,  es  zum  erstenmale  in  der  christ* 
liehen  Kulturwelt  auszusprechen,  dass  die  Religion  von  der  Per- 
sönlichkeit Gottes  unabhängig  sei. 

Vatke  (1806  — 1882)  verwirft  die  Bezeichnung  Gottes  als 
Substanz,  als  (bewusst)  zwecksetzende  Intelligenz  und  als^absolute 
Idee,  wie  sie  nach  ihm  aus  dem  kosmologischen,  physikotheo- 
logischen  und  ontologischen  Beweise  folgen  sollen,  als  ungenügend. 
Den  Substanzbegriff  beschränkt  er  willkürlich  auf  das  dem 
Wechsel  und  der  Veränderung  unterworfene  endliche  Dasein ;  die 
bewusst  zwecksetzende  Intelligenz  schliesst  er  aus  als  eine 
anthropopathische  Übertragung  aus  dem  endlichen  Geiste  in  den 
absoluten,  und  die  absolute  Idee,  weil  sie  den  Substanzbegriff 
zu  ihrer  Voraussetzung  hat  und  aus  ihm  dadurch  entsteht,  dass 
die  abstrakten  Formen  unseres  bewussten  logischen  Denkens  auf 
ihn  abgelagert  werden.  Dagegen  hält  er  daran  fest,  dass  das 
Unbeding-te  Einheit  des  Idealen  und  Realen,  Einheit  der  be- 
harrenden Identität  mit  sich  und  der  Evolution,  oder  Einheit  von 
Potenz  und  Aktus  sei.  Idee  oder  Logos  nennt  er  es  nur,  sofern 
es  sich  in  der  Natur  offenbart  und  als  xoofjog  vojßus^  der  natür- 


250 


Vfltke, 


liehen  Erscheiniingswelt  zu  (xrunde  liegt,  Geist,  sofern  es  sich  zum 
Bewiisstsein  und  Selbstbewusstsein  erhebt,  wobei  er  das  Geister- 
reich keineswegs  wie  Miehelet  auf  die  Menschheit  beschränkt 
denkt. 

Gott  als  die  der  zeitlichen  Entwickelung  vorausgehende  Ein- 
heit, als  Logos  und  als  Princip  des  Selbstbewusstseins  müssen 
vom  bewusstcn  menschlichen  Denken  als  Vater,  Sohn  und  heiliger 
(leist  unterschieden  werden.  Denn  dem  menschlichen  Denken 
steht  der  Logos  ebenso  objektiv  gegenüber,  wie  die  natürliche 
Welt,  aus  welcher  er  auf  ihn  als  ihr  Princip  zurückschliesst. 
Aber  es  ist  eine  irrtümliche  Übertragung,  anzunehmen,  dass  auch 
für  Gott  der  Logos  etwas  Objektives  sei,  da  er  für  ihn  doch  nur 
die  Bethätigung  der  absoluten  Einheit  selbst  ist.  Wo  kein  Ob- 
jekt ist»  da  ist  auch  kein  Subjekt.  Die  Trinität  ist  also  nur  eine 
Unterscheidung  vom  menschlichen  Standpunkt  aus.  Gott  ist 
darum  als  solcher  auch  wieder  bewusst  noch  persönlich  zu  nennen. 
Es  giebt  für  das  Absolute  keinen  Gegenschlag,  an  dem  sich  seine 
subjektive  Thätigkeit  brechen  und  s:um  Bewusstsein  imd  Selbst- 
bewusstsein entzünden  könnte.  Der  bewusste  subjektive  Geist 
kann  in  Bezug  auf  die  oLijektive  Welt  nichts  schaffen,  sondern 
nur  umgestalten;  das  Absolute  aber  muss  Einheit  der  schöpfe- 
rischen Macht  und  des  Idealen  sein,  und  kann  schon  darum  nicht 
bewusst  wirken.  Welche  Form  diese  absolute  Thätigkeit  mit 
ihrer  Ineinsfassung  von  schöpferischem  Vermögen  und  vernünf- 
tiger Idealität  hat,  vermögen  wir  nicht  positiv  zu  denken,  weil 
sie  für  unser  Bewusstsein  überschwenglich  und  unbegreifbar  ist 
Wir  können  nur  sagen,  dass  sie  weder  bewusst  noch  persönlich 
sein  kann»  aber  nicht  etwa  unter,  sondern  über  diesen  uns  be- 
kannten Formen  stehen  muss.  Sie  muss  nicht  unterpersönlich, 
sondern  überpersönlich  sein,  und  demgemäss  nicht  als  unter- 
bewusst,  sondern  als  überbewusst  angesehen  werden.  Vatke 
kennt  also  weder  einen  einpersönlichen,  noch  einen  dreipersön- 
lichen, sondern  nur  einen  überpersönlichen,  überbewussten  Gott, 
der  zugleich   unpers^julich  und   unbewusst  gedacht  w^ erden  muss. 

Vatke  wurde  natürlich  von  den  christlichen  Theologen  aller 
Richtungen  auf  das  Heftigste  angegTiffen,  so  dass  er  sich,  des 
Streites  überdrüssig,  in  vornehmes  Schweigen  zurückzog.  Diese 
Angriffe  hatten  darin  völlig  Recht,  dass  ein  solcher  Gottes- 
begriff    nicht    mehr    mit    dem    christlichen    Theismus    vereinbar 


sei.  Erst  sein  Schüler  Biedermann  verschaffte  seinen  Gedankc-n 
Beachtung,  aber  auch  nur  dadurch»  dass  er  dem  Theismus  erheb- 
liche Konzessionen  machte, 

Haller  (gest.  1887)  ist  zwar  ein  treuer  Anhänger  der  Hegel- 
schen  Widerspruchsdialektik,  benutzt  sie  aber  wie  SchelUng  haupt- 
sächlich dazii,  um  die  Nichtigkeit  alles  Endlichen  als  solchen  zu  be- 
weisen, und  um  alles  in  den  Abgrund  des  Einen  Ahsohiten  zu  ver- 
senken,  in  dem  alle  Unterschiede  verschwinden  und  alle  Gegen- 
sätze zusammenfallen.  Das  Irationale  der  Dialektik  erkennt  er 
ausdrücklich  an,  und  zwar  als  eine  ebenso  berechtigte  Seite  an 
ihr  wie  das  Rationale;  die  Dialektik  ist  ihm  das  Zusammenfallen 
dieser  Gegensätze  sowohl  im  Denkprozess  wie  im  Seinsprozess. 
Den  Fehler  der  Hegeischen  Dialektik  sieht  er  in  ihrem  Anspruch, 
durch  eine  Stufenfolge  dialektischer  Fortschritte  eine  dialektische 
Entwickelung  vom  Niederen  zum  Höheren  hervorzubringen.  An 
Stelle  dieses  spiraligen  Aufsteigens  setzt  er  den  ewigen  Kreis- 
lauf alles  Besonderen  und  Einzelnen  innerhalb  des  ewig  still- 
stehenden Ganzen.  Haller  zeigt,  was  aus  dem  dialektischen  Pan- 
logismus  werden  muss»  wenn  man  die  Teleologie,  durch  die  allein 
ein  objektiver  Wertunterschied  begründet  werden  kann,  aus  ihm 
wieder  ausscheidet.  Dann  schwindet  jeder  Wert  und  Sinn  des 
Einzelnen,  aller  ihm  beigelegte  Wert  sinkt  zur  Illusion  herab, 
die  ganze  Welt  wird  wieder  wie  in  Schellings  Identitätsphilo* 
Sophie  zum  nichtigen  Schein,  der  konkrete  Monismus  fällt  in  ab- 
strakten Monismus  zurück,  und  dieser  entpuppt  sich  zuletzt  als 
Akosmismus, 

Haller  ist  ein  fanatischer  Gegner  der  Substantialität,  und  um 
den  >Substantialitätswahn/  gründlich  zu  überwinden,  dazu  hält 
er  die  Überwindung  des  >Fnoritätswahnes*  in  jeder  Gestak  für 
un erlässlich,  obwohl  der  Zusammenhang  beider  v^on  ihm  nicht  klar 
gemacht  wird.  Zum  Prioritätswahn  gehört  aber  auch  die  Mei- 
nung, als  ob  es  andere  als  endliche  Zwecke  gäbe»  als  ob  die 
Welt  als  Ganzes  und  der  absohite  Prozess  einen  Zweck  haben 
könne.  Vor  dem  Absoluten  schwinden  die  Gegensätze  Stillstand 
und  Fortschritt,  Ruhe  und  Bewegung  ebensogut  dahin,  wie  die 
Gegensätze  Sein  und  Nichtsein ♦  Wirklichkeit  und  Schein,  Wahr- 
heit und  Irrtum,  Gutes  und  Boses,  Lust  und  Schmerz.  Das 
Weltgesetz  besteht  darin,  dass  alle  Lust  und  LTnlust  in  der  Welt 
sich  ebenso  ausgleicht,   wie  alle    Bewegung;  jede  Veränderung 


252 


Haller. 


im  Einzelnen  wird  durch  eine  entsprechende  Veränderung  an 
einem  anderen  Einzelnen  sofort  genau  aufgewogen,  so  dass  die 
Welt  als  Ganzes  in  jeder  Hinsicht  immer  sich  selbst  gleich  bleibt 
Sie  ist  ein  ruhendes  System  von  in  sich  rotierenden  Kreisen, 
die  wieder  rotierende  Kreise  in  sich  haben,  u.  s.  f.  Die  ewige 
Sichselbstgleichheit  der  Welt  folgt  a  priori  aus  den  beiden  Prä- 
missen, der  ewigen  Identität  Gottes  mit  sich  und  der  ewigen 
Identität  der  Welt  mit  Gott,  Der  Prozess  ist  das  ewige  Spiel 
der  Selbstentlassung  des  Unendlichen  in  die  unendliche  Zer- 
splitterung des  Endlichen  und  der  Selbstvernichtung  des  End- 
lichen ins  Unendliche.  Gott  ist  die  Identität,  die  sich  als  wech- 
selnd, und  im  Wechsel  sich  fühlt. 

Diese  esoterische  Einsicht  erklärt  Haller  für  den  Tod  sowohl 
der  Wissenschaft  als  auch  der  Ethik,  ■ —  mit  Recht,  denn  mit  dem 
Unterschied  von  Wahrheit  und  Irrtum,  Wirklichkeit  und  Schein 
hört  die  Möglichkeit  der  erstcren,  mit  dem  von  gut  und  b6se  die 
der  letzteren  auf  Dieser  Standpunkt  ist  theoretischer  und  prak- 
tischer TndiflFerentismus;  denn  wie  der  Mensch  es  auch  anfange,  im 
Guten  oder  im  Bösen,  es  ist  ihm  wegen  des  Ausgleichsgesetzes 
unmöglich,  in  dem  Zustande  der  Welt  irgend  eine  Veränderung 
hervorzubringen.  Libertinage  und  Quietismus  ist  auf  dieser  Vor- 
aussetzung v(>llig  gleichberechtigt,  und  die  Wahl  zwischen  ihnen 
bloss  noch  Sache  des  zufälligen  Beliebens,  da  es  vernünftige  Mo- 
tive ftir  irgend  welche  praktische  Entschliessung  nicht  mehr 
geben  kann. 

Nur  in  einem  Punkte  hat  Haller  einen  Rest  des  von  ihm 
bekämpften  Prioritätswahnes  stehen  lassen:  er  schreibt  Gott  trotz 
seiner  Identität  mit  der  Welt  die  Priorität  vor  dieser  zu.  Obwohl 
das  Gesetz  des  Ausgleichs  doch  fiir  Gott  noch  in  höherem  Sinne 
als  für  die  Welt  gelten  müsste,  also  nicht  nachzuweisen  ist,  was 
beim  Übergang  aus  der  Welt  zu  Gott  für  ein  Gewinn  heraus- 
kommen könnte,  mündet  seine  Lehre  doch  in  die  Sehnsucht 
nach  mystischer  Vereinigung  mit  Gott,  die  doch  in  dem  Sinne, 
wie  sie  während  der  Lebensdauer  des  Endlichen  erreichbar 
ist,  schon  jederzeit  besteht,  in  dem  Sinne  aber,  wie  Haller  sie 
anstrebt,  überhaupt  nur  durch  den  Tod  des  Endlichen  zu  er- 
reichen ist,*)  — 

Was  die  Hegeische  Logik  betrifft,  so  haben  einige  seiner 
Schüler  versucht,  die  eigentümlichen  Verschiebungen  und  Schief- 


Karl  Rosenkranz. 


253 


heilen  in  ihrer  Gliederung  grade  zu  rücken,  ohne  damit  gerade 
viel  Glück  zu  haben.  Am  weitesten  geht  darin  Karl  Rosen- 
kranz (1805 — 1Ö79),  der  die  subjektive  Logik,  oder  die  Lehre  von 
Begriff,  Urteil  und  Schluss  von  der  Ideenlehrc  sondert,  wie  Hegel 
dies  bereits  in  seiner  philosophischen  Propädeutik  versucht  hatte. 
Die  I-ehre  vom  Sein  und  Wesen  fasst  er  als  ontologische  oder 
metaphysische  Logik  zusammen,  und  fügt  ihr  als  dritten  Ab- 
schnitt die  aus  der  Lehre  vom  Begriff  herausgenommene  Lclire 
vom  Zweck  hinzu.  Die  objektive  oder  metaphysische  Logik 
gliedert  sich  demnach  bei  Karl  Rosenkranz  in  die  Lehre  vom 
Sein ,  Wesen  und  Zweck ,  oder,  da  er  die  Lehre  vom  Wesen  als 
Aetiologie  bezeichnet,  in  Ontologie,  Aetiologie  und  Teleologie, 
Hiermit  ist  dann  die  gesamte  Kategorienlehre  in  die  metaphysische 
Logik  oder  Metaphysik  zusammengelegt  und  dort  untergebracht 
Was  für  die  Ideenlehre  übrig  bleibt,  gliedert  er  unter  die  Ab- 
schnitte »Princip,  Methode  und  System«,  so  dass  sich  ihm  die 
Ideenlehre  eigentlich  in  Methodc^logie  umwandelt*  Die  gesamte 
Logik  im  Hegel&chcn  Sinne  zerfällt  danach  in  drei  Hauptteile, 
deren  erster  die  Kategorienlehre  oder  Metaphysik,  deren  zweiter 
die  Logik  im  vorhegelschen  Sinne,  und  deren  dritter  die  Methoden- 
lehre enthält.  Die  Logik  und  Methodologie,  die  Hegel  mit  der 
Kategorienlehre  verschmolzen  hatte,  ist  damit  wieder  von  ihr  ge- 
trennt; aber  ihre  Verbindung  mit  der  Phänomenologie  des  er- 
kennenden Bew^usstseins  zur  Erkenntnislehre  im  weiteren  Sinne 
erfolgt  noch  nicht  Dass  Rosenkranz  zum  erstenmale  Ontologie, 
Aetiologie  und  1  eleologie  in  eine  Reihe  nebeneinander  stellt,  darf 
als  ein  wirklicher  Fortschritt  betrachtet  werden,  insofern  hierdurch 
mm  erstenmal  die  Koordination  und  Zusammengehörigkeit  der 
Kategorien  der  Substanz,  der  Ursache  und  des  Zwecks  anerkannt 
ist  Sein  Irrtum  besteht  nur  darin,  dass  er  durch  diese  drei  Ab- 
schnitte den  ganzen  Inhalt  der  Kategorienlehre  erschöpfen  zu 
können  glaubt;  denn  dadurch  wird  er  genötigt,  in  diese  drei 
Rubriken  den  ganzen  übrigen  Inhalt  der  Kategorienlehre  mit 
hineinzustopfen,  der  gar  nicht  in  sie  hinein  gehört,  — 

Einen    Versuch,    die  dialektische    Methode    Hegels   und    die 
architektonische  Schleiermachers  mit  einander  zu  verbinden,  hat 


*)    VergL    Kritbche    WAnderungcD     durdi     die     Philosaphie    der    Gegenwart, 
S,  142—181. 


George  (iSii  — 1874)  mit  allerdings  sehr  unzulän|k(lichen  Kräften 
unternommen.  Kr  stellt  wie  Oketi  das  Nichts  an  die  Spitze, 
welches  das  Sein  als  seinen  Gegensatz  fordern  solL  Wenn  Hegel 
nur  das  Werden»  nicht  das  Entwerden  oder  Vergehen  in  seinem 
Aufbau  des  Systems  der  Kategorien  eine  Rolle  spielen  lässt,  so 
misst  George  beide  mit  gleichem  Masse.  Er  gewinnt  somit  zu 
den  drei  Gliedern  der  ersten  Ilegelschen  Triade  (Nichts,  Sein, 
Werden)  eine  zweite  Triade  (Eotsteheii.  Vergehen,  Dasein)  hinzu, 
und  bringt  durch  eine  dritte  (Anfang,  Bestehen,  Ewigkeit)  die 
Zahl  der  Glieder  auf  neun.  Er  legt  Wert  darauf,  auch  die  Be- 
ziehungen der  senkrecht  unter  einander  stehenden  drei  Glieder 
zu  betrachten,  und  setzt  die  Gleichungen  an:  Nichts -f  Ent- 
stehen ^Anfang;  Sein  -f  Entstehen  -=  Vergehen;  Werden  -|  Da- 
sein =  Ewigkeit.  Worin  Anf^mg  mehr  besagt  als  Entstehen  ist 
nicht  ersichtlich;  die  erste  der  drei  Gleichungen  erscheint  daher 
als  leere  Tautologie.  Die  zweite  ist  sich  selbst  widersprechend 
und  die  dritte  hat  überhaupt  keinen  Sinn.  Ebensowenig  ist  die 
dritte  horizontale  Gleichung  haltbar:  Anfang  +  Bestehen  ^Ewig- 
keit; denn  der  Anfang  hebt  jedenfalls  nach  rückwärts  hin  die 
Ewigkeit  auf,  und  das  Bestehen,  das  einen  Anfang  gehabt  hat, 
wird  wohl  auch  wieder  einmal  ein  Ende  nehmen.  Nach  dem 
neunteiligen  Schematismus  dieser  Kategorien  des  Seins  werden 
nun  analog  auch  die  der  Qualität  und  Quantität,  des  Wesens, 
der  Erscheinung  und  der  Wirklichkeit  angeordnet  und  endlich 
die  des  Subjekts,  des  Objekts  und  des  Geistes  angefügt.  Das 
giebt  dann  die  Tabelle  I  von  neun  Enneaden  in  drei  Kolumnen. 
Liest  man  die  Kolumnen  senkrecht,  aber  so,  dass  man  immer 
nur  eine  Kategorie  von  gleicher  schematischer  Stellung  aus  je 
einer  Enneade  aufnimmt,  so  erhält  man  die  Tabelle  11  von  neun 
neuen  Enneaden,  welche  nun  jedesmal  die  neunte  und  letzte 
Kategorie  als  allgemeinen  Titel  vorgesetzt  erhalten,  nämlich: 
I.  Ideelles,  2.  Reelles,  3.  Idee,  4,  Abstraktion,  5.  Konkretion, 
6.  Begriff,  7.  Transcendenz,  8,  Immanenz,  9.  Geist  So  ergeben 
sich  aus  den  81  Kategorien  je  nach  der  Anordnung  zwei  Tabellen, 
die  als  warnendes  Beispiel  vor  unfruchtbarem  und  geistlosem 
Schematismus  hier  Platz  finden  mögen. 


^M 

1 

George.                      ^| 

1 

^m       ^^^      1 

^^^^IP 

m 

Ta 

ibell 

e  l. 

m 

^^^^^^^^^^P 

i 

Kicbls 

Sein 

= 

Werden,                     ^M 

^^ftj.  Sein     .     .     . 

Entstehen 

- 

Vergehen 

= 

Dasein,                         ^^H 

^^^^K 

Anfang 

--- 

Bestehen 

= 

Ewigkeit.                   ^^M 

^^^^^ 

i 

VicUieit 

— 

Einheit 

== 

^1 

^^^V     2,  Quarilitai ,     . 

■ 

Gaiucs 

— 

Teil 

= 

Quantum,                    ^^H 

^^^^K 

l 

Grad 

— 

Mass 

= 

Totalität.                     ^H 

^^^HF 

l 

Manoigfaltigkeil 

t 

Eintachbdt 

=^ 

Übergang,                   ^^| 

^^r^T  Qualität     , 

Etwas 

Anderes 

=== 

Bestimnuheit,            ^^M 

^^^^- 

Identität 

Unterschied 

= 

Vermittlung.              ^^M 

^^^lp 

■{ 

Position 

Negation 

= 

Verhüknis,                 ^H 

^^^^Wc»cn      -     . 

Auraktion 

— 

Repulsion 

= 

Indüleren/,                 ^^^M 

^L 

Tnhärenz 

— 

Acddenj! 

= 

Substiinjü,                   ^^M 

^H 

j 

Äusseres 

— 

Innere» 

= 

Erscheinung»             ^^M 

^^^H      5.  Erschcüuiii^  . 

Inhalt 

— 

Form 

=r 

Existente,                    ^^M 

^H 

Dinghcit 

— 

Eigenschaft 

=^ 

Realität,                    ^H 

^^ 

( 

l 

iMögUchkcit 

— 

Notwendigkeit 

-- 

WcchscKvirkung,              1 

^^^      t».  Wirklichkeit 

Ivaiijolitäi 

— - 

Zulillügkcit 

=^ 

Wirklichkeit,               ^J 

^H 

Gmud 

- 

Bedingtheit 

= 

Selbständigkeit.          ^| 

^H 

1 

Spontaneität 

— 

Rezeptivität 

^= 

Thütigkcit,                   ^H 

^^K^.  Subjekt 

l 

Thun 

— 

Leiden 

= 

Zustand,                       ^H 

^^^■r 

Kraft 

— 

r= 

^M 

^^^^^ 

1 
i 

Zusammenhang 

— 

Für  sich 

= 

Relnti^ntät,                 ^H 

■            8.  Objekt      .     . 

Allgt^meines 

— 

Besond«fes 

=: 

Einzelnes,                    ^^H 

^K 

Uneadliches 

— 

Endliche» 

= 

Absolutes.                   ^^M 

^^r 

f 

Ideellefi 

-- 

Reelles 

= 

^M 

V            9.  Geist    .     .     , 

Abstrakt 

Konkret 

.= 

Begriff,                         ^H 

k^ 

Transcendcnz 

~~ 

Immanenjc 

^ 

GeisL                           ^H 

^k 

Tel 

bell 

e  11 

■ 

^^^B 

l 

Nichts 

Vielheit 

Mannigfaltigkeit,               J 

^^^^IdeeUes     . 

Pf^siti'iu 

Äusseres 

M^:)glichkeit,                ^J 

^H 

Spontaneität 

Ncxtis 

Ideelles.                      ^^M 

^H 

.{ 

Sein 

Einheit 

Einfachheit,               ^^M 

^H      2.  Reelles     .     . 

Negation 

Inneres 

Notwendigkeit,          ^H 

^H 

1 

Rc/xptiviyit 

P  ür  sich 

ReeUes.                       ^1 

^^ 

1 

Werden 

Zahl 

Übdgang,                   ^1 

^1            3.  Id^e      .     ,     . 

Verhältnis 

Erscheinung 

Wechselwirkung,        ^J 

^^ft 

Thitigkeit 

Relativität 

^1 

^^" 

r 

Entstehen 

Ganzes 

Etwas,                           ^H 

K            4.  Absirakütm   . 

■{ 

Attraktion 
ThiiD 

Inhalt 
Allgemeine* 

Kausalität,                   ^H 
Abstnüction.              ^H 

256 


George. 


/     Vergehen 

Teil 

Anderes, 

Konkretion    .     . 

l     Repulsion 

Form 

Zufälligkeit, 

l     I-ciden 

Besonderes 

Konkretion. 

/     Dasein 

Quantum 

Bestimmtheit, 

Begriff      .     .     . 

l     Indifferenz 

Existenz 

Wirklichkeit, 

l     Zustand 

Einzelnes 

Begriff. 

i     Anfang 

Grad 

Identität, 

Transcendenz 

l     Inhärenz 

Dingheit 

Grund, 

[     Kraft 

Unendliches 

Transcendenz. 

/     Bestehen 

Mass 

Unterschied, 

Immanenz      .     . 

l     Acddenz 

Eigenschaft 

Bedingung, 

[     WidcrsUnd 

Endliches 

Immanentes. 

/     Ewigkeit 

Totalität 

Vermittlung, 

Geist    .... 

l     Substanz 

Realität 

Selbständigkeit, 

[     Ich 

Absolutes 

Geist. 

6.  Der  Pantheismus  mit  unpersönlichem  aber  selbst- 
bewusstem  Absoluten  oder  der  Pseudotheismua 

Das  Unterscheidungsmerkmal  zwischen  Pantheismus  und 
Theismus  ist  die  Unpersönlichkeit  oder  Persönlichkeit  des  Abso- 
luten als  solchen.  Es  giebt  echte  Theisten,  die  Gott  kein  Selbst- 
bewusstsein  zuschreiben,  sondern  seine  Persönlichkeit  auf  Grund 
ethischer  Willensbestimmungen  annehmen.  Ob  sie  sich  damit  im 
Rechte  oder  im  Irrtum  befinden,  ist  eine  Frage  für  sich;  aber 
man  kann  ihnen  nicht  das  Recht  absprechen,  sich  auf  Grund  der 
von  ihnen  angenommenen  Persönlichkeit  Gottes  Theisten  zu  nennen. 
Andererseits  g^iebt  es  Denker,  die  dem  Absoluten  die  Persönlich- 
keit absprechen,  aber  sich  trotzdem  Theisten  nennen,  bloss  darum, 
weil  sie  dem  Absoluten  ein  eigenes  Selbstbewusstsein  zuschreiben 
und  dieses  Merkmal  auch  ohne  das  der  Persönlichkeit  für  aus- 
reichend erachten,  um  den  Theismus  sicher  zu  stellen.  Weil  sie 
selbst  sich  zu  den  Theisten  rechnen,  werden  sie  meist  auch  von 
anderen  dafür  gehalten,  ohne  dass  die  Berechtigung  dieser  Sub- 
sumtion näher  geprüft  würde.  Man  kann  der  Ansicht  sein,  dass 
ein  absolutes  Selbstbewusstsein  nicht  bloss  Bedingung  der  Per- 
sönlichkeit ist,  sondern  allein  genügt,  eine  solche  zu  konstituieren, 


Cfaamktenstik  des  Paeudathewraus. 


257 


SO  dass  die  absolute  Pers<'»nlichkeit  nicht  fehlen  könne,  wo  einmal 
t  das  absolute  Selbstbewusstsein  in  Gott  gegeben  sei.  Aus  diesem 
Gesichtspunkt  kann  man  die  Unterordnung  des  Standpunktes 
jener  Denker  unter  den  Theismus  zu  rechtfertigen  versuchen. 
Allein  damit  ändert  man  doch  ihren  Standpunkt  schon  in  einer 
Weise  ab.  die  ihren  ausdrücklichen  Intentionen  widerspricht,  und 
deshalb  ist  die  Berufung  auf  eine  von  ihnen  bestrittene  Konse- 
quenz unzulässig. 

Wollte  man  das  Selbstbewusstsein  des  Absoluten  allein  ohne 
Persönlichkeit  schon  als  ein  genügendes  Merkmal  des  Theismus 
gelten  lassen,  so  würde  es  schwer  sein,  im  Lager  des  idealisti- 
schen und  spiritualistischen  Monismus  überhaupt  noch  zweifellose 
Pantheisten  aufzuzeigen.  Fichtes  absolutes  Ich  und  Schellings 
absolutes  Erkennen  wenigstens  wollen  zweifellos  absolutes  Selbst- 
bewusstsein und  absolutes  Selbsterkennen  sein,  und  auch  bei 
Hegel  ist  die  formelle  Subjektivität  des  Begriffs  ein  reines  Den- 
ken, das  nichts  anderes  zum  Gegenstand  hat  als  sich  selbst  Die 
Form  dieses  absoluten  Erkennens  schillert  bei  allen,  auch  bei 
Schopenhauer,  zwischen  Bewusstheit  und  Unbewusstheit;  d,  h,  sie 
wird  zwar  bewusst  genannt,  aber  so  beschrieben,  dass  die  Be- 
wusstheit zugleich  wieder  verneint  wird.  Dasselbe  ist  aber  auch 
bei  den  Denkern  der  jetzt  zu  besprechenden  Gruppe  der  Fall; 
sie  behaupten  mit  Worten  das  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein 
des  Absoluten,  beschreiben  und  begründen  es  aber  so,  dass  die 
Beschreibung  eher  auf  ein  unbewusstes  intellektuelles  Schauen 
hinweist,  und  die  Begründung  des  Bewusstseins  und  Selbstbe- 
wusstseins  keine  ist 

Während  bei  den  naiven  Pantheisten  von  Fichte  bis  Hegel 
ch  jede  Reflexion  auf  den  Gegensatz  ihres  Standpunktes  zum 
eismus  fehlt,  ist  den  Denkern  der  nun  folgenden  Gruppe  durch 
die  theistische  Bewegung  ein  Licht  über  diesen  Gegensatz  auf- 
:  gesteckt  worden.  Sie  wünschen,  ihren  Platz  innerhalb  des  christ- 
lichen Theismus  einzunehmen,  obwohl  sie  die  absolute  Persönlich- 
keit ablehnen  müssen,  und  betonen  nun  um  so  schärfer  das  ab- 
solute Selbstbewusstsein  im  Gegensatz  zu  allem  Unbewussten,  in 
welchem  sie  einen  Gegensatz  des  Theismus  nicht  mehr  zu  ver- 
kennen vermögen.  Trotzdem  gelingt  es  ihnen  nicht,  das  verab- 
solutierte Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  zu  begründen  oder 
seinen  Begriff  vor  dem  Zerfliessen  in  unbewusstc,   intellektuelle 

E.V.  Hart  maoa,  Aiu(«nv.  Werke.    Bd.  XU.  I? 


^58 


Wirth, 


Anschauung  zu  bewahren.  Ihr  Theismus  bleibt  blosse  Velleütat, 
und  als  solche  ein  Pseudoüieismus,  der  nicht  nur  zu  ihrem 
Schmerze  von  den  strengeren  Theisteo  als  Pantheismus  verurteilt 
werden  muss,  sondern  auch  von  der  unbefangenen  historischen 
Kritik  nur  als  ein  verfehlter  Anlauf  zum  Theismus  oder  als  eine 
im  Pantheismus  stecken  gebliebene  Übergangsstufe  zum  Theismus 
beurteilt  werden  kann. 

Diese  Denker  sind  die  Schellingianer  Wirth  und  Steudel,  der 
Hegelianer  Biedermann  und  der  an  Spinoza,  Leibniz  und  Schel- 
ling  anknüpfende  Fechnen  — 

Wirth  (1810^1879)  ist  ein  naturalistischer  Pantheist,  der  aber 
als  christlicher  Ethiker  und  Theologe  mit  J.  H.  Fichte  und  Uhici 
zusammen  die  damals  theistische  Zeitschrift  für  Philosophie  heraus- 
gab. Für  die  mangelnde  eigene  Persönlichkeit  Gottes  sieht  er, 
ähnlich  wie  der  Hegelianer  Michelet  einen  ausreichenden  Ersatz 
in  dem  ewigen  Vorhandensein  phänomenaler  Persönlichkeiten. 
Das  Selbstbewusstsein  des  Absoluten  lässt  er  durch  dessen  Be- 
ziehung auf  den  ihm  wie  ein  Objekt  gegenüberstehenden  ewigen 
ätherischen  Spharencyklus  des  Weltgebäudes  zustande  kommen. 
Aber  er  bestimmt  dieses  so  entstandene  SeIbstbe\^Tisstsein  des  ab- 
soluten Geistes  doch  wieder  nach  Art  der  ansichseienden  logischen 
Idee  Hegels  bloss  als  ein  potentielles  Ineinander  des  möglichen 
Inhalts,  das  erst  in  der  Summe  der  endlichen  phänomenalen  Per- 
sönlichkeiten zur  entfalteten  Selbstanschauung  Gottes  auseinander- 
gelegt wird.  Während  Michelet  die  Summe  dieser  endlichen 
Persönlichkeiten  nur  in  der  zeitlich  entstandenen  Menschheit  sucht 
und  sich  mit  der  blossen  Subjektivität  der  Zeitanschauung  über 
die  zeitliche  Endlichkeit  dieses  Vertreters  der  ewigen  Persönlich- 
keit trösten  muss»  behauptet  Wirth,  dass  immer,  ohne  Anfang 
und  Ende,  auf  irgend  einem  Planeten  irgend  eines  Sonnensystems 
ein  Geisterreich  in  seiner  Blüte  stehe,  in  welchem  Gott  seine  ent- 
faltete Selbstanschauung  finde.  In  diesem  Sinne  kann  er  dann 
die  zeitliche  Endlosigkeit  der  phänomenalen  Persönlichkeit  Gottes 
festhalten,  oder,  wie  er  es  ausdrückt,  seine  zeitlich-ewige  Persön- 
lichkeit. Es  ist  aber  offenbar  eine  Verhöhnung  der  theistischen 
Forderung  einer  absoluten  Persönlichkeit  Gottes,  wenn  man  sie 
durch  die  Persönlichkeit  der  Menschen  oder  ähnlicher  Geschöpfe 
auf  anderen  Himmelskörpern  für  erfüllt  ausgiebt 

Wirth  beginnt   mit   dem    reinen  unbestimmten  Sein,    das  er 


SteudeL 


259 


dem  Plotinischen  Einen  oder  der  reineo  Einheit  gleichsetzt  Das 
Unbestimmte  lässt  er  durch  Identität  mit  sich  zum  Bestimmten 
werden,  wie  Oken  die  gesetzte  Null  gleich  Eins  setzt,  und  das 
Unbestimmte  und  Bestimmte  verknüpft  er  dann  synthetisch  zum 
Sein.  Die  Hegeische  Repulsion  des  Eins  zum  Vielen  und  die 
Attraktion  der  Vielen  wird  bei  Wirth  zur  Diskretion  und  Kon- 
tinuität, und  die  Einheit  der  Diskretion  und  Kontinuität  nennt  er 
die  ewige  Wesenheit.  Indem  die  unsinnliche  Wesenheit  er- 
scheint, wird  sie  zur  allgemeinen  Materie  oder  zum  Äther,  und 
der  Äther  wird,  indem  die  Diskretion  und  Kontinuität  sich  in 
ihm  als  Expansions-  und  Kontraktivkraft  darstellt,  zum  ätheri- 
schen Sphäros  oder  zum  Leib  der  Wesenheit.  Dann  fahrt  der 
Naturprozess  weiter  durch  das  Leben  und  die  unbestimmte  Viel- 
heit von  ätherischen  Sphären  zur  Schelliiigschen  Weltsccle,  und 
von  dieser  zum  Centralgeist  des  Sphärencyklus^  der  als  Einheit 
von  Selbstbewusstscin  und  Wille  nunmehr  Gott  heisst  Gott  ist 
eine  Vierheit  von  Substanzen,  aber  nur  Ein  Selbst.  Die  Wesen- 
heit dient  ihm  dabei  gleichsam  als  Subjekt,  der  ätherische  Sphä- 
rencyklus  als  Objekt,  das  Leben  (die  Zoe)  und  die  Welt-  oder 
Centralseele  als  Vermittelung,  um  zum  Selbstbewusstsein  zu  ge- 
langen. Alle  diese  Faktoren  sind  selbst  noch  unbewusste.  Diese 
trübe  Phantastik  bewegt  sich  noch  ganz  in  Okcnschen  Bahnen, 
wenn  sie  auch  gelegentlich  LIegelsche  und  Plotinische  Gedanken- 
bestandteüe  mit  verwertet.  — 

Steudel  {1805 — 1887)  ist  in  methodologischer  Hinsicht  moder- 
ner, knüpft  aber  doch  ganz  an  die  Schellin gsche  Identitäts- 
philosophie an  und  sucht  das  Urpriocip  in  der  absoluten  und 
unmittelbaren  Identität  des  Idealen  und  Realen,  des  Geistes  und 
der  Materie,  die  er  ohne  weiteres  postuliert  und  für  die  er  jede  Ver- 
mittelung  verschmäht.  Die  Materialität  fällt  ihm  einerseits  mit 
Substantialität ,  andererseits  mit  Räumlichkeit  zusammen;  nach 
der  Seite  seiner  Realität  oder  Materialität  ist  also  das  Absolute 
die  räumliche  Substanz  oder  der  substantielle  Raum  von  unend- 
licher Dauer,  der  ganz  wie  bei  Planck  nicht  etwa  Kräfte  hat, 
sondern  zugleich  die  zusammenfassende  und  bildende  Kraft  ist. 
Dass  ein  einfaches  Absolutes  zu  keiner  Differenzierung  und  zu 
keiner  Welt  kommen  könne,  wird  von  Steudel  bestritten;  von 
einer  Konstruktion  der  Materie  aus  Kräften  als  eines  phänome- 
nalen Produktes  derselben  kann  auf  diesem  Standpunkt  natürlich 

'7* 


löo 


Steudd. 


keine  Rede  sein,  da  die  Materie  selbst  die  ursprüngliche  Einheit 
ist,  die  sich  zu  allem  gestaltet 

Steudel  bekämpft  die  von  allen  Pantheisten  in  der  ersten 
Hälfte  dieses  Jahrhunderts  gehegte  Ansicht,  dass  das  Absolute 
actus  purus,  reine  Thätigkeit  ohne  ein  Thätiges,  ohne  ein  hinter 
der  Thätigkeit  stehendes  Subjekt  sei;  aber  er  bekämpft  sie  nur 
in  dem  Sinne,  dass  er  das  Objekt»  das  Produkt  der  Thätigkeit,  die 
Materie  oder  den  stofflich  erfüllten  Raum  an  die  Stelle  der  Sub- 
stanz set2t,  d,  h.  das  Posterius  der  Thätigkeit  zugleich  zu  ihrem 
Prius  macht  Das  ist  ein  offenbarer  Widerspruch.  Soll  diesem 
Widerspruch  dadurch  ausgebogen  werden,  dass  die  stoffliche  Sub- 
stanz aufhört,  Produkt  der  Thätigkeit  zu  sein,  und  ihr  Träger  und 
Produzent  wird^  dann  schlägt  Steudels  Identitätsphilosophie  in 
Planckschen  Materialismus  um.  Soll  aber  die  stoffliche  Substanz 
mit  der  Thätigkeit  identisch  gesetzt  werden,  so  löst  sie  sich  ent- 
weder in  eine  Erscheinung  der  subjektlosen  Thätigkeit  auf,  oder 
es  lässt  sich  überhaupt  nichts  mehr  dabei  denken;  denn  das  mit 
der  Thätigkeit  Identische  zum  Subjekt  der  Thätigkeit  machen, 
heisst  doch  nichts  anderes  als  die  Thätigkeit  rein  auf  sich  selbst 
stellen. 

Durch  ihre  bildende  Kraft  wirkt  die  Materie  alle  Dinge  aus, 
und  diese  sind  nur  darum  real,  weil  sie  aus  dem  absoluten  Real- 
prinzip der  Materie  herstammen.  Da  Gott  schon  als  materielle 
Substanz  die  Fülle  aller  Realität  ist,  so  kann  sein  Denken  keine 
Vermehrung  dieser  Realität  herzubringen.  Gott  ist  nach  seiner 
geistigen  Seite  Denken»  ja  nicht  etwa  auch  Wille,  was  eine  anthro- 
pomorphische  Verunreinigung  seines  Begriffs  wäre.  Sein  Denken 
ist  schrankenlos,  darum  kann  es  keine  Realität  schaffen;  denn 
wenn  die  göttlichen  Gedanken  als  solche  schon  reale  Dinge  wären, 
so  hätte  Gottes  Denken  eine  Schranke  daran ^  dass  es  nichts  den- 
ken könnte,  ohne  es  zugleich  als  Reales  zu  setzen.  Das  gött- 
hche  Denken  ist  demnach  ein  fünftes  Rad  am  Wagen,  da  es  für 
die  Welt  nichts  leistet;  es  wird  nur  postuliert,  um  die  Identitäts- 
philosophie aufirecht  zu  erhalten  und  nicht  in  einseitigen  Materia- 
lismus zu  verfallen,  wie  Planck* 

Da  Steudel  alles  bewusstlose  Geschehen  für  ein  absichtsloses, 
zufälliges,  grundloses  Geschehen  und  einen  bewusstlosen  Gedan- 
ken für  keinen  Gedanken  erklärt,  so  bleibt  ihm  gar  nichts  übrig, 
als  das  Denken  Gottes  als   ein   bewusstes   aufrecht   zu  erhalten. 


* 


26l 


Die  Beschreibung  aber,  die  er  von  dem  absoluten  Selbstbe\%^sst- 
sein  Gottes  giebt,  entspricht  durchaus  dem  substantiellen  Selbst- 
bewusstsein  oder  nicht  wissenden  Wissen  bei  Schelüng,  d.  h.  der 
unbewussten  intellektuellen  Bethätigung  seines  »ewig  Unbewuss- 
ten«.  Die  scheinbare  Rechtfertigung  des  göttlichen  Selbstbew^usst- 
seins  liegt  bei  Steudel  nicht  darin,  dass  er  etwa  wie  Wirth  den 
absoluten  Geist  als  Subjekt  seiner  Erscheinung  als  Objekt  gegen- 
überstellt, sondern  darin,  dass  er  beide  identifiziert,  wie  er  Geist 
und  Materie,  Denken  und  Raum  identifiziert.  Da  muss  der  Stand- 
punkt Plancks  doch  klarer  und  folgerichtiger  genannt  werden. 

Steudel  beliauptet,  dass  vom  Standpunkt  der  Religion  als 
Gemütssache  Gott  gar  nicht  anders  als  persönlich  vorgestellt 
werden  könne;  er  scheint  also  von  pantheistischen  Religionen 
nichts  zu  wn'ssen.  Da  er  es  für  unter  der  Würde  der  Wissen- 
schaft erachtet,  das  vom  Denken  Verworfene  durch  die  Hinter- 
pforte des  Glaubens  wäeder  einzuführen,  so  bleibt  ihm  keine 
andere  Schlussfolgerung  übrig,  als  die  Bekämpfung  der  Religion 
überhaupt  vom  Standpunkte  der  Wissenschaft,  um  die  bessere 
Einsicht  an  die  Stelle  von  Illusionen  zu  setzen,  in  deren  Namen 
die  Völker  imd  die  einzelnen  sich  schon  so  lange  fanatisch  be- 
kämpft haben.  — 

Biedermann  (1819 — 1885)  unterscheidet  sich  dadurch  von 
seinem  Lehrer  Vatke,  dass  er  nicht  nur  das  von  diesem  verwor- 
fene Selbstbewusstsein  des  Absoluten  wieder  annimmt,  sondern 
auch  die  Persönlichkeit  Gottes  wenigstens  als  bildliche  Redeweise 
duldet  und  empfiehlt,  wenn  er  auch  die  begriffliche  Unverträg- 
lichkeit der  Persönlichkeit  mit  der  Absolutheit  sowohl  in  Bezug 
auf  den  Gottesbegriff  selbst  als  auch  in  Bezug  auf  sein  Verhält- 
nis zur  Welt  weit  strenger  und  ausführlicher  als  einer  seiner 
Vorgänger  beweist.  Das  Festbalten  des  Wortes  Persönlichkeit 
für  die  gemeine  Gottesvorstellung  trotz  ihrer  begrifflichen  Wider- 
legung erinnert  bedenklich  an  die  Lehre  von  der  doppelten 
Wahrheit  Das  Selbstbewusstsein  Gottes  ist  dem  Theismus  un- 
entbehrlich, aber  doch  nur,  w^eil  es  conditio  sine  qua  non  der  Per- 
sönlichkeit Gottes  ist*  Wird  die  Persönlichkeit  Gottes  einmal 
preisgegeben,  so  ist  der  Boden  des  Theismus  doch  ohnehin  ver- 
lassen und  es  hat  dann  im  theistischen  Interesse  gar  keinen  Wert 
mehr,  das  Selbstbewusstsein  Gottes  weiter  festzuhalten» 

Die  Selbstbewusstheit  des  Absoluten  erachtet  Biedermann  für 


selbstverständlich,  indem  er  sie  mit  dem  Insichrefleküertsein  sei- 
nes begrifflichen  Inhalts  gleichsetzt,  das  er  aus  Hegel  übernimmt 
Bei  Hegel  bedeutet  aber  das  Insichreflektiertsein  eines  Begriffs 
oder  sein  Scheinen  in  sich  durchaus  nicht  eine  subjektive  Be- 
wusstseinsreflektion,  sondern  lediglich  ein  objektiv  logisches  Ver- 
hältnis der  Momente  des  Begriffs  zu  einander,  den  dialektischen 
Umschlag  des  Begriffs  in  sein  Anderes  und  den  Rückschlag  aus 
dem  Anderen  in  ihn  selbst.  Das  sich  Reflektieren  des  Begriffs 
ist  die  Form  des  objektiven  dialektischen  Prozesses  auf  der  Stufe 
des  Wesens«  wie  das  Übergehen  in  Anderes  oder  die  Verände- 
rung auf  der  Stufe  des  Seins  und  die  Entwickelung  auf  der 
Stufe  des  Begriffs  (Hegels  Werke,  VI,  317).  Es  ist  ein  blosses 
Miss  Verständnis  Biedermanns,  dieses  Hegeische  Reflektieren  mit 
dem  Bewusst werden  zu  verwechseln. 

Biedermann  entfernt  sich  von  Hegel  dadurch,  dass  er  die 
Hegeische  Widerspruchsdialektik  mit  der  Aristotelischen  Dialektik 
vertauscht  und  die  Erkenntnis  von  der  Erfahrung  zur  Spekulation 
hinaufzuführen  sucht.  Dadurch  wird  er  genötigt,  Hegels  reinen 
Monismus  in  einen  gebrochenen  zu  verwandeln;  weil  ihm  das 
Unlogische  der  widerspruchsvollen  Antithese  abhanden  gekommen 
ist  und  er  die  in  der  Materie  wirksame  Kraft  nicht  als  selb- 
ständiges Prinzip  gelten  lassen  will,  muss  er  zu  dem  Cartesianisch- 
Spinozistischen  Aushilfemittel  zurückgreifen,  das  Prinzip  der  ma- 
teriellen Realität  in  der  Ausdehnung  zu  suchen.  Er  definiert 
also  das  ideale  Sein  oder  das  Geistige  als  blosse  Verbindung  von 
logischen  Kategorien,  das  reale  Sein  oder  das  Materielle  als  eine 
Verbindung  logischer  Denkformen  mit  sinnUchen  Anschauungs- 
formen. Da  er  aber  nicht  subjektiver  Idealist,  sondern  erkenntnis- 
theoretischer Realist  sein  will,  so  kann  er  dieses  reale  raumzeit- 
hche  Dasein  nicht  als  blosses  Produkt  des  empirischen  Indivi- 
duums gelten  lassen,  sondern  muss  es  in  naivrealistischer  Weise 
als  ein  von  demselben  Unabhängiges  hinstellen.  Andererseits 
kann  er  aber  das  Sinnhche  oder  Materielle  auch  nicht  als  blosse 
Funktion  oder  Manifestation  des  absoluten  Geistes  behandeln,  da 
dieser  noch  schärfer  als  der  endliche  Geist  auf  logische  Kategorien 
beschränkt  ist. 

Dadurch  wird  er  genötigt,  es  als  caput  mortuum  eines 
früheren  Schöpfungsaktes  auszugeben,  also  in  Bezug  auf  die  ma- 
terielle Welt  die  theistische  Schöpfungslehre  anzunehmen,  während 


F€?chner. 


263 


er  für  die  rem  geistige  Seite  der  geistigen  Welt  die  funktionelle 
lanifestation  im  Sinne  des  panlogistischen  Monismus  festhält 
FAber  da  alle  endlichen  Geister  sich  vom  absoluten  Geist  durch 
ihre  Abhängigkeit  von  ihren  materiellen  Leibern  unterscheiden 
und  alles  persönliche  Geistesleben  sich  auf  dem  Grunde  materieller 
Individualitäten  erhebt,  so  ist  auch  für  alles  endliche  persönliche 
Geistesleben  der  Biedermannsche  Standpunkt  kein  reiner  Monis- 
mus, sondern  ein  dualistisch  gebrochener.  Durch  diesen  halben 
Abfall  von  Hegel  hat  er  trotzdem  nicht  erreicht,  was  er  erreichen 
wollte,  die  Annehmbarkeit  seines  unpersönlichen  Gottesbegriffs 
für  den  christlichen  Theismus.  Niemand  hat  bis  jetzt  darthun 
können,  dass  ein  Standpunkt,  wie  ihn  Michelet,  Vatke  und  Bieder- 
mann vertritt,  mit  den  Bedürfnissen  des  religiösen  Bewusstseins 
unvereinbar  sei;  aber  es  ist  eine  Täuschung,  zu  glauben,  dass  er 
mit  der  historisch  überlieferten  Form  der  christlichen  Religiosität 
vereinbar  sei.  Denn  für  das  religiöse  Verhältnis,  auf  das  es  der 
Religion  doch  ankommt,  bleibt  auch  bei  Biedermann  Gott  unper- 
sönlich und  der  Menschengeist  nicht  eine  von  ihm  geschaffene 
Substanz,  sondern  eine  funktionelle  Manifestation  Gottes,  In  dem 
entscheidenden  Punkte  bleibt  auch  Biedermann  Pantheist,  allerdings 
im  Sinne  eines  panlogistischen  konkreten  Monismus.  Seine  Be- 
merkungen gegen  den  Pantheismus  zielen  nur  auf  den  naturalis- 
tischen und  abstraktmonistischen  Pantheismus,  treffen  aber  den 
konkretmonistischen  gar  nicht,  zu  dem  er  sich  selbst  bekennt  und 
den  er  nur  mit  missbräuchlicher  Bezeichnung  konkreten  Monotheis- 
mus zu  nennen  beliebt*)  ^ 

Fechner  (iBoi  — 1887)  ist  ein  Ausläufer  der  Identitätsphilo- 
sophie, der  von  Oken  starke  Anregungen  empfing,  aber  zugleich 
in  der  Methode  der  modernen  Naturwissenschaften  wurzelte.  Seine 
Bemühungen,  naturphilosophische  Spekulationen  und  exakte  Na- 
turwissenschaft mit  einander  zu  verbinden,  lassen  zw*ischen  beiden 
schliesslich  doch  eine  klaffende  Lücke.  Von  Schelling  übernimmt 
er  den  erkenntnistheoretischen  Idealismus,  die  identische  meta* 
physische  Wurzel  der  inneren  seelisch-geistigen  Selbsterscheinung 
und  der  äusseren,  körperlichen,  materiellen  Erscheinung,  und  den 


*)  VgL  Kritische  Wanderungen  durch  die  Philosophie  der  G^enwarit  S.  200<-»d3i; 
Mc  Krisis  des  Chrifitentiims  in  der  modernen  Theologie,  S.  17 — 20,  87 — 97;  Plulosopbie 
Ünbewussten,  10.  Aufl.,  Bd.  IL,  S.  489 — 495. 


Fechner. 


Glauben  an  die  Beseeltheit  der  Gestirne,  die  ihm  mit  den  Engeln 
zusammenfallen,  wie  den  Alten  mit  den  Gottern.  Von  Herbart 
entlehnt  er  den  Begriff  der  Bewusstseinsschwelle,  mit  Hilfe  dessen 
er  ein  Gesamtbewusstsein  der  Gestirngeister  und  des  Weltgeistes 
zu  konstruieren  sucht.  Mit  den  Pantheisten  stimmt  er  darin  iiber- 
ein,  dass  alle  Individuen  aller  Stufen  blosse  Erscheinungen  des 
Absoluten  sind  und  keinerlei  eigene  Substantialität  im  Sinne  der 
Monadologie,  des  Pluralismus  und  der  theistischen  Schöpfungslehre 
haben. 

Dem  Atomismus  trägt  er  darin  Rechnung,  dass  die  letzten 
Elemente  der  äusseren  körperlichen  Erscheinung  ausdehnungslos 
punktuelle  Atome  sein  müssen.  Aber  er  verwirft  die  Ansicht,  dass 
diese  diskreten  Punkte  blosse  Kraftsitze,  stofflose  Centralkräfte 
seien,  weil  er  keine  Vielheit  von  Kräften  gelten  lassen  will  und 
keinen  anderen  Dynamismus  kennt,  als  einen,  der  den  Raum 
kontinuierlich  durch  Kräfte  erfiillt  denkt.  Er  geht  darüber  hinweg, 
dass  in  einem  ausdehnungslosen  Punkte  kein  Stoff  mehr  Platz 
hat,  in  einem  stofflichen  Atome  aber  auch  noch  stoffliche  Teile 
unterscheid  bar  sein  müssen,  also  keine  punktuelle  Konzentration 
erreicht  ist.  Er  bestreitet  nicht,  dass  die  Bew^egung  einen  Grund 
haben  müsse,  und  man  diesen  Grund  Kraft  nennen  könne;  aber 
er  bestreitet  die  Selbständigkeit  dieses  Grundes  der  Bewegung  und 
verlegt  sie  in  das  Gesetz  hinein,  sucht  also  den  Träger  des 
Konkreten  in  einer  blossen  Abstraktion.  Auch  das  giebt  er  zu> 
dass  alle  materiellen  Impulse  im  Wcltprozess  an  psychische  Im- 
pulse oder  Strebungen  des  ordnenden  Weltgeistes  gebunden  sind, 
aber  er  gelangt  nicht  dazu,  diese  gesetzmässigen  diskreten  Strebun- 
gen des  Weltgeistcs  als  die  diskreten  Atomkräfte  anzuerkennen, 
durch  welche  die  Stofflichkeit  der  Atome  überflüssig  gemacht 
und  ihre  Punktualität  erst  ermöghcht  wird. 

Die  Atome  sind  nach  Fechner  noch  nicht  mit  einem  atomis- 
tjschen  Sonderbewusstsein  verknüpft  Sie  wären  überhaupt  nicht, 
wenn  sie  nicht  in  dem  un reflektierten  schöpferischen  Bewusstsein 
des  Weltgeistes  wären;  denn  für  das  menschliche  Bewusstsein 
sind  sie  bloss  unentbehrliche  Hypothesen,  aber  nicht  phänomenale 
Anschauungen.  Was  weder  in  ein  niederes  noch  in  ein  höheres 
Bewoisstsein  fällt,  ist  überhaupt  nicht  nach  dem  Grundsatz  des  er- 
kenntnis-theo retischen  Idealismus,  den  auch  Fechner  sich  aneignet. 
Die  Atome   sind    demnach   nur   als   Bestandteile  des  Gedanken- 


* 


FechDer« 


265 


bildes  im  Weltgeist,  und  nur  als  solche  liefern  sie  Zusammen- 
setzungen (Körper),  die  auch  in  die  phänomenale  Anschauung 
niederer  Bewusstseine  eingehen.  Bei  den  Atomen  entspricht  also 
der  äusseren  Erscheinung  für  andere  keine  Selbsterscheinung  in 
ihnen  selbst;  der  psychophysische  Parallelismus  zeigt  bei  dieser 
untersten  Grenze  der  Individuation  eine  Lücke.  Das  kann  nur 
daher  rühren,  dass  die  Bewusstseinsschwelle  für  die  Atome  sehr 
hoch  Hegt,  nämlich  so  hoch,  dass  durch  keinen  sie  treffenden 
Reiz  die  Empfindung  über  die  Bewusstseinsschwelle  gehoben 
wird.  Sie  schlafen  immer,  und  so  tiefi  dass  kein  Reiz  ausreicht, 
sie  zu  wecken.  — 

Bei  den  Pflanzen  und  niederen  Tieren  tritt  schon  ein  Wechsel 
von  Schlaf  und  Wachen  ein,  wenn  sich  auch  das  Erwachen  noch 
nicht  auf  die  höheren  und  höchsten  Vermögen  des  Geistes  bezieht. 
Das  Erwachen  der  höheren  Geistesverniögen  kommt  erst  bei  den 
höheren  Tieren,  das  der  höchsten  erst  beim  Menschen  zustande* 
Die  Bewusstseinsschwelle  scheint  somit  nach  Fechners  Ansicht  um 
so  tiefer  zu  sinken,  zu  je  höheren»  centralisiertercn  Organisations- 
formen und  Individuationsstufen  man  aufsteigt.  Die  Folge  da- 
von ist,  dass  das  Individualbewusstsein  höherer  Ordnung  zwar 
allen  Inhalt  der  von  ihm  umspannten  Individualbe wusstseine 
niederer  Ordnung  und  dazu  noch  eine  Menge  von  dem,  was  für 
diese  unterhalb  der  Bewusstseinsschwelle  bleibt,  in  sich  schliesst, 
dass  aber  jedes  Individualbewusstsein  niederer  Ordnung  nur  einen 
kleinen  Teil  von  dem  auffasst»  was  das  Individualbewusstsein 
höherer  Ordnung  in  sich  schliesst.  Dies  gilt  nun  auch  für  den 
Erdgeist,  der  den  Bewusstseinsinhalt  aller  Menschen,  Tiere  und 
Pflanzen  der  Erde  in  sich  schhesst  und  dazu  noch  vieles,  was 
für  diese  unter  der  Bewusstseinsschwelle  bleibt  Es  gilt  im 
höchsten  Masse  für  das  Universalbewusstsein  des  Weltgeistes; 
denn  dieses  umspannt  nicht  nur  den  Inhalt  aller  Ciestirngeister, 
sondern  auch  noch  alles  dazu,  was  dem  materiellen  Geschehen  in 
der  Welt  entspricht,  aber  ftir  diese  noch  unterhalb  der  Bewusst- 
seinsschwelle liegt.  Die  Bewusstseinsschwelle  des  Universalgeistes 
ist  also  so  niedrig  belegen,  wie  sie  überhaupt  liegen  kann,  so 
niedrig,  dass  jedem  materiellen  Vorgang  eine  geistige  Bethätigung 
entspricht,  die  ins  ßewusstsein  fällt,  d.  h.  sie  liegt  auf  NulL  Hier 
erst,  im  Universalbewusstsein,  ist  der  psychophysische  Parallelis- 
mus  ein  vollständigen 


266 


Ferlincr. 


Da  wir  von  dem  Bewusstseinszustande  der  Atome  und  der 
Individualbewusstscine  höherer  Ordiiiing  über  den  Menschen  hin- 
aus unmittelbar  nichts  wissen,  so  können  w^ir  nur  auf  denselben 
zurückschliessen  aus  dem  uns  bekannten  Verhältnis  eines  Central- 
bewusstseins  zu  dem  Sonderbewusstscin  der  von  ihm  umspannten 
Individuen,  z.  B.  in  einem  Wurme  oder  Insekt  oder  im  Menschen. 
Tierv^er&uche,  Traum,  Hypnotismus  und  teleologische  Betrachtungen 
stellen  es  nun  aber  ausser  Zweifel,  dass  das  Verhältnis  innerhalb 
dieser  Grenzen  gerade  umgekehrt  sein  muss,  wie  Fechncr  ange- 
nommen  hat  Das  Centralbewusstsein  entfaltet  nur  darum  eine 
höhere  geistige  Bethätigiing,  weil  ihm  mehr  Erfahrungen  als  jedem 
einzelnen  der  von  ihm  umspannten  Individuen  und  höhere  synthe- 
tische Intellektualfunktionen  zu  Gebote  stehen,  aber  nicht,  weil 
seine  Schwelle  tiefer  läge.  Im  Gegenteil  rückt  proportional  mit 
dem  Grade  der  Centralisation  die  Schwelle  immer  höher  hinauf,  und 
wenn  dem  nicht  so  wäre,  so  würde  das  Centralbewusstsein  von 
der  Masse  der  auf  es  einstürmenden  Reize  verwirrt  und  über- 
wältigt. Es  verhält  sich  also  in  dem  uns  übersehbaren  Gebiet 
der  Individuationsstufen  mit  der  Schwelle  gerade  umgekehrt  wie 
Fechner  annimmt.  Nur  weil  ihm  diese  Möglichkeit  niemals  in  den 
Sinn  gekommen  ist,  lehnt  er  für  sich  die  Annahme  der  Atom- 
empfindung ab,  deren  Möglichkeit  er  zugicbt;  denn  er  glaubt, 
dass  dann  alle  Atomempfindungen  auch  in  das  Bewusstsein  der 
höheren  Individuationsstufen  eintreten  müssten.*) 

Nun  muss  man  aber  doch  zunächst  annehmen^  dass  das  Stei- 
gen der  Schwelle  mit  dem  Steigen  der  Individualitätsstufe  und 
das  Sinken  der  Schw^elle  mit  dem  Sinken  der  Individualitätsstufe, 
welches  wir  bei  Pflanzen,  Tieren  und  Menschen  feststellen,  auch 
über  diese  Grenzen  hinaus  nach  oben  und  unten  hin  Geltung 
haben  dürfte,  D.  h.  man  muss  annehmen,  dass  die  Schwellcnlage 
auf  der  untersten  Individualitätsstufe  der  Atome  ein  Minimum, 
auf  der  obersten  des  einheitlichen  Universums  ein  Maximum 
sein  wird.  Die  entgegengesetzte  Annahme  würde  einschliessen, 
dass  die  Veränderung  der  Schwelle  mit  der  Individualitätsstufe 
eine  Kurve  sei,  welche  zweimal  ihre  Richtung  umkehrt.  Dann 
gewinnen   aber  nicht   nur   die  Atome   das  Bewusstsein  aller  mit 


♦)  WissensdmftJidje    Briefe    von    Kecliner    und    Prcyer    (Hoinbuig    und    Leipzig, 
VoBS»  1890),  S.  126,  fo; — 108. 


Fechner. 


267 


ihnen  vorgehenden  Veränderungen,  sondern  das  Universum  ver- 
liert es.  Die  innere  Schwelle  innerhalb  eines  Individuums  hängt 
von  der  Güte  der  Leitung  ab;  diese  ist  aber  zwischen  den  Gang- 
lienzellen eines  Gehirns  durch  die  Verbindungsfasern  besser  her- 
gestellt als  zwischen  zwei  Gehirnen  durch  Erde,  Luft  und  Äther. 
Deshalb  muss  die  Schwelle  für  die  Kommunikation  zweier  Gang- 
lienzellen in  einem  Gehirn  niedriger  liegen  als  die  für  die  Kom- 
munikation zweier  Gehirne  (Telepathie,  Vorstellungsübertragung). 
Für  die  Erde  als  Ganzes  muss  sie  noch  tiefer  liegen,  als  für  je 
zwei  Menschen,  wahrscheinhch  so  tief,  dass  keiner  der  wirklich 
vorkommenden  Reize  sie  jemals  überschreitet  Für  ein  zusam- 
menfassendes  Bewusstsein  des  Erdgeistes  fehlt  also  die  Grund- 
lage, und  noch  mehr  für  ein  solches  des  Weltgeistes,  dessen  Sen- 
sorium  das  ganze  materielle  Universum  wäre.  — 

Aus  dem  zusammenfassenden  Bewusstsein  des  Weltgeistes 
leitet  nun  Fechner  auch  dessen  Selbstbewusstsein  ab.  Wie  der 
Künstler  aus  der  sinnlichen  Anschauung  des  vollendet  vor  ihm 
dastehenden  Kunstwerks  auf  sich  als  den  Urheber  des  Kunst- 
werks zurückblickt,  so  soll  der  Weltgeist  aus  der  zusammen- 
fassenden phänomenalen  Anschauung  der  Welt  auf  sich  als  ihren 
Urheber  reflektieren*  Es  ist  klar,  dass  mit  der  zusammenfassen- 
den phänomenalen  Weltanschauung  des  Weltgeistes  auch  der 
Anlass  zu  der  Reflex^ion  auf  sich  selbst  wegfällt. 

Nun  schreibt  aber  Fechner  dem  Weltgeist  ein  zwiefaches 
gegenständliches  Bewusstsein  zu,  ein  intelligibles,  schöpferisches, 
produktives  L^rbewusstsein  und  ein  phänomenales,  sinnlich  ge- 
färbtes, rezeptives  Nachbewusstsein.  Beide  verhalten  sich  wie  das 
Gedankenbild  des  genialen  Künstlers,  nach  welchem  er  das 
Kunstwerk  schaflFt  und  die  sinnliche  Anschauung,  die  er  von  dem 
vollendeten  Kunstwerk  empfängt  Nur  die  phänomenale  An- 
schauung ist  von  der  Zusammenfassung  aller  Son derbe wusst seine 
und  aller  sie  hervorrufenden  Reize  abhängig;  die  intelligible,  die 
der  Setzung  der  Erscheinung  vorhergeht,  ist  dagegen  von  der 
Zusammenfassung  und  der  Schwellenfrage  unabhängig.  Aber 
nur  die  phänomenale,  zusammenfassende  Anschauung  der  Welt 
im  Absoluten  kann  Anlass  zum  Rückblick  auf  den  Welturheber 
und  damit  zum  göttlichen  Selbstbewusstsein  geben;  das  intelli- 
gible  Urbewusstsein ,  das  der  Schellin gschen  intellektueUen  An- 
schauung entspricht»  kann  es  als  ganz  vom  Centrum  weggewen- 


268 


Fcchncr. 


detes  nicht.  Das  intelligible  Gedankenbild  der  eventuell  zu  schaf- 
fenden Welt  genügt  offenbar  dem  Weltgcist  nicht;  er  stürzt  sich 
in  die  Erscheinung,  um  durch  sie  zum  phänomenalen  Bewusstsein 
und  Selbstbewusstsein  zu  gelangen.  Gott  ist  »bewusst  von  An- 
fang an,  jedoch  nicht  mit  Bewusstsein  sich  wendend  rückw^ärts 
aufs  Bewusstsein«,  Jenes  Urbewusstsein  ist  also  das  substan- 
tielle, unmittc4bare,  unreflektierte,  nicht  wissende  Bewusstsein 
Schellings,  welches  mit  dessen  >ewig  Unbewussten*  zusammenfällt 

Fechner  wehrt  jede  Beziehung  des  Geistes  zu  Unbewusstem 
ab;  er  lässt  das  Unbewusste  nur  als  einen  an  und  für  sich  un- 
geistigen, materiellen  Niederschlag  früherer  bewusstgeistiger  Pro- 
zesse gelten,  der  unter  Umständen  durch  sein  zweckmässiges 
Funktionieren  den  falschen  Schein  der  Geistigkeit  vorspiegelt 
Deshalb  kann  er  der  schöpferischen  Intelligenz  des  Weltgeistes 
nicht  dcis  Bewusstsein  absprechen,  ohne  ilir  die  Geistigkeit  abzu- 
sprechen. Aber  dieses  Urbewusstsein  muss  ein  schlechthin  gegen- 
ständliches bleiben,  das  seine  Objekte  als  Erscheinungen  setzt,  in- 
dem es  sie  denkt,  und  es  fülirt  nie  zu  einem  Selbstbewusstsein, 
wenn  das  zusammenfassende  phänomenale  Bewusstsein  im  Abso- 
luten nicht  zustande  kommen  kann.  *- 

Was  an  Fechners  Metaphysik  gegenw^ärtig  am  meisten  ge- 
schätzt wird»  ist  das  Stichwort  des  psych ophysischen  Parallelis- 
mus, oder  die  Lehre,  dass  jeder  äusseren,  körperlichen  Erschei- 
nung eine  innere,  seelische  entsprechen  muss  und  umgekelirt  Es 
ist  dies  nur  eine  Erneuerung  des  Spinozismus  in  modernem  Ge- 
wände, die  auch  bei  Fechner  auf  identitätsphilosophischem  Grunde,, 
d.  k  auf  gemeinsamer  Wesenswurzel  beider  Erscheinungsarten 
ruht  Die  heutige,  metaphysikscheue  Philosophie  hat  die  identi- 
tätsphilosophische Grundlage  beiseite  geschoben  und  nur  den 
psychophysischen  Parallelismus  beibehalten  als  einen  bequemen 
Ausdruck  für  thatsächlich  gegebene  Beziehungen  beider  Erschei- 
nungsarten, vermittelst  dessen  die  Frage  nach  der  Wechselwirkung 
zwischen  beiden  aus  der  Welt  geschafft  wird. 

Da  ist  nun  zunächst  daran  zu  erinnern,  dass  der  psych ophy-^^ 
sische    Paralielisnms   nur  für   ein   solches   Bewusstsein   lückenlotf^H 
vollständig  ist,  dessen  Schwelle  auf  Null  liegt.     Für  alle  anderen       ' 
Bewusstseine   fehlt  die  psychische  Resonanz  bei  materiellen  Rei- 
zen, die  unter  der  Schwelle  liegen.    Da  nach  Fechner  nur  beim 
Weltgeist   die  Schwelle    auf  Null   liegt,   so    gilt    auch  eigentlich 


Fedmen 


26g 


nur  für  diesen  der  psychophysische  Parallelismus  im  ganzen  Um- 
fang der  Erscheinungen.  Für  das  menschliche  Bewusstsein  gilt 
er  jedenfalls  nur  äusserst  lückenhaft,  mag  nun  die  Schwelle  im 
Weltgeist  oder  im  Atom  auf  Null  liegen. 

Aber  auch  für  den  Weltgeist  ist  nach  Fechner  der  psycho- 
physische Parallelismus  nichts  weniger  als  eine  prästabilierte 
Harmonie,  sondern  ein  Produkt  seiner  produktiven  und  rezeptiven 
geistigen  Thätigkeit.  Er  ist  darum  aucli  nicht  einfach,  sondern 
doppelt.  Die  äussere  Erscheinungswelt  muss  dem  intelligiblen 
Urbevvusstsein  entsprechen,  durch  das  sie  geschaffen  wird,  und 
das  phänomenale  Bewusstsein  muss  der  äusseren  Erscheinungs- 
welt entsprechen,  die  als  ihr  Reiz  w^irkt.  Die  äussere  Erschei- 
nungswelt ist  das  Posterius  des  intelligiblen  Urbewusstseins 
und  das  Prius  des  phänomenalen  Bewusstseins ;  sie  ist  mit 
anderen  Worten  das  Produkt  unbewusster  Geistesthätigkeit  und 
der  Hervorrufer  der  bevvussten  Geistesthätigkeit.  Damit  löst 
sich  der  psychophysische  Parallelismus  selbst  bei  Fechner  in  eine 
zwiefache  Kausalität  auf  Für  uns  Menschen  kommt  hauptsäch- 
lich die  zweite  Hälfte  derselben  in  Betracht,  die  Abhängigkeit 
des  Erapfindungslebens  von  der  Körperwelt,  da  wir  in  das  intelli- 
gible  Urbewusstsein  Gottes  nicht  hineinblicken  können.  Die 
andere  Seite,  die  Abhängigkeit  körperlicher  Erscheinungen  von 
geistigen  Vorgängen,  kann  nur  dann  in  uns  herv^ortreten ,  w^enn 
Teilfunktionen  des  produktiven  absoluten  Urbe\ivnisstseins  in  un- 
ser Geistesleben  ohne  unser  Vorwissen  hineinragen,  die  unserem 
menschlichen  Bewusstsein  freilich  dann  unmittelbar  unbewusst 
bleiben  müssen.  — 

Da  es  Dinge  an  sich  hinter  der  phänomenalen  Körperwelt 
nach  Fechner  nicht  giebt,  so  ist  dasjenige,  wodurch  die  Körper- 
welt für  mich  bestimmt  ist,  lediglich  die  Körperwelt  im  absoluten 
Bewusstsein.  Meine  Vorstellung  von  diesem  Dinge  und  die  Vor- 
stellung Gottes  von  ihm  sind  nicht  zwei  Vorstellungen,  sondern 
eine  und  dieselbe,  numerisch  identische  Vorstellung,  unbeschadet 
dessen,  dass  die  Vorstellung  Gottes  von  ihm  reicher  ist  als  die 
meinige  und  viele  Einzelheiten  einschliesst,  die  für  mein  Bewusst- 
sein unter  der  Schwelle  liegen.  Dasselbe  gut  aber  auch  von  der 
Vorstellung  eines  anderen  Menschen  von  diesem  Dinge;  seine 
und  meine  Vorstellung  von  diesem  Dinge  stimmen  eben  darum 
mit  einander  überein,  weil  beide  mit  der  Vorstellung  Gottes  von 


270 


Fechner. 


dem  Dinge  übereinstimmen.  Wie  die  Vorstellungen  zweier  Be- 
wusstseine  numerisch  identisch  sein  können,  ohne  dass  auch  die 
Bewusstseine  numerisch  identisch  sind,  bleibt  dabei  uner«'jrtcrt, 
ebenso  wie  es  verhindert  werden  soll,  dass  meine  Vorstelhmg 
und  die  eines  anderen  von  dem  Dinge  numerisch  identisch  seien, 
wenn  sie  beide  mit  derjenigen  Gottes  numerisch  identisch  sind. 
Diejenige  Leistung,  durch  welche  Fechner  einen  dauernden 
Platz  in  der  Geschichte  der  Philosophie  einnehmen  wird,  ist  die 
Aufstellung  des  von  ihm  sogenannten  Weberschen  Gesetzes,  wel- 
ches die  Abhängigkeit  der  Empfindungsstärke  von  der  Reizstärke 
innerhalb  gewisser  Grenzen  und  unter  gewissen  Vorbehalten  be- 
stimmt, und  die  Durcharbeitung  dieser  Entdeckung  auf  den  ver- 
schiedensten Gebieten  in  seiner  ^  Psychophysik  * .  Durch  sie  hat 
er  den  Grund  gelegt  zur  physiologischen  Psychologie,  Seine 
Gestirngeister  hat  niemand  ernst  genommen,  und  mit  seinem  phä- 
nomenalen Bewusstsein  Gottes  als  einer  Summe  aller  phänome- 
nalen Bewusstseine  in  der  Welt  kann  dem  Theismus  ebensowenig 
gedient  sein,  wie  mit  Michelets  ewiger  Persönlichkeit  des  Geistes 
als  dem  Komplex  und  dem  Abstraktum  aller  endlichen  Persdn- 
liclikeiten  in  der  Welt.  Aber  durchaus  modern  ist  Fechner  in 
methodologischer  Hinsicht,  indem  er  nur  induktiv  philosophiert 
und  bloss  auf  Wahrscheinhchkeit  der  Resultate  ausgeht*)  — 


Alle  in  diesem  Abschnitt  aufgeführten  Denker  sind  Monisten 
oder  Pantheisten  in  dem  Sinne,  dass  das  Absolute  oder  Gott 
Alles  ist,  nicht  etwa  in  dem  untergeschobenen  Sinne,  als  ob  bei 
ihnen  die  Summe  des  Endlichen  oder  gar  jedes  Einzelnen  Gott 
wäre.  Sie  haben  aber  mit  Ausnahme  Schopenhauers  auch  das 
mit  einander  gemein,  dass  sie  sich  des  Gegensatzes  dieses  Pan- 
theismus gegen  den  christlichen  Theismus  und  der  Unvereinbar- 
keit beider  nicht  bewusst  sind.     Den  älteren  unter  ihnen  ist  noch 


*)  VcrgL  »Fechuers  Univcrsalbewusslsein«  in  der  Monatssdmil  »Sphinx«,  1891, 
Junilieft.  Über  Fectners  Atomlehre  »Gcs,  Stud.  u.  AiifsaUec,  S.  541 — §45,  Über  die 
Fsycliophysik  »Phil.  d.Unb..,  10.  Aufl.,  Bd.  I,  S.  29—32,  Bd.  IH,  S.  loS— logr  ^Kate- 
gorienlclire«  I  S*  25 — 31,  50^ — 63.  Über  Pflanzenbescetung  »Phil.  d.  Unb.*»  10,  Aiifl», 
Bd,  n,  S,  65 — 95,  Über  den  psychopbjsiscben  Parallelisnujs  »KategoriL^nlebrec, 
S.  401 — 414  und  »Die  aDotrope  Kausalität«  im  »Archiv  für  System.  Phil.*,  Bd.  V, 
Heft  I.  Über  das  Unbewusste  als  Niederschlag  früherer  Bewiasstseinsthatigkeit  >Preuss. 
Jahrbücher«,  Bd.  66,  Hft  2,  S.  127 — 129.  Über  Fedmers  Ästhetik  >Dic  deutsche 
ÄsthetilE  seil  Kanu,  S.  328—357  (vergl.  auch  Namenregister). 


Übergang  jcnm  Thebmus. 


271 


gar  nicht  in  den  Sinn  gekommen,  dass  ihr  Standpunkt  rait  seinem 
unpersönlichen,  zwischen  Bewusstheit  und  Unbewiisstheit  schillern- 
den Absoluten  zu  dem  christlichen  llieismus  in  einem  Gegensatz 
stehen  könne;  man  kann  sie  deshalb  naive  Pantheisten  nennen, 
die  da  glauben,  den  wahren  Gehalt  des  Christentums  zum  philo- 
sophischen Ausdruck  gebracht  zu  haben.  Selbst  Schopenhauer 
erhebt  diesen  Anspruch  (P,  11,,  336),  wenn  er  auch  gegen  Theis- 
mus und  Pantheismus  Stellung  nimmt  und  demgemäss  eine 
atheistische  christliche  Philosophie  für   ebenso    möglich   hält   wie 

-eine  atheistische  buddhistische.  Auch  Michelet  sucht  sich  rait 
dem  Eiertanz  seines  Begriffes  der  ewigen  Persönlichkeit  des 
Geistes  noch  über  den  unüberbrückbaren  Gegensatz  zwischen  dem 
persönUchen,  selbstbewussten  Gott  des  christhchen  Theismus  und 
dem  unpersönlichen,  unbewussten  Gott  des  Pantheismus  hinweg- 
zutäuschen. Die  jüngere,  oder  doch  später  mit  ihren  Hauptwerken 
hervorgetretene  Gruppe  der  Pseudotheisten  hat  zwar  den  Gegen- 
satz zwischen  Pantheismus  und  Theismus  begriffen,  bildet  sich 
aber  ein,  sich  dadurch  allein  von  allem  Pantheismus  scheiden  und 
dem  Theismus  zugesellen  zu  können,  dass  sie  dem  unpersönlichen 
Absoluten  ein  eigenes  absolutes  Selbstbewusstsein  zuschreibt  Man 
kann  sie  nicht  mehr  naive,  wohl  aber  in  ihrer  theistischen  Selbst- 
täuschung versteifte  und  verhärtete  Pantheisten  nennen.  An  diesem 

.Punkte  musste  notwendig  eine  christlichromantische  Reaktion  ein- 
setzen mit  dem  Versuche,  die  philosophischen  Ergebnisse  der 
spekulativen  Pantheisten  für  einen  christlichen  spekulativen  Theis- 
mus nutzbar  zu  machen,  der  seinen  Namen  verdiente. 

Sämtliche  Denker  dieses  Abschnittes  haben  aber  auch  das  mit 
einander  gemein»  dass  sie  die  absolute  Thätigkeit  als  ein  auf  sich 
selbst  beruhendes  Letztes  betrachten,  das  Subjekt  nur  in  der  als 
Thätiges  vorgestellten  Thätigkeit  suchen  und  die  Substanz  als 
ein  von  der  Thätigkeit  hervorgebrachtes  Produkt  behandeln. 
Selbst  bei  Schopenhauer  tritt  gewohnHch  der  Wille  an  die  Stelle 
des  Subjektes  des  Wollens  und  das  Subjekt  des  Erkennens  schillert 
zwischen  dem  Ich  als  einem  phänomenalen  Produkte  des  Er- 
kennens und  dem  Willen  als  Subjekt  aller  vorbewussten  Be- 
thätigung.  Nur  bei  tieferem  Eindringen  in  die  von  ihm  selbst  erst 
geahnten  Zusammenhänge  seines  Systems  macht  sich  das  Be- 
dürfnis nach  einem  einheitlichen  absoluten  Subjekt  des  absoluten 
Wollens  und  der  unbe^voissten  Idee  geltend,  während  im  gewöhn- 


2^2 


Übergang  zum   Theisnuis, 


liehen  Ausdruck  der  Wille  selbst  als  Subjekt  figuriert.  Es  gilt 
diesen  spekulativen  Pantheisten  als  Zeichen  eines  ganz  unkritischen, 
naiven  Denkens,  wenn  hinter  der  Thätigkeit  noch  nach  einer 
Substanz  oder  einem  Subjekt  gesucht  wird,  und  dies  ist  allerdings 
richtig,  so  lange  unter  der  Substanz  ein  sinnlicher  StoflF,  unter 
dem  Subjekt  ein  selbstbewusstes  Ich  verstanden  wird. 

Aber  so  recht  sie  auch  gehabt  hatten,  die  stofiFliche  Substanz 
und  das  Ich  für  Produkte  der  imniateriellen  und  unbewussten 
Thätigkeit  zu  erklären,  so  schütteten  sie  doch  das  Kind  mit  dem 
Bade  aus,  indem  sie  an  eine  immaterielle  absolute  Substanz  und 
an  ein  unbewusstes  absolutes  Subjekt  als  Träger  und  Produzenten 
der  Thätigkeit  gar  nicht  dachten.  Sie  muteten  dem  menschlichen 
Denken  etwas  zu,  wogegen  seine  geistige  Organisation  sich  em- 
pörte, nämlich  die  instinktive  Kategorialfunktion  der  Substantia- 
lität  für  eine  illusorische  Prellerei  zu  halten,  gerade  gut  genug, 
um  Pseudosubstanzen  vorzuspiegeln  oder  Produkte  der  Thätig- 
keit zu  solchen  zu  stempeln.  Auch  hiergegen  musste  notw^endig 
eine  Reaktion  eintreten,  um  der  mit  Füssen  getretenen  Kategorie 
der  Substanz  wieder  zu  ihrem  Rechte  zu  verhelfen  und  die  in 
der  Luft  schw^ebende  Thätigkeit  von  ihrem  Thron  als  letztes  meta- 
physisches Prinzip  herabzustürzen.  Diese  Reaktion  musste  eine 
doppelte  sein,  je  nachdem  sie  sich  auf  das  selbstbewusste  absolute 
Subjekt,  oder  auf  eine  sinnlich  stoffliche  absolute  Substanz,  oder 
auf  viele  übersinnliche,  ungeschaiFene  Substanzen  stützte.  Im 
ersten  Falle  fiel  sie  mit  der  christlich-theistischen  Reaktion  gegen 
den  Pantheismus  zusammen^  im  zweiten  Falle  trat  sie  als  materia- 
listischer Gegenschlag  sowohl  gegen  den  spekulativen  Pantheismus, 
als  auch  gegen  den  Theismus  auf,  im  dritten  Falle  zog  sie  sich 
auf  eine  atheistische  und  pluralistische  Willeosmetaphysik  zurück. 

Mit  diesen  beiden  Reaktionen  ist  die  Signatur  der  Meta* 
physik  dieses  Jahrhunderts  ausgesprochen,  soweit  sie  sich  von 
dem  spekulativen  Pantheismus  unterscheidet  Insofern  es  sich  um 
eine  blosse  Reaktion  ideell  überwundener  Standpunkte  handelt, 
hat  ihre  Betrachtung  etwas  Trübseliges;  denn  es  sind  zwei  gleich 
unwahre  Extreme  (Theismus  und  meist  materialistischer  Atheis* 
mus),  die  mit  einander  ringen  und  nur  darin  einig  sind,  den 
spekulativen  Pantlicismus  zu  bekämpfen.  Dennoch  war  diese 
doppelte  Reaktion  eine  historisch  notwendige  Zwischenstufe.  Die 
vom  spekulativen  Pantheismus  ideell  überwundenen  Standpunkte 


■ 


■ 


Obergang  zum  Theismus. 


273 


miissten  noch  einmal  ihre  ganze  Kraft  zusammenrafFen ,  um  zu 
zeigen,  wieviel  sie  im  Kampfe  mit  dem  neu  erstandenen  Gegner 
zu  leisten  vermöchten.  Es  musste  der  Beweis  geliefert  werden, 
dass  sie  bei  allem  Aufwand  von  Scharfsinn  nicht  imstande  seien, 
die  durch  den  spekulativen  Pantheismus  vollzogene  Auflösung 
ihrer  Principien  in  phänomenale  Produkte  der  Thätigkeit  zu  ent- 
räften.  Es  musste  aber  andererseits  auch  durch  den  Theismus 
fder  Beweis  erbracht  werden,  dass  der  spekulative  Pantheismus 
sich  mit  Unrecht  für  christliche  Philosophie  ausgebe,  von  dem 
Materialismus  der  andere,  dass  die  Methode  des  spekulativen 
Pantheismus  unbrauchbar  und  sein  Anspruch  auf  notwendige  und 
gewisse  Erkenntnis  unhaltbar  sei.  Es  musste  femer  durch  die 
gesamte  Reaktion  dargethan  werden»  dass  es  dem  Menschengeist 
unerträglich  ist,  die  Vergewaltigimg  geduldig  hinzunehmen,  die 
ihm  vom  spekulativen  Pantheismus  angethan  worden  war,  und 
die  Thätigkeit  für  ein  Letztes  zu  halten. 

Alle  diese  Aufgaben  hat  die  doppelte  Reaktion  wirklich  ge- 
löst Sie  hat  ferner  die  erkenntnistheoretische  Untersuchung, 
die  von  Fichte  bis  Hegel  geruht  hatte,  wieder  aufgenommen, 
die  Kantsche  Grundlage  des  transcendentalen  Idealismus  genauer 
geprüft  und  so  den  späteren  Umschlag  in  transcendentalen  Rea- 
lismus vorbereitet.  Nur  eines  vermochte  sie  nicht,  die  metaphy- 
sichen Wahrheitsmomente  des  spekulativen  Pantheismus  heraus- 
zuheben, ihre  positive  Bedeutung  zu  erkennen,  sie  in  die  richtige 
Verknüpfung  mit  einander  zu  bringen,  und  sie  in  dem  Sinne  zu 
berichtigen  und  zu  ergänzen,  wie  ihr  Zusammenhang  und  die  be- 
rechtigte Kritik  der  Reaktion  es  verlangte.  Am  nächsten  ist 
diesem  Ziele  noch  Schelling  in  seiner  späteren  Periode  getreten, 
deshalb  kann  er  noch  am  ehesten  als  Wegweiser  fiir  die  Lösung 
dieser  Aufgaben  dienen.  Aber  er  bleibt  prinzipiell  auf  dem  Bo- 
den  der  theistischen  Reaktion,  kommt  aus  der  falschen  Auffassung 
der  Methode  und  Ziele  der  philosophischen  Erkenntnis  noch  nicht 
recht  heraus  und  verhüllt  seine  richtigen  Leitgedanken  unter 
einem  Wust  unbrauchbarer  mythologischer  und  theosophischer 
Spekulationen,  Schopenhauer  hat  er  offenbar  nicht  gekannt  und 
Hegels  System  mit  P^eindseligkeit  behandelt;  er  ist  darum  wohl 
imstande,  die  Prinzipien  Hegels  und  Schopenhauers,  die  diese 
beiden  von  ihm  überkommen  haben,  zu  verknüpfen,  aber  nicht 
dazu,  ihre  Systeme  zu  verschmelzen. 

E.  Y,  Hart  mann,  Attigow.Wofke.    Bd.  XU.  l8 


274 


Übeaigiiig 


Theismus. 


Da  Schellin g-  niemals  ein  Princip  zum  System  durchgebildet 
hat,  so  müssen  die  Systeme  Schopenhauers  und  Hegels  als  die 
beiden  Gipfel  gelten,  zu  denen  die  produktiv-metaphysische  Spe- 
kulation sich  erhoben  hat  Sie  ergänzen  einander  wie  Gegenstücke 
in  allen  Punkten,  in  denen  sie  nicht  auf  gleichem  Boden  stehen. 
Schopenhauer  stellt  gewöhnlich  die  Idee  als  eine  erste  Objektivation 
des  Willens  dar,  also  als  ein  sekundäres  Produkt  des  unlogischen 
Realprincips;  Hegel  dagegen  behandelt  den  Trieb  oder  Willen, 
oder  die  unlogische  Existenzweise  der  Natur  als  ein  Produkt  der 
logischen  Idee.  Schopenhauer  betont  an  der  Idee  die  Intuitivität, 
Hegel  die  Vernünftigkeit  Schopenhauer  fasst  das  Subjekt  der 
Thätigkeit  als  Willen,  Hegel  als  das  logische  Formalprincip  od 
den  Begriff  auf.  Schopenhauer  ist  Willensrealist,  Hegel  Begriffs- 
realist  während,  davon  abgesehen,  beide  transcendentale  Idealisten 
sein  wollen.  In  erkenntnis- theoretischer  Hinsicht  muss  deshalb 
Schleiermacher  zu  ihrer  Ergänzung  und  Berichtigung  heran- 
gezogen werden,  wie  denn  auch  Schelling  in  seiner  letzten  Periode 
sich  zum  transcendentalen  ReaUsmus  hingewandt  hat 

Die  Theisten  und  Materialisten  stehen  im  Grossen  und 
Ganzen  an  spekulativer  Kraft  hinter  den  Leistungen  des  speku- 
lativen Pantheismus  erheblich  zurück*  Ihre  Leistungen  sind  in 
der  Hauptsache  negativ,  sowohl  in  Bezug  auf  die  unzulängliche 
Begründung  ihres  grundsätzlichen  theistischen  eigenen  meta- 
physischen Princips  und  materialistischen  Standpunktes,  als  auch 
in  Bezug  auf  ihre  Kritik  des  spekulativen  Pantheismus.  Daneben 
aber  bringen  sie  viele  schätzenswerte  Beiträge  zur  Erkenntnis- 
theorie, Methodologie,  Kategorienlehre  und  Principienlehre  hinzu 
und  fördern  dadurch  die  Metaphysik  in  vieler  Hinsicht 

Zur  Übersicht,  wie  der  Theismus  und  Atheismus  zeitlich  in 
einander  greifen,  diene  folgende  Tabelle  der  Erscheinungsjahre  der 
wichtigeren  Schriften.  Die  bereits  erörterten  Pseudotheisten  sind 
unter  Theismus  in  Klammern  eingeschaltet. 


276  Übeigang  zum  Theismus. 

dass  hier  zunächst  die  Grruppe  der  Theisten  und  dann  erst  die 
der  Atheisten  zur  Darstellung  gelangt,  obwohl  von  den  vierziger 
Jahren  an  beide  in  Wechselwirkung  treten.  Da  die  theistischen 
Philosophen  den  Kernpunkt  ihrer  Metaphysik  und  den  ent- 
scheidenden Unterschied  ihres  Standpunktes  von  allen  anderen 
in  ihrer  Lehre  von  Gott  sehen,  so  ist  es  unvermeidlich,  dass  auch 
die  Geschichte  der  Metaphysik  bei  der  Darstellung  der  theistischen 
Philosophen  ihrer  Gotteslehre  besondere  Aufmerksamkeit  zu- 
wendet. 


t)er  Theismus. 


I.  Die  Begründer  des  neuesten  Theismus, 

Jacobi  and  Baader  sind  als  die  Begründer  des  spekulativen 
Theismus  zu  betrachten,  weil  sie  zuerst  die  Unvereinbarkeit 
der  pantheistischen  Metaphysik  mit  dem  christlichen  Theismus 
gegen  die  spekulativen  Pantheisten  hervorhoben  und  die  Forde- 
rung einer  rein  theistischen  Metaphysik  aufstellten.  Und  zwar 
ist  Jacobi  der  Begründer  des  unitarischen,  Baader  der  des  trini- 
tarischen  Theismus. 

Jacobi  (1743 — 1819)  entiehnt  von  Hume  den  Grundsatz,  dass 
die  Ergebnisse  des  verstandesmässigen  Erkennens  im  notwen- 
digen Widerspruch  stehen  mit  dem  gefühlsmässigen  Glauben, 
dessen  wir  uns  praktisch  nicht  entschlagen  können,  von  Reid 
die  Lehre,  dass  in  diesem  Widerspruch  allein  der  Glaube  das 
Recht  habe»  unsere  philosophische  Überzeugung  zu  bestimmen. 
Von  Kant  entnimmt  er  den  Ausdruck  Vernunft  zur  Bezeichnung 
für  das  Organ  der  Vernehmung  des  Übersinnlichen,  lehnt  es 
aber  ab,  den  Vemunftglauben  an  das  Übersinnliche  wie  Kant 
auf  sittliche  Postulate  und  Forderungen  zu  stützen.  Jacobi  hat 
zuerst  die  Achillesferse  des  Kantschen  Systems  klar  erkannt  und 
ausgesprochen,  den  Widerspruch,  dass  das  Ding  an  sich  unsere 
Sinnlichkeit  kausal  affizieren  und  doch  die  Kausalität  nur  imma- 
nente Geltung  haben  soll.  Er  nimmt  an,  dass  nach  Kants  Lehre 
diese  Affektion  der  produktiven  Einbildungskraft  einen  formellen 
Anstoss  zur  Bethätigung  gebe,  aber  keinerlei  qualitativ  bestimmten 
Einfluss  übe,  so  dass  die  Bestimmtheit  in  den  Produktionen  der 
Einbildungskraft  bei  Kant  völlig  unerklärt  bleibe.    In  Raum  und 


278 


JacobK 


Zeit  kann  die  Einbildungskraft  schon  darum  nicht  hinausschreiten, 
weil  sie  beide  erst  produzieren  soll  Aus  reinem  Raum*  reiner 
Zeit  und  reinem  Bewusstsein  lässt  sich  aber  noch  nichts  gestalten, 
weil  die  Synthesis  der  Verstandesfunktionen  erst  dann  einsetzen 
kann,  wenn  etwas  Bestimmtes  zum  Verknüpfen  da  ist  Wenn 
die  Vernunft  Gegenstände  gebiert,  so  sind  es  Himgespenster, 
und  der  Verstand  vernichtet  selbst  die  wahrgenommenen  Gegen- 
stände in  ihrer  unmittelbaren  Realität,  indem  er  sie  durch  seine 
Reflexionen  in  Gedanken  auflöst.  Nur  die  unmittelbare  Wahr- 
nehmung kann  objektive  Realität  verbürgen,  nicht  der  Verstand 
kann  sie  aus  sich  hen^orbringen»  Bei  Kant  löst  sich  die  objek- 
tive Realität  ganz  in  Nichts  auf,  indem  sie  zu  einem  unbestimmten 
unerkennbaren  X  verflüchtigt  wird,  das  uns  immer  fremd  bleibL 
So  wird  seine  Lehre  zum  absoluten  Idealismus  oder  zur  Un* 
Wissenheitstheorie. 

Diese  Polemik  Jacobis  gegen  Kant  hat  nicht  wenig  dazu 
beigetragen,  die  idealistischen  Schüler  Kants  in  der  Überzeugung! 
zu  bestärken,  dass  sie  mit  ihrer  gänzlichen  Beseitigung  des  Dinges' 
an  sich  die  wahren  Ausleger  ihres  Meisters  seien.  Denn  die  ent- 
gegengesetzte Auslegung,  nach  welcher  das  Ding  an  sich  nicht 
bloss  Anstoss  gebend  ist,  sondern  die  Materie  der  Empfindungen 
auch  inhaltlich  bestimmt,  wurde  als  mit  der  Erfahrung  im  Wider- 
spruch stehend  von  Jacobi  bekämpft.  Dieser  betont  mit  Recht»  dass 
wir  uns  keiner  kausalen  Beziehung  unserer  Vorstellungsobjekte  auf 
Dinge  an  sich,  keines  Schlusses  von  jenen  auf  diese,  überhaupt 
keiner  vorstellungsmässigen  Vermittelung  zwischen  beiden  be- 
wusst  sind,  und  hält  es  dadurch  für  erwiesen,  dass  alle  solche 
Zwischenglieder  auch  nicht  existieren.  Diese  Schlussfolgerung 
muss  so  lange  für  bündig  gelten,  als  unbewusste  Mittelglieder 
ausserhalb  des  philosophischen  Gesichtskreises  liegen  oder  ge- 
leugnet werden.  Jacobi  hat  also  in  dieser  Polemik  gegen  Des- 
cartes  die  Konsequenz  für  sich,  da  beide  keine  unbewussten 
Intellektualfonktionen  kennen. 

Auf  diesen  Beweisgrund  gestützt  bleibt  er  auf  dem  Boden 
des  naiven  Realismus  stehen  und  behauptet,  dass  die  Dinge  sich 
unseren  Sinnen  mitteilen,  wie  sie  an  sich  sind,  dass  sich  uns  im 
Wahrnehmen  das  Wesen  der  Dinge  »offenbart«,  und  ihr  »Wahres« 
zu  unserer  »Wahrheit«  wird.  Die  sinnliche  Aussenwelt  vernehmen 
wir  so   durch  den  äusseren  Sinn,   die  übersinnliche  Welt  durch 


Jacobi, 


279 


den  inneren  Sinn.  Bei  dem  Wahrnehmen  der  ersteren  entsteht 
Empfindung,  bei  dem  der  letzteren  Gefühl.  Der  Verstand  ver- 
arbeitet beide,  wobei  ihm  im  ersteren  Gebiete  die  Sinne»  im 
letzteren  die  Vernunft  -  weisen  ^  Die  Gewissheit  des  sinnlichen 
und  übersinnlichen  Vernehmens  des  zur  subjektiven  Wahrheit  ge- 
offenbarten objektiv -Wahren  ist  eine  unmittelbare,  durch  instink- 
tiven Glauben  verbürgte.  Alle  Demonstrationen  müssen  sich  auf 
unmittelbare  Gewissheit  stützen,  und  diese  gewährt  nur  der  Ge- 
fühlsglaube.  Wie  dieser  Standpunkt  einerseits  an  Reid  anknüpft, 
lehnt  er  sich  andererseits  an  den  religiösen  Glauben  an,  wenn 
auch  die  spätere  Bezeichnung  des  Glaubens  als  »Vernunft«  der 
Theologie  nicht  zusagen  konnte.  — 

Das  Gefühl,  das  uns  die  übersinnliche  Welt  aufschliesst,  soll 
nicht  so  bestimmt  sein»  wie  die  Empfindungen,  welche  uns  die 
sinnliche  Welt  kundmachen.  Zwar  offenbart  uns  das  Geftihl  Gott, 
unsere  Freiheit  und  Unsterblichkeit,  auch  die  Persönlichkeit  und 
andere  Eigenschaften  Gottes;  indessen  bleiben  wir  sonst  doch  über 
die  nähere  Beschaffenheit  der  offenbarten  Ideen  im  Unklaren. 
Jacobi  übersieht,  wie  viel  Niederschläge  verstandesraässiger  Re- 
flexion er  hier  in  seinen  Gefühlsinhalt  hi  nein  pro]  iz  iert ,  und  wie 
sehr  der  vermeintliche  Gefühlsiohalt  bei  jedem  Menschen  indivi- 
duell durch  seinen  Büdungsgang  und  kulturgeschichtlich  durch 
den  Zeitgeist  und  seine  Umgebung  bestimmt  sind.  Er  verkennt, 
dass  solcher  Gefühlsglaube  immer  nur  eine  subjektive  Geltung 
behaupten,  aber  niemals  den  Anspruch  erheben  darf,  anderen 
Individuen  objektive  und  allgemeingültige  Normen  für  ihre  Über- 
zeugungen vorzuhalten,  oder  gar  der  Wissenschaft  Vorschriften 
zu  machen  und  Grenzen  zu  ziehen.  So  kann  z.  B.  der  Inhalt 
seines  individuellen  Gefiihlsglaubens  vom  Standpunkte  des  christ- 
lichen Glaubens  nur  als  schlechthin  ungenügend  und  falsch  er- 
scheinen, da  er  jede  äussere  Offenbarung,  die  Trinitätslehre,  die 
Erbsünde,  das  heteronome  Sittengesetz,  die  objektive  Erlösung 
durch  Christus  und  die  Göttlichkeit  Christi  ausschliesst 

Wenn  er  trotzdem  von  christlicher  Seite  hoch  gefeiert  worden 
ist,  so  ist  dies  darum,  weil  er  den  Theismus  einerseits  gegen  den 
platten  Deismus  und  Materialismus  der  Aufklärung  und  anderer- 
seits gegen  den  spekulativen  Pantheismus  auf  den  Schild  erhoben 
hat  und  dadurch  zum  Begründer  eines  spekulativen  Theismus, 
allerdings  in  unitarischer  Gestalt,  geworden  ist     In  Jacobi  erwacht 


28o  JtcobL 

zum  ersten  Mal  in  der  Geschichte  der  Metaphysik  das  deutliche 
Bewusstsein,  dass  der  Theismus  etwas  wesentlich  anderes  ist  als 
der  spekulative  Pantheismus,  dass  der  letztere  sich  mit  Unrecht 
über  die  Schärfe  dieses  Gegensatzes  täuscht  und  hinwegsetzt,  und 
dass  das  entscheidende  Merkmal  des  Theismus  im  Gegensatz  zum 
Pantheismus  die  Persönlichkeit  Gottes  ist  Dadurch  hat  er  nicht 
nur  den  Anhängern  des  Theismus,  sondern  der  Philosophie  über- 
haupt einen  nicht  hoch  genug  zu  veranschlagenden  Dienst  ge- 
leistet Die  Wirkung  dieser  Unterscheidung  konnte  natürlich 
nicht  mit  einem  Schlage  hervortreten.  Die  pantheistischen  Philo- 
sophen seiner  Zeit,  welche  das  richtige  Gefilhl  hatten,  dass  auch 
ihr  Standpunkt  dem  religiösen  Gefühl  etwas  Ausreichendes  und 
vielleicht  etwas  Besseres  zu  bieten  habe  als  der  Jacobische  Theis- 
mus, verwahrten  sich  mit  Recht  gegen  die  Jacobische  Übertrei- 
bung, als  ob  aller  Pantheismus  schlechthin  Atheismus  sei.  Aber 
sie  suchten  mit  Unrecht  die  Grenze  zwischen  Pantheismus  und 
Theismus  zu  verwischen,  um  dadurch  den  Vorwurf  des  Atheismus 
um  so  wirksamer  abzuwehren. 

Die  spekulativen  Pantheisten  bis  zu  Hegel  waren  noch  naive 
Pantheisten,  insofern  sie  den  Gegensatz  zwischen  Pantheismus  und 
Theismus  nicht  anerkannten,  um  die  Fiktion  einer  Übereinstim- 
mung ihrer  Philosophie  mit  dem  wahren  Inhalt  des  Christentums 
aufrecht  zu  erhalten.  Erst  die  spekulativen  Theisten,  welche  als 
Nachfolger  Jacobis  sich  diesen  spekulativen  Pantheisten  polemisch 
entgegenstellten,  brachten  die  Schärfe  des  Unterschiedes  zur  all- 
gemeineren Geltung  und  riefen  dann  als  Gegenschlag  die  völlig« 
Lossagung  auch  der  spekulativen  Philosophie  vom  Christentum  her- 
vor. Diese  philosophische  Revolution  ist  in  kulturgeschichtlicher 
Hinsicht  vielleicht  die  folgenschwerste,  die  je  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  vorgekommen  ist,  und  in  dieser  Scheidung  der 
Geister  hat  Jacobi  den  massgebenden  Anstoss  gegeben.  Er  hat 
mit  seinem  Aschen  Vorwurf  der  Gottlosigkeit  auch  den  speku- 
lativen Pantheismus  zum  Bewusstsein  seiner  Unchristlichkeit  ge- 
führt, während  bis  dahin  nur  der  unphilosophische  Materialismus 
zur  Einsicht  in  seine  Unchristlichkeit  gelangt  war.  — 

Als  Prototypen  des  spekulativen  Pantheismus  betrachtet 
Jacobi  das  Spinozistische  System,  und  deshalb  richten  sich  gegen 
dieses  seine  wuchtigsten  AngriflFe.  Er  hat  durch  die  Hochstellung 
Spinozas    nicht    wenig    dazu    beigetragen,    die   Aufmerksamkeit 


28 1 


Fichtes,  Schellings  und  Schleiermachers  auf  diesen  so  lange  un- 
gebührlich missachteten  Denker  hinzulenken  und  die  Epoche 
seiner  positiven  Wiirdigiing  anzubahnen.  Ebenso  ist  durch  ihn 
Schelling,  wie  er  selbst  bekennt,  auf  Bruno  aufmerksam  ge- 
macht worden.  Auch  diese  Verdienste  sollen  ihm  unvergessen 
sein.  Wie  seine  Kritik  zuerst  an  Kants  System  den  Fundamen- 
talwiderspruch erkannte,  so  hat  er  auch  in  der  Polemik  gegen  den 
Naturalismus  und  abstrakten  Monismus  treflFliche^  geleistet  und 
deren  schwächste  Punkte  ausfindig  gemacht.  Dass  er  den  Pan- 
theismus nur  in  diesen  beiden  Formen  kannte,  dass  der  konkrete 
Monismus,  gegen  welchen  seine  Kritik  unwirksam  wird,  zu  seiner 
Zeit  noch  nicht  existierte,  dass  er  für  die  Ansätze  zu  einem  solchen 
und  für  die  Keime  zu  einer  Würdigung  des  unbewussten  Geistes 
in  Fichte  und  Schelling  keinen  Blick  hatte,  das  kann  man  ihm 
wahrlich  nicht  zum  Vorwurf  anrechnen» 

Unter  Natur  versteht  Jacobi  das  Reich  einer  blinden  mecha- 
nischen Kausalität,  in  welchem  die  bewusste  Intelligenz,  so  weit 
solche  vorhanden  ist,  nur  die  Rolle  eines  unthätigen  Zuschauers 
spielt.  Objektive  Vernunft  in  der  Nattir  vermag  er  sich  nicht  zu 
denken,  weil  ihm  der  Begriff  einer  unbewussten  Vernunft  oder 
Geistesthätigkeit  widersinnig  und  alle  Vernunft  an  Freiheit  und 
Persönlichkeit  geknüpft  scheint.  Dass  unter  diesen  Umständen 
von  innerer  Naturzweckthätigkeit  keine  Rede  sein  kann,  ist  klar. 
Jacobi  hat  von  der  Würde  seiner  realistisch  verstandenen  Natur 
einen  nicht  minder  geringen  Begriff  als  Fichte  von  derjenigen 
seiner  idealistisch  verstandenen.  Wird  nun  einer  solchen  natura 
naturata  gemäss  der  Begriff  einer  natura  naturans  gebildet,  so  kann 
dieser  gleichfalls  nur  eine  nach  starrer  Notwendigkeit  blind- 
wirkende mechanische  Kraft,  das  Gegenteil  eines  vernünftigen 
Geistes,  sein.  Dass  er  diesen  in  der  That  atheistischen  Naturbe- 
griff dem  Spinozismus  und  der  Schelüngschen  Naturphilosophie 
unterlegt,  darin  hat  Jacobi  natürlich  unrecht  Ebenso  hat  er 
unrecht,  wenn  er  jede  Demonstration  des  Unbedingten  für  un- 
möglich erklärt,  weil  durch  sie  das  Unbedingte  zu  einem  durch 
seine  Gründe  Bedingten  herabgesetzt  würde;  denn  dieser  Einwand 
entspringt  aus  einer  Verwechselung  von  Realgrund  und  Erkennt- 
nisgrund. 

Dagegen  hat  er  recht,  wenn  er  Spinoza  tadelt,  dass  er  trotz 
seiner   Leugnung    aller   Teleologie   von    göttlichen    Ratschlüssen 


a82 


Jacobi. 


und  Weltregierung  rede  und  dadurch  sein  blindes  Schicksal  als 
Vorsehung  auslege.  Er  hat  recht,  dass  erst  mit  der  Vorsehung 
oder  vernünftigen  Teleologie  das  Absolute  zu  einem  Gott  werde, 
d.  h.  zu  einem  möglichen  Gegenstande  eines  religiösen  Verhält- 
nisses für  den  Menschen,  und  dass  diese  Bedingung  bei  Spinoza 
nicht  erfiiUt  ist  Er  hat  recht,  dass  bei  Fichte  und  Schelling  trotz 
der  behaupteten  Zweckmässigkeit  des  Weltprozesses  doch  kein 
haltbarer  Zweck  desselben  anzugeben  ist,  weil  in  einem  ewigen 
Prozess  kein  wirkliches  Werden  möglich  ist  und  nichts  heraus- 
kommt, was  nicht  schon  da  wäre.  Die  That  einer  unendlichen 
Produktivität,  der  Wert  und  Gegenstand  ihrer  unendiichen  Ge- 
schäftigkeit ist  gleich  Null;  da  immer  alles  Mögliche  gleichzeitig 
ist  trotz  aller  Veränderungen,  so  wird  bei  der  ganzen  Produk- 
tivität nichts  produziert  als  die  leere  Form  der  Zeit.  Werden 
aber,  wie  bei  Schelling,  Epochen  der  Selbstaktualisierung  Gottes 
unterschieden,  so  muss  nach  geschehener  vollkommener  Aktuali- 
sierung Gottes  auch  der  Prozess  der  Welt  aufhören,  der  nur 
Mittel  zu  diesem  Zwecke  war.  Dauert  dagegen  der  Kampf  be- 
ständig fort,  so  tritt  die  vollkommene  Aktualisierung  nie  ein  und 
der  Zweck  bleibt  ewig  unerreicht.  Diese  Polemik  gegen  die 
Unendlichkeit  eines  teleologischen  Weltprozesses,  durch  welche 
Jacobi  sich  veranlasst  fand,  einen  zeitlich  endlichen  Weltprozess 
zu  behaupten,  hat  weder  bei  seinen  Zeitgenossen,  noch  bei  den 
nachfolgenden  Philosophen  bisher  die  rechte  Würdigung  gefunden, 
obwohl  sie  sich  im  Einklänge  mit  der  christlichen  Weltanschauung 
befindet, 

Ist  die  Selbstaktualisierung  des  Absoluten  zur  Vollkommen- 
heit der  letzte  Zweck  des  Weltprozesses,  so  folgt  daraus,  dass 
das  Absolute  als  solches,  und  abgesehen  vom  Weltprozess,  das 
schlechthin  Unvollkommene  sein  muss,  das  seine  Vollkommenheit 
erst  erstrebt  und  sucht  Dieses  richtige  Argument  verwertet 
jedoch  Jacobi  nicht  gegen  die  Positivität  des  letzten  Weltzwecks, 
sondern  gegen  die  Immanenz  des  Absoluten  in  ihm*  Er  will  in 
Gott  nicht  den  immanenten  Weltgrund  oder  das  innere  Welt- 
princip,  sondern  die  äussere  Weltursache  oder  den  transcendenten 
Schöpfer  sehen.  Wegen  ilirer  Transcendenz  und  Übernatürlich- 
keit soll  diese  äussere  Weltursache  jeder  Begreiflichkeit  entrückt 
sein,  weil  unser  Begreifen  nur  innerhalb  des  Natürlichen  am 
Faden   der  mechanischen  Kausalität  verläuft.     Der  Grund  dafür. 


Jftcobt 


283 


dass  gerade  die  Kausalität  Gottes  nicht  auch  rückwärts  vom  Ver- 
stände durch  Aufsteigen  von  der  Wirkung  zur  Ursache  begriffen 
werden  kann,  liegt  darin,  dass  sie  eine  freie  Thätigkeit  ist,  und 
alle  Kausalität  durch  Freiheit  etwas  Unbegreifliches  ist,  an  das 
bloss  noch  geglaubt  werden  kann.  »Das  Gebiet  der  Freiheit  ist 
das  Gebiet  der  Unwissenheit.*  — 

Wenn  diese  aus  der  Freiheit  geschöpften  Einwendungen 
ebenso  unhaltbar  sind,  wie  der  Jacobische  Freiheitsbegriff  selbst, 
der  von  Willkür  nicht  zu  unterscheiden  ist,  so  sind  dagegen  seine 
Einwendungen  gegen  den  abstrakten  Monismus  von  bleibendem 
Wert.  Er  zeigt,  dass  die  Welt  im  abstrakten  Monismus  ein 
blosses  Nichts  ist,  das  aus  einer  Gestalt  des  Nichts  immer  in  die 
»andere  übergeht,  aber  niemals  zu  wahrer  Wirklichkeit  gelangt. 
Das  Absolute  aber  ist  wiederum  nichts  als  bhnd  aktuose  Produk- 
tivität, deren  ganzer  Wert  und  deren  Reahtät  nach  dem  Werte 
und  der  Realität  ihres  Produkts  beurteilt  werden  müssen.  Ist 
nun  das  Produkt  eigentlich  Nichts,  so  ist  auch  das  Absolute,  da 
es  nur  in  diesem  nichtigen  Produzieren  des  Nichts  besteht»  so  gut 
wie  Nichts,  das  schlechthin  Unvollkommene,  das  im  Produkt  seine 
Vervollkommnung  sucht,  aber  niemals  findet»  weil  der  ewige 
Weltprozess  in  Wahrheit  nichts  gebiert  als  die  Zeit. 

Der  abstrakte  Monismus  ist  gar  nicht  imstande,  das  End- 
liche aus  dem  Unendlichen  abzuleiten.  Bei  Spinoza  tritt  dies 
deutlich  hervor,  indem  alle  Kausalität  nur  von  Endlichem  zu 
Endlichem  und  sofort  ohne  Ende  leitet,  aber  niemals  zum  Un- 
endlichen hinführt  Spinoza  muss  deshalb  mit  dem  Eingestand» 
nis  schliessen,  dass  das  Endliche  gleich  ewig  mit  dem  Unend- 
lichen sei.  Auch  Fichte  hat  auf  irgend  welche  Ableitung  des 
Endhchen  oder  Indi\nduellen  aus  dem  Unendlichen  oder  Absoluten 
von  vorn  herein  verzichtet,  und  was  SchelUng  an  Stelle  derselben 
zu  bieten  versucht,  sind  doch  nur  Ideen  der  Natur  oder  Kate- 
Lgorien  der  ewigen,  intelligiblen  Natur.  Der  abstrakte  Monismus 
[kann  dem  Endlichen  schon  darum  keine  wahrhafte  Wirklichkeit 
[zugestehen,  weil  er  der  Zeit  die  wahre  Wirklichkeit  abspricht 
AUes  Endliche  bleibt  verschwindendes  Moment  im  Unendlichen 
und  gelangt  zu  keiner  Selbständigkeit  des  Daseins,  zu  keinem 
wahren  Fürsichsein,  ebenso  wenig  wie  zu  wahrer  Wirkliclikeit 
Diese  Kritik  des  abstrakten  Monismus  schiesst  nur  dadurch  über 
ihr  Ziel  hinaus,  dass  sie  für  das  Endliche  nicht  selbständige,   für 


a84 


Jftcobi» 


sich  seiende  Wirklichkeit,  sondern  auch  Freiheit  fordert.  Im 
übrig-en  sind  alle  Einwendungen  Jacobis  gegen  den  Pantheismus 
in  Gestalt  des  Naturalismus  und  abstrakten  Monismus  völlig  zu- 
treffend und  zwingen  zur  Aufsuchung  eines  Standpunktes,  der 
diese  F'ehler  vermeidet.  Jacobis  Irrtum  lag  nur  darin,  dass  er 
ausser  der  naturalistischen  und  abstrakt  monistischen  Gestalt  des 
Pantheismus  keinen  anderen  Standpunkt  für  möglich  hielt  als  den 
des  Theismus.  Wäre  diese  Alternative  richtig,  so  wäre  seine 
Kritik  des  Pantheismus  in  der  That  ein  indirekter  Beweis  für 
den  Theismus.  Ein  dritter  Standpunkt  wird  nur  dann  an  Stelle 
des  Theismus  treten  könoeii,  wenn  er  die  von  Jacobi  mit  Recht 
gerügten  Mängel  des  Naturalismus  und  abstrakten  Monismus 
ebensogut  wie  den  Theismus  vermeidet.  — 

Jacobis  Bedeutung  liegt  nicht  nur  in  seinen  eigenen  philo* 
sophischen  Ansichten  und  in  seiner  Kritik  zeitgenössischer  Denker, 
sondern  vor  allen  Dingen  auch  darin,  dass  er  der  erste  ist,  der 
in  jener  spekulativen  Epoche  sich  eine  philosophiegeschichtliche 
Bildung  angeeignet  hat  Nicht  nur  Kant,  sondern  auch  Fichte 
war  noch  völlig  unwissend  in  der  Geschichte  der  Philosophie; 
erst  mit  Schelling  beginnt  die  philosophiehistorische  Bildung  ein 
notwendiger  Bestandteil  des  modernen  Philosophen  zu  werden. 
Schelling  aber  verdankt  seine  philosophiegeschichtliche  Bildung 
fast  ausschliesslich  Jacobi;  teils  hat  er  sie  aus  dessen  Schriften 
geschupft,  teils  ist  er  wenigstens  durch  sie  zu  weiterem  Studium 
bestimmter  Philosophen  angeregt  worden,  Jacobi  ist  es  gewesen. 
der  Spinoza  und  Leibniz,  die  beiden  fast  vergessenen  Grössen» 
gleichsam  wieder  entdeckt  und  in  die  neueste  Philosophie  einge- 
führt hat  Er  hat  zwar  keine  richtige  und  erschöpfende  Würdi- 
gung beider  besessen,  aber  doch  eine  der  Wahrheit  ungleich  näher 
kommende,  als  sie  bis  dahin  üblich  wan  Er  hat  die  hohe  Be- 
deutung Spinozas  erkannt,  den  echten  Leibniz  den  Entstellungen 
der  Wolffschen  Schule  als  etwas  ganz  anderes  gegenübergestellt 
und  auf  die  Bedeutung  Humes  nachdrücklicher  als  irgend  ein 
deutscher  Philosoph  vor  ihm  hingewiesen.  Auch  Giordano  Bruno 
hat  er  aus  der  Vergessenheit  hervorgezogen.  Durch  alles  dies  hat 
er  die  deutsche  Philosophie  in  ganz  neue  Bahnen  gelenkt,  und 
dieses  Verdienst  wird  ihm  ungeschmälert  bleiben,  auch  wenn  der 
Wert  seiner  eigenen  Aufstellungen  die  Anlegung  eines  strengeren 
philosophischen  Massstabes  nicht  gestattet,  — 


Bimder. 


285 


Baader  (1765 — ^1841)  suchte  vor  allem  die  Vollkommenheit 
und  Selbstgenügsamkeit  des  lebendigen  persönlichen  Gottes  sicher 
m  steUen,  und  glaubte  diese  nicht  nur  durch  den  Deismus  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  bedroht,  der  Gott  zu  lebloser  jenseitiger 
Ruhe  und  Unthätigkeit  verurteilte,  sondern  auch  durch  den  Pan- 
theismus von  Schelling  und  Hegel,  der  ihn  erst  vermittelst  der 
Schöpfung  werden  und  sein  Selbstbewusstsein  und  seine  Persön- 
lichkeit erst  in  den  Geschöpfen  finden  liess.  Er  tadelt  Schelling 
und  Hegel,  dass  bei  ihnen  die  Natur  als  etwas  vor  dem  Geiste 
Bestehendes,  der  Geist  als  etwas  erst  nach  der  Natur  Auftretendes 
erscheine.  Als  Katholik  hasste  er  den  Rationaüsmus  als  eine 
Folge  der  revolutionären  Reformation  und  bemühte  sich,  eine 
katholisch-christliche  Philosophie  im  Sinne  der  mittelalterlichen 
Scholastik  und  Mystik  aufzustellen,  wobei  er  aber  doch  im  ein- 
zelnen am  meisten  Jacob  Böhme  folgte  und  in  seiner  Naturphilo- 
sophie auch  Paracelsus  mit  heranzog.  Wenngleich  er  mit  Fichte 
annimmt,  dass  jedes  wahre  Sein  Selbstbewusstsein  sei,  so  will  er 
doch  die  beiden  erkenntnistheoretischen  Extreme  gleich  sehr  ver- 
meiden, nämlich  den  Subjektivismus,  der  von  der  bloss  geschöpf- 
lichen Selbstgewissheit  aus  Gott  erkennen  will,  und  den  (abstrakt- 
monistischen) Pantheismus,  der  das  geschöpfliche  Erkennen  als 
Teil  des  göttlichen  Selbsterkennens  auffasst     Die  richtige   Mitte 

■  rieht  er  darin ,  dass  unser  Wissen  ein  Mitwissen  mit  Gott  ist,  so 
dass  das  göttliche  Wissen  entweder  es  bloss  durch  wohnt»  oder 
ihm  beiwohnt,  oder  ihm  inwohnt  Im  ersten  Fall  ergiebt  sich 
ein  bloss  erzwungenes  geschöpfliches  Wissen  von  Gott  {wie  das 
der  Teufel),  im  zweiten  Fall  empirisches  Wissen  oder  Autoritäts- 
glauben, im  dritten  Fall  freies,  spekulatives  Wissen.  — 

Da  der  Mensch  als  Ebenbild  Gottes  geschafifen  ist,  so  kann 
man  aus  ihm  Rückschlüsse  auf  das  Wesen  Gottes  machen ;  dabei 
ist  nur  immer  in  Betracht  zu  ziehen,  dass  der  Mensch  sowohl  in 
theoretischer  wie  in  praktischer  Hinsicht  nicht  spontan,  sondern 
nur  rezeptiv  thätig  ist  und  eines  in  ihm  wirksamen  Höheren  be- 
darf, während  Gott  selbstgenugsam  ist.  Wenn  der  Mensch  be- 
sonnen etwas  hervorbringt,  so  bildet  er  sich  erstens  einen  Plan 
oder  Gedanken  des  Hervorzubringenden  ein,  nimmt  zweitens 
diesen  Gedanken  als  Entschluss  oder  Willensvorsatz  an,  und  er- 
greift drittens   die  Mittel  (Werkzeuge  und  Stoflf)  zu  seiner  Dar- 

I  Stellung.     Dem  gemäss  ist  in  Gott  zu  unterscheiden:   erstens  der 


immanente,  esoterische,  abstrakt  ideelle,  oder  rein  logische  Prozess 
des  Denkens,  zweitens  der  emanente,  exoterische,  reale  Prozess 
des  Willens,  und  drittens  der  diese  beiden  vermittelnde  Prozess 
des  Geistes»  Die  beiden  letzten  fasst  Baader  meistens  unter 
dem  Namen  des  exoterischen  oder  realen  Prozesses  zusammen, 
unterscheidet  aber  strengstens  von  diesem  in  sich  dreifältigen 
ewigen  Prozess  den  zeitlichen  Vorgang  der  Schöpfung, 

Der  logische  Prozess  des  göttlichen  Denkens  gliedert  sich  Iq 
fünf  Momente,  die  aber  Baader  meist  auf  drei  oder  vier  zu- 
sammenzieht. Das  erste  ist  die  ungeformte  Monas  oder  un- 
gefasste,  iin aufgeschlossene  Weisheit  und  entspricht  dem  Plotini- 
schen  Einen  und  dem  Hegeischen  Begriff  als  substantiellem, 
noch  leerem  logischen  Formalprincip.  Das  ftinfte  ist  die  auf- 
geschlossene, gefasste  Weisheit,  Sophia,  die  jungfräuliche  Idee, 
der  Spiegel  oder  das  Produkt  des  logischen  Prozesses,  in  welchem 
die  ganze  Fülle  seiner  Momente  offenbart  ist.  Es  entspricht  der 
Platonischen  Idee,  dem  Schellingschen  idealen  Universum,  der 
Hegelschcn  absoluten  logischen  Idee.  Das  erste  Moment  ist  bloss 
schauend,  aber  von  sich  selbst  nicht  geschaut;  das  fünfte  ist  bloss 
geschaut,  aber  nicht  wieder  schauend.  Das  erste  ist  deshalb  noch 
unpersönHch  und  entspricht  der  einen  Substanz  der  trinitarischen 
Gottheit;  das  letzte  ist  nicht  mehr  persönlich,  ein  bloss  passives 
Produkt  des  Prozesses,  was  Baader  nicht  hindert,  es  mit  der 
Jungfrau  Maria,  der  passiven  Gottesmutter,  gleichzusetzen. 

Zwischen  dieses  Anfangs-  und  Endglied  des  logischen  Pro- 
zesses schiebt  nun  Baader  drei  weitere  Glieder  ein,  die  den  drei 
Personen  der  Trinität  entsprechen  sollen,  freilich  zunächst  als 
bloss  ideelle  Möglichkeiten,  die  erst  im  dritten  Prozess,  dem  des 
Geistes,  ihre  Verwirklichung  finden.  Das  zweite  Moment,  der 
Vater,  entspricht  dem  Hegeischen  Begriff  als  Subjektivität  oder 
als  dialektischer  Triebkraft  des  logischen  Prozesses,  das  dritte 
Moment,  der  Sohn,  soll  dem  Hegeischen  Urteil,  das  vierte,  der 
Geist,  dem  Hegeischen  Schluss  entsprechen,  weil  er  Vater  und 
Sohn  synthetisch  zusammenschliesst  Der  Vater  oder  der  Anfang 
»fasst  sich*  als  Selbstbegriff,  Wort,  Sohn  oder  als  einheitliche  Central- 
form für  die  Fülle  des  in  der  unaufgeschlossenen  Weisheit  Enthalte- 
nen, Aus  dieser  magischen  ersten  Selbstan schau uog  entfaltet  sich 
dann  weiter  der  Sohn  oder  Selbstbegriff  zur  Selbstformation  oder 
(inneren,  rein  logischen)  Offenbarung,  und  dies  ist  der  Geist    Das 


Büuidef. 


287 


Wort  nimnit  so  eine  Mittelstellung  zwischen  dem  Subjekt  (Vater) 
und  dem  Objekt  ein.  etwa  wie  das  Band  oder  die  Kopula  in 
Schellings  Identitätsphilosophie;  dem  Urteil  bei  Hegel  entspricht 
es,  insofern  sich  der  als  Begriff  gefasste  Begriff  durch  Urteilung 
aufschliesst  und  entfaltet.  Der  Geist  geht  wiederum  nach 
doppelter  Richtung  von  sich  aus,  einerseits  nach  innen,  wodurch 
er  den  Wiedereingang  vermittelt,  andererseits  nach  aussen,  wo- 
durch er  zu  der  Idee  führt. 

Jedes  der  drei  mittleren  Glieder  des  logischen  Prozesses  soll 
schauend  und  geschaut  zugleich  sein,  indem  jedes  die  vom  Vor* 
ganger  empfangene  Thätigkeit  nicht  nur  weiter  leitet,  sondern 
auch  reflektiert.  Darum  wird  es  Person  genannt,  obwohl  weder 
ersichtlich  ist,  wie  ein  solches  Reflektieren  der  Thätigkeit  in  der 
rein  logischen  Sphäre  möglich  ist,   noch  wie  es  genügen  kann, 

das  Prädikat  der  Persönlichkeit  zu  rechtfertigen.  Genauer 
betrachtet  zeigen  die  drei  mittleren  Momente  nichts  als  müssige 
Wiederholungen  desselben  Gedankens,  der  Reflexion  und  Weiter- 
leitung der  Thätigkeit,  so  lange  sie  von  dem  ersten  und  fünften 
Moment  sorgsam  getrennt  gehalten  werden.  Dies  fühlt  auch 
Baader  und  unterscheidet  darum  praktisch  die  drei  mittleren 
Glieder  dadurch  von  einander,  dass  er  das  zweite  mit  dem  ersten, 
das  vierte  mit  dem  fünften,  d.  h.  je  ein  persönliches  mit  einem 
unpersönlichen,  verschmilzt  Dann  bleibt  nur  das  Wort  als 
mittleres,  reflektierendes  und  weiter  leitendes,  bestehen,  und  dar- 
um sieht  Baader  auch  in  diesem  das  eigentlich  persönliche 
Princip,  das  auch  die  anderen  personifiziert. 

Dieser  ganze  Prozess  mit  all  seinen  Momenten  bleibt  rein  in 
potentia,  wenn  nicht  zum  Gedanken  die  Macht  oder  das  Vermögen 
zum  logischen  Princip  das  schaffende  hinzutritt,  welches  sein  »Es 
werde«  ausspricht  Dieses  schaffende,  verwirklichende  Princip 
nennt  Baader  mit  Böhme  die  ewige  Natur  in  Gott  Sie  verhält 
sich  zum  logischen  Idealprincip  wie  der  Feuergeist  zum  Licht- 
geist, wie  der  Willensprozess  zum  Vorstellungsprozess.  Die  Idee 
wirkt  als  Motiv  auf  den  Willen,  weckt  seine  Zeugungskräfte  und 
setzt  sie  in  Spannung,  bis  mit  der  Lösung  der  Spannung  die 
Produktion  vollendet  ist  Als  die  gegensätzlichen  Spannungs- 
momente des  Willens  bezeichnet  Baader  die  passive,  weibliche 
Lust  (ira  Sinne  von  Gelüst),  die  zunächst  durch  die  Imagination 
geweckt  wird,  und  die  aktive,  männUche  Begierde,  die  erst  durch 


288 


Bnader. 


die  Lust  entzündet  wird.  In  diesen  Willensprozess  trägt  Baader 
den  Forma tionsstreit  und  die  sieben  Natiirgestalten  Böhmes  hin- 
ein ;  dadurch  bekommt  derselbe  einen  scheinbar  selbständigen  und 
vom  logischen  Prozess  unabhängigen  Inhalt  Wird  dagegen  der 
Willensprozess  nach  Art  des  Motivationsprozesses  aufgefasst»  wie 
dies  Baaders  eigener  Meinung  entspricht,  so  ist  er  selbst  schon 
die  Einheit  und  Vermittelung  von  Denken  und  Wollen,  weil  das 
Wollen  nur  durch  die  Idee  als  Motiv  geweckt  und  nur  durch 
die  Idee  als  Inhalt  bestimmt  werden  kann. 

Nun  soll  auch  in  der  That  nach  Baader  der  logische  und 
der  Willensprozess  in  Gott  durchaus  identisch  und  nur  durch  die 
menschliche  Abstraktion  geschieden  sein.  Andererseits  soll  in 
Gott  Idee  und  Natur,  Gedanke  und  Wille  zwar  gleich  ursprüng- 
lich sein,  aber  doch  einer  Vereinigung  und  Vermittelung  bedürfen. 
Diese  finden  sie  im  geistigen  Prozess,  Indem  der  an  sich  seiende, 
ungestalte  Wille  durch  die  Idee  Gestalt  gewinnt,  gebiert  er  sich 
zum  für  sich  seienden  Geiste  aus.  So  ist  Gott  als  Vater  oder 
Wille  der  Anfang  und  Machthaber,  als  Sohn  oder  Idee  der  Ver- 
mittler, Versöhner,  als  heiliger  Geist  der  Vollender  der  Totalität 
der  göttlichen  Qualitäten.  Die  drei  Personen,  die  im  logischen 
Prozess  nur  abstrakte  Kategorien  waren,  im  einseitigen 
Willensprozess  aber  gar  nicht  zu  finden  waren,  treten  erst  im 
kombinierten  Geistesprozess  als  konkrete  Personen  in  die 
Wirklichkeit;  durch  diese  ewige  Selbsterzeugung  ist  Gott  in  sich 
ewig  vollendet  als  ein  dreipersönliches  Individuum.  Die  Indivi- 
dualität und  Persönlichkeit,  die  im  Menschen  zusammenfallen, 
sind  in  Gott  getrennt.  — 

Die  Welt  dagegen  ist  von  Gott  nicht  gezeugt,  sondern  ge- 
schaflFen,  nicht  ewig,  sondern  zeitlich.  Der  Stoff,  aus  dem  sie  ge- 
schaffen ist,  ist  die  ewige  Natur  in  Gott,  in  der  zugleich  die 
Möglichkeit  des  Bösen  liegt,  wenn  auch  noch  nicht  seine  Wirk- 
lichkeit Der  Fall  konnte  ein  doppelter  sein,  aus  Hoffart,  und 
aus  Niedertracht;  aus  ersterem  Grunde  fiel  Lucifer,  aus  letzterem 
der  Mensch,  der  sich  in  die  unter  ihm  stehende  Natur  vergafft 
hatte  und  damit  tierisch  wurde.  Die  Materiahtät,  Räumlichkeit  und 
Zeitlichkeit  der  Welt  sind  nicht  der  Grund  des  Bösen,  sondern 
seine  Folge  und  Strafe.  Die  sichtbare  Materie  ist  nur  das  Produkt 
immaterieller  Principien,  kann  also  auch  mit  der  Aufhebung  des 
Bösen  wieder  verschwinden,     Das  Böse,   das  durch  vorzeitlichen 


SchelÜDg. 


zBg 


Fall  entstanden  ist,  kann  im  zeitlichen  Leben  allmählich  wieder 
aufgfehoben  werden,  indem  die  Ichheit  oder  Selbstsucht  successiv 
durch  Gebet  und  Sakrament  in  der  Peripherie  abgetötet  wird. 

Es  ist  Baader  ebenso  wenig  im  Geistesprozess  wie  im 
logischen  Prozess  gelungen,  die  Möglichkeit  einer  Entstehung 
mehrerer  göttlicher  Personen  verständlich  zu  machen;  sogar  zur 
Entstehung  eines  Selbstbewusstseins  an  irgend  einer  Stelle  eines 
ewigen,  rein  innergöttlichen  Prozesses  fehlt  die  unerlässliche  Be- 
dingung, der  Widerstand,  an  dem  sich  die  absolute  Thätigkeit 
stauen  und  reflektieren  könnte.  Die  Aufstellung  des  »Spiegels« 
im  logischen  Prozess  zeigt  das  richtige  Gefühl  für  dieses  Er- 
fordernis, aber  nicht  die  Fähigkeit,  die  Behauptung  seines  Vor- 
bandenseins zu  begründen.  Da  Wollen  und  Denken  in  Gott 
ewig  Eins  sind,  so  kann  auch  die  Beziehung  des  Denkens 
auf  das  Wollen  diese  fehlende  Konstellation  nicht  herbeiführen. 
Dagegen  ist  es  als  ein  Verdienst  Baaders  anzuerkennen,  dass 
er  die  Böhmesche  Einsicht  von  der  Unentbehrlichkeit  des 
Willens  in  Gott  neben  der  Idee  und  von  der  ewigen  Gleich- 
berechtigung beider  erneuerte  und  damit  Schelling  auf  den  Weg 
hinwies,  auf  welchem  allein  die  Überwindung  des  Panlogismus 
zu  erreichen  war.*) 


2,  Schelling  in  seiner  zweiten  Periode  (1806— 1854), 

Die  zweite  Periode  der  Schellingschen  Wirksamkeit  hat  zwei 
Unterabteilungen.  In  der  ersten  hält  er  an  seiner  früheren  Me- 
thode des  Philosophierens  fest,  konzentriert  aber  sein  Interesse 
auf  den  persönlichen  Gott,  die  individuelle  Unsterblichkeit  und  die 
Willensfreiheit;  in  der  zweiten  sucht  er  diesen  Interessen  durch 
eine  veränderte  Methode  gerecht  zu  werden  und  gelangt  zu  dem 
Bewusstsein,  dass  auch  sein  erkenntnistheoretischer  Standpunkt 
ein  entgegengesetzter  wie  in  seiner  Jugend  geworden  ist.  In  der 
ersten  Unterabteilung  gährt  es  noch  unklar  bei  ihm,  und  die 
neuen    Gedanken  ringen    sich    erst   allmählich    hindurch;    in   der 


•)  Vgl.  Gcs,  Studien  u.  Aufa&tze,  S.  565—566. 
S.v.  HArEm«nn.  Ausg«!w.  Werke,    Bd.  XU. 


19 


290 


Scbciling. 


zweiten  erst  erhalten  sie  eine  bestimmte  methodologische  und 
erkenntnistheoretische  Grundlage.  Beide  Abschnitte  erläutern  sich 
gegenseitig  und  bilden  in  der  Hauptsache  ein  Ganzes.  Die  Roman- 
tik wirft  sich  in  Schellin gs  zweiter  Periode  ebenso  auf  Religions- 
Philosophie,  wie  in  der  ersten  auf  die  Naturphilosophie;  da  er  aber 
die  indischen  Religionen  noch  gar  nicht  kennte  so  vermag  er 
sich  Religionsphilosophie  nur  als  eine  spekulative  Restauration 
des  christlichen  Theismus  zu  denken »  während  die  heidnische 
Mythologie  nur  Vorstufen  zeigt*  Er  bleibt  Monist,  insofern  er 
daran  festhält,  dass  Gott  alles  in  allem  ist.  und  bleibt  Gegner 
des  seichtrationalen  Theismus;  aber  er  will  Gott  als  persönlichen, 
weil  der  Mensch  als  Person  auch  das  Bedürfnis  habe,  einem  per- 
sönlichen Gott  gegenüberzustehen. 

Dieser  Umschwung  ist  bei  ihm  angebahnt  durch  Eschen mayer 
und  Jacobi,  herbeigeführt  durch  Baader  und  vollzieht  sich  zu- 
nächst in  den  Formen  der  Böhmeschen  Mystik  oder  Theosophi 
Schelling  glaubt,  dass  diese  eine  Form  des  Empirismus  sei  und 
mit  dem  Rationalismus  gleichen  Inhalt  habe,  dass  es  aber  Auf- 
gabe des  Verstandes  sei,  den  Menschen  vom  unmittelbaren  Schauen 
zum  vermittelten  Wissen  zu  führen.  Jacobi  behandelt  er  geradezu, 
illoyal;  anstatt  i*  J.  1Ö12  einzugestehen,  dass  er  Jacobis  Einwand* 
gegen  den  Standpunkt  seiner  ersten  Periode  als  gegründet  an- 
erkennen müsse  und  eben  darum  zu  einem  veränderten  Stand- 
punkt fortgeschritten  sei,  der  diese  Fehler  vermeiden  solle,  weist 
er  Jacobis  Kritik  als  unbegründet  zurück,  weil  sie  auf  seinen 
jetzigen  Standpunkt  nicht  passe,  der  Jacobi  noch  gar  nicht  be^^M 
kannt  geworden  war.  Ihm  war  an  Jacobi  die  Unlebendigkeit  dei^^f 
Materie,  die  Ungeistigkeit  der  Natur,  der  Zwiespalt  zwischen 
Glauben  und  Wissen,  der  Missbrauch  des  Wortes  Vernunft  für 
das  Gefühl  des  Übersinnlichen,  das  Steckenbleiben  im  seichten 
Aufklärungsrationalisraus,  vor  allem  aber  der  unitarische  Charakter 
der  göttlichen  Persönlichkeit  abstossend.  Deshalb  hielt  er  sich 
Heber  an  die  Trlnitätslehre  Baaders,  so  wie  an  dessen  Lehre  vom 
Bösen,  vom  idealen  Urmenschen  und  von  der  durch  seinen  Fall 
bewirkten  Natur  Verschlechterung, 

Während  er  über  Raum,  Zeit,  Kategorien  und  Ding  an  sich 
zu  ganz  entgegengesetzten  Ansichten  gelangt  wie  Kant,  benutzt 
er  Kants  Lehre  vom  Bösen  als  einer  Umkehrung  des  rechten  Ver- 
hältnisses   zweier    einander    bekämpfenden    Triebfedern,    wandelt 


Schelling. 


2gi 


aber  die  Selbstliebe  (oder  den  Glückseligkeitstrieb)  und  das  Moral- 
gesetz, die  bei  Kant  einander  bekämpfen,  unter  dem  Einfluss 
Baaders  in  die  OiFenbarungslust  (oder  den  Willen  des  Grundes) 
und  das  mässigende  Idealprincip  um.  Dem  Substanzbegriff  Spino- 
zas lässt  er  schliesslich  Gerechtigkeit  widerfahren  und  erkennt 
ihn  als  den  höchsten  und  letzten  Begriff  an,  der  auch  noch  über 
der  Ursache  steht,  wenngleich  er  daneben  seinen  falschen  Sub- 
stanzbegrifF  (als  Substrat)  immer  noch  festhält  Gegen  Ende 
seines  Lebens  sucht  er  Fühlung  mit  Aristoteles  und  bemüht  sich» 
seine  vier  Principien  in  gewaltsamer  und  erkünstelter  Weise  so 
umzudeuten,  dass  sie  sich  mit  den  vier  Ursachen  des  Aristo- 
teles decken;  obwohl  er  seine  eigene  Lehre  damit  entstellt,  miss- 
lingt  ihm  doch  diese  Deckung  vollständig. 

Gegen  Hegel  ist  Schelling  noch  ungerechter  als  gegen 
Spinoza,  indem  er  das  Verdienst  verkennt,  das  darin  liegt,  einen 
Standpunkt  systematisch  durchzuführen.  Aber  er  war  erbittert 
gegen  Hegel,  weil  er  sah,  dass  die  Welt  diesem  die  Anerkennung 
zu  teil  werden  Hess,  die  er  für  seinen  über  Hegel  hinaus  fort- 
geschrittenen Standpunkt  vergebens  ersehnte.  Seine  Kritik  des 
Hegeischen  Standpunkts  bleibt  für  immer  lehrreich;  wenn  er 
auch  Hegel  in  manchen  Punkten  unrecht  gethan  hat,  so  hat 
er  doch  gerade  in  der  Hauptsache  recht.  Unrecht  thut  er  Hegel 
z.  B.  mit  dem  Vorwurf,  dass  er  an  Stelle  der  konkreten  (intellek- 
tuellen) Anschauung  den  abstrakten  Begriff  gesetzt  und  sich  der 
von  Schelling  erfundenen  Methode  bedient  habe.  Denn  der 
Hegeische  Begriff  ist  durchaus  dasselbe,  was  Schelling  die  Idee, 
oder  den  unendlichen  oder  ewigen  Begriff  nennt,  die  Einheit  des 
Allgemeinen  und  Besonderen,  und  die  Hegeische  Dialektik,  die 
den  Widerspruch  als  unentbehrliche  Bedingung  der  Wahrheit 
einschliesst,  ist  etwas  ganz  anderes  als  die  SchelHngsche  Dialek- 
tik, die  in  ihm  das  Merkmal  der  Unwahrheit  zu  sehen  fortfährt 
Dagegen  hat  er  recht,  wenn  er  dem  Panlogismus  Hegels  vor- 
wirft, dass  er  ein  Dogmatismus  der  Vernunft  sei,  der  vor  dem 
Unvernünftigen  in  der  Welt  die  Augen  schliesse  und  dais  Zu- 
fällige und  Wirkliche  nicht  erklären  könne,  und  dass  das  Entlassen 
der  Idee  zur  Wirklichkeit  ausserhalb  des  Panlogismus  falle.  Die 
Hegelsche  Selbstbewegung  des  Begriffs  bezeichnet  Schelling  mit 
Recht  als  eine  doppelte  Täuschung,  insofern  die  Bewegung  nicht 
aus  dem  Begriff  selbst  stammt,  sondern  einerseits  aus  der  Leben- 

19* 


Sehe  Hing. 

digkeit  des  denkenden  Subjekts,  andererseits  aus  dem  Ziel,  zu 
welchem  dieses  die  Gedankenbewegimg  hinleiten  will.  — 

Die  Vernunft  hat  kein  Vorrecht  vor  der  Unvernunft,  wenn 
es  sich  bloss  um  das  Sein  handelt.  Ihr  einziges  scheinbares  Vor- 
recht besteht  darin»  dass  ihr  Sein  unerlässUche  Bedingung  für 
die  Möglichkeit  einer  Wissenschaft  im  Sinne  einer  apodiktisch 
gewissen  Erkenntnis  ist;  aber  es  ist  wieder  ein  blosser  Dog- 
matismus, dass  eine  solche  Erkenntnis  sein  müsse.  Wenn  auch 
einerseits  in  allem  etwas  Vernünftiges  zu  finden  ist,  so  bleibt 
doch  andererseits  auch  in  allem  ein  irrationaler  Rest,  der  sich 
nicht  völlig  in  Vernunft  auflösen  lässt,  die  unbegreifliche  Basis 
der  Realität,  zu  der  von  der  Vernunft  keine  Brücke  führt.  In 
der  Vernunft  hat  Freiheit  und  Zufälligkeit  keinen  Platz;  ohne 
Freiheit  und  Zufälligkeit  ist  aber  aus  der  Vernunft  kein  Über- 
gang zur  Wirklichkeit  zu  finden,  EHe  Idee  muss  erst  ihrer  reinen 
Vernünftigkeit  untreu  werden  und  von  sich  selbst  abfallen,  um 
sich  an  die  Natur  zu  entlassen  und  zu  entäussern;  denn  solche 
EntSchliessung  hat  nichts  vernünftig  Notwendiges  an  sich,  son- 
dern kann  nur  als  frei  auftreten. 

Die  Vernunft  kann  es  höchstens  so  weit  bringen,  zu  be* 
stimmen,  wie  eine  Sache,  z.  B.  ein  Dreieck,  sein  muss,  wenn  sie 
ist,  aber  sie  kann  niemals  machen,  dass  sie  ist,  oder  von  sich 
aus  a  priori  ausmachen,  ob  eine  solche  Sache  existiert  oder  nicht 
Denn  die  Existenz,  das  »Dass^^ ,  ist  etwas  Positives,  das  zur 
Essenz,  dem  »Wass  hinzukommt;  höchstens  das  Was  kann  durch 
Vernunft  erkennbar  sein,  aber  niemals  das  »Dass«,  welches  nur 
durch  Erfahrung  konstatiert  werden  kann.  Die  recht  verstandene 
Identität  des  Denkens  und  Seins  besteht  darin,  dass  das  Sein, 
wenn  es  ist,  nur  so  und  nicht  anders  sein  kann,  wie  das  Denken 
es  denkt.  Da  das  Denken  ein  höchstes  Wesen  denken  muss,  so 
muss  Gott,  wenn  er  ist,  als  höchstes  Wesen  sein;  aber  ob  er  ist 
kann  nicht  die  Vernunft,  sondern  nur  die  Erfahrung  lehren* 
Wenn  es  dem  Panlogismus  gelungen  wäre,  die  ganze  Welt  a  priori 
aus  reiner  Vernunft  zu  konstruieren,  so  hätte  er  doch  nur  das 
Was  der  Welt  erkannt,  für  den  Fall,  dass  sie  ist,  aber  nicht  ob 
sie  ist  oder  nicht.  So  ist  der  Panlogismus  eine  bloss  negative 
Philosophie,  die  das  wahrhaft  Positive,  die  Wirklichkeit  oder 
Existenz,  ausser  sich  lässt;  er  bedarf  darum  der  Ergänzung  durch 
eine  positive  Philosophie,  die  höherer  Empirismus  ist,  und  insofern 


SdieUing, 


293 


diese  Seite  die  wichtigere  ist,  heisst  nach  ihr  dieser  ganze  Stand- 
punkt  »positive  Philosophie'i.  — 

Diese  positive  Philosophie  schliesst  die  negative,  rein  rationale 
Philosophie  und  den  positiven,  höheren  Empirismus  als  ihre 
beiden  zusammengehörigen  und  einander  ergänzenden  Seiten  in 
sich.  Jeder,  auch  der  roheste  Empirismus  hat  eine  rationale 
Tendenz;  andererseits  ist  auch  der  reine  Rationalismus  oder  Pan- 
logismus  selbst  wieder  bloss  ein  Empirismus,  indem  er  sich  auf 
die  innere  Erfahrung  des  vernünftigen  Denkens  stützt.  Er  ist 
von  unten  aufsteigend  und  führt  somit  induktiv  zu  den  höchsten 
Principien,  aber  nur  zu  den  Principien  in  der  Idee,  Der  speku- 
lative Empirismus  der  positiven  Philosophie  dagegen  ist  von 
oben  herabsteigend,  indem  er  die  rein  rational  gewonnenen  Be- 
griflfe  von  Principien  in  hypothetischer  Weise  als  wirklich  exis- 
tierend annimmt,  den  Bestand  der  Welterfahmng  aus  ihnen 
deduziert,  und  durch  das  Übereinstimmen  des  so  Deduzierten 
mit  der  wirklichen  Erfahrung  seine  Hypothesen  bewährt,  bestätigt 
und  sie  so  aus  a  priori  unbegreifUchen  in  a  posteriori  begreif- 
liche verwandelt. 

Hiermit  ist  erstens  der  apodiktisch  gewisse  Charakter  der 
Philosophie  aufgegeben,  da  er  für  ihren  wichtigeren  Teil  nicht 
mehr  zutrifift.  Zweitens  kann  auch  für  eine  bloss  negative  Philo- 
sophie der  Anspruch,  den  ganzen  Weltinhalt  aus  der  inneren 
Erfahrung  des  Denkens  als  rein  ideellen  und  bloss  bedingungs- 
weise gesetzten  konstruieren  zu  wollen,  nicht  aufrecht  erhalten 
werden.  Drittens  ist  die  Spaltung  der  Philosophie  in  einen  in- 
duktiven, aufbauenden,  und  einen  deduktiven,  verifizierenden  Teil 
nur  dadurch  entstanden,  dass  bei  ersterem  die  empirische  Basis 
auf  die  innere  Erfahrung  des  reinen  vernünftigen  Denkens  will- 
kürlich beschränkt  worden  ist.  Wäre  statt  dessen  die  gesamte 
Erfahrung  in  ihrem  vollen  Umfang  als  Ausgangspunkt  der  In- 
duktion benutzt  worden,  so  hätten  sich  dabei  die  höchsten  Prin- 
cipien sogleich  als  wirklich  existierende  herausstellen  müssen, 
und  die  ganze  Bewährung  durch  den  deduktiven  Rückweg  von 
den  Principien  zu  der  Erfahrung  w^äre  als  überflüssig  w*eggefallen. 
Der  induktive  Empirismus  in  seiner  Vollständigkeit  wäre  dann  die 
ganze  Philosophie  und  alle  Zwiespältigkeit  und  Doppelheit  in  der 
Methode  käme  in  Wegfall  Schelling  hat  wiederholentlich  dies  als 
die  denkbar  vollkommenste  Lösung  für  die  Aufgabe  der  Philosophie 


294 


Schelling. 


anerkannt  (Werke  I  7,  64—65;  II  3,  104,  107);  aber  er  : 
konnte  von  dem  einmal  eingeschlagenen  Wege  sich  nicht  mehr 
völlig  losreissen.  Es  war  genug,  dass  er  die  Bedeutung  der  Er- 
fiihrung  und  der  Induktion  anerkannte,  wenn  er  sie  auch  aus- 
einanderriss  in  eine  Induktion  von  einseitig  beschränkter  Er- 
fahrung aus  und  in  eine  Deduktion,  die  die  volle  und  ganze  Er- 
fahrung nur  als  Berwährung  ihrer  Principien  benutzen  sollte* 

Während  Schopenhauers  subjektiver  Idealismus  sich  in 
schroffem  Gegensatz  zu  jeder  geschichtlichen  Weltanschauung 
stellt,  bemüht  sich  Hegel,  sie  sich  anzueignen;  aber  der  Panlogis- 
mus  rechtfertigt  eigentlich  die  historische  Weltanschauung  nicht. 
Er  kennt  einerseits  ein  ewiges  Verhältnis  der  Momente  des  Ab- 
soluten zu  einander,  das  keine  Ent Wickelung  ist»  sondern  nur 
von  uns  in  Gestalt  einer  diskursiven  Entwickelung  nachgedacht 
und  zum  Verständnis  gebracht  wird;  er  kennt  andererseits  die; 
Gedankenentwickelung  im  Kopfe  des  Philosophen,  die  das  ewig 
zugleich  Seiende  in  zeitlicher  Gedankenbewegung  in  sachlich  auf- 
steigender Ordnung  durchläuft.  Aber  wo  er  eine  reelle  Ent- 
wickelung im  geschichtlichen  Sinne  annimmt,  da  behauptet  er 
etw^as,  das  nicht  nur  aus  seinem  Princip  nicht  folgt,  sondern  sich, 
streng  genommen»  nicht  einmal  mit  ihm  verträgt.  Erst  durch  den 
unlogischen  freien  Entschluss  der  unlogischen  Entäusserung  durch- 
bricht das  Absolute  den  ermüdenden  Kreislauf  zur  gradlinigei 
Fortschreit ung,  und  darum  kann  es  nur  in  einer  positiven  Philo*^ 
Sophie,  die  das  Unlogische  als  ein  empirisch  Gegebenes  anerkennt, 
wirkliche  Geschichte  geben.  Aller  reine  Idealismus,  gleichviel 
ob  er  als  subjektiver,  objektiver  oder  absoluter  verstanden  wird, 
darf  nur  ein  ewiges  Absolutes  und  einen  unendlichen  Schein- 
kreislauf der  Scheinwelt  anerkennen;  erst  eine  positive  Philosophie 
kann  an  Stelle  des  unendlichen  Scheinprozesses  einen  endlicherf 
realen  Prozess  vom  Weltanfang  bis  zum  Weltende  setzen,  und 
nur  in  einem  solchen  kann  es  wirkliche  Geschichte  geben.  — 

Was  ist  nun  das  Positive,  w^odurch  die  blosse  Idealität  des 
absoluten  Ideaüsmus  überschritten  werden  soll?  Wcls  ist  das 
irrationale  Princip,  durch  welches  das  Vernunftprincip  des  Pan- 
logismus  ergänzt  werden  soll?  Was  ist  das  Realprincip,  dessen 
Hinzutreten  zu  dem  logischen  Idealprincip  erst  die  wahre  Realität, 
die  ausser  dem  Begriff  stehende  Wirklichkeit  setzen  soll? 

Urzufall   und   absolute   Freilieit  sind  Eines;    das   Princip  d^ 


I 


Schellmg. 


295 


schlechthinii^en  Zufälligkeit  muss  also  zugleich  das  der  absoluten 
Freiheit  sein;  die  Vernunft  kennt  nur  logische  Notwendigkeit, 
Princip  der  Freiheit  aber  ist  der  Wille,  die  Fähigkeit  zu  wollen, 
oder  auch  das  Wollen  zu  unterlassen.  Nur  der  Wille  in  seiner 
schlechthin  igen  Unabhängigkeit  von  logischer  Determination  ist 
das  schlechthin  Irrationelle  oder  Unlogische;  er  ist  also  auch  der 
irrationale  Rest,  der  für  den  logisch  begreifenden  Verstand  in 
allen  Dingen  übrig  bleibt,  oder  wenigstens  dasjenige,  worauf 
dieser  irrationale  Rest  als  auf  seinen  Ursprung  hinweist.  Das 
Reelle  ist  dasjenige,  was  einem  andern  seinesgleichen  Widerstand 
entgegensetzen,  mit  ihm  in  Kollision  oder  Konflikt  geraten  und 
es  überwinden,  oder  auch  ihm  unterliegen  kann;  das  Reelle  ist 
also  das  Widerstandsfähige,  und  das  einzige  Widerstandsfähige 
ist  wiederum  der  Wille,  ebensogut  wie  er  das  einzige  Irrationale 
ist.  Den  Anfang  aller  Realität  bildet  das  Ergreifen  der  eigenen 
Selbstheit,  die  Charaktergründung,  die  freiwillige  Annahme  eines 
intelligiblen  Charakters,  eine  inteiligible  That  des  Eigenwillens, 
durch  welche  die  Ideen  zu  einer  mehr  als  idealen,  zu  einer  realen 
Existenz  gelangen,  d.  h.  zu  individuellen  Seelen  oder  Monaden 
werden.  Die  Realität  stammt  ebenso  wie  die  Individualität, 
Selbstheit  oder  Egoität  aus  dem  sich  erigierenden  Eigenwillen»  der 
sich  über  das  Ideale  erhebt,  anstatt  ihm  unterworfen  zu  bleiben; 
diese  Selbstheit  oder  Egoität  ist  aber  wieder  die  unentbehrliche 
Grundlage  der  Persönlichkeit,  zu  welcher  sie  durch  die  Erhebung 
in  die  Geistigkeit  gelangt  Weder  der  Mensch  noch  Gott  könnte 
Persönlichkeit  werden,  wenn  er  blosse  Geistigkeit  w^äre  und  ihm 
das  Real  princip,  der  Wille,  fehlte. 

Durch  alles  dies  w^urde  Schelling  dahin  gedrängt,  das  irratio- 
nale Realprincip  als  Willen  anzusprechen.  Auch  in  seinem  System 
des  transcendentalen  Idealismus  hatte  er  bereits  die  erste,  un- 
bestimmte, bestimmbare,  bewusstlose  notwendige,  expansive  Thä- 
tigkeit  mit  Fichte  als  wollende  und  im  Gegensatz  zu  Fichte  als 
reale  bestimmt;  er  hatte  also  nur  nötig»  das  Wollen  aus  einer 
rationalen  in  eine  irrationale  Thätigkeit  umzugestalten,  um  sein 
früheres,  innerhalb  des  Idealismus  stehendes  Realprincip  in  sein 
späteres,  ausserhalb  des  absoluten  Idealismus  stehendes  zu  ver- 
wandeln. In  der  Identitätsphilosophie  hatte  er  das  erste  Princip 
als  Wesen  im  Gegensatz  zur  Form,  als  esse  substantiae.  als 
blossen   Grund   von   Existenz,    als  überwindungsbedürftiges  Sub- 


strat,  Substanz  oder  subjectum  {v:ftoKeifiirov)  bestimmt,  ohne  dabei 
ganz  vom  Begriff  des  Stoffes  loszukommen;  nun  stellt  sich  der 
Gnind  von  Existenz  als  Potenz  des  Aktus,  das  überwindungs- 
bedürftige Substrat  als  Wille  des  Grundes  oder  Natur  in  Gott 
dar.  Denn  alle  Potenz,  alles  Können,  setzt  einen  Willen  voraus 
oder  ist  selbst  Wille ^  und  der  blinde,  vemunftlose  Wille  ist  zu-; 
gleich  Offenbarungslust  oder  ungebändigt  sich  ausbreitende  Kraft, 
die  zur  Natur  führt  und  ebenso  sehr  an  die  erste  expansive 
Thätigkeit,  wie  an  Piatons  ojTHnor  oder  v).r]  erinnert  — 

Das  zweite  Princip  bleibt  in  Schcllings  zweiter  Periode 
wesentlich  unverändert.  Es  ist  die  bestimmende,  beschränkende, 
Grenze  gebende,  ideale  Thätigkeit  aus  dem  »System  des  trans- 
cendentalen  Idealismus«,  die  Form  aus  der  Identitätsphilosophie, 
die  zu  der  masslosen  Expansion  des  ersten  Princips  zugleich 
das  Mass  herzubringt.  Die  ideale,  rationale  und  geistige  Be- 
schaffenheit des  zweiten  Princips  brauchte  in  dem  absoluten 
Idealismus  nicht  besonders  betont  zu  werden;  jetzt  wo  das  erste 
Princip  irrational  aufgefasst  wird,  erweist  sich  das  zweite  als  ein 
rationales,  das  die  Irrationalität  und  Ungeistigkeit  des  ersten 
überwindet  und  zur  synthetischen  Einheit  des  Geistes  vermittelt 
Jedes  Wollen  muss  etwas  wollen,  denn  ein  leeres  Wollen  wäre 
nur  die  Sehnsucht,  sich  selber  zu  gebären;  das,  was  das  Wollen 
w^ollcQ  kann,  das  Wort  oder  den  Verstand  des  Willens,  findet  es 
eben  in  dem  zweiten  Princip.  Dieses  ist  als  absolute  Intelligenz 
das  ideale  Ebenbild  Gottes;  es  enthält  zumal  und  auf  ewige  Weise 
auch  alles  das,  was  aus  dem  ersten  Princip  sich  zeitlich  ent- 
wickelt. Die  rein  rationale  negative  Philosophie  erkennt  die 
Principien  nur  so,  wie  sie  im  zweiten  Princip  sich  spiegeln;  das  i 
zweite  Princip  ist  also  das  spezifische  Princip  der  rein  rationalen  I 
Philosophie,  des  Panlogismus  oder  absoluten  IdeaHsmus,  d.  h.  es  * 
ist  das  logische  Idealprincip  im  Gegensatz  zum  unlogischen  Real- 
princip. 

In  der  Identitätsphilosophie  waren  dem  zweiten  Princip  die 
Bezeichnungen  Vernunft  und  Idee  vorenthalten  worden,  um  sie 
der  synthetischen  Einheit  beider  Principien,  dem  dritten  Princip, 
vorzubehalten.  Hegel  hatte  ebenfalls  die  Idee  als  synthetische 
Einheit,  aber  als  letztes  Ergebnis  aus  allen  Thesen,  Antithesen 
und  Synthesen  der  absoluten  idealen  Begriffsbewegung,  und  die 
Vernunft  als  das  Band  aller  dieser  Synthesen  oder  als  die  imraa- 


Schelltng. 


297 


nente  logische  Triebfeder  dieses  ganzen  Prozesses  aufgefasst,  hatte 
dafür  aber  die  ersten  beiden  Principien  Schellings  ganz  fallen 
lassen.  Jetzt  konnten  die  Bezeichnungen  Vernunft  oder  Idee 
Scheiling  nicht  mehr  dazu  dienen,  um  die  synthetische  Einheit 
des  irrationalen  Realprincips  und  des  rationalen  Idealprincips,  des 
Willens  und  Verstandes  auszudrücken;  jetzt  konnte  dies  nur  noch 
die  Bezeichnung  Geist»  genauer  der  absolute  Geist  oder  der  Geist 
der  Ewigkeit.  Dadurch,  sollte  man  meinen,  wären  die  Bezeich- 
nuDgen  Vernunft  und  Idee  für  das  zweite  Princip  wieder  frei 
geworden:  aber  Scheiling  macht  von  ihnen  keinen  Gebrauch, 
vielleicht  aus  Scheu,  mit  seinem  früheren  Sprachgebrauch  in  Kolli- 
sion zu  kommen.  Er  nennt  das  zweite  Princip  gewöhnlich  das 
rein  Seiende,  d.  h.  das  potenzlos  Seiende  im  Gegensatz  zu  dem 
aus  der  Potenz  hervorgegangenen  Wollen,    — 

Die  Urthätigkeit  vor  aller  Spaltung  in  The^is  und  Anti- 
thesis,  das  ewig  Unbewusste,  das  Wesen  vor  seiner  Differenz 
zierung  in  Wesen  und  Form  rückt  nun  endlich  zu  dem  ge- 
bührenden Range  der  absoluten  Substanz  auf,  zu  der  sich  die 
übrigen  Principien  als  Attribute  verhalten»  jener  wahren  Substanz, 
die  von  der  falschen  Substanz  des  untergeordneten  Substrats  zu 
unterscheiden  ist  Dieses  Princip  o  ist  das  Über  wirkliche,  durch 
Teilnahme,  woran  alles  erst  seine  Wirklichkeit  empfangen  kann, 

Überseiende,  welches  alles  Seiende  ist,  das  Einzelwesen,  das 
lies  ist,  das  wahrhaft  unendliche  Subjekt,  das  immer  Subj^^kt 
bleibt  und  niemals  Objekt  wird,  die  urpsrüngliche  Einheit  der 
Principien,  die  immer  Herr  des  Seins  bleibt,  das  Göttliche  oder 
vielmehr  die  Übergottheit  in  Gott 

Insofern  die  Principien  als  ewige  Momente  eines  innergött* 
Uchen  Verhältnisses  aufgefasst  werden,  sind  sie  reine  Attribute 
der  absoluten  Substanz,  ohne  Spannung  und  Selbständigkeit  gegen 
einander,  in  vollkommener  Ruhe,  also  auch  ohne  transitiven 
Charakter  nach  aussen.  Gott  ist  —  vor  allem  Wollen  und  ewiger 
Weise  —  der  Inbegriff  aller  Möglichkeiten  als  Einheit  von  Dass 
und  Was;  so  ist  er  die  Einheit  der  absoluten  Substanz  und  ihrer 
beiden  Attribute,  des  unlogischen  Realprincips  oder  Willens  und 
des  logischen  Idealprincips.  Wirklicher  Geist  ist  er  v^or  der 
Schöpfung  im  Ruhezustand  noch  nicht;  das  dritte  Princip,  der 
absolute  Geist,  schlummert  noch  als  blosse  Möglichkeit  in  ihm. 
und  tritt  erst  mit  der  Bethätigung  oder  Spannung  der  Attribute 


298 


Schcllmg. 


ins  Sein,  Gott  vor  der  Schöpfung  ist  der  auch  von  seinem  Sein 
als  Geist  freie  Geist.  Nur  er  kann  den  Principien  rufen,  dass  sie 
auch  als  transitiv  und  selbständig  ausser  ihm  seiende  seien,  aus 
der  Ruhe  in  Spannung  treten,  d.  h,  aus  ewigen  Principien  zu 
Potenzen  im  Sinne  von  Stufen  oder  kosmogonischen  Mächten 
werden.  Dasjenige  aber  in  Gott,  was  zu  diesem  Prozess  dii 
Initiative  giebt,  kann  nur  das  erste  Princip  in  ihm  sein;  dem 
der  freie  Entschluss,  der  zugleich  der  Urzufall  ist»  ist  allein  Sachi 
des  Willens. 

Die  absolute  Substanz  oder  das  absolute  Subjekt,  das  die 
beiden  Principien,  das  unlogische  Realprincip  des  Willens  und 
das  logische  Idealprincip,  zu  ewigen  immanenten  Attributen  hat, 
und  das  bei  der  eventuellen  Bethätigung  sich  zum  absoluten 
Geist  entfaltet,  stellt  die  spekulative  Synthese  eines  einseitigen 
Panlogismus  und  Pantheismus  dar  und  erhebt  den  Begriff  der 
Identitätsphilosophie  zu  einer  höheren  Stufe,  Wenn  Hegel  ein- 
seitig das  logische  Idealprincip,  Schopenhauer  überwiegend  das 
unlogische  Realprincip  des  blinden  Willens  zum  System  aus- 
gebaut hatte»  so  ist  Schellings  späterer  Standpunkt  in  der  That 
die  Möglichkeit  einer  Wiedervereinigung  dieser  antipodisdien 
Systeme,  denen  er  selbst  ihre  Principien  geliefert  hatte.  Wenn 
Schelling  in  seiner  Identitätsphilosophie  die  des  Spinoza  zu  er- 
neuern versucht  hatte,  so  war  ihm  dabei  der  wahre  Substanz- 
begriff  Spinozas  unter  den  Händen  zerronnen;  jetzt  erst  ergreift 
er  ihn  wieder,  weiss  jetzt  aber  auch,  was  Spinoza  noch  nicht 
wusste,  dass  das  mit  dem  Idealprincip  zu  verknüpfende  Real- 
princip ein  zugleich  unlogisches  und  dynamisch  -  thetisches  ist 
Dadurch,  dass  er  den  wahren  Substanz  begriff  wieder  als  höchste 
Kategorie  an  die  Spitze  des  Systems  stellt,  bricht  er  mit  dem  die 
spekulative  Epoche  von  Kant  bis  Hegel  beherrschenden  Irrtum, 
als  ob  die  Thätigkeit  an  sich  selbst  ein  letztes  sein  und  auf  sich 
selbst  rohen  könne. 

Leider  hat  er  den  echten,  Spinozistischen  Substanzbegriff 
auch  in  seiner  letzten  Periode  nicht  ausschliesslich  vertreten,  son- 
dern hält  daneben  den  Platonisch- Aristotelischen  Unbegriff  des 
metaphysischen  Stoffs  fest,  in  welchen  sich  ihm  das  sinnliche 
Trugbild  des  subjektiv- phänomenalen  Stoffes  aus  seiner  ersten 
Periode  allmählich  umgewandelt  hatte.  Der  Wille  ist  an  Stelle 
des  Wesens  getreten,   das  im  Gegensatz  zur  Form  steht,  und  an 


n 

] 


SchcUing. 


299 


diesem  hatte  ihm  immer  die  Vorstellungsassociation  des  StoflFes 
gehaftet.  Der  Wille  ist  aber  auch  das  Realprincip;  als  Reales  im 
Gegensatz  zum  Idealen  hat  es  im  Absoluten  nunmelir  dieselbe  Stel- 
lung wie  anfänglich  die  Natur  zum  Idealen  und  hcisst  darum  auch 
die  Natur  in  Gott.  Als  der  dunkle  zu  überwindende  Naturgrund 
nennt  er  es  auch  vjtoxdii^vov  oder  Substrat,  und  er  kann  sich 
nicht  davon  losreissen,  dieses  mit  Substanz  zu  identifizieren.  Wie 
aber  schon  in  der  Identitätsphilosophie  die  wahre  Substanz  und 
Realität  in  dem  über  dem  Gegensatze  stehenden  idealen  Wesen 
und  nicht  in  einem  Gegensatzgliede  lag,  so  auch  hier  in  noch 
deutlicherer  und  nachdrücklicherer  Darstellung.  Diese  Substanz 
ist  ein  Einzelwesen  von  höchster  Wirklichkeit,  das  in  seinem  Sein 
von  aller  Idee  unabhängig  und  insofern  Ding  an  sich  ist,  das 
von  Kant  gesuchte,  aber  nicht  erreichte.  So  restituiert  er  hier 
auch  das  Ding  an  sich»  das  freilich  als  erkenntnistheoretische 
Kategorie  ungeeignet  ist,  die  metaphysische  Kategorie  der  Sub- 
stanz oder  des  Wesens  auszudrücken  und  zu  ersetzen. 

Diese  Einheit  des  Dass  und  Was,  des  Willens  und  der  Idee, 
in  der  sie  vereinigenden  und  bindenden  Substanz»  ist  das  Letzte, 
und  über  sie  kann  das  Denken  nicht  hinaus,  Sie  enthält  einerseits 
das  reine  Vermögen,  die  mera  potentia,  andererseits  den  InbegriflF 
aller  Möglichkeiten  (vor  ihrer  Entfaltung  zur  Idee),  und  hinter 
beiden  die  ursprüngliche  Einheit,  zu  der  beide  sich  als  Attribute 
verhalten.  Die  synthetische  Einheit,  der  absolute  Geist  ist  in  dem 
Ruhezustand  der  Principien  noch  nicht  vorhanden;  er  besteht 
erst  in  der  vereinten  Bethätigung  beider.  Hiermit  ist  nun  der 
Begriff  des  *ewig  Unbewussten«  genauer  bestinmit  und  der  des 
»absolut  Idealen  vor  dem  Gegensatze«  berichtigt.  Die  Einheit  der 
ruhenden  Principien  ist  der  bejahende  Begriff  der  unbedingten 
Ewigkeit,  die  stille  Innigkeit,  die  sich  selbst  nicht  kennt,  ihres 
Seins  nicht  gewahr  wird  und  an  nichts  denkt.  Sie  ist  ein  Nichts, 
wie  die  lautere  Freiheit  oder  ein  nichts  wollender  Wille,  und 
nicht  sowohl  Gott,  als  was  in  Gott  selbst  die  Gottheit,  also  über 
Gott  ist,  das  unpersönliche  Wesen  der  Gottheit,  aus  dem  erst  im 
iheogonischen  Prozess  ein  dreipersönlicher  Gott  werden  soll,  — 

Soll  nun  aus  dem  ruhenden  Wesen  Gottes  ein  Prozess  her- 
vorgehen, so  bedari'  es  dazu  eines  Aktes  der  Freiheit,  der  nur 
durch  den  immanenten,  innergöttlichen,  sich  selbst  bewegenden 
Willen  gesetzt  werden  kann.     Denn  der  Wille  ist  das  Vermögen 


300 


SchelMng. 


der  Initiative,  oder  das  Vermögen,  etwas  aus  sich  anzufangen." 
Die  göttliche  Freiheit  hat  zu  entscheiden  zwischen  blossem 
Können  und  Wirken,  zwischen  Potenzbleiben  und  Aktuswerden; 
diese  Entscheidung  ist  indeterminiert  motivlos  (da  sonst  das  sie 
bestimmende  Motiv  ihr  vorherginge),  d.  h.  sie  ist  der  UrzufalL 
Durch  die  Erhebung  des  Willens  zum  Wollen  Ist  der  Prozess 
eingeleitet;  er  ist  nun  nicht  mehr  das  wollen  und  nicbtwollen 
Könnende,  sondern  das  Blindwollende,  das  von  selber  nicht 
wieder  in  den  Ruhezustand  der  reinen  Potenz  zurückkann.  Das 
blinde  W^ollen  ist  aber  zugleich  zielloses,  inhaltloses,  leeres  Woliei 
eine  unruhige  Sucht,  die  als  soUizi tiefendes  Moment  auf  d 
andere  mit  ihm  substantiell  verbundene  Princip  wirkt  und  den 
Inbegriff  der  Möglichkeiten  zur  Entfaltung  veranlasst,  zu  der  dieser 
in  sich  sonst  keinen  Antrieb  verspürt  hätte.  Das  erste  Princip 
zieht  also  das  zweite  mit  in  die  Aktualität  und  den  Strudel  des 
Prozesses  hinein,  oder  aktualisiert  das  potenzlose  zweite  Princip 
{Schelling  sagt:    er  potentialisiert  es). 

Dem  zweiten  Princip  leiht  Schelling  bildlich  »die  überfliessend©^ 
Güte  eines  sich  gleichsam  nicht  versagen  könnenden  Wesens«; 
sucht  das  erste,  das  aus  dem  Frieden  der  gelassenen  Wonne  heraus- 
getreten ist,  zum  Zustande  der  blossen  Potentialität  zurückzu- 
führen, und  das  Mittel  dazu  ist  eben  der  Weltprozess.  Der  Wüle 
ist  das  stärkere  Princip,  aber  er  wird  von  dem  zweiten  Princip 
durch  dessen  überlegene  Klugheit  und  Erkenntnis  überwamdea, 
Ihre  Vereinigung,  der  absolute  Geist,  bringt  nichts  neues  hinzu; 
denn  der  Wille  in  ihm  stammt  aus  dem  ersten,  der  Verstand 
oder  die  Idee  in  ihm  aus  dem  zweiten  Princip,  und  das  einigende 
Band  beider  Seiten  in  ihm  ist  eben  die*  Substanz  (Pr.  o).  Der 
absolute  Geist  ist  also  nichts  anderes  als  Pr.  o  +  Pr*  i  +  Pr.  2 
im  Zustande  des  Aktus;  es  ist  nicht  gerechtfertigt  durch  die  ge- 
machten Voraussetzungen,  dass  Schelling  ihn  als  Pr.  3  neben 
Pr.  I  und  Pr.  2  stellt,  da  er  noch  nur  ihre  synthetische  Einheit 
im  Gegensatz  zu  ihrer  ursprünglichen  darstellt.  Die  absolute 
Substanz  wird  zu  dem  >Einzelwesen  das  alles  ist«,  erst  durch  den 
Prozess,  denn  erst  durch  den  Prozess  wird  alles;  im  Vergleich 
mit  der  durch  den  Prozess  gewordenen  Wirklichkeit  ist  das  ab- 
solute Wesen  das  Über  wirkliche  und  Übersciende, 

Der    Prozess    kann    nun    nicht    darin    gesucht    werden,   dass 
Wille    und   Idee   einander  bekämpfen;    nur  zwei  Willen    können 


asV 


: 


Schelling. 


301 


mit  einander  in  realen  Widerstreit  geraten.  Indem  sich  nun  die 
absolute  Idee  in  eine  Mannigfaltigkeit  von  Partialideen  entfaltet 
und  der  Urwille  sich  auf  Grund  der  Partialideen  in  eine  Vielheit 
von  Individual willen  gliedert»  ist  die  Gelegenheit  zu  Konflikten 
der  Individual willen  mit  einander  gegeben,  die  verschiedene 
Partialideen  zu  realisieren  streben.  Dabei  wäre  nicht  abzusehen, 
warum  nicht  der  absolute  Wille  und  die  absolute  Idee  inner- 
göttliche  Principien  sollten  bleiben  können,  während  die  Produkte 
der  Kollisionen  zwischen  iliren  Teilfunktionen  aus  dem  göttlichen 
Sein  ihrer  phänomenalen  Existenzweise  nach  heraustreten.  Aber 
Schellings  Interesse  richtet  sich  in  dieser  Phase  nicht  mehr  darauf, 
die  wirkliche  Welt  aus  dem  Absoluten  abzuleiten,  sondern  nur 
noch  darauf,  den  dreipersönlichen  Gott  aus  ihm  abzuleiten.  Dazu 
kann  ihm  nun  freilich  der  reale  Weltprozess  zwischen  den  Teil- 
funktionen der  absoluten  Thätigkeit  nichts  helfen.  ^ 

Persönlich  ist  nur,  was  einerseits  Selbstheit  hat,  was  nach 
eigenem  Willen  ist,  was  andererseits  aber  sich  mit  seinem  Wollen 
auch  zur  Stufe  der  Geistigkeit  erhoben  hat.  Sollen  also  durch 
einen  realen  theogonischen  Prozess  aus  dem  unpersönUchen  gött- 
lichen Wesen  drei  göttliche  Personen  hervorgehen,  so  müssen 
einerseits  drei  Willen  angenommen  werden,  deren  jeder  gegen 
den  andern  selbständig  ist,  und  andererseits  muss  jedem  dieser 
Willen  ein  Verstand  beigegeben  werden,  durch  den  er  zur  Geistig- 
keit erhoben  wird.  Da  diese  drei  mit  Verstand  begabten  Eigen- 
willen oder  Geister  etwas  anderes  darstellen  sollen  als  das  un- 
persönliche Wesen  der  Gottheit,  so  müssen  sie  aus  diesem  heraus- 
gesetzt werden.  Da  aber  aller  Wille  und  alle  Idee  nur  aus  den 
Attributen  der  absoluten  Substanz  herstammen  kann,  so  muss 
jedes  dieser  beiden  Attribute  dreimal  aus  dem  Wesen  Gottes 
herausgesetzt  werden.  Diese  Heraussetzung  soll  aber  nicht  bei 
beiden  Attributen  in  gleichem  Masse  erfolgen,  sondern  so,  dass 
im  ersten  Falle  ein  Übergewicht  des  Willens,  im  zweiten  ein 
Übergewicht  des  Verstandes  oder  der  Idee,  und  nur  im  dritten 
Falle  ein  Gleichgewicht  beider  Attribute  entsteht.  Denn  auf 
diese  Weise  werden  die  herausgesetzten  Mischungen  von  Prin- 
cipien zu  Potenzen  im  Sinne  von  Stufen,  wie  es  Schellings 
Naturphilosophie  und  Identitätsphilosophie  verlangte.  So  wird 
das  herausgesetzte  Princip  i  zur  Grundlage  Gottvaters  (zugleich 
aber  auch  als  Nichtseinsollendes  zur  Grundlage  des  Satans),  das 


$02 


Sdielling. 


herausgesetzte  Princip  2  zu  der  des  Gottsohnes,  und  Pr.  3  zu  der 
des  heiligen  Geistes.  Princip  1  empfängt  bei  dieser  Heraus- 
setzung einen  rudimentären  Verstand,  die  Imagination.  Princip  2 
einen  rudimentären  Willen. 

Es  ist  klar,  dass  diese  Lehre  von  den  zu  Potenzen  heraus- 
gesetzten Principien  lediglich  einen  entstellenden  Auswuchs  an 
der  Schellingschen  Metaphysik  der  letzten  Periode  bildet,  da  sie 
durchaus  nicht  durch  philosophische,  sondern  lediglich  durch 
theologische  Motive  hervorgerufen  ist.  Das  Gleiche  gilt  von  dem 
Princip  4,  dem  idealen  Urmenschen,  der  in  einem  Exemplar  rea- 
lisierten Gattungsidee  des  Menschen,  dem  Einen  Menschen,  der 
in  uns  allen  fortlebt.  Dieser  hypothetische  Urmensch,  in  welchem 
erst  der  theogonische  Prozess  seinen  Abschluss  und  die  Gesamt- 
gottheit ihre  Wirklichkeit  finden  soll,  hat  nur  den  Zweck,  Träger 
des  Abfalls  von  Gott  zu  sein,  durch  welchen  die  Naturverschlechte- 
rung und  die  Zerteilung  der  Gattungsidee  Mensch  in  viele  In- 
dividualideen  und  reale  Individuen  eintritt.  Das  »nichtwissende  Be- 
wusstsein^  in  dem  unpersönlichen  Wesen  der  Gottheit  vor  Beginn 
des  Prozesses  ist  reine,  ruhende  Identität  ohne  Aktus;  nach  Er- 
hebung des  Willens  aber,  vor  seiner  Heraussetzung  zur  kosmogo- 
nischen  Potenz,  ist  es  der  actus  purissimus  des  götthchen  Lebens 
oder  die  (von  Baader  übernommene)  rotatorische  Bewegung  der 
Principien;  im  erhobenen  Willen»  sofern  er  zur  Potenz  heraus- 
gesetzt ist,  ist  es  ein  traumhaft  visionäres  Innewerden  der  Idee  durch 
die  Imagination;  im  idealen  Urmenschen  allein  ist  es  substantielles 
Wissen  geworden,  dass  sich  aber  zu  dem  wirklichen  Bewusstsein 
immer  noch  als  nicht  wissendes,  bloss  wesentliches  Bewusstsein 
verhält.  Hätte  sich  SchelUng  klar  gemacht,  dass  zur  Persönlich- 
keit vor  allem  ein  auf  wirklichem  Bewusstsein  ruhendes  Selbst- 
bew^usstsein  gehört,  so  hätte  er  sowohl  den  drei  herausgesetzten 
Potenzen  als  auch  dem  potenzlosen  Urmenschen  die  Persönlich- 
keit absprechen  müssen,  — 

Der  ideale  Urmensch  greift  dadurch  in  die  Majestätsrechte 
Gottes  ein,  dass  er,  was  Gott  allein  sich  vorbeliielt,  die  in  ihm 
zur  Ruhe  gekommenen  Potenzen  neu  in  Spannung  versetzt  und 
dadurch  von  Gott  trennt.  Was  im  Grunde  und  unterworfen 
bleiben  sollte,  das  erste  Princip,  macht  er  wiederum  zum  herrschen- 
den; durch  diese  Verkehrung  des  richtigen  Verhältnisses  der 
Principien  vollzieht  sich   der  Zerfall   des    idealen   Universums    in 


Schellfnjj. 


303 


ein  raumzeitliches  Nebeneinander  und  Nacheinander,  d.  h.  in  die 
wirkliche  Welt,  Die  ursprüngliche  Hypothese,  dass  jeder  Indivi- 
dualwille  sich  selber  seinen  Charakter  wählt  und  selbstthätig  den 
Fall  vollzieht,  ist  damit  aufgegeben  zu  Gunsten  der  auf  allen 
lastenden  Erbsünde,  Die  Freiheit  oder  der  motivlose  Zufall  der 
Entscheidung  ist  von  den  vielen  Individual willen  auf  den  einen 
fingierten  Urmenschen  zurückverlegt. 

Würde  diese  Urschuld  wieder  aufgehoben,  so  müsste  auch 
ihre  Folge,  die  Natur  Verschlechterung  und  Individuation,  \vieder 
aufgehoben  werden,  also  die  individuelle  Unsterblichkeit  höchstens 
so  lange  dauern  wie  die  Naturverschlechterung.  Hätten  aber  gar 
die  Individualideen  sich  einzeln  eigenmächtig  von  ihrem  Sein  in 
Gott  losgerissen,  dann  müssten  sie  auch  mit  der  Erlösung  in  den- 
selben Zustand  der  Eingliederung  in  das  göttliche  Sein  zurück- 
kehren, indem  sie  sich  vor  dem  Abfall  befanden.  In  beiden  Fällen 
scheint  ein  ewiges  Leben  der  Individuen  als  solchen  ebenso  wenig 
aufrecht  zu  erhalten,  wie  eine  individuelle  Freiheit  derselben. 
Schelling  bemüht  sich  trotzdem,  den  Individuen  ein,  wenn  auch 
sehr  verdünntes,  besonderes  Dasein  nach  ihrem  Wiedereinswerden 
mit  der  Gottheit  zu  retten,  und  braucht  dazu  als  Gleichnis  die 
offenbar  falsche  Behauptung,  dass  auch  der  im  Ozean  versunkene 
Tropfen  ein  Tropfen  bleibe,  auch  wenn  er  nicht  als  solcher  unter- 
schieden werde. 

Die  durch  den  Abfall  verschlechterte  Natur  und  Geistesw^elt 
ist  die  einzige,  die  wir  kennen;  diejenige  aber,  aus  deren  Ver- 
schlechterung sie  hervorgegangen  sein  soll,  ist  eine  ebensolche 
Fiktion  wie  die  dort  personifizierten  Potenzen,  der  ideale  Ur- 
mensch und  sein  Abfall.  Die  Gründe,  aus  denen  Schelling 
schliesst,  dass  die  jetzige  Natur  ein  Zerfallsprodukt  sei,  sind  ihm 
verwischte  Gesetzmässigkeit  und  Unruhe,  die  Störung  ihrer 
notwendigen  Ganzheit  durch  den  hereingebrochenen  Zufall  und 
die  Existenz  des  Bösen.  Die  Unruhe  des  Prozesses,  die  Zufällig- 
keit und  die  Möglichkeit  des  Bösen  sind  aber  schon  durch  den 
ersten  innergöttiichen  Urzufall,  die  Initiative  des  absoluten 
Willens  zum  Wollen,  gegeben  und  bedürfen  keines  zweiten  Zu- 
falls, während  die  Verwischtheit  der  Gesetzmässigkeit  nicht  zuzu- 
geben ist 

Die  Förderung,  die  Schelling  der  Lehre  vom  B<:^sen  ge- 
"geben  hat,  liegt  nicht  in  seiner  Lehre  von  der  transcendentalen 


304 


ScheUing» 


Freiheit,  nicht  in  der  Verkohriing-  des  richtigen  Verhältnisses  der 
Prinzipien  und  nicht  im  Sündenfall  des  Urmenschen,  sondern  in 
folgenden  Punkten.  Das  Böse  ist  nicht  Mangel  oder  Beraubung, 
sondern  etwas  Positives,  das  nicht  aus  dem  Gegensatz  zwischen 
einem  Willen  und  einem  Verstände,  sondern  nur  aus  dem  zwischen 
zwei  Willen,  dem  Eigenwillen  und  dem  allgemeinen  Willen  zu 
erklären  ist.  Die  Wirklichkeit  des  Bösen  ist  gegeben,  wo  der 
Eigenwille  seine  Sonderzwecke  über  die  Zwecke  des  allgemeinen 
Willens  Stellt,  der  seiner  Seele  als  sittliches  Gesetz  immanent  isL 
Die  Möglichkeit  des  Bösen  aber  niht  auf  der  Irrationalität  des 
Eigenwillens,  die  auf  die  Irrationalität  des  absoluten  Willens  in 
Gott  zurückweist  Hierin  liegt  eine  wertvolle  Erneuerung  der 
Böhmeschen  Lehre  vom  Bösen.  — 

Da  die  verschlechterte  Natur  nach  dem  Falle  des  idealen 
Urmenschen  die  einzig  wirkliche  ist,  und  diese  Raum  und  Zeit 
zu  ihren  Formen  hat,  so  sind  damit  auch  Raum  und  Zeit  zu 
Formen  des  wirklichen  Daseins  ausser  dem  Begriff  erklärt,  die 
nicht  mehr  von  einem  endlichen  Subjekt,  sondern  vom  absoluten 
Subjekt  gesetzt  werden.  Die  sinnlichen  Formen  der  subjektiv 
idealen  Erscheinungs weiten  in  menschlichen  Bewusstseinen  ver- 
halten sich  zu  diesen  Formen  der  realen  Existenz  wie  Erscheinung 
zum  Ansich,  wie  phänomenale  zur  intelligiblen  Raumzeitlichkeit 
oder  wie  Nichts  zur  Realität  Die  Zeit  ist  darüber  hinaus  noch 
Form  des  realen  Geschehens  im  Absoluten  selbst,  und  entsteht 
nach  Schelling  dadurch,  dass  die  Überwindung  des  ersten  Princips 
durch  das  zweite  von  Seiten  des  dritten  retardiert  wird;  durch 
den  Sündenfall  dringt  nun  die  Zeit  auch  in  das  ideale  Universum 
oder  das  System  der  Ideen  ein,  das  vorher  in  simultaner  Ein- 
heit und  Sichselbstgleichheit  ruhte.  Die  erkenntnistheoretisch 
transcendenten ,  intelligiblen  Formen  der  Räumlichkeit  und  Zeit- 
lichkeit schweben  als  wirkliche,  begrenzte  Daseinsformen  in  korre- 
spondierenden Möglichkeiten.  Den  bloss  möglichen,  metaphysisch 
transcendenten .  imaginär  intelligiblen  "Raum  nennt  Schelling 
Himmel,  die  bloss  mögliche  Zeit  Ewigkeit;  beide  sind,  reell  ge- 
nommen, Nichtraum  und  Nichtzeit  So  gelangte  Schelling  im 
Alter  dazu,  die  erkenntnistlieoretischen  Voraussetzungen  seiner 
Jugend  völlig  umzustossen  und  das  Gegenteil  an  üire  Stelle  zu 
setzen.  Er  bestätigte  damit  den  tr^nscendentalen  Realismus 
Schleiermachers,    gelangte    aber  leider  nicht  mehr  dazu,   die  er- 


Trewler.  —  von  Berger.  —  Steffens, 


305 


kenntnistheoretische  Begründung  des  Kant -Fichteschen  transcen- 
dentalen  Idealismus  ausfuhrlich  zu  revidieren  und  damit  seinem 
transcendentalen  Realismus  eine  kritische  Grundlegung  zu  ver- 
schaffen.*) — 

Unmittelbare  Anhänger  Schellings  in  seiner  zweiten  Periode 
waren  solche  Naturphilosophen,  die  sich  von  den  theosophischen 
Spekulationen  der  Schrift  über  die  Freiheit  angezogen  fühlten,  oder 
doch  die  Vereinigung  des  Vernunftprincips  mit  dem  Willensprin- 
cip  annahmen.  Die  späteren  Vorlesungen  Schellings  hatten  es 
schwerer,  unmittelbare  Anhänger  zu  gewinnen,  weil  sie  erst 
nach  seinem  Tode  gedruckt  wurden»  als  der  Zeitgeist  eine  ganz 
andere  Richtung  eingeschlagen  hatte. 

Troxler  (1780^ — 1866)  übernimmt  von  J.J.Wagner  die  Vier- 
teilung, hält  aber  die  persönliche  Unsterblichkeit  für  die  wichtigste 
Frage  und  gründet  die  Philosophie  auf  Anthropologie,  um  aus 
den  Gesetzen  des  Gemüts  auf  die  des  Alls  zurückzuschliessen, 
die  ihnen  parallel  laufen  sollen.  Auch  von  Berger  {1772 — ^1833) 
spürte  diesem  Parallelismus  des  anschauenden  Geistes  und  des 
Alls  nach,  Steffens  (1773 — 1845)  ist  nicht  nur  von  Schelling, 
sondern  auch  von  Baader,  Oken,  Schubert,  J.  J.  Wagner  und 
Schleiermacher  beeinflusst;  seine  eigentümliche  Leistung  besteht 
darin,  im  Gegensatz  zu  der  geschichtslosen  Naturphilosophie 
Schellings  und  Hegels  die  Natur  als  geschichtliche  Ent Wickelung 
zu  begreifen,  wozu  er  als  Geologe  besonders  vorbereitet  war. 
Mit  Wagner  und  Troxler  hat  er  die  Vierteilung  gemein,  mit 
Schleiermachers  früheren  Schriften  die  starke  Betonung  der  indi- 
viduellen Eigentümlichkeit  und  geistigen  Persönlichkeit.  Während 
aber  bei  Schleiermacher  dieselbe  ein  bloss  für  den  Weltprozess 
bestimmtes  und  mit  ihm  seinen  Zweck  verlierendes  Moment  ist, 
erscheint  sie  bei  Steffens  als  letzter  bleibender  Zweck  der 
Schöpfung,  unbeschadet  des  Zusammenschlusses  aller  persönlichen 
Geister  durch  die  Liebe  zu  einer  Einheit.  Der  Zweck  der  Natur- 
geschichte ist  die  Entwicklung  der  geistigen  Persönlichkeit  in 
der  Menschheit,  die  die  Aufgabe  hat,  sich  mit  der  Natur  zugleich 
durch   Aneignung   der  Gnade   ira    Glauben    von    der  durch   eine 


*)  Vgl.  »Schellings  phüosophiscbes  System«;  »Ges.  Stud.  u.  Aufsätze«  D.  V.: 
»Schellings  positive  Philosophie«, .  S.  650 — 720;  »Über  die  dialektische  Methode«, 
S.  28-34. 

E.1P.  Hart  mann.  Ati^r^w.Wttrk«.    fid.  XU.  lO 


3o6 


Oerated, 


Katastrophe  über  die  Natur  hereingebrochenen  Verfinsterung  und 
Verderbnis  zu  retten.  — 

Ein  viel  klarerer  Kopf  als  alle  übrigen  Schellingianer  ist  der 
Physiker  Oersted  (1777^1851},  der  als  Popularphilosoph  und 
Ästhetiker  auch  fiir  die  Geschichte  der  Philosophie  in  Betracht 
kommt.  Er  ist  völlig  frei  von  der  naturphilosophischen  Schematik 
und  der  mystischen  Theosophie  Schellings  und  seiner  Schule  und 
steht  in  seiner  Denkweise  Leibniz  in  mancher  Hinsicht  näher  als' 
Schelling.  Gleichwohl  hat  er  doch  wohl  von  diesem  sowohl  den 
Panlogismus  der  ersten  Periode,  als  auch  den  Panthelismus  der 
zweiten  und  das  Bestreben  übernommen,  beide  Seiten  in  Gott»  in 
der  Natur  im  allgemeinen  und  in  jedem  einzelnen  Individuum 
und  Naturdinge  vereinigt  zu  finden.  Wenn  Steffens  aus  der 
zweiten  Schellin gschen  Periode  die  richtige  Konsequenz  zieht, 
dass  die  Natur  geschichtlich  aufgefasst  werden  müsse,  so  Oersted 
die,  dass  sie  im  Sinne  eines  realistischen  Dynamismus  zu  verstehen 
sei.  Alle  Materie  löst  sich  in  Kräfte  auf»  da  wir  sie  nur  aus 
ihren  dynamischen  Wirkungen  kennen;  das  Dasein  der  Natur  ist 
ein  ^unaufhörliches  Werk«,  ein  Produkt  des  stetigen  loeinander- 
wirkens  und  Gegenein anderwirkens  der  Kräfte. 

Das  Wirken  geschieht  nach  Naturgesetzen;  alle  Naturgesetze 
aber  sind  Vernunft gesetze,  d.  h.  Gesetze,  die  aus  Vernunftnot* 
wendigkeit  bestimmt  sind.  Dem  Nachweis  dieses  Satzes  ist  der 
Inhalt  der  vier  Bände  »der  Geist  in  der  Natur«  gewidmet.  Der 
Vernunft  gemäss  ist  der  Aufstieg  vom  Niederen  zum  Höheren,  1 
der  Fortschritt  vom  Schlechteren  zum  Besseren,  und  ein  solcher 
findet  thatsächlich  in  Natur  und  Geschichte  statt,  wenn  auch  in 
osciüatorischem  Rhythmus.  Vor  dem  Lichte  des  Bewusstseins 
wird  die  vernünftige  Gesetzmässigkeit  der  Veränderungen  zum 
Denken  und  die  mit  ihr  verbundene  Kraft  zum  Willen.  Die 
Eine,  allgemeine  Naturkraft  oder  der  götthche  Wille  steht  hinter 
aller  Vernunft  als  das  unbegreifliche,  aber  für  jedes  Wirken  un- 
entbehrliche Princip  der  Realität  da,  das  nicht  in  Gedanken  auf- 
gelöst werden  kann.  Begreifen  und  erforschen  lässt  sich  nur  das 
Vernünftige  der  gesetzmässigen  Veränderungen  in  der  Welt 
Abgesehen  von  dem  dynamisch-thelischen  Realprinzip,  das  im 
Hintergrunde  bleibt,  ist  die  Vernunft  das  alles  bestimmende 
Princip  und  Wesen  der  Welt.  Die  Vernunft  in  der  Natur  ist 
unbewusst  und  unfehlbar;  unbewusst  wirkt  sie  auch  in  der  Phan- 


Roscnkumtz, 


307 


tasie,  dem  Gefiihl,  Gewissen,  dem  geistigen  Schöpfertrieb,  der 
Wahrnehmungsweise,  dem  Schönheitssinn  u,  a  w.  des  Menschen, 
Erst  mit  dem  freien  Gebrauch  ihrer  selbst  im  bewussten  Denken 
tritt  die  Möglichkeit  des  Irrtums  zu  der  Vernunft  hinzu.  Die 
ewige,  unendliche,  unbewusste  Vernunft  kann  nur  stückweis»  all- 
mählich fortschreitend  von  der  menschh'chen  bewussten  Vernunft 
erfasst  werden,  ihr  Rest  bleibt  das  höchste  und  einzige  Mysterium 
der  Welt;  alle  einzelnen  Mysterien,  z.  B.  das  der  Schönheit,  haben 
in  diesem  einen  ihren  Ursprung.  Im  Gefühl  der  Schönheit  wird 
die  Übereinstimmung  zwischen  der  unbewussten  Vernünftigkeit 
der  Dinge  und  der  unbewussten  Vernünftigkeit  der  äusseren 
Sinne  und  der  inneren  Geistesorganisation  aJs  wohlthuende  Har- 
monie empfunden. 

Gott  ist  Einheit  von  Vernunft  und  Wille.  Die  ewige  Sich- 
selbstgleichheit der  göttlichen  Vernunft  drückt  sich  in  der  Zeit 
als  Unveränderlichkeit  der  Naturgesetze,  der  göttliche  Wille  im 
Raum  als  schaffende  Naturkraft  aus.  Die  Schöpferkraft  und 
Schöpfervernunft  Gottes  sind  nur  für  unser  Denken  zu  unter- 
scheiden. So  hält  Oersted  einerseits  den  panlogistischen  Pantheis- 
mus der  Naturphilosophie  der  ersten  Schellin gschen  Periode  fest» 
fügt  aber  andererseits  aus  der  zweiten  Periode  den  erkenntnis- 
theoretischen Realismus,  die  geschichtliche  Weltanschauung  und 
das  dynamisch -thelische  Realprincip  hinzu  und  gestaltet  in 
diesem  Sinne  den  naturphilosophischen  Dynamismus  der  ersten 
Periode  zu  einer  der  modernen  Naturwissenschaft  gemässen  Welt- 
anschauung um.  Wenn  aber  die  Einheit  des  Idealprincips  und 
des  Realprmcips  bei  Schellin g  unter  theosophischen  Phantasma- 
gorien  erstickte,  so  tritt  sie  in  Oersted  wieder  nur  in  populär- 
philosophischer  Gestalt  ohne  zusammenhängende  oder  gar  syste- 
matische Durchführung  auf,  und  deshalb  hat  bisher  noch  keine 
Geschichte  der  Philosophie  Oersteds  Leistung  Beachtung  ge- 
schenkt.*) — 

Wilhelm  Roscnkrantz  (182 1 — 1874)  ist  von  allen  Schel- 
lingianern  der  am  meisten  systematische.  Nicht  die  Naturphiloso- 
phie ist  es»  an  die  er  anknüpft,  sondern  die  Principienlehre  in 
Schellings  System  des  transcen dentalen  Idealismus,  in  seiner 
Identitätsphilosophie  und  in    seiner  positiven   Philosophie.     Diese 


•)  Vgl.  »Die  deutsche  Ästhetik  seit  Kant«,  S>  198 — 211. 


3o8 


Rosenkiiintz« 


drei  sucht  Rosenkrantz  mit  einander  zu  verschmelzen,  durch  eine 
ausführhche  Kategorienlehre  zu  ergänzen,  die  bei  Schelling  fehlt, 
und  die  so  gewonnene  Metaphysik  zum  System  auszubauen. 
Dabei  fiisst  er  ganz  auf  den  SchelUngschen  Voraussetzungen^ 
dass  die  Philosophie  eine  konstruktive  Wissenschaft  von  untrüg-f 
lieber  Gewissheit  sei,  dass  der  vorbewusste  Entstehungsprozess 
des  Bewusstseins  und  seine  Faktoren  vom  Bewusstsein  selbst  un^ 
mittelbar  erfasst  werden  können,  und  dass  die  metaphysischeii' 
Principien  zuletzt  zu  den  Personen  der  Trinität  hinführen  müssen. 
Den  Hinweis  des  alternden  Schelling  auf  die  Prlncipienlehre  de^ 
Aristoteles  sucht  Rosenkraotz  weiter  auszuführen,  berücksichtigt 
vielfach  die  mittelalterliche  Scholastik  und  schickt  seiner  Kate- 
gorienlehre eine  geschichtliche  Betrachtung  dieses  Gegenstandes 
von  Kant  bis  zu  Trendelenburg  und  Ulrici  voran.  Die  Problem- 
stellung der  positiven  Philosophie,  wie  vom  Denken  zum  Sein  zu 
gelangen  sei,  nimmt  er  auf,  sucht  indessen  das  Problem  auf  andere 
Weise  als  Schelling  zu  lösen.  Er  folgt  Schelhngs  zweitem  System 
weder  in  seiner  doppelseitigen  Methodologie,  noch  in  seiner  trans- 
cendentalreahstischen  Erkenntnistheorie,  noch  in  der  Verwertung 
des  Willens  als  metaphysischen  Realprincips.  Vielmehr  hält  er 
an  der  einseitigen  Konstruktion  des  Besonderen  aus  dem  Allge- 
meinen und  an  dem  transcendentalen  Idealismus  fest  und  lässt 
den  Begriff  des  Willens  nur  als  den  letzten  Abschluss  der  meta- 
physischen Principienlehre  gelten,  der  zu  der  theologischen  Per- 
sonenlehre die  Brücke  schlägt,  ohne  in  der  Metaphysik  irgend 
welche  Dienste  zu  leisten, 

Rosenkrantz  geht  aus  von  den  Principien  als  Thätigkeiten, 
der  unbestimmten  aber  bestimmbaren,  stoffgebenden,  positiven 
und  der  sie  bestimmenden^  form  gebenden,  negativen,  welche  in 
der  dritten,  verbindenden,  synthetischen  ihre  Verknüpfungseinheit 
finden  und  eine  ursprüngliche  Einheit  sich  voraussetzen.  Diese 
ursprüngliche  Einheit  muss  der  Quell  sein,  aus  dem  sie  ent- 
sprungen sind  und  sich  herausdifferenziert  haben,  das  Vermögen 
unseres  Geistes,  das  dem  seienden  Produkt  der  Thätigkeiten  wie 
das  Subjekt  seinem  Objekt  gegenübersteht,  aber  den  Gegensatz 
von  Subjekt  und  Objekt  in  sich  selbst  noch  nicht  enthält.  So,  als 
Indifferenz  oder  ursprüngliche  Identität  von  Subjekt  und  Objekt 
ist  die  ursprüngliche  Einheit  Princip  der  Identitätsphilosophiet 
Als  Quell  eines  individuellen,  subjektiven  Denkens   würde  diese 


: 


Rosenkran  tj!» 


309 


ursprüng-liche  Einheit  nicht  über  den  Begriff  hinaus  zur  Wirk- 
lichkeit führen;  da  sie  aber  ebensowohl  Quell  aller  objektiven 
Seinselemente  wie  aller  subjektiven  Denkbestimmungen  ist,  so 
wird  sie  zu  einem  universellen,  unbedingten,  göttlichen  Sein»  und 
die  von  ihr  ausgehenden  Thätigkeiten  zugleich  zu  objektiven 
Seinsfaktoren  oder  Mächten  (den  Schellin gschen  Potenzen).  Man 
sieht  leicht,  dass  die  ursprüngliche  Einheit  nur  hypothetisch  er- 
schlossen und  als  Voraussetzung  der  Thätigkeiten  supponiert, 
aber  niemals  unmittelbar  vom  Bewusstsein  erfasst  werden  kann, 
wie  Rosenkrantz  behauptet,  und  dass  der  Übergang  vom  indivi- 
duellen Geistesvermögen  oder  Intelligenzgrund  zum  unbedingten 
göttlichen  Sein  ein  Sprung  ist,  der  aus  der  Verwechselung  zweier 
Bedeutungen  des  Objektiven,  nämlich  des  für  mein  Bewusstsein 
immanenten  Objektiven  mit  dem  für  es  Transcendenten ,  an  sich 
Seienden,  entsteht.  Da  Rosenkrantz  zugiebt,  dass  ein  bewusstes 
Wissen  ohne  den  Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  undenkbar 
sei,  widerspricht  er  sich  selbst,  wenn  er  der  Indifferenz  beider 
Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  zuschreibt.  Selbst  da,  wo  es 
in  den  Prozess  eingetreten  ist,  handelt  es  sich  doch  noch  lange 
nicht  um  Subjekt  und  Objekt  des  Bewusstseins ,  sondern  nur  um 
Subjekt  und  Objekt  der  Thätigkeit,  Produzent  und  Produkt 

Wenn  die  Thätigkeiten  als  Mächte  und  Ursachen  gefasst 
werden,  so  ist  die  ursprüngliche  Einheit  weder  Macht  noch  Ur- 
sache zu  nennen,  sondern  nur  die  Substanz,  welche  die  Mächte 
oder  Ursachen  als  ihre  Accidentien  (besser  Attribute)  an  sich  hat 
und  zum  Wirken  aus  sich  entlässt.  Demnach  nennt  er  das  Potenzlose 
die  potentia  pura  oder  das  rein  Mächtige,  und  das,  was  nicht  Ur- 
sache sein  soll,  die  vierte  Ursache  wie  Aristoteles.  Die  Wirkung 
oder  das  Produkt  der  Mächte,  das  doch  offenbar  durch  diese  be- 
dingt und  in  der  Summe  des  endlichen  Seins  zu  suchen  ist,  ver- 
tauscht er  dann  mit  dem  unbedingten  Sein,  als  welches  er  vorher 
die  ursprüngliche  Einheit  selbst  bezeichnet  hatte.  Die  Einheit 
der  reinen  Macht  und  des  unbedingten  Seins  sagt  dann  dasselbe 
wie  Einheit  des  Subjekts  und  Objekts,  da  die  Macht  die  subjek- 
tive, das  Sein  die  objektive  Seite  am  Wesen  darstellt.  Ursprüng- 
liche Einheit  von  Macht  und  Sein  ist  aber  nach  Rosenkrantz  zu- 
gleich Wille,  also  ist  das  Wesen  Wille,  Da  es  drei  Mächte  sind, 
in  welche  die  ursprüngliche  Einheit  sich  teilt,  sollen  es  nun  auch 
drei  Willen  sein,  oder  drei  getrennt  subsistierende  Subjekte,  deren 


310 


Der  Rückgang  auf  I>ibniz. 


jedes   das   gleiche    Objekt,    das  unbedingte    Sein    hat,    d  h,  drei 
Personen. 

Die  Kategorien  oder  objektiven  reinen  VerstandesbegrifiFe  teilt 
Rosenkrantz  zunächst  in  einfache  und  zusammengesetzte.  Die 
einfachen  Kategorien  scheidet  er  in  Formen  des  Denkens  an  sich 
selbst  und  Formen  des  Denkens  im  Verhältnisse  zu  den  Be- 
wegungen der  objektiven  Elemente,  die  erstereo  wieder  in  solche  ^m 
in  der  Gedankenwelt  und  in  solche  im  Verkehr  mit  der  Aussen-  ^| 
weit,  d.  h.  in  Denkformen  und  Anschauungsformen  {Raum  und 
Zeit).  Die  Denkformen  sondert  er  in  Kausalität  und  Substantiali- 
tät,  und  behandelt  Bedingung  und  Bedingtes,  Materie  und  Form 
als  Nebenkategorien  der  Kausalität,  Position  und  Negation,  Ein- 
heit und  Vielheit  als  Nebenkategorien  der  SubstantialitäL  Die 
Formen  des  Denkens  in  seinem  Verhältnisse  zu  den  Bewegungen 
der  objektiven  Elemente  gliedert  er  in  Kategorien  des  Erkennens 
und  des  Handelns,  d,  h.  in  Grund  und  Folge  und  in  Mittel  und 
Zw^eck.  Als  Nebenkategorieo  der  Begründung  behandelt  er 
Möglichkeit,  Wirklichkeit  und  Notwendigkeit,  als  solche  der 
Finalität:  Absicht,  That  und  Erfolg.  Rosenkrantz  briogt  zu  seiner 
Aufgabe  viel  Kenntnisse,  Fleiss,  Scharfsinn  und  Systematisierungs- 
drang,  aber  kein  ausreichendes  Talent  mit. 


3,  Der  Rückgang  auf  Leibniz. 

Krause,  Herbart  und  Beneke  sind  drei  Denker,  die  seitab 
von  dem  gradlinigen  Entwickelungsgang  der  neuesten  Meta* 
physik  stehen  und  keinen  nennenswerten  Einfluss  auf  ihn  ge-^l 
Wonnen  haben.  Immerhin  hat  der  ordentliche  Professor  Herbart  J 
einen  weiteren  Anhängerkreis  gefunden  als  der  ausserordent- 
liche Professor  Beneke  und  der  verunglückte  Privatdocent  Krause, 
Krause  geht  von  Schellings  erstem  System  aus,  Herbart  von 
Fichte  und  dem  Fichteschen  Jugendstandpunkt  Schellings»  Beneke 
von  dem  Sensualismus,  Alle  drei  wenden  sich  von  dem  speku- 
lativen Pantheismus  zum  Standpunkt  der  Aufklärungsphilosophie 
zurück»  zu  der  Ideentrias  von  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit, 
und  schöpfen  ihre  wichtigsten  Anregungen  aus  Leibniz. 


KxÄttse. 


3" 


K.  Ch.  F.  Krause  (1781 — 1832)  ist  bis  etwa  zum  Jahre 
1810  vollständiger  Pantheist  und  Schellingianer.  Seine  Absicht 
geht  dahin,  die  Selbstbewusstseinslehre  Fichtes  und  die  Natur- 
philosophie Schellings  synthetisch  zu  verschmelzen,  wie  dies 
Schelling  selbst  in  seiner  Identitätsphilosophie  durch  Synthese 
de5  Systems  des  transcendentalen  Idealismus  und  der  Natur- 
philosophie angestrebt  hatte.  Die  beiden  Gegensätze  des  Idealen 
und  Realen,  der  Vernunft  und  Wirklichkeit,  des  Geistes  und  der 
Natur,  die  im  Urwesen  vereinigt  sind»  sucht  Krause  auf  die 
Begriffe  Selbheit  und  Ganzheit  zurückzuführen,  indem  er  als 
charakteristisches  Merkmal  des  Geistigen  die  Selbheit  des  Ich 
oder  Selbstbewusstseins  und  als  das  der  Natur  die  stetige  Ganz- 
heit in  Raum,  Zeit  und  Kraft  auffasst.  Das  Urwesen  ist  also  ein 
Verein wesen  von  Selbheit  und  Ganzheit,  wie  es  bei  Schelling 
die  Identität  des  Idealen  und  Realen  ist  Krause  bekämpft  den- 
jenigen Pantheismus,  nach  welchem  das  Endliche  oder  die  Welt 
als  Gott  gesetzt  wird  (Fetischismus  und  Naturalismus),  ist  aber 
selber  bis  1810  Pantheist  in  dem  Sinne,  dass  er  das  Urwesen 
ohne  Willen,  Freiheit  und  Bewusstsein  als  ein  notwendig  Thätiges 
und  die  Welt  nicht  als  seine  Schöpfung,  sondern  als  ewige 
Entfaltung  und  notwendigen  Ausdruck  seines  Wesens  annimmt 
Ja  sogar  er  betrachtet  das  Verhältnis  des  Urwesens  zu  den  end- 
lichen Individuen  als  das  des  Ganzen  zu  seinen  Teilen  (Teil- 
wesen), das  er  merkwürdiger  Weise  wieder  mit  dem  des  Grundes 
zu  den  Begründeten  gleichsetzt  Ein  Unterschied  zwischen  dem 
Wesen,  das  die  Welt  in  und  unter  sich  befasst»  und  dem  meta- 
physisch transcendenten  Wesen  als  Urwesen  oder  Überwesen,  das 
über  jeder  Beziehung  und  Relation  zur  Welt  in  reiner  Absolut- 
heit für  sich  besteht,  wird  hier  noch  nicht  gemacht* 

Dieser  Unterschied  tritt  erst  in  seinen  späteren  Schriften  auf, 
vielleicht  mit  veranlasst  durch  die  im  Jahre  181 1  erschienene  Aus- 
einandersetzung Schellings  mit  JakobL  Zwar  hält  er  sein  lebelang 
daran  fest,  dass  Gott  alles  ^ist* ,  sowohl  sich  selbst  als  auch  das, 
was  er  in  und  unter  sich  hat,  die  Teilwesen,  und  dass  seine  Welt- 
setzung nicht  Schöpfung,  sondern  Entfaltung  des  eigenen  Wesens 
ist  Aber  seine  Alleingottlehre  oder  sein  Panentheismus,  der  sich 
vorher  nur  durch  die  Silbe  en  von  dem  SchelUngschen  PanUieis- 
mus  unterschied,  sucht  nun  in  dem  transcendenten  Überwesen 
eine    theistische    Spitze    zu    gewinnen,    also    die    pantheistische 


312 


Krause. 


iTiimaoenxIehre  mit  der  theistischen  Gotteslehre  zu  vereinigen. 
Krause  nimmt  damit  die  Bemühungen  von  Leibniz,  Lessing  und 
Herder  wieder  auf.  Er  schreibt  Gott  im  Unterschiede  von  seinem 
firülieren  Standpunkte  jetzt  Bewusstsein,  Willensfreiheit  und  Per- 
sönlichkeit zu  und  stellt  sich  damit  in  die  Gruppe  der  Theisten. 
Er  eröffnet  die  Reihe  der  Theisten  des  neunzehnten  Jahrhunderts, 
die  wegen  ihres  Festhaltens  an  der  pan theistischen  Immanenzlehre 
und  ihrer  Gegnerschaft  gegen  den  theistischen  Schöpfungsbegriff 
Halbpan theisten  oder  Persönlichkeitspantheisten  genannt  werden. 
Von  allen  anderen  Vertretern  dieser  Tendenz  unterscheidet  er 
sich  dadurch,  dass  er  gleich  Spinoza  und  Schellings  Identitäts- 
philosophie Geist  und  Natur  als  gleichberechtigte  und  nebenge- 
ordnete Seiten  in  Gott  betrachtet»  nicht  gleich  Fichte  und  Hegel 
die  Natur  als  ein  dem  Geiste  untergeordnetes  und  dienendes 
Princip  auffasst.  Er  lehrt  also  einen  persönlichen,  aber  nicht 
einen  rein  geistigen  Gott.  — 

Der  aufsteigende  Lehrgang  fiilirt  von  der  subjektiven  Selbst-^— 
anschauung  des  Ich  zur  Wesenschauung  empor,  der  absteigendd^H 
deduziert  in  objektiver  Weise  aus  der  intellektuellen  Anschauung 
oder  absoluten  Idee  des  Wesens  das  ganze  System  der  Wissen- 
schaften. Das  eigentliche  System  Krauses  ist  also  deduktiv,  und 
der  aufsteigende  Lehrgang  verhält  sich  nur  als  Einleitung  zu  ihm, 
etwa  wie  bei  Hegel  die  Phänomenologie  des  Geistes.  In  der 
Selbstanschauuog  findet  der  Mensch  sich  als  eine  Vereinigung 
von  Leibwesen  und  Geistwesen  vor  und  muss  sich  als  ursprüng- 
lich einheitliches  Individualwesen  dieser  Vereinigung  voraussetzen. 
Zugleich  findet  er  sich  begrenzt  durch  andere  solche  individuelle 
Verein wesen,  seinen  Leib  als  Teil  der  Natur,  seinen  Geist  als 
Teil  des  ebenso  einheitlichen  Geisterreichs  oder  der  Vernunft.  Er 
steht  also  im  Verhältnis  des  Teiles  zu  zwei  Ganzen,  d.  h,  im  Ver- 
hältnis des  Begründeten  zu  zwei  Gründen.  Diese  wiederum,  Na- 
tur und  Vernunft,  sind  als  durch  einander  begrenzte  endlich  und 
stehen  in  einer  Wechselwirkung;  sie  weisen  darum  auf  ein  Ur- 
wesen  zurück»  dessen  Teile  oder  Seiten  sie  sind,  und  durch  Zu-  . 
gehörigkeit,  zu  welchem  sie  in  durchgängiger  Ü berein stimmungj^B 
oder  prästabilierter  Harmonie  stehen,  ^^ 

Der  Selbstanschauung  des  Ich  kommt  Gewissheit  zu,  und 
durch  diese  auch  allem  anderen  Wissen.  Die  Wesenschauung 
oder  intellektuelle  Anschauung  Gottes  ist    keines  Beweises   fähig 


KmuMv 


31* 


ind  bedürftig,  denn  sie  ist  die  notwendige  Voraussetzung,  die 
allem  erst  die  Wirklichkeit  verbürgt,  weil  es  ohne  sie  proble- 
matisch wie  ein  Traum  bliebe.  Dass  das  am  Ich  Gewisse  kein 
Wesen,  sondern  blosse  Erscheinung»  und  das  hinter  ihr  ange- 
nommene Wesen  nur  Hypothese  von  irgendwelcher  Wahrschein- 
lichkeit ist,  kommt  Krause  ebensowenig  in  den  Sinn,  wie  dass 
das  universelle  Urwesen  eine  über  lauter  Hypothesen  errichtete 
Hypothese  ist.  aber  nicht  unmittelbar  geschaut  w^erden  kann. 

Der  absteigende  Lehrgang  Krauses  zerfällt  in  drei  Gruppen^ 
die  inhaltlichen  Teile  des  philosophischen  Systems,  die  formalen 
Teile  desselben  und  die  Verbindung  von  Philosophie  und  Ge- 
schichte. Die  erste  Gruppe  gliedert  sich  in  die  reine  Wesenslehre 
oder  Grundwissenschalt  (Kategorienlehre  und  Gotteslehre),  die 
Vernunftwissenschaft  (Geistesphilosophie) ,  die  Naturwissenschaft 
(Naturphilosophie)  und  die  Verein wesenslehre  (Anthropologie). 
Die  zweite  Gruppe  der  formalen  Disziplinen  umfasst  Mathematik, 
Chronologie,  Mechanik,  Dynamik,  Logik,  Ästhetik  und  Ethik.  Die 
letzte  Gruppe  beschränkt  sich  auf  Philosophie  der  Geschichte.  — 

In  der  Kategorienlehre  stellt  Krause  Selbheit,  Ganzheit  und 
Vereinheit  (Verknüpfungseinheit,  Vereinigung)  als  Momente  der 
Wesenheit  hin,  und  koordiniert  mit  ihnen  die  Momente  der  Satz- 
heit  (Position,  Affirmation),  nämlich  Richtheit,  Fassheit  (oder  Um- 
fangheit)  und  Satzheitvereinheit  Die  Verbindung  beider  giebt 
die  Kategorien  der  satzigen  Wesenheit  oder  Seinhelt  (Existenz), 
in  welcher  die  Selbheit  und  Richtheit  zur  Verhaltseinheit  die 
Ganzheit  und  Fassheit  zur  Gehaltseinheit  oder  Inhaltheit,  die 
Wesenheiteinheit  und  Satz  vereinheit  zur  Sein  vereinheit  ver- 
schmelzen. Zu  jeder  dieser  Kategorien  giebt  e-s  dann  noch  eine 
entgegengesetzte  und  eine,  welche  die  Gegensätze  verbindet,  wo- 
bei sich  weitere  Wortungeheuer  ergeben. 

Die  Gotteslehre  Krauses  stützt  sich  wesentlich  auf  die  Über* 
tragung  der  in  der  Selbstanschauuog  des  Ich  von  ihm  gefun- 
denen Bestimmungen  auf  das  Absolute,  über  deren  Berechtigung 
er  sich  keine  Skrupel  macht  Er  behauptet,  dass  aus  der  Ver- 
einigung von  Selbheit  und  Ganzheit  sich  das  Selbstinnesein  un- 
mittelbar ergebe,  dass  das  Selbstinnesein  nach  Seiten  der  Selb- 
heit Selbstbewusstsein,  nach  Seiten  der  Ganzheit  Selbstgefühl  sei, 
und  dass  Selbstbewusstsein  und  Selbstgefühl  nicht  durcheinander 
verursacht,   obwohl    in  voll  wesentlicher   Übereinstimmung,   seien. 


SH 


Krause. 


Alle  diese  auf  Gott  übertragenen  angeblichen  Selbstbeobachtungen 
sind  psychologisch  völlig  unhaltbar.  Da  auch  der  Individualgeist 
ebensogut  wie  der  Leib  Teil  eines  einheitlichen  Ganzen  (des 
Geisterreichs)  sein  soll,  und  der  Leib  auf  seine  Weise  eben- 
solche Selbständigkeit  und  individuelle  Diskretion  zeigt  wie  das 
Ich,  so  ist  nicht  einmal  der  Gegensatz  von  Selbheit  und  Ganzheit 
als  haltbar  oder  als  charakteristisch  für  den  Gegensatz  von  Geist 
und  Natur  anzuerkennen. 

Ausser  dem  Selbstbewusstsein  und  Selbstgefühl  wird  mm 
Gott  noch  Wille  zugeschrieben»  insofern  er  sich  als  Vermögen 
zur  Gestaltung  seines  Lebens  unbedingt  frei  bestimmt.  Krause 
verhehlt  sich  nicht,  dass  diese  Behauptung  mit  der  anderen  in 
Widerspruch  steht,  wonach  die  Schöpfung  der  Welt  nur  die  not- 
wendige Ausgestaltung  seines  Wesens  ist.  Er  bekennt  sich  un- 
fähig, diesen  Widerspruch  zu  lösen,  bleibt  aber  dabei,  dass  beides 
vor  der  Wesenschauung  gewiss  sei.  Selbstbewusstsein,  Selbst 
gefiihl  und  freier  Wille  im  Verein  liefern  dann  die  gesuchte  Per- 
sönlichkeit Gottes.  — 

In  der  Naturphilosophie  schliesst  Krause  sich  ziemlich  engf 
an  Oken  an.  Über  den  Menschen  lehrt  er,  dass  die  Menschheit 
des  Weltalls  eine  unveränderliche  Zahl  umfasse,  von  der  wir  in 
der  Erden menschheit  nur  einen  Teil  kennen.  Die  Wiederver- 
körperung der  Individualwesen  führt  über  die  verschiedensten 
Himmelskörper  und  stellt  den  Ausgleich  her,  wenn  auf  einem 
die  Zahl  der  Menschen  zeitweilig  zu-  oder  abnimmt  Wie  Zahlen- 
operatiooeo  der  Mathematik  so  drücken  auch  die  Begriffs- 
operationen  der  Logik  reale  Verhältnisse  aus,  wie  dies  schon 
Wagner  und  Hegel  behauptet  haben.  In  der  Geschichtsphilosophie 
legt  er  Gewicht  auf  die  Lebensalter,  die  durch  Keim  leben  und 
Wachstum  zur  Reife  und  von  da  durch  das  Hochalter  der  Reife 
und  die  Greisenhaftigkeit  zum  Tode  führen.  Diese  Phasen  gelten 
nicht  bloss  für  die  Einzelnen,  sondern  auch  für  die  Völker  und 
die  Menschheit.  Der  Tod  ist  aber  nur  der  Übergang  zu  neuer 
Geburt,  deren  Lebensgang  sich  auf  höherer  Stufe  entfaltet.  Der 
Menschheitsbund  wird  sich  nicht  bloss  über  die  Erdenmenschheit 
erstrecken,  sondern  schhesslich  aUe  Glieder  der  Weltmenschheit 
umfassen»  vielleicht  erst,  nachdem  alle  zu  Sonnenmenschen  ge- 
worden sind.  Wenn  die  Sonnenmenschheit  ihre  fünf  Lebensalter 
durchlaufen  haben  wird,  muss  auch  sie  sterben»  um  etwa  auf  einem 


t- 

'■4 


Herbart. 


315 


anderen  Sonnensystem  wieder  ein  neues  Keimlebensalter  zu  be- 
ginnen, und  sofort  ins  Unendliche. 

Krause  nimmt  demnach  eine  doppelte  Entwickelung  an,  eine 
individuelle  durch  die  Reihe  der  Wiederverkörperimgen  und  eine  uni- 
verselle durch  den  Fortschritt  der  sozialethischen  Institutionen  und 
der  Geistesbildung-  Beide  sollen  einander  unterstützen.  Die 
Gedanken  von  Leibniz,  Lessing  und  Herder  sind  hier  mit  einander 
verbunden.  Da  aber  die  Entwickelung  ins  Unendliche  keine  Ent- 
wickelung wäre,  wenn  nicht  ihr  Endzweck  in  jeder  Phase  in 
irgend  welchem  Masse  bereits  erfüllt  wäre,  so  muss  ebenso  wie 
bei  Hegel  das  Ziel  eigentlich  schon  immer  erreicht  sein,  und  alles 
Leben  selbstzwecklichen  Eigenwert  haben.  Aber  während  in 
Hegels  Panlogismus  dieser  Eigenwert  lediglich  in  der  Verwirk- 
lichung der  Vernunft  an  jeder  Stelle  liegt,  hat  Krause  durch- 
aus  nur  einen  eudämonistischen  Selbstzweck  im  Sinne,  dem  auch 
die  Sittlichkeit  nur  als  Mittel  dient.  Darum  muss  er  eudäraono- 
logischer  Optimist  sein;  die  Bedenken  wegen  des  Übels  und  des 
Bösen  wehrt  er  durch  blosse  Wiederholung  der  Leibnizschen  Argu- 
mente  ab,  der  blossen  Negativität,  der  teleologischen  Unentbehrlich- 
keit  zum  Kontrast  und  der  relativen  Unerheblichkeit* 

Wenn  das  Freimaurertu  m  den  Aufkläningsrationalismus  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  zum  treuesten  Ausdruck  bringt,  so  ist 
es  nur  folgerichtig,  dass  Krause  in  ihm  den  Gipfel  der  sozialethi- 
schen Institutionen  und  den  Keim  des  künftigen  Menschheits- 
bundes sieht.  Die  Religion  wird  dabei  völlig  ausgehöhlt  und 
entleert,  die  Tiefe  des  Sünden bewusstscins  verflacht,  die  Sehnsucht 
nach  Erlösung  von  L^bel  und  Schuld  optimistisch  verflüchtigt. 
Der  Unitarismus  der  göttlichen  Persönlichkeit  hebt  die  Gottheit 
Christi  und  damit  die  Möglichkeit  seines  objektiven  Erlösungs- 
werkes auf  und  drückt  ihn  zu  einem  weisen  Menschen  herab, 
der  von  der  Krauseschen  Weisheit  einige  dunkle  Vorahnungen 
hatte.  In  allen  diesen  Beziehungen  hätte  Krause  mehr  Erfolg 
bei  dem  Publikum  des  neunzehnten  Jahrhunderts  finden  können, 
wenn  nicht  seine  Sprache  ihm  hinderlich  gewesen  wäre,  und  wenn 
seinen  Segeln  nicht  später  Lotze  den  Wind  abgefangen  hätte,*)  — 

Herbart  (1776 — 1841)  verbindet  den  eleatischen  Begriff  des 


*)  Vgl.   Ges.   Studien  und  Au&ätze,  S.   S6s— 5^;;   Die   Deuticbe  Ästhetik    teit 
Kjifit,  S.  71 — 85  und  die  im  Namenregister  angegebenen  SteUen. 


vf> 


Herbart 


Starren  unveränderlichen  Seins  nicht  wie  die  Pantheisten  mit 
Herakiitischen  des  Werdens  oder  der  Veränderung  oder  Bewe- 
gung, sondern  mit  dem  vielheitlichen  Sein  der  Demokritischen 
Atomenlehre,  das  er  im  Sinne  der  Leibnizischen  Monadenlehre 
auffasst.  Während  aber  Krause  die  Leibnizische  Lehre  im  Sinne 
von  Lessing  und  Herder  deutet,  also  auch  ihre  Verwandtschaft 
mit  Spinoza  verwertet,  stellt  Herbart  sie  in  schroffen  Gej^ensatz 
zu  allem  Monismus  und  schliesst  sich  in  seiner  Auslegung  an 
Wolff  an.  Seinen  Ausgangspunkt  bildet  Fichte  und  die  Schellin g- 
sche  Jugendschrift  \'nm  Ich.  Während  aber  hier  vom  empirischen 
Ich  zum  absoluten  fortgegangen  wird,  das  Schelling  später  zu 
Spinozas  Substanz  zurückführte,  verwirft  ?Ierbart  das  absolu 
Ich  gänzlich,  deutet  das  empirische  Ich  als  phänomenales  Produkt 
des  Vorstellungsprozesses  und  geht  von  ihm  auf  die  Monade 
zurück  auf  die  Individualseele  als  metaphysischen  Punkt  od( 
einfaches  reales  Wesen.  Mit  Leibniz  und  Fichte  nimmt  er  gegen 
Kant  an»  dass  die  Seele  alles»  nicht  nur  die  Form,  sondern  auch 
den  Stoff  ihrer  subjektiv  idealen  Erscheinungswelt  aus  sich  hervor- 
bringt, mit  Wolff  und  Kant  gegen  Fichte,  dass  sie  zu  diesem 
Hervorbringen  durch  den  Einfluss  anderer  Monaden  in  bestimmter 
Weise  veranlasst  wird,  gegen  Kant,  dass  nicht  nur  der  von  der 
Seele  produzierte  Stoff  der  Empfindung,  sondern  auch  die  voi 
der  Seele  produzierten  Formen  der  Anschauung  und  Vorstellun; 
in  jedem  Falle  in  der  Art  und  Weise  ihrer  Reaktion  durch  dv 
Art  der  Störung  von  aussen  bestimmt  sind.  — 

Herbart  ist,  wie  Kant,  Fichte  und  Schelling  in  seiner  ersten 
Periode,  transcenden taler  Idealist  in  Bezug  auf  Zeit,  Raum  und 
Bewegung,  wie  sie  uns  als  Anschauungsformeu  unmittelbar  be- 
kannt sind;  aber  er  ist  wie  Kant  transcenden  taler  Realist  ii 
Bezug  auf  die  Dinge  an  sich,  welche  durch  ihre  Störungen  di< 
Seele  zur  produktiven  Reaktion  nötigen.  Er  geht  sogax  darin 
über  Kant  hinaus,  dass  er  einen  intelligiblen  Raum  als  die  Form 
des  Zusammenseins  der  Monaden  annimmt,  welcher  eine  Verände^ 
rung  der  realen  Beziehungen  der  Monaden  zu  einander,  eine 
Annäherung,  Entfernung,  Durchdringung,  Zwischenlagerung  u.s.w*, 
kurz  ein  intelligibles  Analogen  der  Bewegung  zulässt.  Nur  die 
Kontinuität  oder  Stetigkeit  spricht  er  diesem  Raum  ab  und  denkt 
ihn  ebenso  wie  die  Zeit  als  ein  starres  Nebeneinander  diskreter 
Punkte,    wobei    dann    freilich    die  Stetigkeit  der  Bewegung  und 


zu 

Ltefll 

de  ^ 

la4 


I 

d 

y 


Herbart, 


317 


Veränderung  unbegreiflich  wird.  Die  gegenseitigen  Störungen 
der  Monaden,  die  nicht  nur  den  stets  wiederholten  Anstoss  zur 
Vorstellungsproduktion  überhaupt  geben,  sondern  zur  Produktion 
ganz  bestimmter  Vorstellungen  nötigen,  sind  offenbar  eine  reale 
Kausalität  von  einem  realen  Wesen  auf  das  andere,  d.  h,  eine 
interindividuelle,  transeunte  Kausalität,  die  für  das  Bewusstsein 
jeder  einzelnen  Monade  sich  als  erkenntnistheoretisch  transcen- 
dente  KausaUtät  geltend  machen  muss.  Auch  die  Zweckmässig- 
keit in  der  Einrichtung  des  Systems  der  realen  Beziehungen  unter 
den  Monaden  erkennt  Herbart  als  eine  wirklich  existierende 
Organisation  an,  verwirft  die  blosse  Subjektivität  der  FinaUtät, 
und  schliesst  aus  ihrer  objektiven  Realität  auf  eine  göttliche 
Intelligenz  als  ihren  Urheber. 

Herbart  ist  also  mit  dem  transcendentalen  Idealismus  darin 
einverstanden,  dass  unsere  sinnliche  Wahmehmungswelt  ein  von 
der  Seele  selbst  produzierter  Schein  ist;  aber  er  ist  nicht  mit  ihm 
darin  einverstanden,  dass  das  etwa  hinter  diesem  Schein  belegene 
Sein  oder  Wesen  unerkennbar  sei.  Er  giebt  nur  zu,  dass  es  un- 
mittelbar unerkennbar  sei,  behauptet  aber  seine  mittelbare 
Erkennbarkeit  Indem  das  Sein  notwendig  dem  Schein  voraus- 
gesetzt und  eine  mittelbare  Abhängigkeit  des  Scheines  vom  Sein 
angenommen  werden  muss,  nötigt  auch  die  Verschiedenheit  und 
Mannigfaltigkeit  des  Scheins  dazu,  auf  ein  verschiedenes  und 
mannigfaltiges  Sein  zu  schliessen.  Hiermit  hat  Herbart  dem 
transcendentalen  Realismus  principiell  die  Bahn  eröffnet.  Sein 
Irrtum  war  nur,  dass  er  die  mittelbar  erschlossene  Kenntnis 
vom  Sein  für  ein  apodiktisch  notwendiges  und  gewisses  Wissen 
im  Sinne  der  älteren  Metaphysik  hielt,  und  dasa  er  die  Kantsche 
Verw*echselung  von  metaphysischem  Wesen  und  erkenntnis- 
theoretischem Ding  an  sich  festhielt  Wenn  Kant  durch  diese 
Verwechselung  dazu  gelangt  war,  wegen  der  Einheit  des  Wesens 
die  Vielheit  der  Dinge  an  sich  in  Frage  zu  stellen,  so  wurde  nun 
Herbart  durch  sie  dazu  getrieben,  wiegen  der  Vielheit  der  Dinge 
an  sich  die  Einheit  des  Wesens  zu  bekämpfen. 

Herbart  hält  an  dem  logischen  Denkgesetz  der  Identität  oder 
des  Widerspruchs  streng  fest,  so  streng,  dass  er  nicht  nur  im 
Inhalt  des  Seienden,  sondern  auch  in  seiner  Form  jeden  unlogischen 
Bestandteil  für  unmöglich  erklärt.  Für  in  sich  widerspruchsvoll 
und   darum    unlogisch   erklärt   er   aber    einerseits   den  Übergang 


3i8 


Herbart 


vom  einen  zum  andern  oder  die  Veränderung,  andererseits  das 
Zusammensein  von  Einheit  und  Vielheit  in  demselben  einheitlichen 
Wesen ,  die  Inhärcnz  vieler  Attribute  an  einer  Substanz  oder  vieler 
Eigenschaften  an  einem  Dinge.  Die  Unmöglichkeit  der  Ver- 
änderung im  Sein  verurteilt  das  Sein  zu  völliger  Erstarrung  und 
lässt  allen  Veränderungsschein  in  die  subjektive  Auffassung  fallen, 
wo  das  Vorhandensein  des  Widerspruchs  nicht  minder  anstössig 
und  unerklärlich  bleibt  als  im  Sein.  Die  Unmöglichkeit  der  Viel- 
einigkeit eines  Wesens  schliesst  den  Monismus  aus,  da  aus  einem 
abstrakt  Einen  ohne  innere  Mannigfaltigkeit  niemals  eine  reale 
Vielheit  entspringen  kann,  und  zwingt  dazu,  die  \aelen  realen 
Wesen  oder  Monaden  als  schlechthin  einfach  zu  setzen, 

Dass  die  Inhärenz  des  Vielen  am  Einen  einen  Widerspruch 
einschliesse,  ist  falsch,  da  Einheit  und  Vielheit  nur  in  verschie- 
denen Beziehungen  behauptet  wird.  Dass  Veränderung  in  der 
Zeit  einen  Widerspruch  einschliesse,  ist  ebenso  falsch,  weil  das 
Identitätsgesetz  nur  für  zeitlose  Verhältnisse  oder  für  ein  Subjekt 
in  einem  und  demselben  Zeitpunkt  gilt  Richtig  ist  nur,  dass 
das  Zusammensein  mehrerer  Attribute  in  einer  Substanz  meta- 
logisch,  d.  h,  von  der  Logik  nicht  a  priori  gefordert  ist,  und 
dass  der  Übergang  eines  zeitlos  ewigen  in  einen  zeitüchen  Zu- 
stand (aus  Ruhe  in  Prozess)  antilogisch  ist  Aber  das  Meta- 
logische und  Antilogische  darf  vom  Sein  nicht  a  priori  aus  logi* 
sehen  Gesichtspunkten  ausgeschlossen  werden,  da  ja  das  Logischoi 
vielleicht  nur  eine  Seite  des  Seins  sein  könnte.  Es  darf  um  so 
weniger  vom  Sein  ausgeschlossen  werden,  wxnn  es  im  Schein 
vorhanden  ist  und  in  diesem  ohne  seine  Annahme  im  Sein  un- 
erklärlich bleibt  — 

Die  Kategorien  sind  nach  Herbart  nur  Formen  der  gemeinen 
Erfahrung,  Produkte  des  Vorstellungsmechanismus,  die  durch 
wiederholtes  Zusammen  treflfen  verwandter  aber  ungleicher 
Vorstellungen  und  durch  gegenseitige  Auslöschung  des  Un- 
gleichen und  Übrigbleiben  des  Gleichen  ins  Bewnisstsein  er- 
hoben werden.  Sie  geben  keine  metaphysische  Erkenntnis,  weil 
sie  noch  mit  allen  Widersprüchen  der  Erfahrung  behaftet  sind, 
und  die  Metaphysik  richtet  deshalb  strenge  über  sie.  Sie  zerfallen 
in  Kategorien  des  inneren  Gescliehens  oder  der  inneren  Apper- 
zeption und  in  dingliche  Kategorien  der  äusseren  Erfahrungu 
Die  Kategorien  des  inneren  Geschehens  sind  folgende: 


Herbart. 


319 


Empfinden 
Sehen 

Hören 
Fühlen 
Schmecken 
Riechen 


Wissen 

Erfahren 
Verstehen 
Denken 
Glauben 


Wollen 
Begehren 

Verabscheuen 

Hoffen 

Fürchten 


Handeln 
Sich  bewegen 
Etwas  machen 
Nehmen  u,  geben 

Suchen  u.  finden. 
Die    dinglichen     Kategorien    dagegen   entfalten    sich     nach    den 
vier  Hauptrubriken:  Ding,  Eigenschaft,  Verhältnis  und  Verneintes 
folgendermassen : 

»tag 

Gegebenes 

Gedachtes 

YorhaitTils 

Ort  und  Lage 

Bild  und  dessen  Gegenstand 

Ähnlichkeit  {bei  gegenseitigem 

Abbilden) 
Gleichheit 

Besitz  u.  dessen  Gegenstand 
Wirken  und  Leiden 
Reizbarkeit 
Selbstbestimmung 


Eigenseliaft 

Qualität 

Quantität 

Bestimmte  Quantität 

Einheit 

Allheit 

Das  Ganze  u.  die  Teile 

Unbestimmte  Quantität 

Vielheit  im  Ganzen 

Vielheit  ausser  dem  Ganzen 


Verneintes 
Gegensatz 

Veränderung 

Unmöglichkeit  (nebst  ihren  Gegenteilen). 

Einen  Fortschritt  der  Kategorienlehre  wird  man  in  diesen  Tafeln, 

die    das    Verschiedenartigste     willkürlich     durcheinandermengen, 


3»o 


Mm^mt 


schwerlich  finden  können.  Herbart  behandelt  sie  auch  gar  nicht 
in  der  Metaphysik,  sondern  in  der  Psychologie.  Zur  Metaphysik 
gelangt  man  erst  durch  eine  Bearbeitung  dieser  Begriffe  nach 
der  Methode  der  Beziehungen,  wonach  nichts  weiter  bestehen 
bleibt  als  einerseits  die  Vielheit  einfacher  seiender  Wesen»  anderer- 
seits die  Beziehungen  oder  Verhältnisse  derselben  untereinander.  — 

Herbart  rühmt  Kant,  w^eil  er  gezeigt  habe,  dass  der  Begriff 
des  Seins  gar  kein  Was  enthalte,  blosse  Position  sei»  und  ver- 
steht demgemäss  unter  Sein  absolute  Position  unter  Ausschluss 
aller  Negation  und  Relation.  Absolute  Position  bedeutet  hier 
ebensowenig  Setzung  durch  ein  absolutes»  wie  Setzung  durch  ein 
philosophierendes  Denken,  sondern  Selbstsetzung  oder  Aseltät; 
damit  ist  aber  der  Begriff  der  Position  wieder  aufgehobent  weil  d 
noch  nicht  Seiende  sich  nicht  setzen  kann,  und  das  schon  Seiend 
sich  nicht  mehr  zu  setzen  braucht,  und  das  Sein  bleibt  als  un- 
definierbarer Begriff  stehen.  Wenn  der  Begriff  des  Seins  gar  kein 
Was  enthält,  sondern  nur  ein  Dass,  so  ist  nicht  ersichtlich,  wo- 
her den  einfachen  Seienden  eine  Qualität  kommt,  die  doch  ein 
Was  wäre.  Die  Qualität  oder  das  Was  wäre  ja  sofort  ein  Zweites 
neben  der  Position  oder  dem  waslosen  Dass,  also  das  Reale 
wieder  nichts  Einfaches  mehr.  Es  ist  ebensowenig  verständlich, 
woher  die  Verschiedenheit  der  Qualität  in  den  verschiedenen 
Monaden  stammt,  und  wodurch  ihre  Zahl,  die  nicht  unendlich 
sein  soll,  bestimmt  ist  Es  ist  ferner  nicht  klar,  w^as  unter  einer 
einfachen  Qualität  zu  denken  sei,  da  wir  nur  Qualitäten  kennen, 
die  auf  vorbewussten  oder  bewussten  Synthesen  einer  Mannig- 
faltigkeit beruhen.  Es  ist  überhaupt  unbegreiflich,  was  im  Gebiete 
des  metaphysischen  Seins  die  Kategorie  der  Qualität  für  einen 
Sinn  haben  soll,  da  wir  nur  sinnliche  Empfindungs- Qualitäten 
oder  Zusammensetzungen  aus  solchen  und  verwickelte  geistige 
Qualitäten  kennen,  die  letzten  Endes  auf  sinnlichen  fussen.  Der 
philosophische  und  naturwissenschaftliche  Atomismus  ist  darum 
mit  Recht  von  jeher  bestrebt  gewesen,  die  Qualität  aus  seinen 
einfachen  Realen  auszuschliessen  und  nur  Unterschiede  der  Grösse 
und  Gestalt,  oder  der  Kraftintensität  und  des  Wirkungsgesetzes 
übrig  zu  lassen. 

Die  Beziehungen  der  Monaden  untereinander  erläutert  Her- 
bart durch  das  Bild  elastischer  Kugeln,  deren  jede  beim  Zu- 
sammentreffen teilweise  in  den  Raum  der  andern  eindringt  und 


in. 


m 


Herbart. 


321 


[.dadurch  die  elastische  Reaktion  derselben  hervorruft.  Mit  diesem 
Jude  ist  die  Teilbarkeit  der  metaphysischen  Punkte  angenommen; 
da  diese  aber  undenkbar  ist,  so  hat  auch  das  aus  dem  Bilde  Ab- 
feleitete  keine  Beweiskraft,  wie  Herbart  sie  ihm  zuschreibt,  und 
ie  Konstruktion  der  Anziehungs-  und  Abstossungskraft  aus  den 
Störungen  und  Selbsterhaltungen  der  Realen  muss  als  miss- 
glückt gelten. 

Auch  die  Statik  und  Mechanik  der  Vorstellungen  innerhalb 
derselben  Monade,  die  Herbart  mathematisch  entwickelt,  ist  w^ert- 
>s,  weil  sie  auf  der  willkürlichen  Voraussetzung  beruht,  dass  die 
Summe  der  gegenseitigen  Hemmung  bei  zwei  Vorstellungen 
jleich  der  Intensität  der  schwächeren,  bei  mehreren  gleich  der 
5urame  der  schwächeren  Vorstellungen  sei.  Auch  die  von  dem 
lerbartianer  Steinlhal  an  Stelle  der  Herbartschen  gesetzten 
Formeln  verdienen  nicht  mehr  Glauben.  In  der  Bekämpfung  der 
vielen  Seeleo  vermögen,  wie  sie  bis  zu  Kant  angenommen  wurden, 
stimmt  Herbart  mit  den  Pantheisten  überein,  in  seinem  Intellek- 
tualismus mit  Hegel.  Wie  Hegel  das  Streben,  die  Begierde,  den 
Tillen  aus  der  Dialektik  des  Begriffs  ableiten  will,  so  Herbart 
^aus  der  Mechanik  der  Vorstellungen.  Er  legt  zu  dem  Zweck 
in  die  Vorstellung  das  Streben  oder  die  Intensität  hinein,  das  ihr  als 
reiner  Vorstellung  gar  nicht  zukommt ,  und  hat  es  dann  freilich 
nicht  schwer,  dieses  vorher  hineingelegte  Streben  oder  die  Intensität 
nachträglich  aus  dem  Spiel  der  Vorstellungen  wieder  herauszu- 
holen. Zu  den  Ungeheuerlichkeiten  der  Herbartschen  Psycho- 
logie gehört,  dass  er  die  Seele  nicht  nur  als  metaphysischen 
Punkt  im  intelligiblen  Räume  denkt,  sondern  ihr  auch  einen 
mathematischen  Punkt  im  phänomenalen  Räume  als  Sitz  anweist, 
Dass  dieser  Punkt  von  ihm  an  irgend  einer  Stelle  des  Gehirns 
gesucht  wurde,  ist  dann  nicht  weiter  verwunderlich,  desto  mehr 
aber,  dass  noch  Lotze  sich  mit  der  umständlichen  Erörterung 
einer  solchen  Verirrung  aufhalten  konnte. 

Betrachtet  man  den  Herbartschen  Pluralismus  von  der  einen 
rite,  nämlich  unter  dem  Gesichtspunkte,  dass  alle  Veränderung 
blosser  Schein,  zufällige  Ansicht,  und  das  Sein  wandellos  ist,  so 
erscheint  er  als  ein  Illusionismus,  der  vor  demjenigen  des  abstrak- 
ten Monismus  nichts  voraus  hat.  Denn  wenn  doch  alles  Ge- 
schehen und  der  ganze  Weltprozess  bloss  ein  subjektiver  Schein 
ist^  in  welchen  das  Sein  nicht  eingeht,  so  ist  es  auch  gleichgültig, 

£,  V,  Hartm&sD,  Auagiew,  Werko*     Bd.  XII.  21 


322 


^albaat. 


ob  das  hinter  ihm  stehende  tote  und  starre  Sein  eines  oder  vieles 
ist.  Betrachtet  man  ihn  dagegen  von  der  anderen  Seite,  nämlich 
unter  dem  Gesichtspunkte,  dass  der  Weltprozess  ein  beständig 
wechselndes  System  teleologisch  bestimmter  realer  Beziehungen 
zwischen  den  Monaden,  intelligible  Bewegung  im  inteUigiblen 
Räume  ist,  dann  stellt  er  sich  als  transcen dentaler  Realismus  dan 
Thatsächlich  hat  Herbart  den  Übergang  vom  transcendentalen 
Idealismus  zum  transcendentalen  Realismus  versucht,  ist  aber  auf 
allen  Punkten  auf  halbem  Wege  stehen  geblieben,  und  hat  sidi 
zwischen  zwei  Stühle  gesetzt. 

Wenn  das  Sein  der  Monade  unwandelbar  ist,  so  kann  es  g^^^j 
nicht  gestört  werden,  und  hat  nicht  nötig,  sich  selbst  zu  erhalteqi^H 
oder  gar  reaktive  Anstrengungen  zu  seiner  Selbsterhaltung  zu 
machen.  Wenn  transeunte  Kausalität  durch  den  ihr  anhaftenden 
Widerspruch  der  Veränderung  vom  Sein  ausgeschlossen  ist,  dann 
ist  keine  Monade,  ja  nicht  einmal  die  Summe  aller  imstande, 
eine  einzelne  Monade  zu  stören  oder  irgend  sonst  wie  zu  beein- 
flussen und  sie  dadurch  zu  Reaktionen  zu  veranlassen.  Wenn 
die  Monade  schlechthin  einfach  ist,  so  kann  sie  sich  weder  selbei^H 
in  die  Zweiheit  eines  beharrenden  Seins  und  einer  veränderlichen^^ 
Thätigkeit  spalten,  noch  von  anderen  in  eine  solche  Zweiheit  ge- 
spalten werden.  Nur  wenn  die  Monade  von  vornherein  nicht 
einfach  ist,  sondern  mit  einem  einfachen  konstanten  Seinskern 
eine  Schale  mannigfaltiger  und  wechselnder  Thätigkeit  verbindet, 
bleibt  die  Möglichkeit  offen,  dass  verschiedene  Monaden  mit  ihren 
Thätigkeiten  kollidieren  und  einander  beeinflussen.  Dann  muss 
aber  in  jede  Monade  von  vornherein  die  Inhärenz  des  Vielen  im 
Einen  und  die  Veränderhchkeit  der  Accidentien  verlegt  werden, 
zu  deren  Ausschluss  gerade  die  Herbartsche  Metaphysik  er^^M 
dacht  ist.  —  ^H 

Fasst  man  Herbarts  System  als  einen  Pluralismus  des  starren 
Seins  mit  bloss  subjektivem  Schein  von  Veränderung  und  Wechsel- 
beziehung auf,  dann  ist  auch  der  Pluralismus  sein  letztes  Wort, 
d.  h,  dann  muss  ein  Gott  schlechthin  geleugnet  werden,  da  für 
einen  solchen  gar  nichts  zu  thun  übrig  bleibt»  und  jeder  Versuch, 
ihm  eine  Leistung  zuzuschreiben,  den  Begriff  des  Seins  in  den 
Widerspruch  der  Veränderung  und  des  vieleinigen  Wesens  zurück- 
würfe. Fasst  man  es  dagegen  im  Sinne  des  transcendentalen 
Realismus  als  reales   Beziehungssystem  der   Monaden  auf,   dann 


Herbart. 


3^3 


bleibt  allerdings  ein  gewisser  Platz  für  eine  Gottheit  übrig»  näm- 
lich die  Stelle  des  weisen  Weltbaumeisters,  der  die  teleologische 
Einrichtung  dieses  realen  Beziehungssystems  angeordnet  hat.  Ist 
erst  einmal  das  Dasein  eines  Gottes  durch  den  teleologischen 
Beweis  wahrscheinlich  gemacht,  dann  hat  der  moralisch-praktische 
Beweis  freien  Spielraum  zur  Entfaltung,  um  diesen  Gott  mit  allen 
den  weiteren  Eigenschaften  auszustatten,  die  das  sittliche  und 
reUgiöse  Bewusstsein  verlangt. 

Allerdings  hat  Herbart  die  Religionsphilosophie  nicht  selbst 

^bearbeitet,  weil  sie  nur  eine  wahrschein Uche  Erkenntnis  zulässt, 
ind  er  für  die  wissenschaftliche  Philosophie  noch  eine  völlig 
gewisse  Erkenntnis  forderte.  Wenn  er  sich  aber  klar  ge- 
lacht hätte,  dass  sein  Rückschluss  vom  Schein  auf  das  Sein 
and  seine  nähere  Bestimmung  des  so  erschlossenen  Seins 
durch    rein   logische    Reflexionen    doch    auch    nur    eine    mittel- 

tbare  Erkenntnis  von  blosser  Wahrscheinlichkeit  liefern  konnte, 
iann  wäre  diese  Unterscheidung  für  ihn  hinfäliig  geworden. 
)ie  Rückschlüsse,  die  auf  Gott  fuliren,  sind  nur  noch  um  eine 
itufe  mittelbarer,  als  die  zu  den  vielen  Dingen  an  sich  führen. 
J'edenfalls  konnte  aber  Herbart  seinem  Gott  keine  Absolutheit 
zuschreiben,  da  derselbe  die  Monaden  nicht  schafft^  oder  setzt,  son- 
dern vorfindet,  und  selbst  nur  Eine  Monade  neben  und  über  den 
anderen  ist,  also  durch  sie  begrenzt  ist  Um  so  wichtiger  war  es 
für  ihn,  die  Selbstbewusstheit  und  Persönlichkeit  Gottes  zu 
behaupten,  um  dem  sittlichen  und  religiösen  Bewusstsein  einen 
Ersatz  für  die  mangelnde  Absolutheit  und  Immanenz  zu  bieten. 
Das  Selbstbevvusstsein  durfte  auch  schon  darum  Gott  nicht  fehlen, 
damit  der  Weltprozess  sich  als  »zufällige  Ansicht«  oder  sub- 
jektiver Schein  in  seinem  Bewusstsein  darstellen  konnte,  ebenso 
wie  in  den    anderen  Monaden.     Wenn    dann   angenommen    wvird, 

|dass  erst  durch  die  göttliche  Einrichtung  des  kosmischen  Be- 
ziehungssystems die  Beziehungen  zwischen  den  Monaden  und  da- 
mit der  Schein  in  den  Monaden  beginnt,  so  hebt  Gott  durch  diese 
That  allerdings  die  Monaden  aus  einem  bewusstlosen,  verände- 
rungslosen Zustande  in  einen  bewussten.  lebendigen  empor,  oder 
da  das  Sein  im  ersteren  gleich  Nichts  ist,  so  rückt  damit  die  Leis- 
tung Gottes  dem  theistischen  Schöpfungsbegriff  nahe,  wenn  auch 
die  Absolutheit  Gottes  für  immer  abgelehnt  werden  muss. 

Wie  Michelet  die  Konsequenzen   der  Hegeischen   Religions- 


iH 


Herbart. 


Philosophie  gezogen  und  im  Zusammenhange  offen  dargelegt  hat, 
so  Drobisch  (geb.  1802)  die  der  Herbartschen.  Alle  Herbartianer 
sind  ebenso  wie  ihre  Meister  gläubige  Theisten,  und  es  sind  alle 
Schattierungen  vom  Liberalismus  bis  zur  Orthodoxie  unter  ihnen 
vertreten.  Daraus  lässt  sich  schon  entnehmen,  dass  es  ihnen  mit 
den  vorangestellten  Grundsätzen  der  Herbartschen  Metaphysik, 
dem  Ausschluss  der  Vieleinigkeit  und  Umänderung  vom  Sein, 
nicht  ernst  ist.  Aus  der  konsequenten  Durchführung  der  von  Her- 
bart vorangestellten  Grundgedanken  hätte  eigentlich  nur  ein 
schlechthin  atheistischer  Pluralismus  entwickelt  werden  können. 
Es  ist  charakteristisch,  dass  Herbart,  weil  er  sich  im  Widerspruch 
mit  seinen  Principien  zum  Theismus  bekannte,  ausschliesslich  theis- 
tische  Jünger,  Schopenhauer  aber,  der  sich  im  Widerspruch  mit  seinen 
Principien  zum  Atheismus  bekannte,  lauter  atheistische  Jünger 
gehabt  hat  Man  sieht  daraus,  wie  leicht  das  persönliche  Bekennt- 
nis in  der  Meinung  der  Anhänger  das  Übergewicht  über  die 
eigentlichen  Konsequenzen  der  für  gewiss  ausgegebenen  philo- 
sophischen Principien  gewinnt  — 

Dass  die  Herbartsche  Philosophie  noch  immer  Anhänge] 
zählt,  verdankt  sie  wesentlich  dem  Umstände,  dass  Herbart 
einer  der  wenigen  namhaften  Philosophen  gewesen  ist,  die 
sich  mit  Vorhebe  mit  Pädagogik  beschäftigt  haben,  und  dass 
die  Lehrerkreise,  die  in  Herbart  den  Pädagogen  verehren,  eben- 
so geneigt  sind,  ihn  als  Philosophen  zu  feiern,  wie  sie  meist 
ausser  stände  sind,  seine  Philosophie  zu  beurteilen.  Mit 
seiner  Pädagogik  haben  wir  es  hier  ebensowenig  zu  thun,  wie 
mit  seiner  Ethik  und  Ästhetik.  Seine  Metaphysik  aber  ist 
durch  Trendelenburg  und  Lotze  genügend  widerlegt  und  bietet 
nichts  Haltbares,  was  nicht  ebensogut  und  besser  aus  Leibniz  und 
den  Leibnizianern  zu  entnehmen  wäre.  In  der  Erkenntnistlieorie 
hat  Herbart  einen  nicht  zu  unterschätzenden  Anstoss  zur  Über- 
windung des  transcendentalen  Ideahsmus  gegeben,  in  der  Metho- 
dologie zur  Überwindung  des  apriorischen  Konstruierens,  in  der 
Psychologie  zur  Überwindung  der  Lehre  von  den  vielen  Seelen- 
vermögen. Aber  was  er  selbst  in  diesen  Zweigen  dargeboten  hat, 
erscheint  teils  als  unzulänglich,  teils  als  verfehlt  und  unhaltbar.*)  — 

*)  Vgl.  »Ges.  Studien  und  Aufsäue«,  S.  562 — 565^  »Das  sittliche  Bcwussuseuic» 
2.  Auß.,  S*  100—108,  12! — 122»  140—141,429,  617;  »Die  deutscbe  Ästhetik  seil  Kanu, 
S.  267—269.  548—549- 


-j 

-t^ 


Bcnekc* 


325 


Beneke  {i7q8 — 1854)  verbindet  einen  spiritiialistischen  Sen- 
sualismus mit  der  Leibnizschen  Monadenlehre  und  mit  einem  *kriti- 
schen  Theismuss  der  wesentlich!  durch  Jacobi  beeinflusst  ist  Er  be- 
kennt sich  zu  einem  entschiedenen  Empirismus  und  zu  einer  induktiven 

Methode»  indem  er  den  mathematischen  und  logischen  Deduktio- 
nen nur  eine  abstrakte  formale  Geltung  zuerkennt  und  für  jede 
Behauptung  einer  Existenz  die  Anknüpfung  an  etwas  in  der  Er- 
fahrung Gegebenes  verlangt.  (System  der  Metaphysik  und  Re- 
ligionsphilosophie, 1840,  S.  134 — 136.)  Sonderbarerweise  hält  er 
aber  dabei  an  dem  dogmatischen  Vorurteil  der  Metaphysiker 
fest,  dass  auf  diesem  empiristisch  induktiven  Wege  strenge  Er- 
lkenntnis von  allgemein  geltender  und  bleibender  Ausbildung  und 

(eine  blosse  Wahrscheinlichkeit  zu  erreichen  sei,  dass  dagegen 
in  BetreflF  des  Übersinnlichen  keine  strenge  Erkenntnis,  sondern  ein 
blosser  Glaube,  d,  h.  Wahrscheinlichkeit  von  verschiedenem  Grade 
zu  erlangen  sei  (ebd.  S.  22^  362.  378,  381)*  Als  Grund  giebt  er 
den  Übergang  vom  Endlichen  und  Beschränkten  zu  einem  wahr- 
haft vollendeten  Unendlichen  an  (373),  ohne  zu  bemerken»  dass 
dieser  Übergang  zu  etwas  in  sich  Widerspruchsvollem  bereits  eine 
unsinnig  gestellte  Aufgabe  ist,  die  dadurch  noch  unmöglicher 
wird,  dass  er  das  Übersinnliche  zugleich  als  Übergeistiges  bestimmt 
(361).  So  scheiden  sich  ihm  zwei  Gebiete  des  Erkennens  von 
einander  ab,  weil  er  verkennt,  dass  alle  empiristische  und  in- 
duktive Erkenntnis  nicht  mehr  als  Wahrscheinlichkeit  verschiedenen 
Grades  zu  bieten  vermag,  dass  aber  eben  dieser  Induktion  auch 
alle  Sphären  des  Seins  und  Wesens  in  gleicher  Weise  erreichbar 
sind  bis  auf  die  in  sich  widerspruchsvollen  Fiktionen  eines  voll- 
endet-Unendlichen und  Über  geistigen.  — 

Der  Ausgangspunkt  des  ganzen  Benekeschen  Philosophierens 
ist  das  Cartesianische  Cogito  ergo  sum,  welches  er  für  die  regelnde 
Grundidee  der  neueren  Philosophie  hält,  die  im  Laufe  der  Zeit 
immer  bestimmter  durchgebildet  worden  ist  {122  Anm.),  Wir 
stellen  uns  vor,  wie  wir  an  uns  selber  sind,  nicht  bloss  wie  wir 
is  erscheinen;  das  ist  Benekes  unerschütterhches  Dogma  (S.  X» 
75,  122).  In  uns  haben  wir  Sein  und  Vorstellen  zugleich;  im 
Selbstbewusstsein  fallen  beide  in  einem  Akte  zusammen  (69,  73), 
Ohne  ein  irgendwo  gegebenes  Sein  w^ürden  wir  aus  unseren  Vor- 
stellungen gar  nicht  herauskommen,  ja  sogar  nicht  einmal  von 
solchen  reden   können,  da  sie  nur  im  Gegensatz  zu  einem  Sein 


326 


Beneke. 


Vorstellyngen  heissen  können;  wir  würden  ganz  -in  subjektiven 
Zuständen  und  Modifikationen  stecken  bleiben  (14,  65).  Kants 
Nachweis  für  die  Behauptung,  dass  wir  uns  nur  als  Erscheinung 
kennen,  findet  er  irrtümlicherweise  lediglich  darin,  dass  der  >innere 
Sinn*  dem  Ich  an  sich  die  apriorische  Zeitform  und  der  Verstand 
die  apriorischen  Denkformen  der  Einheit  und  Substantialität  über- 
stülpe und  es  dadurch  in  eine  Erscheinung  verwandle.  In  dieser 
Fassung  wird  die  Argumentation  allerdings  hinfällig,  wenn  Kants 
»innerer  Sinnt  eine  blosse  Einbildung  ist  und  die  Formen  der 
Zeitlichkeit,  Einheit  und  Substantialität  nicht  a  priori  aus  dem^H 
Vorstellenden,  sondern  a  posteriori  aus  dem  Vorgestellten  entsprin-^^ 
gen,  wie  Beneke  annimmt  (71 — 73,  411). 

Diese  Selbstwahrnehmung  des  Ich  erhält  nun  sogleich  eine 
Anwendung  im  Sinne  der  Leibnizschen  Monadenlehre.  Wir  ver- 
stehen von  allem,  was  ausser  uns  selber  ist,  nichts,  als  was  wir 
durch  Analogie  mit  uns  selbst  erschliessen ,  wohinein  wir  uns 
innerlich  versetzen  können»  wozu  wir  selber  (in  der  Phantasie) 
werden  können,  so  dass  wir  wissen,  wie  ihm  zu  Mute  ist  {10 1  — 102, 
123 — 125).  Wir  steigen  von  unseres  Gleichen  einerseits  zu  den 
höheren  und  niederen  Tieren,  ;?u  den  Pflanzen  und  unorganischeai 
Dingen  hinab,  andererseits  zu  den  geglaubten  höheren  Geiste: 
empor  (102—105),  indem  wir  die  von  Kind  auf  gewöhnte  Ass* 
ciation  der  äusseren  Wahrnehmung  des  eigenen  Leibes  mit  der  inne- 
ren Selbstwahrnchmung  auch  auf  die  äusseren  Wahrnehmungen 
anderer  Leiber  übertragen  und  ihnen  nach  Analogie  ein  seelisch 
Innere  beilegen  {79^85),  Nur  das  Seelensein  ist  substantielles 
Sein  oder  wahres  Ansichsein  (205);  die  äusseren  materiellen  Wahr- 
nehmungen sind  nur  Erscheinungen  oder  Reflexe  im  Subjekt,  und 
was  ilmen  als  wahres  Ansichsein  entspricht,  ist  nur  das  innere 
Seelensein  derselben  (120,  146).  So  ist  auch  der  eigene  Leib  in 
seinem  Ansichsein  ein  unbekanntes  X,  eine  Seele  niederer  Art 
(194 — 196);  die  phänomenale  äussere  Stofflichkeit  und  das  innere 
ansichliche  Seelensein  sind  nur  zwei  verschiedene  Auffassungen 
eines  und  desselben  (199).  Die  Naturwissenschaften,  die  bei  der 
ersteren  Auffassung  stehen  bleiben,  bringen  es  darum  zu  keinem 
rechten  Begreifen  und  Verstehen  (177);  denn  sie  kennen  gar  nicht 
die  wahren,  wirklichen»  ansichseienden  Eigenschaften  der  Dinge, 
und  darum  auch  nicht  ihre  Gesamtheit,  ihre  Substanz,  sondern  bloss 
ihren   Reflex    für  das  subjektive  Vorstellen  (174).     Nur   die  Psy- 


Beneke. 


327 


chologie  ^ebt  wahre,  ansichliche  Erkenntnis,  und  ihr  allein  miiss 
deshalb  auch  die  Metaphysik  untergeordnet  werden  (23),  Beneke 
ist  also  reiner  Spiritualist  und  steht  dem  Materialismus  so  fern 
wie  möglich. 

Während  somit  Beneke  in  Bezug  auf  die  scheinbar  stoflFlichen 
Wahrnehmungen  ebenso  wie  in  Bezug  auf  das  übersinnliche  Ab- 
.  solute  mit  dem  naiven  Realismus  gebrochen  und  eine  bloss  mittel- 
bare, erschlossene,  unvollkommene  Erkenntnis  eingeräumt  hat, 
ist  er  in  Bezug  auf  die  eigne  Seele  im  naiven  Realismus,  d,  h. 
im  Glauben  an  eine  unmittelbare  Erkenntnis  des  hier  mit  dem 
Subjekt  zusammenfallenden  Objektes  stecken  geblieben.  Während 
die  nächste  Aufgabe  der  neueren  Philosophie  darin  bestand,  den 
naiven  Realismus  auf  allen  diesen  drei  Gebieten  gleiclimässig  zu 
überwinden,  insbesondere  aber  ihn  aus  seiner  letzten,  am 
Ischwersten  einnehmbaren  Stellung,  dem  Glauben  an  die  unmittel- 
bare Selbsterfassung  der  Seele  zu  vertreiben,  hält  Beneke  grade 
die  Versteifung  auf  den  naiven  Realismus  in  diesem  einen  Punkte 
für  die  Hauptleistung  der  neueren  Philosophie,  Auf  die  Irr- 
tümlichkeit dieser  Ansicht  im  allgemeinen  kann  hier  nicht  näher 
eingegangen  werden,*)  sondern  nur  gezeigt  werden,  wie  wenig 
ieneke  selbst  imstande  ist,  diese  Behauptung  aufrecht  zu  er- 
halten und  wie  sie  ihm  unter  den  Fingern  zerrinnt  — 

Was  ist  jenes  'Ich«,  das  uns  vollkommener  bekannt  sein  soll, 
als  irgend  ein  anderes  Sein?  {189).  Die  Vorstellung  des  Ich  ist 
nicht  ursprünglich  gegeben  oder  angeboren,  sondern  muss  erst 
gebildet  werden  durch  eine  lange  Reihe  von  Entwickelungen 
und  die  von  diesen  zurückbleibenden  Spuren  (420)»  Das  Ich  deckt 
sich  nicht  mit  unserm  individuellen  Sein,  sondern  wird  begründet 
durch  eine  bestimmte  Form  und  Verbindung  an  diesem  Sein, 
ohne  deren  Erhaltung  selbst  die  individuelle  Fortdauer  dieses 
Seins  für  uns  kein  Interesse  hätte  (397).  Schon  bei  der  Rück- 
gängigmachung der  Entwickelung,  aus  der  es  herv^orgegangen 
ist,  ginge  das  Ich  verloren,  auch  wenn  die  IndividuaÜtät  dabei 
bestehen  bliebe.  Das  Ich  ist  aus  Spuren  zusammengewachsen 
(189,  210),  in  jedem  Augenblick  verändert  (igo),  konstant  nur  als 


*)  In  erscböpfeoder  Weise   ist  diese  Frage   behandelt  worden  von  A.  Drews  in 
seinem    Werket     iDiks    Ich    als    Grnndprobleiu     der    MeUphysik«    (Freiburg    i.  B?., 
obr,  1897). 


328 


Beneke. 


Beziehung  der  einheitlichen  Zusammengehörigkeit  aller  es  zu- 
sammensetzenden Bestandteile  (191).  Das  Ich  soll  doch  das  unmittel- 
bar Wahrnehmbare  des  inneren  Seelenseins  sein;  wahrnehmbar 
ist  aber  vom  Psychischen  nur  das  Bewusste»  die  Entwickelung  der 
bewTJSsten  seelischen  Akte  (203),  nicht  das  unbewusste  innere 
Seelensein  selbst,  welches  allein  Substanz  genannt  werden  kann, 
und  welchem  die  bewussten  Akte  nur  als  Accidentien  angehören 
{206}.  Die  bewusste  Entwickelung  des  Seelenlebens  und  mit  ihr 
das  Ich  kann  in  Verfall  übergehen,  ohne  dass  die  unbewussten 
seelischen  Spuren  und  Anlagen  darunter  zu  leiden  brauchen 
(447 — 448).  Aus  alledem  sollte  man  doch  schliessen,  dass  das  Ich 
nur  eine  Erscheinung  des  unbewussten  Seelenselns  sei.  Da  wir 
nun  bloss  die  Summe  der  bewussten  Seelenthätigkeiten  unmittel- 
bar wahrnehmen  können ,  das  innere  Seelensein  aber  nur  mittel- 
bar, durch  Schlüsse  oder  Konstruktionen,  in  den  Bereich  unserer 
Erkenntnis  ziehen  können  (173),  so  sollte  man  meinen,  dass  damit 
die  unmittelbare  Wahrnehmbarkeit  des  inneren  Seelenseins  bereits 
durch  Beneke  selbst  widerlegt  sei. 

Beneke  erkennt  wohl  die  Schwierigkeit,  glaubt  ihr  aber  ent- 
gehen zu  können.  Zunächst  behauptet  er,  dass  die  unmittelbare 
Erkenntnis  der  Accidentien  zwar  keine  unmittelbare  Erkenntnis 
der  ganzen  Seelensubstanz,  aber  doch  eines  Teiles  derselben  ein- 
schliesse,  so  dass  nur  die  Vervollständigung  der  Erkenntnis  durch 
mittelbare  Schlüsse  zu  bewirken  sei.  Nach  seinem  Substanz- 
begriff sind  nämlich  auch  die  seelischen  Accidentien  Teile  des 
Seelendinges  und  in  ihrer  Gesamtheit  dieses  Ding  selbst,  oder 
beide  decken  einander  (171);  die  bewussten  Accidentien  sind  also 
die  bewussten  Teile  der  Seelensubstanz  (173).  Alsdann  glaubt 
er  den  Übergang  von  den  unmittelbar  walirgenommenen  be\mssten 
Akten  zu  den  unbewussten  Accidentien  in  dreifacher  Weise 
machen  zu  können.  Erstens  sind  die  bewussten  Akte  aus  unbe- 
w^ussten  inneren  Anlagen  entsprungen,  so  dass  diese  in  sie  ein- 
gehen, sich  in  ihnen  erhalten,  und  mit  ihnen  zugleich  als  in  sie 
eingehüllte  wahrgenommen  werden  (412).  Zweitens  erhalten  wir 
die  unbewussten  Accidentien  rein  als  solche,  wenn  wir  die  steigen- 
den Elemente  abziehen,  welche  sie  zu  bewussten  erhoben  haben, 
d.  h.  wenn  wir  in  Gedanken  in  Abzug  bringen,  was  der  Aus- 
bildung zum  Bewusstsein  angehört  (412 — 413,  181).  Drittens 
können  wir  dasjenige  von    den   bewussten  Akten    abziehen,   was 


Beneke, 


329 


von  ihnen  entschwindet,  wenn  sie  aus  bewussten  Akten  zu  un- 
bewussten  Spuren  werden  (182). 

Die  Substanz  aus  der  Summe  der  Accidentien  zusammen- 
setzen und  jedes  zu  dieser  hinzukommende  synthetische  Band 
leugnen,  heisst  den  Substanzbegriff  selbst  leugnen  und  ihn  in 
Eigenschaften  und  Thätigkeiten  auflösen.  Die  unbewusste  Seelen- 
thätigkeit  erkennen  wollen,  indem  man  das  Merkmal  der  Bewusst- 
heit  von  den  wahrgenommenen  bewussten  Akten  abzieht»  heisst, 
den  so  allerdings  zu  gewinnenden  Begriff  der  unbewussten 
Seelenthätigkeit  mit  dieser  unbewussten  Thätigkeit  selbst  ver- 
wechseln. Was  hiernach  noch  übrig  bleibt,  sind  hypothetische 
Schlüsse  von  bekannten  Wirkungen  (bewussten  Akten)  auf  die 
unbekannten  Ursachen  (unbewusste  Anlagen),  oder  von  be- 
kannten Ursachen  (bewussten  Akten)  auf  ihre  unbekannten  Wir- 
kungen (hinterlassene  Gedächtnisspuren).  In  allen  Fällen  handelt 
es  sich  nicht  mehr  um  unmittelbare  Wahrnehmungserkenntnis, 
sondern  um  mittelbar  erschlossene  Erkenntnis;  d.  h.  das  innere 
Seelensein  ist  bei  Beneke  thatsächlich  ebensosehr  ein  bloss  mittel- 
bar erschlossenes,  wie  das  Ansich  der  stofflichen  Erscheinungen 
oder  das  Absolute,  Er  widerlegt  damit  thatsächUch  sein  naiv 
realistisches  Dogma  von  der  unmittelbaren  Selbsterfassung  der 
Seele  in  ihrem  Ansichsein.  j^  Wir  können  die«  (unbewussten)  »Acci- 
dentien des  inneren  Seelenseins  ebenso  wenig  unmittelbar  auf- 
fassen, wie  das  innere  Seelensein  selbst*  (173).  Wenn  wir  Vor- 
stellen, Fühlen  und  Streben  wohl  als  Hauptfunktionen  in  der  aus- 
gebildeten Seele,  aber  auch  sie  nicht  einmal  als  ursprüngliche, 
angeborene  Elementarfunktionen  betrachten  dürfen,  sondern  sie 
auf  tiefer  liegende,  mehr  elementarische  und  ursprünglichere  Grund- 
funktionen zurückführen  müssen  (356),  so  rückt  die  Erkenntnis 
des  wahren  Ansich  der  Seele  der  unmittelbaren  Selbsterfassung 
immer  ferner.  Dieses  unbewusste  innere  Seelensein  ist  ferner 
nach  Beneke  etwas  ganz  anderes,  als  man  sich  gewöhnlich  darunter 
vorstellt,  was  auch  gegen  die  unmittelbare  Selbstwahrnehmung 
spricht.  Denn  es  könnte  doch  über  etwas  unmittelbar  Wahr- 
nehmbares nicht  so  verschiedene  Ansichten  und  so  viel  Streit 
geben. 

Nur  das  Seelensein  soll  Substanz  sein,  dieses  soll  aber  auch 
durch  seine  Substantialität  sich  von  dem  bloss  phänomenalen 
stofflichen  Sein  unterscheiden.    Gleichwohl  ist  nichts  in  der  Seele, 


330 


Beneke. 


was  mit  voller  Gewissheit  als  absolut  beharrend  zu  behaupten 
wäre-  Denn  die  Seele  ist  zwar  immateriell  und  einheitlich  (414); 
aber  sie  ist  nicht  einfach,  sondern  aus  Hunderttausenden  von 
Spuren  oder  Anlagen  oder  Urvermög-en  zusammengesetzt  (415 
bis  416).  Sie  ist  also  ein  geistig  zusammengesetztes  Wesen  (441), 
das  als  geworden  auch  nicht  schlechthin  unteilbar  ist  (419).  Sie 
wird  immer  stärker,  je  zahlreicher  die  Spuren  sich  ansammeln 
(453).  Ihre  Wiederauflösung  nach  dem  Tode  kann  unterbleiben, 
kann  aber  auch  eintreten  {441),  obschon  sie  aus  moralischen 
Gründen  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich  ist  (465,  458).  Alle 
bisher  sogenannten  Seelen  vermögen,  wie  Verstand,  Urteilskraft, 
Vernunft  u.  s.  w.»  sind  nur  hypostasierte  KlassenbegriflFe  sehr  ver- 
wickelter Erscheinungen  und  Ergebnisse  aus  langen  Entwicke- 
lungsreihen.  Es  giebt  vielmehr  soviel  Urv^ermögen,  als  es  spezi- 
fische Reize  giebt,  also  viele  Hunderttausende.  Sie  entstehen 
aus  den  in  die  Seele  eintretenden  sinnlichen  Reizen;  denn  diese 
sind  ebenso  wie  die  Urvermögen  selbst  Kräfte,  d.  h.  Substanzen, 
brauchen  also  nur  eine  Umbildung  einzugehen,  um  aus  substan- 
tiellen Reizen  zu  substantiellen  Urvermögen  zu  werden.  Die 
gleichartigen  Gebilde  ziehen  sich  dabei  gegenseitig  an,  übertragen 
ihre  Kräfte  auf  einander,  gleichen  sie  aus  und  verschmelzen  sie 
mit  einander  zu  Systemen,  z.  B.  den  Vermögen  der  fünf  einzelnen 
Sinne,  Einbildungskraft,  Verstand,  Vernunft  u.  s.  w.  (319,  156 — 157, 
282 — 2S3,  2g),  Aus  dieser  Verschmelzung  entspringt  endlich  auch 
die  bewusste  Einheitsbeziehung  aller  Akte,  die  der  Zusammen* 
gehörigkeit  aller  Urvermögen  in  derselben  Seele  entspricht,  d,  L 
das  Ich. 

Diese  rein  sensualistische  Konstruktion  der  Seele  aus  den 
zufliessenden  substantiellen  Reizen,  die  in  Urvermögen  umge- 
bildet werden,  verträgt  sich  nun  offenbar  weder  mit  Leibniz* 
Monadologie,  noch  mit  Descairtes'  Cogito  ergo  sum.  Sie  ist  eine 
rein  hypothetische  Vermutung,  die  das  induktive  Denken  ergrübelt 
hat.  die  aber  niemals  durch  Selbstbeobachtung  bestätigt  werden 
kann.  Die  Selhstwahrnehmung  weiss  schon  nichts  von  Spuren 
und  Urvermögen.  nichts  von  Entstehung  des  Vorstellens,  Fühlens 
und  Strebens  aus  ursprünglicheren  Thätigkeiten,  geschweige  denn 
von  der  Entstehung  und  Verschmelzung  der  Urvermögen.  Das 
wahre  Ansich  des  Seelenseins  wird  durch  Benekes  Psychologie 
in  unbewusste  Tiefen  entrückt,  in  die  keine  Selbstwahrnehmung 


Beneke. 


je  vor/udrinp^en  vermag:.  Was  wir  wahrnehmen,  ist  nur  der  die 
Bewusstseinsschwelle  überrag-ende  Teil  der  Wiederbethäligung 
jener  verwickelten  Spiirensysteme.  Ist  diese  Psychologie  Benekes 
richtig,  so  ist  der/ Ausgangspunkt  seiner  Metaphysik,  die  Selbst- 
wahrnehmung der  Seele  in  ihrem  Ansich,  falsch,  und  umgekehrt.— 

Das  Eigentümliche  an  Benekes  Sensualismus  ist  dass  er  den- 
selben als  immaterialistischen  Spiritualismus  durchführen  lu  können 
glaubt.  Gedächtnis,  Gewohnheit,  eigentümliche  Angewohnheiten, 
besondere  Bewegungen  oder  Gesichts  Verzerrungen.  Neigungen, 
Leidenschaften,  Laster,  intellektuelle  Befähigung  u.  s.  w.  führt  er 
richtig  auf  > Spuren«  zurück  (io8,  196)»  Aber  diese  Spuren  sind 
nicht  irgendwo»  nicht  an  ein  leibliches  Organ  geknüpft,  sondern 
ebenso  rein  psychisch  wie  die  Akte,  aus  deren  Unbewusstwerden 
sie  entstehen.  Selbst  in  der  absteigenden  Organisationsreihe  bis 
zu  den  unorganischen  Dingen  hinab  sucht  Beneke  das  abnehmende 
Mass  von  Aufbewahrungsfähigkeit  des  Erlebten  immer  nur  in  der 
psychischen  Innerlichkeit  nach  Analogie  des  Menschen,  weil  nur 
dort  das  Ansichsein  oder  substantielle  Sein  zu  finden  sein  soll 
(log).  Sogar  die  leiblichen  Spuren,  wie  sie  in  den  Fertigkeiten 
u.  dgL  auftreten,  kann  er  nur  als  psychische  Spuren  niederer  Art 
deuten,  wie  er  ja  auch  den  Leib  als  eine  Seele  niederer  Art  be- 
handelt; denn  sie  gehen  dieselben  Associationsverhältnisse  ein, 
wie  die  psychischen  Spuren,  sowohl  mit  diesen,  als  unter  sich  (197). 
Weit  entfernt  also,  die  psychischen  Anlagen  auf  materielle  Spuren 
im  Organismus  zurückzuführen,  vermag  er  sogar  die  materiellen 
Dispositionen  des  Leibes  nur  aus  der  Analogie  psychischer  Rück- 
stände zu  erklären.  Man  erkennt  daraus,  einerseits,  dass  Beneke 
schrieb,  als  die  materialistische  Strömung  noch  ausser  Gesichts- 
bereich war,  andererseits  aber  auch,  wie  unentbehrlich  der  Durch- 
gang durch  diese  materialistische  Strömung  für  die  Metaphysik 
war,  um  die  Nebelhaftigkeit  ihrer  Begriffe  zu  festen  Gebilden  zu 
verdichten.    - 

Die  Kategorien  sind  nur  durch  sorgsam  umblickende  Induk- 
tion zu  ermitteln  (351).  Beneke  tadelt  Kant,  dass  er  sie  durch  De* 
duktion,  und  lobt  Aristoteles,  dass  er  sie  durch  Induktion  zu  ge- 
wannen versucht  hnbe  {155).  Damit  stellt  er  sich  der  noch  heute 
massgebenden  Ansicht  schroff  entgegen.  Wenn  einmal  erst  die 
Ansicht  durchgedrungen  sein  wird,  dass  auch  die  Kategorien 
(unbeschadet  ihrer  unbewussten  Apriorität)  für  unser  Bewusstsein 


332 


Beneke* 


nur  durch  Abstraktion  und  Induktion  aus  der  Erfahrung  des 
Wahrnehmens  und  Denkens  gewonnen  werden  können,  dann 
wird  man  sich  auch  dessen  erinnern,  der  zuerst  diese  methodo- 
logische Wahrheit  klar  erfasste  und  deutlich  ausgesprochen  hai 
Freilich  vermochte  er  dies  nur,  indem  er  zugleich  die  Aprioritäl 
der  Kategorien  verkannte  und  bestritt. 

Als  Kategorien   des  wahren  oder  Ansichseins  stellt  Benek« 
folgende  auf  (354—358): 

1.  Dinge  (Substanzen)  nebst  Eigenschaften  (Accidentien)  und 
deren  Ineinander. 

2.  Verhältnisse. 

a)  Das  Nebeneinander  (das  intelligible  Korrelat  der  Räum- 
lichkeit), 

b)  Die  zeitliche  Folge. 

c)  Das  Kausalverhältnis. 

3.  Quantität  (sowohl  für  Dinge  als  für  Verhältnisse  gültig). 
Substanz  und  Dynamis,  Ding  und  Kraft  ist  ein  und  dasselbe 

(321^325);  darin  ist  Beneke  ganz  Leibnizianer.  Umgekehrt  ist 
aber  auch  far  Beneke  alles  substantiell,  was  dynamisch  ist  oder 
Kraftäusserung  zeigt,  z.  B.  die  seelischen  Reize  und  Spuren,  die 
Eigenschaften  des  Dinges  und  die  Accidentien  einer  Substanz, 
So  setzt  sich  ihm  jede  Substanz,  die  noch  Accidentien  hat,  wied< 
aus  Substanzen  zusammen,  da  jedes  Accidens  substantiell  ist.  und 
die  Substanz  sich  mit  der  Summe  der  Accidentien  deckt  ohne 
jeden  Überfluss  (171).  Hierin  ist  Beneke  ganz  Humeaner;  alle 
Substanzen  sind  zusammengesetzt  aus  umgebildeten  sinnlichen 
Reizen,  so  dass  diese  allein  die  eigentlichen  Ursubstanzen  sind. 
Beneke  ist  transcendentaler  Idealist  in  Bezug  auf  die  An- 
schauungsform der  Räumlichkeit,  obwohl  er  ihre  Apriorität  leug- 
net und  alle  Versuche,  sie  abzuleiten  (z,  B.  den  Herbartschen)  für 
verfehlt  erklärt.  Er  giebt  zu,  dass  die  Mehrheit  der  Substanzen 
die  Form  eines  Nebeneinander  haben  müsse,  behauptet  aber,  dass 
dieses  Nebeneinander  mehr  dem  Zugleichsein  mehrerer  unräum- 
licher  Vorstellungen  im  Bewusstsein  als  dem  mehrerer  räumlicher 
Anschauungen  im  Vorstellungsraum  entsprechen  müsse.  Er  fol- 
gert dies  daraus,  dass  das  wahre  oder  Ansichsein  nur  das  Seelen- 
sein sei,  welches  unräumlich  sei,  dass  hingegen  das  räumliche 
Sein  nur  das  stoflFliche  Sein  sei,  welches  bloss  Erscheinung  sei. 
Die    Form    der    Räumlichkeit    hafte   erst  an  dem    phänomenalen 


iz, 
ne  V 


Beneke. 


333 


Produkt  aus  dem  subjektiven  und  objektiven  Faktor,  aber  an 
keinem  dieser  Faktoren  (64,  233 — 235»  355.  178).  Das  unräumliche 
Nebeneinander  der  Substanzen  hat  Beneke  nicht  näher  ausge- 
führt; sonst  wnirde  er  sich  überzeugt  haben,  dass  ein  solches 
Nebeneinander  der  Substanzen,  welches  sowohl  ihre  Wirkungen 
auf  einander  gestatten  als  auch  die  Veränderungen  unserer 
Wahrnehmungen  erschöpfend  erklären  soll,  mit  einer  stetigen 
dreifach  veränderlichen  Mannigfaltigkeit  ausgestattet  werden  muss, 
dass  dann  aber  auch  ihr  Unterschied  von  der  subjektiven»  mathe- 
matisch gereinigten  Raumform  unangebbar  wird.  — 

In  Bezug  auf  Zeit,  Kausalität  und  Quantität  ist  Beoeke  trans- 
cenden taler  Realist.  Die  Zeit  ist  die  wesentliche  Grundform  in 
dem  einzigen  für  uns  wahrnehmbaren  Ansichsein.  und  wir  ver- 
mögen überhaupt  kein  anderes  Sein  vorzustellen,  als  in  der  Zeit 
(259),  während  wir  ein  unräumliches  Sein  sehr  wohl  vorstellen 
können  und  in  unserem  Seelensein  kennen.  Die  Kausalität  er- 
kennen wir  mit  voller  Gewissheit  in  unserer  inneren  Erfahrung, 
z.  B.  bei  dem  Hervorrufen  einer  Erinnerung,  der  Verstärkung 
eines  Gedankens,  der  Bewegung  eines  Güedes  durch  den  Willen, 
der  Erweckung  einer  Vorstellung  durch  die  andere,  der  Verän- 
derung eines  Gefühles  durch  hinzutretende  entgegengesetzte. 
Hier  haben  wir  die  unerschütterliche  Überzeugxmg,  dass  nicht 
bloss  zeitliche  Aufeinanderfolge,  sondern  Bewirken  oder  Hervor- 
bringen stattfindet,  und  zwar  genügt  ein  einzelner  Fall  zu  dieser 
Gewnssheit,  so  dass  Häufigkeit  und  Gewöhnung  nicht  mehr  hin- 
zubringt  (284 — 285),  Da  wir  in  uns  das  Sein  an  sich  wahrnehmen, 
so  ist  damit  sichergestellt,  dass  im  wahren  Ansichsein,  welches 
das  Seelensein  ist,  das  Kausal  Verhältnis  Gültigkeit  hat  (290).  Ob 
es  auch  ausserhalb  der  eigenen  Seele  Gültigkeit  habe,  können 
wir  freilich  nur  nach  Analogie  erschliessen,  so  dass  diese  An- 
nahme immer  Hypothese  bleibt,  ebenso  gut,  wie  die  Annahme 
eines  wahren  Ansichseins  ausserhalb  der  eigenen  Seele.  Darin 
hat  also  Humes  Skeptizismus  recht,  dass  wir  ausserhalb  des 
eigenen  Seins  Kausalität  nicht  wahrnehmen;  aber  wir  denken  sie 
hinzu  vermittelst  einer  Association,  die  wir  an  der  inneren  Er- 
fahrung erworben  haben,  und  diese  Unterlegung  findet  in  der 
Erfahrung  so  viele  Bestätigungen,  dass  es  lächerlich  sein  würde, 
an  ihrer  Gewissheit  zweifeln  zu  wollen  (287 — 294), 

Die   Konstruktion    des   Aufeinanderwirkens    von    Seele    und 


334 


Bendce^ 


Leib  macht  keine  Schwierigkeit,  sobald  man  nur  sich  dessen  er- 
innert, dass  ihre  Ungleichartig-keit  lediglich  für  unsere  Auffassung 
besteht,  dass  aber  der  stofflichen  Erscheinung  des  Leibes  als  ihr 
Ansich  gewisse  Systeme  von  Kräften  zu  Grunde  liegen,  die  sich 
den  seelischen  Kräftesystemen  in  stetiger  Abstufung  anschliessen 
(303).  Das  Kräftesystem  des  Leibes  und  das  der  zugehörigen 
Seele  sind  wahrhaft  und  reell  in  Einem  Sein  mit  einander  ver- 
bunden, und  es  bedarf  für  diese  Verbindung  keines  anderen 
Bandes  als  zwischen  den  psychischen  ürundsystemen  unter  sich 
(igSX  So  ist  es  denn  auch  kein  Wunder,  d^iss  die  Dinge  gewisse 
Eindrücke  auf  uns  ausüben  und  dadurch  zu  uns  in  eine  gewisse 
Beziehung  treten  (transcendente  Kausalität),  wenngleich  die 
Seele,  die  sie  wahrnimmt,  sich  dabei  nicht  bloss  passiv  verhält, 
sondern  zugleich  aktiv  wird  (63).  Die  Folgerung,  dass  die  imma- 
nente Kausalität  zwischen  stofflichen  Erscheinungen  ebenso  wie 
diese  selbst  ein  bloss  subjektiver  Reflex,  der  zwischen  den  Dinge 
an  sich  vorgehenden  Kausalität  sei,  liegt  für  Beneke  sehr  nahe 
wird  aber  nicht  direkt  von  ihm  ausgesprochen.  Wie  verschiedene 
Individualseelen  höherer  oder  niederer  Stufe,  oder  substantiell 
verschiedene  Kräfte,  es  anfangen,  auf  einander  einen  Einfluss  zu 
üben,  wird  von  Beneke  nicht  erörtert.  Ob  Kräfte  oder  Vermögen. 
die  zu  einer  und  derselben  Seele  verbunden  sind,  auf  einander 
wirken,  oder  ob  es  solche  thun,  die  verschiedenen  Individualseelen 
angehören,  das  macht  für  ihn  darum  keinen  Unterschied  aus,  weil 
ja  auch  die  Kräfte  oder  Vermögen  >  die  zu  derselben  Seele  ge- 
hören, ursprünglich  substantiell  getrennte  Reize  gewesen 
sind,  die  nur  durch  ihre  Wechselwirkung  in  eine  gewisse  Einheits- 
beziehung getreten  sind  und  sich  zu  einem  psychischen  System 
verbunden  haben,  — 

Beneke  behauptet  mit  Entschiedenheit  die  ausnahmslose,  all- 
umfassende Gültigkeit  des  Kausalitätsgesetzes;  d,  h.  er  leugnet 
sowohl  den  Zufall,  als  auch  die  indeterministische  Willensfreiheit, 
als  auch  die  tramscendentale  Freiheit  der  Selbstbestimmung  des 
Individuums  zum  Guten  und  Bösen,  sei  es  vor»  sei  es  in  diesem 
Leben,  Er  lässt  nur  eine  deterministische  Freiheit  der  sittlichen 
Selbstbestimmung  durch  zureichende  Motive  gelten,  und  hält  diese 
mit  Recht  für  ausreichend  für  die  Begründung  der  sittlichen  Ver- 
antwortlichkeit (333^349).  Danach  bezieht  sich  ihm  die  Freiheit 
auf  gegebene  Verhältnisse,  und  es  bleiben  ihm  nur  die  Ideen  der 


Beneke. 


335 


Unsterblichkeit  und  Gottes  als  solche  übrig,  die  sich  auf  nicht 
gegebene  Verhältnisse  beziehen  und  darum  ausserhalb  der  wissen- 
schaftlich strengen  Erkenntnis  ins  Bereich  des  Glaubens  oder  der 
blossen  Wahrscheinlichkeit  fallen. 

Die  wahre  Unsterbhchkeit  bezieht  sich  niclit  auf  die  unzer- 
störbaren Kraftelemente  der  Substanz,  sondern  auf  diejenige 
spezifische  Form,  welche  unser  individuelles  menschliches  Seelen- 
sein charakterisiert  (399).  Im  reiferen  Alter  zieht  sich  das  Be- 
wusstsein  immer  mehr  nach  innen  hin  und  von  dem  Ausseren, 
Sinnlichen  ab;  dann  vermindert  sich  das  bis  dahin  gewachsene 
Quantum  der  Bew^usstseinselemente  w^ieder  (455 — 456),  aber  wahr- 
scheinlich nicht  das  innere  Seelensein  oder  das  System  der  unbe- 
vvussten  Spuren  und  Anlagen  (447 — -448,  456).  Der  Tod  wird 
durch  das  Versiegen  des  Bewusstseinsquells  herbeigeführt;  es 
kann  sich  aber  für  das  fortdauernde  Individualsystem  der  unbe- 
wussten  Seelenvermögen  ein  neuer  Bewusstscinsquell  eröffnen 
(45g).  Die  Seele  kann  in  einen  neuen  leiblichen  Boden  verpflanzt 
werden  (Wiederverkörperung},  oder  selbst  in  höhere  psychische* 
Systeme  eingegliedert  werden,  von  denen  sie  dann  Anregungen 
empfängt  {460 — 461).  Diese  Lösung  des  Problems  steht  und 
fällt  mit  der  Annahme,  dass  die  die  Seele  konstituierenden  Spuren 
unräumlich  und  immateriell  sind  und  in  der  psychischen  Inner- 
lichkeit ihre  Stätte  haben.  Sobald  diese  einseitig  spiritualistische 
Auffassung  in  eine  materialistische  umschlctgt,  d.  h.  sobald  die 
Spuren  in  den  räumlichen  Lagerungsverhältnissen  der  das  leib- 
liche 2^ntralorgan  konstituierenden  Kj-aftelemente  (in  der  An- 
ordnung ihres  Nebeneinanderseins)  gesucht  werden,  kann  an  eine 
individuelle  Fortdauer  der  Seele  ohne  Erhaltung  des  Organs,  in 
welchem  ihre  Gedächtnis-  und  Charakter -Spuren  niedergelegt 
sind,  nicht  mehr  gedacht  werden.  — 

Bei  der  Gottesidee  hält  Beneke  an  einer  positiven,  zumal  be- 
stehenden Unendlichkeit  Gottes  fest,  und  kommt  dadurch  an  jedem 
Punkte  zu  Widersprüchen  zwischen  dieser  Unendlichkeit  des  gött- 
lichen Seins  und  der  Endlichkeit  und  Beschränktheit  des  mensch- 
lichen Verstandes.  Er  beruhigt  sich  aber  dabei»  dass  diese  Wider- 
sprüche nur  scheinbare  für  unseren  endlichen  Verstand  seien,  statt 
zu  erwägen,  ob  sie  nicht  vielmehr  Folgen  eines  in  sich  wider- 
spruchsvollen Vorurteils  seien,  nämlich  der  aktuellen  Unendlichkeit 
Gottes,  während    doch  das  religiöse  Bewusstsein   nur  eine   uner- 


336 


Beneke. 


messliche  aktuelle  Überlegenheit  Gottes  über  den  Menschen  und 
das  metaphysische  Denken  nur  eine  potentielle  Unendlichkeit  des 
Absoluten  mit  endlichem  Aktus  erfordert.  Er  verwirft  den 
Pantheismus,  weil  derselbe  die  reelle  Einheit  der  Welt  mit  Gott 
oder  ihr  naturnotwendiges  Hervorgehen  aus  Gott  behaupte.  Er 
kennt  keinen  Pantheismus,  bei  welchem  die  Welt  reell  verschieden 
von  Gott  oder  gar  durch  eine  freie  Entscheidung  des  göttlichen 
Willens  ins  Dasein  gerufen  wäre;  vielmehr  nennt  er  einen  solchen* 
Standpunkt  sogleich  Theismus.  Seinen  eigenen  Standpunkt  nennt 
er  allerdings  mit  Recht  so,  weil  er  die  Eigenschaften,  mit  denen 
er  Gott»  wenn  auch  nur  gleichnisweise,  ausrüstet,  aus  dem  persön* 
liehen,  menschlichen  Geistesleben  entlehnen,  also  Gott  als  Person 
denken  zu  müssen  glaubt  (545 — ^547,  522)*  Er  nennt  aber  seinenJ 
Standpunkt  kritischen  Theismus  (543)  im  Gegensatz  zu  allem  dog-l 
matisehen  Theismus,  weil  er  keine  strenge  Gewissheit  Gottes, 
sondern  nur  eine  Wahrscheinlichkeit  desselben  lehrt,  weil  er  keine 
gewisse  Erkenntnis,  sondern  nur  einen  spekulativen  Glauben  er- 
reichbar  findet.  Dieser  Glaube  ist  aber  weder  bloss  moralisch 
und  praktisch»  noch  bloss  subjektiv,  sondern  zugleich  auch  theore- 
tisch und  objektiv  (565—567). 

Es  ist  klar,  dass  Benekes  Gotte^glaube  zu  seinem  Sensualis- 
mus ebenso  wenig  passt,  wie  sein  Unsterblichkeitsglaobe.  Wenn 
aller  persönliche,  menschliche  Geist  letzten  Endes  das  Produkt  aus 
dem  Zusammenwirken  substantieller  sinnlicher  Reize  ist,  so  kann 
auch  der  Geist  Gottes  nur  ein  solches  Produkt  sein,  und  wenn 
er  dies  aus  naheliegenden  Gründen  nicht  sein  kann,  so  kann  er 
überhaupt  nicht  sein.  So  führt  Benekes  Spirituahsmus  folgerichtig 
zum  Atheismus,  weil  er  auf  dem  Boden  eines  sensualistischen 
Pluralismus  ruht  Es  sind  nur  Gründe  des  Gemütslebens,  nicht J 
wissenschaftliche  Erwägungen,  die  ihn  von  dieser  Konsequenz 
zurückhalten.  Sobald  die  von  Beneke  spiritualistisch  verstandenen 
»Spuren«  materialistisch  umgedeutet  werden,  bricht  auch  sein 
spiritualistischer  Gottesglaube  in  sich  zusammen  und  muss  dem 
materialistischen  Atheismus  Platz  machen.  Der  utilitarische  Eu- 
dämonismus  Benthams,  dem  Beneke  huldigte,  konnte  einen  solchen 
Umschlag  nur  erleichtern.  Während  Benekes  Psychologie  nicht  1 
unbeachtet  geblieben  ist,  hat  man  seine  Metaphysik  bisher  nochi 
niemals  nach  ihrer  geschichtlichen  Bedeutung  gewürdigt*  Aber 
nicht  bloss  seine  Methodologie  und  Erkenntnistheorie,  auch  seine 


Günther. 


337 


Untersuchungen  über  den  unbewussten  metaphysischen  Hinter- 
grund des  bewussten  Seelenlebens  sollten  diesen  Denker  vor 
einer  unverdienten  Vergessenheit  bewahren  (vergL  >Über  die  Be- 
wusst werdung  der  im  Unbewusstsein  angelegten  Seelenthätig* 
keiten*  in  Benekes  »Psychologischen  Skizzen«,  Bd.  1,  S,  335 — 492, 
und  Lehrbuch  der  Psychologie,  S.  ji — 83). 


4.  Der  strenge  Theismus. 

anther  (17B5 — 1862)  hat  wohl  von  allen  Theisten  das 
klarste  Be\\'nsstsein  darüber,  dass  der  Pantheismus  in  jeder  Ge- 
stalt mit  dem  Theismus  unvereinbar  ist,  und  dass  vor  allem  die 
Riesenschlange  des  Pantheismus  bekämpft  werden  muss,  wenn 
der  Theismus  gerettet  werden  soll.  Während  alle  anderen  Theisten 
mit  Ausnahme  Herbarts  dem  Pantheismus  mehr  oder  weniger 
Zugeständnisse  machen,  oder  gar  mit  Bewusstsein  darauf  ausgehen, 
ihn  mit  dem  Theismus  synthetisch  zu  verschmelzen,  weist  Günther 
jedes  Zugeständnis  an  den  Pantheismus  auf  das  Schärfste  zurück. 
Entschiedener  als  irgend  ein  anderer  Trinitarier  betont  er  den 
Satz,  dass  Gott  nur  dann  an  und  für  sich  persönlich  sein  kann, 
wenn  er  es  nicht  nur  unabhängig  von  seinem  Verhältnis  zur  Welt 
ist,  sondern  auch,  wenn  er  in  sich  nicht  einfach,  sondern  vielfach  ist, 
und  in  dem  Gegensatze  der  ihm  immanenten  Momente  zur  ewigen 
Personifikation  in  einem  jeden  derselben  gelangt.  Abweichend 
von  allen  anderen  spekulativen  Theisten  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts vertritt  er  die  durchaus  folgerichtige  Ansicht,  dass,  wenn 
Gott  das  Ich  ist,  die  Welt  sein  Nichtich,  d.  h,  die  reale  Negation 
und  Kontraposition  Gottes  sein  muss,  und  nicht  etwa  eine  affir- 
mative Setzung  Gottes  in  Gott  selbst  sein  darf  Wenn  seine 
trinitarische  Persönlichkeitslehre  nur  eine  vereinfachte  Modifikation 
des  trinitarischen  Theismus  darstellt,  so  ist  seine  Schöpfungslehre 
durchaus  originell  und  zugleich  diejenige  Zuthat,  durch  welche 
er  den  Theismus  zur  strengsten  Konsequenz  durchgebildet  hat. 
Der  schroffe  Dualismus  zwischen  dem  Gottschöpfer  und  der 
von  ihm  aus  nichts  geschaffenen,  aussergöttiicheu  Welt  ist  dem 

£.  ir.  H«rtm&an.  Aui<{ew,  Werke.     Bd.  XII.  33 


338 


Günther. 


Theismus  wesentlich.  Dagegen  ist  es  ein  Irrtum  Güntliers,  als 
ob  der  Cartesianische  Dualismus  zweier  verschiedener  Substanzen 
innerhalb  der  geschaffenen  Welt  ebenfalls  für  den  Theismus 
wesentlich  seL  Vielmehr  ist  dieser  für  den  Theismus  völlig^™ 
gleichgültig;  der  atavistische  Rückfall  in  den  Cartesianischeif^^H 
Dualismus  der  beiden  Substanzen,  der  philosophisch  längst  über- 
wunden war,  ist  deshalb  gerade  das  Wertlose  an  der  Günther- 
schen  Philosophie,  obwohl  Günther  selbst  und  seine  Schule  den 
höchsten  Wert  darauf  legt.  Diese  anachronistische  Restauration 
einer  längst  überwundenen  Stufe  wird  dadurch  nicht  besser,  dass 
Günther  der  ausgedehnten  Natursiibstanz  Innerlichkeit,  Empfin- 
dung, Leben,  Beseeltheit,  Selbstgefühl,  sinnliche  Vorstellungen, 
Begriffe,  Willen,  ein  gewisses  verständiges  Denken,  ja  sogar  ein 
uneigentliches  Analogon  des  Selbstbewusstseins  zuschreibt  und 
ihr  nur  das  eigentliche  Selbstbewusstsein  des  Ichgedankens  und 
die  Ideen  abspricht.  Er  entgeht  damit  allerdings  der  Carte- 
sianischen  Zumutung,  die  Tiere  für  seelenlose  Maschinen  ansehen 
zu  sollen;  aber  er  kann  sich  dann  gar  nicht  mehr  der  Folgerung 
entziehen,  dass  die  Vorzüge  des  menschlichen  Geistes  vor  dem 
tierischen  nur  noch  Steigerungen  eines  und  desselben  Princips 
über  einen  kritischen  Punkt  hinaus  sind,  wodurch  sie  als  etwas 
qualitativ  anderes  erscheinen,  ohne  es  dem  Wesen  nach  zu  sein. 
Der  Dualismus  in  der  Welt  könnte  richtig,  und  doch  der  Dualis- 
mus zwischen  Schöpfer  und  Welt  falsch  sein;  umgekehrt  könnte 
der  Dualismus  zwischen  Schöpfer  und  Welt  richtig,  und  doch  der 
Dualismus  in  der  Welt  ein  falscher  Schein  sein.  Beide  Dualismen 
haben  gar  nichts  mit  einander  zu  thun.  — 

Den   Ausgangspunkt   seines  Philosophierens   nimmt  Gilnther 
ebenso    wie  Beneke   von   dem   Cartesianischen   cogito  ergo   sum* 
Aber  während  Descartes  und   Beneke   das  Ich   als  real  seiendes 
unmittelbar  im   Denkakt  selbst  erfassen  zu   können   glaubten,  ist 
Günther  besonnen  genug,  zuzugestehen,  dass  dies  unmöglich  ist 
Im    endlichen    Selbstbewusstsein    wenigstens   kann    das   Ich    sich 
niemals  unmittelbar  als  Objekt  erfassen,  sondern  liegt  als  unver- 
mittelte  Substanz    aller  Vermittelung  zu  Grunde,   durch   die   d 
Geist   sich  aus    dem   Stande   des   Unbewusstseins   zum  Bewussl 
w^ erden  emporringt.    Der  Geist  findet  sich  zuständlich  bestimmi 
indem    durch   Anregungen    von    aussen    seine    Rezeptivität    und 
spontane  Reaktivität  geweckt  wird;  seine  eigenen  inneren  Zustände, 


Gtmth«r, 


139 


deren  er  inne  wird,  erfasst  er  als  das  Seinige,  zugleich  aber  auch 
als  verschieden  von  sich  selbst  als  ihrem  substantiellen  Träger 
und  erzeugenden  Grund,  d.  h.  als  Objekte.  Der  Fortgang  von 
den  inneren  Zuständen  und  Erscheinungsobjekten  zum  Subjekt 
als  dem  sie  erzeugenden  substantiellen  Grunde  ist  demnach  ein 
Rückschluss  von  der  gegebenen  Wirkung  auf  ihre  hypothetische 
Ursache.  Das  Ding  an  sich  ist  genau  in  demselben  Sinne  sub- 
stantieller Realgrund  der  vom  Ich  rezipierten  äusseren  Ein- 
wirkungen, wie  das  Ich  Realgrond  der  Reaktion  ist.  Beide  sind 
also  nur  hypothetische  Annahmen  zur  Erklärung  des  unmittel- 
bar Gegebenen  und  Vorgefundenen»  aber  nicht  Gegenstände  eines 
unmittelbaren  oder  apodiktisch  gewissen  Wissens. 

Nun  sucht  aber  Günther  gerade  darin  den  Gegensatz  des 
absoluten  Ich  vom  endlichen,  dass  die  bei  letzterem  unentbehr- 
liche Vermittelung  für  das  erstere  in  Wegfall  kommt  Was 
nach  der  menschlichen  Erfahrung  für  das  Ich  nicht  gilt,  das  ge- 
rade soll  für  das  göttliche  Ich  gelten»  die  unmittelbare  Selbst- 
erfassung des  denkenden  Subjekts  im  Akte  des  Selbstbewusst- 
seins.  Während  das  endliche  Selbstbewusstsein  ein  bloss  formales 
länomenales,  reflektiertes)  ist,  soll  das  absolute  Selbstbewusst- 
'sein  eine  reale  Selbstanschauung  sein.  Während  das  endliche 
Selbstbewusstsein  das  Ich  nur  erschliesst,  soll  das  göttliche  es 
unmittelbar  setzen.  Der  Einfluss  Fichtes  ist  hier  unverkennbar; 
im  absoluten  Ich  soll  in  Wahrheit  realisiert  sein,  was  Descartes 
irrtümlich  schon  ins  beschränkte  Ich  des  Menschen  verlegte. 
Lber  wie  Günther  zu  dieser  Erkenntnis  gelangt  ist,  hat  er  nicht 
angegeben,  obwohl  er  sie  für  eine  apodiktisch  gewisse  ausgiebt. 
Ob  das  endliche,  bloss  erschlossene  Ich  einer  solchen  Verabsolu- 
ierung  ohne  völlige  Aufhebung  seines  Begriffs  fähig  ist,  diese 
Frage  hat  er  sich  gar  nicht  vorgelegt,  weil  ihm  feststand,  dass 
das  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  im  Menschen  eine  Voll- 
kommenheit sei,  und  dass  alle  Vollkommenheiten  Gott  im  höchsten 
Masse  zukommen  müssten.  — 

Wenn  das  Selbstbewusstsein  in  Gott  kein  bloss  formales, 
sondern  ein  realem  sein  soll,  so  muss  dieser  Akt  ein  zugleich 
idealer  und  realisierender  sein,  wie  es  die  Einheit  von  Denken 
und  Wollen,  Wollen  und  Setzen  in  Gott  verlangt;  d.  h.  das 
Denken  seiner  selbst  ist  in  Gott  notwendig  zugleich  ein  Setzen 
seiner  selbst.     Nicht  als  ob  er  vor  diesem  Setzungsakt  noch  nicht 


340 


Güntbcr. 


wäre  und  erst  durch  ihn  entstünde,  sondern  in  dem  Sinne,  dass 
er  als  seiend  Denkender  und  denkend  Seiender  sich  selbst,  indem  er 
sich  denkt,  noch  einmal  setzt,  oder  sich  durch  totale  Emanation 
verdoppelt.  Hiermit  hat  Günther  bloss  einen  Lessingschen  Ge- 
danken ausgeführt,  der  die  Zeugung  des  Sohnes  als  zusammen- 
fallend mit  dem  realen  Sichselbstdenken  Gottes  auffasst  Das  Ge- 
setzte ist,  weil  Gott  sich  selbst  denkt,  völlig  Gott  gleich,  also  nicht 
bloss  Objekt,  sondern  Identität  von  Subjekt  und  Objekt  oder  ab- 
solutes Sebstbewusstsein*  Sowohl  der  Vater  als  auch  der  Sohn 
hat  sowohl  eine  reale  Wesenschauung,  als  auch  ein  formales 
Wissen  der  Unterscheidung  des  anderen  von  sich  selbst;  erst 
durch  das  letztere  wird  jeder  von  ihnen  zur  Person.  Ihre  Per- 
sonifikation ist  also  durch  ihre  Zweiheit  und  ihren  Unterschied 
als  Setzender  und  Gesetzter.  Zeugender  und  Gezeugter  bedingt 
und  wäre  ohne  diesen  nicht  erreichbar. 

Hiergegen  ist  folgendes  zu  bemerken.  Entweder  ist  der  Sohn 
dem  Vater  gleich,  dann  muss  auch  er  sein  Selbstbewusstsein  erst 
in  einem  realen  Selbstsetzungsakt  haben,  durch  den  er  sich  ver- 
doppelt, also  etwas  setzt,  was  vorher  noch  nicht  da  war;  dann 
geht  die  Selbstverdoppelung  der  Gottheit  ins  Unendliche,  weil  der 
Vater,  als  schon  seiender,  nicht  erst  Produkt  der  Setzung  des 
Sohnes  sein  kann,  Oder  aber  der  Sohn  ist  bloss  Gesetzter  und 
nicht  wieder  Setzender;  dann  ist  er  weder  dem  Vater  gleich,  noch 
kann  er  ein  absolutes  Selbstbewusstsein  haben,  wenn  dieses  bloss 
in  der  realen  Selbstverdoppelung  zu  finden  ist.  Also  entweder 
unendlich  viele  Personen  in  der  Gottheit  oder  gar  keine.  Das 
Subjekt  oder  der  Vater  will  sich  selbst  anschauen  als  Subjekt- 
Vater;  dies  misslingt  ihm  aber  vollständig;  denn  was  es  anschaut 
ist  eben  nicht  es  selbst,  nicht  das  Subjekt  oder  der  Vater,  sondern 
das  Objekt  oder  der  Sohn.  Was  dem  Vater  misslingt,  die  Selbst- 
anschauung, kann  dem  ihm  gleichen  Sohn  erst  recht  nicht  gelingen. 
Er  kann  aber  auch  nicht  sich  im  Vater  anschauen,  wie  dieser  sich 
im  Sohne  anschaut  Denn  der  Vater  schaut  sich  nur  deshalb  im 
Sohne  an,  w^eil  er  den  Sohn  setzt;  der  Sohn  könnte  sich  also  nur 
dann  im  Vater  anschauen,  wenn  er  ebenso  den  Vater  setzte,  wie 
dieser  ihn  setzt     Das  wäre  aber  ein  Widerspruch   in   sich   selbst 

Wenn  jeder  von  beiden  sich  selbst  nur  im  andern  erkennt,  so 
kann  er  nicht  den  andern  mit  sich  vergleichen;  denn  dazu  müsste 
er  sich  ebensowohl  in  sich  selbst  wie  im  andern  erkennen.    Könnte 


Günthen 


341 


er  sich  unmittelbar  in  sich  selbst  erkennen  >  so  brauchte  er  sich 
nicht  erst  zu  verdoppeln»  um  durch  das  gesetzte  Objekt  zur  Selbst- 
erkenntnis zu  gelangen.  Wenn  aber  die  Selbsterkenntnis  in  sich 
selbst  ausgeschlossen  ist,  so  ist  auch  der  Vergleich  unmöglich 
zwischen  sich  selbst  und  dem  andern.  Mit  der  Möglichkeit  des 
Vergleichens  fällt  auch  die  Möglichkeit  sowohl  des  Gleichsatzes, 
als  auch  der  Unterscheidung  fort.  Mit  der  Möglichkeit  der 
f  Selbstunterscheiduog  des  Subjekts  vom  Objekt  und  umgekehrt 
verschwindet  wiederum  die  Möglichkeit  eines  doppelten  Selbst- 
bewusstseins  im  Vater  und  im  Sohne  und  damit  die  Möglich- 
keit einer  Personifikation,  Mit  der  Möglichkeit  des  Gleichsatzes 
des  andern  mit  sich  selbst  in  jedem  der  beiden  Selbstbewusstseine 
hört  endlich  auch  die  Möglichkeit  auf,  aus  der  Glcichsetzung 
dieser  beiden  Gleichsetzungen  die  dritte  Person  der  Gottheit  ab- 
leiten zu  wollen.  — 

Günther  personifiziert  in  der  That  den  Gleich satz,  das  Gleich- 
heitszeichen,  die  rein  formale  Beziehung  der  Identität,  zu  einem 
dritten  Selbstbewusstsein,  obwohl  nicht  einzusehen  ist,  wie  die 
^doppelseitige  logische  Reflexion  auf  die  Gleichheit  einer  logischen 
'Beziehung  im  Bewusstsein  des  Vaters  und  in  dem  des  Sohnes 
aus  diesen  beiden  Bewusstseinen  heraustreten  und  sich  zu  einem 
dritten  Bewusstsein  verselbständigen  soll.  Die  so  zu  einer  realen 
Selbständigkeit  aufgebauschte  doppelseitige  Reflexion  auf  eine  in 
zwei  Bewusstseinen  gleichartig  gesetzte  formal  legi  sehe  Beziehung 
wird  dann  wiederum  gleichgesetzt  mit  den  Beziehungen,  aus 
denen  sie  erwachsen  ist,  und  aus  der  Gleichsetz ung  der  drei 
formalen  Beziehungen  in  den  drei  Bewusstseinen  soll  das  ein- 
heitliche Gesamtbewusstsein  Gottes  entspringen,  das  über  die  drei 
Sonder bewusstseine  übergreift  und  sie  in  sich  befassL  Dieses 
einheitliche  Gesamtbewusstsein  Gottes  hält  Günther  für  nötig,  um 
dem  Vorwurf  des  Tritheismus  vorzubeugen.  Er  bezeichnet  dieses 
ausdrücklich  als  ein  bloss  formales,  um  nicht  mit  ihm  eine  vierte 
Person  als  gegeben  anzuerkennen. 

Nun  ist   aber  klar,  dass  die  Gleichsetzung  des  Gleichsatzes 
lim  ersten   und    zweiten   Selbstbewusstsein   und  die  Gleichsetzung 
fdes  Gleichsatzes  im  ersten,  zweiten  und  dritten  Selbstbewusstsein 
in    durchaus    gleicher  Weise    gebildet   sind.      Kann    die    letztere 
wegen   ihrer  bloss  formalen   Beschaffenheit    keine  vierte  Persön- 
lichkeit m  Gott  konstituieren,  so  kann  auch  die  erstere  eben  des- 


34^ 


Gfindiar. 


halb  keine  dritte  konstituieren.  Wird  durch  die  letztere  nur  ein 
formales  einheitliches  Gesamtbewusstsein  der  drei  Personen  her- 
gestellt, dann  wird  auch  durch  die  erstere  nur  ein  formales  ein- 
heitliches  Gesamtbewusstsein  der  zwei  Personen  gewonnen.  Wird 
dagegen  wirklich  durch  die  erstere  Gleichsetzung  eine  dritte 
Person  konstituiert,  dann  muss  nicht  nur  durch  die  letztere  eine 
vierte  Persönlichkeit  entstehen,  sondern  es  muss  dieser  Prozess 
bis  ins  Unendliche  weiter  gehen  und  unendlich  viele  Personen 
in  der  Gottheit  zustande  bringen.  Es  ist  anzuerkennen,  dass 
Günther  im  Beginn  des  innergöttlichen  Prozesses  den  idealen 
und  realen  Prozess  Baaders  in  einen  verschmilzt,  wie  die  un- 
trennbare Einheit  von  Denken  und  Wollen  in  Gott  es  verlangt;  i 
aber  er  kommt  mit  dieser  Identität  des  idealen  und  realen  Pro- 
zesses nicht  weiter,  indem  die  Setzung  der  dritten  Person  zwischen 
einem  bloss  idealen  und  einem  idealrealen  Vorgang  schillertt  | 
und  die  Entstehung  des  einheitlichen  Gesamtbewusstseins  den 
Verzicht  auf  die  reale  Seite  zur  Voraussetzung  hat.  — 

Dass  Günther  genötigt  ist,  die  Realität  des  Vorganges  an 
der  vierten  Phase  des  inner  göttlichen  Prozesses  nach  der  positiven 
Seite  hin  zu  leugnen,  ist  um  so  bedenklicher,  als  er  sie  nach  der 
negativen  Seite  hin  aufrecht  erhält.  Wenn  das  einheitliche  Ge- 
samtbewusstsein Gottes  oder  sein  absoluter  Ichgedanke  aus  dem 
Zusammenschluss  dreier  Affirmationsakte  oder  der  Gleichsetzung 
dreier  Gleichsetzungen  entspringt,  so  soll  die  Idee  der  Welt  oder 
der  absolute  Nichtich- Gedanke  aus  dem  Zusammenschluss  der 
drei  Negationsakte  oder  aus  der  Verschmelzung  der  drei  Selbst- 
unterscheidungen der  drei  Personen  von  einander  hervorgehen. 
Wenn  der  erstere  das  absolute  Sein^  so  ist  der  letztere  das  abso- 
lute Nichtsein  oder  das  Nichts.  Das  Nichtich  ist  ein  ebenso  not- 
wendiger Gedanke  wie  das  Ich,  denn  es  ist  sein  Supplement;  es 
ist  daher  auch  gleich  ewig  mit  diesem.  Indem  der  Wille  diesen 
Gedanken  ewig  realisiert,  schafft  er  ewig  die  Welt  aus  Nichts. 
Damit  ist  der  Defekt  ausgeglichen»  dass  vom  heiligen  Geist  nichts 
Innergöttliches  emaniert,  wie  vom  Vater  der  Sohn  und  vom 
Vater  und  Sohn  der  heilige  Geist 

Erkünstelt  und  verzwickt  erscheint  die  Zusammenschweissung 
dieses  Nichtich  im  Absoluten  aus  den  drei  negativen  Unterschei- 
dungen der  Personen  von  einander,  unmöglich  die  Gleichsetzung 
des  Nichtich  mit  dem  Nichts.    Die  drei  Personen  dürften  einander! 


Günther, 


343 


nur  für  »andere  Ichs«  oder  »Ichnichtf  erkennen,  wie  Günther 
es  von  den  Menschen  behauptet,  und  aus  drei  anderen  Ichs  kann 
niemals  ein  absolutes  Nichtich  werden,  das  die  Neg^ation  des  Ich 
überhaupt  einschliessen  soll.  Wenn  das  absolute  Sein  im  Ich 
liegt,  dann  bleibt  freilich  für  das  Nichtich  nichts  mehr  übrig,  als 
das  absolute  Nichtsein  oder  Nichts;  die  Realisierung  des  Nichts 
kann  aber  niemals  Etwas,  niemals  eine  Welt  liefern.  Wenn  die 
Welt  mehr  als  Nichts,  wenn  sie  auch  nur  blosser  Schein,  oder 
wenn  sie  gar,  wie  Günther  behauptet,  geschaffene  Substanz  sein 
soll,  so  kann  sie  nicht  aus  der  Realisierung  der  Idee  des  Nichts 
entsprungen  sein.  Wenn  sie  mehr  ist  als  absolutes  Nichtsein, 
wenn  irgend  etwas  von  Sein  in  ihr  ist,  so  ist  sie  entweder  eine  Er- 
scheinung  des    göttlichen    Seins,    oder  Gott   ist  nicht   mehr  das 

_absolute    Sein,    das   alles   Seiende    umfasst  und   in  sich  schliesst 
>er    das   Dilemma,   entweder   die  Aussergöttlichkeit   der  Welt 

^der   die  Absolutheit  Gottes    einzubüssen,    kommt  also  auch  die 
Günthersche  Schöpfungslehre  nicht  hinaus. 

Die  Günthersche  Behauptung,  dass  die  Welt  nur  das  reali- 
sierte Nichtich  Gottes  sein  könne,  ist  insoweit  durchaus  richtig. 
dass  die  zu  realisierende  Weltidee  etwas  anderes  sein  muss,  als 
ein  göttliches  Selbstbewusstsein,  oder  als  eine  Reflexion  Gottes  auf 
sich  selbst  als  absolutes  Subjekt  Es  ist  richtig,  dass,  wenn  Gott 
seinen  Ichgedanken  hätte  und  realisierte,  dabei  niemals  etwas 
anderes  herauskommen  könnte  als  ein  zweiter  Gott,  aber  niemals 
eine  Welt.  Daraus  folgt,  dass  Gott  einen  anderen  idealen  Inhalt 
geschaut  und  realisiert  haben  muss  als  sein  Ich,  als  er  die  Welt 
schuf.  Dieser  ideale  Inhalt  seiner  Anschauung  kann  auch  nicht 
bloss  in  inneren  Zuständen  und  näheren  Bestimmungen  seines 
Ich  bestanden  haben;  denn  sonst  wären  sie  auch  als  willensreali- 
sierte  innere  Momente  seines  Ich  blosse  Bestimmungen  seiner 
eigenen  göttlichen  Existenz  geblieben  und  nicht  zu  einer  anderen 
Existenz,  nicht  zu  einer  relativen  Selbständigkeit  phänomenalen 
Daseins  aus  seinem  Ich  hinausprojiziert  worden.  Andererseits 
betont  Günther  selbst,  dass  in  Gott  keine  Negation  gesetzt  werden 
darf,  weil  in  ihm  keine  abstrakte  diskursive  Reflexion  anzunehmen 
ist;  darum  ist  die  Günthersche  Auffassung  verfehlt,  als  ob  aus 
einer  bewussten  Negation  des  Ich  in  Gott  die  Welt  entspränge. 
Ebenso  unmöglich  ist  es.  dass  bei  der  Realisation  eines  bloss 
negativen  Gedankens  ein  Positives  herauskommen  sollte,  wie  die 


S44 


Günther. 


LSSt- 


Welt  doch  ist.      Die  zu  realisierende  Wellidee   muss  also  einen 
positiven  Inhalt  haben,  der  zwar  nicht  das  absolute  Subjekt  selbst 
ist,  aber  auch  von  Gott  nicht  von  sich  als  dem  absoluten  Subjekt 
unterschieden,  nicht  sich  entgegengesetzt  und  nicht  als  Negation 
seines  Ich  gedacht  wird.     Daraus  folgt,  dass  für  das  Denken  der 
Weltidee  das  Denken  des  Ichgedankens  in  Gott  ganz  bcdeutun 
los   ist^    da   beide   doch    nicht   zu   einander  in   Beziehung   gesetzt' 
werden,  d.  h.  dass   die  Annahme  eines  göttlichen  Selbstbewusst-       . 
Seins  zur  Erklärung   der  Weltentstehung  nichts  beitragen   kann^^H 
Der  Ichgedanke  in  Gott  kann  immer  nur  die  Zeugung  des  Sohnes^* 
oder  die  Selbstverdoppelung  Gottes   erklären   und    nichts  weiter: 
er  kann  aber  auch  gar  nicht  supponiert  werden,  ohne  diese  Selbst- 
verdoppelung Gottes   als   seine  Konsequenz   mit   sich  zu   führen. 
Wem  alles  daran  gelegen  ist,  die  immanente  Zeugung  des  Sohnes 
zu    erklären,    der  wird    das  Selbstbewusstsein    Gottes   nicht   ent- 
behren können;   wer  nur  auf  die  Erklärung   der  Weltentstehung 
ausgeht,  für  den  ist  es  eine  überflüssige  Annahme,  die  gar  nichts 
leistet,  eine  ungerechtfertigte  Komplikation,  die  nur  stört. 

Wie  Gott  ein  Ternar  von  drei  absoluten  Persönlichkeiten, 
so  ist  die  Welt  ein  solcher  von  drei  nichtabsoluten  Persönlich- 
keiten: Geist,  Natur  und  Menschheit,  die  sich  wie  Thesis.  Anti* 
thesis  und  Sytithesis  verhalten.  Wie  Gott  Einheit  des  Wesens  in 
der  Dreiheit  der  Form  ist,  so  ist  die  Welt  Dreiheit  der  Wesen  in 
Einheit  der  Form.  Da  die  Menschheit  nur  Synthesis  von  Natur 
und  Geist  ist»  so  rechnet  Günther  nur  diese  beiden  letzteren  als 
Substanzen*  Jede  von  ihnen  ist  ursprünglich  eine  Einheit,  die 
sich  erst  im  Prozess  in  eine  Vielheit  zerspaltet;  jede  stellt  ein 
zunächst  unbewusstes  Princip  dar,  das  erst  im  Verlauf  des  Pro- 
zesses sich  allmählich  zum  Bewusstw erden  emporarbeitet.  Worin 
ursprünglich  der  Unterschied  beider  Substanzen  bestanden  hat, 
dürfte  nicht  leicht  anzugeben  sein.  Die  Bezeichnung  Substanzen 
scheint  offenbar  missbräuchlich  auf  etwas  angewendet»  das  doch 
nichts  weiter  sein  soll,  als  das  durch  Gottes  Willen  ewig  reali- 
sierte Nichts»  d.  h.  ein  zum  falschen  Schein  des  Seins  aufgeblähtes 
Nichts,  Was  nicht  nur  beschränkt  durch  seinesgleichen,  sondern 
auch  fortdauernd  bedingt  ist  durch  das  Unbedingte,  das  kann 
nicht  Substanz  heissen,  da  es  gar  keine  Subsistenz  in  sich  hat. 
Den  Widerspruch  der  »geschaffenen  Substanz^  hat  Günther  nicht 
beseitigt,  sondern  geradezu   auf  die  Spitze  getrieben*  — 


Günther. 


345 


Günther  erörtert  eingehend  die  Kate^orienlehre  von  Kant, 
Fries,  Hegel,  Weisse,  Beneke  und  George,  aber  merkwürdiger* 
weise  nicht  die  von  Fichte,  Schelling  und  Schleierm acher,  an  die 
er  sich  doch  am  engsten  anlehnt  Denn  er  geht  gleich  ihnen  bei 
der  Entwickelung  der  Kategorien  von  der  Betrachtung  des  Selbst- 
bewusstseins,  von  der  Wechselwirkung  zwischen  Subjekt  und 
Objekt  aus,  macht  die  Relation  zur  Ur-  und  Grund -Kategorie 
und  unterscheidet  im  Ich  eine  passive  und  aktive,  eine  fezeptive 
und  reaktive  Thäiigkeit,  Das  Ich  ist  nicht  eine  Idee  oder  Kate* 
gorie  unter  anderen  Ideen  oder  Kategorien,  sondern  die  Idee 
schlechthin,  und  die  Gesamtheit  der  Kategorien  sind  nur  die  ge- 
danklich rekonstruierten  Momente  des  unbewussten  Prozesses. 
vermittelst  dessen  der  Geist  sich  aus  seinem  ursprünglich  unbe- 
wussten Zustande  zum  Bewusstsein  seiner  selbst  hindurchringt 
Unter  dem  Gesichtspunkte  der  Immanenz  des  Erscheinenden 
(beschränkten  Ich)  in  der  Erscheinung,  des  sich  Offenbarenden  in 
der  Offenbarung  differenziert  sich  die  Urkategorie  der  Relation 
zu  derjenigen  der  Substantialitätj  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
Thätigkeit  bestimmt  sie  sich  als  ein  rezeptives  Erleiden  und 
reaktives  Hervorbringen  von  Wirkungen.  Die  Teleologie  end- 
lich, die  Gündier  Finalkausalität  nennt  und  sonderbarerweise  mit 
der  Wechselwirkung  der  Kantschen  Kategorien ta fei  gleichsetzt, 
ergiebt  sich  ihm  erst  auf  einem  Umwege,  durch  den  Schöpfimgs- 
begriff,  welcher  aus  dem  Widerstreit  zwischen  der  Kausalität  und 
Nichtkausalität  des  beschränkten  Ich  folgen  soll;  indem  das  Ich 
das  in  es  gelegte  Gesetz  seiner  Bestimmung  findet  und  befolgt, 
macht  es  sich  zum  Mittel  für  den  absoluten  Zweck,  Alle  übrigen 
Kategorien  sucht  Günther  bei  einer  dieser  drei  Relationskate* 
gorien  unterzubringen,  so  dass  sich  (nach  Knoodt)  aus  Günthers 
zerstreuten  Darlegungen  folgende  Tafel  ergiebt: 

I,  Substantialität 
Substanz  und  Accidenz  (Substanz  und  Inhärenz,  Wesen  und 
Eigenschaft,  Realität  und  Formalität,  Inneres  und  Äusseres); 
Subjekt  und  Objekt;  Einheit,  Vielheit  und  Allheit  —  Zahl  — ; 
kontinuierHche  und  diskrete  Grösse  (Quantität),  Teil  grosse;  Quali- 
tät; Raum. 

2.  Kausalität 

Ursache  und  Wirkung  (Grund  und  Folge),  Princip  und 
Kräfte   (Vermögen);    Möglichkeit   und    Unmöglichkeit,    Wirklich- 


346 


Günther, 


keit  und  Nichtexistenz»  Notwendigkeit  und  Zufälligkeit,  Zwang 
und  Freithätigkeit  (unwillkürliche  und  wnllkürliche),  Gesetzlich- 
keit; Zeit 

3.  Final kausalität 
Zweck  und  Mittel;  Urbestimmung  und  Endabsicht;  Unbe- 
stimmtheit und  Bestimmtheit;  Ansichsein  und  Fürsichsein,  und 
Anundfürsichscin  und  Füranderessein ;  Wechselwirkung;  Bewe* 
gung,  Werden  und  Veränderung;  Beschränktheit  und  Unbe- 
schränktheit ,  Bedingtheit  und  Unbedingtheit  (Endlichkeit  und 
Unendlichkeit);  Realität  und  Negativität;   Zeiträumlichkeit.  — 

Die  so  abgeleiteten  Kategorien  beziehen  sich  zunächst  nur  auf 
die  Entstehung  des  Selbstbewusstseins  im  empirischen,  beschränk- 
ten Ich,  innerhalb  dessen  die  Objekte  nur  als  subjektiv -ideale 
Erscheinungen  figurieren.  Nun  aber  kann  das  Ich  sich  nicht  als 
alleinigen  Realgrund  seiner  Doppelthätigkeit  setzen,  sondern 
muss  ein  Nichtich  als  Realgrund  der  auf  es  einwirkenden  Thätig- 
keit  annehmen,  welche  es  seinerseits  als  Leiden  perzipiert.  Dieses 
fremde  Thätige  wird  demnach  in  derselben  Weise  wie  das  eigene 
Ich  durch  Anwendung  der  beiden  Kategorien  s Substanz c  und 
»Ursachen  gewonnen.  Es  zerfällt  in  andere  Ichs  und  ungeistiges, 
natürliches  Sein.  Auf  die  anderen  Ichs  sind  die  am  eigenen  Ich 
gebildeten  Kategorien  ohne  weiteres  übertragbar;  dagegen  müs- 
sen sie  bei  der  Anwendung  auf  ein  ungeistiges  Sein  in  der  Natur 
gewisse  Modifikationen  erfahren,  die  nicht  a  priori  zu  bestimmen, 
sondern  a  posteriori  durch  den  Stand  der  naturwissenschaftlichen 
Erkenntnis  bestimmt  sind.  So  ist  z.  B.  die  spontane  Reaktivität 
in  notwendige,  das  immaterielle  Nebeneinander  der  Vorstellungs- 
objekte im  Bewusstsein  in  ein  materielles  Nebeneinander  der 
Naturdinge  abzuändern. 

Aber  eine  noch  einschneidendere  Modifikation  ist  erforderlich 
bei  der  Anwendung  der  Kategorien  des  beschränkten  Selbst- 
bewusstseins  auf  Gott,  oder  das  absolute  Selbstbewusstsein;  hier- 
bei ist  jede  den  Kategorien  anhaftende  Negation  abzustreifen  und 
ihr  positiver  Gehalt  zu  verabsolutieren.  Nur  was  sich  dieser 
Modifikation  unterwerfen  lässt,  ist  auf  Gott  übertragbar;  ohne 
solche  Übertragbarkeit  aber  wäre  Gott  das  schlechthin  Unerkenn- 
bare für  den  menschlichen  Geist,  und  wir  dürften  von  seinem 
Sein  gar   nicht  reden.     Alle  Kategorien   sind  Modifikationen   der 


Günther. 


347 


Urkategorie  der  Relation.  Hätte  das  Absolute  Relationen  zu 
etwas  Anderem  ausser  ihm»  so  hörte  es  damit  auf,  absolut  zu  sein; 
hätte  es  keine  Relationen  in  sich,  so  wäre  auch  keine  von  allen 
Kategorien  auf  dasselbe  anwendbar  und  seine  Erkennbarkeit  hörte 
schlechthin  auf.  Es  muss  also  immanente  Relationen  zu  sich 
selbst  haben,  und  diese  Relationen  müssen  unbeschadet  ihres 
Relationscharakters  absolut  werden,  d.  h.  das  Absolute  muss  das 
absolute  Relativum  sein. 

Das  Sein  (an  sich)  ist  als  absolutes  erstens  frei  von  jeder 
Kausalität  nach  rückwärts  (hat  Aseität)  und  frei  von  jeder  Be* 
dingtheit  oder  Abhängigkeit  von  einem  anderen  (koordinierten) 
Sein  neben  ihm  (hat  allumfassende  Alleinigkeit).  Es  ist  zweitens 
rein  affirmativ  ohne  jede  Negativität»  und  es  hat  drittens  die 
ursprüngliche  Unbestimmtheit  seiner  selbst  von  Ewigkeit  her 
durch  affirmative  Selbstbestimmung  überwunden,  so  dass  keine 
faktische  Potentialität  vor  der  Aktualität  bestehen  bleibt. 

Das  Dasein  ist  zu  verabsolutieren,  indem  die  Möglichkeit 
eines  Füranderesseins  im  Absoluten  wegfällt  und  bloss  die  des 
Fürsichseins  übrig  bleibt.  Das  Fürsichsein  ist  die  Angewiesen- 
heit auf  sich  selbst,  d.  h.  die  Beziehung  der  Momente  des  gött- 
lichen Selbstsetzungsprozesses  auf  einander.  Die  Substanz  ist 
ganz  sowohl  im  Subjekt  wie  im  Objekt,  aber  ohne  Accidentien, 
in  denen  sie  sich  auf  endliche  Weise  zersplittern  würde.  Ebenso 
ist  die  reale  Kausalität  oder  absolute  Selbstverwirklichungsmacht 
ganz  und  ungeteilt  im  Subjekt  und  im  Objekt;  sie  ist  ihrer 
QuaUtat  nach  absolute  Selbstbestimmung  oder  absolutes  Wollen, 
jedoch  nicht  im  Sinne  eines  aus  dunklem  Urgründe  entspringen- 
den blinden  WoUens.  sondern  als  lichtes  wissendes  Wollen.  Die 
Kategorie  der  Zufälligkeit  fällt  in  Gott  fort,  weil  jede  Abhängig- 
keit von  anderem  ausgeschlossen  ist,  die  der  Möglichkeit,  w^eil  sie 
durch  seine  Selbstverwirklicbung  ewig  aufgehoben  ist  Da  Gott 
kein  Gesetz  über  sich  hat,  so  kann  von  Notwendigkeit  im  Abso- 
luten nur  in  dem  Sinne  die  Rede  sein,  dass  es  eine  bestimmte 
Setzungsweise  ist,  durch  welche  es  sich  als  den  absolut  persön- 
lichen Gott  realisiert  (essentielle  Notwendigkeit).  Nur  die  Wirk- 
lichkeit ist  von  den  modalen  Kategorien  ohne  weiteres  zu  ver- 
absolutieren; denn  Gott  ist  die  absolute  Wirklichkeit. 

Den  inneren  Widerspruch  eines  zeitlos  ewigen  Prozesses  in 
Gott,  das  Dilemma  zwischen  ewig  unveränderlicher  Starrheit  des 


Günther. 

Seins  und  zeitlicher  Wandelung  in  bewegtem  Leben  und  Werde* 
prozess  hat  Günther  ebensowenig  wie  ein  anderer  Theist  zu  lösen 
vermocht.  Er  erkennt  an,  dass  Gott  als  der  sich  selbst  setzende 
ein  Nacheinander  und  Nebeneinander  seiner  Momente  in  sich 
haben  müsse,  d.  h.  Zeit  und  Raum  zu  Formen  haben  müsse,  die 
aber  als  verabsolutierte:  Ewigkeit  und  Unermesslichkeit  heissen 
sollen.  Absolute  Zeit  ist  aber  nicht  zeitlose  Ewigkeit,  in  der 
jedes  Nacheinander  aufhört,  sondern  unendliche  Zeit;  verabsolu- 
tierter Raum  ist  nicht  raumloses  Insichsein,  sondern  unendliche 
Extension  nach  drei  Dimensionen, 

Die  Finalkausalität  hat  im  beschränkten  Ich  das  Negative 
an  sich,  dass  ihm  von  einem  andern  ein  Ziel  gesetzt  ist,  dem  es 
nachstreben  soll,  ohne  doch  es  in  irgend  welcher  Gegenwart  ganz 
erreicht  zu  haben.  Diese  Negation  fällt  im  Absoluten  fort,  weil 
das  Ziel,  die  absolute  Selbstverwirklichung,  sowohl  ein  selbst  ge- 
setztes, als  auch  ein  ewig  erreichtes  ist.  Diese  Unbeschränktheit 
des  Daseins  macht  in  Verbindung  mit  der  Unbedingtheit  des 
Seins  die  Unendlichkeit  des  Absoluten  aus. 

Günthers  Kategorienlehre  bleibt  darin  Kant  und  seinen  Nach- 
folgern treu,  dass  sie  die  Kategorien  im  eigenen  Selbstbewusstsein 
als  die  Stufen  seiner  Entstehungsgeschichte  belauschen  und  für 
das  Bewusstsein  festhalten  zu  können  glaubt,  Sie  macht  aber 
einen  wichtigen  und  entscheidenden  Schritt  über  alle  Vorgänger 
hinaus,  indem  sie  feststellt,  dass  die  aus  der  subjektiv-idealen 
Sphäre  des  bewussten  endlichen  Geistes  geschöpften  Kategorien 
zunächst  auch  nur  für  diese  Sphäre  eine  apodiktisch  gewisse 
Geltung  haben,  aber  nicht  darüber  hinaus.  Ob  und  inwieweit  sie 
auch  in  der  objektiv  realen  Sphäre  des  Naturdaseins  und  in  der 
metaphysischen  Sphäre  des  universellen  absoluten  Geistes  Gültig- 
keit haben,  oder  welche  Modifikationen  bei  der  Übertragung  auf 
diese  Sphären  mit  ihnen  vorzunehmen  sind,  ist  nicht  mehr  a  priori 
zu  deduzieren,  sondern  nur  noch  a  posteriori  auf  induktivem 
Wege  zu  bestimmen.  Damit  ist  für  die  Kategorienlehre  ein  ganz 
neuer  Kreis  von  Aufgaben  erschlossen.  Das  Verdienst  dieser 
Unterscheidung  und  neuen  Problemstellung  bleibt  bestehen,  auch 
wenn  die  von  Günther  beigebrachten  Lösungen  zunächst  miss- 
lungen  sind.  Als  Kriterien  für  die  Anwendbarkeit  der  Kate- 
gorien auf  das  Absolute  stellt  Günther  z.  B.  die  Möglichkeit  hin, 
jede  Negativität  auszuscheiden  und  ihren  Inhalt  zu  verabsolutieren. 


Weber. 


349 


Er  selbst  hält  aber  sowohl  in  der  Erklärung  der  göttlichen  Per- 
sonen aus  ihrem  formalen  Wissen    von    ihren  Unterschieden    und 

^Gegensätzen ,  als  auch  in  der  Zusammenfassung  dieser  Negationen 

l^um  Nichtich  die  Negation  im  Absoluten  fest.  Und  seine  Annahme, 
•dass  eine  Relation  unbeschadet  ihres  Relationscharakters  ver- 
absolutiert werden  könne,  wird  schwerlich  jemand  teilen. 

Der  Günthersche  Anspruch  auf  apodiktisch  gewisse  Erkennt- 
nis wird  bei  der  bloss  a  posteriori  erschlossenen  Anw^endbarkeit 
der  Kategorien  in  Bezug  auf  die  Sphäre  der  Natur  und  des  Ab- 
soluten ganz  von  selbst  hinfällig.  Aber  auch  in  Bezug  auf  die 
subjektiv  ideale  Sphäre  des  endlichen  bewussten  Geistes  ist  eine 
ipodiktisch  gewisse  apriorische  Erkenntnis  der  Kategorien  nicht 
aufrecht  zu  erhalten.  Denn  Günther  giebt  zu,  dass  sowohl  das 
Ding  an  sich  als  auch  das  Ich  an  sich  nur  indirekt  erschlossen 
sind,  dass  alles  Erleiden  und  Thätigsein  in  der  Menschenseele 
auf  Wechselwirkung  zwischen  diesen  beiden  (ihr  unmittelbar  un» 
bewussten)  Faktoren  beruht,  dass  die  Kategorien  sich  erst  aus 
dieser  Relation  der  vorbewussten  Faktoren  entwickeln,  und  dass 
das  endliche  Geistesleben  ein  sehr  allmähliches  Emporringen  aus 
dem  Unbewusstsein  zum  Bewusstwerden  ist.    Wie  können  da  die 

fdem  Bewusstseinsinhalt  implicite  immanenten  Kategorien  anders 
als  durch  nachträgliche  Abstraktion  aus  dem  lertigen  Resultat 
des  Bewusstge Wordenseins  zum  ßewusstsein  gebracht  werden? 
Und  wie  kann  dieses  Herauslösen  aus  dem  Vorgefundenen  an- 
ders genannt  w^ erden  als  eine  Erkenntnis  a  posteriori,  die  keines- 

jWegs  irrtumshrei  zu  sein  braucht!  — 

Th.  Weber  (geb.  1836,   altkatholischer  Bischof)  hat  sich  be- 
müht, die  rerstreuten  Gedanken  Günthers  zu  einem  System  der 
letaphysik  zusammenzufassen,  wobei  er  die  Fehler  seines  Meisters 

'so  steigert,  dass  sie  um  so  leichter  als  Fehler  erkennbar  werden. 
Den  Dualismus  zwischen  Gott  und  Welt  und  zwischen  Natur  und 
Geist  hält  er  fest  und  kämpft  gegen  den  Monismus  und  die  Iden- 
titätsphilosophie als  gegen  die  Ursünde  der  Philosophie  und  den 
Giftbaum  der  Erkenntnis.  Dem  modernen  Materialismus,  Natura- 
lismus und  Hylozismus  trägt  er  im  weitesten  Umfang  Rechnung, 
schreibt  den  Atomen  Rezept! vität  und  Reaktivität,  der  Materie 
Empfindungsfähigkeit  und  Vorstellungsvermögen,  den  reinen 
Naturwesen  Fühlen,  Denken,  Wollen  und  die  Anfänge  logischer 
Begriffisbildung  zu,   und   lässt   auch  in   den  geistigen  Wesen  das 


350 


Weber. 


Geistesleben  ans  dem  sinnlichen  Vorstellungsleben  erwachsen,  das 
er  als  ein  blosses  Summationsphänomen  der  Gehirnbethätigung 
betrachtet.  Andrerseits  behandelt  er  auch  den  Geist  als  eine 
räumliche,  raumerfüllende  Substanz  und  erkennt  an,  dass  beide 
Substanzen  als  einheithche  und  ganzheitliche  Principien  vor  ihrer 
Zersplitterung  in  Atome  und  Individualgeister  qualitativ  oder 
wesentlich  einander  vollkommen  gleich  sind.  Damit  löst  der  so 
eifrig  verteidigte  Dualismus  der  Substanzen  sich  in  essentielle 
Identität  auf,  die  nur  durch  eine  verschiedene  Art  der  Spaltung 
und  Zersplitterung  zu  existentiellen  Unterschieden  geführt  wor- 
den ist 

Der  existentielle  Unterschied  des  Geistes  von  der  Natur  soll 
nun  allein  darin  bestehen,  dass  das  Naturwesen  gar  nicht  nach 
Kategorien  denkt,  sondern  bloss  der  Geist.  Diese  Annahme 
widerspricht  der  Intellektualität  aller  Anschauung,  wie  schon 
Schopenhauer  sie  nachgewiesen  hat,  d.  h.  dem  Hervorgehen  der 
Anschauung  aus  unbewussten  kategorialen  Empfindungssynthesen, 
das  ebensogut  im  Tier  und  im  Kretin,  wie  im  Philosophen  statt- 
findet.  Der  Unterschied  ist  also  auch  in  dieser  Hinsicht  nicht 
vorhanden. 

Wenn  das  Seelenleben  des  Tieres  als  blosses  Summations- 
phänomen aus  den  materiellen  Bestandteilen  seines  Centralnerven- 
systems  entspringen  könnte,  so  wäre  kein  Grund  mehr  erfindlichy 
das  Gleiche  beim  Menschen  nicht  auch  für  ausreichend  zu  haltend 
Wenn  die  Materie  überhaupt  denken  kann,  so  ist  nicht  a  priori 
abzusehen,  wie  hoch  ihr  Denken  sich  bei  verfeinerter  Organisa- 
tion erheben  kann.  Wenn  im  Tiergehirn  die  Vielheit  der  thätigen 
Teile  kein  Hindernis  filr  das  Zustandekommen  eines  einheitlicheil| 
Bewusstseins  bildet,  so  ist  nicht  zu  verstehen,  warum  im  Menschen 
noch  ein  neues  Princip  hiozogezogen  werden  soll,  um  diese  Be- 
wusstseinseinheit  zu  ermöglichen.  Wenn  die  Einheit  des  Realen 
und  Idealen,  des  materiellen,  äusserüchen  Daseins  und  des 
geistigen,  innerlichen  Bewusstseins,  in  der  Natur  durch  eine 
petitio  principii  als  gegeben  vorausgesetzt  wird,  so  ist  der  Dualis- 
mus bereits  durch  diesen  Machtspruch  aufgehoben,  und  es  hat 
keinen  Sinn,  ihn*  durch  einen  zweiten  Machtspruch  wieder 
herzustellen- 

Günther  schreibt  den  Tieren  ein  Selbstbewusstsein  zu,  das 
er    allerdings    als    uneigentliches    bezeichnet;    Weber    reserviert 


Weber. 


351 


das  Selbstbewusstsein  dem  Geiste,  unbekümmert  darum,  dass  das 
sogenannte  eigentliche  Selbstbewusstsein  des  Menschen  nur  eine 
graduelle  Steigerung,  Abklärung  und  abstrakte  Konzentration 
des  »uneigentlichen*  Selbstbewusstseins  der  Tiere  ist,  und  dass 
beide  durch  das  Selbstbewusstsein  des  intelligenten,  aber  sprach- 
losen Taubstummen  mit  einander  verknüpft  sind.  Denn  der  Ich- 
gedanke im  Unterschiede  vom  Selbstbewusstsein  ist  sprachlich 
vermittelt,  insofern  die  sprachliche  Fixierung  der  Abstraktions- 
ergebnisse die  Wiederholung  des  Abstraktionsverfahrens  erleichtert 

»und  abkürzt.  Dieser  Ichgedanke  ist  also  nur  ein  letztes  Resultat 
der  Abstraktion  aus  kategorialen  Synthesen,  die  selbst  nur  phä- 
nomenale Anschauungsinhalte  im  Bewusstsein  sind,  und  darum 
eine  subjektiv  ideale  Erscheinung  in  zweiter  Potenz,  die  mu-  als 
Vorstellungsrepräsentant  eines  unbewmsst  seienden  Subjekts  für 
das  Bewusstsein  figuriert. 

Günther  erkennt  dieses  Verhältnis  an,  indem  er  das  Ich 
an  sich  ebenso  wie  das  Ding  an  sich  als  etwas  mittelbar  Er- 
schlossenes, aber  nicht  unmittelbar  Vorgefundenes  und  Erfasstes 
behandelt.  Weber  hat  das  richtige  Gefühl  davon,  dass  bei  sol- 
chem mittelbaren  Erschliessen  des  Ich  an  sich  nicht  nur  jede 
Sicherheit  des  Wissens  fehlt,  sondern  auch  jede  Bürgschaft 
dafür    mangelt,    dass    dasjenige   vorbewusst   Seiende,    was    dem 

.subjektiv  idealen  Ichgedanken  als  bewusstseinstranscendentes 
Korrelat  entspricht,  auch  w^irklich  essentiell  und  substantiell  ver- 
schieden sei  von  der  Substanz,  die  der  objektiv  realen  Erscheinung 
des  Naturdaseins  zu  Grunde  liegt.  Weber  hat  eine  richtige 
Witterung  davon,  dass  dieser  Weg  zum  Monismus  zurückführt, 
und  deshalb  verleugnet  er  die  beste  erkenntnistheoretische  Ein- 
sicht seines  Meisters,  stürzt  sich  Hals  über  Kopf  in  das  cogito 
ergo  sum,  in  die  unmittelbare  Erkennbarkeit  des  Ich  an  sich  als 
Substanz  zurück   und  tadelt  (ebenso  wie  Beneke  es  thut)   Kant. 

[dass  er  das  Ich  für  eine  Erscheinung  gehalten  habe.  Nor  wenn 
der  Mensch  im  Ichgedanken  eine  Substanz  selbst,  und  nicht  etwa 

'  bloss  deren  Vorstellungsrepräsentanten  erfasst,  hat  er  die  Gewiss- 
heit davon,  erstens,  dass  diese  Substanz  geistig  und  zweitens, 
dass  sie  monadisch,  d.  h.  nicht  bloss  Bestandteil  oder  Moment 
einer  universellen  Substanz,  sondern  individuell  in  sich  abge- 
schlossen und  als  Substanz  selbstständig  ist* 

Der  Dualismus  zwischen  Gott  und  Welt,    Schöpfer  und  Ge- 


352 


Deutinger, 


schöpf  ist  bei  Weber  lediglich  eine  Konsequenz  von  der  unmittel- 
baren Selbsterfassung  der  monadischen  Substanz  im  Ichgedanken 
und  steht  und  fällt  mit  dieser.  Dasselbe  gilt  von  der  individuellen 
Unsterblichkeit.  Mit  alledem  findet  nur  die  Metaphysik  der  Leib- 
nizschen  Schule  des  achtzehnten  Jahrhunderts  eine  Restauration 
und  der  Grundgedanke  des  gesamten  Theismus  seine  schärfste 
Zuspitzung.  Dabei  wird  die  Unhaltbarkeit  dieser  Spitze,  auf 
welcher  der  ganze  Theismus  balancieren  soll,  recht  deutlich, 
während  sie  bei  anderen  Theisten  in  Phrasenschwall  verhüllt  und 
durch  allerlei  Zuthaten  mehr  oder  weniger  verschleiert  ist.  Nur 
wenn  das  Ich  des  endlichen  beschränkten  Geistes  irrtümlich  für 
die  Substanz  dieses  Geistes  angesehen  wird,  kann  man  auf  den 
Gedanken  kommen,  die  Identität  von  Substanz  und  Ich  von  dem 
beschränkten  Individuum  auf  das  Absolute  zu  übertragen.  — 

Deutinger  (1815 — 1864)  ist  ein  persönlicher  Schüler  Schellings 
und  Baaders»  aber  fast  noch  mehr  durch  Günther  und  Hegel  be- 
stimmt. Von  Baader  entlehnt  er  die  Betonung  des  Willens,  von 
Schellin g  die  Art  seiner  Dialektik  und  die  Identität  des  Idealen 
und  Realen,  des  Denkens  und  Seins  im  Absoluten,  von  Günther 
die  Konstruktion  der  Trinität,  von  Hegel  den  Hang  zum  syste- 
matischen Ausbau  der  Philosophie  und  das  Streben  nach  synthe- 
tischer Überwindung  der  in  den  Vorgängern  aufgetretenen  Ge* 
gensätze.  Deutinger  ist  der  abgeschlossenste  Systematiker  des 
spekulativen  Theismus,  der  alle  Gebiete  der  Philosophie  bearbeitet 
hat;  aber  er  ist  ein  mehr  feiner  als  starker  Geist,  der  bereits 
einen  eklektischen  Zug  aufweist  und  die  Philosophie  eigentlich 
nur  auf  dem  Gebiete  der  Ästhetik  erheblich  gefördert  hat  Mit 
Baader,  Günther  und  Weber  teilt  er  den  Glauben  an  die  Ver- 
söhnbarkeit  des  katholischen  Dogmas  mit  der  philosophischen 
Wissenschaft  und  die  altkatholische  Tendenz.  Von  Baader  unter- 
scheidet er  sich  durch  sein  systematisches  und  abgeklärtes  Denken, 
von  Güntlier  dadurch,  dass  er  den  Cartesianischen  Duahsmus  der 
zw^ei  Substanzen  verwirft  und  durch  die  Schellingsche  Identitäts- 
philosophie überwindet  An  Hegel  bekämpft  er  die  Widerspruchs- 
dialektik, den  einseitigen  Intellektualismus  und  den  alle  wahre 
Individualität  vernichtenden  Absolutismus. 

Die  Einheit  von  Sein  und  Denken  ist  nach  Günther  ver- 
mittelt durch  das  Wollen;  Sein,  Erkennen  und  Wollen  sind  in 
ihrer  Einheit  erst  die  ganze  und    eigentliche  Hypostase   d^  Be* 


Deutmger« 


353 


wusstseins.  Wie  das  Sein  die  Voraussetzung  des  Erkennens»  so 
ist  dieses  die  Voraussetzung  des  Wollens.  Nur  das  Seiende  ver- 
mag zu  erkennen,  nur  das  Erkennende  vermag  zu  wollen.  Das 
dn  ist  der  ewige  Grund  der  geistigen  Persönlichkeit;  dieser 
^ersönlichkeitsgrund  heisst  Geist.  Das  Dasein  dagegen  ist  nur 
der  notwendige  Grund  für  die  Vermittelung  der  geistigen  Per- 
sönlichkeit, weil  das  Erkennen  und  Wollen  eines  ihm  gegenüber- 
stehenden Objekts  bedarf;  dieser  notwendige  Grund  heisst  Natur, 
und  hat  weder  Fürsichsein  noch  Selbstbestimmung,  sondern  nur 
ein  unselbständiges  Sein  für  Anderes»  ein  Sein  der  Erscheinung. 
Damit  ist  der  Natur  die  Substantialität  abgesprochen;  sie  ist  wie 
in  Schellings  erstem  System  nur  eine  subjektiv  ideale  Erschei- 
nung für  den  Geist,  in  welcher  dieser  sich  vergegenständlicht 
anschaut,  wie  der  individuelle  Einzelgeist  in  dem  Vorstellungs- 
objekt seines  Leibes.  Die  Wechseldurchdringung  des  Seins  und 
Daseins,  des  Geistes  und  der  Natur,  des  Wesens  und  der  Er- 
scheinung ist  die  lebendige  Bewegung.  Wie  dem  ewigen  und 
dem  notwendigen  Grund  im  Individuum  Geist  und  Leib  ent- 
sprechen, so  entspricht  der  lebendigen  Bewegung  und  Wechsel- 
durchdringung beider  die  Seele. 

Im  Menschen  kommt  das  Bewusstsein  erst  durch  einen  zeit- 
lichen Vorgang  zustande,  nämlich  durch  die  Unterwerfung  des 
Naturgrundes  unter  den  Persönhchkeitsgrund  in  der  vermittelten 
Subjekt -Objektivität.  Hier  stehen  Sein  und  Erkennen  ebenso 
wie  Sein  und  Wollen  sich  als  relative  Gegensätze  gegenüber,  die 
erst  eine  Vermittelung  suchen  und  finden;  das  Bewusstsein  ent- 
springt hier  aus  dem  Zusammenwirken  von  lauter  an  sich  selbst 
unbewussten  Faktoren.  Im  Absoluten  soll  das  anders  sein,  d.  h. 
Gottes  Erkennen  und  Gottes  freies  Wollen  sollen  absolut  identisch 
sein  mit  dem  Sein.  Das  ist  aber  nur  möglich,  wenn  er  über  alle 
Gegensätze  erhaben  ist  Das  Absolute  steht  >über  dem  Denken«  ^ 
und  ausserhalb  aller  Kategorien ;  es  ist  deshalb  auch  unbegreiflich, 
dem  Denken  unergründlich  und  nur  soweit  Gegenstand  des  Nach- 
denkens, als  es  sich  geoffenbart  hat  »Das  wirklich  Erkennende, 
die  Erkenntnis  Vermittelnde  und  die  vermittelte  Erkenntnis  als 
Bewusstsein  Besitzende  steht  über  dem  Bewusstsein, *  Dies 
gilt  schon  für  den  endlichen  Geist,  wie  viel  mehr  muss  es  für  den 
absoluten  gelten.  Aber  Deutin ger  zieht  daraus  nicht  die  Folge- 
rung,  dass  im  Absoluten  das  Erkennen  und  Wollen  ebenso   wie 

£.  ?.  HartmaDD,  Ausg««.  Werk«.    Bd.  XU.  23 


354 


Deutingcr. 


das  Sein  als  ein  über  die  Gegensätze  erhabenes  auch  über  dem 
Bewusstsein  bleiben  muss  und  nur  in  den  endlichen  Geistern  in 
die  Gegensätze  und  durch  sie  auch  ins  Bewusstsein  eingeht  Er 
verkennt,  dass  das  Absolute  nach  seiner  eigenen  Darstellung  ira 
endlichen  Geiste  das  Ich  oder  Selbstbewusstsein  keineswegs  un- 
mittelbar setzt,  sondern  nur  die  uobcwussten  Bedingungen,  aus 
deren  Zusammenwirken  das  Bewusstsein  entspringt.  Er  kann 
sich  von  dem  Gedanken  nicht  losreissen,  dass  das  Absolute,  um 
im  endlichen  Geiste  ein  Ich  oder  durch  Gegensätze  vermitteltes 
Selbstbewusstsein  setzen  zu  können,  selbst  ein  Ich  oder  Selbst- 
bewusstsein schon  sein  müsse  ^  wenn  auch  ein  über  die  Gegen- 
sätze erhabenes.  Diese  Ansicht  hebt  aber  den  Unterschied 
von  Ursache  und  Wirkung  und  damit  jedes  wirkliche  Wer- 
den   auf. 

An  der  Güntherschen  Trinitätslehre  bringt  Deutinger  nur 
die  Modifikation  an»  dass  er  das  ewige  Wechselgespräch  des 
Vaters  und  des  Sohnes  nicht  bloss  als  einen  logischen  Prozess 
des  Gleichsetzens  zweier  Gleichsätze,  sonderri  im  Anschluss  an 
Augustinus  zugleich  als  Wechselliebe  auflFasst  Damit  kommt 
allerdings  zu  dem  logischen  Verhältnis  eine  reale  Gefühlsbeziehuog 
hinzu;  aber  es  ist  schwer  zu  verstehen,  was  das  abstrakte  Subjekt 
und  Objekt  an  einander  Liebenswertes  finden  sollen.  Höchstens 
könnte  die  Liebe  der  Ausdruck  einer  Sehnsucht  danach  sein,  die 
durch  den  Erkenntnisprozess  herbeigeführte  Verdoppelung  und 
Entzweigung  des  Absoluten  als  etwas  NichtscinsoUendes  w^ieder 
aufzuheben  und  zur  einfachen  Einheit  zurückzuführen.  Aber  das 
würde  nicht  zu  einer  Auffassung  passen,  welche  die  Verdoppelung 
als  ewig,  also  unauf hebbar  ansieht  So  anerkennenswert  das 
Bemühen  ist,  auch  der  dritten  Person  ein  Realitätsmoment  zuzu- 
führen, so  wenig  kann  es  statthaft  scheinen,  in  die  innergöttlichen 
Beziehimgen  der  drei  Personen  anthropopathische  Gefühle  wie 
die  Liebe  hineinzuverlegen. 

Die  Welt  als  das  Nichtich  Gottes  zu  behandeln,  diesen  Ge- 
danken von  Günther  hat  Deutinger  nicht  übernommen.  Er  ent- 
geht damit  allerdings  allen  den  Schwierigkeiten,  in  die  sich 
Günther  durch  diese  Behauptung  verwickelt,  büsst  damit  aber 
auch  die  Schärfe  des  Gegensatzes  zwischen  Gott  und  Welt  ein, 
durch  die  sich  der  Günthersche  Theismus  vor  allen  anderen  Ge- 
stalten des  Theismus   auszeichnet.     Deutinger  stellt  hiernach  eine 


Die  Vertreter  der  Phantasie. 


355 


Vermittelung  zwischen  dem  strengen  Theismus  Günthers  und 
dem  semipantheistischen  Theismus  oder  Persönlichkeitspantheisraus 
der  Krause»  Weisse,  I.  H.  Fichte  u,  s,  w,  dar.*) 


5*  Die  Vertreter  der  Phantasie. 

Im  Gegensatz  zu  der  rein  logischen  Auffassung  des  absoluten 
Denkens  bei  Hegel  hatte  Schelling  von  jeher  eine  mehr  ästhe- 
^  tische  Ansicht  von  der  intellektuellen  Anschauung  festgehalten 
und  schon  in  der  Abhandlung  über  die  Freiheit  im  Anschluss  an 
Böhme  von  einer  Imagination  in  Gott  gesprochen,  die  er  als  den 
dem  Willensprincip  eigentümlichen  Verstand  ansah.  Im  Anschluss 
an  die  Baadersche  und  Schellin gsche  Erneuerung  Böhmes  suchte 
Weisse  die  rein  logische  Idee  Hegels  durch  eine  ästhetische  Phan- 
tasieanschauung in  Gott  zu  ergänzen.  L  H.  Fichte  behandelte  die 
[objektive  Phantasie  als  die  Haupteigenschaft  der  unbewussten 
I  Individualseele  und  suchte  in  ihr  den  Erklärungsgrund  des  or- 
ganischen Lebens,  der  Naturheilkraft,  des  Instinkts  ebensogut  wie 
den  des  künstlerischen  SchafiFens.  Frohscham  mer  fasste  diese 
beiden  Leistungen  seiner  Vorgänger  in  Eins  zusammen,  indem  er 
die  Phantasie  sowohl  im  Ein  zelleben  als  auch  im  ganzen  Welt- 
lauf als  alleiniges  Erklärungsprincip  hinstellte  und  die  Weltphan* 
tasie  mit  der  Weltseele  Giordano  Brunos  gleichsetzte.  Deshalb 
schien  es  mir  geboten,  diese  drei  Theisten  in  eine  Gruppe  zu- 
sammenzufassen. 

Erst  bei  Frohschammer  wird  die  Phantasie  zum  Weltprincip 
erhoben,  wobei  sich  dann  aber  auch  sogleich  zeigt,  dass  auf  dieser 
Grundlage  der  Theismus  nur  durch  einen  Machtspruch  des  reli- 
giösen Bewusstseins  aufrecht  erhalten  werden  kann.  Bei  Weisse 
und  Fichte  wird  die  Phantasie  nur  als  ein  Princip  neben  anderen 
und  unter  anderen  betont;  aber  es  ist  doch  zu  beachten,  dass  in 
ihr  gerade  das  relativ  Neue  und  Bedeutungsvolle  liegte  das  Weisse 
und  Fichte  herzubringen,  und  dass  die  beiden  Werke,  in  denen 
die  Bedeutung  der  Phantasie  herausgestellt  ist,  Weisses  Ästhetik 


*)  Vgl  Die  deutsche  Ästhetik  seit  Kant,  S.   169 — ^t^. 


356 


WebK. 


und  Fichtes  Anthropologie,  diejenigen  Werke  ihrer  Verfasser  ge- 
blieben sind,  die  am  meisten  Verbreitung  und  Wirksamkeit  erlangt 
haben.  Weisse  ist  wohl  der  tiefere  Denker  von  beiden,  aber  auch 
der  schwerfälligere,  und  ist  durch  den  Glauben  an  die  methodO' 
logische  Richtigkeit  der  Hegeischen  Dialektik  gefesselt  Inhalt- 
lich stehen  Weisse  und  Fichte  einander  bis  zum  Jahre  1846  in 
ihren  theosophischen  Spekulationen  sehr  nahe  und  dem  heutigen 
Zeitgeist  gleich  fern.  Weisse  hat  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts 
sich  immer  tiefer  in  ein  Mittelding  von  christlicher  Theologie  und 
theosophischer  Religionsphilosophie  eingesponnen  und  sich  damit 
dem  Zeitgeist  immer  mehr  entfremdet,  während  Fichte  unter  dem 
Einfluss  von  Fechner,  Lotze  und  Ulrici  seine  überlegene  schrift- 
stellerische Gewandtheit  immer  mehr  in  den  Dienst  moderner 
Strömungen  stellte.  Frohscham mer  trat  mit  seinen  philosophischen 
Schriften  zu  Gunsten  der  Weltphantasie  erst  von  1877  ab  hervor, 
als  die  Philosophie  des  Unbewussten  bereits  in  sieben  Auflagen 
ihre  Wirksamkeit  auf  die  Zeitgenossen  entfaltet  hatte.   — 

Weisse  {löoi— 1866)  bezeichnet  die  Dialektik  der  drei  Ideen 
der  Wahrheit,  Schönheit  und  Gottheit,  durch  welche  die  erste  in 
die  zweite  und  diese  wieder  in  die  dritte  umschlägt,  als  das 
Grundaper^u,  welches  ihn  über  Hegels  Panlogismus  iiinaustrieb. 
Diese  drei  Ideen  hat  er  aber  von  Solger  entlehnt,  indem  er  die 
zweite  Solgersche  Idee,  die  der  Güte,  zunächst  beiseite  schob, 
oder  in  der  dritten,  der  Idee  Gottes,  enthalten  dachte.  Später 
kehrt  auch  Weisse  dazu  zurück,  die  Idee  der  Güte  neben  der  der 
Wahrheit  und  Schönheit  festzuhalten,  aber  nun  als  dritte,  an  der 
Stelle,  wo  vorher  die  Idee  Gottes  gestanden  hatte.  Gott  erhebt 
er  dann  als  realen  über  die  drei  Ideen.  Weisse  entlehnt  auch  das 
von  Solger,  dass  es  die  Liebe  ist,  worin  sich  die  Selbstaufopferung 
der  Erscheinung  in  das  Wesen  bekundet;  nach  Weisse  ist  es  die 
Liebe,  in  welcher  der  Geist  selbst  sich  und  anderen  zum  schönen 
Gegenstande  wird  und  damit  über  die  ästhetische  Idee  zu  Gott 
als  dem  LTrquell  der  Liebe  hinüberführt.  Dagegen  macht  Weisse 
keinen  Gebrauch  davon,  dass  bei  Solger  der  Umschlag  der  Idee  der 
Schönheit  in  die  der  Gottheit  sich  unter  ästhetischem  Gesichtspunkt 
als  die  ironische  Selbstauflösung  der  Erscheinung  in  das  Wesen  dar- 
stellt Darin,  dass  er  die  ästhetische  Auffassung  über  die  wissen- 
schaftliche, die  konkrete  Schönheit  über  die  abstrakte  Wahrheit 
stellt,  folgt  er  den  Bahnen  des  jugendlichen  Schelling,  darin,  dass 


I 


Weisse. 


357 


Sie  religiöse  Auffassung  wieder  über  die  ästhetische,  die  Idee 
ier  absoluten  Liebe,  oder  Güte,  oder  Gottheit  über  die  der  Schön- 
heit stellt,  denen  des  reiferen  Schelling,  in  beiden  den  Spuren  der 
Romantik.  Der  Übergang  der  Idee  der  Wahrheit  in  die  der 
Schönheit  fällt  ihm  mit  der  Überwindung  des  Hegeischen  Pan- 
logismus  zusammen,  den  er  mit  Recht  als  eine  Übertreibung  des 
Kantschen  Apriorismus  bezeichnet 

Er  wirft  Hegel  vor,  dass  er  die  denkende  Selbstthätigkeit 
des  freien  Geistes  nach  logischen  Denk  formen  und  dialektischer 
Denknotwendigkeit  mit  einer  dialektischen  Selbstbewegung  des 
Begriffs  verwechsle,  dass  er  die  noch  unwirkliche  und  unpersön- 
liche rein  logische  Idee  schon  als  das  Wahre  und  als  Gott  be- 
handle und  in  dem  Übergang  der  abstrakt  logischen  Idee  zur 
konkret  realen  Weltidee  einen  Abfall,  ein  sich  untreu  Werden, 
ein  Herabsinken  der  Idee  in  eine  niedere,  ohnmächtigere  und 
unlebendigere  Sphäre  sehe,  anstatt  in  ihr  eine  positive  Evolution, 
eine  Entfaltung  ihrer  abstrakten  ewigen  Möglichkeiten  zur  kon- 
kreten Lebendigkeit  zu  erblicken.  Die  Fülle  der  raunizeitlichen 
Unendlichkeit  ist  nicht,  wie  Hegel  meint,  etwas  Schlechteres, 
sondern  etwas  Besseres  und  Reicheres  als  das  ewige  Ineinander 
der  blossen  Alöglichkeiten ,  in  welchem  die  logische  Idee  sich 
erschöpft,  Soll  Gott  in  dem  absoluten  Prius  des  Weltprozesses, 
in  der  Totalität  der  reinen  Denkbestimmungen  gesucht  werden, 
so  bleibt  er  eine  unzeitliche  und  darum  unpersönliche  blosse  Mög- 
lichkeit Soll  er  dagegen  in  demjenigen  gesucht  werden,  was  aus 
dem  realen  Weltprozesse  resultiert,  dann  sinkt  er  zu  einem  Pro- 
dukt des  raumzeitlichen  Aussereinander  in  der  Welt  herab.  Die 
Sehnsucht  der  Theisten  aber  verlangt  nach  einem  Gott,  der  schon 
als  Prius  des  Weltprozesses  persönlich  ist,  und  da  der  Hcgelsche 
Panlogismus  diesen  nicht  zu  bieten  hat,  muss  er  überwanden 
werden. 

Mit  Schelling  stimmt  Weisse  darin  überein,  dass  die  Welt  sich 
nicht  in  ein  System  von  objektivierten  Gedanken  auflösen  lässt^ 
sondern  überall  ein  dunkler  Rest  bleibt,  der  auf  eine  andere 
Quelle  als  die  logische  Idee  zurückweist,  dass  der  rationale 
Apriorismus  nicht  weiter  als  bis  zum  Begriff  eines  möglichen 
Absoluten  führt,  der  sich  gegen  den  Begriff  des  wirklichen  Gottes 
negativ  verhält,  und  dass  dieser  positive  Begriff  des  w^irklichen 
Gottes  erst  aus  der  Erfahrung  geschöpft  werden  kann,  d.  h.  aus 


358 


Wdsse. 


der  Welt,  in  der  Gott  sich  als  wirklicher  offenbart.  Es  muss  also 
wie  bei  Schelling-  Apriorismus  und  Ausgang  von  dem  a  posteriori 
Gegebenen  sich  verbinden,  um  zu  Gott  zu  gelangen.  Der  onto- 
logische  Beweis  führt  nur  zu  dem  Inbegriff  der  logischen  Mög-  ^ 
lichkeiten,  dem  ewigen  Ineinander  der  reinen  Denkbestimmungen 
und  Denkgesetze,  die  zugleich  den  Rahmen  ausspannen,  inner- 
halb dessen  sich  jede  verwirklichende  Freiheit  tummeln  muss. 
Denn  auch  dasjenige  ist  durch  die  Beschaffenheit  des  Logischen 
vorher  bestimmt,  was  logisch  unmöglich  ist.  und  damit  indirekt 
auch  dasjenige,  dessen  Gegenteil  logisch  unmöglich  ist,  das  also 
selbst  logisch  notwendig  ist  So  greift  der  Inbegriff  der  logischen 
Möglichkeiten  über  das  System  der  Vernunftformen  hinaus  und 
konstituiert  zugleich  das  System  der  ewigen  apriorischen  Wahr- 
heiten, die  von  Gottes  Willen  unabhängig  sind,  weil  sie  das  Prius 
des  wirklichen  Gottes  sind.  Aber  das  so  Gewonnene  ist  einer- 
seits nichts  Wirkliches»  andererseits  könnte  es  ebensogut  der 
Teufel  wie  Gott  sein,  d,  h.  es  hat  noch  keine  ethische  Beschaffen- 
heit Dass  ihm  Wirklichkeit  zugeschrieben  werden  muss,  lehrt 
der  kosraologische  Bew^eis.  dass  ihm  auch  ethische  Beschaffenheit 
zugeschrieben  werden  muss,  lehrt  der  moralische  oder  ethikolo- 
gische  Beweis.  Den  teleologischen  Beweis  hingegen  lässt  Weisse 
nur  als  eine  sekundäre  Ergänzung  und  nähere  Bestimmung  desJ 
kosmologischcn  gelten,  und  wirft  L  H,  Fichte  vor,  dass  er  nach] 
Art  der  Popularphilosophen  dem  teleologischen  Beweis  viel  zu 
viel  Gewicht  beimesse.  Andererseits  wirft  er  ihm  vor,  dass  er 
den  rationalen  Apriorismus  unterschätze,  der  zur  Feststellung  des 
Systems  der  ewigen  Wahrheiten  als  des  eigentlichen  Inhalts  des 
Absoluten  unentbehrlich  sei. 

In  diesem  methodologischen  Dualismus  von  rationalem  Aprio- 
rismus und  empirischer  Induktion  ist  Weisses  System  ein  Seiten- 
stück zu  Schellings  positiver  Philosophie,  die  er  nur  aus  den 
seiner  Zeit  veröffentlichten  Andeutungen  kannte.  Auch  in  Bezug 
auf  den  Grund  der  positiven  Wirklichkeit  stehen  Weisse  und 
Schelliög  auf  gleichem  Boden,  indem  sie  ihn  in  der  Freiheit  eines  j 
absoluten  Willens  suchen;  aber  während  bei  Schelling  die  Imagi- ^ 
nation  nur  eine  untergeordnete,  wenig  beachtete  Rolle  als  Moment 
innerhalb  des  Willens  spielt,  tritt  sie  bei  Weisse  als  vermittelndes 
Glied  zwischen  den  Inbegriff  der  logischen  Möglichkeiten  und 
die  Freiheit  des  absoluten  Willens,  indem  die  abstrakte  logische 


Weisse, 


Idee  der  M^ahrheit  sich  erst  zur  konkreten  intuitiven  Idee  der 
Schönheit  räum  zeitlich  entfalten  muss,  ehe  diese  durch  die  Liebe 
in  die  ethische  Idee  der  Güte  umschlägt 

Auch  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  strebt  Weisse  paraUel 
mit  Schelling  die  Einseitigkeit  des  transcendentalen  Idealismtis 
zu  überwinden.  Er  bestreitet,  dass  es  Kant  gelungen  sei,  die 
Vernunftformen  vollständig  und  in  ihrem  wahren  Zusammenhange 
darzulegen»  wenn  ihm  auch  das  Verdienst  bleibe,  sie  als  Formen 
von  ihrem  Inhalt  gesondert  und  die  blosse  Formalität  des  wahr- 
haft Apriorischen  zuerst  nachgewiesen  zu  haben.  Seine  Sonderung 
in  Anschauungsformen,  reine  Verstandesbegriffe  und  Vernunft- 
ideen sei  falsch  und  von  ihm  selbst  thatsächlich  umgestossen. 
Denn  in  den  Anschauungsformen  nehme  er  die  Unendlichkeit  und 
unbedingte  Notwendigkeit  vorweg,  die  er  doch  für  das  Merkmal 
der  Vernunftideen  erklärt,  den  Kategorien  des  Seins  und  der 
Kausalität  gestehe  er  eine  innere,  nicht  bloss  äussere  Beziehung 
auf  die  Vernunftidee  des  Absoluten  oder  durch  sich  selbst  Seien- 
den zu.  und  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  lasse  er  eine  organische 
Einheit  der  drei  Gruppen  wenigstens  von  ferne  ahnen.  Kant  habe  die 
relative  Unerkenn barkeit  des  eigentlich  Realen  der  Dinge  durch 
apriorische  Vemunfturteile  mit  der  absoluten  Unerkennbarkeit 
der  Dinge  an  sich  durch  die  Verbindung  einer  gereinigten  Vernunft- 
und  Erfahrungserkenntnis  verwechselt  und  habe  irrtümlich 
geglaubt,  diese  Unerkennbarkeit  der  Dinge  an  sich,  die  ihm  vor 
der  Untersuchung  schon  feststand,  seiner  Untersuchung  der  Er- 
kenntnisformen als  Ergebnis  zu  verdanken.  Schon  die  auf  Kant 
folgenden  Systeme  hätten  durch  Hereinziehung  der  geschicht- 
lichen und  geistigen  Empirie  unsere  Erkenntnis  w^esentlich  um- 
gestaltet und  nur  eine  entsprechende  Einwirkung  der  natur- 
wissenschafth'chen  Erfahrungserkenntnis  auf  die  Philosophie  sei 
zur  Zeit  noch  bestritten.  — 

In  dem  festgehaltenen  Subjektivismus  der  Kantischen  Lehre 
von  den  Anschauungsformen  findet  Weisse  eine  Hauptwurzel 
selbst  noch  der  neuesten  spekulativen  Irrungen;  denn  der  Sub- 
jektivismus der  reinen  Denkformen  war  von  Fichte,  Schelling 
und  Hegel  längst  überwunden.  Ihm  steht  es  fest,  dass  die  Per- 
sönlichkeit nicht  ohne  Leben  oder  realen  Prozess  und  dieser  nicht 
ohne  Zeitlichkeit  möglich  ist,  dass  daher  die  reale  Zeit-  und 
Raumerfüllung  in  Gott  selbst  schon  vor  der  Weltschöpfiing  er- 


36o 


Wdiw. 


folgen  muss,  wenn  Gott  als  Prius  des  Weltprozesses  eine  reale 
Person  sein  soll.  Danach  ist  es  Bedingung  für  die  Persönlichkeit 
Gottes,  dass  die  Idee  der  Wahrheit  in  die  Idee  der  Schönheit 
dialektisch  umschlägt,  dass  die  Schönheit  die  »aufgehobene  Wahr- 
heit« oder  die  höhere  Wahrheit  der  Idee  der  Walirheit  ist.  Die 
nächste  Wirklichkeit  der  Idee  der  Schönheit  ist  aber  die  Phan- 
tasie, Einbildungskraft,  Bildkraft  oder  Imagination. 

Die  richtige  Einsicht,  die  Weisse  damit  zur  Geltung  bringt 
lässt  sich  dahin  zusammenfassen»  dass  das  logische  Formalprincip. 
oder   das   Logische   schlechthin    ohne  Jeden    aktuellen    Inhalt   ist 
und  in  seiner  zeitlosen  Ewigkeit  die  blosse   logische  Möghchkeit 
alles  dessen  in  sich  schliesst,  was  eventuell  bei  der  Entfaltung  zur 
aktuellen  konkreten  Idee  oder  intellektuellen  Intuition    an  Inhalt 
hervortreten    kann.     Dasjenige,    was   erst    in    Wahrheit    die    Be- 
zeichnung Idee  verdient,  ist  die  inhaltlich  erfüllte,  intuitive,  kon- 
krete,   aktuelle  Idee,   die   als   solche    schlechterdings  auch  eineiig 
räumlichen  und  zeitlichen  Inhalt  haben    muss,    zu    welchem    sich" 
die    Kategorien   als  bloss  formale  Denkbestimmungen   verhalten. 
Da    das  Logische    als   Inbegriff   der    ewigen    logischen    Möglich- 
keiten und  Unmöglichkeiten  oder  die  göttliche  Vernunft  von  Hegel  i 
missbräuchlich  bereits  als  Idee  (wenn  auch  als  rein  logische  odef  j 
abstrakt  logische  Idee)   bezeichnet   w^ar,    so   lag   es  Weisse  nahe«] 
die  aktuelle,  konkrete,  mit  raumzeitlichem  Inhalt  erfiillte  Idee  ihrer 
Anschaulichkeit  wegen  als  Idee  der  Schönheit  oder  als  ästhetische 
Idee  der  Phantasie  zu  bezeichnen. 

Ob  diese  Bezeichnung  haltbar  ist,  das  ist  eine  andere  Frage; 
denn  schön  und  ästhetisch  darf  nur  die  sinnliche,  subjektiv-ideale 
Anschauung,  das  rezeptive  Abbild  der  Idee  heissen,  aber  nicht  die  un- 
sinnliche, übersinnliche,  intellektuelle»  intelligible  Anschauung  der 
absoluten  Idee,  das  ideale  Urbild  allen  Scheins.  Eine  zweite 
Frage  ist,  ob  Weisse  darin  recht  hat,  mit  Schelling  die  raum- 
zeitlich erfüllte,  aktuelle,  konkrete  Idee  als  ein  intelligibles  Um*J 
versum  vor  die  Schöpfung  der  Welt  an  einen  gleichsam  über-^ 
himmhschen  Ort  zu  versetzen  und  so  dem  abstrakten  Idealismus 
zu  verfallen,  oder  ob  nicht  beiden  gegenüber  Hegel  recht  hat, 
der  sie  sogleich  als  die  der  Welt  immanente  Idee  auffasst.  Wenn 
Schelling  an  einem  über  weltlichen  intelligiblen  Ideenkosmus  fest- 
hielt, so  war  es,  weil  er  ihn  als  ein  intelligibles,  ewiges,  raum- 
und   zeitloses  Ineinander  der  räum-    und   zeitlosen  Ideen    ansah: 


36i 

wenn  aber  Weisse  diesen  Ideenkosmos  raumzeitlich  ausgebreitet 
und  in  Gott  realisiert  denkt,  so  durfte  es  schwierig  sein  zu  be- 
greifen, wie  der  jeweilig  aktuelle  und  realisierte  Inhalt  der  Idee 
davon  abgehalten  w*erden  soll,  zugleich  jeweiliger  Weltinhalt  zu 
sein,  wie  Hegel  es  annimmt.  Wenn  Weisse  sich  dieser  Konse- 
quenz widersetzt,  so  ist  es  nur  aus  Scheu  gegen  den  Pantheismus, 

Wenn  das  Logische  oder  die  göttliche  Vernunft  erst  die 
Möglichkeit  der  Ideen  enthält,  so  enthält  die  ästhetische  Idee 
oder  die  göttliche  Phantasie  erst  das  inhaltliche  Princip,  die 
innergötthche  Natur,  das  Was  der  Wirklichkeit;  die  P'orm  der 
aussergöttlichen  und  kreatürlichen  Existenz,  das  Dass  des  Daseins 
hingegen  muss  erst  der  Wille  herzubringen,  der  als  göttlicher 
Schöpferwüle  frei  ist.  Wenn  aber  erst  der  Wille  die  Form  der 
Realität,  das  Dass  der  Existenz  zur  Idee  herzubringt,  wie  kann 
dann  dem  Inhalt  der  ästhetischen  Idee  schon  vor  der  Schöpfung, 
also  vor  Eintritt  des  sie  realisierenden  Willens  Realität  zuge- 
schrieben werden?  Hat  Weisse  da  nicht  ideelle  Aktualität  mit 
Realität  verwechselt?  Kann  die  Aktualität  der  Idee  in  Gott  an- 
genommen werden,  so  lange  keine  Aktualität  des  WoUens  in  ihm 
besteht?  Und  kann  die  Aktualität  der  Idee  in  Verbindung  mit 
der  Aktualität  des  Wollen s  eine  andere  Wirklichkeit  ergeben,  als 
die  der  Welt,  die  dann  freilich  eine  innergöttliche  bleibt»  ebenso 
wie  die  Idee  als  aktuelle  eine  rein  innerweltliche  ist? 

Weisse  setzt  irrtümUch  die  göttliche  Vernunft  oder  das  noch 
unentfaltete  Logische  mit  Schellings  Urgrund  gleich,  der  doch 
vielmehr  dem  Willen,  also  seinem  dritten  Princip,  entspricht. 
Femer  bezeichnet  er,  ähnlich  wie  Eckhart,  das  intelligible  Uni* 
versum  oder  die  aktuelle  Idee  als  die  ?•  Natur  in  Gott«,  während 
Böhme,  Baader  und  Schelling  den  blinden  Willen  meinen,  wenn 
sie  von  der  Natur  in  Gott  sprechen  (vgL  Band  I  dieses  Werkes 
S,  254,  256,  335 — 336).  Diese  terminologischen  Abweichungen 
mnd  der  Grund,  weshalb  die  Anhänger  Böhmes,  Baaders  und 
Schellings  und  diejenigen  Eckharts  und  Weisses  einander  gar 
nicht  verstehen:  denn  sie  verbinden  mit  denselben  Worten  einen 
ganz  verschiedenen  Sinn.  Ferner  nennt  Weisse  das  intelligible 
Universum  der  göttlichen  Phantasie  auch  die  Materie  oder  den  StoflF 
in  Gott»  weil  sie  der  Inhalt  ist,  zu  dem  sich  der  ihn  realisierende 
Wille  als  Form  verhält,  und  weil  er  inhaltliches  und  stoffliches 
Princip   identifiziert     Die  Idee  wird    also  erstens  real,   zweitens 


362 


WeiÄSt» 


Natur  und  drittens  Materie  genannt  und  als  reale,  materielle 
Natur  in  das  Gegenteil  ihrer  selbst  verkehrt. 

Auffallend  ist  ferner »  dass  Weisse  der  göttlichen  Phantaae 
Empfindung,  Gefühl,  Gemüt  und  Charakter  zuschreibt  Empfin- 
düng  soll  allerdings  hier  unsinnlich»  Gefühl  nicht  rezeptiv,  sondern 
spontan  und  rein  geistig»  Gemüt  als  die  Fülle  der  durch  den 
Liebewnllen  an  die  Geschöpfe  mitteilbaren  Gestalten  verstanden 
werden.  Aber  alle  diese  Begriffe  lassen  sich  gar  nicht  von  der 
Beteiligung  des  Willens  isoheren  und  verlieren  Uire  Bedeutung  im 
Absoluten»  wo  die  Rezeptivität  ausgeschlossen  ist.  Richtig  ist  da- 
gegen, dass  in  der  Idee  die  Stätte  eines  noch  unbewussten  teleolo- 
gischen Prozesses  ist,  der  die  unentbehrliche  Vorbedingung  für  eine 
etwaige  bewusste  Teleologie  bildet  In  der  göttlichen  Vernunft 
soll  un bewusste  logische  Notwendigkeit,  in  der  göttlichen  Phan- 
tasie unbewusste  Freiheit  (d,  h.  unbewusste  Teleologie)  und  erst  im 
göttlichen  Willen  bewusste  und  selbstbewu&ste  Freiheit  herrschen.  — 

s^ Gott  kann  nur  Person  sein,  wenn  er  nicht  bloss  eine  Person 
ist;  denn  die  Person  ist  nur  dadurch  Person,  dass  sie  andere 
Personen  gleichen  Wesens  und  gleicher  Substanz  sich  gegenüber 
hat«  Nur  der  Beweis  der  Dreieinigkeit  und  Drei  persönlichkeit 
Gottes  kann  den  Beweis  seiner  Persönlichkeit  liefern.  In  dieser 
Einsicht  erhoben  sich  die  trini tarischen  Theisten  weit  über  die 
unitarischen.  Weisse  setzt  Gott -Vater  mit  dem  Logischen  vor 
seiner  Entfaltung  zur  Idee,  Gott -Sohn  mit  der  entfalteten  Idee, 
Gott- Geist  mit  dem  Willen  gleich.  Er  knüpft  dabei  an  Augustins 
Dreiheit:  memoria,  intelHgentia,  amor  an,  und  setzt  memoria  mit 
dem  unbewussten  Wissen  im  Inbegriff  der  unentfalteten  Möglich- 
keiten, intelHgentia  mit  Gemüt  und  amor  mit  dem  ethischen 
Willen  oder  der  Güte  gleich.  Merkwürdigerweise  schreibt  er 
die  Potentia  oder  Macht  nicht  dem  Willen,  sondern  dem  logischen 
Formalprincip  zu.  Der  Beweis  der  Persönlichkeit  Gottes  hängt 
also  davon  ab,  ob  sich  Vernunft,  Phantasie  und  Willen  in  Gott 
als  drei  Personen  nachweisen  lassen. 

Zunächst  muss  der  Umstand  auffallen »  dass  Vernunft ,  Phan- 
tasie und  Wille  in  Gott  nicht  drei  gegen  einander  selbständige 
Principien  sind.  Denn  Vernunft  und  Phantasie,  Logisches  und 
aktuelle  Idee,  sind  ein  und  dasselbe  Principe  nur  das  eine  Mal  im 
Zustand  der  Ruhe,  Potentialität,  unentfalteteo  MögUchkeit,  das 
andere  Mal  im  Zustande  der  Spannung,   Bethätigung,  entfalteten 


Weisse, 


363 


Aktualität,  Potenz  und  Aktiis  desselben  Princips  dürfen  nicht  als 
zwei  verschiedene  Principien  behandelt,  nicht  als  zwei  verschie- 
dene Personen  einander  gegenübergestellt  werden.  Wenn  dies 
aber  bei  dem  einen  Princip  geschieht,  warum  dann  nicht  auch 
bei  dem  anderen,  dem  Willen?  Das  gäbe  dann  freilich  vier  Per- 
sonen statt  drei. 

Die  Vernunft  ist  3>die  Nacht  der  Negativität,  die  zwar  nicht 
Bewusstlosigkeit  aber  Unbewusstsein  genannt  werden  kann<Cp 
in  ihr  ist  ewig  starre  Identität.  Die  Phantasie  zeigt  zwar  die 
Lebendigkeit  der  unbewussten  Teleologie,  aber  noch  keine  be- 
wusste  Freiheit  Dem  Willen  wird  zwar  bewusste  Freiheit  zuge- 
schrieben, aber  nicht  gezeigt,  woher  das  Bewusstsein  zu  der  Frei- 
heit hinzukommen  soll  Die  göttliche  Vernunft  ist  also  offenbar 
unbewusst  und  unpersönlich,  und  der  Vater  soll  auch  erst  im 
Sohne  Leben,  Antlitz  und  Person  im  eigentlichen  Sinne  gewinnen. 
Die  Phantasie,  oder  der  Sohn,  soll  ein  Selbstbewusstsein  dadurch 
gewinnen,  dass  sie  die  Fülle  ihrer  Gestalten  zur  Einheit  wieder 
zusammenfasst,  und  diese  Annahme  wiederum  scheint  Weisse  un- 
erlässlich,  wenn  die  Phantasie  nicht  zu  einer  mittelpunktlosen  und 
einheitlosen  Substanz  werden  soll,  die  sich  im  Sinne  eines  ema- 
natistischen  Pantheismus  unendlich  expandiert.  Dabei  ist  aber 
übersehen,  dass  schon  die  Einheit  des  anschauenden  Subjekts»  die 
Einheit  des  Anschauungsaktes  und  die  Idealität  des  Anschauungs- 
inhalts die  innere  Mannigfaltigkeit  desselben  genügend  vor  einem 
Auseinanderfallen  und  sich  Zerstreuen  schützen,  dass  also  für  eine 
nachträgliche  Wiedervereinigung  desselben  ebensowenig  ein  Be- 
dürfnis wie  eine  Möglichkeit  vorliegt.  Der  Wille  endlich  hat 
weder  als  Moment  der  freien  Initiative,  noch  als  das  die  Existenz- 
form hinzubringende,  die  Idee  realisierende  Princip  irgend  etwas 
mit  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  zu  thun. 

Hiernach  ist  der  Beweis  für  das  Bewusstsein  bei  allen  drei 
Principien  misslungen,  damit  auch  der  für  ihre  Persönlichkeit, 
und  damit  auch  der  für  die  Persönlichkeit  Gottes  überhaupt. 
Bei  der  ewigen  Vernunft  oder  Gott -Vater  hat  Weisse  selbst  da- 
von ein  Gefühl,  weil  er  selbst  ein  zeitlos  ewiges  Selbstbewusst- 
sein so  nachdrücklich  für  die  schwerste  Täuschung  erklärt  hat. 
Um  ihm  trotzdem  zu  einem  Scheinbewusstsein  zu  verhelfen,  fügt 
er  die  willkürliche  Hilfshypothese  hinzu,  dass  auch  in  der  ewigen 
Vernunft  eine  leise  aber  stetige  Spiegelung  des  wechselnden  In- 


a64 


Weisse. 


haltes  der  aktuellen  Idee  stattfinde,  und  dass  sein  Bewusstsein 
an  diesen  zeitlichen  Wechsel  anknüpfe.  Offenbar  ist  damit  der 
ganze  Unterschied  von  blosser  Möglichkeit  und  Entfaltung. 
Potentialität  und  Aktuahtät  wieder  aufgehoben,  auf  dem  die 
Unterscheidung  von  Vernunft  und  Idee,  Vater  und  Sohn  beruhte. 

Da  die  Persönlichkeit  Gottes  auf  der  Zeitlichkeit  seiner  vor- 
weltlichen und  ausser  weltlichen  Phantasieanschauung  beruht,  so 
muss  eine  unendliche  Zeitspanne  vergangen  sein,  während  deren 
Gott  sich  an  den  »ätherischen  Lichtgebilden«  seines  idealen  Uoi- 
versums  seiner  selbst  bewusst  wurde,  ohne  den  Entschluss  zu 
einer  Weltschöpfung  zu  fassen.  Wenn  dieser  Entschluss  dann 
auf  die  Liebe  und  Güte  seines  sittlichen  Willens  zurückgeführt 
wird,  so  bleibt  es  auffallend,  wie  diese  Liebe  und  Güte  eine  halbe 
Ewigkeit  mit  ihrer  Bethätigung  zögern  konnte.  — 

Dass  der  dialektische  Umschlag  der  Idee  der  Wahrheit  in 
die  der  Schönheit  und  dieser  in  die  der  Güte  oder  Gottes,  auf 
dessen  Erfindung  Weisse  sich  am  meisten  zu  gute  that,  heute 
noch  ernstlich  als  eine  reale  Genesis  der  Gottheit  aufgefasst  werden 
könnte,  ist  nicht  zu  befürchten.  Ebcnsow^enig  wird  aber  seine 
^Metaphysik«  oder  genauer  Kategorienlehre  heute  noch  daruiti 
Beifall  finden,  weil  sie  eine  Denkbestimmung  aus  der  anderen 
dialektisch  abzuleiten  sucht  und  an  der  apriorischen  Erkennbar- 
keit der  apriorischen  Vernunftformen  festhält  Der  Inhalt  der 
Weisseschen  Kategorienlehre  schliesst  sich  ebenso  eng  wie  ihre 
Form  an  die  Hegeische  Logik  an,  aber  so,  dass  die  subjektive 
Logik  ganz  ausgeschieden,  Raum  und  Zeit  hereingezogen  und 
vieles  umgestellt  wird.  Die  Hegeische  Dreiteilung  in  Sein, 
Wesen  und  Begriff  wird  demgemäss  durch  eine  Dreiteilung  in 
Sein,  Wesen  und  Wirklichkeit  ersetzt,  indem  aus  Hegels  Lehre 
vom  Wesen  der  dritte  Abschnitt  ausgeschieden  und  zum  dritten 
Teil  der  Metaphysik  verselbständigt  wird.  Da  nun  doch  wieder 
alles  in  das  triadische  Schema  der  Dialektik  gezwängt  werden 
muss,  so  ergiebt  sich  folgende  Stoffverteilung: 


L  Die  Lehre  yom  Sein, 

Die  Kategorien  der  Qualität. 
a.  Sein;    b.  Dasein;    c.  Unendlichkeit 
Die  Kategorien  der  Quantität 
a.  Zahl;    b.  Grösse;    c.  Verhältnis. 


Weisse. 


365 


Die  Kategorien  des  Masses. 

a.  Individuum,  Art  und  Gattung;  b.  spezifische  Grösse,  Regel 
und  Gesetz;   a  Form  und  Inhalt, 

II.  Die  Lehre  Yom  Wesen. 

1.  Die  spezifischen  Grundzahlen  der  Wesenheit 

a.  Identität   —   Einheit;    b,  Zweiheit  —  Gegensatz;     c.  spezi- 
fische Dreiheit. 

2.  Die  Kategorien  des  Raurabegriffs, 
a,  Ausdehnung;    b.  Ort;  c.  Raum. 

3.  Die  Grundbestim mungen  der  Körperlichkeit. 

a.  Schwere;   b.  Polarität  und  Kohäsion;   c.  Chemismus. 

ni.  Ble  Lehre  toii  der  Wirkllelikeit. 

1.  Die  Kategorien  der  Reflexion. 

a,  Substantialität  —  Möglichkeit;   b.  Kausalität  —  Wirklich- 
keit;   C.Wechselwirkung  —  Notwendigkeit. 

2.  Die  Kategorien  des  Zeitbegriffs. 
a,  Bewegung;   b.  Dauer;    c.  Zeit 

3.  Die  Gniodbestim mungen  der  Lebendigkeit 

a.  Teleologie  und  Organismus;   b.  Leben;   c.  Freiheit. 

Die  Bezeichnung  »Wirklichkeit«  fiir  den  dritten  Abschnitt 
ist  hier  nur  als  ein  möglicher  Begriff  der  Wirklichkeit  zu  ver- 
stehen, ebenso  wie  die  rein  logische  Notwendigkeit  der  Kategorien 
als  Formen  des  Seienden  von  der  realen  konkreten  Notwendigkeit 
des  eigentlich  Wirklichen  zu  unterscheiden  ist.  Bei  der  »Körperlich- 
keit« und  »Lebendigkeit«  ersetzt  Weisse  den  Ausdruck  »Kategorien« 
durch  den  anderen:  »Grundbestimmungen«,  offenbar  weil  erfühlt, 
dass  die  Grundbestimmungen  der  unorganischen  und  organischen 
Naturphilosophie  nicht  in  demselben  Sinne  allgemeine  metaphy- 
sische Kategorien  sind,  wie  die  objektiv  logischen  Funktions- 
formen. Bei  Hegel  ist  der  Ausdruck  Lehre  vom  Wesen«  da- 
durch gerechtfertigt,  dass  das  Wesen  das  dem  unmittelbaren  Sein 
zu  Grunde  liegende  ist;  bei  Weisse  aber,  der  Substanz  und  Ur- 
sache samt  allen  Reflexionskategorien  aus  der  Lehre  vom  Wesen 
ausgeschieden  hat»  bleibt  eigentlich  gar  keine  Rechtfertigung  für 
die  scharfe  Sonderung  der  Sphären  des  Seins  und  des  Wesens 
übrig.     Die   spezifische    Dreiheit,    welche  Weisse   im    Sinne    der 


366 


WefiHie. 


Hegeischen  Dialektik  zu  Identität  und  Gegensatz  hinzugefügt 
hat,  soll  etwa  im  Sinne  pythagoreischer  Zahlenmystik  in  die  drei 
Dimensionen  des  Raumes  umschlagen. 

Räumlichkeit  und  Zcithchkeit  treten  erst  in  der  ästhetischen 
Idee  der  göttlichen  Phantasie  als  wirkliche  Inhaltsbestimmungen 
auf;  in  der  Metaphysik  haben  sie  ebenso  wie  Wirklichkeit  und 
alle  übrigen  Kategorien  nur  die  Bedeutung  von  Möglichkeiten, 
die  sich  eventuell  bei  wirklicher  Entfaltung  zu  keinen  anderen 
Formen  als  diesen  ausgestalten  können.  Nun  hat  Weisse  zwar 
darin  ganz  recht,  dass  auch  die  übrigen  kategorialen  Denkformi 
sich  gar  nicht  entfalten  können,  ohne  sich  an  raumzeitUdn 
Bestimmungen  zu  entfalten,  und  dass  die  eventuelle  Entfaltung 
der  Raum-  und  Zeitformen  bei  gegebenem  Anlass  zur  Bethätigungj 
des  Logischen  ebensogut  logisch  determiniert  ist,  wie  die  irgend 
welcher  anderen  Kategorien,  Sein  Irrtum  liegt  nur  in  der  An 
nähme,  dass  die  Idee  der  Wahrheit,  oder  die  Vernunft  von  selbst 
in  die  Idee  der  Schönheit  oder  die  absolute  intelligible  Phantasie- 
anschauung umschlage,  dass  das  an  sich  inhaltleere  Logische  si< 
zu  dem  System  der  Kategorien  und  zu  einer  von  ihm  geformten 
aktuellen  Idee  entfalte,  ohne  dazu  eines  unlogischen  Anstossefi^ 
und  eines  unlogischen  ßeziehungspunktes  als  Gegenstand  sein 
Selbstanwendung  zu  bedürfen.  Der  Umschlag  des  an  sich  seien- 
den Logischen  in  eine  konkrete  intuitive  Idee  aus  eigener  Kraft 
und  eigenen  Mitteln  wird  dadurch  um  nichts  begreiflicher»  wenn 
man  an  Stelle  des  unmittelbaren  Umschlags  des  Logischen  in  die 
immanente  Weltidee,  welche  die  Aporie  des  Hegeischen  Panlogis- 
mus  bildet,  zunächst  den  Umschlag  des  Logischen  in  eine  über- 
weltliche konkrete  Idee  oder  in  ein  raumzeitliches  ideales  Uni- 
versum setzt,  wie  Weisse  thut  Giebt  man  ihm  aber  einmal  diese 
eingeschobene  Zwischenstufe  zu,  dann  ist  auch  gegen  die  Gleich- 
stellung der  Kategorien  der  Räuoilichkeit  und  Zeitlichkeit  mit 
den  übrigen  Kategorien  nichts  mehr  zu  erinnern. 

Dagegen  scheint  es  nicht  richtig,  die  Kategorien  der  Räum- 
lichkeit und  Zeitlichkeit  auf  ganz  verschiedene  Sphären  zu  ver- 
teilen, und  die  ersteren  dem  Wesen,  die  letzteren  der  Wirklichkeit 
zuzuweisen,  da  doch  beide  gleichermassen  der  Erscheinung  des 
Wesens  in  der  Wirklichkeit  angehören.  Ferner  scheint  es  eine 
Umkehrung,  dass  die  einfachere  der  beiden  Kategorien,  die  Zeit, 
erst  lange  nach  der  komplizierteren,  dem  Raum,  statt   vor  ihm, 


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I.  H.  Fichte. 


367 


afegäiandelt  wird.  Endlich  scheint  es  unstatthaft,  die  Bewegung 
zwischen  Raum  und  Zeit  einzuschieben  und  einseitig  zu  den 
Kategorien  der  Zeitlichkeit  zu  rechnen,  anstatt  entweder  beide 
aus  der  Analyse  der  Bewegung  oder  die  Bewegung  aus  der 
Synthese  beider  abzuleiten,  oder  aber  die  Veränderung  an  die 
Zeit  und  die  Bewegung  an  den  Raum  anzuschliessen. 

Als  wertvoll  hervorzuheben  sind  Weisses  Erörterungen  über 
die  Teleologie  und  manches  in  denen  über  KausaHtät.  Lotze  hat 
diese  Ansichten  Weisses  übernommen  und  durch  populäre  Aus- 
fuhrung weiteren  Kreisen  zugänglich  gemacht,  während  er  Weisses 
Ansicht  heftig  bekämpft,  als  ob  hinter  dem  wirklichen  Absoluten 
ein  System  ewiger  Wahrheiten  stände.  Er  hat  aber  dabei  wohl 
dem  Umstände  nicht  genug  Rechnung  getragen,  dass  diese  Lehre 
Weisses  bloss  ein  allerdings  irreleitender  Ausdruck  dafür  sein 
soll,  dass  die  absolute  Vernunft,  wenn  sie  sich  einmal  bethätigt, 
sich  auch  nur  in  logisch  determinierten  Formen  bethätigen  kann, 
die  unser  diskursives  Nachdenken  sich  in  Gestalt  von  Urteilen 
und  Gesetzen  vergegenwärtigt,  denen  es  eine  ewige  Wahrheit 
zuschreiben  muss»  Wie  im  absoluten  Denken  die  Kategorien  die 
inamaneoten  und  impliziten  Formbestimmungen  sind,  die  die  Ur- 
Vernunft  der  entfalteten  Idee  geben  muss,  so  sind  sie  auch  im 
Menschen  bei  Weisse  (ähnlich  wie  bei  Schleiermacher)  »die  be- 
wusstlos  bildende  schöpferische  Macht,  welche  die  Welt  der  sinn- 
lichen Anschauung  und  Vorstellung  als  einen  Kosmos  zu  schöner 
lebendiger  Gesetzlichkeit  geformt  und  gestaltet  dem  Geiste  ent- 
gegenbrachte-. (Weisses  Metaphysik.  S,  64).*)  — 

I.  H.  Fichte  (1797  — 1879)  ist  ein  entschiedener  Gegner  alles 
Herausspinnens  realer  Erkenntnisse  aus  reinen  Begriffen,  Wie 
Schelling  sieht  er  den  Grund  der  Wirklichkeit  in  einer  Freiheits- 
that  des  Absoluten ;  was  aber  aus  der  Freiheit  stammt,  ist  nicht 
a  priori  zu  bestimmen,  sondern  kann  nur  auf  Grund  der  Erfahrung 
bestimmt  werden.  Darum  lobt  er  den  analytisch-induktiven  Lehr- 
gang in  dem  ersten  Teil  des  Krauseschen  Systems.  Die  Dialektik 
hält  er  einerseits  als  negative  Dialektik  fest,  um  das  System  der 
Kategorien  in  apriorisch  gewisser  Weise  aus  der  Unzulänglich- 
keit jeder  einzelnen   in   ihrer  Isolierung  zu  entwickeln,   anderer- 


•)  Vgl   >Dic  deutsche  Ästhetik  seit  K&nt*,   S.  85—103,  364—366,  39?— 398, 
474,  5*3*  539— S40- 


368 


t.  H,  Fichte 


seits  als  positive  Dialektik,  um  aus  dem  vollendeten  Begriff  des 
Absohlten  den  ganzen  Inhalt  seines  Wesens  zu  entwickeln.  Aber 
dieser  ganze  dialektische  Apriorismus  bleibt  formal,  d.  h,  er  fuhrt 
nicht  über  die  Erkenntnis  des  Wesens  Gottes  hinaus  (Schellings 
negative  Philosophie).  In  Bezug  auf  das  Wirkliche  und  Geschicht- 
liche, das  aus  der  Freiheit  Gottes  folgt,  versaget  der  Apriorismus: 
hier  bedarf  es  der  Induktion  aus  dem  empirisch  Gegebenen.  In 
seiner  ersten  Periode  sucht  er  das  Dasein  Gottes,  oder  dass  das 
Absolute  ist,  aus  dem  j  Erkennen  als  Selbsterkennen«  zu  beweisen, 
das  Wesen  Gottes  aber  negativ  in  der  Kategorienlehre  seiner 
fiOntologie«,  positiv  in  seiner  ^spekulativen  Theologie«  zu  ent- 
wickeln. In  seiner  zweiten  Periode  stützt  er  sich  ganz  auf  die 
Erfahrung  und  sucht  aus  dieser  den  Inhalt  des  Wirklichen  und 
die  dafür  anzunehmenden  Erklärungsgründe  zu  erforschen*  In 
dieser  zweiten  Periode  erscheint  er  infolge  dessen  in  methodo- 
logischer Hinsicht  als  der  erste  Moderne  unter  den  Theisten  des 
neunzehnten  Jahrhunderts* 

Inhaltlich  entlehnt  er  die  Kategorienlehre  seiner  Ontologie 
und  die  teleologische  Weltanschauung  von  Hegel,  den  Panen- 
theismus  von  Krause,  die  trinitarische  Gotteslchre  von  Baader, 
das  System  der  Monaden  von  Leibniz,  die  anthropologische  Rich- 
tung seines  Philosophierens  von  Troxler,  die  Urpositionen  und 
den  intelligiblen  Raum  von  Herbart.  Den  intelligiblen  Raum 
versteht  er  aber  in  dem  von  Herbart  abweichenden  Sinne,  dass 
er  Urposition  oder  absolute  Position  nicht  als  Aseität  oder  Selbst- 
setzung, sondern  als  ursprüngliche  Position  durch  das  Absolute 
auffasst  Die  Selbst  gewissheit  des  Ich  und  den  absoluten  Wert 
der  sittlichen  Persönlichkeit  übernimmt  er  von  seinem  Vater, 
dessen  späteren  Standpunkt  er  mit  HUfe  der  angegebenen  Ge- 
danken in  dem  Sinne  weiter  auszubauen  sucht,  dass  die  Idee  der 
Persönlichkeit  in  allen  Teilen  der  Philosophie  zur  Geltung  gelangt 
und  in  einem  konkreten  ethischen  Theismus  gipfelt.  Der  spezifisch 
christliche  Theismus  soll  dadurch  zu  einem  universalen  humani- 
tären erweitert  werden,  der  sich  zur  Weitreligion  eignet.  — 

Nach  dem  Angegebenen  kann  es  nicht  die  Aufgabe  der 
Philosophie  sein,  ein  eigenes  neues,  originelles  System  der  Philo- 
sophie auszudenken,  sondern  nur  das  von  Gott  urgedachte  Welt- 
system im  eigenen  Geiste  nach  Anleitung  des  a  posteriori  Vor- 
gefundenen nachzudenken.     Fichte  stellt  die  Erkenntnislehre   an 


I.  H.  Fichte. 


369 


den  Anfang  des  Systems.  Er  lehnt  sich  dabei  an  seinen  Vater» 
an  Schellings  transcendentalen  Idealismus  und  Hebels  Phäno- 
menologie des  Geistes  an  und  verfolgt  zugleich  die  Absicht,  die 
subjektive  Logik  aus  der  Kategorienlehre  auszuscheiden  und  diese 
ganz  auf  objektive  Logik  zu  beschränken.  Dem  Raum  und  der 
Zeit,  wie  sie  uns  als  empirischer  Schein  gegeben  sind,  spricht  er 
jede  Realität  und  Wahrheit  ab;  hinter  ihnen  aber  supponiert  er 
im  göttlichen  Allbewusstsein  einen  wahren  Raum  und  eine  wahre 
Zeit  In  diesem  wahren  Raum  sind  die  Monaden  zwar  verschie- 
den, jedoch  ohne  Undurchdringlichkeit  und  Verfinsterung  gegen 
einander,  und  die  wahre  Zeit  ist  beharrende,  gegenwartsvolle 
Dauer  ohne  beständig  sich  selbst  aufhebende  Verneinung  und 
Vergänglichkeit.  Der  wahre  Raum  ist  demnach  von  einem  be- 
ziehungsvollen Ineinandersein»  die  wahre  Zeit  von  der  Ewigkeit 
nicht  zu  unterscheiden.  —  Im  höchsten  Selbsterkennen  wird  das 
Ich  seiner  als  eines  endlichen  bewusst  und  wird  durch  die  Dia- 
lektik dieser  Endlichkeit  dahin  getrieben,  zu  erkennen,  dass  es 
seinen  wahrhaften  Grund  und  Halt  nur  in  einem  Absoluten  ge- 
winnen kann,  das  es  selbst  nicht  ist,  sondern  erst  als  der  Grund 
der  Identität  des  Subjekts  und  Objekts  zu  denken  ist.  — 

Hegels  Logik  spaltet  er  in  Kategorien  lehre  und  Ideenlehre. 
Erstere  umfasst  die  Lehre  vom  Sein  und  Wesen,  nimmt  aber 
unter  Kausalität  und  Wechselwirkung  bereits  Finalität.  Organis- 
mus, Seele  und  Geist,  und  zwar  die  drei  letzteren  sowohl  in  ihrer 
individuellen  als  auch  in  ihrer  universellen  Gestalt  mit  hinein. 
Damit  hatte  Fichte  sich  den  Stoff  zur  künftigen  Ideenlehre  eigent- 
lich schon  vorweggenommen,  und  er  ist  deshalb  auch  niemals  zu 
einer  Ausführung  der  Ideenlehre  als  solcher  im  Sinne  seiner  posi- 
tiven Dialektik  gelangt.  Vielmehr  hat  er  in  seiner  spekulativen 
Theologie  sofort  den  induktiven  Weg  eingeschlagen  und  die  Er- 
forschung Gottes  auf  die  gegebene  Weltwirklichkeit  gestützt. 

In  der  »Lehre  vom  Sein*  nennt  Fichte  diejenigen  Kategorien, 
die  Hegel  unter  Qualität  befasst,  die  »Urkategorien«,  zieht  das 
»Mass«  als  begrenzte  und  bestimmte  quantitative  Grösse  in  die 
Kategorien  der  Quantität  herein,  und  hängt  dann  als  dritten  Ab- 
schnitt die  Position,  Negation  und  Limitation  an,  die  er  wie  Kant 
als  Kategorien  der  Qualität  bezeichnet  Die  ?  Lehre  vom  Wesen  < 
nennt  er  auch  die  »Sphäre  der  Verhältnisbegriffe«.  Im  allge- 
meinen   folgt  er  auch   hier  Hegel   in    seiner  Auffassung,    nimmt 

E.  V.  fi  ar tAan  n,  Auifew.  Wedie.    Bd.  XII.  I4 


370 


T.  H,  Fichte. 


aber  in  der  Anordnung  des  Stoffes  vielfache  Umstellungen  vor. 
Fichtes  System  der  Kategorien  zeigt  folgendes  Bild: 

A.  Die  Lehre  yom  Sein. 

L  Die  Urkategorien. 

1,  Setzen  (a.  Sein;  b.  Nichts), 

2,  Gegensetzen  (a.  Etwas;  b.  Anderes). 

3,  Bezugsetzen  (a.  Dies;  b.  Dies  zu  Anderem), 

IL  Die  Kategorien  der  Quantität 

1.  Quantitative  Grösse  (a.  stetige;   k  diskrete  Grösse;  c,  Zahl), 

2.  Begrenzte  quantitative  Grösse  (a,  Mass;  b.  Massbestimmt- 
heit; c.  Mass-  und  Zahlen  Verhältnis). 

3.  Bestimmte   quantitative    Grösse    (a.  extensive,    b.  intensive 
Grösse;  c,  spezifisches  Quantum). 

IIL  Die  Kategorien  der  Qualität 

1,  Position  (a.  Bestimmtheit;  b.  Beschaffenheit;  c,  Endlichkeit). 

2,  Negation    (a.   Negation    der   Bestimmtheit;   b.   Unterschied; 
c,  Veränderlichkeit  oder  Werden). 

3,  Limitation  (a.  Beziehung  auf  anderes;  b.  auf  sich;  c.  innere 
Unendhchkeit  des  Bestimmten). 


B.  Die  Lehre  jom  Wesen. 
L  Die  Kategorien  des  Grundes  und  der  Folge. 

1.  Inneres  und  Äusseres  (a.  Gegensatz  beider;  b.  Ideales  und 

Reales;  c.  Einheit  beider). 

2.  Gehalt  und  Form  (a.  Gegensatz  beider;  b.  spezifischer  Gehalt 
in  spezifischer  Form;  c.  unendlicher  Gehalt  in  ewiger  Form). 

3.  Vermögen  und  Vollziehung  (a.  Gegensatz  beider;  b.  reales 
Vermögen  in  einem  System  von  Vollziehungen;  c.  Einheit 
beider). 

II.  Die  Kategorien  der  Wirklichkeit 

r.  Zufälligkeit  (a.  durch  Vereinzelung;  b.  als  Ursache;  c,  als 
das  Grundlose). 

2,  Möglichkeit  (a.  negative  oder  formelle;  b.  reale;  c.  bedingende 
Möglichkeit). 

3.  Notwendigkeit  (a.  abstrakte  oder  formelle;  b.  reale  Not' 
wendigkeit;  c,  das  bedingend-unbedingte  Wesen. 


I 


I.  H.  Fichic, 


57  ^ 


ni.  Die  Kategorien  der  Substantialität 

1,  Substanz  und  Accidenz  (a,  Ding  und  Eigenschaften;  b.  Ganzes 
und  Teile;  c.  Monas  und  ihre  Totalität). 

2,  Kausalität  und  Dependenz  (a,  Ursache  und  Wirkung;  b.  Kraft 
und  Produkt;  c.  Mittel  und  Zweck). 

3,  Wechselwirkung  (a.  Organismus;  b.  Seele;  c.  Geist). 

Soweit  die  apriorische  Erkenntnis  reicht»  soweit  ist  unsere 
Erkenntnis  des  Absoluten  völlig  gewiss  und  erschöpfend,  aber  so 
weit  ist  sie  auch  rein  formal.  Von  Gott  als  dem  Urquell  der 
Wirklichkeit  dagegen  können  wir  zwar  eine  mittelbare,  auf 
Rückschlüssen  beruhende  Kenntnis  haben,  aber  diese  ist  weder 
erschöpfend  nach  apodiktisch  gewiss.  — 

Endlich  sein  heisst  den  Grund  seiner  Existenz  in  einem 
Anderen  haben,  oder  durch  Anderes  sein.  Die  Summe  der  End- 
lichen ist  ein  System  von  qualitativ  bestimmten  Urpositionen  des 
Absoluten,  die  als  solche  ewig  beharrlich  und  unveränderlich  für 
sich  sind,  zugleich  aber  auch  in  wechselnden  Beziehungen  zu 
einander  stehen  und  für  einander  sind.  Diese  Beziehungen  unter 
einander  sind  nur  dadurch  möglich,  dass  das  Absolute»  welches 
sie  als  seine  Urpositionen  gesetzt  hat  und  das  allein  Wirksame 
und  Wirkliche  in  ihnen  ist,  sie  im  Setzen  zugleich  vereint  und 
im  Erhalten  zusammenschliesst,  dass  es  für  sie  nicht  bloss  Welt- 
wesen, sondern  auch  Weltgesetz,  teleologische  Weltregierung  und 
Vorsehung  ist  Fichte  lehnt  den  Ausdruck  »Weltseele«  für  das 
Absolute  ab,  weil  Seele  wohl  zweckvoll,  aber  nicht  zwecksetzend 
und  zweckmächtig  sei,  nur  instinktartig,  d.  h.  bewusstlos  ver- 
nünftig wirke  und  den  Instinkt  nicht  besitze,  sondern  von  ihm 
besessen  werde.  Indessen,  wenn  diejenige  unbewusste  Vernunft, 
die  sich  im  Endlichen  als  Instinkt  darstellt,  sich  mit  der  absoluten 
Vernunft  deckte  und  in  eins  zusammenfiele,  so  könnte  man  doch 
nicht  mehr  sagen,  dass  die  letztere  von  der  ersteren  besessen 
wäre.  Es  liegt  hier  offenbar  die  Furcht  zu  Grunde,  Gott  durch 
Zuerkennung  einer  unbewussten  V^ernunft  herabzusetzen;  wenn 
aber  Fichte  selbst  in  seiner  zweiten  Periode  die  instinktartige 
Vernunft  der  bewusstlosen  Phantasie  als  das  Höhere  der  bewussten 
Vernunft  im  Menschen  nachweist,  so  hätte  er  daraus  doch  Anlass 
chöpfen  sollen,  die  Grundlagen  zu  revidieren,  auf  denen  sein 
Beweis  für  das  Selbstbewusstsein   und  die  PersönHchkeit  Gottes 


37^ 


I.  H.  Fichte. 


in  seiner  ersten  Periode  beruht.     Dies  thut  er  jedoch  nicht,  son^^j 
dem  beruft  sich  in  seiner  zweiten  Periode  einfach  auf  den  in  deo 
Schriften    der    ersten    Periode    erbrachten    Beweis,    als    auf  eine 
erledig^te  und  unerschütterUche  feststehende  Sache. 

Später  erkennt  Fichte  an,  dass  das  Bewusstsein  nichts  Neues 
hervorbringt,  sondern  nur  einen  Teil  der  realen  Vorgänge  in  der 
Seele  mit  seinem  Lichte  begleitet,  dass  es  innerhalb  dieses  Kreises 
sogar  Irrtum  und  Unsicherheit,  Thorheit  und  Schuld  mit  sich 
bringt»  während  alles  gut  und  recht  bestellt  ist,  so  lange  nur  die 
bewusstlosen  oder  halbbewussten  instinktiven  Regungen  den 
Menschen  beherrschen.  Jetzt  aber  hält  er  es  noch  für  unumgänglich, 
dass  das  Absohite  die  vielen  Endlichen  nicht  nur  durch  sein  Sein, 
sondern  auch  durch  sein  Wissen  einige,  dass  dieses  Wissen  ein 
Allbewusstsein  sei,  und  dass  ihm  als  unentbehrliche  Bedingung 
ein  Selbstbewusstsein,  ein  Urich,  eine  absolute  Persönlichkeit 
vorhergehe.  Nun  kann  sicherlich  das  Endliche  vom  Absoluten 
nicht  gesetzt  werden  ohne  eine  ideelle  Intuition  seiner  besonderen 
Bestimmtheit,  und  ebenso  können  die  vielen  Endlichen  nur  da- 
durch geeint  werden,  dass  sie  die  innere  Mannigfaltigkeit  eines 
und  desselben  Intuitionsaktes  ausmachen.  Dass  aber  dieser  abso- 
lute Intuitionsakt  ein  bevvusster  sein  müsse,  ist  eine  blosse  petitio 
principii,  die  sogar  unmöglich  wird,  wenn  Fichtes  spätere  Ansicht 
richtig  ist,  dass  das  Bewusstsein  eine  unproduktive  Begleiterschei- 
nung realer  Vorgänge,  und  die  unbewussten  Geistesthätigkeiten 
allein  produktiv  sind. 

Gewöhnlich  nimmt  man  an,  dass  gegenständliches  Bew^usstsein 
und  Selbst  bewusstsein  erst  mit  einander  entstehen  und  dabei  das 
erstere    die   Bedingung    für    die   Entstehung   des   letzteren    bildet 
Fichte  kehrt  ohne  Begründung  dies  Verhältnis  um.     Er  giebt  zu, 
dass  Selbstbewusstsein   die  Unterscheidung  des  Selbst  von  einem 
Anderen  erfordere,  behauptet  aber,  dass  dieses  Andere  ebensoguC| 
in    dem   Wesen    der    eigenen    Persönlichkeit    liegen    könne,    wi€ 
ausserhalb.     Auch    das  scheint   unhaltbar,    von  einem    »Anderen*' 
innerhalb    des    Absoluten    zu    reden,    da    seine    produktive    An- 
schauung für  es  nichts  Andres  ist,  sondern  nur  eine  BethätigungJ 
seiner  selbst»  die  spontan  aus  ihm  entsprungen,  und  nicht,  wie  im 
endlichen   Geiste,    durch  Einwirkung    eines   ausserhalb    stehenden 
Anderen    aufgenötigt   ist.     Selbst    wenn   ein    Allbewusstsein    im 
Absoluten  bestände,  könnte  es  doch  nicht  zu  einem  Selbstbewusst- 


L  H.  Fidite. 


373 


sein  in  ihm  kommen,  weil  unter  den  gegebenen  Umständen  kein 
Anlass  zur  Unterscheidung  des  thätigen  Subjekts  von  seiner 
Thätigkeit  und  zu  einer  von  der  Thätigkeit  auf  das  Subjekt  zurück- 
blickenden Reflexion  vorhanden  wäre.   — 

Hinter  dem  Denken  Gottes  muss  der  Wille  angenommen 
werden,  welcher  mit  dem  Denken  in  Einheit  ihätig  ist.  das  Denken 
erst  zu  einem  schöpferischen  macht  und  dadurch  den  Träger  und 
die  Substanz  in  allen  Geschöpfen  ausmacht.  Der  Wille  ist  nicht 
wie  bei  Schelling  mit  dem  Denken  wie  ein  Attribut  mit  dem 
anderen  durch  eine  sie  tragende  Substanz  verbunden,  sondern  er 
fungiert  selbst  als  Realprincip  und  Substanz  zugleich  nicht  nur  in 
den  Geschöpfen,  sondern  auch  in  Gott  selbst.  Er  ist  die  objek- 
tive oder  reale  Seite  oder  die  Natur  in  Gott,  wie  das  Wissen  die 
subjektive  oder  ideale  Seite  darstelh,  Fichte  unterscheidet  nun 
mit  Baader  einen  dreifachen  Prozess  in  Gott,  den  realen  Willens- 
prozess»  den  idealen  Denkprozess  und  den  geistigen  Prozess,  der 
beide  in  sich  zusammenschliesst;  er  führt  aber  dabei  die  Fünf- 
teilung Baaders  innerhalb  eines  jeden  auf  eine  Dreiteilung 
zurück. 

Im  Willen sprozess  ist  das  Erste  der  noch  unaufgeschlossene 
Urgrund,  die  noch  gegensatzlose  Einheit,  die  Indifferenz  Schellings, 
der  Ungrund  Böhmes,  das  Stillschweigen  oder  die  Finsternis 
der  Gnostiker  u.  s.  w.  Das  Zweite  ist  dann  die  aus  jenem  er- 
zeugte Unendlichkeit  des  göttlichen  Seins,  die  intensiv  und  exten- 
siv unendliche  Realität  und  Machtfülle,  das  Dritte  die  verwirk- 
lichte Einheit,  die  bereits  in  die  ideale  Seite  hinüberweist,  weil 
sie  nur  möglich  ist  im  Geiste  Gottes.  —  Im  idealen  Prozess 
ist  das  Erste  das  Urich,  das  mit  sich  ewig  identische  Ursubjekt, 
das  unbewegte  Auge,  die  stille  noch  un aufgeschlossene  Weisheit, 
noch  nicht  das  Bewusstsein  selbst,  sondern  erst  das  Grundlegende 
desselben.  Das  Zweite  ist  das  Allbewusstsein,  das  Objektive  in 
Gott,  worin  der  Reichtum  des  im  Ersten  noch  potentiellen  Lebens 
in  die  eigene  Schiedlichkeit  auseinandergelegt  wird.  Das  Dritte 
ist  die  zur  Offenbarung  gekommene  laute  Weisheit  oder  die 
Selbstanschauung  oder  das  Selbstbewusstsein  Gottes,  das  also 
hier  doch  erst  als  Folge  des  Allbewusstseins  auftritt  —  Der 
Geistesprozess  endlich  ist  nur  die  Einheit  der  beiden  vorigen, 
indem  jedes  Moment  des  einen  mit  dem  ihm  entsprechenden  Mo- 
ment  des    anderen    verschmolzen    wird.     Von    den    Personen  der 


374 


I   H.  Fichte. 


Trinität  entspricht    der  Vater    dem    ersten    Moment    sowohl    im 
Willensprozess  als  auch  im  idealen  Prozess,  der  Sohn  dem  zweiten 

Moment,   am   meisten    im  idealen  Prozess,    der  heilig-e  Geist  dem 
dritten  Moment  im  idealen  Prozess  und  im  Geistesprozess. 

Es  liegt  auf  der    Hand,  dass   das  erste  und  zweite  Moment 
im  Willensprozess  den  Unterschied  von   Potenz  und  Aktus,   von 
ruhendem   Willens  vermögen    und    gespannter   Willensbethätigung 
ausdrückt,    und    dass   das   erste    und    zweite   Moment  im    idealen 
Prozess  dem   Unterschied   des   logischen   Formal princips  und   deri 
entfalteten  Idee  oder   dem  Unterschiede  von  Vernunft  und  Phan- ' 
tasie  bei  Weisse  entspricht.     Die  ersten  Momente  zeigen  die  Prin- 
cipien   in  Ruhe,    die   zweiten   Momente  zeigen   sie  in  Spannung» 
wie  Schellin g  es  nennt     Die  Frage  ist   nur»  was  das  dritte  Mo- 
ment  bedeutet.     Beim   idealen   Prozess  ist  dies  klar,  nämlich  das 
reflektierte    Selbstbewusstsein ;    aber    beim    Willensprozess   ist    es 
desto    unklarer;   es   ist   hier   offenbar    nur    um    eine   Füllung  der 
triadischen  Schablone  zu  thun»  welche  die  Korrespotidenz   mit  dem 
dritten  Gliede  des  idealen   Prozesses  herstellt.     Fällt  dieses  dritte 
Glied    im    idealen    Prozess   als   etwas  im  Absoluten   UnmÖglicbeaJ 
und  Überflüssiges  hinweg,  so  schwindet  damit  auch  jeder  Grund J 
es  im  Willensprozess  festzuhalten.      Der  G eiste sprozess  ist  nichts^ 
zu  den  anderen  beiden  neu  Hinzukommendes,  sondern  ist  lediglich 
ihre  Wirklichkeit  und  Wahrheit,  von  der  sie  nur  begriffliche  Ab- 
straktionen und  künstliche  Ausschnitte  darstellen.     Die  Principien- 
lehre  macht  also  hier    zwar  einen   Fortschritt  gegen  Baader  und 
Weisse,  wird   aber  wieder  durch   die  Einmischung  des  Selbstbe- 
wusstseins  verdorben  und  ermangelt  der  den  Attributen  zu  Grunde 
hegenden  Substanz»  wie  sie  Schelling  als  unentbehrlich  erkannt  hat 

Die  intellektuelle  Persönlichkeit  im  abstrakt  logischen  Sinne 
kann  erst  mit  dem  Selbstbewusstsein  eintreten,  also  frühestens 
auf  der  dritten  Stufe  des  idealen  Prozesses;  die  konkrete  ethische 
Persönlichkeit  aber  mit  Einschluss  von  Gemüt  und  Liebe,  auf 
welche  Fichte  alles  ankommt,  kann  frühestens  auf  der  dritten 
Stufe  des  Geistesprozesses  gesucht  werden,  weil  erst  dort  Wille 
mit  Selbstbewusstsein  verbunden  auftritt.  Im  Willensprozess  fehlt 
die  Intelligenz,  im  idealen  Prozess  der  Wille,  Der  Wille  des 
Willensprozesses  und  der  des  Geistesprozesses  sind  nicht  zwei 
Willen,  sondern  einer  und  derselbe.  Ebenso  ist  die  Intelligenz 
und  das  Selbstbewusstsein   ein    und    dasselbe  im   idealen  Prozess 


L  H.  Fichte. 


375 


und  im  Geistesprozess,  Von  drei  konkreten  Personen  in  der 
Gottheit  kann  hiernach  bei  Fichte  gar  keine  Rede  sein»  da  es  sich 
bei  ihm  nur  um  Ein  Selbstbewusstsein  und  um  Eine  ethische 
Persönlichkeit  in  der  Gottheit  handelt-  Fichtes  Trinitarismus  ist 
demnach  ein  blosser  Modalismus,  der  stark  zum  Unitarismus  hin- 
neiget. Auch  hierdurch  unterscheidet  er  sich  von  Weisse  und 
rückt  näher  an  Krause  heran,  — 

Weisse  hatte  richtig  erkannt,  dass  ohne  Zeit  und  Raum  keine 
Lebendigkeit  und  Wirklichkeit  in  Gott  möglich  sei.  Fichte  hatte 
dies  dem  Wortlaut  nach  zugegeben;  aber  er  entstellt  es  dem  Sinne 
nach,  indem  er  die  empirische  Raumzeitliclikeit  als  wahrheitlosen 
Schein  behandelt  und  die  wahre  Raumzeitlichkeit,  die  er  Gottes 
Bewusstsein  sin  halt  zuschreibt,  in  einer  Weise  beschreibt,  dass  sie 
sich  von  einem  ewigen  Ineinander  aller  Teile  nicht  mehr  unter- 
scheidet Damit  wird  dann  wieder  alle  Vergangenheit  und  Zu- 
kunft in  die  ewige  Gegenwart  des  Allbewusstseins  mit  hinein- 
gepackt. Hierdurch  wird  einerseits  die  behauptete  Lebendigkeit 
Gottes  zu  einer  unhaltbaren  Vorspiegelung,  und  andererseits  die 
Möglichkeit  aufgehoben,  aus  dem  ewig  unwandelbaren  Ineinander 
dieses  Allbewusstseins  irgend  eine  der  zeitlichen  Veränderungen 
zu  erklären,  deren  Gesamtlieit  den  Weltprozess  im  gewöhnlichen 
Sinne  des  Worts  ausmacht.  Über  die  erstere  Schwierigkeit  setzt 
Fichte  sich  hinweg,  um  nicht  mit  dem  Einla&s  der  empirischen 
Zeit  in  den  lohalt  des  Allbewusstseins  dem  Pantheismus  zu  ver- 
fallen, steht  also  in  diesem  Punkte  zu  Weisse  in  entscliiedenem 
Gegensatz.  Der  zweiten  Schwierigkeit  trägt  er  dadurch  Rech- 
nung» dass  er  ein  doppeltes  gegenständliches  Bewusstsein  in  Gott 
annimmt,  nämlich  ein  zeitliches  Weltbewusstsein  oder  eine  Welt- 
allwissenheit Gottes  neben  sein  ewiges  Allbewusstsein  stellt. 

Das  Allbewusstsein  entspricht  dem  Willen  ad  intra,  der  nur 
den  ewig  konstanten  Inhalt  des  Allbewusstseins  in  ewiger  Weise 
in  Gott  realisiert.  Die  WeltalUvissenheit  entspricht  dem  Willen 
ad  extra,  der  den  zeitlich  wechselnden  Inhalt  der  Weltallwissen- 
heit als  wechselndes  Beziehungssystem  der  Monaden  schöpferisch 
realisiert  und  so  erst  die  Welt  im  Sinne  des  Weltprozesses  setzt. 
X)ie  Gesamtheit  der  Monaden  ist  bereits  als  ewiges  Ineinander  der 
ipealen  unwandelbaren  Urpositionen  vor  der  zeitlichen  Welt- 
schöpfung gegeben;  der  Schöpfungswille  ad  extra  hat  nichts 
weiter   zu   thun,  als  das  einende  temperierende  Band  aufzulösen« 


376 


I.  H,  FicBte. 


welches  das  Realuni versum  in  Gott  zusammenhält,  und  die  Mo- 
naden dem  falschen  Schein  des  raumzeiilicben  Beziehungswechsels 
zu  überlassen.  Die  ewigen  Monaden  sind  schon  vor  der  Welt- 
Schöpfung  völlig  real,  nämlich  durch  den  Willen  ad  intra  realisiert, 
der  in  ihrer  Gesamtheit  seine  Wirklichkeit  hat.  Die  innergött- 
liche Welt  oder  das  ewige  System  der  Urpositionen  in  Gott  ist 
von  jeher  als  eine  reale  Welt  fertig,  die  in  ihrer  höheren  wahren 
Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit  zugleich  ein  ewig  vollendetes,  un- 
wandelbares Beziehungssystem  der  Monaden  darstellt,  also  ebenso 
vollkommen,  wie  real  ist 

Indem  durch  den  Willen  ad  extra  das  einigende  Band  dieser 
vollendeten  Welt  gelöst  wird,  gewinnt  sie  an  Realität  nichts  hinzu, 
büsst  aber  an  Vollkommenheit  ein,  da  sich  mit  der  illusoriscbea 
empirischen  Zeitlichkeit  und  Räumlichkeit  der  Wechsel,  die  Ver- 
finsterung der  Monaden  gegen  einander,  das  Übel  und  das  Böse 
einstellt.  Da  liegt  doch  die  Frage  nahe,  warum  der  Wille  ad 
extra  zu  dem  Willen  ad  intra  hinzutreten  musste,  Anfangs  weist 
Fichte  diese  Frage  als  bedeutungslos  ab;  später  beantwortet  er 
sie  dahin,  Gott  habe  seine  Liebe  den  Geschöpfen  miueilen  wollen, 
um  dadurch  selbst  seine  Liebe  gegen  die  Geschöpfe  tiefer  21 
empfinden.  Nun  ist  aber  nicht  abzusehen,  warum  die  Monadei 
im  Zustande  der  Zerstreuung  und  Un Vollkommenheit  mehr  Gegen 
liebe  gegen  Gott  empfinden  sollen,  als  in  dem  schon  ebenso  realen 
Zustande  der  vollkommenen  Welt  vor  der  Schöpfung,  Ebenso- 
wenig ist  verständlich,  inwiefern  Gottes  Liebe  zu  den  Monaden 
dadurch  erhöht  werden  könnte,  dass  sie  aus  einem  vollkommeneren 
in  einen  unvollkommeneren  Zustand  versetzt  werden.  Am  wenigsten 
ist  es  begreiflich,  wie  eine  Erhöhung  des  Genusses  der  Liebe  in 
einem  allgütigen  Gott  die  Verschlechterung  des  Weltzustandes 
rechtfertigen  könnte,  bei  der  die  Geschöpfe  nur  verlieren,  aber 
nicht  gewinnen.  — 

In  dieser  ersten  Periode  Fichtes  spielt  die  Phantasie  keim 
Rolle;  dafür  wird  sie  aber  in  seiner  zweiten  Periode  zum  Central- 
begriff,  aus  dem  er  in  der  Anthropologie  die  Erscheinungen  des 
leiblichen  und  instinktiven  Lebens,  in  der  Psychologie  die  d' 
bewusstgeistigen  Lebens  ableitet.  Hätte  Fichte  bloss  die  Schriften' 
seiner  ersten  Periode  herausgegeben,  so  wäre  er  heute  völlig  ver- 
gessen und  hinter  Weisse  zurückgetreten;  aber  durch  die  Schriftei 
seiner  zweiten  Periode   hat  er    sich    zu  dem   wichtigsten  Anthro-' 


i 


T.  H.  Fichte. 


377 


Dlogen  und  Psychologen  des  spekulativen  Theismus  aufge- 
schwungen und  als  solcher  einen  bemerkenswerten  Einfluss 
ausgeübt. 

Unter  Phantasie  v^ersteht  Fichte  ein  individuelles  Seelen  ver- 
mögen, das  zwar  nicht  bewusst  im  gewöhnlichen  Sinne  des 
Wortes,  aber  auch  nicht  völlig  bewusstlos  im  Sinne  einer  totalen 
Negation  des  Wissens  ist,  sondern  ein  relativ  unbewusstes  Ver- 
mögen, das  einen  Mittelzustand  zwischen  Bewusstlosigkeit  und 
wachem  Bewusstsein  darstellt.  Die  Phantasie  äussert  sich  im 
Traum  bewusst  sein ,  in  der  unbewussten  schöpferischen  Thätigkeit 
des  künstlerischen  Genies  und  am  deutlichsten  in  den  verschiedenen 
Stufen  des  somnambulen  Bewusstseins,  das  sich  bis  zum  Hell- 
sehen steigern  kann.  Die  Phantasie  äusserst  sich  ferner  im  In- 
stinkt der  Tiere  und  Menschen,  in  der  organischen  Bildungs- 
kraft  und  Naturheilkraft.  Überall  wirkt  sie  vernünftig,  zweckvoU, 
wie  eine  individuelle  Vorsehung,  und  doch  ohne  klares  Bewusst- 
sein des  Zweckes  und  findet  ihren  Weg  mit  der  Sicherheit  eines 
Nachtwandlers.  Als  »plastische«  Phantasie  bewährt  sie  sich  im 
Aufbau  des  eigenen  Organismus  ebenso  wie  in  den  Bauinstinkten 
der  Tiere  und  den  Kunsttrieben  der  Naturvölker  und  ist  als 
solche  nur  dem  Grade,  nicht  der  Art  nach  von  dem  Genius  des 
Künstlers  verschieden.  Sie  ist  gar  nicht  reflektiert  und  doch 
höchst  vernünftig  in  ihrer  Intuitivität.  Sie  ist  aber  auch  mehr 
als  ein  blosses,  relativ  unbewusstes  Schauen  und  Erkennen,  sie 
ist  Trieb,  das  plastisch  Geschaute  auch  plastisch  zu  realisieren, 
und  nur  als  Trieb  vermag  sie  gestaltend,  erhaltend  und  umge- 
staltend in  die  materielle  Welt  einzugreifen.  Sie  ist  aber  auch 
nicht  bloss  Trieb  nach  Verleiblichung  und  Verkörperung  des  Ge- 
schauten, sondern  zugleich  auch  Trieb,  ihre  relative  Unbewusst- 
heit  aufzuheben  und  sich  zum  Bewusstsein  hindurchzuringen,  d.  h, 
Potenz  des  bewussten  Erkennens. 

So  ist  die  Phantasie  die  ursprüngliche  Einheit  des  unbewussten 
Erkenn ens  und  unbewussten  Triebes,  aber  beides  durchaus  indivi- 
duell verstanden»  und  die  einheitliche  Quelle  des  organischen  wie  des 
bewusstgeistigen  Lebens,  In  ihr  ist  sozusagen  die  Urqiialität  der 
Monade  oder  Urposition  zu  suchen.  Aber  sie  ist  auch  nicht  ohne 
einen  substantiellen  Träger  zu  denken,  und  dies  ist  eben  die  Monade 
oder  individuelle  Seele.  Die  Seele  ist  unbewusst  vernünftiges  Trieb- 
wesen, und  als  solches  weder  subjektiv    noch   objektiv,   sondern 


378 


I.  H.  Fichte. 


vor-  und  jenseits  dieses  Gegensatzes.  Die  bewusste,  abstrakte, 
diskwrsive  reflektierte  Vernünftigkeit  des  menschlichen  Denkens 
ist  erst  ein  sekundäres  Produkt  der  durch  die  Sinnlichkeit  hindurch- 
gegangenen unbewussten  Vernunft,  die  dadurch  einerseits  ver- 
endlicht, verdunkelt  und  in  den  Irrtum  verwickelt,  andrerseits 
aber  auch  erst  fähig  wird,  die  spezifisch  menschliche  Gestalt  der 
geistigen  Persönlichkeit  zu  vermitteln.  Aber  wenn  auch  das 
Apriorische  der  Phantasie  in  jeder  Monade  etwas  Individuelles 
ist,  so  kann  sich  Fichte  doch  der  Einsicht  auch  nicht  entziehen, 
dass  dieses  vorbewusste  Apriorische  letzten  Endes  den  Grund  des 
Weltzusammenhanges  und  der  ewigen  Harmonie  der  Dinge  aus- 
machen muss.  Denn  w^enn  auch  jeder  Seele  der  Zweck  als  indi- 
viduelle immanente  Vorsehung  eingebildet  ist,  so  müssen  doch  zu-|^tf 
letzt  alle  diese  individuellen  Vorsehungen  Momente  einer  univer-^^ 
seilen,  dem  Weltganzen  immanenten  Vorsehung  sein.  Aber  diesen 
Gedanken,  der  ihn  zur  Weltphantasie  einer  Weltseele  hinführen 
würde,  hütet  Fichte  sich  wohl  zu  verfolgen  und  verweist  statt 
dessen  auf  seine  spekulative  Theologie. 

Auch  in  Bezug  auf  die  Unbewusstheit  der  Monaden  und 
ihrer  Phantasie  vor  Eintritt  in  die  Wechselbeziehungen  der  ge- 
meinen Zeit  und  Raum  weit  weicht  Fichte  der  Konsequenz  aus 
und  lässt  sich  dadurch  in  die  Irre  führen,  dass  er  an  ein  leib- 
freies Zustandekommen  des  hellsehenden  somnambulen  Bewusst- 
seins  glaubt  Denn  er  hält  sich  nun  für  berechtigt,  dieses  relativ 
unbewusste  anschauende  Bewusstsein  als  ein  höheres  Bew^usstsein 
oder  j*  Voll  bewusstsein '  den  Monaden  vor  Eintritt  in  diese  Welt 
und  nach  dem  Wiederaustritt  aus  ihr  zuzuschreiben.  Allerdinga 
hält  er  vorsichtshalber  dabei  doch  an  dem  *  ätherischen  Leibe« 
Grundlage  der  seelischen  Bethätigung  fest  Wenn  die  Monaden 
in  der  vollendeten  inner  göttlichen  Welt  schon  ein  hellsehendes 
Vollbewusstsein  von  ungetrübter  Vernünftigkeit  besitzen»  so  wird 
es  um  so  unbegreiflicher,  w^arum  Gott  sie  durch  den  Schöpfungs- 
wnllen  ad  extra  aus  diesem  vollkommeneren  Zustande  heraus  in 
einen  soviel  unvollkommeneren  versetzt  hat,  und  warum  jede 
Monade  trotz  ihres  Vollbew^usstseins  noch  den  Trieb  zur  Er- 
w^ erbung  eines  sinnlichen,  reflektierten  Bewusstseins  besitzt  Wenn 
erst  das  letztere  imstande  ist,  zu  einer  wirklichen  Persönlichkeit 
zu  verhelfen,  und  die  Monade  vorher  noch  nicht  Persönlichkeit, 
sondern  nur  den  Keim  oder  die  Anlage  zu  einer  solchen  besitzt^ 


Frohscbammer, 


379 


so  lässt  sich  der  Trieb  zur  Erlangring'  eines  sinnlichen  Bewusst- 
seins  verstehen.  Aber  wie  soll  es  zugehen ,  dass  das  hellsehende» 
ung^etrübt  vernünftige»  an  die  Schranken  der  empirischen  Raum- 
sitlichkeit  nicht  gebundene  Vollbewusstsein  es  nicht  über  den 
[eim  einer  Persönlichkeit  hinausbringt,  und  erst  das  sinnliche, 
getrübt  vernünftige  in  die  illusorischen  Zeit-  und  Raunischranken 
gebundene  fragmentarische  Bewusstsein  zu  dieser  Leistung  be- 
fähigt ist? 

Es  ist  kein  Wunder,  dass  Fichte  durch  seine  Ansichten  über 
"den  Ätherleib  der  Monade  dahin  geführt  wurde,  mit  dem  modernen 
Spiritismus  Beziehungen  anzuknüpfen  und  diesem  seine  theoretische 
Unterstützung  zu  leihen.  Er  erscheint  in  dieser  Hinsicht  als  ein 
Fortsetzer  der  Naturphilosophen  der  Schellingschen  Schule»  die 
sich  mit  Vorliebe  mit  den  Nachtseiten  der  Natur  beschäftigten. 
Nach  drei  verschiedenen  Richtungen  wurde  sein  Standpunkt  fort- 
gebildet. Erstens  berührte  sich  seine  Ansicht  von  der  Seelen- 
lonade  aln  einem  ewigen  individuellen  Triebwesen  mit  der  indi- 
vidualistischen Willensmetaphysik,  die  sich  in  der  zweiten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  aus  Schopenhauer  entwickelte.  Zweitens 
wurde  die  alte  Annahme,  dass  die  Seelen  Wirksamkeit  auf  einem 
astralen  oder  ätherischen  Leibe  beruhe,  von  den  transcendentalen 
Individualisten  zur  Identität  der  Seele  mit  diesem  Ätherleibe  ge- 
steigert und  dadurch  der  Fichtesche  Spiritualismus  in  einen  über- 
sinnlichen Materialismus  umgewandelt  Drittens  endlich  wurde 
von  Frohschammcr  die  Urqualität  des  Fichteschen  Seelenwesens, 
die  Phantasie,  zum  substantiellen  Seelenwesen  selbst  erhoben  und 
mit  der  Weltphantasie  als  Weltseele  Ernst  gemacht.  — 

F  r  oh  seh  am  m  er  {i  821  — 1893)  entlehnte  von  Weisse  das  System 
der  ewigen  Walirheiten  als  ein  vor  und  hinter  Gott  liegendes 
Reich  der  logischen  Möglichkeiten  und  Gesetze,  nach  denen  sich 
Gott  im  Fall  seiner  Aktualität  richten  muss,  die  aber  auch  erst 
durch  ihn  Lebendigkeit  und  Wirksamkeit  erhalten,  und  die  Phan- 
tasie als  die  Form  der  absoluten  Aktualität  Von  I.  H.  Fichte 
übernahm  er  die  Phantasie  als  teleologisch-plastisches  Princip  im 
Einzelwesen  wie  im  Weltganzen,  die  Unbewusstlieit  dieses  Prin- 
cips,  und  die  Verschmelzung  des  unbewussten  produktiven  Triebes 
oder  unbewussten  Willens  mit  ihm.  Beide  Konzeptionen  fasste 
er  zu  der  unbewussten  Weltphantasie  als  alleinigem  metaphysischem 
Erklärungsprincip  zusammen.     Er  zog  also  den  absoluten  Willen, 


38o 


Frohscharainer. 


der  bei  Weisse  neben  der  Phantasie  steht,  in  die  Phantasie  mit 
herein,  wie  Fichte  es  in  der  Monade  gethan  hatte.  Andrerseits 
liess  er  das  Fichteschc  «Vollbewusstsein*  der  relativ  unbewussten 
monadischen  Phantasie  hinter  dem  gemeinen  Bewusstsein  fallen, 
und  fasste  dieselbe  schlechthin  als  absolut  unbewusste  auf.  Nur  bei 
dem  Absoluten  machte  er  darin  eine  Ausnahme.  Als  gläubiger 
Katholik  (später  Altkatholik)  hielt  er  an  dem  persönlichen  Gott 
als  etwas  Selbstverständlichem  fest,  das  hinter  und  über  der  un- 
bewussten Welt  Phantasie  stehe.  Das  Verhältnis  beider  entspricht 
dem  von  Gott  und  Weltseele  bei  Giordano  Bruno.  Mit  Beweisen 
für  einen  Gott  hinter  der  Weltphantasie  hat  er  sich  als  mit  etwas 
Überflüssigem  in  seinen  früheren  Schriften  nicht  abgegeben;  erst 
in  seiner  letzten  Schrift  (ii:^9i)  ist  er  dieser  Frage  näher  getreten 
und  hat  sie  als  wissenschaftlich  unlösbar  anerkannt,  da  die  Welt- 
phantasie allen  Ansprüchen  der  Wissenschaft  genüge.  Aber  auf 
Grund  des  religiösen  Bedürfnisses  hält  er  auch  hier  an  einem  per- 
sönhchen  Gott  fest^  der  freilich  in, reiner  Geistigkeit  nicht  vor- 
stellbar sei.  — 

Phantasie  ist  die  Fähigkeit  des  Geistes»  Bilder  zu  gestalten; 
die  subjektive  Phantasie  wirkt  sinnliche,  bew^usste  Anschauungen» 
die  objektive  übersinnliche,  unbewusste. 

Die  Phantasie  ist  zugleich  Bildungs-  und  Schaffenskraft;  ins- 
besondere produziert  die  objektive  Phantasie  reale,  stoffliche  und 
innerlich  selbständige  Gestalten.  Sie  ist  das  organisierende  Princip 
in  der  Natur  und  die  herrschende  und  leitende  Macht  in  der 
Geschichte,  kurz  das  einheitliche  teleologfisch  plastische  Form- 
princip  des  Weltprozesses. 

Der  Phantasie  steht  als  das  von  ihr  zu  Gestaltende  der  Stoff 
gegenüber.  Das  ganze  Wesen  des  Stoffes  besteht  nach  Froh- 
schammer  in  der  Ausdehnung  oder  Räumlichkeit,  genauer  in 
der  Anwendung  der  ICraft  und  der  ewigen  Gesetze  auf  die 
Räumlichkeit.  Nun  hat  aber  die  Phantasie  sowohl  die  Kraft  der 
Verwirklichung  als  auch  die  ewigen  Gesetze  potentiell  in  sich» 
und  ist  in  Bezug  auf  beide  dem  Stoff  nicht  entgegengesetzt, 
sondern  verwandt  In  Bezug  auf  die  Räumlichkeit  bleibt  ihr 
Verhältnis  etwas  unklar.  Die  subjektive  sinnliche  Phantasie  ist 
zwar  ohne  Zweifel  räumlich;  aber  die  objektive  Phantasie  ist  über- 
sinnlich, und  da  nach  PVohschammers  Ansicht  der  Raum  eine 
Form  der  Sinnlichkeit  ist,   so  muss  sie  als  un räumlich  angesehen 


FrohschjimTncr. 


381 


werden.  Andererseits  ist  ihre  Wirksamkeit  im  Weltprozess,  so- 
wohl in  der  Natur  wie  in  der  Geschichte  zeitlich;  denn  Froh- 
schammer  findet  es  gerade  wegen  der  Zeitlichkeit  der  Welt- 
entwickelung nicht  angänglich,  die  Schöpfung  als  einmaligen 
Akt  Gottes  zu  betrachten.  Wenn  aber  die  unbewusste  Phantasie 
zeitlich  wirkt,  so  sollte  sie  doch  auch  wohl  räumlich  wirken 
können.  Zumal  da  Frohschammer  selbst  annimmt,  dass  sie  den 
Raum  setzt»  dürfte  der  letzte  Grund  wegfallen,  den  Stoff  als 
etwas  nicht  von  der  Weltphantasie  Gesetztes,  von  ihr  Vorge- 
fundenes stehen  zu  lassen.  Dies  wird  aber  von  Frohschammer 
nicht  beachtet;  er  bleibt  in  dem  Dualismus  von  weltbildender 
Phantasie  und  Stoff  (Demiurg  und  Hyle}  stecken  und  hält  ihn 
für  unüberwindlich.  Ausschliesslich  dieser  von  ihm  unbewusst 
schon  überwundene  Dualismus  ist  es  auch,  der  ihn  nötigt,  hinter 
dem  Gegensatz  von  Weltphantasie  und  Stoff  noch  wieder  ein 
Absolutes  oder  einen  Gott  anzunehmen.  Die  Weltphantasie  ist 
der  unbewusste  immanente  Gott  der  Wissenschaft;  der  absolute 
Gott  hmter  ihr  ist  wissenschaftlich  nicht  näher  zu  bestimmen,  ist 
aber  jedenfalls  metaphysisch  transcendent  zu  denken. 

Das  Bewusstsein  entwickelt  sich  in  den  Individuen  erst  aus 
der  unbewussten  Phantasie  und  ihrem  instinktiven  Triebleben, 
indem  aus  der  organischen  Verinnerlichung  der  Phantasie  ihr 
sich  Innefinden  oder  die  Empfindung  hervorgeht,  und  aus  dieser 
an  einerseits  die  Gefühle,  andererseits  die  Vorstellungen.  Im  Vor- 
stellungsleben der  höheren  Individuen  gelangt  dann  die  Phantasie 
zum  Bewusstvverden  der  ihr  immanenten  ewigen  Wahrheiten  in 
Gestalt  logischer  Gesetze,  während  dieselben  in  der  Natur  nur 
als  ewig  notwendige  physikalische  Gesetze  dem  Stoff  eingeprägt 
sind  und  die  Bethätigungsweisen  der  physikalischen  Kräfte  be- 
stimmen. Frohschammer  betont  es  fast  noch  stärker  als  L  H, 
Fichte,  dass  das  Bewusstsein  nicht  bildend,  schaffend,  erzeugend, 
hervorbringend,  produktiv  ist,  sondern  nur  den  ruhenden  Schau- 
platz darstellt,  auf  dem  sich  das  wechselnde  Spiel  der  Gefühle 
und  Vorstellungen  vollzieht,  nur  einen  beharrenden  Zustand  der 
inneren  Belichtung  der  unbewussten  Produkte.  Die  unbewusste 
Phantasie  steht  als  das  eigentlich  Produktive  diesen  Vorgängen 
im  Bewusstsein  ebenso  gegenüber  wie  den  Vorgängen  in  der 
Natur.  Der  logischen  Gesetzmässigkeit  beider  gegenüber  ist  sie 
das  Princip  der  freien  Zweckthätigkeit,  das  teleologische  Princip, 


382 


FVobsduumn^r. 


das  zu  Stoff  und  Kraft  die  Normen  des  Bildens  herzubringt,  oder 
das  Urwesen.  das  über  Ursein  und  Urkraft  waltet  — 

Alle  Erfahmng  weist  darauf  hin,  dass  die  teleologischen  Vor- 
gänge und  Produkte  in  der  Natur,  im  persönlichen  Menschengeist 
und  in  der  Geschichte  nicht  einer  bewussten  Verstandesthätigkeit, 
sondern  einem  unbewussten  teleologischen  plastischen  und  dirii 
gierenden  Princip  entspringen.  Wissenschaftlich  liegt  also  kein 
Grund  vor,  über  das  unbewusste  immanente  Weltprincip  der 
Phantasie  hinauszugehen,  vielmehr  erscheint  aus  wissenschaftlichem 
Gesichtspunkte  die  Annahme  eines  bewussten  persönlichen  Gottes 
hinter  der  unbewussten  Weltphantasie  unnötig,  überflüssig  und 
ungerechtfertigt.  Da  das  Bewusstsein  doch  bloss  ein  unproduk- 
tiver Zustand  ist,  kann  es  auch  in  Gott  nichts  zur  Erklärung  seiner 
Werke  beitragen.  Auch  wäre  es  unbegreiflich,  wie  aus  einem 
bewussten  absoluten  Grund  dies  Unbewusste  hervorgehen  sollte, 
aus  dem  allein  die  Welt  zu  erklären  isL  Endlich  sind  wir  nicht 
einmal  fähig,  uns  von  einem  reinen  Geist  als  einem  persönlichen 
Wesen  eine  Vorstellung  zu  bilden;  wir  dürfen  ihn  nur  nicht  etwa 
unterpersönlich,  sondern  müssen  ihn  üb  er  persönlich  denken.  Aus 
alledem  sollte  man  folgern,  dass,  wenn  doch  hinter  Weltphantasie 
und  Stoff  noch  ein  Absolutes  oder  ein  Gott  angenommen  werden 
soll,  dies  wieder  nur  ein  unbewusster  und  unpersönlicher  absoluter 
Geist  sein  dürfte. 

Diese  Folgerung  zieht  aber  Frohschammer  nicht,  sondern  nur 
die  andere,  dass  das  Problem  wissenschaftlich  unlösbar  sei,  und 
dass  deshalb  hier  allein  das  religiöse  Bewusstsein  zu  entscheiden 
habe.  Die  ganze  Menschenseele,  Gemüt  und  Verlangen,  wird 
von  dem  unbewussten  unpersönlichen  Gott,  den  die  Wissenschaft 
allein  zu  bieten  hat,  nicht  befriedigt;  sie  verlangt  nach  dem  per- 
sönlichen, und  die  subjektive  Phantasie  bedarf  der  Persönlichkeit 
Gottes  zur  Vorstellung  Gottes.  Frohschammer  hat  nicht  unter- 
sucht, ob  diese  auf  dem  Boden  des  ihm  gewohnten  christlichen 
Vorstellungskreises  unzweifelhaft  richtige  Erfabrungsthatsache  auch 
unabhängig  von  dieser  Gewöhnung  durch  autoritative  Lehre  und 
Erziehung  noch  richtig  ist,  und  ob  nicht  vielmehr  für  ein  ge- 
läutertes religiöses  Bewusstsein  ein  unpersönlicher  Gott  Postulat 
und  ein  persönUcher  unzulänglich  sein  könnte.  Er  hat  die  nach* 
wirkende  Macht  seiner  christlichen  Erziehung  für  ausreichend 
gehalten,    um   dieses    philosophische  Problem  zu  entscheiden.     Er 


Frohschammer. 


383 


hat  damit  die  gerade  entgegengesetzte  Entscheidung  getroflfen  wie 
Steudel,  Wenn  Steudel  aus  dem  vermeintlichen  Widerstreit  zwi- 
schen den  Fordenmgen  des  wissenschaftUchen  und  des  rehgiösen 
Bewusstseins  die  Folgerung  zieht,  dass  das  religiöse  Bewusstseio 
unterdrückt  werden  müsse,  so  Frohschammer  vielmehr  die,  dass 
das  wissenschaftliche  Bewusstsein  sich  zu  bescheiden  habe  und 
dem  religiösen  den  Vorrang  lassen  müsse.  Deshalb  gehört  wohl 
Frohschammer,  aber  nicht  Steudel  unter  die  Theisten,  obwohl 
Frohschammer  als  wissenschaftlicher  Philosoph  ein  unbewusstes, 
Steudel  aber  ein  bewusstes  und  selbstbewusstes  Princip  lehrt; 
denn  Steudel  leugnet,  Frohschammer  behauptet  einen  persönlichen 
Gott  — 

Überblicken  wir  im  Zusammenhange,  was  diese  drei  Ver- 
treter  der  Phantasie  geleistet  haben,  so  wird  der  Fortschritt,  der 
durch  sie  in  der  metaphysischen  Principienlehre  herbeigeführt  ist, 
nicht  gering  zu  veranschlagen  sein.  Der  Unterschied  zwischen 
dem  Logischen  als  reinem  Formalprincip  und  der  aktuellen  Idee, 
die  Unbewusstheit  nicht  nur  des  Logischen,  sondern  auch  der 
aktuellen  Idee,  die  einheitliche  Immanenz  der  logischen  Gesetz- 
mässigkeit und  der  teleologischen  sogenannten  Freiheit  in  der 
Idee,  die  Unbewusstheit  der  aktuellen  Idee  im  Gegensatz  zu 
aller  bewussten  Absichtlichkeit,  ihre  Intuitivität  im  Gegensatz  zu 
aller  diskursiven  und  abstrakt  logischen  Reflektiertheit,  ihre  Über- 
sinnlichkeit im  Gegensatz  zu  aller  sinnlichen  Anschauung,  die 
Zeitlichkeit  und  Räumlichkeit  ihres  wechselnden  Inhalts,  die  un- 
lösbare Einheit  der  unbcwussten  Idee  mit  dem  ebenso  unbewussten 
Willen,  die  Immanenz  dieser  Einheit  von  unbewusster  Idee  und 
unbewusstem  Willen  in  der  Welt  als  ganzen  und  in  allen  ihren 
Gliedern  —  das  alles  dürfte  als  bleibender  Gewinn  der  Metaphysik 
zu  betrachten  sein.  Ob  die  Bezeichnung  Phantasie  oder  Imagination 
glücklich  gewählt  ist,  das  ist  eine  andere  Frage.  Da  mit  der 
objektiven  unbewussten  Phantasie  kein  anderer  Sinn  verknüpft 
wird,  als  den  Schelling  und  Schopenhauer  mit  dem  Worte  Idee 
und  Hegel  mit  der  verwirklichten  konkreten  Weltidee  bezeichnen 
wollte,  so  wäre  es  wohl  besser,  zu  dem  Worte  Idee  zurückzukehren, 
dafür  aber  die  *Idee^  —  als  konkrete,  aktuelle,  übersinnliche 
Intuition  mit  räum  zeitlichem  Inhalt  —  von  dem  »Logischent  — 
als  ewigem  logischen  Formalprincip  —  strenge  zu  unterscheiden, 
Dass  die  Koordination  des  Wülens  und  der  Idee,  wie  Weisse  und 


384 


FrobicbAiiimer. 


Fichte  sie  von  Baader  und  Schelling  übernommen  haben,  bei 
Frohschammtn"  aufgegeben  ist  und  in  die  Phantasie  alles  Mög- 
liche hineingestopft  wird,  was  ihr  nicht  zukommt,  ist  eine  offen- 
bare Verschlechterung,  die  wieder  beseitigt  werden  muss,  D^lss 
es  aber  gerade  drei  Theisten  sein  mussten,  die  die  Lehre  von  der 
Phantasie  ausbilden  mussten,  erscheint  als  eine  Ironie  des  Schick- 
sals; denn  damit  untergruben  sie  gerade  dem  Theismus,  dem  sie 
zu  dienen   wünschten,  den  Boden  unter  seinen  Füssen.  — 


Günther,  Deutinger,  Weisse  und  I.  H.  Fichte  in  seiner  ersten 
Periode  stellen  den  Höhepunkt  des  Theismus  dar.  Aus  dem 
Grundgedanken  des  Theismus,  dem  selbstbewussten  persönlichen 
Gott  als  der  ewigen  Urwirklichkeit,  ist  alles  das  entwickelt,  was 
sich  aus  ihm  herausholen  lässt.  Was  bei  Baader  und  Schelling 
noch  in  gährender  Unklarheit  auftritt,  stellt  sich  hier  in  abge- 
klärter Gestalt  dar.  Die  aphoristischen  Exkurse  Baaders,  der  bei 
Schellings  Lebzeiten  erschienenen  Schellingschen  Schriften  und 
Günthers  gewinnen  bei  Weisse,  Deutinger  und  Fichte  systematische 
Gestalt.  Die  Fortschritte,  welche  die  Kategorienlehre  von  Kant 
bis  Hegel  gemacht  hatte,  und  die  Vertiefung,  welche  die  Pnnci- 
pienlehre  durch  Baader  und  Schelling  gewonnen  hatte,  werden 
konserviert,  nach  Kräften  verbessert  und  dem  Theismus  an- 
geeignet So  wird  der  systematische  Theismus  in  der  That  zum 
Erben  der  ganzen  philosophischen  Vergangenheit 

Es  ist  nicht  etwa  zufällig,  dass  Baader,  SchelHng,  Günther, 
Deutinger,  Weisse  und  Fichte  sämtlich  Trinitarier  sind.  Sie 
alle  sind  von  der  Überzeugung  beherrscht  dass  der  Theismus  in 
unitarischer  Gestalt  sein  Ziel  verfehlen  muss ,  und  dass  er.  wenn 
er  überhaupt  fähig  sein  soll,  seine  philosophische  Aufgabe  zu 
lösen,  dies  nur  in  trinitarischer  Gestalt  vermag.  Die  unitarischen 
Theisten,  welche  diese  Wahrheit  verkennen,  sind  Denker,  die  an 
spekulativer  Begabung  ohne  Ausnahme  hinter  den  (Tenannten 
zurückstehen.  Die  trinitarischen  Systematiker  schufen  ihre  Haupt- 
werke in  der  Zeit  zwischen  Hegels  Tode  und  dem  allgemeineren 
Bekanntwerden  der  Schopenhauerschen  Philosophie  und  füllten 
gleichsam  die  zeitliche  Lücke  aus,  die  zwischen  der  geistigen 
Vorherrschaft  Hegels  und  derjenigen  Schopenhauers  in  der  speku- 
lativen Philosophie  bestand.  Die  Unitarier  dagegen  fallen  teils 
noch   in    den  Anfang   des   neunzehnten  Jahrhunderts   (wie  Jacobi, 


Neuere  Uni  tarier. 


385 


Krause  und  Herbart),  teils  treten  sie  mit  ihren  massgebenden 
Werken  und  ihrem  Einäuss  erst  in  der  zweiten  Hälfte  dieses 
Jahrhunderts  hervor  und  stehen  bereits  mit  dem  Einfluss  der 
Schopenhauerschen  Philosophie  in  Wettbewerb.  Wie  die  erstere 
Gruppe  mehr  oder  minder  verfehlte  Anläufe  des  Theismus  dar- 
stellt, so  die  letztere  die  Stufen  seines  Verfalls  und  seiner  Selbst- 
auflösung. Schon  I.  H.  Fichtes  zweite  Periode  gehört  mit  zu 
diesem  Verfall  des  Theismus  als  solchen;  wenngleich  Fichte  in 
ihr  noch  immer  auf  seine  erste  Periode  zurückweist  und  von 
deren  Ergebnissen  nichts  zurücknimmt,  so  stellt  er  doch  gleich- 
sam stillschweigend  die  Trinität  ausser  Gebrauch.  In  Froh- 
schammers  Philosophie  ist  die  Trinität  ganz  und  gar  verschwun- 
den und  mit  ihr  auch  die  Persönlichkeit  Gottes  völlig  verblasst 
und  problematisch  geworden. 


6.  Neuere  Uni  tarier. 


Trendelenburg,  UWci  und  Lotze  stellen  die  Hauptvertreter 
der  Gruppe  von  Unitariem  dar,  welche  den  Verfall  des  Theismus 
vollziehen.  Die  Gotteslehre  schieben  sie  entweder,  wie  Trendelen- 
'  bürg,  gleichsam  verschämt  beiseite,  oder  sie  bringen  doch  nichts 
Neues  zu  ihr  hinzu  und  schwächen  bei  ihren  Versuchen»  den 
Theismus  zu  vereinfachen  und  zu  popularisieren,  seinen  speku- 
lativen Gebalt  nur  ab.  In  der  Principienlehre  verzichten  sie  ent- 
weder auf  Eigenes,  oder  sie  machen  damit  verfehlte  Versuche; 
in  beiden  Fällen  erweisen  sie  sich  unfähig,  das,  was  ihre  Vorgänger 
in  der  Principienlehre  bereits  geleistet  haben,  recht  zu  würdigen 
und  das  Gold  von  den  Schlacken  zu  sondern.  Wo  jene  tief 
waren,  erscheinen  sie  oberflächlich. 

Trotzdem  haben  diese  Philosophen  einen  nicht  zu  unter- 
schätzenden Einfluss  auf  ihre  Zeit  gewonnen.  Und  dies  erklärt 
sich  nicht  bloss  daraus,  dass  die  Zeit  der  tieferen  Spekulationen  müde 
war  und  nach  seichterer  Kost  verlangte,  auch  nicht  bloss  daraus, 
dass  sie  gefälliger  und  leichtverständücher  zu  schreiben  wussten. 
Sondern  die  Hauptsache  ist,  dass  sie  in  methodologischer  Hinsicht 
moderner   waren,    sich   einer    exakteren    Forschung    befleissigten 


£.  V.  HdirtEDaoeii,  Auigew.  Werke.    Bd.  XII. 


25 


386 


Nenere  TJoitarier. 


und  den  Anspruch  fallen  Hessen,  ihren  Theismus  als  eine  Lehre 
von  apodiktischer  Gewissheit  auszugeben.  Trendelenburg^  suchte 
die  Exaktheit  hauptsächlich  in  einer  philologischen  Sorgfalt  der 
historischen  Quellenforschung,  in  strenger  Beobachtung  der 
logischen  Gesetze  und  in  einer  auf  beide  gestützten  Kritik  der 
massgebenden  Vorgänger.  Ulrici  und  Lotze  dagegen  bemühten 
sich,  die  Ergebnisse  der  modernen  Naturwissenschaft  philosophisch 
zu  verwerten  und  die  Philosophie  mit  ihnen  in  Einklang  zu 
bringen. 

Die  historisch -philologische  Schule  Trendelenburgs  trat  in 
Wechselwirkung  mit  den  historischen  Schülern  Hegelsund  dieses^ 
Zusammenwirken  im  Wettstreit  führte  zu  einer  Blüte  der  philc 
sophiegeschichtlichen  Studien,  wie  sie  noch  zu  keiner  Zeit  vorher 
erlebt  war.  Ulrici  und  Lotze  wirkten  in  ähnlicher  Richtung,  wie 
I.  H.  Fichte  in  seiner  Anthropologie  und  Psychologie  und  Fech- 
ner,  und  von  ihnen  ging  jenes  Interesse  der  Philosophie  an  den 
exakten  Naturwissenschaften  aus,  das  ein  Merkmal  der  gegen« 
wärtigen  Philosophie  im  Unterschiede  von  der  aller  frühere 
Zeiten  bildet  Sie  alle  haben  die  Herrschaft  der  induktiven 
Methode  in  der  Philosophie  herbeiführen  helfen,  und  darum  muten 
sie  den  modernen  Leser  so  ganz  anders  an,  als  ihre  spekulativen 
Vorgänger,  die  noch  an  die  deduktive  oder  dialektische  Kon- 
struktion glaubten.  Niemand  hat  so  sehr  dazu  beigetragen,  das 
Ansehen  der  Hegeischen  Dialektik  zu  erschüttern,  wie  Trendelen- 
burg und  Ulrici,  niemand  energischer  die  falschen  Spitzfindig- 
keiten der  Herbartschen  Metaphysik  und  Psychologie  bekämpft, 
als  Trendelenburg  und  Lotze. 

Alle  diese  Leistungen  und  Vorzüge  sind  aber  doch  nur  neg 
tiver  oder  formaler  Art,  und  würden  kaum  ausreichend  scheinen," 
den  Ruf  dieser  Denker  zu  begründen  und  ihr  Manko  in  Bezug 
auf  den  Grundgedanken  des  Theismus  und  die  Principienlehre  aus- 
zugleichen. In  der  That  haben  sie  aber  auch  positive  Leistungen 
für  die  Geschichte  der  Metaphysik  aufzuweisen,  und  zwar  liegen 
diese  bei  allen  dreien  auf  dem  Gebiet  der  Kategorienlehre.  Tren- 
delenburgs > Logische  Untersuchungen«  (1840),  Lotzes  Logik  und 
Metaphysik  (erste  Bearbeitung  1843  und  1841,  zweite  1S74  und 
1B79)  und  Ulricis  System  und  Kompendium  der  Logik  (1852  und 
1860)  sind  schätzenswerte  Bearbeitungen  der  Kategorienlehre, 
durch  w^elche  dieser  Zweig  der  Metaphysik  ohne  Zweifel  gefördert 


II 


worden  ist  Sie  stehen  an  Bedeutung  der  Metaphysik  Weisses 
(i835),  der  Ontologie  Fichtes  {1836)  und  den  bezüglichen  Arbeiten 
Günthers  und  Deutingers  (beide  1843)  nicht  nach,  sondern  voran, 
und  bilden  seit  Hegels  Logik  die  wichtigsten  Werke  dieses  Ge- 
bietes. Auch  unter  diesem  Gesichtspunkt  erscheint  es  gerecht- 
fertigt, diese  drei  Unitarier  zu  einer  Gruppe  zusammenzufassen.  — 

Trendelenburg  {1802 — 1872)  ist  ein  Schüler  des  Schellingia- 
ners  von  Berger,  nach  welchem  die  Dinge  oder  Wesen  nur  ^die 
in  ihren  Produkten  angeschauten  Entwickelungsstufen  der  Einen 
unendlichen   Thätigkeit  —  die  gleichsam  aufgehaltene  oder  ver- 

lende  ewige  Idee«  sind  (Logische  Untersuchungen,  2.  Auf- 
e,  n,  468).  Er  sucht  die  Identitätsphilosophie  auf  ihren  ein- 
fachsten Ausdruck  zurtlckzuführen,  indem  er  die  Thätigkeit  unter 
dem  Namen  Bewegung  als  ein  Letztes  und  zugleich  als  das  im 
Denken  und  Sein  Identische  hinstellt  Obwohl  Theist,  gehört  er 
somit  doch  zu  denjenigen  Philosophen,  welche  wie  G.  Fichte,  Schel- 
ling  und  Hegel  in  der  Thätigkeit  selbst  das  letzte  Princip  und 
den  Produzenten  der  Substanz  erblicken.  Auch  in  methodologi- 
scher Hinsicht  gehört  er  noch  zu  der  älteren  Richtung  der  speku- 
lativen Philosophie»  sowohl  in  seiner  Auffassung  der  Aufgabe  der 
Erkenntnis»  als  auch  in  seinem  Versuch  einer  genetischen  De- 
duktion alles  Endlichen  aus  dem  Urprincip.  Nur  in  Bezug  auf 
das  Unendliche,  Unbedingte,  Absolute  erkennt  er  die  Unmöglich- 
keit einer  direkten,  deduktiven »  genetischen  Erkenntnis  an  und 
bescheidet  sich  mit  einer  indirekten,  die  aus  den  Beziehungen  des 
Unbedingten  zum  Bedingten  geschöpft  ist 

Trendelenburg  hat  hauptsächlich  eine  historische  und  kritische 
Wirksamkeit  entfaltet,  auf  philologisch  exakte  Behandlung  der 
älteren  PhUosophen  gedrungen  und  mit  Schärfe  und  guten  Grün- 
den Hegel  und  Herbart  bekämpft.  Aber  während  er  sich  gegen 
Herbart,  den  er  erst  nach  Abschluss  seiner  eigenen  Entwickelung 
kennen  lernte,  lediglich  negativ  verhielt,  steht  er  mit  Hegel  in 
sachlicher  Hinsicht  wesentlich  auf  gleichem  Boden  und  bekämpft 
an  ihm  eigentlich  nur  das  Formelle,  die  dialektische  Methode. 
Auch  ihm  ist  der  Gedanke,  die  ewige  Idee,  das  letzte  Princip, 
das  Prius  von  allem,  und  die  That,  die  im  Ursprung  der  Dinge 
ist,  deckt  sich  ihm  mit  dem  Logos,  der  im  Ursprung  war.  >Der 
Akt  des  götthchen  Wissens  ist  in  allen  Dingen  die  Substanz  des 
Seins«  (ebenda  46g).    Er  verwirft  alle  Systeme,  die  die  gedanken- 


388 


Trendelenburg. 


lose  Materie  oder  blinde  Kraft  zum  Princip  erheben,   oder  dieses 
Princip  mit  dem  Gedanken  zur  Identität  zu  verschmelzen  suchen, 
und  bekennt  sich  damit  zum  absoluten  Idealismus  oder  Panlogis- 
mus   im    Sinne   von   SchelHngs   erstem    System   und   von    Hege 
Er  nahm  die  objektive  Teleologie  des  Aristoteles»  die  durch  Hegi 
wieder  zu  Ehren  gebracht  war,  auf,  und  bemühte  sich  darzuthun, 
dass  sie  ebensogut  und  besser  auf  der  Grundlage  der  Aristoteli^ 
sehen  Logik  als  auf  der  der  Hegeischen  Dialektik  bestehen  könne. 
Nach  dem  Vorgange  Wilhelms  von  Occam  hob  er  die  Beziehung 
der   Aristotelischen   Kategorien    zu    den    grammatischen   Formen 
der  Sprache  herv^or. 

Wenn  er  so  die  Aristotelischen  Studien  neu  belebte,  so 
brachte  er  auch  die  Bearbeitung  der  Erkenntnistheorie  wieder  in 
Fluss,  indem  er,  ganz  im  Sinne  des  Schleiermacherschen  trans-^^^J 
cendentalen  Realismus,  die  Kantsche  Begründung  des  transcen^^H 
dentalen  Idealismus  angriff  und  als  nichts  beweisend  darthat 
Aber  obwohl  er  sich  von  dem  erkenntnistheoretischen  Idealismus 
ebenso  entschieden  abwendet,  wie  er  die  Möglichkeit  eines  reinen 
Denkens  leugnet,  beharrt  er  doch  dabei,  das  Endliche  genetisch 
konstruieren  zu  wollen,  uneingedenk  des  Aristotelischen  Grund- 
satzes, dass  das  der  Natur  nach  Frühere  für  uns,  d.h.  für  unser 
Erkennen,  das  Spätere  sei*  — 

In  der  richtigen  Einsicht,  dass  die  Bewegung  in  der  Natur 
die  Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit  erst  setzt,  meint  er  deshalb 
irrtümlich,  sie  auch  als  Erkenntnisprincip  beiden  voranstellen  zu 
müssen,  Raum  und  Zeit  sind  also  die  beiden  ersten  Kategorien, 
die  er  aus  der  Bewegung  ableitet.  Da  er  keine  abstrakt  logische 
Idee  hinter  dem  Weltprozess,  sondern  nur  eine  konkrete  Weltidee 
im  Weltprozess  kennt,  so  hat  er  ebenso  recht,  Raum  und  Zeit 
als  Kategorien  in  die  Idee  einzuschliessen,  wie  Hegel  von  seiner 
entgegengesetzten  Annahme  aus  recht  hatte,  sie  von  der  logischen 
Idee  in  ihrem  Ansichsein  auszuschUessen.  Von  Aristoteles  ent- 
lehnt Trendelenburg  den  Satz,  dass  Veränderung  nur  qualitative 
Bewegung  sei,  und  hält,  darauf  gestützt,  die  Bewegung  für  den 
allgemeineren  Begriff,  von  dem  die  Veränderung  nur  eine  Unterart 
bilde.  (Bewegung  ist  vielmehr  als  diejenige  Art  der  Veränderung 
zu  bestimmen,  durch  welche  die  räumlichen  Beziehungen  ver- 
ändert werden.)  Ja,  er  identifiziert  sogar  Bewegung  mit  der  aktiven 
Thätigkeit,  welche  der  erzeugende  Grund  der  passiv  verlaufenden 


TrendeJenburg. 


389 


Veränderung  ist,  obwohl  doch  diese  Thätigkeit  noch  weniger 
räumlich  zu  sein  braucht,  als  die  Veränderung,  die  aus  ihr  folgt. 
Je  nach  Belieben  hebt  er  die  eine  oder  die  andere  dieser  Bedeu- 
tungen hervor»  oder  lässt  sie  wieder  fallen,  unbekümmert  darum, 
dass  er  sich  damit  in  einer  beständigen  quaternio  terminonim 
bewegt.  Da  Bewegung  ausserdem  noch  bald  die  Bedeutung 
.eines  realen  Naturprozesses,  bald  diejenige  einer  subjektiv  idealen 
Anschauung  annimmt,  so  kann  man  nicht  weniger  als  zw^ölf  ver- 
schiedene Bedeutungen  des  Wortes  Bewegung  unterscheiden,  die 
bei  Trendelenburg  wirr  durcheinander  fliessen. 


A.  RSiumltelie   Veränderung   oder  Bewegoiig  lin   eigentliclien 

Sinne, 

1.  Die  reale  Bewegung  im  Naturprozess. 

2.  Die  subjektiv  ideale  Perzeption  einer  im  Wahrnehmungs- 
bilde vor  sich  gehenden  Bewegung,  die  vom  Subjekt  nicht 
bewusst  gewollt  ist,  und  bei  der  es  sich  deshalb  völlig  passiv 
zu  verhalten  glaubt  (z.  B.  der  fliegende  Vogel). 

3.  Die  willkürliche  Beweg^ung  des  realen  Blickpunktes, 
der  über  ein  Wahrnehm ungsbÜd  hingleitet,  verbunden  mit 
dem  Gefühl  aktiver  Bewegung  und  bedingt  durch  reale 
physische  Bewegung  des  Augapfels  (z.  B>  das  Durchw^andern 
der  Umrisse  eines  grossen  Gebäudes). 

4.  Die  unwillkürliche  Bewegung,  welche  sich  scheinbar  ohne 
subjektives  Zuthun  in  einem  Phantasiebilde  vollzieht  (z.  B. 
der  Vogel,  den  man  im  Traume  fliegen  sieht), 

5.  Die  willkürliche  Bewegung  des  idealen  Blickpunktes, 
der  über  ein  Phantasiebild  (ohne  entsprechende  physische 
Bewegung  des  Augapfels)  hingleitet  (z.  B.  das  Durchwandern 
der  Umrisse  eines  geträumten  Gebäudes). 

6.  Die  reale  konstruktive  Bewegung,  durch  welche  der 
menschliche  Leib  oder  seine  Glieder  eine  reale  Figur  hervor- 
bringen (z.  B.  Zeichnen,  Abschreiten), 

7.  Die  ideale  konstruktive  Bewegung  oder  die  konstruktive 
Phantasiethätigkeit  (Zeichnen  oder  Abschreiten  einer  Figur 
im  blossen  Phantasiebilde), 


390 


Trendeleaburg. 


B.  Unräiimllclie  Vi^rUnderunü:  oder  B(*wegiiiig  Im  neefgeatlieheii 

Siiiiie. 

8.  Die  uobewusste  Geistesthätigkeit,  welche  die  Absicht  einer 
realen  Bewegfung  der  zeichnenden  Hand  oder  des  Augapfels 
oder  die  Absicht  einer  idealen  Bewegong  durch  Veränderung 
gen  im  Phantasiebilde  oder  Verschiebung  des  idealen  Blick- 
punktes der  Phantasieanschaniing  vermittelst  Einwirkung  auf 
die  Moleküle  der  Centralorgane  des  Nervensystems  zustande 
bringt 

9,  Die  unbewusste  Geistesthätigkeit  welche  die  unwillkürlich 
auftretenden  Bewegungen  in  Wahrnehmungs-  und  Phantasie- 
bildern setzt. 

10.  Die  unwiUkürhche   unräumliche  Veränderung  der  wahrge- 
nommenen Empfindungen  und   die   unwillkürlichen  und  wül-^ 
kürlichen  Änderungen     der    Phantasieempfindungen,    sowoh 
die  bewusst  gewollten,  als  auch  die  unwillkürlich  ein  trete  ndeofl 

11.  Die  successive  Durchwanderung  der  Teile  eines  andauern- 
den Empfindungskomplexes  mit  der  Aufmerksamkeit 
(z.  B,  der  Töne  eines  Akkordes  oder  der  Bestandteile  einer 
Mischfarbe). 

12.  Die  unbewusste  Geistesthätigkeit,  welche  die  unwillkürlicheo 
Veränderungen  der  wahrgenommeöen  Empfindungen  und  die 
willkürlichen  und  unwillkürlichen  Veränderungen  der  Phan- 
tasieempfindungen hervorbringt  und  das  Wandern  der  Auf- 
merksamkeit innerhalb  der  Bestandteile  eines  EmpfinduJigs»J 
komplexes  zur  Ausführung  bringt 


Sondert  man  diese  Bedeutungen,  so  liegt  es  auf  der  Hand, 
dass  die  Bewegung  weder  ein  allgemeines,  noch  ein  ursprüng- 
liches, noch  ein  für  die  Gebiete  des  Seins  und  Denkens  identische 
Princip  heissen  kann,  dass  sie  als  solches  eine  verfehlte  Hypothese 
ist  Aus  der  Bestimmung  der  Räumlichkeit  der  Bewegung  sucht 
Trendelenburg  die  meisten  Kategorien  abzuleiten;  aber  ein  aUj 
meines  und  ursprüngliches  Princip  ist  die  Bewegung  nur,  wenn  man 
die  Bestimmung  der  Räumliclikeit  von  ihr  abscheidet,  und  wenn 
man  das  gethan  hat,  so  findet  man  von  der  unräumlichen  Verände- 
rung nicht  so  leicht  den  Rückweg  zur  räumlichen  Bewegung, 
Die  subjektiv    ideale  Bewegung  im  Inhalt  der  Wahrnehmung  ist 


Trendelenburg, 


391 


ceineswegs  identisch  mit  der  realen  Bewegung  in  der  die  Wahr- 
nehmung  hervorrufenden  Natur;  beide  sind  nicht  nur  zwei 
numerisch  verschiedene  Bewegungen,  sondern  auch  in  ihrer  nähe- 
ren Beschaffenheit  so  verschieden  wie  das  Abbild  und  Urbild. 
Die  Sinneserapfindiingen  und  ihre  unräii  mlichen  Veränderungen 
haben  nicht  einmal  Ähnlichkeit  mit  den  realen  Bewegungen  und 
Bewegungsänderungen,  denen  sie  subjektiv  entsprechen,  und 
durch  welche  sie  veranlasst  sind.  Das  Identische  in  den  Gebieten 
des  bewussten  Denkens  und  des  Seins,  des  bewussten  Geistes 
und  der  Natur  darf  nicht  in  der  räumlichen  Bewegung,  sondern 
erst  in  derjenigen  xmräumlichen  Thätigkeit  gesucht  werden,  wel- 
che hier  die  reale  Bewegung  des  Seienden,  dort  die  subjektiv 
ideale  Bewegung  des  Bewusstseinsinhalts  produziert.  In  einer 
solchen  unbewussten  und  nnräumlichen  psychischen  Thätigkeit 
wäre  dann  aber  nicht  nur  die  Queile  der  Bewegung,  sondern 
auch  die  unmittelbare  Quelle  aller  Kategorien  zu  suchen,  die 
Trendelenburg  erst  aus  der  Bewegung  ableiten  will.  — 

Trendelenburg  nimmt  die  wesentliche  Identität  des  Idealen 
und  Realen  als  eine  überlieferte  Grundvoraussetzung  des  Philo- 
sophierens auf;  ihre  Bewährung  findet  er  lediglich  darin,  dass  es 
ihm  nach  seiner  Meinung  gelingt,  aus  dem  einen,  mit  sich  iden- 
tischen Princip  der  Bewegung  alle  Kategorien  des  Realen  und 
Idealen  abzuleiten.  Wenn  diese  Ableitung  misslungen  ist,  so 
schwebt  auch  die  identitätsphilosophische  Voraussetzung  in  der 
Luft.  Nun  ist  aber  das,  was  Trendelenburg  die  »Ableitung«  der 
Kategorien  aus  der  konstruktiven  Bewegung  nennt,  weiter  nichts 
als  der  Nachweis,  dass  die  konstruktive  Bewegung  uns  durch 
ihre  Art  und  Richtung  Sinnbilder  oder  graphische  Illlustrationen 
für  mancherlei  rein  intellektuelle  Thätigkeiten ,  und  durch  die 
von  ihr  produzierten  Formgebilde  ebensolche  für  mancherlei  Pro- 
dukte der  Denkfunktionen  liefert  Aber  es  fehlt  viel  daran,  dass 
durch  blosse  Unterschiede  der  konstruktiven  Bewegung  und  der 
von  ihr  hervorgebrachten  Gestalten  das  Eigentümliche  der  un- 
räumlichen InteÜektual Funktionen  und  ihrer  Gedankenprodukte 
bestimmt  und  deuthch  gemacht  werden  könnte  für  jemand,  der 
sie  nicht  aus  unmittelbarer  Beschäftigung  mit  ihnen  kennte. 

So  kann  z.  B.  das  Verbinden  zweier  Begriffe  unter  dem  Bilde 
einer  konvergierenden  Bewegung,  das  Trennen  eines  Begriffes 
in  seine  Bestandteile   (nicht  aber,  wie  Trendelenburg  meint,   das 


39« 


Trendelenbtirg. 


zu       I 


Unterscheiden  zweier  Begriffe)  unter  dem  Bilde  einer  diver- 
gierenden Bewegung  angeschaut  werden,  ohne  dass  jedoch  mit 
solchen  versinnlichenden  Bildern  das  begrifFliche  Wesen  der  Sache 

getroffen  wäre.  Figur  und  Zahl  können  oline  Zweifel  mit  Hilfe 
der  Bewegung  erzeugt  oder  aufgefasst,  sie  können  aber  auch  als 
ruhende  gegeben  sein  und  so  percipiert  werden,  selbst  ohne  nach- 
helfende Bewegung  des  Blickpunktes,  Dass  Kausalität  imrtu 
Veränderung  und  Bewegung  in  sich  schliesst,  ist  gewiss;  dai 
aber  die  Bewegung  ausreici^cn  sollte,  um  das  verständlich  zu 
machen,  was  in  der  Kausalität  zur  Veränderung  und  Bewegung. 
noch  hinzukommt,  ist  undenkbar.  Wer  die  Figur  lediglich  als 
Produkt  einer  konstruktiven  Bewegung  auffasst,  wird  auch  von 
der  Form  das  gleiche  behaupten,  aber  die  Beziehung  von  Form 
und  Inhalt  und  der  Begriff  des  Inhalts  entzieht  sich  jeder  Ab- 
leitung aus  der  Bewegung, 

Insbesondere  gilt  dies  von  dem  dynamischen  Inhalt,  der  die 
rein  formalen  Bewegungsgesetze  in  der  Natur  erfüllt,  und  durch  den 
die  blosse  räumliche  Gestalt  zur  Materie,  die  aus  der  Bewegung 
abgesetzte  und  zu  einem  Ganzen  abgeschlossene  Form  zur  Sub- 
stanz werden  soll.  Durch  diese  vermeintliche  Ableitung  der 
materiellen  Pseudosubstanz  wird  aber  der  walire  Substanzbegriff 
noch  gar  nicht  einmal  berührt.  Nicht  das  wandelbar  Produzierte 
kann  Substanz  im  eigentlichen  Sinne  heissen,  sondern  nur  das 
unwandelbare  Urprincip  und  Subjekt  des  Froduzierens,  Wenn 
dieses  aber  die  Bewegung  ist»  so  müsste  entweder  die  Bewegu; 
selbst  als  Substanz  hingestellt  oder  der  ganze  Substanzbegriff 
eine  unwahre,  illusorische  Kategorie  bekämpft  werden,  Trea^ 
delenburg  tliut  keines  von  beiden,  sondern  lässt  die  Substanz 
gelten»  aber  nur  als  Produkt  der  Bewegung. 

Die  Kategorie  des  Zweckes  soll  ebenfalls  aus  der  Bewegung 
folgen,  genauer  aus  der  bewusst  beabsichtigten » idealen  Bewegung. 
Da  scheint  es  aber  doch  auf  der  Hand  zu  liegen,  dass  es  nicht 
die  Bewegung  ist,  aus  der  die  Kategorie  des  Zweckes  abgeleitet 
wird,  sondern  die  bewusste  Absicht  des  konstruierenden  Subjekts, 
welches  die  konstruktive  Bewegung  nur  als  Mittel  zur  Verwirk- 
lichung seiner  Absicht  benutzt.  LTberall  da,  wo  die  Bewegung'^J 
nicht  im  Dienste  einer  bewussten  Absicht  steht,  müsste  demnach^^ 
kein  Grund  vorliegen,  ihr  eine  teleologische  Bedeutung  zuzu- 
schreiben; dies  wird  aber  von  Trendelenburg  übersehen.    Er  tritt 


Trendelenbujg* 


393 


^wa^  für  die  bewusstlos  wirkenden  Naturz wecke  ein,  wenn  auch 
noch  nicht  im  g-esamten  Weltprozess,  so  dcxrh  in  der  organischen 
Natur,  und  erkennt  Ira  Zweck  den  Wendepunkt  der  Weltansicht; 
aber  er  denkt  nicht  daran,  dass  der  bewusstlos  wirkende  Zweck 
ebensowenig  aus  einer  bewusst  absichtHchen  Bewegung,  wne  aus 
einer  bewusstlos  unabsichtlichen  Bewegung  abzuleiten  ist.  — 

So  schwankt  der  Trendelen burgsche  Begfriff  der  Bewegung 
zwischen  einer  rein  phorononiischen,  einer  dynamischen  und  einer 
teleologischen  Bedeutung.  Trendelenburg  weiss,  dass  eigent- 
lich nur  die  phoronomische,  rein  formale  Bedeutung  dem  Begriffe 
gemäss  ist,  die  sich  in  dem  Reiche  der  reinen,  abstrakten,  mathe- 
matischen Form  erschöpft;  aber  er  strebt  von  dieser  ersten  Stufe 
hinaus  zunächst  zu  der  zweiten  des  materiellen,  substantiellen 
Daseins,  in  welcher  das  Mathematische  sich  dynamisch  erfüllt, 
von  dieser  zu  der  dritten  Stufe  des  die  Bewegung  teleologisch 
bestimmentien  Gedankens,  und  von  dieser  weiter  zu  einer  vierten 
des  mit  dem  Zweckgedanken  sich  eins  wissenden  ethischen  Sub- 
jekts oder  der  Person HchkeiL  Nicht  daraus  ist  ihm  ein  Vorwurf 
zu  machen,  dass  er  über  den  abstrakt  formalen  Begriff  der  Be- 
wegung zu  höheren  Stufen  hinausstrebt,  sondern  daraus,  dass 
er  beim  Fortgang  zu  jeder  nächsthöheren  Stufe  die  Aufnahme 
der  neu  hinzukommenden  Gedankenelemente  nicht  bemerkt  und 
sich  dem  Glauben  hingiebt,  es  sei  immer  nur  das  Frincip  der 
Bewegung,  was  sich  aus  eigener  Kraft  so  von  Stufe  zu  Stufe 
steigert  Er  gleicht  darin  noch  ganz  den  von  ihm  bekämpften 
spekulativen  Dialektikern,  die  auch  den  Gedankengehalt  des 
dialektischen  Fortschritts  von  aussen  aufnehmen  und  dabei  sich 
einbilden,  ihn  aus  der  niederen  Begriffsstufe  selbst  entwickelt 
zu  haben, 

Trendelenburg  hält  es  endlich  für  folgerecht,  zu  einer  fünften 
und  höchsten  Stufe,  nämlich  zu  der  des  Unbedingten  oder  Abso- 
luten aufzusteigen;  aber  er  folgt  auch  hier  wieder  den  von  ihm  be- 
kämpften Dialektikern  darin,  dass  er  die  Kategorien  ihrer  Rela- 
tivität berauben,  in  ihrer  Begrenzung  aufheben  und  verabsolu- 
tieren zu  müssen  glaubt,  um  sie  auf  das  Absolute  anwendbar  zu 
machen  (vergl.  Trendelen  bürg,  Historische  Beiträge  zur  Philo- 
sophie^  Bd.  I,  S.  373—374).  Aus  Trendelenburgs  Grundprincip  ist 
niemals  zu  einem  anderen  Unbedingten  zu  gelangen,  als  das 
Grundprincip  selbst  besaget.    Die  Bewegung  selbst  oder  die  ewige 


3Q4 


Ulrici. 


Urthätigkeit  ist  bei  ihm  nicht  nur  die  Substanz  und  das  teleo- 
logische Subjekt,  sondern  auch  die  sittliche  Persönlichkeit  und 
das  Absolute,  und  sie  kann  sich  nicht  aus  eigener  MachlvoD- 
kommenheit  zu  einem  Absoluten  erheben,  das  mehr  oder  etwas 
Besseres  wäre  als  sie  selbst.  Indem  aber  Trendclenburg  einmal 
annimmt,  dass  die  Bewegung  oder  Urthätigkeit  sich  von  selbst 
zum  Absoluten  erhebt,  nimmt  er  auch  weiter  an,  dass  das  Abso- 
lute auch  die  vorher  von  der  Bewegung  durchlaufenen  Stufen  in 
sich  konserviert,  also  nicht  nur  teleologisches  Subjekt,  sondern 
auch  sittliche  Persönlichkeit  ist. 

Durch  den  Nachweis  einer  objektiven  Teleologie  oder  durch 
aine  »organische  Weltanschauung«  glaubt  Trendelenburg  mit 
Recht  den  physikotheologischen  oder  teleologischen  Beweis  als 
wieder  in  Kraft  gesetzt  ansehen  zu  dürfen.  Die  Übertragung  eines 
unbewussten  Bildungstriebes  oder  plastischen  Lebensprincips  auf 
das  Absolute  lehnt  er  als  eine  ungereimte  Analogie  ab,  xäa  schliess- 
lich der  Bildungstrieb  doch  auf  den  richtunggebenden  freien  Ge- 
danken zurückweist.  Damit  scheint  üim  die  Bewusstheit  des 
Absoluten  als  Zwecksubjekts  gesichert.  Die  Schwierigkeit,  dass 
auch  im  Absoluten  erst  in  der  Entzweiung  oder  im  Gegensätze 
eine  Zweckthätigkeit  möglich  wird,  erkennt  er  an,  und  sucht  sie 
durch  das  ethische  Motiv  der  freien  Liebe  in  Gott  zu  lösen,  das 
sich  zur  Weisheit  als  zweites  hinzugesellt ,  wie  das  Schaffen  zum 
Erkennen.  So  w^ird  das  Absolute  zur  absoluten  Persönlichkeit 
im  Sinne  des  moralischen  Gottesbeweises,  Trendelenburg  ver- 
kennt zwar  nicht  »die  Schwierigkeit,  den  endlichen  Begriff  der 
Person  so  umzubilden,  dass  er  dem  Absoluten  gemäss  wird«; 
aber  anstatt  die  Berechtigung  dieser  Übertragung  zu  untersuchen, 
spricht  er  den  menschlichen  Verstand  mit  seiner  Endlichkeit  und 
mit  dem  Hinweis  auf  eine  ästhetische  Weltbetrachtung  zur  Ruhe 
und  mündet  bei  dem  Satz:   nesciendo  deus  scitur,  — 

Ulrici  (1806—1884)  knüpft  in  seiner  Kategorien  lehre  an 
Hegel,  Weisse,  L  H.  Fichte  und  Trendelenburg  an;  in  seiner 
Naturphilosophie  und  Psychologie  stützt  er  sich  auf  L  H.  Fichtes 
Anthropologie  und  Lotzes  Mikrokosmos.  In  seiner  Gotteslehre 
sucht  er  aus  seiner  Kategorienlehre,  Naturphilosophie  und  Psycho- 
logie das  Facit  zu  ziehen.  Seine  Polemik  richtet  sich  in  seinen 
früheren  Schriften  hauptsächlich  gegen  Hegels  Dialektik  und 
einseitigen    Idealismus,     in     seinen     späteren    Schriften    Vorzugs- 


Ülrid, 


395 


weise  g^eg-en  den  Materialismus  und  dessen  mechanistische  Welt- 
anschauung. 

In  methodologischer  Hinsicht  vertritt  er  in  metaphysischen 
Fragen  den  Standpunkt  eines  »wissenschaftlichen  Glaubens^  der 
auf  einem  objektiven  Übergewicht  der  Gründe  beruht  Apodik- 
tische Gewissheit  ist  für  eine  Behauptung  nur  da  zu  erlangen, 
wo  es  als  undenkbar  nachgewiesen  werden  kann,  dass  die  Sache 
sich  anders  verhalte,  d,  h.  durch  einen  indirekten  Bew^eis,  der  alle 
möglichen  anderen  Fälle  überschaut  und  jeden  von  ihnen  als 
logisch  unmöglich  darthut.  Ein  solcher  Beweis  ist  aber  bei  den 
meisten  Fragen  der  Metaphysik  nicht  zu  erbringen,  teils  weil 
man  nicht  sicher  ist.  ob  man  alle  möglichen  Fälle  lückenlos  über- 
schaut, teils  weil  sich  nicht  immer  die  Unmöglichkeit  der  anderen 
Fälle  darthun  lässt.  Wo  Ulrici  einen  solchen  Beweis  geführt  zu 
haben  glaubt,  z.  B.  für  die  unterscheidende  Thätigkeit  als  Ur- 
und  Grundkategorie,  da  hat  er  sich  getäuscht. 

In  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  ist  Ulrici  ebenso  wie 
Trendelenburg,  Schleiermacher  und  Schelling  in  seiner  positiven 
Philosophie  transcen dentaler  Realist.  Denknotwendig  ist  sowohl 
die  idealistische  Ansicht,  dass  unser  Wissen  und  Erkennen  Selbst- 
thätigkeit  ist,  als  auch  die  realistische,  dass  es  durch  Einwirkung 
von  aussen  her  bedingt  ist.  Das  Denken  kann  sich  nicht  er- 
fassen ohne  ein  nicht  denkendes  (materielles)  Sein  sich  gegenüber- 
zustellen, und  es  muss,  um  sich  als  beschränkt  und  bedingt  zu 
erfassen,  ein  es  Beschränkendes  und  ein  Nichtbedingtes,  also  andere 
Ichs,  die  nicht  Ich  sind,  und  ein  Absolutes  sich  voraussetzen. 
Diese  zunächst  negativen  Bestimmungen  erhalten  aber  ihre  posi- 
tive Ergänzung  erst  durch  die  Kausalität,  die  sie  auf  das  Ich 
ausüben.  Freilich  entspricht  meine  Vorstellung  von  dem  jenseits 
meines  ßewusstseins  Seienden  diesem  Seienden  nur,  ist  ihm  aber 
nicht  gleich.  So  sind  die  idealistische  und  realistische  Ansicht 
auf  einander  angewiesen;  jede  kommt,  einseitig  durchgeführt,  an 
einen  Punkt,  wo  sie  die  andere  zu  ihrer  Ergänzung  heran- 
ziehen muss,  — 

Das  Denken  ist  einerseits  produktive  Thätigkeit.  andrerseits 
von  allen  anderen  Arten  der  produktiven  Thätigkeit  dadurch  unter- 
schieden, dass  es  unterscheidende  Thätigkeit  ist.  Aus  der  unter- 
scheidenden Thätigkeit  will  Ulrici  einerseits  alle  Kategorien, 
andrerseits  das  ßewusstsein   und  Selbstbewusstsein  ableiten.     Ge- 


39^ 


ITIrid. 


wiss  hat  er  darin  recht,  dass  ein  inhaltloses  Denken  kein  Denkeo 
ist,  imd  dass  das  Denken  einen  wirklichen  Inhalt  nur  durch  eine 
inoere  Mannigfaltigkeit  und  durch  eine  spezifische  Bestimmtheit 
jedes  dieser  Mannigfaltigen  gewinnen  kann.  Auch  das  ist  zuzü- 
geben» dass  das  reflektierende  Denken,  wenn  es  sich  mit  diesem 
mannigfaltig-en  Inhalt  beschäftigt,  seine  Glieder  aus  ihrer  ge- 
gebenen Einheit  heraustrennt,  einander  gegenüberstellt,  mit  einan- 
der vergleicht  und  auf  einander  bezieht»  zum  unterscheidenden 
Denken  werden  muss  und  Unterschiede  festzustellen  genötigt  ist 

Aber  daraus  folgt  doch,  dass  vor  dem  Zustandekommen  der 
Unterscheidung  zunächst  der  mannigfaltige  Inhalt  als  ein  spezifisch 
bestimmter  durch  die  produktive  Thätigkeit  gegeben  sein  muss,  dass 
alsdann  vor  Eintritt  der  unterscheidenden  Thätigkeit  die  trennende, 
vergleichende  und  beziehende  Thätigkeit  sich  entfalten  muss,  als 
deren  Resultat  erst  die  Unterscheidung  auftreten  kann,  und  dass 
endlich  die  unterscheidende  Thätigkeit  nur  da  zustande  kommen 
kann,  wo  eine  diskursive  Reflexion,  die  den  Blickpunkt  der  Auf- 
merksamkeit von  einem  zum  andern  wendet,  und  eine  abstrakte 
Betrachtungsweise,  die  die  Glieder  aus  der  Einheit  des  Ganzen 
herauslöst,  möglich  sind.  Ulrici  fasst  unter  Hmterscheidender 
Thätigkeit*  zwei  ganz  verschiedene  Begrifi"e  zusammen,  die  ab- 
strakt diskursive  Reflexion,  die  nachträglich  an  den  fertigen  Inhalt 
herankommt  und  über  ihn  nachdenkt,  und  die  produktive  Thätig- 
keit, welche  den  mannigfaltigen  Inhalt  der  Vorstellung  in  seiner 
spezifischen  Bestimmtheit  setzt.  Aber  nur  die  erstere  verdient 
diese  Bezeichnung,  die  letztere  nicht;  denn  sie  liefert  für  die 
eventuell  hinzukommende  unterscheidende  Thätigkeit  nur  die 
fundamenta  relationis,  aber  nicht  die  Relationen  selbst,  welche  die 
Reflexion  erst  herzuzubringen  hat.  Wie  Trendelenburg  der  Be- 
wegungsanschauung die  reale  Bewegung  unterschiebt  und  mit 
produktiver  Thätigkeit  gleichsetzt,  so  schiebt  Ulrici  der  unter- 
scheidenden Thätigkeit  die  bestimmende  Thätigkeit  unter  und 
identifiziert  diese  mit  hervorbringender  Kraft. 

Die  Kategorien  der  Einheit,  Vielheit  und  Beziehung  müssen 
jedenfalls  der  Kategorie  der  Verschiedenheit  vorausgesetzt  werden, 
um  die  unterscheidende  Thätigkeit  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes  verständlich  zumachen;  aber  die  unterscheidende  Thätig- 
keit im  uneigentlichen  Sinne  des  Wortes,  d.  h.  die  bestimmende 
Thätigkeit  beim  Produzieren  eines  einheitlichen  und  doch  in  sich 


Ulriö. 


397 


mannigfaltigen  Inhalts*  muss  freilich  wiederum  dem  Trennen,  Be- 
rielien  und  Vergleichen  vorausgehen,  dessen  Ergebnis  die  Unter- 
scheidung ist.  Wenn  dann  weiterhin  von  Ulrici  ebenso  wie  von 
Trendelenburg  der  produktiven,  bestimmenden  ITiätigkeit  der 
Reihe  nach  alle  kategorialen  Bestimmtheiten  beigelegt  werden, 
so  w^ird  hier  der  Schein  erregt,  als  ob  sie  aus  der  unterscheidenden 
Thätigkeit,  w^ie  dort  aus  der  Bewegung,  abgeleitet  wären.  Aber 
sie  sind  nicht  einmal  aus  der  produktiven  Thätigkeit  wirklich  ab- 
geleitet, geschweige  denn  aus  der  unterscheidenden  Thätigkeit, 
die  mit  jener  unrechtmässig  identifiziert  wird.  Wenn  die  hervor- 
bringende Thätigkeit  eine  unbewusste.  konkret  intuitive,  positiv 
bestimmende  Thätigkeit  ist,  in  der  weder  diskursive  Reflexion, 
noch  Abstraktion,  noch  Negation  möglich  ist,  dann  ist  auch  die 
unterscheidende  Thätigkeit  in  ihr  unmöglich.  Letztere  bleibt  als- 
dann allein  dem  subjektiven,  bewusstcn  Nachdenken  des  Menschen 
Ober  das  unbewusst  Gesetzte  vorbehalten. 

Nicht  besser  als  mit  der  Ableitung  der  Kategorien  steht  es 
mit  der  Ableitung  der  Denkgesetze  und  mit  der  des  Bewusstseins 
auft  der  unterscheidenden  Thätigkeit  Indem  die  produzierende 
Thätigkeit  die  innere  Mannigfaltigkeit  des  Produzierten  von 
einander  unterscheidet,  soll  das  Bewusstsein  von  derselben  ent- 
stehen; indem  sie  femer  das  ganze  Produkt  und  Jeden  Teil  des- 
selben von  sich  als  der  produzierenden  Thätigkeit  unterscheidet, 
soll  das  Bewusstsein  ihrer  selbst  im  Gegensatze  zum  Produkt, 
oder  das  Selbstbewusstsein  entstehen.  Was  so  erklärt  werden 
soll,  ist  aber  nicht  das  einfache,  unmittelbare  Bewusstsein,  sondern 
nur  das  reflektierte,  vermittelte  Bewusstsein.  Das  unmittelbare 
Bewusstsein  wird  vielmehr  von  Ulrici  als  anregender  Reiz  für 
die  Entfaltung  einer  unterscheidenden  Thätigkeit  vorausgesetzt 
Es  umspannt  nach  ihm  den  ganzen  Umfang  des  der  Perzeption  ge- 
gebenen Bewusstseinsinhalts,  Schmerz-  und  Lust-Gefühle,  Triebe, 
Strebungen  und  Begehrungen,  Sinnesempfindungen,  Wahrneh- 
mungen und  Erinnerungen,  ja  sogar  das  unbestimmte  Gefühl 
des  Unterschieds  dieser  Perzeptionen  ohne  reflektiertes  Wissen 
von  der  Bestimmtheit  dieser  Verschiedenheit  (Compendium  der 
Logik,  S.  18,  25,  27).  Die  Tiere  sollen  über  das  blosse  Gefühl 
des  Unterschiedes,  d.  h.  über  die  Perzeption,  nicht  hinauskommen 
und  darum  nach  Ansicht  aller  besonnenen  Forscher  auch  kein 
Bewusstsein  habetL     Wenn  so  das  unmittelbare  Bewusstsein  einer- 


39» 


Ulrid, 


seits  und  die  Kategorialfunktionen  andererseits  vorausgesetzt 
werden,  so  ist  es  freilich  nicht  schwer,  das  reflektierte  Bewusstsein 
abzuleiten;  aber  das,  worum  es  sich  handelt,  ist  gerade  die  Er- 
klärung des  unmittelbaren  Bewusstseins  der  Perzeption,  und  auf 
diese  verzichtet  Ulrici  gänzlich.  — 

Was  Ulrici  in  kurzer  und  zusammenhängender  Darlegung 
über  das  Wesen  und  die  Bedeutung  der  Kategorien  sagt  (Comp,, 
S.  49 — 63),  ist  das  Beste,  was  die  Litteratur  bis  dabin  über  diesen 
Gegenstand  aufzuweisen  hat,  und  giebt  eine  Zusammenfassung 
dessen,  was  sich  aus  der  neueren  Entwickelung  der  Kategorien- 
lehre als  bleibendes  Ergebnis  herausgestellt  hat.  Die  Kategorien 
sind  leitende  Gesichtspunkte  für  die  Denkthätigkeit  im  Fall  ihres 
Eintretens,  tertia  comparationis  oder  gemeinsame  Beziehungspunkte 
für  die  beziehende  Thätigkeit.  So  z.  B,  vergleichen  wir  nicht  die 
Grösse  eines  Dinges  mit  der  Qualität  eines  anderen,  sondern  mit 
seiner  Grösse.  Die  Kategorien  sind  also  rein  formale  Gesichts- 
punkte; d.  h.  sie  sagen  nichts  aus  über  die  bestimmte  Grösse 
oder  Qualität  eines  Dinges,  sondern  nur,  dass  auf  dieses  Ding 
wie  auf  alle  übrigen  der  gemeinsame  Gesichtspunkt  der  Grrösse 
oder  Qualität  anwendbar  seL  Insofern  bilden  sie  nicht  sowohl 
bestinunte  Aussagen  oder  Prädikamente,  sondern  vielmehr  blosse 
modi  praedicandi.  Jeder  solcher  Gesichtspunkt  ist  von  allen  an- 
deren Gesichtspunkten  verschieden,  z.  B.  Quantität  von  Qualität, 
umfasst  aber  alle  unter  ihn  gehörigen  Bestimmtheiten,  wie  das 
Allgemeine  das  Besondere  und  Einzelne  umfasst 

Insofern  die  Kategorien  als  allgemeine  modi  praedicandi  be- 
griflFen  werden,  werden  sie  als  BegrifiFe  aufgefasst;  an  sich  aber 
sind  sie  nicht  Begriffe,  sondern  Normen  der  Denkthätigkeit.  Sie 
werden  erst  als  Begriffe  für  das  Bewusstsein  entwickelt,  insofern 
dieses  auf  die  Normen  oder  Gesichtspunkte  seiner  Denkthätigkeit 
reflektiert  und  sie  als  allgemeine,  d.  h.  vielen  Denkhandlungen  ge* 
meinsame,  sich  vergegenständlicht.  Nicht  als  Begriffe  sind  sie 
uns  angeboren  —  denn  als  Begriffe  müssen  wir  sie  erst  mühsam 
aus  unseren  Denkhandlungen  und  deren  Ergebnissen  entwickeln  — 
wohl  aber  als  Normen  unserer  Denktliätigkeit,  welche  wir 
anzuwenden  gar  nicht  umhin  können.  Nur  als  Normen  sind  sie 
allem  unserra  Denken  in  ursprünglicher  unbewusster  und  apriori- 
scher Weise  immanent;  bewiisst  werden  sie  uns  erst  hinterdrein 
als  Begriffe,  wenn  wir  sie  durch  reflektierende  Abstraktionsthätig- 


Ulrici. 


399 


ceit  als  das  Gemeinsame  aus  unseren  verschiedenen  Denkhand- 
lungert  herausgeschält  haben. 

Sowenig  die  Kategorien  in  unserem  Geiste  ein  Ansichsein 
haben,  welches  der  Denkthätigkeit  voranginge,  ebensowenig  kann 
ihnen  ein  solches  im  ontologischen  oder  metaphysischen  Sinne 
zugeschrieben  werden,  denn  das  wäre  eine  unstatthafte  Hyposta- 
sierung  dieser  leeren  Formen.  Auch  dem  absoluten  Geiste  dürfen 
sie  nicht  als  präexistente  Formen  oder  bereit  liegende  Schubfächer 
zugeschrieben  werden,  sondern  höchstens  als  Normen  oder  formale 
Gesichtspunkte  einer  etwaigen  logischen  Bethätigung,  Erst  in 
und  an  und  mit  der  Funktion  können  sie  als  Formen  gesetzt 
werden. 

Der  Wert  dieser  Darlegungen  wird  nur  dadurch  beeinträch- 
tlgt,  dass  Ulrici  unter  ^unbewusst«  nur  die  Verneinung  des 
reflektierenden  Bew^usstseins.  aber  nicht  die  des  Bevvusstseins 
überhaupt  versteht,  Da  er  die  Kategorienlehre  unter  dem  Titel 
»Logik«  behandelt  und  ein  Buch  T>zur  Benutzung  für  Vorträge 
auf  Universitäten  und  Gymnasien <  liefern  will,  so  nimmt  er  nach 
Hegels  Vorgang  auch  die  subjektive  Logik  wieder  mit  herein, 
aber  nicht  bloss  nach  ihren  logischen  Formen,  sondern  auch  als 
Kunstlehre  des  Denkens.  Weisse  und  Trendelenburg  folgt  er 
darin,  dass  er  die  Anschauungsformen  wieder  in  die  Kategorien- 
lehre mit  hereinnimmt.  In  seiner  Einteilung  schliesst  er  sich  am 
nächsten  an  L  H,  Fichte  an,  — 

Diese  Abhängigkeit  von  I.  H.  Fichte  zeigt  sich  gleich  zu 
Anfang  darin,  dass  er  mit  primären  oder  Urkategorien  beginnt 
und  diese  von  den  Qualitätskategorien  abtrennt.  Aber  während 
Fichte  sie  nur  als  erste  Gruppe  in  der  Sphäre  des  Seins  behandelt, 
scheidet  Ulrici  sie  ganz  und  gar  aus  den  drei  Hauptabteilungen 
der  Hegeischen  Logik  aus  und  stellt  sie  als  besondere  Gruppe  der 
Gesamtheit  aller  übrigen  Kategorien  voran.  Er  behandelt  gleich 
Fichte  als  solche  Urkategorien  die  erste  Triade  Hegels  (Sein, 
Werden  und  Dasein),  schaltet  aber  zwischen  Sein  und  Werden 
noch  die  Kategorien  der  Thätigkeit,  Veränderung  und  Bewegung 
ein,  etwa  in  dem  Sinne,  den  bei  Trendelenburg  die  Kategorie 
der  Bewegung  umspannt  Dieser  ganzen  Gruppe  von  primären 
Urkategorien  hängt  er  dann  die  Kategorien  der  Anschauung: 
Raum  und  Zeit,  als  eine  Art  von  Zwischenkategorien  an,  die 
den  Übergang  von  den  primären  Urkategorien  zu  den  sekundären 


400 


UMd. 


konkreten  Kategorien  vermitteln.  Für  die  Gruppe  der  letzteren 
behält  er  dann  die  Hegeische  DreiteÜnng  in  die  Sphären  des 
Seins,  des  Wesens  und  des  Begriffes  bei,  nennt  sie  aber  Be^ 
schaffenheits-,  Wesenheits-  und  Ordoungskategorien*  Die  Be- 
schaffenheitskategorien  gliedern  sich  wie  bei  Hegel  in  Qualität, 
Quantität  und  Mass»  die  Wesenheitskategorien  in  die  der  Sub- 
stantialität,  Kausalität  und  Modalität,  die  Ordnungskategorien 
in  zweckvolles  Gesetz,  BegriflF  und  Idee, 

Den  Übergang  von  den  Beschaffenheitskategorien  zu  den 
Wesenheitskategorien  bildet  das  Ding»  den  Übergang  von  diesen 
zu  den  Ordnungskategorien  der  Zweck»  der  unter  den  Wesen- 
heitskategorien als  das  der  Endursache  immanente  Thätigkeitsziel, 
unter  den  Ordnungskategorien  als  ordnendes  Gesetz  erscheint 
Unter  Idee  versteht  Ulrici  die  normative  Harmonie  des  besonderen 
Individualzwecks  und  des  allgemeinen  Gattungsbegriffs,  Die 
Wesenheitskategorien  nennt  er  auch  Verhältniskategorien,  weil  sie 
reciproke  Begriffsglieder,  oder,  wie  er  sagt:  »Gegensätze«  aus  sich 
heraussetzen,  und  weil  er  unter  *  Verhältnis*  die  reciproke  Beziehung 
zweier  Glieder  versteht.  Deshalb  werden  alle  solche  reciproken 
Begriffspaare,  w^ie  z.  B,  Ganzes  und  Teil,  Inneres  und  Äusseres» 
Inhalt  und  Form»  nicht,  wie  man  denken  sollte,  den  Ordnungs- 
kategorien, sondern,  wie  bei  Hegel  und  seiner  Schule  und  bei 
L  H.  Fichte,  den  Wesenheits-  oder  Verhältniskategorien  zuge- 
rechnet In  der  Lehre  vom  Urteil  verwirft  er  die  Kantsche  Ein- 
teilung bis  auf  den  Unterscliied  der  allgemeinen  und  ein2elnen 
Urteile.  Mit  diesem  Unterschied  der  AI  Ige  mein  Subsumtion  und 
Einzelsubsumtion  kreuzt  sich  bei  ihm  ein  zweiter  Unterschied, 
nämUch  der  der  Totalsubsumtion  und  Teilsubsumtion,  der  auf 
dem  Unterschiede  der  Gattungsbegriffe  und  Beschaffenheitsbegriffe 
beruht.  Diese  Kreuzung  ergiebt  dann  vier  Arten  von  Urteilen. 
Urteil  und  Schluss  als  bloss  j*  ordnende«  Denkthätigkeit  hinzu- 
stellen, lässt  ausser  acht,  dass  sie  bereits  eine  nach  Massgabe  der 
Denkgesetze  bestimmende,  oder  logisch  determinierende  Thätig* 
keit  bilden;  für  eine  solche  hat  aber  Ulrici  keine  Rubrik. 

Wie  Trendelenburg  kennt  er  die  Substanz  nur  als  beschränkte, 
singulare,  und  betrachtet  sie  gleich  jenem  als  Produkt  einer 
Thätigkeit.  Selbst  die  göttliche  absolute  Substanz  soll  nur  als 
zusammenfassende  Thätigkeit  Substanz  sein  können,  und  auch  die« 
nur,   sofern   sie   sich   von    anderen    bedingten  Substanzen    unter- 


ülrid. 


401 


scheidet.  Das  stimmt  mit  Lotzes  Ansicht  überein,  nach  welcher 
die  Substantialität  nur  im  Fürsichsein  beruhen  soll.  Hinter  der 
Thätigkeit  nimmt  Ulrici  ein  ruhendes  Vermögen  an,  das  sich 
nur  bedingungsweise  als  aktuelle  Energie  äussert.  Somit  gilt 
ihm  die  Substanz  bloss  als  ein  sekundäres  Produkt  des  Ver- 
mögens durch  Vermittelung  der  eventuell  aus  dem  Vermögen 
hervorgehenden  Thätigkeit,  nicht  als  die  Subsistenz  des  Ver- 
mögens selbst  oder  als  das  Subjekt,  das  bei  der  Aktualisierung 
des  Vermögens  sich  bethätigt.  —  Grund  und  Ursache  unter- 
scheidet er  so,  dass  » Grund '^  eine  Thätigkeit  heisst,  die  in  ihrem 
Produkt  aufgeht,  »Ursache-^  eine  solche,  die  in  ihrem  Produkt 
nicht  aufgeht,  sondern  neben  ihm  fortbestehen  bleibt.  Er  re- 
flektiert also  nur  auf  den  Unterschied,  dass  Grund  etwas  der  Er- 
scheinung Immanentes,  Ursache  etwas  ihr  Transcendentes  ist, 
aber  nicht  auf  den  andern,  dass  der  Grund  ein  unzeitliches  Wesen, 
die  Ursache  eine  zeitliche  Veränderung  ist 

Aus  dem  Umstand,  dass  eine  Thätigkeit,  die  hinreichend  be- 
stimmt ist,  um  etwas  auszurichten,  gleich  der  Bewegung  eine  be- 
stimmte Richtung  haben,  oder  zu  einem  bestimmten  Ziel  hinge- 
wendet sein  muss,  schöpft  Ulrici  ebenso  wie  Trendelenburg  das 
vermeintliche  Recht,  den  terminus  ad  quem  der  Thätigkeit  als 
»Zwecke  zu  bezeichnen.  Beide  fragen  nicht  danach,  ob  die 
Thätigkeit  nicht  etwa  im  besonderen  Falle  eine  solche  ist,  die 
blind  wirkend  und  teleologisch  zufällig  in  der  Verlängerung  ihrer 
einmal  eingeschlagenen  Richtung  auf  ein  dort  gerade  befindliches 
Objekt  trifft  (wie  die  Kugel  eines  ins  Blaue  abgefeuerten  Gewehrs 
einen  Feldarbeiter  treffen  kann).  Beide  setzen  vielmehr  voraus, 
dass  schon  die  thatsächliche  Erreichung  des  Ziels  dazu  ge- 
nüge, um  aus  ihr  die  selbstthätige  Zielstrebigkeit  oder  den  teleo- 
logischen Charakter  der  Thätigkeit  zu  folgern,  Ulrici  folgert 
dann  weiter  aus  der  Zielstrebigkeit  der  'Thätigkeit,  dass  diese 
eine  sich  in  sich  selbst  unterscheidende,  also  (nach  seiner  Er- 
klärung der  Bewusstseinsentstehung)  eine  mit  Bewusstsein  (und 
sogar  mit  reflektiertem   Bewusstsein)   vorstellende  sein   müsse.  — 

In  seiner  Naturphilosophie  wendet  Ulrici  grossen  Fleiss  an, 
sich  die  Ergebnisse  der  modernen  Naturwissenschaften  anzueignen. 
Indessen  hat  er  mit  diesem  Bemühen  erst  in  einem  späteren 
Lebensalter  begonnen,  so  dass  es  ihm  nicht  mehr  recht  gelingen 
woUte,  sich  in   den  Geist   der  naturwissenschaftlichen  Denkweise 


£•  V.  Hartm&ao.  Attif^ew.  Werke.    Bd.  XIL 


26 


402 


tjlrict. 


hineinzuversetzen.  In  seiner  Theorie  der  Materie  bemüht  er  sich, 
die  Kantsche  Lehre  so  zu  modifizieren,  dass  sie  den  Ansprüchen 
der  modernen  Naturwissenschaft  genügt,  gelangt  aber  damit  nicht 
zum  Ziele.  Da  er  die  actio  in  distans  verwirft  und  der  Kraft 
einen  punktuellen  Siu  innerhalb  endlich  grosser  Raumelemente 
von  besonderer  Gestalt  (Atome)  anweist»  so  kann  auch  er  zu 
einem  eigentlichen  Aufeinand erwirken  der  Atome  nicht  gelangen, 
sondern  niuss,  ebenso  wie  Kant,  dieses  vermittelt  denken  durch 
ein  kontinuierliches,  nicht  atomistisch  gebrochenes  Medium,  welches 
die  Wirkung  eines  Atoms  auf  das  andere  überträgt.  Ein  solches 
Medium,  dessen  Wirkungsw^eise  auf  die  Atome  und  dessen  Ver- 
mittlerrolle unverständlich  bleibt»  führt  allemal  zur  Vorstellung 
eines  stetigen,  den  Raum  durch  sein  blosses  Dasein  stetig  er- 
füllenden Fluidums,  d*  h.  eines  wenn  auch  noch  so  fein  gedachten 
Stoffes  zurück.  Durch  seine  Annahme  wird  also  das  lobenswerte 
Bestreben,  die  Elementarkräftc  der  Materie  atomistisch  gegliedert 
zu  denken  vergeblich  gemacht.  Verfehlt  ist  auch  die  Annahme, 
dass  in  jedem  Kraftcentrum  mehrere  Kräfte  durch  eine  sie  ver- 
einigende Kraft  verbunden  seien,  weil  es  dann  wieder  einer  neuen 
Kraft  bedürfte,  um  diese  vereinigende  Kraft  mit  den  vereinten 
zu  verbinden  u.  s.  f.  ins  Unendliche.  Unverträglich  mit  der  natur- 
wissenschaftlichen Anschauungsweise  ist  endlich  seine  Behaup- 
tung» dass  die  Atomkräfte  selbst  während  des  Weltprozesses 
veränderlich  seien.  (Vgl  meine  ^Ges.  Stud  u.  Aufis.«,  5  Aufl., 
S.  529—541.) 

Während  Ulrici  sich  bemüht,  die  Materie  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  zu  entstofflichen,  d,  h.  aus  unstofFlichen  Atom- 
kräften aufzubauen,  verfällt  er  bei  der  Seele  gerade  umgekehrt 
in  den  alten  Fehler  des  naiven  Realismus,  sie  zu  verstofFlichea 
Er  denkt  sie  als  ein  kontinuierliches  ätherisches  Fluidum,  das 
von  einem  Centrum  aus  den  ganzen  Leib  gestaltend  durchdringt 
und  im  unterscheidenden  ßewusstsein  die  eigentlich  psychische 
Thätigkeit  entfaltet  Ulricis  Seele  deckt  sich  ungefähr  mit 
L  H.  Fichtes  Ätherleib;  beide  sind  auf  Grund  dieser  Ansichten 
zu  eifrigen  Verfechtern  des  modernen  Spiritismus  geworden. 
Während  aber  bei  Fichte  hinter  dem  Ätherleib  noch  das  leibfireie 
Vollbewusstsein  steht,  nähert  Ulrici  sich  durch  seine  Identifikation 
der  Seele  mit  einem  ätherischen  Stoff  bedenklich  dem  über- 
sinnlichen Materialismus  seines  Freundes  Wirth  und  dem  Natura- 


Ulrici. 


403 


lismus  der  naturphilosophischen  SchuJe  Schellings,  Beim  ge- 
wöhnlichen Materialismus  ist  es  der  Stoff  als  die  sinnlich  gegebene 
Substanz,  was  die  Kräfte  an  sich  hat;  beim  übersinnlichen  Ma- 
terialismus werden  sowohl  die  Kraft  als  auch  die  Seele  als  Stoffe 
gedacht,  die  sich  bloss  wegen  ihrer  Feinheit  der  sinnUcben  Wahr- 
nehmung entziehen,  — 

Aus  dem  ontologischen  Beweise  wird  Gott  als  die  mit  dem 
Urstoff  zusammenfallende  Naturkraft  bestimmt»  die  aber  nur  die 
Naturseite  in  ihm  bildet.  Aus  dem  kosmologischen  Beweise  wird 
er  als  schöpferischer  Urheber  des  Naturganzen  und  seiner  ge- 
'  setzmässigen  Ordnung,  Harmonie  und  Zweckmässigkeit  bestimmt. 
Instinktive,  unbewusste  Thätigkeit  lässt  Ulrici  nur  als  realisierende, 
ausfuhrende  Thätigkeit  gelten,  behauptet  aber,  dass  die  ideale 
Norm  dieser  Thätigkeit  immer  von  einem  bewussten  Verstände 
gesetzt  sein  müsse,  sei  es  von  dem  Verstände  des  ausführenden 
Individuums  selbst,  sei  es  von  dem  seines  Schöpfers,  der  ihm 
diese  Norm  eingeprägt  hat.  Dies  hängt  damit  zusammen,  dass 
Ulrici  unter  unbewusster  Thätigkeit  immer  nur  eine  solche  ohne 
reflektiertes  Bewusstsein  versteht,  die  aber  des  unmittelbaren  Be- 
wusstseins  darum  doch  nicht  entbehrt. 

Wenn  das  Setzen  eines  mannigfaltigen  Inhalts  ohne  Bewusst- 
sein überhaupt  unmöglich  ist.  so  muss  auch  Gott  wenigstens  die 
spezifische  Bestimmtheit  der  verschiedenen  Kategorien  mit  Be- 
wusstsein gesetzt  haben.  Aber  da  er  dieser  Kategorien  bedarf, 
um  zu  einem  reflektierten  Bewusstsein  zu  gelangen,  so  kann  er 
sie  nur  mit  unmittelbarem  Bewusstsein  gesetzt  haben.  Dasselbe 
ist  aber  fiir  den  mannigfaltigen  Weltinhalt  anzunehmen,  auf  den 
er  die  Kategorien  anwendet;  denn  wenn  er  nur  durch  Anwendung 
der  Kategorien  auf  einen  bestimmten  mannigfaltigen  Weltinhalt 
zum  reflektierten  Bewusstsein  gelangen  kann,  so  muss  die  Setzung 
dieses  Inhalts  seinem  reflektierten  Bewusstsein  vorhergehen.  Das 
Setzen  des  Systems  der  Kategorien  als  der  möglichen  Formen 
fiir  einen  etwaigen  konkreten  Weltinhalt,  und  das  Setzen  des 
letzteren  oder  der  konkreten  Idee  der  Welt  reisst  Ulrici  willkür- 
lich auseinander.  Mit  Recht  verschmilzt  er  die  ideale  Setzung 
der  konkreten  Weltidee  mit  ihrer  Verwirklichimg  durch  den 
schöpferischen  Willen,  aber  mit  Unrecht  trennt  er  die  Setzung 
des  idealen  Weltinhalts  von  der  Setzung  ihrer  logischen  Formen 
ab,  da  diese  beiden,  der  idealen  Thätigkeit  angehörigen  Seiten 

26» 


404 

noch  weit  unauflöslicher  mit  einander  zusammengehören,   als  die 
ideale  und  die  reale  Seite  der  absoluten  Thätigkeit 

Diese  Sonderung  soll  dazu  dienen,  das  unmittelbare  Bewusst- 
sein  Gottes,  das  er  bei  der  Setzung  der  logischen  Kategorial- 
formen  bethäügt,  vermittelst  dieser  Setzung  zum  reflektierten 
Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  zu  erheben,  um  den  Akt  der 
Schöpfung  als  einen  selbstbcvvusst  freien  hinstellen  zu  können« 
im  Gegensatz  zu  der  Setzung  der  Kategorien»  die  noch  unwill- 
kürlich und  notwendig  ist.  Es  ist  aber  ein  ganz  unmöglicher 
Gedanke,  dass  Gott,  der  selbst  nach  Ulrici  nur  begreift,  nicht 
urteilt,  an  den  inhaltlceren  Formen  der  Kategorien  sich  vom 
unmittelbaren  zum  reflektierten  Bewusstsein  und  Selbstbewusst- 
sein hindurcharbeiten,  und  dann  erst  aus  diesem  heraus  den 
idealen  Inhalt  zu  den  leeren  Kategorialformen  hinzufügen  soll 
Da  die  Setzung  der  logischen  Formen  und  des  idealen  Inhalts 
nur  in  einem  und  demselben  Akt  erfolgen  kann,  so  muss  ent- 
weder die  ganze  (formale  und  inhaltUche,  ideale  und  reale) 
Schöpfung  absolut  unbewusst,  oder  mit  unmittelbarem  oder  mit 
reflektiertem  Bewusstsein  erfolgen;  es  kann  aber  nicht  von  einem 
ersten  und  einem  zweiten  Gedanken  in  Gott  vor  dem  ^Veltprozess, 
nicht  von  der  Unterscheidung  einer  bloss  möglichen  und  einer 
wirklichen  Welt  die  Rede  sein. 

Es  ist  verfehlt,  die  Freiheit  des  göttlichen  Entschlusses  aus 
seinem  reflektierten  Selbstbewusstsein  abzuleiten;  denn  wenn  Gott 
nicht  urteilt  und  nicht  reflektiert,  so  giebt  es  gar  kein  reflek- 
tiertes Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  in  ihm.  Die  Freiheit 
in  Gott  kann  nur  das  primum  movens  des  ganzen  innergöttlichen 
Prozesses,  also  auch  das  Prius  einer  etwaigen  Bewusstseinsent- 
stehung  in  ihm  sein.  Bei  dem  beschränkten  Individuum  wissen 
wir,  was  das  unmittelbare,  noch  nicht  durch  die  Reflexion  hin- 
durchgegangene  Bewusstsein  ist,  nämlich  die  passive  PerzeptioB 
des  idealen  Inhalts,  der  unter  dem  Zwange  einer  transcendenteo 
Kausalität  in  unwillkürlicher  reaktiver  Weise  von  ihm  selbst  vor- 
bewusst  und  unbewusst  gesetzt  worden  ist.  Aber  was  im  Abso 
luten  ein  solches  unmittelbares  Bewusstsein  sein  könnte,  wissen 
wir  nicht,  da  das  Absolute  nicht  auf  äusseren  Zwang  reagiert  und 
darum  auch  keinen  Anlass  hat,  den  vorbewusst  und  unbewusst 
von  ihm  selbst  aktiv  gesetzten  Inhalt  noch  einmal  passiv  zu 
perzipieren.     Wenn   es  aber  weder   zu    einem   reflektierten    noch 


LoUe. 


405 


m  einem  unmittelbaren  Bewusstsein  im  Absoluten  als  solchen 
kommen  kann,  so  wird  man  wohl  annehmen  müssen,  dass  aus 
dem  idealen  Geschehen  im  beschränkten  Individuum  nichts  ande- 
res auf  das  Absolute  übertragen  werden  darf,  als  die  sogar  dem 
unmittelbaren  Bewusstsein  vorhergehende,  also  absolut  unbewusste 
Setzung  des  idealen  Inhalts.  — 

Lotze  (1817— 1881)  zeigt  in  seiner  schriftstellerischen  Thätig- 
keit  drei  Perioden.  Die  Werke  der  ersten,  bis  1852  reichenden 
Periode  hat  er  nicht  wieder  neu  aufgelegt,  sondern  später  ent- 
weder völlig  neu  verfasst  oder  ihren  Inhalt,  so  weit  er  ihn  noch 
aufrecht  erhalten  wollte,  in  andere  Werke  mit  hinein  verarbeitet 
In  seiner  zweiten  Periode,  die  bis  1868  reicht,  legt  er  seinen 
Standpunkt  in  abgerundeter  halbpopulärer  Fassung  dar,  in  seiner 
dritten  erst  gelangt  er  zu  einer  abschliessenden  wissenschaftlichen 
Behandlung,  die  für  die  Würdigung  seiner  Metaphysik  allein 
massgebend  sein  kann.  Nur  für  seine  Religionsphilosophie,  Ethik 
und  Ästhetik  bleibt  man  darauf  angewiesen,  die  Schriften  der 
zweiten  Periode  und  die  nachgelassenen  Diktathefte  zu  Grunde 
zu  legen,  weil  Lotze  sein  System  der  Philosophie  nicht  über  den 
zweiten  Band  hinausgeführt  hat. 

Lotze  gehört  nicht  zu  den  Philosophen,  welche  tiefere  philo- 
sophiegeschichtliche Studien  getrieben  haben.  Er  lehnt  sich  an 
die  mündlich  gehörten  Vorlesungen  seines  Meisters  Weisse  an, 
ohne  sich  in  dessen  Werke  genauer  zu  versenken,  und  setzt  sich 
polemisch  nur  mit  Herbart,  dessen  Einfluss  ihm  in  Göttingen  be- 
sonders spürbar  wurde,  und  mit  L  H.  Fichte  auseinander.  Leibniz, 
Lessing,  Herder  und  Krause  steht  er  näher  als  er  selbst  weiss, 
weil  er  ihre  Philosophie  wenig  oder  gar  nicht  kennt.  Seine 
Stellungnahme  zu  Kant  entspricht  ganz  derjenigen  Weisses.  Den 
Naturalismus  eines  Teiles  der  Schellin gschen  Schule  verwirft  er, 
weil  ihm  als  Sein  gelte,  was  doch  nur  die  Bedeutung  einer  {sub- 
jektiv idealen)  Erscheinung  habe,  nämlich  die  räumlich  ausge- 
dehnte, stoffliche  Welt,  und  weil  er  das  schöpferische  Selbst- 
bewusstsein  zu  einer  unbewussten  Vernunft  abschwäche,  die 
zugleich  der  sich  bildende  Stoff  selbst  sein  solle.  Wo  er  gegen 
den  Pantheismus  kämpft,  hat  er  immer  nur  diesen  Naturalismus, 
aber  niemals  weder  den  abstrakten,  noch  den  konkreten  Monis- 
mus im  Sinne. 

Vor  der  dialektischen  Methode  bezeugt  er  seine  Hochachtung, 


4o6 


LoCze, 


ohne  sie  sich  anzueignen ;  nur  seine  Dreigliederung  erinnert  nc 
daran.  In  Hegel  bekämpft  er  erstens  die  Ableitung  alles  Kon- 
kreten aus  Abstraktem,  zweitens  die  Auflösung  alles  Geschehens 
in  logische  Notwendigkeit,  der  gegenüber  er  Schellings  und 
Weisses  Freiheitslehre  als  den  höheren  Standpunkt  anerkennt, 
drittens  die  Annahme  einer  unbewussten  Zweckthäticfkeit.  viertens 
den  kalten  Intellektualismus  und  evolution istischen  Formalismus, 
der  zu  keiner  gefiihls massigen  Befriedigung  bewusster  Subjekte 
führt,  und  fünftens  die  Überschätzung  der  Vernunft  und  des 
Logischen,  die  niemals  die  nur  zu  erlebende  Wirklichkeit  zu  er- 
fassen vermögen  (also  den  Mangel  eines  Realprincips), 

Schopenhauer  hat  Lotze  wohl  erst  in  späteren  Jahren  ober- 
flächlich kennen  gelernt.  Schellings  nachgelassene  Werke  scheint 
er  gar  nicht  gelesen  zu  haben,  Lotze  räumt  ein,  dass  der  Opti- 
mismus unbeweisbar,  und  dass  die  Existenz  des  Übels  und  des 
Bösen  das  entscheidende,  vollkommen  unQberstei  gliche 
Hindernis  für  seine  Weltanschauung  sei.  In  der  absoluten  Hoch- 
schätzung des  eudämonologischen  Wertmassstabes  ist  er  mit 
Schopenhauer  ebenso  einverstanden,  wie  in  der  Gegnerschaft  gegen 
den  idealen  teleologischen  Evolutionismus  Hegels;  auch  erkennt 
er  die  unbefriedigende  Beschaffenheit  des  irdischen  Daseins  an 
und  steht  der  Einsicht  in  die  Antinomie  von  Entwickelungsfort- 
schritt  und  Glückseligkeit  nicht  gar  so  fern.  Aber  Schopenhauers 
eudämonologischen  Pessimismus  zu  teilen,  verbietet  ihn  der 
hoffnongsfreudige  Stimmungsoptimismus  seines  gläubigen  Ge* 
müts,  der  auf  einen  Ausgleich  im  Jenseits  rechnet,  die  ewige  Er- 
haltung der  Welt  verlangt  und  die  Frage  als  eine  Verirrung 
verwirft,   warum  überhaupt  eine  Welt  sei  und  nicht  lieber  keine. 

Gegen  Herbart  hat  er  eine  lebhafte  Antipathie,  trotzdem  er 
den  von  ihm  weit  überschätzten  Verdiensten  dieses  Denkers  seine 
Achtung  nicht  versagen  will.  Er  bedient  sich  vielfach  der  Her* 
bartschen  Terminologie  auch  da,  wo  sie  zu  seinen  eigenen  Voraus- 
setzungen nicht  recht  passt  und  übernimmt  von  ihm  mancherlei, 
z-  B.  die  Sonderung  der  Welt  des  Seienden  von  der  Welt  der 
Werte,  den  Begriff  der  Selbsterhaltung  in  der  Psychologie  uq 
in  der  Lehre  vom  Absoluten,  den  intelligiblen  Raum  und 
innerliche  Spüren  und  Merken  als  Vorbedingung  einer  kausalen 
Wirkung.  Während  Herbart  die  persönliche  Fortdauer  du 
die   Unzerstörbarkeit   der   Seelensubstanz    für   sichergestellt    hä 


LoUe. 


407 


die  Gottheit  aber  dem  Gebiet  des  Glaubens  überlässt,  verweist 
Lotze  die  Unsterblichkeit  der  nur  relativ  festen,  pseudosubstan- 
tiellen Seelen  ins  Bereich  des  Glaubens,  zieht  aber  Gott  in  die 
Metaphysik  herein,  als  das  Unbedingte,  das  für  die  Beziehungen 
der  von  ihm  gesetzten  Seelenwesen  unentbehrlich  ist  In  diesem 
Sinne  will  Lotze  nach  Weisses  Vorbild  die  höhere  Synthese  Hegels 
und  Herbarts  geliefert  haben,  obwohl  er  anderwärts  erklärt,  sich 
nichts  von  dem  haben  aneignen  zu  können,  wodurch  Herbarts 
Realismus  über  den  physikalischen  hinausgeht.  — 

Lotze  vereinigt  die  Fechnersche  Atomenlehre  und  den  Fichte- 
Ulricischen  Dynamismus  zu  einer  höheren  Synthese,  nämlich  zu 
einem  wirklich  allgemeingültigen  dynamischen  Atomismus  oder 
atomistischen  Dynamismus*  Dagegen  zieht  er  in  seiner  lehr- 
reichen Polemik  mit  L  H.  Fichte  in  zwei  anderen  Punkten  den 
kürzeren:  in  seiner  Bestreitung  des  kausalen  Einflusses  der  Seele 
auf  den  Leib  und  der  unbewusst  zweckmässigen  Beschaffenheit 
dieses  Einflusses,  Einen  unmittelbaren  influxus  physicus  des  in 
der  Seele  gefühlten  Wollens  auf  den  Organismus  darf  er  Fichte 
nicht  zugeben,  wenn  er  nicht  damit  das  Wollen  zugleich  als  das 
Wirkende^  die  Vorstellung  Realisierende,  also  den  Willen  als  das 
eigentliche  Realprincip  anerkennen  will»  Dagegen  sträubt  er  sich 
aber  mit  allen  Kräften,  weil  er  dann  das  Fürsichsein  oder  Selbst- 
bewusstsein  als  Realprincip  aufgeben  müsste»  d.  h.  den  ganzen 
Halt  seines  theistischen  Systems  verlöre.  Er  kommt  statt  dessen 
lieber  auf  einen  Okkasionalisraus  zurück,  der  von  dem  des  Male- 
branche nicht  wesentlich  verschieden  ist. 

Derselbe  Grund  ist  es  letzten  Endes  auch  wohl,  der  ihn  ver- 
anlasst, sich  gegen  die  Anerkennung  einer  unbewussten  psychi- 
schen Zweckthätigkeit  so  heftig  zu  sträuben,  da  die  von  ihm  an- 
gegebenen Gründe  von  seinem  eigenen  Standpunkt  aus  unhaltbar 
sind.  Dass  eine  unbewusst  thätige  Seele  aufhören  würde»  ein 
freier  Faktor  zu  sein,  kann  nicht  ins  Gewicht  fallen,  weil  Lotze 
selbst  die  durchweg  streng  geordnete  Gesetzlichkeit  sowohl  im 
bewussten  Seelenleben,  als  auch  im  vorbewussten  Triebleben, 
sowohl  in  der  Entwickelungsgeschichte  der  Seele,  als  auch  bei 
ihrer  Wechselwirkung  mit  dem  Leibe  betont.  Auch  damit  kann 
es  Lotze  nicht  ernst  sein,  dass  die  Begriffe  eines  unbewussten 
Triebes  oder  Willens  und  einer  unbewusst  zweckmässigen  InteUek- 
tualfunktion  in  sich  widerspruchsvoll  seien;  denn  er  selbst  be- 


4oS 


Lotse, 


dient  sich  ihrer  fortwährend  und  setzt  sie  voraus  bei  der  An- 
wendung der  Denkformen  und  sittlichen  Principien.  bei  der  Pro- 
duktion der  Raumanschauung,  beim  Wirken  der  poetischen 
Phantasie  und  vielen  anderen  Vorgängen, 

Wie  Lotze  in  diesen  Punkten  mit  Unrecht  gegen  I.H.Fichte 
streitet,  so  bekämpft  er  auch  mit  Unrecht  Fechners  Lehre  von  der 
Pfianzenbeseeltheit ,  die   ihm,  der  die  fürsichseiende  Innerlichkeit 

und    Beseeltheit    aller   Dinge    zur    Grundlage  seiner    Metaphysik 

machen  wollte,  doch  gerade  recht  sympathisch  hätte  sein  müsseo^H 
Daigegen  verwirft  er  mit  Recht  Fechners  Identifikation  von  Seele^ 
und  Leib  als  eine  Vorwegnähme  letzter  Ergebnisse»  die,  an  den 
Anfang  gestellt,  nur  Verwirrung  stiftet  und  die  Untersuchung  vor- 
zeitig abschneidet. 

Mit  Weisse  stimmt  er  nicht  nur  in  der  Grundanschauung 
überein»  sondern  entlehnt  von  ihm  auch  vieles  im  Einzelnen, 
z,  B.  die  hohe  Bedeutung,  die  er  dem  Fürsichsein  beilegt,  die 
ganze  Behandlung  der  Kausalität  und  Teleologie,  die  Ausdrücke 
immanente  und  transeunte  Wirkung.  Aber  indem  er  die  Weisse- 
schen Gedanken  aus  dem  Zusammenhange  ihrer  dialektischen 
Entwickelung  herausnimmt,  isoliert  und  popularisiert,  büssen  sie 
vielfach  von  ihrer  spekulativen  Tiefe  und  Folgerichtigkeit  ein, 
Lotzes  Metaphysik  ist  eine  in  mancher  Hinsicht  bis  an  die  Grren* 
zen  der  Trivialität  gehende  Verflachung  der  Weisseschen,  und,^j 
gerade  diesem  Umstände  verdankt  sie  eine  Verbreitung  undl^l 
einen  Einfluss,  wie  sie  Weisse  versagt  blieben.  Diese  Verflachung 
tritt  am  deutlichsten  zu  Tage  in  der  Reiigionsphilosophie. 

Von  Weisses  Trinitätslehre  bleibt  bei  Lotze  nur  ein  matter 
Nachhall  übrig,  die  Dreiheit  von  Weltgesetz,  gestaltendem  Formen- 
spiel und  Endzweck,  die  aber  mit  dem  Selbstbewusstsein  und 
der  Persönlichkeit  Gottes  nichts  mehr  zu  thun  hat  Lotze  ist 
ebenso  entschiedener  Unitarier,  wie  Weisse  Trinitarier.  Die  Voran- 
stellung des  Reiches  der  ewigen  Wahrheiten  und  Gesetze  vor 
die  gestaltende  Formenentfaltung  bei  Weisse  bekämpft  Lotze; 
offenbar  nur  darum ,  weil  er  gar  nicht  verstanden  hat,  dass  der 
Inbegriff"  der  logischen  F'ormen  und  Gesetze  bei  Weisse  gar 
nichts  Aktuelles  und  Wirkliches,  sondern  bloss  etwas  Potentiell 
und  Mögliches  bedeutet,  das  erst  in  der  gestaltenden  Entfaltunj 
seine  Aktualität  an  und  mit  dem  intuitiven  Inhalt  gewinnt.  Dai" 
Übel  und  Böse  lässt  Lotze  grundsätzlich  unberücksichtigt,   findet 


LoUc, 


409 


alle  Spekulationen  darüber  nutzlos,  und  gesteht,  dass  wir  nicht 
einmal  die  Richtung  ahnen  können,  in  welcher  die  Versöhnung 
des  Zwiespalts  zwischen  Gottes  Güte  und  dem  Dasein  des  Übels 
zu  suchen  wäre.  Deshalb  muss  er  auch  alle  Versuche,  Inhalt 
und  Wert  der  Erlösung  durch  Christum  theoretisch  festzustellen, 
ergebnislos  finden.  Wie  den  Denkern  des  achtzehnten  Jahrhun- 
derts kommt  es  Lotze  nur  auf  die  drei  Glaubensartikel:  die  Per- 
sönlichkeit Gottes,  die  individuelle  Unsterblichkeit  und  die  Willens- 
freiheit an ;  wie  jene  hält  er  an  dem  Glauben  fest,  dass  das  Glück 
aller  Geschöpfe  der  alleinige  Schöpfungszweck  sei,  dass  dagegen 
die  geschichtliche  Entwickelung  ergebnislos  bleibe.  Ein  solcher 
eudämonistischer  Theismus,  der  mit  allen  christlichen  Central- 
dogmen.  mit  der  Erlösung  von  Übel  und  Sünde,  mit  der  Idee 
Christi  und  der  Trinität  so  gar  nichts  anzufangen  weiss,  kann 
heute  höchstens  noch  für  einen  Reforrajuden  oder  einen  rationa- 
listischen Namen  Christen  religionsphilosophischen  Wert  haben.  Es 
ist  ein  Zeichen,  wie  bescheiden  die  Regierungen  und  die  Theo- 
logie am  Ende  dieses  Jahrhunderts  in  ihren  Ansprüchen  an  die 
Universitätsphiiosophie  geworden  sind,  wenn  man  es  jetzt  schon 
als  ein  besonderes  Glück  preist,  einen  Lotzeaner  zur  Besetzung 
eines  offenstehenden  Lehrstuhles  zu  finden.  — - 

Zum  grossen  Teil  ist  das  Ansehen  Lotzes  dadurch  bedingt, 
dass  er  zwei  naturwissenschaftliche  Werke  Über  Pathologie  (1842) 
und  Physiologie  (1851)  veröffentlicht  hat,  die  bei  den  Natur- 
forschern einen  Achtungserfolg  hatten.  Später  hat  Lotze  sie  nicht 
wieder  aufgelegt  und  selbst  von  der  »medizinischen  Psychologie« 
(1852)  nur  einen  kleinen  Teil  ihres  philosophischen  Inhalts  in  die 
zweite  Metaphysik  (1879)  verarbeitet.  Überhaupt  hat  er  sich  in 
den  letzten  2g  Jahren  seines  Lebens  nur  noch  auf  philosophischem 
Gebiete  bethätigt,  ohne  die  Fortschritte  der  Naturwissenschaften 
zu  verfolgen;  insbesondere  hat  er  die  Umwälzung  der  Biologie 
durch  Darwin,  Häckel  u*  s.  w,  als  eine  ihm  unbequeme  Zeit- 
erscheinung ignoriert.  Da  nun  Lotze  selbst  die  Bemerkung  macht, 
»dass  die  grossen  positiven  Entdeckungen  der  exakten  Physio- 
logie eine  durchschnittliche  Lebensdauer  von  etwa  vier  Jahren 
haben«,  so  sind  auch  seine  naturwissenschaftlichen  Leistungen 
völlig  veraltet  Gleichwohl  verdankt  er  ihnen  ein  Ansehen,  wie 
kein  anderer  Philosoph  vor  ihm  es  in  dem  naturwissenschaftlichen 
Zeitalter  besessen  hat,  und  es  hat  sich  auf  seine  Doppelthätigkeit 


4IO 


Lotze. 


die  Annahme  des  Publikums  gestützt,  dass  er  zuerst  die  natur- 
wissenschaftliche und  philosophische  Weltanschauung  mit  einander 
versöhnt  habe. 

Daran  ist  nun  soviel  richtig,  dass  Lot^e  unter  allen  Theisten 
am  besten  mit  der  naturwissenschaftlichen  Weltanschauung  ver- 
traut ist,  dass  er  das  alleinige  Recht  der  mechanistischen  Er- 
klärungsweise innerhalb  des  Bereiches  der  exakten  Naturwissen- 
schaften vertritt,  dass  er  die  physikalische  Atomistik  gegen  den 
verschwommenen  naturphilosophischen  Dynamismus  verteidigt, 
und  dass  er  den  Vitalismus  sowohl  in  seiner  älteren  naturalisti* 
sehen,  als  auch  in  der  neueren  psychologisch -individualistischen 
Gestalt  (I.  H,  Fichte)  bekämpft.  Aber  Lotze  vertritt  selbst  einen 
entschiedenen  Vitalismus  in  metaphysischer,  universalistischer  Ge- 
stalt. Gott  erweitert  nach  ihm  durch  seinen  Beistand  oder  sein 
Eingreifen  in  jedem  Augenblick  die  Natur  und  Geschichte,  so 
dass  durch  diese  höhere  Gesetzlichkeit  die  niedere  mechanische 
Naturgesetzlichkeit  beständig  ergänzt  wird.  Ihm  ist  die  ganze 
materielle  Welt  mit  der  scheinbaren  Unverwüstlichkeit  ihrer  Ge- 
setze ein  blosses  Mittel  für  die  Welt  der  geistigen  Innerlichkeit, 
nur  der  ephemere  Ausdruck  eines  unendlich  viel  Höheren  und 
wird  mit  dem  Untergang  dieser  Schöpfung  verg^en.  Darin  Kai 
Lotze  als  Philosoph  ganz  recht,  und  die  Naturwissenschaft,  die 
sich  gegen  eine  solche  Auffassung  sträubt»  ist  noch  nicht  reif  zur 
Versöhnung  mit  der  Philosophie. 

Aber  Lotze  sucht  auch  den  Begriff  des  Wunders  und  durch 
ihn  die  göttliche  Freiheit  zu  retten,  die  er  wiederum  als  Hinter- 
grund der  ersehnten  menschlichen  Willensfreiheit  nicht  entbehren 
mag.  Dadurch  werden  aber  die  freien  Eingriffe  Gottes  in  den 
Lauf  der  Natur  und  Geschichte  zu  gesetzlosen,  die  ebensogut 
gesetzwidrig  wie  gesetz massig  ausfallen  können.  Das  Gesetz 
der  Erhaltung  der  Kraft  ersetzt  Lotze  durch  ein  etwas  unklares 
Gesetz  der  Äquivalenz  verschiedenartiger  Wirkungen.  Die  Ur- 
atorae  hält  er  nicht  wie  die  Naturwissenschaft  für  gleichartig  und 
bloss  durch  räumliche  Beziehungen  verschieden,  sondern  be- 
hauptet,  dass  sie  ungleichartig  sein  müssen,  um  individuell  ver- 
schieden zu  sein.  Er  lehrt,  dass  es  von  jeder  Atomart  nur  ein 
einziges  Atom  gebe,  das  bloss  durch  verschiedenartige  Beziehungen 
zu  andersartigen  Atomen  den  subjektiven  Schein  einer  Vielheit 
erwecke.     Die  Zahl    der  Atome    und    die  Intensität   eines  jeden 


Iu>t2e. 


411 


tiält  er  nicht  für  konstant,  sondern  für  numerisch  vermehrbar. 
vemiinderbar  und  dynamisch  teilbar.  Das  universelle  Gesetz  der 
kleinsten  Wirkung  verwirft  er,  Gedächtnis  und  Bewusstsein  hält 
er  für  Leistungen  der  immateriellen  Seele,  die  durch  organische 
Störungen  wohl  gehemmt  werden  können,  aber  nicht  der  positiven 
Mitwirkung  des  Gehirns  bedürfen.  Indeterministische  Willens- 
freiheit behauptet  er  nicht  nur  für  die  Richtung  des  Entschlusses, 
sondern  auch  für  die  Intensität  des  Wollens.  Für  die  Gebets- 
erhörung  und  die  Transsubstantiation  beim  Abendmahl  tritt  er 
ein,  und  die  Erscheinung  des  auferstandenen  Christus  sucht  er 
etwa  im  Sinne  des  Spiritismus  zu  rechtfertigen. 

Mit  alledem  sind  philosophisch  berechtigte  Seiten  der  natur- 
wissenschaftlichen Weltanschauung  verletzt,  und  die  Annahme, 
dass  Lotze  sie  mit  der  philosophischen  Weltanschauung  versöhnt 
habe,  als  ein  Irrtum  aufgezeigt.  — 

In  erkenntmstheoretischer  Hinsicht  ist  sich  Lotze  des  Zirkels 
bewusst,  der  darin  besteht,  dass  man  beim  Erkennen  sowohl 
metaphysische  als  auch  erkenntnistheoretische  Voraussetzungen 
schon  mitbringt  und  anwendet.  Denn  er  weiss,  dass  die  Denk- 
formen und  Denkgesetze  unbewusst  funktionieren,  auch  ohne  dass 
sie  jemals  zum  Gegenstand  der  Untersuchung  gemacht  werden, 
und  dass  wir  durch  dieses  Funktionieren  nur  dann  zu  einer  Er- 
kenntnis gelangen  können,  wenn  es  eine  Aussenwelt  giebt,  die 
denselben  Formen  und  Gesetzen  unterworfen  ist,  so  dass  das 
Denknotwendige  zugleich  das  Seinsnotwendige  ist.  Er  will 
deshalb  zunächst  a  priori  bestimmen,  wie  Dinge,  wenn  sie  exis- 
tieren, auf  einander  wirken  müssen,  und  daraus  deduzieren, 
wie  ein  Ding,  wenn  es  Objekt  für  ein  erkennendes  Subjekt 
^wird,  auf  dieses  einw^irken  muss.  Er  will  also  erst  Metaphysik 
priori  treiben  und  dann  erst  die  Erkenntnistheorie  aus 
den  metaphysischen  Resultaten  deduzieren.  Reinlich  wird  der 
hierbei  unvermeidliche  Zirkel  nur  dann  begangen,  wenn  die 
aufgestellten  metaphysischen  Postulate  fiir  nicht  mehr  ge- 
nommen werden  als  sie  sind,  nämlich  für  unentbehrliche  Voraus- 
setzungen, denen  man  sich  versuchsweise  wohl  anvertrauen 
darf,  weil  mit  ihnen  das  Erkennen  vielleicht  möglich,  ohne  sie 
gewiss  unmöglich  ist. 

Lotze  selbst  vergisst  aber  bald  wieder  diesen  provisorischen, 
bloss  probeweisen  Charakter  der  erkenntnistheoretischen  Postulate 


und  zieht  sich  auf  das  Selbstvertrauen  der  Vernunft  zurück,  auf 
den  unmotivierten  Glauben  an  die  Richtigkeit  eines  Denkens, 
das  sein  eigenes  Gebiet  überschreitet.  Er  steht  also  principiell 
noch  mit  mindestens  einem  Fusse  in  der  positiven  dogmatischen 
Metaphysik,  während  er  thatsächlich  durchaus  schwankend,  über- 
ängstlich und  unsicher  bis  zur  Haltlosigkeit  auftritt.  Gewiss  ist 
die  Vorsicht  und  Umsicht  zu  loben,  die  stets  auch  die  Gegen- 
instanzen zu  berücksichtigen  bemüht  ist;  aber  wer  den  Anspruch 
erhebt,  ein  System  zu  bieten,  der  muss  doch  aus  dem  Abwägen 
der  Gründe  und  Gegengründe  zuletzt  zu  ganz  bestimmten  Ergeb- 
nissen gelangen,  die  nun  als  die  relativ  annehmbarsten  und  wahr- 
scheinlichsten gelten.  Wer  wie  Lotze  in  den  wichtigsten  Punkten 
nicht  einmal  zu  wahrscheinlichen  Behauptungen  gelangt,  sondern 
entweder  alles  problematisch  lässt,  oder  zwischen  verschiedenen 
Möglichkeiten  hin  und  her  gezogen  wird,  der  dient  damit  nicht 
der  positiven  Erkenntnis,  sondern  der  Skepsis.   — 

Lotze  geht  von  der  Herbartschen  Behauptung  aus,  dass  die 
Substanz  mit  vielen  Accidentien,  das  Ding  mit  vielen  Eigen- 
schaften einen  Widerspruch  enthalte.  Er  behauptet  dann,  dass 
wir  nur  ein  einziges  Beispiel  ein^  Wesens  mit  w^echselnden  Zu- 
ständen durch  Anschauung  kennen,  nämlich  das  eigene  Ich- 
Daraus  folgert  er,  dass  nur  dasjenige  ausser  uns  existieren  könne, 
was  wir  durch  innere  Erfahrung  als  die  Eigentümlichkeit  unserer 
bewusstgeistigen  Natur  kennen,  dass  es  Dinge  oder  Substanzen 
nur  geben  könne  als  bewusstgeistige,  für  sich  seiende  Wesen, 
welche  die  Vielheit  wechselnder  Gefühle  und  Vorstellungen  als 
die  ihrigen  wissen.  Es  wäre  gegen  den  guten  Geschmack,  das 
Dasein  anderer  Geister  zu  leugnen ;  aber  es  ist  keineswegs  absurd, 
das  Dasein  ungeistiger,  bewusstloser  Dinge  zu  leugnen.  Wenn 
man  den  Dingen  Dasein  zuschreiben  will,  so  muss  man  sie  als  Ichs 
denken,  die  die  sinnlichen  Qualitäten  (Licht,  Farbe,  Ton  und 
Duft),  welche  sie  in  anderen  Ichs  erregen,  innerlich  auch  selbst  em- 
pfinden.   So  ergiebt  sich  der  Schluss:  Substantialität  ist  Fürsichsein. 

Lotze  selbst  erschüttert  nun  aber  jedes  einzelne  Glied  dieser 
Argumentation  durch  seine  Darlegungen.  Die  Einheit  des  Wesens 
und  die  Mannigfaltigkeit  der  Thätigkeiten .  in  denen  es  seine 
Wesenheit  äussert,  stehen  nicht  nur  nicht  im  Widerspruch,  sondern 
fordern  sich  gegenseitig.  Ständen  sie  wirklich  im  Widerspruch  mit 
einander,  so  wäre  dieser  Widerspruch  im  Selbstbewusstsein  nicht 


Loue. 


413 


gelöst,  sondern  nur  noch  unerträglicher.  Alles  Sein  ist  in  Bege- 
hungen Stehen,  und  die  Wirklichkeit  ist  eben  dieses  Gewölbe  auf 
einander  bezogener  Dinge,  Jedes  Ding  ist  ein  Gewölbe  von  Be- 
ziehungen zwischen  Atomen  und  jedes  Atom  ein  immaterielles 
Kraftwesen  mit  vielen  wechselnden  Kraftäusserungen.  Inwieweit 
das  Ding  als  Ganzes  eine  Bewusstseinseinheit  hat,  bleibt  fraglich, 
und  aus  der  Innerlichkeit  der  Atome,  jenem  »Staub  des  Greister- 
reiches«,  ist  die  substantielle  Einheit  des  Dinges  nicht  zu  erklären. 
Die  Moleküle  eines  empfindungleitenden  Sinnesnerven  können 
nur  als  materielle  durch  ihre  mechanischen  äusserlichen  Wirkungen 
den  Verkehr  zwischen  bewussten  Geistern  vermitteln,  nicht  durch 
ihre  eigene  etwaige  Innerlichkeit 

So  wenig  wie  die  Einheit  Gottes  durch  die  Allgegenwart 
seiner  Wirksamkeit  aufgehoben  wird,  so  wenig  die  Einheit  der 
Seele  durch  die  Vielheit  ihrer  örtlichen  Angriffspunkte  im  Leibe, 
Die  Annahme  Herbarts,  dass  es  singulare  Substanzen  gebe»  ist 
unhaltbar;  die  Singularität  der  Substanz  ist  ein  blosser  Schein, 
der  aus  der  Gesetzmässigkeit  der  Veränderung  in  der  Thätigkeit 
entspringt  Auch  die  Seele  ist  kein  abgesprengtes  Körnchen  der 
allgemeinen  Substanz,  sondern  eine  relativ  konstante  Bethätigung 
der  Einen  absoluten  Substanz,  Danach  sollte  man  meinen,  dass 
die  Bewusstseinseinheit,  welche  aus  der  phänomenalen  Pseudo- 
Substanz  der  Seele  als  ihrer  inneren  Widerspiegelung  entspringt, 
erst  recht  eine  phänomenale  Pseudosubstanz  in  zweiter  Potenz 
sein  müsse,  dass  also  das  Fürsichsein  am  allerwenigsten  Substanz 
sein  könne.  Diese  Folgerung  wird  aber  von  Lotze  nicht  gezogen; 
sowohl  den  selbst  beseitigten  Widerspruch  im  Herbartschen  Ding- 
begriff, als  auch  die  selbst  aufgelöste  Substantialität  des  Fürsich- 
seins, der  singulären  Seele,  behandelt  er  immer  wieder  als  noch 
zu  Recht  bestehend,  und  die  letztere  als  die  einzig  mögliche  Lö- 
sung  der  in  dem  ersteren  gestellten  Aufgabe.   — 

Unter  Idee  versteht  Lotze  die  essentia,  den  Seinsinhalt,  das 
Was  des  Dinges,  einen  in  sich  gegliederten  Begriff,  der  erst  von 
uns  zum  gedachten  Gedanken  eines  Denkenden  gemacht  wird. 
Da  bereits  vorher  das  Ding  als  relativ  konstante  Aktion  der 
absoluten  Substanz  bestimmt  war,  so  handelt  es  sich  nunmehr 
darum,  den  Inhalt  dieser  Aktion  näher  zu  bestimmen.  Dies  ge- 
schieht durch  das  Gesetz,  das  nicht  eine  Über  die  Idee  hinaus- 
reichende Macht  ist,  sondern   mit  der  Idee  durchaus  zusammen- 


4  »4 


Lotze, 


fällt  Das  reale  Ding  ist  nur  das  verwirklichte  individuelle  Gesetz 
seines  Verhaltens,  das  immer  wirklich  gewesene  Gesetz  als  sich 
vollziehende  Thätigkeit  Wie  die  Idee  oder  das  Gesetz  in  wir- 
kungsfähiger Selbständigkeit  gesetzt  wird,  ist  unbegreiflich;  denn 
die  wirklichen  Dinge  sind  mehr  als  Gedanke,  Idee.  Vernunft- 
Gedankeninhalte  thun  einander  nichts,  auch  wenn  sie  verschiedeo 
oder  entgegengesetzt  sind;  die  Dinge  dagegen  stören  und  wehren 
sich.  Diese  Streitfähigkeit  und  Werk  thätigkeit  haben  sie  nicht 
von  der  Idee  ihres  Wesens,  welche  sie  durch  dieselbe  verteidigen. 
Es  fragt  sich  also,  was  die  geheime  Springfeder  sei,  die  dem 
Wesen  ihres  Seins  diese  Macht  und  damit  die  Realität  verleiht; 
kurz,  es  fragt  sich,  was  das  Realprincip  neben  dem  Ideal- 
princip  sei. 

Das  Realprincip  liegt  weder  in  einem  Stoff  noch  in  einer 
ein-  für  allemaligen,  unzurücknehmbaren  Setzung,  die  dem  Dinge 
höchstens  einen  starren,  trägen  Stoff  verleihen  könnte,  aber  nicht 
die  lebendige  Wirklichkeit  des  Wirkens  und  Leidens.  Als  stetige 
Setzung  der  realen  Beziehungen  der  Dinge  gedacht,  fällt  die  abso- 
lute Setzung  mit  dem  stetigen  Schöpferwillen  der  absoluten  Sub- 
stanz zusammen,  Realprincip  ist  die  Selbstverwnrklichungsmacht 
des  Gesetzes,  die  der  Idee  sich  annimmt  und  sie  zu  realisieren 
strebt.  Wie  etwas  leidend  nur  im  Gefühl  ist,  so  ist  es  thätig  nur 
im  Wollen,  in  der  Energie  und  Intensität  des  Strebens:  denn 
Thätigkeit  ist  Willensäusserung.  Der  Träger  der  Kraft  oder 
Energie  ist  ein  und  dasselbe  Subjekt  mit  dem  Subjekte,  das  ihre 
Idee  hat  oder  denkt.  Die  Dinge  sind  weder  inhaltlose  Wirklich- 
keit noch  unwirkliche  Idee,  sondern  Kräfte  und  Ideen  in  einem, 
und  keine  ihrer  beiden  untrennbaren  Seiten  geht  der  anderen 
voran.  Damit  ist  das  Realprincip  neben  der  Idee  als  der  Wille 
bestimmt,  aber  das  passt  nicht  zu  Lotzes  Absicht,  alles  aus  dem 
Fürsichsein  zu  erklären. 

Ganz  plötzlich  und  unvermittelt  behauptet  er  daher,  Realität 
sei  Fürsichsein,  Sichselbsterfassen,  Geistigkeit  oder  Ichheit  und 
weiter  gar  nichts,  und  Realität  lasse  keine  andere  Definition 
als  diese  zu.  Während  er  vorher  Realität  und  Wirklichkeit  als 
gleichbedeutend  gebraucht  hatte,  unterscheidet  er  nun  beide» 
schreibt  Wirkhchkeit  allem  Geschehen,  Realität  nur  den  Dingen 
als  Ausgangs-  und  Zielpunkten  des  Geschehens  zu  und  denkt 
sich  unter  Realität  nicht  nur  eine  Selbständigkeit  gegen  seines- 


• 


Lützc* 


415 


gleichen,  sondern  auch  gegen  Gott.  Nuo  lehrt  aber  Lotze  selbst 
ausdrücklich,  dass  jeder  Grad  rdativer  Selbständigkeit,  den  die 
Dinge  gegen  einander  zeigen,  selbst  wieder  nur  eine  Folge  ist 
ihrer  absoluten  Unselbständigkeit  gegen  die  absolute  Substanz, 
die  me  niemals  aus  ihrer  Einheit  entlässt.  Eine  solche  Selbstän- 
digkeit gegen  Gott  oder  ein  sich  Ablösen  von  Gott  kann  ebenso 
wie  die  singulare  Substantialität  in  Lotzes  System  nur  ein  falscher 
Schein  sein,  so  dass  es  eine  Realität  im  Unterschiede  von  der 
Wirklichkeit  gar  nicht  geben  kann.  Wenn  das  Sein  der  Dinge 
nur  ihr  in  Beziehungen  Stehen  ist,  und  die  Beziehungen  von  der 
absoluten  Substanz  gesetzt  sind,  so  sind  auch  die  Dinge  nur  die 
von  der  absoluten  Substanz  mitgesetzten  Knotenpunkte  dieser 
realen  Beziehungen. 

Dem  Fürsichsein  des  Ich  fehlen  alle  Bestimmungen,  die  für 
ein  Realitätsprincip  erforderlich  sind,  gleichviel,  ob  man  es  als 
gefühltes  oder  gedachtes  versteht  Als  gedachtes,  rein  intellek- 
tuelles Ich  ist  es  ein  Knotenpunkt  rein  idealer,  bewusstgedachter 
Beziehungen,  welche  die  realen  Beziehungen  des  Subjekts  nur 
abspiegeln.  Als  gefühlsmässiges  Fürsichsein  ist  es  ein  pcissiver  Ge- 
fühlsreflex  einer  hinter  dem  Bewusstsein  liegenden  Wirklichkeit, 
und  als  solcher  ein  Symptom  von  Realität,  aber  nicht  selbst  eine 
wirksame  RealitäL  Lotze  selbst  verbietet  den  Schluss  von  der 
phänomenalen  Einheit  des  Bewusstseins  auf  die  Einheit  eines 
realen  Seelendinges.  Um  wie  viel  mehr  sollte  er  es  verbieten, 
den  optischen  Brennpunkt  reflektierter  einfallender  Strahlen  mit 
dem  erzeugenden  Quellpunkt  ausgehender  Strahlen  zu  venv^echseln* 

Wenn  Lotze  vorher  die  Stufen  der  Realität  des  Seins  nach 
dem  Energiegrade  des  Verwirklichungsstrebens  unterschied,  so 
jetzt  nach  dem  Klarheitsgrade  des  Selbstbewusstseins.  Es  wird 
aus  dieser  falschen  Voraussetzung  die  richtige  Folgerung  abge- 
leitet, dass  das  Tote  gar  keine  Realität  haben  kann,  dass  alles 
Wirkliche,  das  scheinbar  tot  ist,  eine  bewusst  geistige  InnerMch- 
keit  haben  muss,  also  auch  die  Atome.  Lotze  vergisst  nur,  dass 
zwischen  Atomseelen  und  Tierseelen  auch  wohl  Plasmaseelen,  Zellen- 
seelen, Ganglienseelen,  Rücken marksseelen  u.  s.  w.  als  Zwischen- 
stufen des  Fürsichseins  Platz  haben  möchten»  die  er  Fichte 
gegenüber  auf  das  Heftigste  bekämpft.  Ist  nur  das  Fürsichsein 
real,  so  ist  auch  die  Erscheinung  nur  als  subjektiv  ideale  Er- 
scheinung im  Bewusstsein  zu  suchen,  eine  objektiv  reale  Erschei- 


4i6 


Loue* 


oung  aber  unmöglich,  weil  ausserhalb  des  Fürsichseins  nichts 
Reales  sein  darf.  Diese  von  Lotze  ausdrücklich  gezogene  Kon- 
sequenz widerstreitet  seiner  Lehre,  dass  Sein  in  Beziehungen 
Stehen  ist;  denn  das  in  Beziehungen  Stehen  ist  zunächst  ein  für 
die  Bezogenen  unbewusstes  und  gerade  als  solches  real,  d.  h.  reale 
Erscheinung  des  absoluten  Wesens.  — 

Während  Weisse  die  Kausalität  sogleich  als  universelle  im 
monistischen  Sinne  betrachtet,  geht  Lotze  vom  Herbartschen 
Pluralismus  aus  und  sucht  gerade  aus  der  Unmöglichkeit  der 
KausaUtät  auf  diesem  Standpunkt  die  Notwendigkeit  des  Fort* 
ganges  zum  Monismus  zu  erweisen.  Den  Prozess  der  Kausalität 
betrachtet  Lotze  als  ewig  und  leugnet  eine  absolute  Initiative  in 
Bezug  auf  das  Ganze,  während  er  innerhalb  des  Wehprozesses 
einer  grundlosen  Initiative  oder  freien  Anfängen  offene  Bahn 
lässt  Er  leugnet  also  die  Freiheit  da.  wo  sie  ihr  Recht  fordern 
darf,  und  behauptet  sie.  wo  sie  als  Störung  der  Gesetzmässigkeit 
keinen  Platz  hat.  Ursache  und  Wirkung  stehen  in  einer  nicht 
umkehrbaren  Zeitfolge»  und  der  Begriff  des  Geschehens  wird  sinn- 
los ohne  Voraussetzung  eines  realen  Zeitverlaufs,  der  Ende  und 
Anfang  verschieden  machl.  Die  in  Kausalbeziehung  stehenden 
Dinge  brauchen  nicht  völlig  gleichartig  zu  sein,  aber  sie  müssen 
es  doch  so  weit  sein,  dass  sie  Glieder  einer  gemeinsamen  Reihe 
od^  eines  Systems  solcher  Reihen  sind»  die  den  Übergang  vom 
einen  zum  andern  gestatten. 

Die  causa  transiens  ist  undenkbar,  weder  als  Übergehen  eines 
Stoffes  noch  als  die  eines  Zustandes  von  einem  Dinge  auf  das 
andere.  Bewegungsübertragung  durch  mechanischen  Stoss  bleibt 
selbst  bei  Annahme  einer  wirklichen  Berührung  der  Dinge  unbegreif- 
lich, Kraftwirkung  kann  nur  zwischen  räumlich  getrennten,  nicht 
zusammenfallenden  Punkten  stattfinden,  bleibt  aber  als  actio  in 
distans  zwischen  substantiell  verschiedenen  Kraft -Subjekten  un- 
verständlich. Herbarts  unräumliches  Ineinandersein  der  Dinge 
ist  in  sich  widerspruchsvoll,  ohne  darum  etwas  zur  Erklärung 
beizutragen»  wie  der  Zustand  von  A  aufhören  kann,  Zustand  von 
A  zu  sein,  und  zu  einem  Zustand  von  B  werden  könne.  Eine 
Vermittelung  Gottes  fördert  das  Verständnis  nicht,  weil  auch  das 
Wirken  Gottes  auf  die  Dinge  unbegreiflich  bleibt,  so  lange  sie 
von  Gott  substantiell  getrennt  sind. 

Nur  wenn  die  Dinge  blosse  Pseudosubstanzen  und  Aktionen 


Lotze. 


4*7 


äDsbluten  Substanz  sind,  hört  die  Unmöglichkeit  der  Kau- 
salität auf.  indem  das  Wirken,  welches  auf  dem  Gesichtspunkt 
des  Pluralismus  transeunt  war»  nun  aus  dem  Gesichtspunkt 
des  Monismus  immanent  ist  Das  immanente  Wirken  im  Ab- 
soluten begreifen  wir  nach  Analogie  des  in  der  Erfahrung  uns 
gegebenen  Wirkens  unserer  eigenen  Aktionen  auf  einander. 
Damit  Ist  der  Okkasionalismus  principiell  überwunden,  und  es  ist 
eine  oiFenbare  Inkonsequenz,  wenn  Lotze  ihn  an  einer  Stelle, 
nämlich  in  dem  Verhältnis  zwischen  Seele  und  Leib,  doch  noch 
bestehen  lässt.  Wenn  die  Kausalität  die  Gesamtheit  der  realen 
Beziehungen  der  Dinge  ist,  so  ist  sie  ihr  Sein  selbst,  das  in  dieser 
besteht.  Wenn  die  Gesamtheit  der  realen  Beziehungen  die  Summe 
|.^er  Kollisionen  zwischen  ihren  gesetzmässigen  Kraftäusserungen 
oder  ideebestimmten  Willensakten  ist,  so  ist  die  universelle 
Kausalität  die  Gesamtheit  der  inneren  immanenten  Beziehungen 
im  absoluten  Wollen. 

Damit  wäre  das  Problem  der  Kausalität  gelöst;  aber  Lotze 
stellt  noch  eine  zweite  Bedingung  für  ihre  Möglichkeit  auf.  Im 
Herbartschen  Pluralismus  soll  die  Seele  des  Dinges  zunächst  von 
der  Störung  etwas  spüren  und  merken,  oder  sich  affiziert  fühlen, 
ehe  sie  mit  einer  Reaktion  antwortet,  die  der  Selbsterhaltung 
dient.  Lotze  nimmt  dies  auf  den  Boden  des  Monismus  hinüber, 
ohne  darauf  zu  achten,  dass  der  Rückgang  auf  die  gesetzmässige 
innere  Gliederung  der  absoluten  Aktion  bereits  die  Sache  er- 
schöpft und  dem  inneren  Spüren  und  Merken  in  der  Individual- 
seele  nichts  mehr  zu  thun  übrig  lässt,  sondern  es  zu  einer  passiven 
Begleiterscheinung  des  realen  Vorganges  im  Absoluten  herab- 
setzt Die  Unmöglichkeit,  ohne  Rückgang  auf  das  Absolute  eine 
innere  Zustandsveränderungin  einem  Dinge  von  einem  anderen  aus 
hervorzubringen,  erklärt  er  für  ebenso  gross,  wie  die,  eine  äussere 
zu  bewirken.  Ebenso  erkennt  er  an.  dass  eine  innere  seelische 
Zustandsänderung  wiederum  nur  durch  Vermittelung  des  Abso- 
luten zu  einer  äusseren  Aktion  desselben  Individuums  führen 
kann.  Die  Einschaltung  des  inneren  Spürens  und  Merkens  ver- 
doppelt also  nur  die  dem  Absoluten  aufgebürdete  Leistung  bei 
der  Kausalität,  ohne  etwas  zu  ihrer  Erklärung  hinzuzufügen, 

Wohl  nur  ein  kleiner  Teil  der  kausalen  Beziehungen,  in  die 
wir  fortwährend  verwickelt  sind,  hat  eine  Bewusstseinsresonanz 
als   passive  Begleiterscheinung;    bei   den    meisten    ist    das  Leiden 


K  V.  H»rtiii«Di»,  Atugew.  Werke,    Bd.  XU, 


27 


4i8 


Lotze. 


nur  ein  äusserliches  Affixiertwerden ,  aber  kein  innerliches  Er- 
leiden. Aber  Lot^e  hält  trotzdem  an  dem  innerlichen  sich  Affiziert- 
fühlen  als  unentbehrlicher  Bedingiing  der  Kausalität  fest  und  stellt 
diese  Bedingung  sogar  der  andern,  der  Immanenz  im  Absoluten, 
voran,  weil  ihm  alles  daran  liegt,  auch  die  Kausalität  auf  das 
Fürsichsein  zu  gründen.  Wie  Substantialität  und  Realität  nur 
im  Fürsichsein  zu  finden  sein  sollte,  so  auch  die  Kausalität;  das 
ist  das  Ergebnis»  worauf  Lotzes  Ontologie  abzielt.  Unterwegs 
aber  hat  sich  ihm  ergeben,  dass  alles  uns  bekannte  Fürsichsein 
nur  PseudoSubstanzen  angehört,  dass  das  Realprincip  der  Wille 
ist  und  dass  die  transeunte  Kausalität  zwischen  verschiedenen 
Substanzen  sofort  begreiflich  wird,  sobald  man  sie  als  immanente 
Kausalität  zwischen  verschiedenen  Teilaktionen  des  Absoluten 
auffasst  Er  hat  im  Vorbeigehen  die  Wahrheit  berührt,  aber  nicht 
vermocht  sie  festzuhalten  und  ihre  Tragweite  zu  verstehen,  weil 
er  als  Theist  ein  falsches  Ziel,  das  Fürsichsein,  im  Auge  hatte.  — 

Bei  Behandlung  der  Räumlichkeit  hat  Lotze  sich  durch  Her-  ^ 
hart  allzuweit  von  Weisses  Standpunkt  abziehen  lassen,  dem  effi^H 
zwar  in  der  Beurteilung  Kants  folgt,  aber  nicht  in  der  Ver^^ 
Wertung  der  intellektuellen  Raumanschauung  des  Absoluten  für 
die  Erklärung  der  realen  Räumlichkeit  der  Welt  Kant  hat  für 
die  Nichträumlichkeit  der  Dinge  an  sich  nur  un stichhaltige  Schein- 
beweise geliefert;  der  naive  Realismus  hat  aber  ebenso  unrecht, 
wenn  er  die  Dinge  an  sich  für  räumlich  halt,  weil  er  sie  mit  deo^H 
räumlichen  Vorstellungsobjekten  identifiziert  und  verwechselt.  Ob^^ 
die  Dinge  an  sich  räumlich  oder  nicht  räumlich  sind^  ist  zunächst 
durchaus  problematisch;  es  ist  aus  der  Anschauung  nicht  zu  ent- 
nehmen, sondern  nur  vermutungsweise  durch  ein  die  Anschauung 
überschreitendes  Denken  zu  ermitteln.  Das  Denken  fordert  ein 
Netz  intelllgibler  Beziehungen  als  Korrelat  der  subjektiv-idealen 
Erscheinungswelt  im  Bewusstsein ;  insoweit  gilt  also  der  transcen- 
dentale  Realismus  für  Lotze  als  gesichert;  die  Streitfrage  ist  nur, 
ob  dieses  Netz  intelligibler  Beziehungen  mit  der  Räumlichkeit 
übereinstimmt  oder  nicht  Lotze  nimmt  das  letztere  an  und  sucht 
den  Beweis  dafür  indirekt  aus  der  Undenkbarkeit  der  ersteren 
Annahme  zu  führen* 

Diejenigen,  welche  die  Übereinstimmung  des  intelligiblen 
Beziehungsnetzes  mit  der  Räumlichkeit  vertreten,  halten  ent- 
weder den  Raum  für  eine  substantielle,  für  sich  bestehende,  dem 


Uotze, 


419 


Realen  vorausgehende  leere  Form,  welche  diesem  einen  Ort  dar- 
bietet, oder  für  eine  den  materiellen  Kräften  nur  inhärierende» 
mit  ihnen  zugleich  gesetzte  und  ohne  sie  nicht  existierende  Form 
ihrer  Bethätigung  und  Wechselbeziehung,  so  dass  ein  leerer  Raum 
nur  ein  abstraktes  subjektives  Vorstellungsbild  im  Bewusstsein 
darstellt  Lotze  weist  die  Undenkbarkeit  der  ersteren  Ansicht 
nach,  macht  jedoch  keinen  Versuch»  auch  die  der  letzteren  zu 
zeigen.  Trotzdem  thut  er  so,  als  ob  er  durch  den  Nachweis  der 
Undenkbarkeit  der  ersteren  Ansicht  die  Undenkbarkeit  der  realen 
Räumlichkeit  überhaupt  nachgewiesen  hätte;  denn  er  folgert  nach 
dem  Satz  vom  ausgeschlossenen  Dritten  die  Nichträumlichkeit  des 
intelligiblen  Beziehungsnetzes,  während  doch  das  unbeachtete 
Dritte  gerade  diejenige  Ansicht  ist,  die  aus  Lotzes  eigenen  meta- 
physischen Voraussetzungen  unausweichlich  folgt  und  für  seinen 
Standpunkt  keinerlei  Schwierigkeiten  mit  sich  fuhrt 

Das  absolute  Subjekt  ist  nämlich  nach  Lotze  absoluter  Geist» 
und  als  Geist  ebenso  wie  jeder  andere  Geist  genötigt,  die  Be- 
ziehung seiner  Aktionen  oder  Atomkräfte  zu  einander  in  drei- 
dimensionaler räumlicher  Form  anzuschauen;  da  aber  Intelligenz 
und  Wille  in  ihm  nicht  geschieden  sind,  so  muss  seine  räumliche 
Anschauung  der  dynamischen  Beziehungen  auch  stetig  mit  diesen 
zugleich  realisiert  werden.  Jede  einzelne  Kraft  ist  nach  Lotze 
überall  da,  wo  sie  wirkt,  aber  auch  nur  da,  wo  sie  wirkt;  darum 
ist  jedes  Kraftatom  überall  im  unendlichen  Räume,  weil  es  überall 
wirkt,  wo  es  an  anderen  Atomen  Angriffspunkte  seines  Wirkens 
findet  Eine  richtige  und  gesetzmässige  Reaktion  jedes  Atoms 
kann  nach  Lotze  nur  durch  ein  richtiges  Raumbild  in  dem 
reagierenden  Subjekt  vermittelt  werden.  Ein  solches  richtiges 
Raumbild  ist  offenbar  in  Atomen  noch  weniger  zu  finden,  als  im 
menschlichen  und  tierischen  Bewusstsein,  wohl  aber  nach  Lotze 
im  absoluten  Subjekt,  welches  zugleich  der  Vermittler  aller 
Wechselwirkung  und  der  Grund  aller  gesetzmässigen  Bestimmt- 
heit und  Zweckmässigkeit  jeder  einzelnen  Reaktion  ist  Wie 
sollte  da  das  intelligible  Beziehungsnetz  etwas  anderes  sein 
können,  als  die  formale  Bestimmtheit»  die  allen  gleichzeitigen 
dynamischen  Beziehungen  durch  die  schöpferische  WiMensreahsa- 
tion  der  absoluten  Idee  im  absoluten  Subjekt  aufgeprägt  wird, 
d.  h,  als  die  von  ihm  intellektuell  angeschaute  Räumlichkeit  dieser 
Beziehungen  ? 


Loue, 

Dieser  offenbaren  Konsequenz  seines  Monismus  weicht  Lotze 
aus,  indem  er  auf  die  Auffassungsweise  des  Herbartschen  Plura- 
lismus hinüberspringt.  Wenn  nach  diesem  alle  Kausalität  be- 
dingt  ist  durch  das  Spüren  und  Merken  in  den  Dingen,  und  die 
Wechselwirkung  sich  letzten  Endes  nicht  zwischen  den  Dingen, 
sondern  bloss  innerhalb  ihres  Bewusstseins  vollzieht,  dann  frei- 
lich muss  auch  die  Form,  in  der  sich  diese  Wechselwirkung  v^oll- 
zieht,  d.h.  die  Räumlichkeit,  etwas  bloss  Subjektives,  ein  blosser 
Schein  in  den  Seelen  sein.  Der  kausale  Einfluss  eines  Atoms 
auf  das  andere  beschränkt  sich  dann  darauf,  dass  dieses  (durch 
Gottes  Vermittelung)  genötigt  wird  vorzustellen,  es  entferne  sich 
von  jenem  oder  nähere  sich  ihm  an.  Das  einzig  Reelle  an 
diesem  Prozess  w^ären  dann  die  verschiedenen  Intensitätsgrade 
des  Wirkens,  oder  die  gesetzmässig  wechselnde  Verteilung  der 
Intensität  der  absoluten  Thätigkeit  auf  ihre  verschiedenen  Glieder. 
Das  reale  intelligible  Beziehungssystem  wäre  nach  Abstreifung 
der  bloss  subjektiven  Anschauungsform  ein  dynamisches  System 
von  reinen  Intensitäts Verhältnissen  und  weiter  nichts.  Ein  solches 
wäre  weder  räumhch,  noch  raumähnlich  (topoid),  und  selbst  die 
Herbartsche  Bezeichnung  -inteUigibler  Raum<  müsste  streng 
genommen  ihm  entzogen  werden* 

Das  ist  die  Hypothese,  die  Lotze  als  Ersatz  für  die  Hypothese 
der  realen  Räumlichkeit  darbietet.  Er  giebt  zu,  dass  sie  sich  mit 
der  uns  von  unserer  geistigen  Natur  geschenkten  Hypothese  an 
Nützlichkeit  für  die  Orientierung  nicht  messen  kann,  dass  sie  die 
Untersuchung  im  Einzelnen  sogar  sehr  erschwert,  und  »greuliche 
Paradoxien«  in  naturwissenschaftlicher  Hinsicht  als  ihre  Konse- 
quenzen nach  sich  zieht.  Er  hält  nur  darum  an  ihr  fest,  weil  er 
durch  den  angeführten  indirekten  Beweis  sie  als  j» den knot wendig« 
erwiesen  zu  haben  glaubt.  So  irrtümlich  dieser  Beweis,  so  un- 
brauchbar ist  die  Hypothese;  denn  sie  vermag  nicht  zu  erklären, 
wie  ein  Bewusstseinssubjekt  dazu  kommen  soll,  zwei  gleich  inten- 
sive von  rechts  und  links  kommende  Einwirkungen  zu  unterschei- 
den oder  mehrere  aus  gleicher  Richtung  kommende  Wirkungen 
von  verschiedener  Intensität  auf  Kraftquellen  in  verschiedenen 
Abständen  vom  Subjekt  zu  verteilen. 

Die  Frage,  worauf  es  beruhe,  dass  die  Seele  unräumliche 
Eigenzustände  überhaupt  unter  der  Form  eines  räumlichen  Neben- 
einander anzuschauen   genötigt  sei,   erklärt  Lotze  mit  Recht  von 


Lotze. 


seinem  Standpunkte  aus  für  unbeant wortbar.  Sie  hört  aber  auf, 
dies  zu  sein,  sobald  das  absolute  Subjekt  bei  seinen  unbewussten 
Intellektualfunktionen  innerhalb  der  Einzelseele  nur  dieselbe  Form 
weiter  anwendet,  die  es  vorher  bei  seiner  ideellen  Bestimmung  des 
Weltinhalts  angewandt  hat    Die  zweite  Frage,  welche  besondere 

rt  von  Empfindungsmannigfaltigkeit  den  Anlass  gebe,  um  die 

Igemeine  räumliche  Ausbreitungstendenz  der  Seele  in  bestimmter 
eise     bei    gewissen    Sinnesempfindungen    zur    Anwendung    zu 

ringen,  bei  anderen  nicht,  hat  Lotze  durch  seine  Lokalzeichen- 
theorie gelöst,  die  ihm  einen  dauernden  Platz  in  der  Geschichte 
der  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  sichert*  Es  bleibt  aber 
noch  eine  dritte  Frage  übrig,  die  Lotze  sich  gar  nicht  gestellt  hat: 
^Wie  muss  das  intelligible  Beziehungsnetz  beschaffen  sein,  um  die 

ntstehung  der  Lokalzeichen  an  den  Empfindungen  zu  erklären? 
An  dieser  dritten  Frage  scheitert  Lotzes  Hypothese  von  der  reinen 
Intensität  des  intelligiblen  Beziehungssystems;  denn  aus  ihr  ist 
die  genetische  Erklärung  der  Lokalzeichen  unmöglich.  Denn  da- 
zu gehört  eine  Dreidimension  all  tat  des  intelligiblen  Beziehungs- 
systems, wie  auch  Lotze  sie  für  sicher  hältj  rein  intensive  Unter- 
schiede in  den  Wirkungen  können  aber  niemals  eine  Mehrheit 
von  Dimensionen  aufweisen* 

Die  Erwägungen  der  neueren  Mathematik,  ob  der  Raum  auch 
mehr  als  drei  Dimensionen  haben  könne,  hat  Lotze  gar  nicht  ver- 
standen, teils  weil  er  Dimension  und  Richtung  verwechselt,  teils 
weil  er  diese  Erwägungen  auf  die  Raumanschauung  andersartiger 

eister,  statt  auf  die  mögliche  Beschaffenheit  des  intelligiblen 
ziehungsnetzes  gerichtet  glaubt  — 
In  Bezug  auf  die  Zeit  vertritt  Lotze  mit  Recht  die  Ansicht. 
dass  sie  durchaus  nicht  mit  dem  Räume  über  einen  Kamm  zu 
scheren  sei,  sondern  schwerer  als  dieser  idealistisch  umzudeuten 
sei.  Auch  hier  operiert  er  mit  der  falschen  Alternative  zwischen 
substantieller  Wirklichkeit  und  ausschliesslicher  Subjektivität, 
führt  auch  hier  die  dritte  mögliche  Ansicht  an,  nach  welcher  die 
Zeit  eine  inhärierende  Form  des  realen  Werdens  und  Wirkens  ist, 
macht  aber  hier  schliesslich  diese  Ansicht  zu  der  seinigen  im 
Jegensatz  zum  Raum,  wo  er  sie  ablehnt.  Lotze  ist  also  trans- 
cendentaler  Realist  in  Bezug  auf  die  Zeit,  obwohl  er  transcenden- 
taler  Idealist  in  Bezug  auf  den  Raum  ist  Allerdings  gilt  dies 
nur   für   Lotze   als   Metaphysiker*     Lotze   als   Religionsphilosoph 


422 


Lotze. 


fällt  nämlich  in  den  transcendentalen  Idealismus  in  Bezug  auf  die 
Zeit  zurück,  den  er  als  Metaphysiker  als  unmöglich  nachgewiesen 
hat.  Genauer  fordert  er  in  der  Religionsphilosophie  eine  Ver- 
einigung beider  einander  widersprechenden  Ansichten,  obwohl  er 
einsieht,  dass  dies  menschlicher  Erkenntnis  unerfiillbar  und  un- 
möglich ist.  Er  erfasst  also  zwar  die  richtige  Ansicht,  wagt  aber 
bloss  aus  religionsphilosophischen  Bedenken  nichts  sie  festzuhalten. 

Zeit  als  leeres  Totalbild  der  Ordnung  ist  eine  bloss  subjek- 
tive Vorstellung,  welche  das  Bild  einer  unendlichen  Vergangen-^ 
heit  mit  dem  einer  unendlichen  Zukunft  verknüpft;  die  leere  Zeit 
ist  ebenso  bloss  subjektiv  wie  der  leere  Raum,  Zeit  als  der 
Zeitverlauf  des  Geschehens  oder  als  die  reale  Succession  des 
Wirkens  selbst  (d.  h.  als  Zeitlichkeit  des  Prozesses)  ist  die  eigenste 
Natur  des  Wirklichen  selbst  Wo  Lotze  als  Metaphysiker  idea- 
listische Wendungen  braucht,  richten  sie  sich  immer  nur  gegen 
den  Irrtum»  die  leere  Zeit  fiir  etwas  Reales,  Substantielles,  an 
und  fiir  sich  Seiendes  zu  halten.  Die  Zeit  im  zweiten  Sinne  des , 
Wortes  (oder  die  Zeitlichkeit}  gilt  in  Lotzes  Metaphysik  immer ' 
für  real,  und  zwar  mit  Recht,  deshalb,  weil  Succession  schlechter- 
dings nicht  aus  lauter  zeitlosen  Momenten  abzuleiten  ist,  die  ja 
alle  das  gleiche  Recht  auf  Wirklichkeit  in  jedem  Augenblicke 
haben  würden.  Selbst  der  bloss  subjektive  Schein  der  Zeitlich- 
keit bleibt  unerklärbar  ohne  eine  wirkliche  Succession,  die  ihn 
erzeugt,  und  wenn  es  auch  nur  der  wirkliche  Zeitverlauf  in  der 
eigenen  Vorstellungsthätigkeit  ist,  die  den  wechselnden  Schein 
in  zeitlich  wechselnder  Bethätigungsweise  setzt  Ohne  reale  Zeit- 
folge der  bewussten  Erlebnisse  wären  Temporalzeichen  unmöglich, 
die  uns  hindern,  die  Abfolge  dieser  Erlebnisse  willkürlich  umzu- 
kehren. Dächte  man  sich  bloss  das  logische  Verhältnis  von  Grund  j 
und  Folge  als  reales  Korrelat  des  subjektiven  Zeitverlaufs,  so 
läge  kein  Hindernis  vor,  das  zeitlich  Frühere  zum  Späteren  zu 
machen,  da  Grund  und  Folge  ein  unzeitlich-ewiges,  rein  logisches 
Verhältnis  haben,  das  sich  beliebig  umkehren  lässt  Ursache  und 
Wirkung  dagegen  sind  nicht  umkehrbar,  weil  in  ihnen  die  Zeit- 
lichkeit schon  drinsteckt 

Gegen  seine  metaphysische  Entscheidung  des  Zeitproblems 
erhebt  Lotze  in  der  Religionsphilosophie  Bedenken.  Er  postuliert 
aus  Gemütsbedürfnissen  einen  höheren  Zusammenhang,  in  wel- 
chem   alles  Vergangene   und  Zukünftige   als   ewig   seiend  aufge- 


hoben  ist,  damit  die  im  Prozess  erzeugten  Güter  auch  denen 
nicht  verloren  seien,  die  sie  gewinnen  halfen  ohne  sie  zu  ge- 
messen, und  damit  Gottes  Allwissenheit  und  Vorauswissen  ge- 
rettet werde,  ohne  die  geschöpfliche  Freiheit  anzutasten.  Dieses 
Bedenken  ist  aber  in  jeder  Hinsicht  hinfällig.  Die  Identität  des 
die  Güter  verarbeitenden  und  sie  geniessenden  Subjekts  ist  schon 
durch  die  substantielle  Wesensidentität  aller  Subjekte  mit  dem 
absoluten  Subjekt  gewährleistet;  die  Kontinuität  des  Bewusstseins 
beider  ist  überflüssig,  tvo  die  Kontinuität  der  absoluten  Idee,  sei 
es  in  unbewusster,  sei  es  in  bewusster  Form,  im  absoluten  Sub- 
jekt besteht,  Freiheit  in  den  Geschöpfen  wäre,  da  diese  doch 
nur  stetige  Aktionen  Gottes  sein  sollen,  zugleich  Freiheit  in  der 
göttlichen  Thätigkeit  während  des  Weltprozesses;  diese  aber  höbe 
die  streng  logische  Bedingtheit  seines  teleologischen  Fortgangs 
auf,  Lotze  steckt  noch  zu  sehr  in  der  abstraktmonistischen  Identi* 
fikation  von  Wesen  und  Thätigkeit,  Subjekt  und  Funktion,  als 
dass  er  einzusehen  vermöchte,  wie  gut  sich  die  Zeitlichkeit  der 
Funktion  Gottes  mit  der  Ewigkeit  seines  Wesens  verträgt.  Gottes 
Thätigkeit  denkt  auch  Lotze  sich  als  einen  bewegten  Strom  von 
Gedanken,  Gefühlen  und  Willensakten;  ein  solcher  kann  aber 
nimmermehr  ein  unzeitliches  Ineinander  aller  sein,  denn  so  wäre 
er  nicht  Thätigkeit,  sondern  ein  ewiges  Chaos.  — 

Das  Geltungsbereich  der  Denkformen  ist  bei  Lotze  ebenso 
schw^ankend,  wie  das  der  Zeitlichkeit.  Er  erkennt  an,  dass  die 
subjektive  Produktion  der  Denkformen  im  einzelnen  Falle  durch 
Beziehungen  der  Dinge  sollizitiert  sein  muss,  die  diesen  Denk- 
formen homolog  sind,  während  er  bei  den  Anschauungsformen 
(eigentlich  nur  bei  der  Räumlichkeit)  die  SolUzitation  durch 
heterogene  Beziehungen  der  Dinge  für  möglich  hält.  Das  reale 
Sein  mag  anstatt  der  Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit  andere  For- 
men haben,  aber  wie  soU  es  überhaupt  noch  Sein  und  Geschehen 
sein,  wie  soll  es  reale  Beziehungen  haben,  wenn  es  nicht  den 
logischen  Kategorien  und  Gesetzen  homogen  und  konform  ist? 
Ohne  Einheit  und  Substantialität  des  absoluten  Subjekts,  ohne 
Vielheit  seiner  accidentiellen  Aktionen,  ohne  eine  reale  Wechsel- 
wirkung unter  den  letzteren  wäre  der  ganzen  Metaphysik  Lotzes 
der  Boden  entzogen;  das  alles  aber  sind  Kategorien. 

Das  Sein  und  Geschehen  folgt  durchweg  denselben  logischen 
Gesetzen,  wie  unser  Denken,  nur  dass  diese  Gesetze  bei  ersterem 


^24  Lotzc. 

in  intuitiver,  bei  letzterem  in  diskursiver  Gestalt  auftreten.  Wird 
dieser  Unterschied  beachtet,  so  kann  das  Denken  von  jedem 
Punkte  aus  den  Zusammenhang  des  Seins  und  Geschehens  re- 
konstruieren, weil  dieser  in  lückenloser  Folgerichtigkeit  logisch 
ist.  Das  Selbstvertrauen  der  Vernunft  erachtet  sich  berechtigt, 
die  Metaphysik  aus  der  Logik  zu  deduzieren,  also  die  bewusst- 
seinstranscendente  Gültigkeit  der  Denkformen  und  Denkgesetze 
anzunehmen,  auch  ohne  die  Bestätigungen,  die  ihm  hinterdrein 
zu  teil  werden;  denn  das  Denken  ist  sich  klar  darüber,  dass  ohne 
diese  Voraussetzung  von  Erkennen  überhaupt  nicht  mehr  die 
Rede  sein  kann. 

Die  logischen  Formen  und  Gesetze  sind  die  konstante  Weise 
der  göttlichen  Wirksamkeit,  ein  implicites  System  von  Gedanken- 
formen im  absoluten  Denken  (Weisses  ewige  Wahrheiten).  Was 
den  göttlichen  Verfahrungsweisen  die  Beständigkeit  verleiht,  ist 
offenbar  die  immanente  Vernünftigkeit,  die  ratio  legis;  wenn  wir 
imstande  sind,  in  diese  ratio  legis  einzudringen  und  mechanische 
Gesetze  sogar  a  priori  zu  bestimmen,  so  ist  es  lediglich,  weil 
unsere  subjektive  Vernunft  zu  dem  Ganzen  der  vernünftigen 
Gotteswelt  gehört,  weil  sie  ein  Strahl  der  göttlichen  Vernunft  ist, 
wie  unsere  Seele  eine  Aktionengruppe  Gottes  ist.  Wenn  die  lo- 
gischen Formen  und  Gesetze  die  immanente  Vernünftigkeit  der 
göttlichen  Anschauungsthätigkeit  sind  und  die  Welt  bloss  die 
Realisation  dieser  göttlichen  Anschauungsthätigkeit  ist,  wie  soll- 
ten da  nicht  diese  logischen  Formen  und  Gesetze  auch  dem  realen 
Beziehungssystem  immanent  sein,  das  wir  die  Welt  nennen? 

Hiernach  müsste  Lotze  in  Bezug  auf  die  Denkformen  und 
Denkgesetze  nach  allen  Konsequenzen  seines  Systems  transcen- 
dentaler  Realist  sein;  aber  auch  hier  hält  er  die  bereits  erfasste 
richtige  Ansicht  nicht  fest,  weil  er  sich  durch  das  »Fürsichseinc 
irre  machen  lässt.  Dies  tritt  in  seiner  ersten  Metaphysik  deutlich 
hervor.  Wenn  alle  Substantialität,  Realität  und  Kausalität  nur 
Fürsichsein  wäre  oder  nur  im  Fürsichsein  anzutreflfen  wäre,  so 
wäre  ja  damit  alles  Sein  und  Geschehen  in  das  Fürsichsein  ver- 
legt, und  die  Kategorien  und  Denkgesetze  wären  dann  nur  For- 
men desjenigen  Seins  und  Geschehens,  das  sich  im  Fürsichsein 
abspielt,  d.  h.  des  bloss  subjektiven.  Dann  ist  alle  Erkenntnis  nur 
insofern  objektiv,  als  der  subjektive  Schein  ein  nicht  bloss  diesem 
einen  Subjekt,  sondern  vielen  oder  allen  Subjekten  gemeinsamer 


ist;  im  übrigen  aber  wäre  dann  diese  Anschauungswelt  in  allen 
Bewusstseinen  ein  gleich  folgerechter  Irrtum.  Unklar  bliebe  dabei 
nur  noch,  wie  ohne  transcendente  Gültigkeit  der  Kategorie  der 
Vielheit  die  Vielheit  der  Subjekte  mehr  als  eine  Illusion  sein 
könnte. 

In  seinem  System  der  Philosophie  hat  Lotze  diese  Ansichten 
aus  seiner  ersten  Metaphysik  nicht  wiederholt,  behauptet  aber 
statt  dessen,  dass  der  BegriflF  der  materialen  Wahrheit  durch  den 
der  formalen  ersetzt  werden  müsse  und  könne,  Es  ist  richtig, 
dass  alles  Erkennen  Dinge  nur  vorstellen,  nicht  sie  selbst  sein 
kann»  und  dass  wir  vergeblich  darauf  warten  würden,  dass  zwi- 
schen unsere  Vorstellungen  einmal  die  Wirklichkeit  selbst  hinein- 
treten könnte,  um  sich  als  Vergleichungsmassstab  darzubieten. 
Andererseits  lehrt  aber  Lotze  selbst,  dass  das  Empfunden  werden 
der  Dinge  nicht  ein  blosser  Erkenntnisgrund  der  Dinge,  sondern 
ihr  Sein  selbst  ist,  wenigstens  die  uns  augenblicklich  zugekehrte 
Seite  ihres  Seins  selbst,  nämlich  ihr  zu  uns  in  Beziehung  Stehen. 
Daraus  folgt  wenigstens  so  viel,  dass  wir  nicht  ganz  ohne  trans- 
cendent  realen  Anknüpfungspunkt  für  die  Gewinnung  einer  ma- 
terialen Wahrheit  sind.  Wären  wir  aber  ganz  ohne  solchen,  so 
könnte  alle  formale  Walirheit  den  Mangel  einer  materialen  nicht 
ersetzen;  wir  blieben  dann  zu  einem  absoluten  Agnostizismus 
verurteilt  — 

Das  Dasein  eines  Weltgrundes  erachtet  Lotze  durch  den 
kosmologischen  Beweis  sichergestellt,  die  Einheit  desselben  aber 
erst  durch  die  Unmöglichkeit  der  Kausalität  ohne  solche.  Der 
teleologische  Beweis  leistet  nach  seiner  Ansicht  nichts,  der  onto- 
logische  iVlles,  in  dem  Sinne,  dass  es  für  das  Gefühl  unerträglich 
wäre,  das  Grösste,  Schönste,  Höchste,  kurz  das  Ideal  für  unwirk- 
lich zu  halten.  (Sonst  pflegt  der  Begriff  des  Ideals  gerade  die 
Unwirklichkeit  einzuschliessen  und  ein  bloss  Ideales  zu  bedeuten, 
dem  die  Wirklichkeit  sich  nur  annähert»  ohne  es  zu  erreichen.) 

Gott  als  absolutes  Subjekt  ist  das  Thätige,  in  dessen  Aktionen 
und  Aktion engruppen  die  Individuen  und  Dinge  bestehen;  die 
Wechselbeziehung  seiner  Teilfunktionen  auf  einander  macht  die 
Kausalität  zwischen  den  Individuen  aus,  so  dass  das  ganze  Be- 
aiiehungssystem,  das  wir  die  Welt  nennen,  vom  absoluten  Subjekt 
stetig  gesetzt  und  getragen  ist  Alles  ist  willensrealisierte  Idee 
oder  gesetzmässig  entfaltete  Kraftäusserung,  wobei  die  Seite  der 


Lotse. 


Idee  und  des  Willens,  des  Gesetzes  und  der  Kraft  untrennbar 
geeint  ist  Wie  die  Idee  des  Einzelnen  sein  Was,  sein  Seins- 
gehalt, seine  Essenz»  aber  frei  von  der  Form  des  (bewusst)  ge- 
dachten Gedankens  ist,  so  auch  die  Idee  des  Weltganzen.  Die 
Verwirklichungsmacht  des  WoUens  muss  sicherlich  erst  recht  frei 
von  der  Form  des  (bewussten)  Gedankens  sein.  Gott  wäre  dem- 
nach das  absolute  Subjekt  der  gewollten  Idee  oder  des  idee- 
erfüllten Wollens  ohne  die  Form  des  (bewusst)  gedachten  Ge- 
dankens; aber  dieser  Konsequenz  weicht  Lotze  aus.  Gott  muss 
das  Fürsichsein  sein,  weil  nur  dieses  das  Höchste  und  Wertvollste 
ist*  Er  giebt  sich  mehr  Mühe  als  irgend  ein  anderer  Theist,  dies 
plausibel  zu  machen,  und  sein  Ansehen  beruht  grossenteils  darauf. 

Lotze  will  einerseits  zeigen,  dass  die  Unbew^usstheit  des  Ab- 
soluten unmöglich,  andererseits,  dass  seine  Bewusstheit  möglich 
sei.  Indem  er  die  falsche  Alteniative  stellt:  das  Absolute  ist 
entweder  »bewusstlose  Materie«  oder  »bewusster  Geiste,  glaubt  er 
aus  der  Unmöglichkeit  der  einen  Seite  den  indirekten  Beweis 
für  die  andere  Seite  der  Alternative  erbringen  zu  können.  Dass 
dazwischen  noch  die  beiden  Fälle  ibewusste  Materie«  und  >un- 
bewusster  Geist«  liegen,  bleibt  bei  der  Stellung  und  Verwertung 
der  Alternative  ausser  acht.  Nur  beiläufig  bemerkt  er»  dass  un* 
bewnsster  Wille  widerspruchsvoll  sei,  dass  er,  als  möglich  voraus- 
gesetzt, die  Freiheit  des  Wollens  aufheben  würde  und  dass  un- 
bewusster  Geist  etwas  Unwirkliches  sein  würde,  weil  unbewusste 
Zustände  nur  als  Störungen  und  Hemmungen  an  bewusst 
Geistern  vorkommen  können.  Dagegen  ist  zu  bemerken,  dass 
Lotze  selbst  von  unbewussten  Intellektualfunktionen,  nicht  etwa 
als  Hemmungen,  sondern  als  positivem  Ursprung  des  bewussten 
Geisteslebens,  den  ausgedehntesten  Gebrauch  macht,  dass  er  selbst 
die  strenge  Gesetzmässigkeit  mit  Ausschluss  jeder  Freiheit  sogar 
in  den  teleologischen  Vorgängen  des  Organismus  und  des  Seelen- 
lebens anerkennt  und  dass  vielmehr  das  Bewusstsein  nur  ein  Zu- 
stand an  dem  ewig  unbewusst  bleibenden  geistigen  Subjekt  ist, 
der  aus  vorbewussten  geistigen  Thätigkeiten  als  deren  Resultat 
entspringt.  Der  Beweis  fiir  die  Unmöglichkeit  eines  unbewussten 
Absoluten  ist  Lotze  nicht  gelungen;  er  ist  nicht  einmal  emsthch 
und  im  Zusammenhange  von  ihm  untern onimen  worden. 

Mit  dem  Beweis  für  die  Möglichkeit  eines  bewussten,  absoluten 
Geistes  hat  er  sich  mehr  Mühe  gegeben.    Er  stellt  fiir  diese  Mög- 


ste^J 

eir^H 


Loue, 


427 


lichkeit  drei  Bedingungen  auf,  von  denen  keine  einzige  unerfüllt 
bleiben  darf:  i)  Das  Absolute  muss  Vorstellungen  aus  sich  ent- 
falten, welche  es  durch  ihre  Objektivität  dazu  nötigen,  sie  in 
Gegensatz  zu  der  Subjektivität  der  Gefühle  zu  stellen:  2)  es  muss 
Gefiihle  der  Lust  und  Unlust  haben,  welche  als  die  eignen  ge- 
wusst  werden  und  so  ein  Selbstgefühl  implicite  in  sich  tragen; 
3)  aus  dem  Keime  dieses  bloss  erlebten  Selbstgefühls  muss  sich 
durch  einen  inneren  Entwickelungsprozess  mit  Hilfe  des  Gegen- 
satzes von  subjektiven  Gefühlen  und  objektiven  Vorstellungen 
das  Selbstbewusstsein  entfalten  und  bis  zur  selbstbewussten  Per- 
sönlichkeit steigern. 

Die  erste  Bedingung  ist  im  lodividualbewusstsein  dadurch 
erftUt,  dass  dasselbe  von  anderen  Subjekten  affiziert  und  dadurch 
genötigt  wird,  seine  so  entstandenen  Vorstellungen  auf  etwas 
ausser  ihm  transcendental  zu  beziehen.  Das  absolute  Subjekt 
müsste,  da  es  nicht  aflßziert  werden  kann,  in  seinen  Vorstellungen 
selbst  einen  Anlass  finden,  sie  auf  etwas  ausser  ihm  transcendental 
zu  beziehen.  Lotze  nimmt  dies  in  der  That  an,  vergisst  aber  dabei, 
dass  die  Vorstellungen  des  Absoluten  niemals  auf  etwas  ausser 
ihm  bezogen  werden  können,  weil  es  nichts  ausser  ihm  giebt, 
sondern  alles  durch  seine  absolute  Idee  Gesetzte  auch  im  Rahmen 
dieser  absoluten  Idee  verbleibt.  Da  das  von  ihm  Gesetzte  nie- 
mals Selbständigkeit  gegen  es  erlangen  kann,  hat  das  Absolute 
auch  keinen  Grund,  das  von  ihm  Gesetzte  ganz  oder  teilweise 
von  sich  als  setzendem  Subjekt  abzulösen  und  sich  gegenüber  zu 
stellen. 

Das  Absolute  kann  Lustgefühle  nur  im  Kontrast  mit  Unlustge- 
fahlen  haben,  letztere  aber,  da  es  durch  nichts  Äusseres  leiden 
kann,  nur  aus  seiner  eigenen  Natur  schöpfen,  also  entweder  aus 
einem  LTn vermögen  oder  Widerspruch,  oder  aus  selbstgesetzten 
Hemmungen  seines  Wollens.  Da  der  erste  Fall  für  Lotze  aus- 
scheidet, bleibt  nur  der  zweite  übrig.  Selbstgesetzte  Hemmungen 
können  nur  durch  Kollision  der  Teile  der  absoluten  Willens- 
thättgkeit  entstehen  und  erwecken  peripherische  Unlust  für  die 
Individuen,  die  in  diesen  Teilaktionen  bestehen,  aber  nicht  zentrale 
für  das  absolute  Subjekt,  das  ja  eben  mit  diesen  Kollisionen 
seinen  Willen  bekommt.  Lotze  hütet  sich  deshalb,  dem  Absoluten 
sinnliche  oder  egoistische  Gefühle  zuzuschreiben  und  betont  nur  die 
moralischen    und   ästhetischen    der    Billigung   und    Missbilligung, 


426 


Lotze. 


des  Gefallens  und  Missfallens,  niit  denen  es  die  Produkte  seiner 
Phantasie  begleitet  Dabei  ist  übersehen,  dass  von  allen  Möglich- 
keiten nur  die  seine  Billigung  findenden  aktuell  werden  können^ 
und  dass  die  moralische  und  ästlietische  Beurteilung  GUedschaft 
an  einer  Indi\'idualität  höherer  Ordnung  und  Sinnenschein  voraus- 
setzen, die  beide  im  Absoluten  fehlen.  Seine  intellektuelle  An- 
schauung ist  übersittlicii  und  übersinnlich,  also  auch  überästhetisch- 
Aber  auch  wenn  es  sittliche  und  ästhetische  GefÜUe  hätte,  läge 
darin  doch  noch  kein  Anlass,  sie  auf  ein  Selbst  oder  Ich  zu  be- 
ziehen, d.  h,  Selbstgefühl  daraus  zu  entwickeln;  denn  es  fehlt  ja 
das  Transsubjektive,  die  transcendentale  Realität  der  VorsteUungs- 
weit  für  das  absolute  Subjekt,  im  Gegensatz  zu  welcher  es  erst 
die  Gefühle  als  subjektive  empfinden  konnte.  Die  Beziehung  der 
etwa  vorhandenen  Gefühle  auf  das  sie  tragende  Subjekt  muss 
deshalb  ungefülilt  und  uogedacht  bleiben. 

Eine  Entwickelung  kann  wohl  im  Inhalt  der  absoluten  Idee 
stattfinden,  sofern  sie  die  Weltentwickelung  vorzeichnet;  sollte 
aber  auch  eine  in  der  Form  der  Anschauung  stattfinden,  so  müsste 
ein  psychologisch  unvollkommener  Anfangszustand  erst  allmäh- 
lich zur  Vollkommenheit  gelangen,  so  müsste  die  absolute  An- 
schauung zuerst  dumpf  und  unklar  oder  abstrakt  begriffsraässig 
sein  und  sich  erst  mit  der  Zeit  zur  Klarheit  und  konkreten  Be* 
stimmtheit  hindurcharbeiten.  Die  absolute  PersönUchkeit  al 
müsste  sich,  wenn  sie  überhaupt  existiert,  immer  voll  und  gan 
besitzen;  sie  muss  sich  ewig  in  absoluter  Vollendung  oder  gar 
nicht  wissen.  Wüsste  sie  sich  in  voller  Klarheit,  so  müsste  sie 
sich  bei  der  Untrennbarkeit  von  Wollen  und  Vorstellen  im 
Absoluten  auch  noch  einmal  setzen,  d.  h.  sich  reell  verdoppeln, 
also  aufhören,  eine  Persönliclikeit  zu  sein.  Dieser  richtige 
Grundgedanke  des  trinitarischen  Theismus  ist  Lotze  nie  in  den 
Sinn  gekommen.  Hiernach  ist  keine  der  drei  Bedingungen  erfüllt, 
die  Lotze  für  die  Möglichkeit  eines  bewussten  absoluten  Geistes 
aufgestellt  hatte.  Damit  ist  ihm  aber  auch  die  Begründung  einer 
theistischen  Weltanschauung  misslungen.  — 

Lotze  ist  mit  seinem  Herzen  auf  der  einen  Seite  seines 
Systems,  mit  seinem  Kopfe  auf  der  anderen.  —  Substantialität, 
Realität  und  Absolutes  ist  nur  Fürsichsein  und  weiter  nichts. 
Kausalität,  Raum,  Zeit  und  alle  Kategorien  sind  nur  im  Fürsich- 
sein oder  Bewusstsein  als  Momente  seines  Inhalts  zu  finden  und 


Rückblick  auf  d«n  Thdsintis. 

bnst  nirgends;  die  materiale  Wahrheit  ist  durch  die  formale  zu 
ersetzen.  Dies  zu  beweisen  ist  er  ausgezogen;  aber  im  Laufe  der 
Untersuchung  stellt  sich  ihm  auf  jedem  Punkte  das  Gegenteil 
dessen  heraus,  was  er  anstrebt,  und  darum  gerade  ist  Lotzes 
Philosophie  so  lehrreich  und  hier  so  ausführlich  erörtert.  —  Sub- 
stantialität  ist  nur  im  Absoluten;  die  Individuen  sind  trotz  ihres 
Fürsichseins  und  Selbstbewusstseins  nur  Scheinsubstanzen  und 
Modi  des  Absoluten,  Realität  ist  nur  im  Wollen,  Kausalität  nur 
in  der  Wechselbeziehung  verschiedener  Teilthätigkeiten  des  Abso- 
luten, die  sich  zu  einander  als  verschiedene  Individuen  ver- 
halten, also  nicht  im  Fürsichsein  eines  Individuums,  sondern  nur 
zwischen  den  Individuen,  Zeitlichkeit  ist  die  Form  des  kausalen 
Geschehens,  das  ausserdem  ein  dreidimensionales  Beziehungsnetz 
oder  Beziehungssystem  mit  fliessenden  Übergängen  (intelligible 
Räumlichkeit)  darstellt.  Das  Absolute  ist  das  Subjekt  der  aus 
Wille  und  Idee  geeinten  absoluten  Thätigkeit;  seine  intellek- 
tuelle Anschauung  ist  in  formeller  Hinsicht  ewig  gleich"  vollendet 
und  nur  ihr  wechselnder  Inhalt,  die  Welt,  zeigt  Entvvickelung. 
Die  Bedingungen  für  die  Möglichkeit  eines  Selbstbewusstseins 
des  Absoluten  sind  nicht  erfüllt.  Das  ist  das  wirkliche  Ergebnis 
seiner  Untersuchungen,  gegen  das  er,  soweit  er  es  sich  selbst 
eingestehen  muss,  doch  krampfhaft  die  Augen  verschliesst,*) 


Blicken  wir  auf  den  Theismus  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
zurück,  so  finden  wir  in  ihm  eine  achtungswerte  Menge  von 
historischem  Wissen,  spekulativem  Können  und  systematischem 
Streben  vereinigt.  Wohl  zu  keiner  Zeit  vorher  hatten  die  Uni- 
versitäten gleichzeitig  über  ein  solches  Mass  philosophie- histo- 
rischer Bildung  und  systembildender  Kraft  verfügt.  Das  lautere 
Wahrheitsstreben  der  theistischen  Denker  ist  gar  nicht  anzu- 
zweifeln. Im  Gegensatz  zu  der  in  der  Luft  schwebenden  »absoluten 
Thätigkeit^  der  vorhergehenden  Pantheisten  suchten  sie  in  dem 
*  absoluten  Subjekt*  den  festen  Halt  für  diese  Thätigkeit;  indem 
sie  aber  dieses  geistige  absolute  Subjekt  nach  Analogie  des  selbst- 
bewussten  Ich  zu  fassen  suchten,  gerieten  sie  in  unlösbare 
Schwierigkeiten,  Die  Unitarier  suchten  entweder  den  Gegensatz 
zu  Gott  in  der  Welt,  gerieten  aber  damit  in  eine  Entwickelung 


♦)  VgL  meine  Schrift:    >Lotze*s  Philösophiec. 


430 


Ruckblick  auf  den  Tbeumiti. 


des  persönlichen  Gottes  an  der  sich  entwickelnden  Welt;  oder 
sie  stellten  Gottes  vollendete  Persönlichkeit  der  Weltschöpfung 
voran  und  mussten  dann  Denken  und  Wollen,  oder  Wollen  und 
Schaffen,  Vorsatz  und  Ausführung  in  Gott  auseinander  reissen. 
Die  Trinitarier  hielten  diese  Einheit  in  so  wdt  fest,  dass  Gottes 
sich  selbst  Denken  seine  Selbst  Verdoppelung  einschloss,  zerstörten 
sich  aber  einerseits  die  Einheit  des  persönlichen  Gottes  durch 
Spaltung  in  eine  Mehrheit  von  Personen  und  konnten  anderer- 
seits den  bildlichen  Unterschied  zwischen  «Zeugimg«  (des  Sohnes) 
und   ^Schöpfung«  (der  Welt)  nicht  mehr  begrifflich  deuten. 

Der  Theismus  hat  seinen  Höhepunkt  zwischen  der  Mitte  der 
dreissiger  und  der  Mitte  der  fünfziger  Jahre;  dann  lässt  sein 
Glaube  an  das  von  ihm  vertretene  Princip  merklich  nach.  In 
I.  FL  Fichles  zweiter  Periode  zeigt  sich  diese  Selbstauflösung  des 
Theismus  ebenso  wie  in  Frohschammer  und  Lotze.  Vergeblich 
sind  selbst  die  Bemühungen  der  Pseudoth eisten,  welche  wenig- 
stens das  Selbstbewusstsein  des  Absoluten  retten  möchten  um 
den  Preis,  dass  sie  seine  Persönlichkeit  als  unhaltbar  preisgeben. 
Schon  in  Trendelenburg  tritt  der  Theismus  gleichsam  verschämt 
auf,  d,  h.  der  Theismus  möchte  sich  zwar  noch  als  Hintergrund 
behaupten,  aber  möglichst  wenig  von  sich  geredet  haben. 

In  den  letzten  Jahrzehnten  seit  Lotzes  Tode  hört  man  in 
philosophischen  Kollegien  von  allem  möglichen  reden »  nur  nicht 
mehr  von  Gott.  Die  Behörden  mühen  sich  vergeblich  ab,  Theisten 
von  irgendwelcher  litterarischer  Bedeutung  für  vakante  Lehrstühle 
zu  finden  und  schätzen  sich  glücklich,  wenn  sie  noch  irgendwo 
einen  Lotzeanrr  auftreiben  können.  Der  Atheismus  eines  Be- 
werbers ist  hingst  kein  Hindernis  mehr  für  seine  Berufung,  wenn 
er  ihn  nur  nicht  laut  werden  lässt.  Desto  mehr  aber  ist  die  Em- 
pfindlichkeit der  Behörden  gegen  einen  zur  Schau  getragenen 
Pantheismus  gewachsen,  der  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  die 
beste  Empfehlung  für  ein  Lehramt  war.  Das  ist  nämlich  als 
Erfolg  der  theistischen  Episode  der  Philosophie  übrig  geblieben, 
dass  man  den  Pantheismus  vom  Theismus  unterscheiden  und  die 
Unverträglichkeit  des  ersteren  mit  dem  Christentum  begreifen 
gelernt  hat  Man  kann  hiemach  ermessen,  wie  unbegründet 
Schopenhauers  Behauptung  war,  als  ob  die  Philosophieprofessoren 
seiner  Zeit  nur  des  Amtes  wegen  sich  zum  Theismus  bekannt 
hätten. 


Rückblick  auf  den  Theisnms. 


431 


Eine  genauere  Nachprüfung  der  Gründe,  welche  die  ITieisten, 
und  zwar  nicht  bloss  die  hier  angeführten,  zur  Rechtfertigung 
ihres  theistischen  Standpunktes  zusammengetragen  haben,  war  in 
einer  Zeit,  in  welcher  ein  oflFenes  Bekenntnis  gegen  den  Theis- 
mus noch  immer  als  Verzicht  auf  jedes  Lehramt  betrachtet  wird, 
dringend  angezeigt.  Wer  eine  solche  in  erschöpfender  Weise 
geleistet  hat,  der  hat  sich  dadurch  einen  Rechtsanspruch  darauf 
erworben,  in  der  Geschichte  der  Metaphysik  erwähnt  zu  werden, 
A.  Drews  hat  diese  Leistung  in  seinen  beiden  Werken  »Die 
deutsche  Spekulation  seit  Kant<«  (Leipzig  1893)  und  »Das  Ich  als 
Grundproblem  der  Metaphysik«  {Freiburg  1897)  vollbracht  Er 
hat  in  dem  ersteren  Werke  gezeigt,  dass  und  weshalb  alle  bis- 
herigen Versuche  der  Theisten,  das  Selbstbewusstsein  und  die 
Persönlichkeit  Gottes  als  möglich  und  walirscheinlich  zu  erweisen, 
ihr  Ziel  verfehlt  haben,  in  dem  letzteren,  dass  und  warum  die 
Analogie  mit  dem  Ich,  auf  welche  der  theistische  Standpunkt 
sich  letzten  Endes  stützt,  in  die  Irre  führen  musste.  Bei  der 
gänzlichen  Erschöpfung  der  theistischen  Spekulation  ist  ein  neuer 
Versuch,  der  die  Drewsschen  Beweisführungen  berücksichtigte, 
bisher  nicht  hervorgetreten,  nur  von  neuthomistischer  Seite  ist  in 
zwei  Broschüren  v^ersucht  worden,  die  alten,  von  Drews  wider- 
legten Gründe  aufrecht  zu  erhalten. 

Als  positives  Ergebnis  der  theistischen  Spekulation  v^drd 
folgendes  zu  betrachten  sein.  Die  absolute  Thätigkeit  kann  nicht 
in  der  Luft  schweben,  sondern  muss  als  Thätigkeit  eines  absoluten 
Subjekts  gedacht  werden,  von  dem  sie  ausgeht  und  getragen 
wird,  das  sich  also  zu  ihr  als  absolute  Substanz  verhält.  Die 
Thätigkeit  ist  Wollen  und  intellektuelles  Anschauen  in  unlösbarer 
Einheit.  Nach  der  Seite  des  WoUens  ist  Thätigkeit  und  Vermögen» 
Aktus  und  Potenz,  nach  der  Seite  des  intellektuellen  Anschauens 
konkrete  aktuelle  Idee  und  logisches  Formalprincip,  Aktualität 
und  Möglichkeit  zu  unterscheiden.  Das  logische  Formalprincip 
ist  vernünftig  bestimmend  für  den  Inhalt  der  Idee,  dieser  Inhalt 
selbst  ist  aber  dem  Inhalt  der  anschauenden  Phantasie  ähnlicher 
als  dem  des  abstrakten  diskursiven  Denkens,  nur  mit  Abzug  des 
sinnlichen  Empfindungsgehalts.  Die  Kategorien  und  Denkgesetze 
sind  die  impliciten  Formen  des  Inhalts  sowohl  der  Idee  als  auch 
des  Bewusstseins,  in  welche  das  logische  Formalprincip  sich  aus- 
einanderfaltet    Die   gesamte  Thätigkeit,  welche  in   ihrer  Einheit 


43^ 


Rückblick  auf  den  Theismus. 


von  Wille  und  Idee  sowohl  die  Natur,  als  auch  die  Geschichte  und 
das  Geistesleben  bestimmt,  vollzieht  sich  in  vorbewusster  Weise, 
und  der  Inhalt  wie  die  Form  des  Bewusstseins  ist  erst  ihr  letztes 
Ergebnis. 

Das  negative  Resultat  aller  theistischen  Bemühungen  besteht 
darin:  Man  muss  es  aufgeben,  der  vorbewussten  Thätigkeit,  aus 
der  die  Natur  und  das  Bewusstsein  entspringen,  wieder  eine  be- 
wusste  Thätigkeit  vorauszusetzen,  die  absolute  Thätigkeit  als 
solche  für  bewusst  zu  halten,  in  dem  Thätigkeitssubjekt  als  ab- 
soluten ein  selbstbewusstes  Ich  oder  gar  eine  Persönlichkeit  zu 
suchen  und  auf  eine  Metaphysik  zu  hoffen,  die  mit  der  christlichen 
Dogmatik  übereinstimmt  Man  muss  in  methodologischer  Hin- 
sicht alle  Gedanken  an  eine  apodiktisch  gewisse  deduktive  Er- 
kenntnis fahren  lassen  und  sich  mit  einer  mehr  oder  minder 
wgJirscheinlichen  Erkenntnis  begnügen.  Diese  letztere  Einsicht 
erwacht  übrigens  erst  in  den  jüngsten  Vertretern  des  Theismus 
und  ist  in  ihnen  offenbar  durch  die  yoraufgehende  Entwickelung 
des  Atheismus  angeregt. 


IV. 

Der  Atheismus. 


I,  Der  sinnliche  Materialismus. 

In  Frankreich  war  die  Überlieferung  des  Sensualismus  und 
Materialismus  nicht  ganz  ausgestorben,  sondern  nur  durch  die 
Restaurationszeit  zurückgedrängt  worden,  und  erhob  mit  dem 
Sturz  der  absoluten  Monarchie  von  neuem  ihr  Haupt.  Comte 
(1798—1857)  suchte  in  seinem  sechsbändigen  Cours  de  philosophie 
positive  (1830 — 1842)  eine  encyklopädische  Bearbeitung  der  Mathe- 
matik, Astronomie,  Physik,  Chemie,  Biologie  und  Sozial  Wissen- 
schaft von  diesem  Standpunkt  aus  zu  geben,  Logik,  Erkenntnis- 
theorie, Kategorienlehre,  Ästhetik  würde  man  vergebens  bei 
ihm  suchen.  An  Stelle  der  Psychologie  tritt  bei  ihm  die  Physio- 
logie und  die  Galische  Phrenologie;  denn  er  verwirft  gänzlich  die 
subjektive  Methode  der  Selbstbeobachtung  und  lässt  nur  die  ob- 
jektive Methode  gelten;  deshalb  finden  auch  die  psychologischen 
und  erkenntnistheoretischen  Leistungen  der  Sensualisten  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  bei  ihm  keinerlei  Verwertung.  Der 
Religionsphilosophie  wendet  er  sich  erst  in  seinem  vierbändigen 
Systeme  de  politique  positive  (1851  — 1854)  zu;  er  predigt  daselbst 
einen  Kultus  des  »grossen  Wesens«,  nämUch  der  Menschheiti  mit 
täglichem  zweistündigem  Gebet,  neun  Sakramenten,  84  Festen 
und  einer  priesterlichen  Hierarchie,  welche  auch  Staat  und  Ge- 
sellschaft zu  leiten  hat.  Diese  Periode  Comtes,  die  nicht  mehr 
der  Geschichte  der  Philosophie,  sondern  der  Geschichte  der  ero- 
tisch-religiösen Geistesstörungen  angehört,  wird  von  seinen  wissen- 
schaftlichen Anhängern  mit  Recht  verleugnet 

Dass  Comte   alles   auf  Materie    und  ihre  Bewegung  zurück- 


Z.t   H»rCmanii,  Aiug«w.  Werke.     Bd.  XJI. 


aa 


434 


Comte, 


führt,   hat  er   mit  allen  älteren  Materialisten   gemein.     Aber  wäh- 
rend diese  an  ihrer  materialistischen  Theorie  eine  wirkliche  Meta- 
physik, und  zwar  die  einzig  wahre  Metaphysik  zu  besitzen  glaub- 
ten,   verwirft  Comte  jede  Metaphysik  ebenso  wie  jede  Theologie. 
Diese    negative»    metaphysikfeindliche  Wendung  allein  ist  es,  die 
ihm  einen  Platz  in  der  Geschichte  der  Metaphysik  sichert;    er  ist 
der  Vater  des  modernen  Hasses  gegen   die  Metaphysik,  der  sich 
neuerdings  zu  einer  zum  Teil  höhnischen,  zum  Teil  giftigen  Meta- 
physikhetze der  führenden  Eiferer  zugespitzt  hat  und  sich  in  einer 
ängstlichen   Metaphysikscheu    der  unselbständigen   Geister  w^ider- 
spiegelt.     Seit    Comte    ist  Metaphysik   als  unwissenschaftlich  ver- 
fehmt,  und  wer  seinen  wissenschaftlichen  Ruf  unversehrt  erhalten 
will,    muss   sich  vor  jedem  Verdacht  einer  Berührung  mit  dieser 
menschlichen  Geistesverirrung  wahren,     Science  heisst  nach  fran- 
zösischem Sprachgebrauch  nur  die  exakte  Wissenschaft,  während 
die  Pliilosophie    von  jeher  zu  den    lettres    gehörte.     Comte  zieht 
nur   die  Konsequenz   aus    diesem  Sprachgebrauch»    wenn    er   die 
Metaphysik    von    den    Wissenschaften    ausschhesst   und    diejenige 
Philosophie,  die  er  als  wissenschaftlich  gelten  lässt,  auf  die  Zu- 
sammenfassende Bearbeitung  der  exakten  Einzel  Wissenschaften  be- 
schränkt. Das  allein  ist  ^vpositive«  Philosophie,  wobei  das  Wort  posi- 
tiv viele  Bedeutungen  in  sich  vereint,  nämlich  die  von  wirkhch»  nütz- 
lich, zweifellos  sicher,  genau  bestimmt,  nicht  negativ  auflösend,  son- 
dern organisch  aufbauend  und  relativ  im  Gegensatz  von  absolut.  — 
Comte  unterscheidet  drei  Perioden  der  menschlichen  Erkennt- 
nis» die  in  der  Menschheit,  in  der  Geschichte  jeder  Einzel  Wissen- 
schaft und  in  der  Entwickelung  des  Einzelnen  wiederkehren:  die 
theologische,    metaphysische     und    positive.      Die     beiden 
ersten  Perioden  suchen   einen  transcendenten  Grund  der  Erschei- 
nungen, geben  sich  Spekulationen  über  Anfangs-  und  Endursachen 
hin,    die  notwendig   erfolglos    bleiben   müssen,    und  konstruieren 
ihre   Fiktionen    nach   Analogie    ihrer  eigenen  Subjektivität.     Die 
positive    Betrachtungsweise    dagegen    beschränkt    sich    auf    die 
Beobachtung  und  experimentelle  Feststellung  der  Erscheinungen 
und  auf  die  Ermittelung  ihrer  immanenten  Ursachen  und  Gesetze 
und    hält   sich   ganz  an   die  objektive  Methode.     Die  erste,  theo- 
logische Periode   sucht  die  transcendenten   Gründe  der   Erschei- 
nungen  in   Gottern  und  Dämonen,  die  nach  Analogie  des  Men- 
schen als  fühlende  Individualwesen  oder  Personen  gedacht  werden. 


Comte. 


435 


Die  zweite  metaphysische  Periode  setzt  abstrakte  Kategorien  und 
unpersönliche  Entitäten  an  die  Stelle  der  Götter  und  Dämonen, 
hört  aber  nicht  auf,  dieselben  als  transcendenten  Grund  der  Er- 
scheinungen aufzufassen  und  fährt  fort»  die  Natur  aus  ihnen 
a  priori  zu  konstruieren  nach  Massgabe  der  eigenen  subjektiven 
Geistesveranlagung.  Die  positive  Periode  kümmert  sich  nicht 
mehr  um  die  fiktiven  transcendenten  Gründe,  sondern  stellt  in 
den  beschreibenden,  konkreten,  einzelnen  Naturwissenschaften  (wie 
Zoologie,  Botanik)  die  Beschaffenheit  der  Erscheinungen,  in  den 
abstrakten  allgemeinen  Wissenschaften  (wie  Biologie)  den  gesetz- 
mässigen  Zusammenhang  der  Erscheinungen  dar.  Der  theo- 
logischen Periode  entspricht  in  der  Politik  die  Monarchie  und  der 
Militarismus,  der  metaphysischen  Periode  der  Konstitutionalismus. 
der  positiven  Comtes  neue  Menschheitsreligion  mit  der  hierar- 
chischen Ausübung  der  geistlichen  Gewalt  Comtes  ganze  Anti- 
pathie richtet  sich  gegen  die  zweite  Periode,  während  er  auf  die 
erste  eher  mit  der  wohlwoUenden  Nachsicht  herunterblickt  wie 
ein  Mann  auf  die  Phantasien  eines  Kindes.  Für  den  Katholizis- 
mus hat  er  sogar  eine  ganz  besondere  Hochachtung  und  seine 
eigene  Menschheitsreligion  ist  nichts  weiter  als  die  ins  Atheistische 
übertragene  katholische  Kirche  mit  Comte  als  Papst 

Geschichtsphilosophisch  scheint  die  gegebene  Konstruktion 
unhaltbar.  Theologische,  metaphysische  und  exakt  wissenschaft- 
liche Betrachtungsweise  laufen  zu  allen  Zeiten  der  Kultur  neben 
einander  hen  Durch  fortgeschrittene  Beobachtungs-  und  Denk- 
methoden gewinnen  alle  drei  gleichmässig,  Dass  die  theologische, 
metaphysische  und  wissenschaftliche  Auffassung  zu  bestimmten 
Zeiten  ein  Übergewicht  haben  können,  ist  richtig;  aber  darin 
zeigt  sich  nur  das  allgemeine  Gesetz  der  Menschheitsentwickelung, 
dass  der  Fortschritt  zu  jeder  Zeit  sich  vorzugsweise  auf  einzelne 
Gebiete  wirft  und  andere  brach  Hegen  lässt.  Dass  religiöse, 
metaphysische  und  naturwissenschaftliche  Anschauungsweise  nicht 
in  den  verschiedensten  Kulturepochen,  jedesmal  auf  höherer  Stufe, 
wieder  auftauchen,  hat  Comte  ebenso  wenig  gezeigt,  als  dass  das 
demnächstige  Ende  der  beiden  ersten  bevorstehe.  Es  ist  eher  zu 
vermuten,  dass  erst  mit  dem  letzten  Menschen  der  letzte  Religiöse 
und  der  letzte  Metaphysiker  dahingehen  werde.  Dass  das  religiöse 
und  metaphysische  Bedürfnis  der  Menschen natur  abgenommen 
habe,  dafür  hat  Comte  ebenso  wenig  einen  Beweis  versuchtp  als 

ad« 


436 


Comte. 


dafür,  dass  beider  Befriedigung  mit  der  Anerkennung  der  exakten 
Naturwissenschaften  unvereinbar  sei.  — 

Wenn  gleichwohl  dieser  Comtesche  Einfall  in  weiten  Kreisen 
Beifall  gefunden  hat,  so  erklärt  sich  das  doch  nicht  bloss  durch 
den  zeitweiligen  Aufschwung  der  Naturwissenschaften,  durch  die 
augenblickliche  Ermüdung  ao  allzurascher  Aufeinanderfolge  meta- 
physischer Systeme,  oder  durch  Widerwillen  gegen  die  von  der 
Restauration  auf  theologischem  Gebiete  hervorgerufenen  Erschei- 
nungen. Es  kommt  hinzu,  dass  diesem  Einfall  eine  gewisse  Wahr- 
heit zu  Grunde  liegt.  Nicht  die  Theologie  und  Metaphysik  wird 
durch  die  exakte  Wissenschaft  überwunden,  sondern  nur  eine  be- 
stimmte Art  von  Theologie  und  Metaphysik,  nämhch  diejenige,  die 
methodologisch  nicht  haltbar  ist.  Eine  unmittelbare  Übertragung 
subjektiver  Eigenschaften  auf  die  vorausgesetzten  Gründe  der 
Erscheinungen  ist  ebenso  unstatthaft,  wenn  sie  Gefiihle  oder  die 
Persönlichkeitsform  des  Menschen,  als  wenn  sie  die  Kategorien 
seines  Denkens,  Empfindens  und  Anschauens  betrifft.  Eine  solche 
unmittelbare  Übertragung  kann  in  beiden  Fällen  keine  Gewiss- 
heit  geben;  deshalb  Ist  eine  apriorische  Konstruktion  der  Meta- 
physik unmöglich.  Die  positive  Methode,  welche  von  den  ge- 
gebenen Erscheinungen  ausgeht,  Thatsachen  feststellt»  mit  den 
gegebenen  Bedingungen  verknüpft  und  so  Gesetze  ableitet,  ist, 
wenn  sie  systematisch  durchgeführt  wird,  nichts  weiter  als  die 
induktive  Methode.  Durch  sie  muss  die  konstruktive  Methode 
der  Metaphysik  ersetzt  werden. 

In  alledem  hat  Comte  entschieden  recht,  und  er  darf  deshalb 
als  ein  moderner  Bahnbrecher  in  methodologischer  Hinsicht  ge- 
schätzt worden,  wenngleich  es  ihm  an  methodologischer  Klarheit 
über  die  Grundlagen  und  die  Tragweite  seiner  Methode  durch- 
aus fehlt,  und  es  erst  seinem  Anhänger  J.  St  Mill  vorbehalten 
blieb,  die  Methodologie  mit  klarem  Bewusstsein  zu  fördern.  Unrecht 
hat  er  dagegen  in  dem  Glauben,  dass  diese  Methode  zu  keiner 
Metaphysik  und  Theologie  führen  könne,  unrecht  in  seinen  Vor- 
urteilen, dass  die  positive  Erkenntnis  niemals  über  Erscheinungen 
hinauskönne,  dass  die  Theologie  und  Metaphysik  es  immer  nur 
mit  einem  transcendenten  und  gar  nicht  mit  einem  immanenten 
Grund  der  Erscheinungen  zu  thun  habe,  und  dass  Anfangs- 
ursachen (Principien)  und  Endursachen  (Zwecke)  etwas  der  Welt 
Transcendentes  und  nicht  vielmehr  ihr  Immanentes  seien.    Unrecht 


Fctjerbach, 


437 


hat  er  ferner  darin,  die  Selbstbeobachtung  und  die  aus  ihr  ge- 
schöpften Thatsachen  ganz  aus  der  Erfahrungsgrundlage  der 
Induktion  ausschalten  zu  wollen;  denn  einerseits  beraubt  er  sich 
damit  eines  sehr  wichtigen  und  geradezu  unersetzlichen  Teils  der 
Erfahrung»  andererseits  verkennt  er,  dass  seine  sogenannten  objek- 
tiven Beobachtungen  doch  auch  nur  durch  Perzeption  des  ver- 
räumlichten  Teiles  des  eigenen  Bewusstseinsinhalts,  also  durch 
Selbstbeobachtung  oder  innere  Erfahrung  gewonnen  sind.  Dass 
die  Erscheinungen,  von  denen  er  spricht,  zunächst  nur  subjektive 
Erscheinungen  im  Bewusstsein  des  Menschen  sind,  davon  hat 
Comte  in  seinem  naiven  Realismus  keine  Ahnung;  deshalb  fehlt 
seiner  Beschränkung  der  Erkenntnis  auf  Erscheinungen  selbst 
der  Schein grund,  auf  den  Kant  sich  bei  dieser  dogmatischen  Be- 
hauptung stützte.  Seine  Idiosynkrasie  gegen  alle  Entitäten  wird 
nur  dadurch  möglich,  dass  er  in  dem  StoflF  die  einzig  wahre 
Entität  zu  besitzen  glaubt,  die  alle  anderen  entbehrlich  macht,  und 
dass  er  dabei  nicht  merkt,  dass  dieser  gerade  von  allen  Entitäten 
die  allerfiktivste  ist. 

In  seiner  Ethik  ist  er  Altruist,  ohne  freilich  die  Forderung, 
dem  andern  wohl  zu  thun,  aus  seinen  Principien  begründen  zu 
können;  in  seiner  Soziologie  folgt  er  dem  Sozialisten  St.  Simon, 
kommt  aber  über  unbestimmte  Allgemeinheiten  nicht  hinaus.  Im 
Ganzen  zeigt  er  einen  Typus,  den  man,  nach  deutschen  Mass- 
stäben bemessen,  kaum  als  den  eines  Philosophen  gelten  lassen 
würde.  Es  ist  nicht  seine  psychopathische  Belastung,  sondern  die 
klägliche  Dürftigkeit  seiner  Gedanken  und  der  Mangel  an  philo- 
sophischer Bildung,  was  ihn  auf  die  Stufe  eines  un philosophischen 
Kompilators  herabdrückt.  Mögen  solche  Kompilationen  für  ihre 
Zeit  noch  so  verdienstlich  gewesen  sein,  so  müssen  sie  doch  not- 
wendig durch  die  Fortschritte  der  Wissenschaften  in  zwei  Menschen- 
altern veralten,  — 

Feuerbach  (1804 — ^1872)  hat  sechs  Stufen  durchlaufen.  Als 
theologischer  Student  von  1822 — 1824  war  er  Theist;  von  1824 
ab  stürzte  er  sich  als  Zuhörer  Hegels  mit  Eifer  in  dessen  Pan- 
logismos;  Ende  der  dreissiger  Jahre  schlägt  ihm  der  Panlogismus 
mehr  und  mehr  in  Anthropologismus  um;  in  den  Jahren  1842 
und  1 843  verliert  der  Anthropologismus  seinen  von  Hegel  her  bisher 
beibehaltenen  rationalistischen  Anstrich  und  geht  in  Sensualismus 
über;    1845   verwandelt   der  Sensualismus   sich    in  Naturalismus; 


438 


Ftuerbach, 


1866  endlich  entpuppt  dieser  sich  als  Materialismus.  »Gott  war 
mein  erster  Gedanke,  die  Vernunft  meio  zweiter»  der  Mensch  mein 
dritter«;  er  hätte  später  hinzufügen  müssen:  »Das  Sinnliche  mein 
vierter,  die  Natur  mein  fiiofter,  der  Stoff  mein  sechster  und  letzten« 
Seinen  ersten  und  zweiten  Standpunkt  (Gott  und  die  Vernunft) 
Hess  er  sich  einfach  von  seinen  Universitätslehrern  suggerieren; 
seinen  dritten  und  vierten  (den  Menschen  und  das  Sinnliche) 
erarbeitete  er  sich  selbst;  den  Fortgang  zu  seinem  fünften  (der 
Natur)  Hess  er  sich  von  zeitgenössischen  Kritikern  aufdrängen; 
zu  dem  sechsten  (dem  Stoff)  glitt  er  allmählich  unter  dem  Einfluss 
des  naturwissenschaftlichen  iMaterialismus  der  fünfziger  und  sech- 
ziger Jahre  hinunter.  Die  Devolution  seines  Lebens  ist  das  Hinab- 
gleiten auf  einer  schiefen  Ebene  von  der  Philosophie  zur  Un- 
Philosophie, 

Feuerbach  ist  niemals  etwas  anderes  gewesen  als  Antitheolog; 
von  der  Theologie^  mit  der  er  begonnen  hatte,  wollte  er  sich  los- 
ringen,  und  dieses  Ringen  nahm  so  sehr  seine  Kraft  und  sein 
Interesse  in  Anspruch»  dass  ihm  für  nichts  anderes  welche  öbrig 
blieben.  Er  wollte  nicht  bloss  los  vom  religiösen  Glauben,  sondern 
er  hasste  mit  der  ganzen  Leidenschaftlichkeit  seines  Temperaments 
die  theologischen  Dogmen ,  die  ihn  so  lange  in  ihren  Bann  ge* 
schlagen  und  so  viel  Kraft  zu  ihrer  Überwindung  gekostet  hatten, 
und  wollte  sie  von  Grund  aus  zerstören.  Das  geeignete  Mittel 
dazu  schien  ihm  der  Nachweis,  wie  die  Illusion  des  religiösen 
Glaubens  mit  psychologischer  Notwendigkeit  in  der  Menschheit 
entstehen  musste,  und  deshalb  widmet  er  dieser  Untersuchung 
sein  ganzes  Leben,  Alles,  was  er  sonst  von  Ansichten  geäussert 
hat,  sind  nur  gelegentliche  Abfälle  dieser  religionsphilosophischon 
Betrachtungen.  Aller  Wechsel  der  Standpunkte,  den  er  durch- 
gemacht hat,  ist  letzten  Endes  von  der  einen  Sehnsuclit  geleitet, 
den  Standpunkt  zu  gewinnen,  w^elcher  zur  Vernichtung  der  Theo- 
logie und  des  Religionswahnes  der  geeignetste  ist  Deshalb  ist 
keiner  seiner  Standpunkte  von  ihm  philosophisch  begründet 
sondern  jeder  nur  intuitiv  ergriffen,  um  von  ihm  aus  den  Hebel 
der  Kritik  an  das  Dogma  ansetzen  zu  können. 

In  seiner  Hegeischen  Zeit  bekämpft  er  den  Materialismus. 
Dass  das  Denken  nur  ein  Hirnakt  sei,  diesen  von  ihm  selbst 
später  vertretenen  Satz,  nennt  er  völlig  sinn-  und  verstand!«:«» 
da  ja  doch   das  Hirn   nicht  der  Verstand  selbst,  der  Hirnakt  als 


439 

solcher  also  ein  verstandloser  Akt  sei»  Wenn  das  Denken  nur 
eine  Äusserung  der  Materie  wäre,  so  wäre  es  unmöglich,  den 
Leib,  die  Materie»  als  Objekt  zu  fixieren  und  wir  wären  ununter- 
scheidbar  von   ihm.     Das   Denken    ist   eben   Unterscheidung   des 

FWesens  von  der  Erscheinung;  darum  ist  es  eine  auf  Sinnen* 
täuschung  beruhende  Barbarei  des  Denkens,  die  physiologischen 
Vorgänge  während  des  Denkens  für  das  Denken  selbst,  d.  h,  die 

►Erscheinung  für  das  Wesen  zu  halten.  Widerlegt  hat  er  sich 
diese  Einwendung  nicht,  als  er  schliesslich  selbst  zum  Materialis- 
mus überging.  — 

Schon  1838  proklamierte  Feuerbach  den  Atheismus  und 
setzte  das  Fichtesche  Selbstbewusstsein  in  den  Rang  des  Abso- 
luten ein.  1841  bestimmt  er  das  Göttliche  als  das  ins  Jenseits 
hinausprojizierte  allgemein  Menschliche.  Gott  als  metaphysisches 
Wesen  oder  als  absolutes  Subjekt  ist  der  hinausprojizierte  mensch- 
Hebe  Verstand,  der  sich  selbst  genügt  und  geniesst,  weil  er  selbst 
kein  Ding  ist.  sondern  alle  Dinge  zu  seinen  Objekten  macht. 
Der  Mensch  braucht  aber  einen  Gott,  der  nicht  bloss  diesen 
Einen  Vorzug,  sondern  alle  menschlichen  Trefflichkeiten  in  sich 
vereint,  geniesst  und  leidet,  hasst  und  liebt,  selbstsüchtig  und 
moralisch  ist  wie  der  Mensch.  So  ist  Gott  das  offenbare  Innere, 
das  ausgesprochene  Selbst  des  Menschen.  Zwischen  den  recht 
verstandenen  göttlichen  und  menschlichen  Prädikaten  ist  kein 
Unterschied;  jeder  Versuch,  einen  solchen  zu  machen,  löst  sich 
vor  der  Kritik  in  Nichts,  in  Unsinn  auf.  In  der  Gleichsetzung 
der  göttlichen  und  menschlichen  Prädikate  beruht  die  Wahrheit, 
in  dem  Versuch,  sie  doch  noch  zu  unterscheiden,  die  Unwahrheit 
der  Religion.  Da  nun  das  Wesen  Gottes  nur  die  Einheit  seiner 
Prädikate  ist,  so  ist  es  auch  identisch  mit  dem  Wesen  des  Menschen 
und  von  ihm  ununterscheidban  Aber  nicht  mit  dem  Wesen  dieses 
oder  jenes  Menschen,  auch  nicht  etwa  mit  dem  des  religiösen 
Genius,  sondern  mit  dem  allgemeinen,  gattungsmässigen  Wesen 
des  Alenschen.  Wenn  nach  Hegel  Gott  nur  als  Denken  und  im 
Denken  und  sein  Wissen  von  sich  nur  das  Wissen  des  Menschen 
von  ihm  war,  so  ist  nunmehr  bei  Feuerbach  Gott  bloss  noch  im 
Denken  des  Menschen,  und  der  Mensch  weiss  nur  von  sich, 
während  er  von  Gott  zu  wissen  wähnt.  Die  Hegeische  Vermengung 
des  absoluten  und  menschlichen  Denkens  wird  bei  Feuerbach  zu 
einer  Identifikation,   die  aber   nicht  das  menschliche   Denken   im 


440 


Feuerbftch. 


Absoluten,  sondern  das  Absolute  im  Menschlichen  (nicht  das  em- 
pirische Ich  Fichtes  im  absoluten  Ich»  sondern  dieses  in  jenem) 
aufgehen  lässt. 

Indem  der  Mensch  alles  Gattungsmässige  und  Treffliche  von 
sich  hinausprojiziert  und  als  Gott  verehrt,  entäussert  er  sich  seiner 
Menschlichkeit  in  dem  Masse,  als  er  religiös  ist.  Was  zurück- 
bleibt, ist  der  nackte  Egoist  Nun  ist  aber  dieser  hinausprojizierte 
gattungsmässige  Mensch  offenbar  eine  blosse  Abstraktion,  die 
an  und  für  sich  unwirklich  ist  und  nur  insoweit  Wirklichkeit 
gewinnt,  als  sie  an  etwas  Wirklichem  haftet  und  von  ihm  ge- 
tragen wird.  Der  Gattungsbegriff  des  Menschen  und  in  noch 
höherem  Masse  das  Gattungsideal  des  Menschen,  ist  ein  ab- 
straktes Vernunftwesen,  das  bloss  in  unserem  Kopfe  herumspukt 
Was  ist  aber  der  wirkliche  Mensch,  an  dem  dieser  Gattungs-  i 
begriff"  haftet?  Wenn  der  erste  Schritt  der  Entfernung  von  Hege|^H 
darin  bestanden  hatte,  die  absolute  Veniunft  zur  menschlichen  zu^^ 
degradieren,  so  rauss  nun  der  zweite  Schritt  folgen,  die  Vernunft 
im  Menschen  zu  einem  Accidens  des  wirklichen  Menschen  herab- 
zusetzen, — 

Jetzt  tritt  Feuerbach  an  den  entscheidenden  Punkt  heran,  an 
den  Mangel  eines  Realprincips  und  Substantialprincips  bei  Hegel. 
Den  Willen  vermag  er  nicht  als  Realprincip  gelten  zu  lassen, 
weil,  wie  er  später  gegen  Schopenhauer  bemerkt,  ein  nichts 
wollender  Wille  gar  kein  Wille  sei,  sondern  die  vernünftige 
Begierde  der  erste  Wille  sei  Das  absolute  Subjekt  des  absoluten 
Selbstbewusstseins  oder  das  absolute  Ich  des  persönlichen  Gottes 
kann  er  weder  als  Realprincip  noch  als  Substantialprincip  brauchen, 
weil  er  ja  den  ganzen  Gottesbegriff  als  Illusion  nachgewiesen  zu 
haben  glaubt.  Dennoch  fühlt  er  die  Unmöglichkeit,  mit  dem 
Vernuuftprincip  allein  auszukommen  und  bloss  von  ihm  aus  das 
Wirkliche  zu  erreichen. 

Da  verfällt  er  darauf,  das  Wirkliche,  den  Gegensatz  des  Ver- 
nünftigen,  in  demjenigen  zu  suchen,   was  dem  abstrakt  und  di; 
kursiv    Vernünftigen    im    menschlichen     Bewusstsein     entgegei 
gesetzt  ist,  weil  er  das  Vernünftige  nur  in  dieser  Gestalt  kennt  und 
gelten  lässt     Das  ist  aber  das  Sinnliche,  das  alter  ego  des  Den- 
kens   und    der    Philosophie,  die  Nichtphilosophie,     Das  Ende  des 
Prozesses  ist  zwar  der  vernünftige  Geist,  aber  nicht  der  Anfan, 
Hegel    beginnt   mit    dem   abstrakten   Sein   oder   dem  Begriff  d 


Feuerbach. 


441 


Seins;  man  muss  aber  mit  dem  wirklichen  Sein  anfangen,  und 
dieses  ist  nicht  aus  dem  Denken,  vielmehr  ist  es  das,  woraus  erst 
das  Denken  entspring-t.  -Das  Wirkliche  in  seiner  Wirklichkeit 
oder  als  Wirkliches  ist  das  Wirkliche  als  Objekt  des  Sinnes» 
ist  das  Sinnliche.  Wahrheit,  Wirklichkeit,  Sinnlichkeit  sind  iden- 
tisch. Nur  ein  sinnliches  Wesen  ist  ein  wahres,  ein  wirkliches 
Wesen.  Nur  durch  die  Sinne  wird  ein  Gegenstand  im  wahren 
Sinn  gegeben  —  nicht  durch  das  Denken  für  sich  selbst.  Das 
mit  dem  Denken  gegebene  oder  identische  Objekt  ist  nur  Ge- 
danke.« Der  Mensch  als  konkretes  sinnliches  Wesen,  d.  h.  als 
»Objekt  des  Sinnes«,  ist  aber  der  Leib;  also  ist  der  Leib  das 
wirkliche  Wesen  des  Menschen,  sein  Ich  in  seiner  Totalität,  nicht 
bloss  als  abstraktes  Gedankenich,  Es  war  kein  Wunder,  dass 
die  Sehnsucht  nach  einer  Substanz  sich  zunächst  an  dasjenige 
anklammerte,  was  der  Pantheismus  von  Fichte  bis  Hegel  allein 
als  Substanz  hatte  gelten  lassen,  nämlich  das  sinnlich-stoflFHche 
Vorstellungsobjekt.  — 

Nachdem  so  der  Anthropologismus  in  Sensualismus  überge- 
gangen war,  hätte  Feuerbach  seine  Lehre  vom  menschlichen 
Gattungsideal  und  die  aus  ihm  abgeleitete  Moral  der  Humanität 
als  überwundenen  Standpunkt  fortwerfen  und  durch  den  reinen 
Egoismus  ersetzen  müssen.  Der  Gattungsmensch  war  ja  das 
illusorische  Vemunftwesen  des  Menschen  und  als  ein  gespensti- 
scher Spuk  bedeutungslos  und  rechtlos  gegen  den  konkreten 
wirklichen  Menschen  und  seine  massive  Sinnlichkeit,  Dies  wurde 
Feuerbach  1845  durch  Stirner  nachdrücklich  zu  Gemüte  geführt. 
Schon  1844  war  er  durch  eine  Daumersche  Schrift  auf  die  Natur 
als  den  gemeinsamen  Ursprung  aller  wirklichen  Menschen  hin- 
gewiesen worden.  Ein  rationaler  Anthropologismus  konnte  sich 
noch  allenfalls  mit  der  Gemeinsamkeit  der  Vernunft  in  allen 
Menschen  beruhigen;  ein  sensualistischer  Anthropologismus  musste 
sich  notwendig  nach  einer  realen  Quelle  und  Mutter  aller  Men- 
schenleiber umsehen.  So  gelangte  Feuerbach  vom  Sensualismus 
zum  Naturalismus,  Das  Wesen  nach  Abzug  des  menschlichen 
Wesens  und  der  menschlichen  Eigenschaften,  oder,  was  dasselbe 
sagt,  Gottes,  das  vom  menschlichen  Wesen  unterschiedene  und 
unabhängige  Wesen,  ist  die  Natur,  nicht  als  allgemeine  Abstraktion, 
sondern  als  Inbegriff  aller  Realitäten,  als  absolut  unpersönliches 
und  ideenloses  Realwesen. 


442 


Feuerbiidi* 


Diese  Feuerbachschc  Natur  ist  also  etwas  ganz  anderes,  als 
die    Schellings    in    dessen     erster    Periode.      Sie    ist   weder    die 

Summe  der  subjektiv-idealen  Erscheinungen  in  allen  Bewusst- 
seinen,  —  denn  als  solche  wäre  sie  von  dem  menschlichen  Wesen 
nicht  unabhängig»  —  noch  auch  die  Gesamtheit  der  intelligiblen 
Naturkategorien  oder  Ideen »  —  denn  als  solche  wäre  sie  nicht 
ideenlos,  Sie  ist  im  Unterschiede  von  dem  subjektiv  idealen  und 
objektiv  idealen  Naturbegriflf  die  wirkliche,  allem  Empfinden  und 
Bewusstwerden  vorhergehende  und  dieses  aus  sich  hervortreibende 
Natur,  wie  in  Schellings  positiver  Philosophie  sich  die  Natur- 
philosophie seiner  Jugend  beim  Rückblick  auf  sie  darstellt.  Aber 
sie  ist  im  Unterschiede  von  Schelling  und  Weisse  auch  nicht  die 
Natur  in  Gott,  weder  als  dunkler,  unlogischer  Willensgrund,  noch 
als  ideales  Universum,  und  noch  weniger  ist  sie  das  Produkt 
solcher  metaphysischen  oder  spiritualistischen  Mächte  wie  Wille 
und  Idee.  Sondern  sie  ist  selbst  das  letzte  metaphysische  Princip, 
das  aus  keinem  anderen  entsprungen  ist,  an  und  für  sich  Sub- 
stantialprincip  und  Realprincip  in  Einem,  aber  ideenlos,  obwohl 
dasjenige,  woraus  sich  vermittelst  des  Geistes  zuletzt  auch  die 
Ideen  (im  menschlichen  Bewusstsein)  entwickeln. 

Auf  Feuerbachs  viertem  Standpunkt»  dem  Sensualismus,  war 
das  Wirkliche  noch  Objekt  des  Sinnes,  wenngleich  nicht  meJir 
gedachtes,  sondern  gegebenes  Objekt;  d.  h.  der  erkenntnistheoreti* 
sehe  Idealismus  Hegels  war  noch  gewahrt.  Jetzt  ist  das  Wirk- 
liche zum  Prius  des  Sinnes  geworden,  ist  also  vor  dem  Sinne 
da,  ehe  es  für  den  Sinn  wird,  den  es  aus  sich  selbst  erst  hervor- 
bringt. Damit  schlägt  der  erkenntnistheoretische  Idealismus  in 
erkenntnistheoretischen  Realismus  um.  Das  Sinnliche  war  ein 
vergleichsweise  WirkHches  im  Verhältnis  zu  dem  bloss  Gedachten, 
aber  doch  immerhin  noch  ein  Bewusstseinsimmanentes,  das  gar 
nicht  ist  ausser  in  dem  Sinn  und  für  den  Sinn.  Die  Natur  im 
Feuerbachschen  Sinne  aber  ist  ein  vor  allem  Bewusstsein  Seien- 
des» also  Bewusstseinstranscendentes.  Wenn  sie  trotzdem  für  den 
Sinn  bewusst  werden  kann,  und  zwar  als  unmittelbar  Wirkliches 
bewusst  werden  kann,  so  ist  damit  der  Rückfall  in  naiven  Realis- 
mus vollzogen.  Kant  und  Fichte  sind  vergessen,  der  Mangel 
einer  durchgearbeiteten  Erkenntnistheorie  bei  Hegel  hat  sich  an 
seinem  Schüler  bitter  gerächt. 

Auf  dem  anthropologischen   und  sensualistischen  Standpunkt 


44J 

waren  die  Götter  oder  Objekte  des  religiösen  Verhältnisses  reine 
Fiktionen,  die  die  Sehnsucht  des  menschlichen  Herzens  aus  sich 
herausprojiziert  hatte,  reine  Wunschwesen  ohne  jede  reale  Grund- 
lage ausserhalb  des  Menschen,  und  die  ganze  Religion  ein  aus 
lauter  Illusionen  gewobener  Traum.  Auf  dem  naturalistischen 
Standpunkt  bleiben  zwar  die  Götter  Wunschwesen;  aber  sie 
finden  nun  ihre  reale  Grundlage  in  der  Natur  und  deren  Mächten, 
die  den  menschlichen  Wünschen  feindlich  oder  freundlich  entgegen 
kommen.  Die  Naturreligionen  erscheinen  somit  in  Feuerbachs 
i^Theogonie«  als  nicht  jeder  reahstischen  Wahrheit  ermangehid, 
während  den  vergeistigten  Religionen  eine  solche  nach  wie  vor 
durchaus  abgesprochen  werden  muss. 

Was  kann  aber  eine  solche  Natur  als  völlig  ideenloses,  un- 
geistiges Substantial-  und  Realprincip  sein?  Welcher  BegrifiF 
ässt  sich  mit  dem  Worte  verknüpfen,  wenn  man  alle  supranatu- 
ralistischen metaphysischen  Frincipien  ebenso  fern  hält,  wie  mytho- 
logische Personifikationen?  Nichts  anderes  als  die  Materie  im 
Sinne  des  Stoffes I  Wenn  Feuerbach  darüber  noch  Zweifel  hegen 
konnte,  so  mussten  sie  ihm  durch  das  Studium  der  materialistischen 
naturwissenschaftlichen  Litteratur  schwinden.  So  kommt  er  denn 
zu  demselben  Ergebnis,  wie  vor  ihm  Comte:  iDie  wahre  Philo- 
sophie ist  die  Negation  der  Philosophie,  ist  keine  Philosophie.* 
»Keine  ReUgion!  ist  meine  Rehgion;  keine  PWlosophie!  meine 
Philosophie.*.  So  ist  der  Bankerott  der  Philosophie  willig  mit  in 
den  Kauf  genommen,  bloss  um  den  Bankerott  der  verhassten 
Religion  zu  besiegeln,  — 

Eine  Ethik  hat  Feuerbach  nur  auf  Grund  seines  Anthro- 
pologismus anzudeuten  versucht,  nämlich  eine  Humanitätsmoral. 
Darunter  ist  aber  bei  ihm  nicht  etwa  eine  Moral  zu  verstehen, 
die  die  Menschheit  als  reales  Kollektivum  tmd  als  ein  Individuum 
höherer  Ordnung  auffasst,  dem  jedes  einzelne  Glied  zu  dienen  hat, 
sondern  ein  Kultus  des  abstrakten  Gattungsideals,  eine  Spaltung 
jedes  Menschen  in  eine  konkrete  singulare  IndividuaUtät  und  den 
abstrakten  allgemeinen  Begriff  des  Menschen  und  die  Herstellung 
eines  religiös- ethischen  Verhältnisses  zwischen  diesen  Spaltungs- 
produkten, wobei  der  konkrete  Mensch  in  den  Dienst  des  ab- 
strakten Begriffs  zu  treten  hat  Von  dem  Augenblick  an,  wo 
der  abstrakte  VernunftbegriflF  von  Feuerbach  selbst  als  ein  sekun- 
däres Produkt  des  subjektiven  Denkprozesses  erkannt  und  ihm  das 


Sinnliche  als  das  allein  Wirkliche  gegenübergestellt  war,  musste 
der  Vemunftbegriff  des  Menschen  als  eine  spukhafte  Fiktion  zu 
den  übrigen  Göttern  versammelt  werden,  und  konnte  nur  der 
wirkliche,  sinnliche  Einzelmensch  übrig  bleiben,  der  als  reiner 
Egoist  aller  Moral  spottet.  Wenn  trotzdem  Feuerbach  sich  nicht 
ganz  von  seiner  Humanitätsmoral  freimachen  konnte,  so  war  das  nur 
eine  Inkonsequenz,  ein  Stück  alter  Schlangenhaut»  die  von  seinen 
vielfachen   Häutungen    äusserlich    an   ihm   kleben   geblieben    war* 

Sein  einziger  origineller  Gedanke  ist  der,  dass  die  Götter 
hinausprojizierte  Wünsche  des  Menschen  sind.  Nun  ist  es  ganz 
richtig,  dass  darum  etwas  noch  nicht  existiert,  weil  man  es  wünscht j 
aber  es  ist  nicht  richtig,  dass  darum  etw^as  nicht  existieren  könne, 
weil  man  es  wünscht  Feuerbachs  ganze  Religionskritik  und  der 
ganze  Beweis  für  seinen  Atheismus  beruht  jedoch  auf  diesem  ein- 
zigen Schluss,  d,  h,  auf  einem  logischen  Fehlschliiss.  Wenn  die 
Götter  Wunschwesen  sind,  so  folgt  daraus  für  ihre  Existenz  oder 
Nichtexistenz  gar  nichts,  sondern  nur,  dass  man  subjektiv  prädis- 
poniert sein  könne,  unwillkürlich  auch  auf  unzulängliche  Gründe 
hin  das  zu  glauben,  was  man  wünscht,  und  dass  deshalb  in  sol- 
chem Falle  doppelte  kritische  Vorsicht  bei  der  Prüfung  aller 
Gründe  und  Gegengründe  von  nöten  sei.  So  bleibt  denn  von 
Feuerbachs  Lebensarbeit  nicht  einmal  etwas  Negatives,  geschweige . 
denn  etwas  Positives  übrig.  Als  ein  die  Zeitgenossen  blendendes 
Meteor  ist  er  dahin  gezogen,  um  in  der  Unphilosophie  eines  naiv 
realistischen  Materialismus  zu  verlöschen,  Aufmerksamkeit  er- 
regte er  bei  den  Zeitgenossen  nur  in  den  vierziger  Jahren  vor 
der  Revolution ;  als  dann  die  Absorption  aller  Interessen  durch 
die  Politik  vorüber  war,  geriet  er  schnell  in  Vergessenheit 
Trivialer  Optimist  und  eingefleischter  Eudämonist  war  er  in  allen 
Phasen  seiner  Entwicklung;  deshalb  war  er  auch  unfähig,  vor 
Schopenhauer  etwas  zu  lernen,  der  ihm  zwar  wegen  seiner  Stellung 
zum  Christentum  sympathisch,  als  Philosoph  aber  schlechthin  anti- 
pathisch  sein  musste.  — 

In  ähnlicher  Weise  wie  Feuerbach  geriet  Strauss  (1808 — 1874) 
in  seinem  Alter  in  das  Schlepptau  des  naturwissenschaftlichen 
Materialismos^  während  er  in  seinen  kritisch  wertvollen  Jugend-' 
werken  (Leben  Jesu  1835/6  und  christliche  Glaubenslehre  1840/41) 
den  Standpunkt  der  Hegeischen  Linken  vertreten  hatte.  Ein 
Menschenalter   hindurch   beschränkte   er  sich    auf   biographische 


Strauss. 


445 


Arbeiten,  um  dann  1873  noch  einmal  mit  einer  atheistisch-materia- 
listischen Bekenntoisschrift  hervorzutreten  ♦  die  die  Frage,  ob  wir 
noch  Christen  seien,  verneinte.  Trotz  alles  Beifalls,  den  diese 
populäre  kleine  Schrift  ider  alte  und  der  neue  Glaube«,  bei  der 
Presse  und  dem  grossen  Publikum  gefunden  hat,  hat  sie  doch 
bei  der  philosophischen  Kritik  den  bis  daliin  gehegten  Irrtum 
gründlich  zerstört»  als  ob  Strauss  unter  die  Philosophen  zu  zählen 
sei.  Es  wurde  nun  klar,  dass  er  sich  in  seiner  Jugend  ebenso 
äusserlich  der  damals  herrschenden  Hegeischen  Denkrichtung  und 
Ausdrucksweise  angeschlossen  hatte,  wie  in  seinem  Alter  der 
naturwissenschaftlich  materialistischen,  bloss  um  einen  Stützpunkt 
für  seine  Kritik  des  Wunderglaubens  und  der  Persönlichkeit 
Gottes  zu  finden.  Die  spielende  I-eichtigkeit,  mit  der  er  in  seiner 
letzten  Schrift  alle  Fragen  beantwortet  und  alle  Schwierigkeiten 
überspringt,  zeigt,  dass  er  von  der  Tiefe  der  Probleme  keine 
Ahnung  hat  Die  behagliche  Unbekümmertheit,  mit  welcher  er 
die  ideahstischen  Reste  seines  Jugendstandpunktes  mit  in  seinen 
materialistischen  Altersstandpunkt  herübernimmt,  lässt  erkennen, 
wie  wenig  er  sich  des  Gegensatzes  beider  und  der  Konsequenzen 
eines  jeden  von  ihnen  bewusst  ist  Für  das  materielle  Universum 
fordert  Strauss  dieselbe  Pietät  wie  der  Fromme  alten  Stiles  für 
seinen  Gott;  denn  er  schreibt  ihm  Vernunft  und  Güte  zu,  obgleich 
er  in  ihm  nur  ein  mechanisches  Räderw^erk  erkennt,  das  jeden 
Augenblick  bereit  ist,  uns  zu  zermalmen.  Neben  dem  demütigen 
Abhängigkeitsgefühl  von  diesem  Räderwerk  will  er  ein  stolzes 
Gefühl  der  Freiheit  und  des  Vertrauens  für  6en  Menschen  fest- 
halten, obwohl  er  alle  Naturteleologie  durch  den  Darwinismus 
beseitigt  glaubt  Seinem  eudämonistischen  Optimismus  ist 
der  jenem  Standpunkt  angemessene  Pessimismus  gefühlsmässig 
zuwider;  aber  die  Sophismen,  mit  denen  er  ihn  zu  widerlegen 
sucht,  sind  von  einer  wahrhaft  kindlichen  Naivität.  In  der  Ge- 
schichte der  Theologie  wird  ihm  seine  Bedeutung  als  anregender 
Kritiker  nicht  geschmälert  werden;  für  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie und  insbesondere  der  Metaphysik  kommt  er  nicht  in  Be* 
tracht*  — 

In  der  ersten  Hälfte  der  fünfziger  Jahre  traten  mehrere 
laturforscher  ohne  jede  philosophische  Bildung  mit  einer  Er- 
neuerung des  Materialismus  auf,  ohne  zu  dem  von  Deraokritos, 
Lucretius,  Gassendi  und  Holbach  Gelehrten  irgend  etwas  Neues 
hinzuzufügen.     Aber  die  Fortschritte  der  Physiologie   und  Patho- 


446 


Büdiner. 


logie  hatten  dieses  Geschlecht  nachdrücklicher  als  irg-ecd  ein 
früheres  auf  die  Abhängigkeit  der  Seelen thätigkeit  von  den  leib- 
lichen Funktionen  hingewiesen,  und  insbesondere  hatten  die 
Tierversuche  die  Gebundenheit  des  Seelenlebens  an  das  Gehirn 
gleichsam  ad  oculos  demonstriert*  Moleschott  in  seinem  > Kreis- 
lauf des  Lebens«  (1852),  Karl  Vogt  in  »Köhlerglaube  und  Wissen- 
ischaft*  (1Ö54)  und  Büchner  in  *Kraft  und  Stoff«  (1855)  ruckten 
den  Streit  um  den  Materiaüsmus  für  ein  Lustrum  in  den  Vorder- 
grund» indem  sie  das  von  früheren  Geschlechtern  bloss  philo- 
sophisch Behauptete  nunmehr  für  etwas  durch  die  exakte  moderne 
Naturwissenschaft  Erwiesenes  ausgaben.  Vogt  lehrte,  »dass  die 
Gedanken  etwa  in  demselben  Verhältnis  zum  Gehirn  stehen,  wie 
die  Galle  zu  der  Leber  oder  der  Urin  zu  den  Nieren«,  d.  h.  im 
Verhältnis  einer  stofflichen  Absonderung  zu  der  Absonderungs- 
drüse, und  stellten  damit  die  Frage  in  den  Mittelpunkt  des 
Interesses,  wie  Seelenthätigkeit  und  leibliches  Organ  sich  zu 
einander  verhalten.  — 

Büchner  (1824 — 1899)    suchte    in    populärer  Darstellung    die^ 
so   erneuerte   materialistische   Grundansicht  zu   einer  allgemeinen 
Weltanschauung  zu  erweitern.     Den  von  Vogt  gebrauchten  Ver- 
gleich   des  Gedankens   mit  Drüsensekreten   verwarf  er   zwar  als 
unpassend,  hielt  aber  dessen  Grundgedanken  fest,  dass  die  Seelen- 
thätigkeiten   Funktionen    des  Gehirns,    als   des   materiellen   Sub- 
strats   seien.     Ilierin    lag   nun  die  wichtige  Wahrheit,  dass  eine 
bestimmte     Bewegung     materieller     Substrate    unerlässUche    Be-^ 
dingung  für  das  Zustandekommen  bewusster  Seelenthätigkeit  ist. 
Es  ist  ein  bleibendes  Verdienst  des  naturwissenschaftlichen  Materia- 
lismus, dass  er  dieser  Wahrheit  zum  siegreichen  Durchbruch  ver- 
helfen   hat,    während   die   zeitgenössischen  Theisten   noch   immer 
von   einem    »leibfreien*  Selbstbewusstsein  phantasierten.     FreilicliJ 
schoss  dieser  Materialismus  in  doppelter  Hinsicht  über  das  ZieJV 
hinaus,   einerseits,   indem   er  die  unerlässUche  Bedingung  mit  der 
zureichenden   Ursache   verwechselte,    und   andererseits »  indem   er 
in   seiner  gänzlichen  Unkenntnis  unbewusst  geistiger  FunktioneHj 
das    bloss    für  die  bewusstgeistigen  Funktionen  Gültige   auf  alle 
Geistesfunktionen  überhaupt  ausdehnen  zu  dürfen  glaubte.*)   Wenn 


•;  Vgl.  Philosophie  des  Unbewussten,  Kap,  C  11,   »Gehirn  und  GaagHen  als  B^ 
•diagung  des  tierisdien  Bewusstseins«!   10.  Aufl.  Bd.  II,  S.  16—28. 


447 

das  Gehirn  nicht  die  allein  zureichende  Ursache,  sondern 
nur  Bedingung  des  Bewusstseins  ist,  so  kann  dessen  Träger  oder 
Subjekt  etwas  ganz  anderes  sein,  als  das  materielle  Substrat,  des- 
sen Bewegungen  zur  Bewusstseinsentstehung  unentbehrlich  sind. 
Wenn  die  absolut  unbewussten  InteOektualfunktionen  (z,  B.  die 
Kategorialsynthesen  des  rohen  Empfindungsmaterials)  zwar  auf 
die  an  dieses  Gehirn  geknüpften  Empfindungen  gerichtet  sein 
müssen,  aber  selbst  nicht  von  ihm  ausgehen  und  abhängen,  dann 
ist  auch  das  unbewusste  Geistesleben  nicht  Gehirnfianktion  zu 
nennen.  Wenn  die  absolut  unbewusste  geistige  Thätigkeit  zwar 
unmöglich  ist,  ohne  sich  zu  materieller  Erscheinung  zu  konkres- 
zieren,  aber  so  doch  zugleich  das  erzeugende  Prius  der  Materie 
ist,  dann  ist  sie  zwar  materiierend  zu  nennen,  aber  an  sich  im- 
materiell. 

Das  Zukunftsideal  Büchners  ist  die  Erklärung  der  Welt  aus 
Stoff  und  Bewegung,  in  dem  Sinne,  dass  künftig  alle,  auch  die 
einfachsten  Kräfte  aus  besonderen  Bewegungsformen  des  Stoffes 
erklärt  würden,  wie  dies  jetzt  schon  mit  komplizierteren  von  der 
Naturwissenschaft  versucht  wird.  Die  Materie  ist  dabei  atomistisch 
gegliedert  zu  denken.  Das  käme  also  auf  Demokrit  hinaus.  Wie 
substantiell  getrennte,  bewegte  Stoffteile  auf  einander  wirken 
können,  wie  sie  es  anfangen,  ihre  Bewegungen  aufeinander  zu 
übertragen,  wie  der  leere  Raum  möglich  ist,  in  welchem  sie  sich 
bewegen,  woher  die  Bewegung  kommt,  und  woher  die  Gleich- 
artigkeit, Grösse  und  Gestalt  der  Atome  stammt,  alle  solche 
Fragen  kümmern  Büchner  nicht,  der  auch  nichts  davon  weiss, 
wieviel  die  Metaphysik  sich  schon  mit  ihnen  abgemüht  hat.  Wie 
Feuerbach  die  ganze  heutige  Welt  als  etwas  fertig  Gegebenes 
hinnimmt,  so  Büchner  die  gegebene  Zahl  der  stoflFlichen  Atome, 
den  leeren  Raum,  die  Plätze,  die  sie  in  ihm  einnehmen,  und  die 
Möglichkeit  ihrer  Ortsveränderung  und  Bewegungsübertragung 
auf  einander. 

Da  aber  die  einfachen  Grundkräfte  vorläufig  noch  nicht  aus 
Bewegung  der  Atome  zu  erklären  sind,  vielmehr  zur  Erklärung 
der  Bewegungsentstehung  unentbehrlich  sind,  so  lässt  Büchner 
sie  neben  dem  Stoffe  gelten.  Die  ursprüngliche  Kraft  gilt  ihm 
bald  als  ein  dem  Stoff  koordiniertes  und  mit  ihm  vereinigtes 
Princip,  bald  als  eine  Eigenschaft  oder  ein  Thätigkeitszustand 
des  Stoffes,  oder  als  ein  Accidens  der  stofflichen  Substanz.     Die 


Büchner. 


Einheit  beider  ist  erfahr ungsmässi^  gegeben  und  entzieht  sich  der 
näheren  Begreiflichkcit  Nur  soviel  steht  für  Büchner  fest,  dtiss 
Kraft  ohne  stofFüchen  Träger  nicht  denkbar  ist  Der  Satz  wäre 
richtig,  wenn  es  sicher  wäre,  erstens,  dass  Kraft  nur  accidentielle 
Eigenschaft,  nicht  selbst  Substanz  sein  könne,  und  zw^eitens,  dass 
die  Substanz,  an  welcher  sie  Accidens  ist,  nur  der  Stoff  sein  kano 
und  nicht  etwas  Immaterielles. 

Nun  räumt  aber  Büchoer  selbst  ein,  dass  Stoff  und  Kraft 
schliesslich  nur  verschiedene  Seiten  oder  Ausdrucks-  oder  Er- 
scheinungsweisen desselben  Ur-  oder  Grundprincips  sind,  jeni 
uns  unbekannten  Wesens  oder  Ansich,  das  beiden  zu  Grunde 
liegt,  dass  beide  dieselbe  Sache  sind,  nur  unter  verschiedenen 
Gesichtspunkten  betrachtet.  Wenn  der  Stoff  erst  eine  der  Er- 
scheinungsweisen dieses  unbekannten  Wesens  ist,  so  muss  dieses 
selbst  offenbar  an  sich  noch  immateriell,  wenn  auch  Materie 
bildend,  sein.  Da  aber  nach  Büchner  auch  das  Denken  nur  eine 
andere  Erscheinungsweise  desselben,  hinter  der  Materie  steckenden, 
an  sich  immateriellen  Wesens  ist,  so  liegt  es  nicht  so  fem,  in  diesem 
ein  unbewusst  geistiges  Princip  zu  vermuten.  Denn  bewusst- 
geistig  kann  es  freilich  nicht  sein,  da  hierzu  erst  der  Durchgan 
durch  die  materielle  Erscheinungsweise  erforderlich  ist  Dam: 
wäre  dann  der  Materialismus  in  eine  Identitätsphilosophie  umgi 
schlagen.  Aber  das  ist  durchaus  nicht  Büchners  Meinung.  Für 
ihn  bleiben  vielmehr  solche  gelegentliche  Zugeständnisse  blosse 
Abschweifungen,  mit  denen  er  durchaus  nicht  beim  Worte  ge- 
nommen zu  werden  wünscht 

Wie  der  Stoff  im  Atom  sich  mit  der  Kraft  verbindet,  kann 
Büchner  nicht  begreiflich  machen;  denn  die  ursprüngliche  Kraft 
ist  nur  als  punktuelle  Centralkraft,  der  Stoff  aber  nur  als  räum- 
lich ausgedehnter,  also  nicht  punktueller  zu  denken.  Sitzt  die 
Kraft  nur  im  Centrum  des  Atoms,  so  dass  die  übrigen  Teile  des 
stofflichen  Atoms  kraftlos  sind?  Oder  ist  die  Ko-aft  auf  alle 
Punkte  des  stofflichen  Atoms  gleichmässig  verteilt  und  die  Atom- 
kraft nur  die  Resultante  aller  dieser  Komponenten?  Oder  ist 
das  Atom  zwar  stofflich,  aber  punktuell  ausdehnungslos  wie  bei 
Fechner  zu  denken?  Diese  Probleme  existieren  nicht  für  Büch- 
ner, ebenso  wenig  wie  die  Schwierigkeiten,  in  weiche  man  sich 
durch  jede  dieser  Annahmen  verwickelt. 

Dass  alle  Wirkungen    von    den  Atomkräften  ausgehen»  also 


Büchner, 


449 


luch  diejenigen    auf  unsere  Sinne,  kann  Büchner  ebenso  wenig 
bestreiten,  wie  dass  das  Einzelatom  für  uns  immer  unwahmehm- 

jbar  bleiben  muss.     Dann  ist  aber  auch  die  Frage,  ob  das  Einzel- 

rmtom  stofflich  sei,  niemals  empirisch  zu  entscheiden.  Es  ist  eine 
Täuschung,  dass  wir  Stoffe  wahrnehmen»  da  wir  doch  nur  die 
Rummierten    Einwirkungen   der  Atomkräfte  wahrnehmen;  es  ist 

^aber  auch,  wie  oben  gezeigt,  ein  Irrtum,  dass  wir  Kraft  ohne 
Stoff  nicht  denken  können,   da  wir  doch  zuletzt  auf  ein  immate- 

^Tielles  Wesen  als  die  eigentliche  Substanz  zurückgehen  müssen. 
)ie  Existenz  des  Stoffes  ausser  unserem  Bewusstsein  ist  also 
weder  durch  Erfahrung  noch  durch  Denken  nachzuweisen,  und 
seine  Annahme  trägt  zur  Erklärung  nichts  bei,  da  alle  Erklärungen 
lediglich  vermittelst  der  Kräfte  erfolgen.  Insbesondere  die  Natur- 
wissenschaft hat  es  niemals  mit  dem  Stoff  zu  thun;  auf  sie  kann 
also  eine  solche  Metaphysik  des  StoflFes  sich  am  allerwenigsten 
stützen*  — 

Woher  kommt  denn  nun  aber  die  Hartnäckigkeit  der  Täu- 
schung, an  die  sich  nicht  bloss  Büchner  klammert,  sondern  unter 
welcher  alle  stehen,  die  seinen  Standpunkt  plausibel  finden? 
Einfach  aus  dem  erkenntnistheoretischen  naiven  Realismus,  der 
das  subjektiv  ideale  Phänomen  des  Stoffes  als  stoffliches  Ding 
an  sich  auffasst,  oder  den  Stoff  aus  dem  Bewusstsein  sin  halt,  wo 
er  empirisch  gegeben  ist,  ins  Jenseits  des  Bewusstseins  hioaus- 
versetzt.  Im  Bewusstsein  füllt  die  subjektiv  ideale  Erscheinung 
des  Stoffes  scheinbar  durch  ihr  blosses  Dasein  ohne  alle  Thätig- 
keit  und  Kräften tf^d tun g  den  subjektiv  idealen  Raum  stetig  aus; 
der  naive  Realist  glaubt  deshalb,  dass  auch  in  der  wirklichen, 
unabhängig  von  seinem  Bewusstsein  existierenden  Welt  der  ob- 
jektiv reale  Raum  durch  einen  Stoff  vermittelst  seines  blossen 
substantiellen  Daseins  stetig  ausgefüllt  werde. 

Diese  Täuschung  bleibt  bestehen,  so  lange  der  naive  Realis- 
mus bestehen  bleibt;  selbst  wenn  der  Glaube  an  die  Stetigkeit 
der  stofflichen  Raumerfüllung  im  allgemeinen  durch  die  Auf- 
lösung der  Materie  in  Atome  zerstört  ist,  hält  er  sich  um  so 
krampfhafter  innerhalb  jedes  einzelnen  Atoms  aufrecht,  das  doch 
niemals  Gegenstand  der  Anschauung  sein  kann. 

Das  stoffliche,  solide,  massive  Ding  wird  durch  die  Physik  in 
ein  Netz  atomistischer  Kraft  Wirkungen  umgewandelt;  aber  die 
Phantasie    des   Physikers  hält    an   der  im   Ganzen    und   Grossen 

£.  y.  HarttDAfin,  Aui|c«w*  Werke.    Bd.  XU.  *9 


450 


Blicliner, 


aufgelösten  Vorstellung  des  festen  Körpers  im  Einzelnen  und 
Kleinen  fest  und  denkt  sich  die  Atome  doch  wieder  als  stoflnich 
solide,  massiv^e  Miniaturdinge  oder  Festkörper  nach  dem  über- 
wundenen Schema.  Das  scheinbar  kontinuierliche  Fluidum  eines 
Gases  wird  von  der  Physik  in  einen  Mückentanz  diskreter 
Atome  umgewandelt;  aber  die  Phantasie  des  Physikers  hält  an 
der  aufgelösten  Vorstellung  fest  und  denkt  sich  die  Atome  als 
Wirbelringe  eines  stetigen  Fluidums,  die  in  einem  dünneren  Fluidum 
umherfliegen,  unbekümmert  darum,  dass  Verdünnung  und  Ver- 
dichtung* also  auch  örtliche  Verschiebung  in  einem  wirklich  stetigen 
Fluidum  gar  nicht  möglich  ist. 

Sobald   dagegen  die  Einsicht  erwacht,   dass  der  stetige  Stoff 
nichts  als  eine  subjektiv  ideale  Erscheinung  im  Bewusstsein   ist. 
und  dass  sein  Korrelat  ausserhalb  des  Bewusstseins   ein  System 
von  Kraftwirkungen  ist,  stellt  sich  der  vom  Bewusstsein  aus  sich 
hinaus   projizierte    Stoff    als   ein   Trug   und  Wahn   dar,    der  nur 
darum  so  zähe  ist,  weil  er  uns  durch  Instinkt  und  Lebensgewuhn- 
heit  eingewurzelt  ist.    Der  im  Bewusstsein  sinnlich  gegebene  Stoff 
ist  dann  nur  noch   die  subjektiv  ideale  Erscheinung  des  objektiv 
realen  Systems  von  I"Craftwirkungen»  das  selbst  bloss  eine  objektiv 
reale  Erscheinung  eines   unbekannten  ihm   zu   Grunde    hegenden 
Wesens   ist,   also   die  Erscheinung   einer  Erscheinung,    oder    die"' 
sekundäre  Erscheinung  im  Bewusstsein  einer  primären  Erscheinung 
des  Wesens.     Eine  solche  sekundäre  Erscheinung  kann  nimmer- 
mehr die  Substanz  sein,  an  welcher  die  primäre  Erscheinung,  das 
System   der  realen  Kraftwirkungen,  haftet.     Vielmehr  kann  diese 
Substanz  nur  in   dem   immateriellen  Wesen  gesucht  werden, 
in  dem  System  der  realen  Kraft  Wirkungen  erscheint  und  zunächst' 
als   die  Kraft   an    sich    oder  das   Krattwesen    bezeichnet   werden 
kann.     Damit  ist  aber  der  Materialismus  in   einen  immateriellen 
Dynamismus  von  atomistischer  Gliederung  umgeschlagen,  und  es 
ist  nur   der  unkritische   naive  Reahsmus,   der  dies  anzuerkennen 
hindert.*) 

Der  Materialismus  fühlt  wohl  seine  Schwäche  an  diesem 
Punkte,  lehnt  aber  solche  Erörterungen  als  metaphysische  Spitz- 
findigkeiten und  Haarspaltereien  ohne  praktischen  Wert  ab.     Er 


*)  Vgl.  PhiL  d.  Uob*,  Kap.  C  V.  >Die  Materie  als  Wille  und  Vorsiellui^», 
lo.  Aufl-,  n,  96—123.  473—478;  Kategorienlehrc,  S.  143 — 172,  496 — 524;  Ges.  StuiL 
u.  Aufäätzei  C.  VII»  >Dymimiämus  und  Atomlsmus«,  S.  526 — 545. 


CKolbe. 


451 


betont  desto  lebhafter  die  rein  mechanische  Weltordnung,  welche 
^jede  Teleologie  ausschliesst  und  selbst  den  bewussten  Geist  nur 
als  ein  blind  notwendiges»  teleologisch  zufälliges  Produkt  aus  sich 
hervorbringt.  In  dieser  Richtung  ist  aber  nicht  Büchner,  sondern 
Haeckel  der  Wegweiser  gewesen,  und  Büchner  hat  sich  in  seinen 
späteren  Schriften  der  Haeckelschen  Umgestaltung  der  Darwin- 
schen Lehre  nur  angeschlossen.  — 

Czolbe  (1819 — 1873)  ging  von  Feuerbachs  Sensualismus  und 
Materialismus  aus.  war  aber  durch  den  Dichter  Hölderlin  und 
den  Physiologen  Johannes  Müller  mittelbar  und  in  entfernter 
Weise  auch  mit  der  Naturphilosophie  in  Beziehung  gesetzt.  Durch 
Lotzes  naturwissenschaftliche  Schriften  war  er  zu  der  Über- 
zeugung geführt,  dass  nur  eine  mechanische  Naturerklärung 
naturwissenschaftlichen  Wert  habe,  und  durch  Vogt  und  Mole- 
schott war  er  mit  der  materialischen  Denkweise  in  der  Natur- 
wissenschaft vertraut  geworden,  die  ihn  als  Arzt  ansprach.  Er 
hat  drei  Perioden  durchgemacht,  deren  Ergebnisse  in  den  Jahren 
1855,  1865  und  1875  veröffentlicht  sind,  —  das  der  ersten  Periode 
also  gleichzeitig  mit  Büchners  »Kraft  und  Stoff«. 

Er  sucht  zunächst  den  Sensualismus  Feuerbachs  rein  durch- 
zuführen und  die  von  jenem  versäumte  sensualistische  Erkenntnis- 
theorie nachzuholen.  Was  nicht  sinnlich  ist»  das  ist  unklar;  was 
unklar  ist,  gehört  nicht  in  die  Wissenschaft;  folglich  ist  alles 
Nichtsinnliche  und  Übersinnliche  aus  der  Wissenschaft  auszu- 
scheiden. Die  Älathematik  ist  das  Muster  sinnlich  anschaulicher 
Erkenntnis.  (Dies  passt  doch  wohl  nur  auf  die  intuitive  Behand- 
lungsweise  der  Geometrie  durch  die  Inder  und  auf  die  moderne 
synthetische  Geometrie,  aber  schon  nicht  mehr  ganz  auf  die 
Euklidische  Behandlung  der  Geometrie  oder  gar  auf  höhere  drei- 
dimensionale Raumgebilde,  und  am  allerwenigsten  auf  die  Arithme- 
tik, Algebra,  Analysis  und  Zahlentheorie.)  Als  nichtsinnlich  und 
unklar  verwirft  er  den  Begriff  der  Kraft,  erkennt  also,  dass  ein 
reiner  Materialismus  nur  unter  Beseitigung  alles  ins  Übersinnliche 
führenden  Dynamismus  auf  Grund  rein  mechanischer  Kinetik 
durchzuführen  ist.  Immerhin  scheint  er  hierin  nicht  konsequent, 
da  er  schon  in  seiner  ersten  Periode  von  einer  Anziehung  und 
Abstossung  der  Atome  redet  und  in  seiner  dritten  Periode  die 
physikalischen  Kräfte  neben  die  Atome  stellt. 

Ebenso  erkennt  er,  dass  eine  Übereinstimmung  der  subjektiven 

29* 


452 


CxoJbe. 


Empfindungen  und  Vorstellungen  mit  dem  ausserbewussten  Sein 
nur  auf  Grund  einer  Gleichartigkeit  beider  durchführbar  sei.  Da 
er  nun  die  Hegeische  Verbegrifflichung  des  Seins  verwirft,  den 
Willen  nur  als  sekundäres  Produkt  der  Empfindung  gelten  lässt 
und  unbewusste  Vorstellungen  nicht  kennt,  so  bleibt  ihm  nichts 
weiter  übrig,  als  den  Empfindungen  als  solchen  eine  objektive 
Realität  zuzuschreiben.  Er  stützt  sich  auf  die  von  ihm  miss ver- 
standene Ansicht  Johannes  Müllers,  der  den  Empfindungen  eine 
subjektive  räumliche  Ausbreitung  zuschrieb,  und  deutet  dieselbe 
so  um,  dass  ihnen  eine  objektiv  reale  räumfiche  Existenz  ganz 
unabhängig  von  ihrem  Bewusstwerden  zukommen  soll.  Er  nimmt 
also  an,  dass  die  Sinnesqualitäten,  wie  rot  und  süss,  als  räumlich 
ausgebreitete  den  Dingen  anhaften,  durch  die  Sinne  ins  Gehirn 
hineinwandern,  dort  durch  kreisförmigen  Faserverlauf,  durch 
RefiexLion,  Rotation  oder  sonstwie  eine  in  sich  selbst  zurücklaufende 
Richtung  erhalten  und  dadurch  erst  bewusst  werden*  Sowohl 
die  sinnliche  Qualität  als  auch  die  räumliche  Ausbreitung  des 
Wahrnehmungsinhalts  dringen  also  mechanisch  aus  der  Aussen- 
w^elt  in  das  Gehirn  ein;  die  Form  des  Bewusst werdens  selbst  istJ 
nur  ein  Produkt  dieser  Bewegung.  Damit  ist  festgestellt,  dass 
der  Sensualismus  nur  möglich  ist  als  naiver  Realismus  in  Bezug 
auf  den  Wahrnchmungsinhalt,  also  durch  Hypostasierung  defJ 
Sinnesqualitäteo.  Der  Materialismus  besteht  in  Czolbes  erster* 
Periode  auch  in  Bezug  auf  die  Form  des  Bewusst  werdens  noch  in 
un  geschwächt  er  Kraft  fort,  denn  es  ist  die  materielle  Gehirn- 
Substanz  selbst  in  Verbindung  mit  den  eindringenden  substan-  ■ 
tiellen  Wahrnehmungsinhalten,  die  das  Bewusstsein  trägt  undj 
hervorbringt  — 

In  seiner  zweiten  Periode  bekennt  er,  von  dem  Irrtum  zurück- i 
gekommen  zu  sein,  als  ob  das  seelische  Innewerden  sich  aus  der" 
Materie  und  ihren  Bewegungen  ableiten  liesse;  er  erklärt  also 
in  dieser  Hinsicht  den  Materialismus  filir  falsch  und  setzt  einen 
Hylozoismus  an  seine  Stelle.  Aber  nicht  die  Atome  als  solche 
und  ihre  Verbindungen  sind  nach  Czolbes  Hylozoismus  Träger 
einer  beseelten  Innerlichkeit  (wie  später  bei  Haeckel),  sondern 
die  hypostasierten  ausgedehnten  Sinnesqualitäten,  die  neben  den 
materiellen  Atomen  den  realen  Raum  als  selbständige  Existen- 
zen erfüllen.  Wie  bei  Herbart  die  Vorstellungen  innerhalb  des 
monadischen    Individualbewusstseins    als   selbständige   Existenzen 


Gzolbe. 


455 


und  Kräfte  auftreten,  die  durch  ihren  gesetzmässigen  Mechanis- 
mus das  subjektive  Vorstellungsleben  zustande  bringen,  so  ent- 
falten sich  bei  Czolbe  aus  dem  gesetzmässigen  Mechanismus 
der  ausgedehnten  Sin nesquali täten  ausserhalb  aller  Individual- 
bewusstsoine  diejenigen  Sonderergebnisse,  durch  die  erst  die 
Individualbewusstseine  konstituiert  werden.  An  sich  ist  jede 
einzelne  objektiv  reale  Empfindung  bewusst;  aber  indem  viele 
denselben  Raum  erfüllen»  löschen  sie  sich  gegenseitig  aus,  gleich- 
sam durch  Interferenz,  wie  viele  denselben  Raum  erfüllende 
physikalische  Kräfte  sich  gegenseitig  kompensieren  und  in  Latenz 
erhalten.  Nur  durch  bestimmte  Gehirnbewegungen  werden  dann 
einige  von  ihnen  aus  dieser  Latenz  ausgelöst  und  freigemacht, 
und  dann  treten  sie  als  das  zu  Tage,  was  sie  an  sich  schon  immer 
waren,  nämlich  als  bewusste  Empfindungen.  Die  Gesamtheit  der 
räumlich  ausgedehnten  Empfindungen  nennt  Czolbe  die  Welt- 
seele, nach  Analogie  der  Weltmaterie,  die  die  Gesamtheit  der 
Atome  umfasst.  In  der  zweiten  Periode  ist  aber  von  einer  sub- 
stantiellen Einheit  wieder  auf  seelischer  noch  auf  stofflicher  Seite 
die  Rede,  sondern  es  herrscht  hier  der  Pluralismus  der  hypo- 
stasierten  Empfindungen,  dort  der  der  stofflichen  Atome.  Die 
wesenthche  Verwandtschaft  beider  Seiten  beruht  auf  der  räum- 
lichen Ausgedehntheit,  die  die  Empfindungen  mit  den  Atomen 
gemein  haben.  Schon  in  der  zweiten  Periode  sagt  er,  dass  die 
Ausdehnung  Subjekt  und  Substanz  sowohl  der  Atome,  als  auch 
des  sie  durchdringenden  Raumes  sei;  er  behauptet  aber  hier  noch 
nicht  dasselbe  von  der  Ausdehnung  in  Bezug  auf  die  Empfin- 
dungen. Die  Räumlichkeit  der  Atome  und  hypostasierten  Em- 
pfindungen genügt  ihm,  um  ihre  Wechselwirkung  zu  ermöglichen, 
aber  noch  nicht,  um  die  zwei  Substanzen  in  eine  zusammenzufassen. 
Von  den  übrigen  Materialisten  unterscheidet  Czolbe  sich  da- 
durch, dass  er  die  Herrschaft  des  Zweckes  in  der  Welt  anerkennt, 
und  zwar  in  doppeltem  Sinne,  einerseits  als  ewige  immanente 
Formbestimmtheit  gewisser  materieller  Verbindungen,  andererseits 
als  Glückseligkeitsideal,  dem  der  Weltprozess  als  seinem  Endziel 
zustrebt.  Diese  in  der  ersten  Periode  nur  angedeuteten  Gedanken, 
erhalten  erst  in  der  zweiten  ihre  Ausführung.  Die  Welt  und 
ihre  Ordnung  ist  ewig;  darin  ist  Czolbe  mit  Micbelet  einverstan- 
den und  findet  durch  Otto  Volgers  Werk  »Erde  und  Ewigkeit c 
(1857}  Unterstützung,  der  sogar  den  jetzigen  Bestand  der  Erd- 


454 


Ceolbe. 


Oberfläche  eils  ewig  zu  erweisen  sucliL  Auf  solcher  Grundlag-e 
darf  die  Behauptung,  dass  auch  die  materiellen  Formen  mit  Ein- 
schluss  der  organischen  Speciestypen  ewig  seien,  nicht  mehr 
Wunder  nehmen,  wenngleich  diese  Behauptung  nach  dem  Er-J 
scheinen  der  Darwinschen  Hauptwerke  verspätet  erscheint.  Czolbel 
sagt  sich  darin  vom  MateriaHsmus  los,  dass  er  die  rein  mechani- 
sche Entstehung  der  organischen  Formen  aus  Unorganischem  fuTJ 
unmöglich  erklärt;  aber  er  hält  darin  an  ihm  fest,  dass  er  ihre 
Selbsterhaltung  und  Fortpflanzung  auf  Grund  ihres  ewigen  Gte- 
gebenseins  aus  rein  mechanischen  und  materiellen  Prozessen  er- 
klärt sehen  will.  Neben  den  Atomen  und  Empfindungen  bilden 
diese  Formen  das  dritte  der  ursprünglichen  und  ewigen  Grund- 
principien.  Czolbe  erkennt  also  das  Problem  an,  das  in  dem  Be- 
stehen zweckmässiger  Formen  liegt,  schiebt  es  aber  beiseite,  in- 
dem er  diesen  Bestand  als  ewig  und  ursprünglich  und  darum 
keiner  Erklärung  fähig  und  bedürftig  proklamiert. 

Der  Sensualismus  kann  nur  unter  der  Voraussetzung  bean- 
spruchen, eine  erträghche  Weltanschauung  zu  sein,  dass  der  eu- 
dämonistische  Optimismus  als  selbstverständlich  gilt.  Dies  war  von 
den  bisherigen  Materialisten  bloss  stillschweigend  angenommen; 
Czolbe  gebührt  das  Verdienst,  diesen  Zusammenhang  ausdrücklich 
klargestellt  zu  haben.  M^ahre  Religiosität  und  Sittlichkeit  besteht  in 
Zufriedenheit  mit  der  bestehenden  Welt;  sie  macht  alle  übersinn- 
liche und  übern atiiriiche  Rehgion  und  Moral  überflüssig,  die  nur  aus! 
Unzufiriedcnheit  mit  der  bestehenden  Weltordnung  entspringt,  d,  k 
aus  jener  Auflehnung,  die  als  »Sünde  gegen  die  Weltordnung«  zu 
bezeichnen  ist.  Jener  Eudämonismus»  den  Kant  als  das  radikal 
Böse  in  der  Menschennatur  betrachtete,  und  jener  Optimismus, 
den  Schopenhauer  als  eine  verruchte,  Nietzsche  als  eine  philiströse 
Gesinnung  verwirft,  sie  werden  hier  der  gefühls massige  Mass- 
stab für  Religiosität  und  Sittlichkeit  einfach  deshalb,  weü  ohne 
sie  der  Sensualismus  und  Materialismus  eine  dem  Gefühl  uner- 
trägliche Weltanschauung  wäre.  Wie  Comte  ist  audi  Czolbe 
Altruist  und  verwirft  den  rein  egoistischen  Eudämonismus,  ohne 
dies  aus  seinen  Principien  irgendwie  begründen  zu  können.  Weil 
er  selbst  sich  kein  höheres  Ideal  als  die  GlückseUgkeit  jedes  Ein- 
zelnen zu  denken  vermag,  darum  glaubt  er»  d^ss  dies  der  Welt- 
zweck sei;  ja  sogar  er  schreibt  diesem  Zweck  eine  einende  Krafl 
zu,   die  für  den  Mangel  eines  einheitlichen  Grundprincips  als  Er-^ 


Crolbe. 


455 


satz  dienen  soll,  und  gleichsam  als  viertes  zu  den  drei  übrigen 
Principien  (Atome,  Empfindungen,  zweckvolle  Formen)  hinzutritt 
In  ihnen  findet  die  Erkenntnis  ihre  notwendigen  Grenzen,  nicht 
etwa  wegen  der  subjektiven  Beschränktheit  des  Verstandes,  son- 
dern wegen  der  Ursprünglichkeit  und  Ewigkeit  dieser  Principien,  — 

In  seiner  dritten  Periode  gelangt  Czolbe  zu  der  Ansicht, 
dass  das  Gefühl  oder  die  Empfindung  weiter  nichts  ist  als  ein 
Raumteil,  dem  die  Bewusstheit  zukommt.  Schon  vorher  hatte 
sich  ihm.  das  Atom  als  ein  Raumteil  dargestellt,  der  die  Qualität 
der  absoluten  Festigkeit,  und  die  Kraft  als  ein  Raumteil,  der  die 
Qualität  der  Anziehung  und  Abstossung  besitzt.  Wenn  nun 
bei  diesen  der  Raum  als  Subjekt  und  Substanz  der  betreffenden 
Qualitäten  erschien,  so  musste  ihm  dieselbe  Bedeutung  auch  bei 
-den  Empfindungen  zugesprochen  werden.  Damit  rückt  der  Raum 
in  die  Stellung  als  Weltsubstanz  ein;  zur  Grundlage  aller  phy- 
sischen und  psychischen  Dinge  wird  der  leere  Raum,  der  auch 
in  der  Naturphilosophie  schon  eine  so  wichtige  Rolle  gespielt 
hatte.  Wenn  er  schon  vorher  alle  Atome  im  Raum  zur  Welt- 
materie und  alle  Empfindungen  im  Raum  zur  Weltseele  zusammen- 
gefasst  hatte,  so  wird  nunmehr  der  Raum  zu  der  einheitlichen 
Substanz  sowohl  der  Weltmaterie  als  der  Weltseele,  Damit  nähert 
Czolbe  sich  Spinoza  und  dem  identitäts philosophischen  Monismus. 
Da  aber  der  nai  uralistische  Begriff  des  leeren  Raumes  die  Sub- 
stanz der  Materie  und  des  Geistes  bleibt,  so  bleibt  sein  Standpunkt 
ein  naturalistischer  Monismus.  Da  ferner  einerseits  sein  Stoff- 
bogriff in  dem  Begriff  eines  widerstandsfähigen  Raumes  sich  er- 
schöpft und  andererseits  sein  Begriff'  der  Empfindung  verräum- 
licht  und  hypostasiert  ist,  so  kann  dieser  ganze  Naturalismus 
aoch  nur  als  ein  bloss  verlarvtcr  Materialismus  angesehen  werden. 
Jedenfalls  hat  diese  letzte  Entwickelungsphase  Czolbes  am  wenig- 
sten Einfluss  erlangt,  teils  weil  nur  ein  Bruchstück  von  ihrer 
Darstellung  veröffentlicht  ist,  teils  weil  diese  Veröffentlichung  in 
einen  Zeitpunkt  fiel  (1875),  wo  die  Aufmerksamkeit  des  philo- 
sophischen Publikums  bereits  auf  ganz  andere  Standpunkte  ge- 
richtet war. 

Vielleicht  hätte  Czolbe  bei  längerem  Leben  unter  Ueberwegs 
Einfluss  noch  weitere  Wandlungen  durchgemacht.  Schon  jetzt  ist 
der  Einfluss  seiner  beiden  ersten  Perioden  an  vielen  Denkern  zu 
spüren.     So  haben  z.  B.  Lotze  und  von  Kirchmann  die  objektiv 


456 


Haeckel. 


reale  Existenz  der  sinnlichen  Empfindungsqualitäten,  Lang-e  die 
räumlich  sinnliche  Anschaulichkeit  aller  wahrhaft  wiasenschaft- 
lichen  Erkenntnisse,  Dühring  die  konstanten  zweckvollen  Formen 
und  die  Verschmelzung  der  sittlichen  Gesinnung  mit  eudämonisti- 
schem  Optimismus  von  ihm  entlehnt  — 

Haeckel  (geb.  1834}  weist  den  Materialismus  in  doppeltem 
Sinne  von  sich  ab:  einerseits  als  ethischen  Materialismus,  andrer- 
seits als  einen  solchen,  nach  welchem  der  Stoff  früher  wäre  als 
die  Kraft.  Gleich  Büchner  kann  er  sich  Stoff  ohne  Kraft  eben- 
sowenig denken,  wie  Kraft  ohne  Stoff,  Diesen  Dualismus  von 
Kraft  und  Stoff  bezeichnet  er  merkwürdiger  Weise  mit  dem  Aus- 
druck Monismus.  Er  behauptet  die  Einheit  der  Naturkräfte  in 
dem  Sinne,  dass  zwischen  Unorganischem  und  Organischem  kein 
wesentlicher  Unterschied  ist,  die  Einheit  der  Materie  und  des 
Geistes  in  dem  Sinne,  dass  er  Materie  und  Stoff,  Geist  und  Kraft 
als  Wechsel  begriffe  braucht  und  jedem  Atom  Empfindung  und 
Wille  zuschreibt,  und  die  Einheit  Gottes  und  der  Natur  in  dem 
Sinne,  dass  es  keinen  anderen  Gott  giebt  als  die  Natur.  Alle 
Organismen  leitet  er  aus  der  chemischen  Vierwertigkeit  der  Kohlen- 
stoffatome ab,  durch  welche  dieselben  befähigt  werden,  verwickeitere 
chemische  Verbindungen  aufzubauen  als  andere  Atome. 

Haeckel  ist  also  ontologischer  Pluralist,  indem  er  die 
Natur  als  eine  Vielheit  von  getrennten  Substanzen  (Atomen)  auf- 
fasst,  metaphysischer  Dualist,  indem  er  in  jeder  Einzelsubstanz 
zwei  verbundene  metaphysische  Principien  (Kraft  und  Stoff)  an- 
nimmt, phänomenaler  Dual  ist,  indem  er  zwei  verschiedene 
Gebiete  der  Erscheinung  (äusseres  mechanisches  Geschehen  und 
inneres  Empfinden  und  Wollen)  anerkennt,  Hylozoist,  indem  er 
jedem  Teil  der  Materie  Belebtheit  und  Beseeltheit  zuschreibt, 
Identitätsphilosoph,  insofern  er  den  Grund  beider  Erscliei- 
nungsgebiete  in  ein  und  derselben  Art  von  Substanzen  sucht, 
kosmonomischer  Monist,  indem  er  die  teleologische  Gesetz- 
mässigkeit in  der  Welt  leugnet  und  nur  die  kausale  gelten  lässt, 
und  Mechanist,  indem  er  alles  kausale  Geschehen  als  mechanische 
Vorgänge  zwischen  materiellen  Teilchen  ansieht.  Monismus  greift 
über  seine  eigentliche  Bedeutung  als  kosmonomischer  Monismus 
hinüber  in  die  Bedeutung  der  Identitätsphilosophie  und  schillert 
manchmal  sogar  in  einen  ontologischen  Monismus  im  Sinne  einer 
naturalistischen  All-Einheits-Lehra  hinüber,  besonders  in  poetischen 


KaeckeL 


457 


Citaten.  In  dieser  unklaren  Vermischung  dreier  verschiedener 
Begriffe,  von  denen  der  dritte  dem  Haeckelschen  Standpunkt 
gradezu  widerspricht,  hat  der  Ausdruck  Monismus  in  die  populäre 
Litteratur  der  letzten  Jahrzehnte  Eingang  gefunden,  sehr  zum 
Nachteil  einer  scharfen  philosophischen  Terminologie. 

Die  Büchnersche  Gedankenlosigkeit,  als  ob  aus  irgend  wel- 
chen Bewegungen  jemals  ein  Empfinden  oder  Denken  entstehen 
könnte,  wenn  nichts  als  Stoff  und  Bewegung  dazu  gegeben  wäre, 
wird  von  Haeckel  dadurch  beseitigt,  dass  mit  dem  Stoff  ausser 
der  Kraft  auch  noch  die  Fähigkeit  zu  empfinden  und  zu  wollen 
ursprünglich  verbunden  gedacht  wird.  Haeckel  ist  also  nicht 
Materialist  schlechthin,  sondern  nur  hylozoistischer  Materia- 
list zu  nennen.  Allerdings  tritt  nun  die  neue  Schwierigkeit  auf, 
wie  die  vielen  Empfindungssubjekte  der  substantiell  getrennten 
Atome  miteinander  so  zu  einem  Empfindungssubjekt  verschmelzen 
können,  dass  ihr  atomistisch  gesonderter  Bewusstseinsinhalt  zum 
gemeinsamen  Inhalt  eines  Beu-^sstseins  höherer  Ordnung  ver- 
wächst.*) Diese  Schwierigkeit,  die  noch  kein  Hylozoist  gelöst 
hat,  ist  Haeckel  gar  nicht  einmal  zum  Bewusstsein  gekommen. 
Der  Protest  der  theoretischen  Materialisten  gegen  den  ethischen 
Materialismus  ist  sehr  achtungswert  und  deshalb  ehrlich»  weil  sie 
von  ethischen  Idealisten  abstammen;  aber  er  ist  theoretisch  un- 
stichhaltig. Denn  der  Materialismus  kann  keine  Ethik  begründen 
und  in  den  späteren  Nachkommen  der  heutigen  Materialisten 
würden  die  idealistischen  Instinkte  sich  immer  mehr  abschwächen 
müssen.  *=*')  — 

Haeckel  lässt  den  Unterschied  von  bloss  beschreibender  Natur- 
künde  und  eigentlicher  Naturwissenschaft,  welche  die  Kausal- 
zusammenhänge zu  erforschen  hat,  gelten,  aber  nicht  den  von 
Naturwissenschaft  und  Naturphilosophie,  welche  ausser  den  kau- 
salen auch  die  teleologischen  Zusammenhänge  und  das  Verhältnis 
beider  zu  betrachten  hätte.  Er  kennt  keine  Metaphysik  hinter 
der  Physik,  obwohl  doch  die  Physik  nur  das  mechanische  Ge- 
schehen, aber  nicht  das  Empfinden  und  Wollen  und  nicht  die 
Zusammenhänge  des  äusserlichen  und  innerlichen  Erscheinungs- 
gebietes miteinander  und  mit  dem  in  beiden  erscheinenden  Wesen 


*)  Vgl.  »PhiL  des  Unbewussten«,  lo.  Aufl.»  Bd-  III.  S.  125—127,  146. 
♦♦)  Vgl.  »Phil,  des  Unbewusalcns  10.  Aufl.,  Bd.  m,  S.  31—33* 


458 


Haeckel. 


^ 


ZU  untersuchen  hat  Er  bekämpft  mit  Recht  jede  Teleologle  de» 
gesetzwidrigen  Wunders,  beachtet  aber  nicht,  dass  dies  überhaupt 
ein  unwahres  Zerrbild  des  Begriffs  der  Teleologie  ist*  das  gar 
nicht  kritisiert  zu  werden  braucht  Er  verkennt,  dass  die  wahre 
Teleologie  sich  weder  gegen  noch  ohne  den  gesetzmässigen 
Mechanismus  des  Naturgeschehens  entfalten  kann,  sondern  nur 
durch  denselben,  und  dass  Finahtät  und  Kausalität.  Teleologie 
und  Mechanismus  BegriiFspaare  sind,  die  beim  Auseinanderreissen 
ihrer  Glieder  zu  toten  und  unwahren  Abstraktionen  w^erden.*) 

Er  ahnt  deshalb  auch  nicht,  dass  es  eine  schlechte  Art  von 
Monismus  ist,  die  das  eine  Glied  des  Gegensatzes  ausstreicht 
anstatt  beide  als  zusammengehörige  Seiten  der  einen  Gresetz- 
mässigkeit  gelten  zu  lassen,  die  nur  beim  Wechsel  des  Gesichts- 
punktes mitemander  tauschen.  Die  Naturwissenschaft  hat  den 
Weltprozess  nur  unter  dem  kausalen,  mechanischen  Gesichtspunkt 
aufzufassen;  die  Überschätzung  der  Naturwissenschaft,  welche 
keine  Wissenschaft  über  dieser  anerkennt,  kann  deshalb  selbst- 
verständlich auch  keinen  anderen  Gesichtspunkt  als  den  ihrig 
und  keine  andere  Art  von  Wcltgesetzlichkeit  anerkennen,  als  die- 
jenige, die  ihr  Arbeitsgebiet  ausmacht  Diese  naturwissenschaft-j 
hebe  Einseitigkeit  schwindet  von  selbst  mit  einem  Umschwung 
im  Zeitgeiste,  wie  er  bereits  begonnen  hat 

Dass  die  Abstammung  der  verschiedenen  Spezien  von  einander 
auf  rein  mechanischem  Wege  durch  GeoflEroy  St  Hilaire,  Lamarck 
und  Darwin  festgestellt  sei,  ist  übrigens  eine  irrtümliche  Behaup- 
tung Haeckels.  Nur  die  Auslese  im  Kampf  ums  Dasein  ist  eini 
rein  mechanisches  Vehikel,  leistet  aber  auch  positiv  gar  nichtSi' 
sondern  trägt  nur  negativ  zur  Ausschaltung  des  Unzweckmässigen 
und  dadurch  zur  Erhaltung  der  bereits  erreichten  zweckmässigen 
Bildungen  bei.  In  allen  anderen  Erklärungsprincipien  zeigt  sich 
dagegen  eine  bestimmt  gerichtete  und  in  bestimmte  Grenzen 
eingeschlossene  Bildungstendeoz,  oder  wie  von  Baer  sagt:  Ziel- 
strebigkeit. Dies  gilt  sowohl  für  die  Variabilität  als  auch  für  die 
Vererbung,  welche  durchaus  nicht  alle  individuell  erworbenen 
Eigenschaften  betrifft  Erst  diese  drei  Faktoren  zusammen  er- 
geben als  ihr  Produkt  die  natürliche  Zuchtwahl,  von  der  Darwin 

♦)  Vgl.  >Phil.  des  Unbcwussienc,  lo.  Aufl.,  Bd.  U,  S.  450— 451 ;  Bd  Ut  KApATL 
«Mechanlsinus  und  Teleolcjgie*,  S.  451—491,  33 — 40;  *Kategorietilelire<,  S.  318 — 321* 
431-496. 


Hn*?ckeL 


459 


selbst  später  bekannt  hat,  ciass  er  ihre  Wirksamkeit  in  seinen 
ersten  Werken  sehr  überschätzt  habe.  Die  geschlechtliche  Zucht- 
wahl setzt  einen  Instinkt  geschlechtlicher  Auswahl  nach  unbe- 
wussten  typischen  Ideen,  und  soweit  sie  Schönheit  produziert, 
eine  auf  Schönheit  gerichtete  Modifikationstendenz  voraus.  Die 
Anpassung  des  Typus  an  veränderte  äussere  Umstände  oder  der 
Organe  an  veränderte  Gebrauchsbedingungen  ist  selbst  in  her- 
vorragendem Sinne  eine  teleologische  Funktion  des  Organismus. 
Das  Gesetz  der  Korrelation  in  der  korrespondierenden  Abänderung 
verschiedener  Teile  des  Organismus  weist  auf  eine  ideelle  Plan- 
mässigkeit  aller  Veränderungen  hin.  Eben  darauf  deuten  auch 
die  sprunghafte  Umwandlung  eines  Typus  in  einen  anderen  durch 
Umgestaltung  im  Kcimleben,  die  zwar  nicht  von  Haeckel,  aber 
von  vielen  anderen  Naturibrschern  anerkannt  wird,  und  die  ideelle 
Verwandtschaft  in  weit  entlegenen  Teilen  des  Stammbaums,  die 
nur  durch  Analogien  und  Parallelvorgänge  in  der  gesetz massigen 
Entvvickelung  vermittelt  wird,*)  — 

Wenngleich  Haeckel  darin  irrt,  dass  er  die  Umwandlung  der 
Spezien  in  einander  mechanisch  erklärt  zu  haben  und  die  Teleo- 
logie  als  überwundenen  Gesichtspunkt  ausschalten  zu  können 
glaubt,  so  gebührt  ihm  doch  das  Verdienst,  dem  Begriff  der 
Entwickelung  in  der  organischen  Natur  zum  Siege  verhelfen  zu 
haben.  Selbst  Goethe,  Schelling»  Hegel  und  seine  Schule  hatten 
noch  nicht  gewagt,  die  ideelle  Stufenordnung  dsr  Natur  als  reelle, 
stammesgeschichtliche  Entwickeln ng  aufzufassen ,  sondern  hatten 
eine  solche  Ansicht  ausdrücklich  zurückgewiesen  und  den  Begriff 
der  Entvvickelung  auf  die  Geschichte  des  Geistes  in  der  Mensch- 
heit beschränkt.  Jetzt  erst  war  die  Naturwissenschaft  durch  Dar- 
win so  weit  gefördert,  dass  daran  gedacht  werden  konnte,  einen 
Stammbaum  der  organischen  Natur  aufzustellen.  Dadurch  erst 
hört  die  organische  Natur  auf,  einen  sich  ewig  auf  derselben  Stelle 
drehenden  Kreislauf  darzustellen,  und  gliedert  sich  in  die  Ent- 
Wickelungsgeschichte  der  Erde  und  durch  diese  in  die  Entwicke- 
lungsgeschichte  unseres  Planetensystems  und  unserer  Weltlinse 
ein.  Die  geistige  Entwickelunj^sgeschichte  der  Menschheit  ge- 
wann nun  erst  ihre  rechte  Stellung  in  der  Entwickelung  des 
Universums,    indem    sie    als  Fortsetzung    der  Entwickelung    der 


')   \  gl.     rhiL  des  Unbcwussteo*,  lo.  Aiifl.,  Bd.  III,  S.  333—450. 


460  Dühring. 

organischen  Natur  auf  der  Erde  begrriflFen  wurde.  So  erst  g-elangt 
der  BegrifiF  der  Entwickelung  zu  einer  universalen  Durchfuhrung 
auf  allen  Gebieten.  Dieser  Fortschritt  kann  auch  in  metaphy- 
sischer Hinsicht  nicht  hoch  genug  veranschlagt  werden,  weil 
dadurch  erst  die  Teleologie  eine  universell  evolutionistische  Be- 
deutung erhält 

Den  BegrifiF  der  Entwickelung  in  der  organischen  Natur 
streng  durchzuführen  war  Haeckel  nur  dadurch  möglich,  dass  er 
die  Relativität  des  IndividuaUtätsbegrifiFes  erkannte  luid  die  zu- 
sammengesetzten Organismen  als  einen  Stufenbau  von  Individuen 
sehr  verschiedener  Individualitätsstufen  begrifif.  Anläufe  hierzu 
waren  in  der  Naturwissenschaft  schon  vielfach  gemacht  worden, 
aber  Haeckel  war  der  erste  Naturforscher,  der  sie  in  seiner 
»Generellen  Morphologie  der  Org^anismenc  (1866)  systematisch 
durchführte.*)  Die  Relativität  des  IndividuaUtätsbegrifiFes  ist  aber 
ein  unentbehrlicher  Grundpfeiler  nicht  nur  der  Naturphilosophie, 
sondern  auch  der  Psychologie  und  der  Ethik.  Denn  das  bewusste 
und  relativ  unbewusste  Seelenleben  des  Individuums  höherer  Ord- 
nung wird  erst  verständlich,  wenn  man  es  als  zusammengesetzt 
aus  dem  Seelenleben  der  es  konstituierenden  Individuen  niederer 
Ordnung  betrachtet,  und  die  sittliche  Eingliederung  des  Men- 
schen in  Familie,  Gemeinde,  Staat,  Gesellschaft,  Kirche,  Mensch- 
heit u.  s.  w.  erhält  erst  ihre  rechte  Beleuchtung,  wenn  man  diese 
als  Individuen  höherer  Ordnung  anerkennt 

So  zeigt  sich  bei  Haeckel  ein  dreifacher  Fortschritt  über 
Büchner  hinaus,  nämlich  in  der  hylozoistischen  Verlebendigung 
und  Verinnerlichung  des  Materialismus,  in  der  Durchfuhrung  des 
EntwickelungsbegrifiFes  auf  dem  Gebiete  der  organischen  Natur 
und  in  der  Erkenntnis  eines  Stufenbaues  von  Individualitäten. 
Dagegen  bleibt  er  principiell  in  einem  rein  mechanistischen,  anti- 
teleologischen Materialismus  stecken,  den  er  trotz  des  Dualismus 
von  Kraft  und  StofiF  und  der  Zweiheit  der  Erscheinungssphären 
(Mechanismus  und  Empfindung)  Monismus  nennt,  bloss  weil  er  die 
Teleologie  leugnet**)  — 

Dühring  (geb.  1833)  sucht  den  Comteschen  »Positivismus«  als 

*)  Vgl  ^Phil.  des  Unbewussten«,   lo.  Aufl.,  Bd.  II,  S.  130^147. 
♦*)  Vgl.  »Ges.  Stud.  u.  Aufsäue«,  C.  III,  »Ernst  Haeckel  als  Vorkämpfer  der  Ab- 
stammungslehre  in   Deutschland«,   S.  460 — 496;    »PhiL   des  Unbewussten«,    10.  Aufl., 
Bd.  n,  S.  31,  Anm.,  479 — 480,  Bd.  III,  S.  453--456,  458,  161 — 162,  172 — 173. 


Dühring. 


461 


»Wirklichkeitsphilosophie«  ins  Deutsche  zu  übersetzen.  Er  teilt 
mit  Comte  die  Verachtung  gegen  Theologie  und  Metaphysik,  die 
humanitären  und  sozialistischen  Neigungen  und  den  Glauben, 
dass  die  Verwirklichung  einer  sozialistischen,  oder  wie  Diihring 
sagt,  sozialitären  Gesellschafts-  und  Wirtschaftsordnung  den  Himmel 
auf  Erden  schaffen  werde.  Von  Feuerbach  entlehnt  er  den  Sen- 
sualismus, die  humanitäre  Ethik  und  den  Hass  gegen  Theismus 
und  Christentum,  von  Czolbe  die  beharrenden  Gattungstypen,  in 
denen  die  Teleologie  zur  Geltung  gelangt,  die  Abneigung  gegen 
die  Descendenztheorie  und  Transmutationstheorie,  das  Glückselig- 
keitsideal als  Weltzweck  und  den  Glauben,  dass  der  eudämonisti- 
sehe  Optimismus  der  wahre  Massstab  und  Prüfstein  für  die  Sitt- 
lichkeit und  den  Adel  der  Gesinnung  sei.  Von  dem  vordarwin- 
schen naturwissenschaftlichen  Materialismus  entnimmt  er  die  Über- 
zeugung, dass  die  Materie  die  alleinige  Weltsubstanz  sei  und  alles 
Geschehen  in  der  Welt  sich  rein  mechanisch  vollziehe.  Den  naiven 
Realismus,  Sensualismus,  Materialismus,  Eudämonismus  und  tri- 
vialen Optimismus  hat  er  mit  allen  diesen  Vorgängern  gemein; 
von  Schopenhauer  dagegen  übernimmt  er  die  Ideenlehre  Piatons, 
Brunos  und  Schellings,  die  er  mit  Czolbes  konstanten  zweckvollen 
Formen  verschmilzt,  den  moralischen  Entrüstungspessimismus  und 
die  Art  der  Polemik  gegen  anders  Denkende,  Der  Form  nach 
ist  Dühring  durchaus  ein  Dogmatiker  alten  Stils;  an  Stelle  von 
Beweisen  und  Begründen  tritt  bei  ihm  Behaupten,  Versichern  imd 
Anrufen  der  Gesinnung;  die  sachliche  Widerlegung  gegnerischer 
Ansichten  wird  durch  herabwürdigendes  Schelten,  oft  genug  durch 
persönliche  Ausfälle,  ersetzt  Seine  ^kritische  Geschichte  der 
Philosophie«  schliesst  sich  ganz  an  die  Darstellung  an,  die  Lewes 
seiner  Geschichte  der  Philosophie  im  Sinne  Comtes  gegeben  hatte, 
d.  h.  sie  will  eine  fortlaufende  Geisselung  der  metaphysischen 
Verirrungen  der  Menschheit  sein,  die  erst  jetzt  zur  Besinnung 
gelangt  ist,    — 

Die  Tragweite  der  menschlichen  Erkenntnis  kann  keine  anderen 
Umrisse  und  Schranken  haben  als  die  Natur,  die  Wirklichkeit  oder 
das  Sein;  Denken  und  Sein  sind  völlig  homogen  und  decken  sich 
so,  dass  keine  Seite  oder  Form  der  Wirklichkeit  unbegriifen  bleibt 
Es  giebt  keinen  Gegensatz  von  Wesen  und  Erscheinung,  und  der 
Lauf  der  Dinge  hat  kein  materielles  und  geistiges  DoppelgesichL 
So  giebt  es  auch  keinen  Geist  hinter  der  Materie;   alle  Möglich- 


462  Dühring. 

keit  muss  in   materiellen  Verhältnissen  liegen  und  alles  wirkliche 
Geschehen  in  mechanischen  Vorgängen  an  der  Materie.    Auch  die 
Empfindungen  und  Bewusstseinsvorgänge  können,  abgesehen  von 
dem    unmittelbaren  BegrifiF  des  Empfindens  selbst,   nur    in   einer 
bestimmten  Form  mechanischer  StofFbewegung  bestehen.    Sowohl 
der  sinnliche  Inhalt  wie  die  logische  Form  unserer  Vorstellungen    • 
stammt  aus  dem  Sein;  die  Schematik  der  Sinne  wie  die  des  Ver- 
standes ist  das  Abbild  der  entsprechenden  Naturvorgänge;  Empfin- 
dung und  Denken  entsprechen  vollkommen  der  Wirklichkeit  und 
ohne  dies    bliebe   das   Erkennen    ein    nichtiger   Schein.      Darum 
dürfen  wir  auch  unsere  Denkschematik  und  Denkgesetze  auf  das 
Sein    anwenden    und    der  Übereinstimmung  des  so   Gewonnenen 
mit  der  Wirklichkeit  sicher  sein. 

Die  Elementarbegriffe  unserer  Weltauffassung  sind  die  all- 
umfassende Einzigkeit  des  Seins,  das  Ineinandersein  seines  Be- 
harrens und  seiner  Veränderung  und  seine  Begrenztheit,  Hierzu 
treten  die  spezielleren  Grundbegriffe,  die  sich  aus  der  Anwendung 
der  logischen  Gesichtspunkte  auf  das  Sein  ergeben,  nämlich  die 
Identität,  der  Ausschluss  des  logischen  Widerspruchs  und  die 
Kausalität.  Die  Begrenztheit  des  Seins  ist  dadurch  sichergestellt, 
dass  das  Gegenteil  den  Widerspruch  einer  vollendeten  Unendlich- 
keit einschliessen  würde.  Da  nun  die  Natur  nur  der  universelle 
Zusammenhang  des  Materiellen  ist,  so  ist  allein  die  Materie  der 
Träger  aller  Wirklichkeit,  aller  Veränderungen  und  aller  mecha- 
nischen Kräfte,  d.  h.  das  einzige  Sein  fällt  mit  dem  materiellen, 
mechanischen  Sein  zusammen,  das  zugleich  der  substantielle  Träger 
des  geistigen  Seins  ist.  Alle  Versuche,  die  Materie  aus  Kräften 
zu  erklären,  werden  von  Dühring  verworfen.  Mechanische  Kräfte 
und  geistige  Erregungen  sind  nur  Zustände  und  Aktionen  von 
der  materiellen  Substanz;  der  Individualgeist  ist  darum  etwas 
durchaus  Vergängliches.  Die  Beharrung  des  Seins  stellt  sich 
nunmehr  dar  einerseits  als  unveränderliche  Stoffmasse,  Kraftgrösse 
und  Atomzahl,  andererseits  als  Konstanz  der  Gattungsideen  und 
der  Verknüpfungsgesetze,  die  Begrenztheit  des  Seins  als  unend- 
lich begrenzte  Stoffmasse,  Kraftgrösse  und  Atomzahl  und  als 
Begrenztheit  des  Weltprozesses  in  der  Vergangenheit,  aber  nicht 
in  der  Zukunft.  Wie  Czolbe  betrachtet  auch  Dühring  die  Ele- 
mente und  Grundbegriffe  des  Seins  als  letzte  und  höchste  primitive 
Notwendigkeiten,  vor  denen  das  Erkennen  Halt  machen  muss.  — 


Dahriflg. 


463 


Dem  Anfang  des  Weltprozesses  muss  ein  veränderungsloser 
Zustand  der  Materie  vorausgegangen  sein,  der  bei  der  Ewigkeit 
der  Gesetze  nur  als  statischer  Gleichgewichtszustand  aller  Teile 
zu  denken  ist.  Wie  aus  diesem  ein  Übergang  zur  Bewegung 
möglich  war,  kann  Dühring  nicht  angeben;  wenn  er  aber  die 
Lösung  dieses  Problems  von  künftigen  Fortschritten  der  Mechanik 
erhofft,  so  übersieht  er,  dass  das  Problem  selbst  einen  Wider- 
spruch in  sich  schliesst»  also  auf  logischem  Wege  ewig  unlösbar 
bleiben  muss.  Eine  zweite  Grenze  der  Erklärbarkeit  bildet  der 
elementare  Subjektivierungsvorgang,  in  welchem  die  bewusstlose 
Mechanik  zum  Gefühl  ihrer  selbst  gelangt  Auch  hier  erkennt 
Dühring  zwar  die  Unlösbarkeit  des  Problems  an,  aber  nicht  den 
in  der  Art  seiner  Stellung  steckenden  Widerspruch*  In  dem 
dritten  und  wichtigsten  Punkte  gelangt  aber  Dühring  nicht  ein- 
mal dazu,  einzusehen,  dass  er  einer  Unerklärlichkeit,  geschweige 
denn,  dass  er  einem  Widerspruch  gegenübersteht.  Thatsächlich 
unerklärlich  ist  aber  die  Geltung  der  logischen  Formen  und 
Gesetze,  der  Ideen  und  des  Zweckes  in  dem  materiellen  Welt- 
prozess,  und  widerspruchsvoll  ist  es,  dass  die  Materie  als  das  ein- 
zige, allumfassende,  absolute  Sein  behauptet  wird,  wenn  neben 
ihr,  in  ihr  und  über  ihr  die  Gesamtheit  der  ideellen  Faktoren 
besteht. 

Dühring  leugnet  ein  Universalbewusstsein  in  der  Natur,  weil 
ein  solches  statt  eines  Wissens  von  allem  nur  die  verworrene 
Auslöschung  alles  Wissens  durcheinander  liefern  würde.  Er 
leugnet  ferner  jeden  Geist  über  und  hinter  der  Natur,  der  die 
Summe  der  ideellen  Faktoren  in  die  Natur  gelegt  hätte,  weil  dies 
zu  abergläubischen  religiösen  Vorstellungen  zurückfüliren  uoirde. 
Er  leugnet  endlich  die  Möghchkeit  einer  unbewussten  Vorstellung, 
obwohl  er  sich  ihr  mit  seinem  Begriff  einer  Phantasie,  die  dem  fer- 
tigen Bewusstsein  vorausgeht  und  diesseits  der  ideellen  Sphäre 
liegt,  sehr  annähert  Er  bleibt  dabei,  dass  ein  Denken  ohne  Be- 
wusstsein ein  schiefer  Ausdruck  sei  für  einen  Akt,  der  gar  kein 
Denken,  sondern  nur  überhaupt  eine  verbindende  Thätigkeit  ent- 
hält. Wenn  nun  aber  das  bewusste  individuelle  Denken  erst  das 
Ergebnis  der  ideell  bestimmten  materiellen  Vorgänge  ist,  und 
diese  ideelle  Bestimmtheit  weder  von  einem  universellen  Natur- 
bewusstsein,  noch  von  transcendenter  göttlicher  Anordnung,  noch 
von  einem  unbewussten,  der  Natur  immanenten  Denken  herrühren 


464 


BQluiiig. 


soll,  dann  bleibt  sie  als  etwas  unerkiärliches  Zweites  neben  und 
über  der  Materie  bestehen,  und  Dührings  Philosophie  läuft  in 
einen  klaffenden  Dualismus  eines  stofflich  realen  und  eines  im- 
materiell idealen  Princips  aus,  der  seine  Überwindung  fordert 
und  doch  auf  diesen  Grundlagen  nicht  finden  kann,  — 

In  welchem  Masse  Dühring  der  Teleologie  einen  Platz  in 
seiner  ^ Wirklichkeitsphilosophie«  einräumt,  tritt  erst  hervor,  wo 
er  dieselbe  als  Religionsersatz  anbietet  Aus  der  Gefühlssubjek- 
tivierung  der  mechanischen  StoflFbewegung  entspringt  die  Glück- 
seligkeit, die  der  Zweck  des  Prozesses  ist;  die  Glückseligkeit 
wächst  mit  der  Gefühlsfeinheit  und  diese  mit  der  Vollkommenheit 
und  Komplikation  der  materiellen  Zusammensetzung.  Deshalb  ist 
die  Lebenssteigerung,  d.  h.  die  Hervorbringung  höherer  und 
zusammengesetzterer  Organismen  ein  Naturzweck,  und  nur  darum 
ist  der  Fortgang  von  einfacheren  zu  verwickeiteren  Typen  eine 
Entwickelung,  d.  h,  ein  Aufsteigen  von  Niederem  zu  Höherem, 
von  minder  Zweckmässigem  zu  mehr  Zweckmässigem.  Die  ganze 
Anlage  und  Einrichtung  der  Welt  ist  wesentlich  für  den  Menschen 
hergestellt  und  mit  seinem  Wohl  in  Übereinstimmung.  Aufgabe 
des  Menschen  ist,  sich  mit  der  allgemeinen  Systematik  dieser  für 
sein  Wohl  eingerichteten  Welt  ins  Gleichgewicht  zu  setzen.  Wo 
die  Glückseligkeit  der  Weltzweck  ist,  da  muss  natürlich  der  Kampf 
ums  Dasein  mit  allen  seinen  Folgen  als  eine  diesem  Zweck  wider- 
sprechende Lehre  venv^orfen  werden.  Aller  Pessimismus  ist  sitt- 
lich verwerflich,  ausser  dem  moralischen  Entrüstungspessimismus, 
der  die  Hindernisse  hinwegräumen  hilft,  welche  durch  Bosheit 
und  Unverstand  der  allgemeinen  Glückseligkeit  zeitweilig  noch  in 
den  Weg  gelegt  werden. 

Der  Naturgrund  der  Dinge,  das  ursprüngliche  Gleichgewicht 
der  noch  ruhenden  Materie  enthält  alles,  wenn  auch  noch  unent- 
wickelt, in  sich:  Leben,  Verstand,  Gemüt,  den  Zweck,  der  das 
Gute  ist,  und  auch  das  seine  Verwirklichung  hemmende  B^se.  In 
dem  Prozess  der  Welt  entfaltet  es  nicht  nur  eine  allgemeine 
Fürsorge  für  das  grosse  Ganze,  sondern  auch  eine  dem  Einzelnen 
zugewandte  spezielle,  die  in  der  individueOen  Ausstattung  für  die 
besonderen  Lebensaufgaben  zu  erkennen  ist.  Trotzdem  soll  dieser 
Weltgrund  weder  Geist  noch  Gott  heissen  und  der  aus  ihm  ent- 
faltete Weltprozess  durchgängig  und  überall  nur  materieUe  Mecha- 
nik aufweisen.     In  seinen  späteren  Schriften  lehnt  Dübring  selbst 


von  Kirtchnmna. 


4^5 


Namen  eines  Philosophen  ab,  ähnlich  wie  Comte  dies  nach 
seinen  Grundsätzen  eigentlich  hätte  thiin  müssen*  — 

von  Kirchmann  (1802^ — 1884)  bildet  den  Übergang  vom 
naiv- realistischen,  sinnlichen  Materialismus  zum  Agnostizismus 
einerseits  und  zum  transcendentalen  Realismus  andererseits.  Vom 
Standpunkt  des  gesunden  Menschenverstandes  ausgehend,  hat 
er  sich  durch  eine  eingehende  Kritik  Kants.  Hegels,  Herbarts 
Schellin gs,  Mills  u*  s,  w.  philosopliisch  geschult,  ehe  er  mit  seinem 
System  hervortrat;  er  ist  deshalb  von  allen  Denkern  dieser  Gruppe 
bei  weitem  der  gebildetste  und  zugleich  der  gründlichste,  sach- 
lichste und  bescheidenste.  Er  ist  zugleich  der  einzige  von  allen 
Atheisten  dieses  Jahrhunderts,  der  zur  Förderung  der  Kategorien- 
lehre klärend  beigetragen  hat  Wenn  auch  seine  synthetische 
spekulative  Kraft  sehr  gering  ist,  so  ist  seine  Begabung  für 
nüchterne  Analyse  und  Kritik  um  so  grösser. 

Kirchmann  unterscheidet  zunächst  den  Inhalt  und  die  Form 
sowohl  am  Sein  wie  am  Wissen,  das  er  nur  als  bewusstes  gelten 
lässt  Seinsinhalt  und  Wissensinhalt  im  Wahrnehmen  sind  iden- 
tisch; Seinsform  und  Wissensform  sind  verschieden,  Seinsinhalt 
plus  Wissensform  ist  somit  nicht  mehr  identisch  mit  Seinsinhalt 
plus  Seinsfbrm,  sondern  formell  verschieden  und  darum  auch 
numerisch  verschieden  trotz  der  inhaltlichen  Identität.  Der  Seins- 
inhalt fliesst  beim  Wahrnehmen  unmittelbar  aus  der  Seinsform  in 
die  Wissensform  über;  da  er  aber  dabei  mit  sich  selbst  identisch 
bleibt»  soll  dieses  Überfliessen  weder  Kausalität  noch  Beziehung 
sein.  Durch  die  Annahme  der  strengen  Identität  von  Seinsinhalt 
und  Wissensinhalt  ist  Kirchmann  naiver  Realist.  :^Das  Wahr- 
genommene ist€,  und  zwar  im  Sinne  transcendenter  Realität,  das 
ist  sein  erster  Grundsatz,  der  ihm  keines  Beweises  fähig  oder  be- 
dürftig scheint.  Wie  Czolbe  sieht  er  sich  dadurch  genötigt,  den 
bewusstseinstranscendenten  Dingen  alle  sinnlichen  Qualitäten  zu- 
zuschreiben, die  wir  in  der  Wahrnehmung  ihnen  beilegen.  Es 
mag  sein,  dass  sie  ausserdem  noch  andere  qualitative  oder 
quantitative  Bestimmungen  an  sich  haben,  wie  z.  B,  die  moderne 
Naturwissenschaft  es  annimmt;  jedenfalls  tragen  diese  dann  aber 
nichts  zum  Zustandekommen  der  Wahrnehmung  bei,  da  diese 
ganz  aus  dem  unveränderten  Überfliessen  des  Seinsinhalts  in  die 
Wissensforra  entspringt  Danach  wären  die  Bemühungen  der 
modernen  Naturwissenschaft  völlig  zwecklos,  und  so  weit  sie  sich 

£.  v.U«! t man D.  Autgew.  Werke.    Bd  XIL  SO 


466 


von  Klrduiiami« 


einbilden,    etwas  zur  Erklärung-  der  Wahrnehmung   beizutragen^ 
verkehrt. 

Der  Seinsinhalt  muss,  um  den  wahren  Wissensinhalt  zu  er- 
schöpfen, bereits  alle  Trennstücke  wirklich  enthalten,  die  das 
Wissen  aus  ihm  aussondert,  z.  B.  die  Eigenschaften  und  Begriffe, 
insbesondere  aber  auch  die  Einheitsformen,  nämlich  i.  das  An- 
einander in  Raum  und  Zeit,  2.  das  Ineinander  in  Raum  und  Zeit 
oder  die  Durchdringung,  3.  das  Ineinander  der  Mischung 
und  4.  das  Ineinander  des  Begriffs  mit  seinem  bildlichen  Rest 
Alle  Bestandteile  und  Einheitsformen  des  Seinsinhaltes  ftiessen 
implicite  mit  in  die  Wisseosform  über.  Wenn  das  Wissen  den 
Inhalt  in  seine  Bestandteile  trennt  und  die  gegenständlichen  an 
ihm  haftenden  Einheitsformen  explicite  heraushebt»  so  orientie 
es  sich  damit  nur  über  den  Bestand  des  Seinsinhalts,  lässt  ihn  abefl 
unverändert.  Nur  w^enn  es  verschiedene  Stücke  des  Seinsinlialtsl 
zu  einander  in  Beziehung  setzt,  fügt  es  mit  diesen  BeziehungenJ 
etw^as  hinzu,  was  so  nicht  im  Seinsinhalt  vorhanden  ist  Denn 
der  Seinsinhalt  als  solcher  ist  nach  Kirchmann  frei  von  allen 
Beziehungen  sowohl  unter  sich  wie  mit  der  Wissensform. 

Damit  scheint  die  Identität  des  Wisscnsinhalts  und  Sein»-' 
Inhalts  auf  beiden  Seiten  aufgehoben.  Einerseits  schiesst  der 
Seinsinhalt  über  den  Wissensinhalt  über,  insofern  er  vom  Wabr-i 
nehmen  nicht  erschöpft  wird,  sondern  jederzeit  noch  vieles  enthält 
was  sich  der  Wahrnehmung  entzieht.  Andererseits  schiesst  der 
Wissensinhalt  über  den  Seinsinhalt  über,  indem  er  eine  Menge 
von  Beziehungen  hinzufügt,  die  nicht  zum  Seinsinhalt  gehören- 
Einerseits  fliesst  jederzeit  nur  ein  Ausschnitt  des  Seinsinhalts  in 
die  Wissensform  über,  andererseits  erweitert  das  Wissen  das  so 
Empfangene  durch  beziehende  Reflexion,  Aber  soviel,  wie  wahr- 
genommen wird,  so  viel  ist  auch,  und  das  beziehende  Denken  isti 
mehr  oder  minder  beschränkt  und  im  Fall  des  Eintritts  bestimmt 
durch  die  im  Selosinhalt  vorgefundenen  fundamcnta  relationis. 
Soweit  diese  Grundlagen  beachtet  werden,  entfernt  sich  das  be» 
ziehende  Denken  nicht  von  der  Wahrheit,  sondern  vergeistigt 
vielmehr  den  Wahrnehmungsinhalt  — 

Wenn  Kirchmann  in  Bezug  auf  den  Wahrnehmungsinhalt 
naiver  Realist  ist,  so  ist  er  in  Bezug  auf  die  Be^tiehungsbegriffe 
oder  Beziehungsformen  zunächst  transcendentaler  Idealist,  indem 
er  die  Gültigkeit  derselben  ausserhalb  des  Wissens  leugnet    Hier- 


von  KiichmötiB. 


467 


Bf  rechnet  er,  wie  schon  bemerkt,  nicht  die  Zusammeng-esetzt- 
heit  aus  Teilen  und  nicht  die  gegenständlichen  Einheitsformen, 
also  auch  nicht  Raum  und  Zeit,  wohl  aber:  inicht,  und,  oder, 
gleich,  Zahl,  alle,  Ganze,  Kausalität,  Substantialität.  Wesen, 
Form  und  Inhalt,  Inneres  und  Äusseres*.  Die  Fioalität  führt 
er  nicht  besonders  an.  müsste  sie  aber  dem  Sein  erst  recht 
absprechen,  da  er  ihm  die  Kausalität  und  Siibstantialität  ab- 
spricht. Mit  seiner  Leugnung  der  realen  Gültigkeit  der  Be- 
ziehungsbegriffe ninimt  Kirchmann  die  Lehre  der  Motekallemin 
wieder  auf,  welche  konsequent  durchgeführt  zum  reinen  Agnosti- 
zismus führt. 

Nun  ist  aber  schon  die  Wissensform  selbst,  die  Reflexion  in 
sich,  oder  die  ideale  Spiegelung  des  Seinsinhalts  im  Bewusstsein 
eine  zum  Seinsinhalt  hinzugefügte  Beziehung  Ebenso  ist  das 
>Überfliessen<  des  Seinsinhalts  aus  der  Seinsform  in  die  Wissens- 
form ganz  offenbar  eine  Beziehung,  Wenn  es  ein  Sein  ausserhalb 
des  Bewusstseins  überhaupt  giebt,  so  kann  es  nichts  weiter  sein, 
als  ein  in  Beziehungen  Stehen,  wie  Lotze  richtig  bemerkt  hat 
Kirchmann  irrt,  wenn  er  die  Zusammengesetztheit  des  Seins- 
inhalts aus  Bestandteilen  und  die  diese  Teile  umschliessenden  Ein- 
heitsformen für  ein  beziehungsloses  Sein  hält;  er  irrt  auch,  wenn 
er  das  Sein  für  rein  kontinuierlich  hält,  während  es  überall  Be- 
ziehung zwischen  Kontinuierlichem  und  Diskretem  ist  und  jede 
Ungleichmässigkeit  im  Kontinuierlichen  schon  den  Ansatz  zur 
Diskretion  zeigt  Er  irrt,  wenn  er  die  thatsächlicbe  Regelmässig- 
keit im  realen  Geschehen  frei  von  Beziehungen  glaubt,  während 
er  doch  schon  die  Allheit  der  unter  die  Regel  befassten  Fälle 
als  eine  Beziehung  anerkennen  muss.  Er  irrt  endlich,  wenn  er 
die  Seinsform  oder  Form  der  Realität,  die  in  den  Wahrnehmungs- 
inhalt nicht  mit  überfliesst,  für  etwas  anderes  als  eine  Beziehung 
hält;  denn  dieser  negative  Begriff,  der  nur  das  Nicht  wissbare  an 
den  Dingen  bezeichnet,  entspringt  ja  nur  aus  dem  Widerstände, 
den  die  Seinsform  dem  Wahrnehmen  leistet  d.  h.  aus  einer  realen 
Beziehung  zwischen  dem  seienden  Dinge  und  dem  seienden  Wahr- 
nehmungssubjekt 

Somit  ist  die  Kirchmaonsche  Scheidung  zwischen  einem  be- 
ziehungslosen Wahrnehmungsinhalt  und  Seinsinhalt  einerseits  und 
hinzugefügten  gedanklichen  Beziehungen  ohne  reale  Gültigkeit 
andererseits  nicht  haltbar;  denn  wollte  man  alle  Beziehungen  aus 

30* 


468 


vom  Kirciunann. 


dem  Seinsinhalt  reinlich  ausscheiden,  so  bliebe  schliesslich  nichts 
übrig»  was  noch  als  Seinsinhalt  gelten  könnte.  Durch  seine  Lehre, 
dass  die  Anwendung  der  Beziehungsformen  und  ihr  Erg^ebnis  im 
besonderen  Falle  abhängig  ist  von  den  im  Sein  enthaltenen  Grund- 
lagen, leitet  aber  Kirchmann  selbst  zum  transcendentalen  Realis- 
mus hinüber.  Gewiss  giebt  es  viele  Beziehungsbegriffe  oder  besser 
Beziehungsformen,  die  bloss  subjektiver  Natur  sind  und  im  realen 
Sein  wohl  ihr  Korrelat  haben,  aber  nicht  als  Beziehungen  in  ihm 
anzutreffen  sind.  Aber  welches  diese  Beziehungsformen  sind,  be- 
darf einer  besonderen  Untersuchung,  und  es  ist  nicht  zulässig, 
alle  Beziehungsformen,  bloss  darum,  weil  sie  Beziehungsformen 
sind,  in  Bausch  und  Bogen  vom  Sein  auszuschliessen.  Bei  den 
bloss  subjektiven  Beziehungsformen  wird  das  fundamentum  rela- 
tionis  dem  ßeziehungsbegriff  selbst  in  höherem  Masse  unähnlich 
sein  als  bei  den  Beziehungsformen,  die  auch  als  solche  im  realen 
Sein  vorkommen. 

Während  Kant  und  seine  Schule  die  Denkformen  ganz  nach 
subjektiver  Willkür  über  die  Materie  der  Empfindung  überstülpen 
lässt  ohne  jede  Rücksicht  darauf,  ob  in  letzterer  im  gegebenen 
Falle  etwas  liegt,  was  ihre  Anwendung  fordert  oder  aussehliesst, 
passend  oder  unpassend  erscheinen  lässt»  gebührt  Kirch  mann  das 
Verdienst,  zuerst  mit  Nachdruck  wieder  hervorgehoben  zu  haben, 
dass  der  Seinsinhalt  und  die  Beziehungsbegriffe,  die  auf  ihn  an- 
gewendet werden,  zu  einander  passen  müssen,  dass  also  die  Aus- 
Zahl  und  die  Art  der  Anwendung  nicht  dem  subjektiven  Belieben 
überlassen  bleiben  kann,  sondern  durch  irgend  eine  besondere 
Beschaffenheit  des  Seinsinhaltes  objektiv  bestimmt  sein  mus& 
Durch  diese  Erneuerung  der  scholastischen  Lehre  vom  funda- 
mentum relationis  hat  er  der  Kategorienlehre  neue  Ziele  gesteckt, 
nachdem  schon  Scheliing  gezeigt  hatte,  dass  alle  Kategorien  nur 
Unterarten  der  Relation  sind.  Die  Korrelation  und  Korrespondenz 
der  anzuwendenden  Beziehungsform  zur  Seinsgrundlage  hebt  die 
absolute  Verschiedenheit  beider  auf  und  setzt  an  ihre  Stelle  eine 
gewisse  Abhängigkeit  und  Verwandtschaft  Die  absolute  Identität 
des  Seinsinhalts  und  Wahrnehmungsinhalts  ist  ebensowenig  halt- 
bar, wie  die  absolute  Verschiedenheit  des  beziehenden  Denkens  von 
ihm.  Auch  hier  hat  Korrelation,  Korrespondenz,  Abhängigkeit 
und  Verwandtschaft  an  Stelle  des  behaupteten  Extrems  zu  treten. 
Geschieht  dies  in  beiden  FäUen,  so  nicken  Wahrnehmungsinhalt 


Rückblick  auf  den  MAterialisiniis* 


469 


und  beziehendes  Denken  in  das   principiell  gleiche  Verhältnis  zum 
Seinsinhalt* 

Der  Seinsinhalt  kann  nicht  unlogisch  sein,  denn  der  zweite 
Kirchmannsche  Grundsatz,  der  zur  Kontrolle  und  Kritik  der  Er- 
gebnisse des  ersten  dient»  lautet:  pDas  sich  Widersprechende  ist 
nicht,  existiert  nicht.-r  Ohne  Zweifel  ist  doch  der  Satz  vom  Wider- 
spruch eine  logische  Beziehung,  und  wenn  er  massgebend  fiir 
den  Seinsinhalt  ist,  so  ist  dieser  durch  logische  Beziehungen  ge- 
regelt, ebenso  wie  die  Seinsform  sich  als  reale  Beziehung  entpuppt 
hat.  Das  Sein  als  Ineinander  von  logisch  geregeltem  Seinsinhalt 
und  realer  Beziehungsform  muss  demnach  ein  System  und  Strom 
idealrealer  (logisch-dynamischer)  Beziehungen  sein,  d.  h.  universelle 
Kausalität  So  führen  Kirchmanns  Voraussetzungen  selbst  zu 
1er  realen  Kausalität  hin,  die  er  wegen  ihres  Beziehungscharakters 
leugnet.  Das  Sein  ist  unsterblich  samt  der  seinem  Inhalt  imma- 
nenten Logizität  und  der  seine  Form  bildenden  Widerstandskraft ; 
aber  die  Form  des  Wissens  (d.  h.  des  Bewusstseins)  ist  sterblich  *)  — 


Der  Materialismus  war  als  eine  doppelte  Reaktion  hervorge- 
treten, einerseits  gegen  den  Pantheismus,  der  bis  zur  Mitte  der 
dreissiger  Jahre  geherrscht  hatte,  andererseits  gegen  den  Theismus, 
der  bis  zur  Mitte  der  fünfziger  Jahre  tonangebend  war.  Der  Mate- 
rialismus war  darin  mit  dem  Theismus  einverstanden,  dass  die  in  der 
Luft  schwebende  absolute  Thätigkeit  des  Pantheismus  als  Welt- 
grund nicht  genügen  könne,  dass  vielmehr  ein  substantieller 
Träger   dieser  Thätigkeit    unentbehrlich  sei.     Aber  er  war  ent- 

'  gegengesetzter  Ansicht  wie  der  Theismus  in  Bezug  auf  die  nähere 
Bestimmung  dieser  den  Weltprozess  tragenden  und  setzenden 
Substanz.  Er  verwarf  die  vom  Theismus  angenommene  Lösung 
eines  substantiellen  absoluten  Subjekts  oder  Ichs,  einer  selbst- 
bew^ussten  absoluten  Persönlichkeit,  und  setzte  an  ihre  Stelle  das 

Isinnliche  Trugbild  des  Stoffes,  das  er  aus  dem  Bewusstsein  in  das 

transcendente  Gebiet   hinausprojizierte  und  daselbst  hypostasierte. 

Der   Materialismus   setzte    damit    nur   den   Fehler    fort,    den    der 

Pantheismus  gleichsam  zum  Vorurteil   gestempelt  hatte,    nämlich, 

•)  Vgl.  meine  Schrift:  'J.  H.  vob  Kirchmanns  erkenntnisÜieofetischCT  Realismuif 
(t8;5);  femer  »Die  deutsche  Ästhetik  seil  Kantt,  S.  253—265.  372—374,  405—407, 
429 — 432,  446—448»  45S — 461,  478—481,  566 — 569;  »Dw  fittliche  Bewusstsein', 
j.  Anfl.,  S.  63—67,  70»  73—74»  205—206. 


470 


Rückblick  auf  den  MÄterialismus. 


dass  es  keine  andere  Substanz  gebe  als  die  sinnlich-stoflFliche. 
Wenn  der  Pantlieismiis  daraus  gefolgert  hatte,  dass  die  Prin- 
cipien  substanzlose  Thätigkeiten  sein  müssten»  so  folgerte  der 
Materialismus  vielmehr,  dass  die  sinnlich -stoffliche  Substanz, 
wie  sie  unserin  Bewusstsein  vorschwebt,  selbst  das  Weltprincip 
sein  müsse,  da  dieses  nicht  anders  als  substantiell  gedacht  wer- 
den dürfe. 

Teils  liess  der  Materialismus  die  raumerfüllende  Solidität  der 
stofflichen  Masse  und  die  ihr  anhaftenden  sinnlichen  Qualitäten 
ungeschieden  (Comte  und  Feuerbach),  teils  sonderte  er  beide. 
Im  letzteren  Falle  wurde  entweder  die  der  Sinnesqualitäten  ent- 
kleidete stoffliche  Masse  allein  ins  Jenseits  des  Bewusstseins 
hinausprojiziert  und  die  Sinnesquali täten  als  eine  rein  subjektive 
Wirkung  jener  auf  die  Sinne  betrachtet  (naturwissenschaftlichef^J 
Materialismus  und  Büchner),  oder  aber  die  sinnlichen  Qualitäteil^B 
wurden  als  raumerfüllende  Realitäten  ins  Jenseits  projiziert  und 
dort  im  stofflichen  Sinne  hypostasiert  (materialistischer  Sensualis- 
mus, Czolbe,  V.  Kirchmann),  Immer  aber  lag  dem  Materialismus 
die  Täuschung  zu  Grunde,  als  ob  ein  blosser  Sinnenschein  ijn 
Bewusstsein  auch  ausserhalb  des  Bewusstseins  selbständig  e: 
tieren  könne,  und  als  ob  der  scheinbar  stetigen  Erfüllung  de£ 
Bewusstseinsraumes  auch  eine  wirklich  stetige  Erfüllung  des 
bewusstseinstranscendenteo  Raumes  (sei  es  durch  Stoff,  sei  es 
durch  Sinnesqualitäten»  sei  es  durch  beides  zugleich)  entsprechen 
müsse.  Der  Materialismus  in  allen  seinen  Gestalten  steht  und 
fällt  deshalb  mit  dem  erkenntnistheoretischen  naiven  Realismus; 
denn  dasjenige,  was  der  transcendentale  Realismus  als  bewusst- 
seinstranscendentes  Korrelat  des  Sinnenscheins  annimmt,  (dw 
Materie  als  atomistisches  Dyn am iden System)  hat  weder  mit  der 
Illusion  eines  den  Raum  stetig  erfüllenden  Stoffes  noch  mit  den 
ihm  anhaftenden  Sinnesqualitäten  irgendwelche  Ähnlichkeit  mehr. 
Der  transcendentale  Idealismus  hatte  den  Gedanken  zum  Vorur- 
teil erhoben»  dass  es  kein  Sein  gebe  als  für  das  Wissen  und  im 
Wissen.  Kein  Wunder,  dass  der  Materialismus  dies  dahin  deutete, 
dass  das  Sein  für  das  Bewusstsein,  das  sinnlich  stoffliche  Sein, 
das  einzig  existierende  Sein  sei  und  es  kein  anderes  gebe.  Er 
fiel  nur  dabei  dadurch  in  naiven  Realismus  zurück»  dass  er  die 
Bedingung  fallen  liess,  die  der  transcendentale  Idealismus  hinzu- 
gefügt hatte,  nämlich  dass  dieses  Sein  auch  nur  ein  ideales  Sein 


Ausblick  auf  die  weitere  Entwickeluiig. 


471 


im  Wissen  und  für  das  Wissen  sei,  aber  nicht  ausserhalb  des 
Wissens  bestehen  könne. 

Der  Materialismus  vollzieht  nach  allen  Richtungen  seine  Selbst- 
zersetzung; der  entscheidende  Punkt  aber  ist»  dass  er  in  Hylozois- 
mus  umschlägt.  Die  Materie  muss  von  Anfang  an  belebt,  beseelt, 
empfindend  und  bewusst  sein,  wenn  aus  ihrer  feineren  Organisa- 
tion die  höheren  Bewusstseinsformen  sollen  entstehen  können. 
Wie  der  Theismus  daran  scheiterte,  ein  selbstbewusstes  und  per- 
sönliches Absolutes  widerspruchfrei  denkbar  zu  machen,  so 
scheitert  der  Materialismus  daran,  die  Entstehung  des  Bewusst- 
seins  aus  bewusstloser  Materie  widerspruchslos  denkbar  zu  machen, 
die  er  doch  behaupten  muss.  Wenn  er  sich  darauf  beschränkte, 
zu  behaupten,  dass  kein  inhaltlich  bestimmtes  Bewusstsein  ohne 
materielle  Aussenseite  der  Bewusstseinsindividuen  und  kein  höheres 
bewusstes  Geistesleben  ohne  die  Grundlage  eines  materiellen  Or- 
ganismus möglich  sei,  dann  wäre  er  unwiderleglich;  aber  so  wäre 
er  nicht  mehr  Materialismus  zu  nennen.  Denn  die  Anerkennung 
dieses  Zusammenhanges  des  bewussten  Geisteslebens  mit  der 
materiellen  Basis  kann  auch  in  den  Individualismus,  Agnostizismus 
und  Pantheismus  Aufnahme  finden,  ja  sogar  in  den  Theismus, 
{reilich  nur  soweit  es  geschöpfliches  Bewusstsein  betrifft,  und  mit 
Vorbehalt  eines  leibfreien  absoluten  Bewusstseins  für  Gott  Es 
ist  das  Verdienst  des  Materialismus,  diese  Abhängigkeit  des  be* 
wussten  Geistes  von  materiellen  Vermittelungen  so  scharf  betont 
zu  haben,  dass  kein  metaphysischer  Standpunkt  mehr  in  Zukunft 
sie  ignorieren  darf,  wenn  er  auf  zeitgemässer  Höhe  bleiben  wilL 
Aber  ebenso  einig  ist  auch  die  Kritik  darüber,  dass  der  Materialis- 
mus im  eigentlichen  Sinne  Bankerott  gemacht  hat,  insofern  es  als 
völlig  unmöglich  begriffen  ist,  die  Entstehung  des  Bewusstseins 
aus  dem  Stoff  zu  erklären,  wenn  nicht  schon  das  zu  Erklärende, 
das  Bewusstsein,  als  im  Stoff  ursprünglich  vorhanden  voraus- 
gesetzt wird.  — 

So  darf  man  denn  sagen:  der  Kampf  zwischen  Theismus  und 
Materiahsmus  hat  ausgetobt,  weil  ein  selbstbewusster  und  persön- 
licher absoluter  Geist  ebenso  seine  Unbrauchbarkeit  zur  Welt- 
erklärung erwiesen  hat,  wie  eine  bewusstlose  Materie.  Aber  wie 
der  Theismus  auf  einen  unbewussten  absoluten  Geist  als  das 
Princip  hingedeutet  hatte,  das  bestimmt  sei,  sein  unhaltbar  ge- 
wordenes abzulösen,  so   weist  der  Materialismus  auf  das  Princip 


472 


Ausblick  auf  die  weitere  Entwickelang» 


einer  bewussten  empfindenden  Materie  als  den  Ersatz  seines  über- 
wundenen hin. 

Der  Streit  zwischen  unbewusstem  Geist  und  bewiisster  Materie 
wird  fernerhin  den  zwischen  bewusstem  Geist  und  bewusstloser 
Materie  ersetzen.  Nennt  man  den  Standpunkt  des  unbewussten 
Geistes  in  Ermangelung  eines  besseren  Ausdrucks  Philosophie 
des  Unbewussten,  so  tritt  an  die  Stelle  des  Gegensatzes  von 
Theismus  und  Materialismus  derjenige  von  Philosophie  des  Un- 
bewussten  und  Hylozoismus,  *)  Der  atomistische  Hylozoismus 
ist  eine  konkretere  Ausgestaltung  des  Naturalismus  durch  Herein- 
nahme der  atomistischen  Gliederung  in  die  unbestimmt  ver- 
schwimmendc  Materie,  wie  die  Philosophie  des  Unbewussten  eine 
konkretere  Ausgestaltung  des  Pantheismus  durch  Hereinnahme 
des  absoluten  Subjekts  des  Theismus  unter  Abstreifung  des  Selbst- 
bewusstseins  und  der  Pers<jnlichkeit  ist.  Beide  streben  zugleich 
eine  Lösung  des  individualistischen  Problems  an,  der  Hylozoismus 
von  der  Seite  der  Vielheit  der  empfindenden  Atome  her,  der  kon 
krete  Monismus  von  der  Seite  der  Einheit  der  in  sich  gegliederteiii 
absoluten  Funktion  her. 

Der  Gegensatz  zwischen  Philosophie  des  Unbewussten  und 
Hylozoismus  ist  deshalb  geringer  und  die  Kluft  zwischen  ihnen 
nicht  so  gross  wie  die  zwischen  Theismus  und  Materialismus.  Der 
Hylozoismus  führt  nämhch  unmittelbar  in  die  pluralistische  Willens- 
metaphysik hinüber,  indem  der  innerlichen  Empfindung  der  Atom- 
monaden der  Wille  als  ihre  nach  aussen  gerichtete  Kraft  ent- 
spricht und  die  Empfindung  als  Affektion  des  Willens  gedeutet  wird. 
Der  Begriff  des  unbewussten  Willens  hatte  durch  die  Verbreitung 
der  Schopenhauerschen  Philosophie  bereits  viel  von  der  ihm  für 
den  gemeinen  Menschenverstand  anhaftenden  Paradoxie  verloren. 
Der  Eigenwille  erscheint  einerseits  als  Kern  der  Individualität  ^J 
und  ist  doch  andererseits  dem  Bewusstsein  mit  Schleiern  verhüllt,  ^^ 
durch  die  er  nur  hindurchschimmert;  er  scheint  um  so  mehr  ge- 


1 


*)  Der  Kampf  zwisdieti  diesen  beiden  Standpunkten  i»t  dargestellt  m  dem  dritten 
Band  der  lo.  Aufl.  der  »PkiJ,  d.  Uühewussten«,  woselbst  der  Hylozoismus  durch  den 
Text  der  anonymen  ersten  Auflage  meintT  Schrift  »Das  Unbewusste  vom  Standpunkt 
der  Physiologie  und  Descendenztheoriec  vertreten  ist,  der  Standpunkt  der  Philosophie 
des  Unbewussten  aber  durch  die  allgemeinen  Vorbemerkungen  und  besonderen  An* 
merkungen  der  dritten  Auflage  dieser  Schrift  so  wie  durch  den  sonstigen  Inhalt  d« 
Bandes. 


Ausblick  auf  die  weitere  Entwickeluiig. 


475 


eignet,  den  Begriff  des  Atoms  zu  beleben,  als  ein  Unterschied 
von  unbewusstem  Willen  und  Kraft  nicht  mehr  anzugeben  ist 
Der  Hylozoismus  als  pluralistische  Willensmetaphysik  (Mainländer, 
Wundt,  Hamerling)  bleibt  Naturalismus,  so  lange  er  das  Indivi- 
duum höherer  Ordnung  als  blosses  Summationsphänomen  aus  den 
Atomkräften  oder  Atomwillen  auffasst  und  den  Hinzutritt  eines 
Individualwillens  höherer  Ordnung  als  Centralmonade  leugnet;  er 
erhebt  sich  über  den  Naturalismus  und  damit  über  sich  selbst,  wo 
er  einen  solchen  annimmt,  und  schlägt  damit  in  thelistischen  Indi- 
vidualismus (Bahnsen,  Nietzsche)  um,  der  aber  als  solcher  immer 
noch  Pluralismus  bleibt ♦  weil  er  eine  Vielheit  von  substantiell 
gesonderten  Individualmonaden  annimmt. 

Der  Gegensatz  zwischen  konkretem  Monismus  und  indivi- 
dualistischer Willensmetaphysik  ist  wiederum  geringer  als  der 
zwischen  jenem  und  der  hylozoistischen  pluralistischen  Willens- 
metaphysik;  denn  sowohl  der  konkrete  Monismus  als  auch  die 
individualistische  Willensmetaphysik  betrachten  das  Individuum 
höherer  Ordnung,  z.  B.  den  Menschen,  nicht  mehr  als  ein  blosses 
Summationsphänomen  aus  Atom  willen  und  sein  Individualbewusst- 
sein  nicht  mehr  als  ein  blosses  Summationsphänomen  aus 
Atombewusstseinen.  Aber  beide  fassen  das  Verhältnis  der 
Centralmonade  des  höheren  Individuums  zum  alleinen  Weltgrunde 
noch  verschieden  auf.  Der  Grund  davon  liegt  wesentlich  darin, 
ass  der  Individualismus,  wo  er  nicht  in  übersinnlichen  Mate- 
alismus  übergeht,  einseitiger  Thelismus  oder  blosse  Willensmeta- 
physik ist  und  die  unbewusste  Vorstellung  neben  dem  unbe- 
wussten  Willen  leugnet.  Wo  der  unbewaissten  Vorstellung  von 
einem  Willensmetaphysiker  Berechtigung  eingeräumt  wird»  da 
zeigt  sich  seine  Annäherung  an  den  konkreten  Monismus  selbst 
dann,  wenn  er  auf  dem  Boden  eines  hylozoistischen  Naturalismus 
stehen  bleibt  und  die  hinzukommende  Centralmonade  bestreitet 
(z.  B.  Hamerling).  Ein  Denker,  der  thel istischer  Individualist 
und  Vertreter  der  unbewussten  Vorstellung  zugleich  wäre,  ist  bis- 
her nicht  aufgetreten;  wenn  er  erschiene,  so  würde  sich  zeigen, 
dass  er  seinen  Standpunkt  vor  dem  Hinüberfliessen  in  den  kon- 
kreten Monismus  auf  keine  Weise  zu  w^ahren  vermöchte. 

Die  Gründe,  dass  ein  solcher  Denker  noch  nicht  aufgetreten  ist, 
dürften  folgende  sein.  Die  Willensmetaphysiker  neigen  dazu,  ent- 
weder den  Willen  mit  der  Substanz  zu  identifizieren  (Bahnsen),  oder 


Aasblick  auf  die  vettere  Entwickclung. 


das  Wollen  an  die  Stelle  der  Substanz  zu  setzen  (Wundt);  dann 
kann  aber  die  Vorstellung  nur  eine  sekundäre  Erscheinung  an  der 
Willenssubstanz  oder  Willensthätigkeit  sein,  und  als  solche  kann 
sie  wiederum  nicht  unbewusst»  sondern  nur  bewusst  gedacht 
werden.  Der  Begriff  der  unbew^ussten  Vorstellung  ist  ohne  Zweifel 
für  den  gemeinen  Menschenverstand  mit  einer  noch  stärkeren 
Paradoxie  behaftet  als  der  des  unbewussten  Willens  und  viel 
später  als  dieser  aufgestellt  w^orden;  er  braucht  deshalb  auch 
längere  Zeit,  um  im  Zeitgeist  durchzudringen,  Individualisten,  die 
sich  vorzugsweise  auf  die  Vorstellungsseite  des  Geisteslebens 
stützten,  hat  es  genug  gegeben  (z.  B.  Leibniz,  Herbart,  Beneke, 
L  H,  Fichte);  aber  alle  diese  haben  nach  dem  Theismus  hin 
gravitiert  und  nicht  nach  einem  metaphysisch  selbständigen 
Individualismus,  Denn  sie  erlagen  stets  der  Versuchung,  den 
Kern  der  Individualität  im  reinen  Selbstbewusstsein  und  das 
Wesen  der  Persönlichkeit  im  Ich  zu  suchen;  mit  dieser  Stellung- 
nahme musste  aber  die  unbewusste  Vorstellung,  so  weit  sie 
überhaupt  anerkannt  wurde  (Beneke,  L  H,  Fichte)  auf  eine 
unter  dem  Ich  belegene  Stufe  hinabgedrückt  und  insbesondere 
der  alleioe  Weltgrund  als  selbstbewusstes  Ich  und  nicht  als  un- 
bewusst  vorstellendes  Subjekt  gedacht  werden*  Aus  diesen 
Gründen  ist  der  Gegensatz  zwischen  pluralistischem  Individualis* 
mos  und  Monismus  von  Seiten  des  ersteren  bisher  noch  nicht 
überwunden  worden.  Dagegen  hat  im  konkreten  Monismus  der 
Philosophie  des  Unbew^ussten  das  Individuum  eine  Stellung  er- 
laugt, die  allen  berechtigten  Ansprüchen  des  Individuums  Genüge 
thut.  Indessen  konnte  die  Anerkennung,  dass  von  dieser  Seite  her 
der  Gegensatz  in  der  That  synthetisch  überwunden  sei.  bisher 
noch  nicht  erfolgen,  weil  die  Entwickelung  auf  der  anderen  Seite 
noch  auf  halbem  Wege  stecken  geblieben  ist  — 

Bevor  wir  aber  in  die  Darstellung  der  pluralistischen  und 
individualistischen  Geistesströraung  eintreten,  müssen  wir  eine 
Unterbrechung  einschalten  und  die  verschiedenen  Richtungen  des 
Agnostizismus  betrachten.  Es  ist  ein  allgemeines  Gesetz,  dass 
jede  neuauftretende  Richtung  irgendwie  ihr  Ziel  überfliegt  und 
so  auch  der  subjektive  Phänomen alismus  oder  transcendentale 
Ideahsmus,  der  durch  den  Rückfall  des  Materialismus  in  den 
krassesten  naiven  Realisinus  als  notw^ endige  erkenntnistheoretische 
Reaktion  hervorgerufen  wurde.    Dieser  subjektive  Phänomenalis- 


Der  Agnüstizismus. 


475 


mus  zog  in  der  That  dem  Materialismus  den  Boden  unter  den 
Füssen  weg,  indem  er  den  naiven  Realismus  unwiederbringlich 
zerstörte.  Aber  er  verkannte,  dass  er  nur  die  Aufgabe  hatte, 
Übergangsstufe  zum  transcendentalen  Realismus  zu  sein  und 
setzte  die  Grenzen  der  Erkennbarkeit  mit  den  Grenzen  der 
Bewusstseinsimmanenz  gleich.  Dadurch  wurde  er  zur  bewussten 
und  geflissenüichen  Negation  aller  metaphysischen  Erklärungs- 
versuche, Der  Kampfplatz  für  die  verschiedenen  möglichen  meta- 
physischen Erklärungsversuche  konnte  nicht  eher  wieder  frei 
werden,  bis  auch  der  Agnostizismus  seine  Rolle  ausgespielt  und 
sich  selbst  aufgehoben  hatte.  Dies  geschah  dadurch,  dass  sich 
herausstellte,  dass  durch  ihn  nicht  nur  die  metaphysische,  sondern 
auch  die  naturwnssenschaftUche.  überhaupt  alle  und  jede  Erkennt- 
nis aufgehoben  wurde,  Aber  der  Agnostizismus  brachte  den  Vor- 
teil, dass  er  die  Meoschen  daran  gewöhnte,  sich  mit  einem  Stand- 
punkt vertraut  zu  machen,  der  weder  Theismus  noch  Ma- 
terialismus war.  Dadurch  erst  wurde  mit  dem  Schutt  der 
zerfallenen  Bauwerke  aufgeräumt  und  der  Baugrund  für  positive 
Neubauten  geebnet. 


2-  Der  Agnostizismus. 


Der  Agnostizismus  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ist  zuerst 
in  England  aufgetaucht  Der  Ausdruck  stammt  von  Huxley; 
die  Geistesrichtung  selbst  strömt  aus  zwei  verschiedenen  Quellen. 
Die  eine  ist  das  alte  Bestreben,  den  Kirchen  glauben  vor  der  Kritik 
aus  seinen  Widersprüchen  sicher  zu  stellen,  indem  das  Wissen 
der  gleichen  Widersprüche  geziehen  wird,  die  andere  ist  die  Er- 
neuerung und  strengere  Durchführung  der  Hartley-Priestleyschen 
Associalionspsychologie  auf  der  Grundlage  eines  sensualistischen 
Phänomeoalismus.  Die  erstere  Seite  findet  in  Hamilton  und 
Mansel,  die  andere  in  James  Mill  und  seinem  Sohne  John  Stuart 
Mill  ihre  wichtigsten  Vertreter.  Beide  Richtungen  fliessen  zu- 
sammen in  Herbert  Spencer.  Hamilton  und  Mansel  sind  Theisten, 
aber  ihr  Glauben  erhebt  sich  auf  dem  Bankerott  der  Wissenschaft. 
Die  beiden  Mill  sind  als  Philosophen  wesentlich  Atheisten,  wenn 


476 


HamUton. 


sie  auch  als  Menschen  von  Anwandlungen  eines  theistischen 
Glaubens  nicht  frei  sind,  Spencer  vertritt  einen  mechanistischen 
Naturalismus,  der  zwischen  Atheismus  und  Pantheismus  schwankt, 
aber  trotz  seiner  atheistischen  Konsequenzen  sich  soweit  an 
Hamilton  und  Mansel  anlehnt,  als  in  dem  kirchlichen  England 
nötig  scheint,  um  dem  Kirchenglauben  seinen  Raum  neben  der 
atheistischen  Wissenschaft  zu  gönnen  und  ihn  nicht  gradezu  vor 
den  Kopf  zu  stossen,  — - 

Hamilton  (17B8 — 1856}  knüpft  an  Reids  naiven  Realismus 
an,  den  er  »natural  Realism«  oder  >Presentationism«  nennt,  inso- 
fern das  Bewusstsein  selbst  die  Gegenwart  des  Ich  und  des 
Nichtich,  des  Subjekts  und  Objekts  im  Denkakt  verbürgt.  Die 
unmittelbaren,  ursprünglichen  Thatsachen  des  Bewusstseins  be- 
sitzen Einfachheit,  Allgemeinheit,  subjektive  Notwendigkeit,  Ge- 
wissheit und  Unbegreiflichkeit  (d.  h,  logische  Unableitbarkeit  aus 
anderen).  Die  Wurzel  unserer  Natur  kann  keine  Lüge  sein.  Damit 
gilt  ihm  die  Existenz  der  wahrgenommenen  Dinge  für  ebenso 
sicher  gestellt,  wie  die  des  Ich.  Aber  diesen  Reidschen  naiven 
Realismus  schränkt  er  infolge  Kantschen  Einflusses  soweit  ein, 
dass  nur  die  Eigenschaften,  Attribute  oder  Erscheinungen  d* 
materiellen  und  geistigen  Substanzen  zur  Wahrnehmung  gelangei 
doch  nicht  diese  selbst.  Wir  kommen  mit  unserem  Erkennen  nicht 
über  Relatives  und  Bedingtes  hinaus  und  erreichen  niemals  das 
Unbedingte.  Wir  bleiben  in  den  Gegensatz  von  Subjekt  und 
Objekt  gebunden,  erkennen  nur  vermittelst  des  Verhältnisses  von 
Ding  und  Eigenschaft  und  verstehen  etwas  nur  als  Glied  eines 
kausalen  Verhältnisses, 

Aber  wenn  wir  auch  nur  Relatives  und  Bedingtes  zu  erkennen 
vermögen»  so  wäre  doch  selbst  die  bedingte  Existenz  unmöglich» 
wenn  es  nicht  eine  unbedingte  Existenz  gäbe.  Der  Begriff  des 
Unbedingten  enthält  nichts  Positives,  sondern  ist  rein  negativ; 
er  umfasst  zwei  Momente:  das  Absolute  oder  Vollständige  und 
das  Unendliche  oder  UnvoUendbare.  Will  man  die  Vollständig- 
keit festhalten,  so  muss  man  das  Unbedingte  begrenzt  und  endlich 
denken;  will  man  die  Unendlichkeit  festhalten,  so  kann  man  es 
nicht  als  vollständige  Totalität  denken.  Das  Denken  befindet  sii 
also  in  einem  Dilemma  zwischen  zwei  kontradiktorischen  Gegei 
Sätzen,  die  beide  gleich  unfasslich  sind,  und  von  denen  doch  nach 
dem  Satz    vom    ausgeschlossenen  Dritten   Eines  wahr  sein   muss. 


in, 


Mansch  —  Jamea  Mill. 


477 


Die  Wahl  wird  durch  praktische,  moralische  Motive  bestimmt 
Die  moralische  Würde  des  Menschen,  die  unbegreiflichen  That- 
sachen  seiner  Willensfreiheit  und  sittlichen  Verantwortlichkeit 
fordern  eine  moralische  Weltordnung  und  Weltregierung,  einen 
unbegreiflichen  und  unerkennbaren  Gott  —  Diese  Beweisführung 
leidet  an  dem  Fehler,  dass  quantitative  Bestimmungen  wie  Un- 
endlichkeit und  Endlichkeit  für  anwendbar  auf  das  Absolute  ge- 
halten werden,  die  es  gar  nicht  sind  Nur  dadurch  entsteht  der 
Schein  eines  Dilemmas,  das  gar  nicht  vorhanden  ist,  und  das, 
wenn  es  bestände,  nicht  nach  dem  Satze  vom  ausgeschlossenen 
Dritten  behandelt  werden  dürfte,  weil  dieser  nur  für  solche  kon- 
tradiktorische Gegensätze  gültig  ist.  bei  denen  wenigstens  ein 
Glied  logisch  möglich  ist.  — 

Man  sei  (1820 — 1871)  kann  bereits  als  Neukantianer  bezeich- 
net werden.  Er  lässt  den  naiven  Realismus  in  Bezug  auf  die 
materielle  Aussenwelt  fallen  und  giebt  zu,  dass  wir  nicht  wissen, 
ob  unsere  subjektive  Erscheinungsvvelt  jenen  materiellen  Dingen, 
die  uns  ihre  Widerstandskraft  entgegensetzen,  ähnlich  oder  un- 
ähnlich sei.  Dagegen  hält  er  in  Bezug  auf  das  Ich  an  der  Über- 
zeugung fest,  dass  wir  uns  der  eigenen  realen  Existenz  und  Sub- 
stantialität  bewusst  werden.  Die  Erkenntnis  der  materiellen  Welt 
liefert  nur  Phänomenologie;  Ontologie  ist  allein  aus  der  Erkennt- 
nis des  Ich  zu  schöpfen.  Wird  das  Absolute  in  das  Nichtich 
verlegt,  so  wird  damit  die  Substantialität  des  Ich  verleugnet; 
wird  es  in  das  Ich  verlegt,  so  wird  damit  der  (theoretische) 
Egoismus  (Solipsismus)  proklamiert  Das  erste  fuhrt  zum  Pan- 
theismus, das  letztere  zum  Atheismus.  Die  Kantschen  Anti- 
nomien werden  für  den  Beweis  der  Undenkbarkeit  des  Un- 
bedingten ausgebeutet  Mansel  behauptet,  dass  die  Widersprüche 
welche  das  Leugnen  des  Unendlichen  mit  sich  führt,  positiv  und 
in  der  Sache  selbst  belegen  seien,  diejenigen  aber,  welche  aus 
der  Annahme  eines  existierenden  Unendlichen  erwachsen,  bloss 
negativ  seien,  und  nur  der  Beschränktheit  unseres  Verstandes 
entspringen.  Wenngleich  z.  B.  in  dem  Begriff  einer  unbedingten 
Persönlichkeit  Widersprüche  liegen,  so  sind  wir  doch  nicht  nur 
berechtigt,  sondern  auch  moralisch  verpflichtet,  an  eine  solche 
zu  glauben.  — 

James  Mill  {1773 — 1836)  stützt  sich  auf  HartleysVorstellungs- 
association  durch  Berührung,  lässt  aber  die  physiologischen  liypo- 


478 


John  Stuart  MiU, 


thesen  desselben  auf  sich  beruhen  und  ist  auch  durch  den  franzö- 
sischen Sensualismus,  insbesondere  durch  Helvetius  stark  beein- 

flusst  Erst  aus  der  Association  durch  Berührung  sucht  er  die- 
jenige aus  Ähnlichkeit  und  Kontrast  abzuleiten.  Die  Beziehung^s- 
begriffe  lässt  er  nicht  als  besondere  Art  von  Vorstellungen  gelten, 
sondern  glaubt»  dass  sie  in  und  mit  den  Vorstellungen  selbst  ohne 
weiteres  gegeben  sind.  Kausalität  ist  konstante  Succession;  Wille 
ist  eine  Vorstellung,  die  als  ursächliches  Mittel  einem  Lustgefühl 
associiert  wird.  Häufig  und  darum  fest  mit  einander  verbundene 
Vorstellungen  verschmelzen  zu  einer  Einheit,  die  uns  ebenso 
einfach  vorkommt  wie  die  ursprünglichen.  So  entstehen  nicht 
nur  die  Vorstellungen  der  äusseren  Objekte,  sondern  auch 
die  egoistischen  und  altruistischen  Gefühle  und  moralischen 
Ideen,  die  als  einfach  erscheinen,  weil  ihre  Komponenten  in 
ihnen  so  eng  verschmolzen  sind,  dass  man  sie  nicht  mehr 
herauserkennt.  Was  ursprünglich  nur  Mittel  zu  einem  anderen 
Zweck  war,  kann  so  zum  Selbstzweck  werden  und  scheinbaren 
Eigenwert  erlangen,  z.  B.  das  Wohl  anderer,  das  ursprünglich 
nur  als  Mittel  des  eigenen  Wert  hatte.  Der  so  erlangte  Wert 
soll  nach  Mill  unabhängig  von  seinem  Ursprung  und  darum  auch 
unabhängig  von  der  psychologischen  Wiederzerlegung  der  Kom- 
ponenten sein,  was  für  das  Individuum  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  richtig,  für  die  menschliche  Gattung  aber  sicher  un- 
richtig ist,  — 

John  Stuart  Mill  {1806 — 1873)  sucht  auf  Grund  der  Asso- 
ciationspsychologie  seines  Vaters  eine  streng  empiristische  Er- 
kenntnistheorie und  Methodologie  durchzuführen.  Erkenntnistheo* 
retisch  lehrt  er  einen  Phänomenalismus,  der  demjenigen  Humes 
nahe  steht,  und  ist  in  dieser  Hinsicht  als  Neuhumianer  zu  be- 
zeichnen* Methodologisch  knüpft  er  einerseits  an  Comte,  anderer- 
seits an  Herschels  und  Whewells  Untersuchungen  über  das  Zu- 
standekommen von  Entdeckungen  und  Erfindungen  im  Forscher- 
geist an.  Die  utilitarische  Ethik  Benthams  verbindet  er  mit  der 
humanitären  Comtes,  ist  aber  durch  Carlyle  und  die  französischen 
Historiker  zu  einer  mehr  geschichtlichen  Weltanschauung  hin- 
geführt worden  als  diese  beiden.  Seinen  Phänomenalismus  ent- 
wickelt er  in  der  Polemik  mit  Hamiltons  naivem  Realismus  und  mit 
seinem  Begriff  eines  unendlichen  Gottes;  aber  der  Agnostizismus 
Hamiltons  war  ihm  doch  sympathisch.    Nur  deutet  er  den  Agnosti- 


I 


John  Stuart  MüU 


479 


zismus  mehr  in  dem  Sinne  Carlyles,  nach  welchem  die  uns  er- 
reichbare Wahrheit  sowohl  in  der  Naturerkenntnis  wie  in  der 
Gotteserkenntnis  nicht  über  die  Form  des  Symbols  hinausgelangt. 

Mills  Hauptverdienst  ist  die  Ausbildung  der  induktiven  Logik. 
Wenn  Herschel  und  Whewell  hauptsächlich  das  Problem  der  Ent- 
deckung untersucht  hatten,  so  wandte  Mill  sich  der  Beweismöglich- 
keit zu.  Er  zuerst  hat  gezeigt,  auf  welchen  Wegen  der  Analogie- 
schluss  und  die  einfache  Aufzählung-  der  analogen  Fälle  zu  einer 
strengeren  Form  des  Induktionsschlusses  führt,  der  zwar  niemals 
Gewissheit,  aber  doch  eine  praktisch  ausreichende  Wahrscheinlich- 
keit gew^ähren  kann.  Er  hat  ferner  gelehrt,  wie  man  zusammen- 
gesetzte Erscheinungen  zunächst  in  einfachere  zerlegen,  dann  den 
Zusammenhang  dieser  einfacheren  Erscheinungen  induktiv  unter- 
suchen, weiterhin  diese  Ergebnisse  deduktiv  verbinden  und  endlich 
das  deduktive  Gesamtergebnis  durch  die  Erfahrung  bewähren 
lassen  muss.  Er  verwirft  also  durchaus  nicht  die  Deduktion,  son- 
dern schreibt  ihr  eine  wichtige  Bedeutung  zu,  wenn  er  dieselbe 
auch  nicht  nach  allen  Richtungen  erschöpft.  Er  behauptet  nur, 
dass  alle  Obersätze  von  Deduktionen  induktiv  gewonnen  sein 
müssen,  und  darin  hat  er  unbedingt  recht.  Er  verkennt  nicht, 
dass  jede  Induktion  von  der  Voraussetzung  abhängt,  dass  in  der 
Welt  ausnahmslose  Gesetzmässigkeit  herrscht;  aber  er  hat  recht. 
dass  diese  Annahme  selbst  wieder  nichts  ist,  als  eine  Induktion 
von  allgemeinster  Gültigkeit  auf  breitester  empirischer  Grundlage, 
und  darum  von  grösster  WahrscheinlichkeiL 

Man  kann  nicht  sagen »  dass  Mill  die  Bedeutung  der  Deduk- 
tion allseitig  gewürdigt  habe.  Es  ist  ihm  auch  nicht  klar 
geworden,  dass  jede  Induktion  nur  die  Deduktion  eines  Wahr- 
schein lichkeitskonfficienten  für  den  induzierten  Satz  darstellt.  Eben- 
so würde  man  eine  scharfe  Sonderung  der  Ursacheninduktion  von 
der  Gesetzesinduktion  vergebens  bei  ihm  suchen.  Aber  das  alles 
darf  nicht  hindern,  die  Grösse  des  von  Mill  bewirkten  methodo- 
logischen  Fortschrittes  anzuerkennen,  durch  den  alle  Versuche 
eines  deduktiven  Philosophierens  für  immer  überwunden  sind, 
Mills  Leistung  für  die  Methodologie  ist  völlig  unabhängig  von 
seinen  empiristischen  Irrtümern  über  den  Ursprung  der  logischen 
Gesetze  und  Denklbrmen  und  über  die  Herkunft  der  mathema* 
tischen  Gewissheit.  Er  nimmt  an,  dass  jede  subjektive  Denknot- 
wendigkeit   nur  Wirkung    einer    besonders    festen,    d.   h.    durch 


48o 


John  Stuart  Mill, 


häufige  Gewohnheit  besonders  stark  befestigten  Vorstellungs- 
associatton  sei.  Er  verkennt  vollständig  den  Unterschied  zwischen 
Ursprung  und  Geltungsbereich.  Er  sieht  nicht  ein,  dass  unsere 
Erkenntnis  über  die  objektiv  reale  Gültigkeit  logischer  und  mathe-1 
matischer  Gesetze  und  kategorialer  Denkformen  (wie  Kausalität) 
induktiv  erworben  sein  uod  deshalb  bloss  auf  Wahrscheinlichkeit 
Anspruch  machen  kann,  während  der  Ursprung  der  subjektiv 
idealen  Denknotwendigkeit,  die  mit  ihnen  verknüpft  ist,  ebenso 
wie  ihr  Ursprung  selbst  in  der  Organisation  unseres  Geistes 
selbst  liegen,  also  das  Prius  jeder  Anwendung  derselben  auf  b&- • 
stimmtes  Empfindungsmaterial  sein  kann.  Er  verkennt,  dassl 
die  mathematischen  Wahrheiten  in  ihrer  rein  formalen  subjek- 
tiven Bedeutung  bloss  Ausschliessungen  des  Widerspruchs  für 
die  Verknüpfung  bestimmter  Vorstellungen  sind,  und  dass  selbst 
da,  wo  unendlich  viele  Fälle  möglich  sind,  doch  die  Stetig- 
keit der  Bewegung  im  Durchlaufen  aller  dieser  Fälle  die  In- 
duktion zu  einer  »vollständigen«,  d,  h.  zu  einer  Art  der  De- 
duktion macht. 

Das  Ich  ist  selbst  nichts  weiter  als  eine  fest  gewordene  ge- 
wohnheitsmä&sige  Vorstellungsassociation,  die  nun  als  einfache 
Einheit  erscheint.  Indem  ich  an  die  beständige  Möglichkeit  von 
Empfindungen  oder  Gefühlen  glaube,  die  ich  unter  gewissen  Be- 
dingungen haben  könnte,  auch  wenn  ich  sie  nicht  wirklich  habe, 
glaube  ich  an  die  Beständigkeit  des  Ich,  Das  Ich  löst  sich  damit 
auf  in  eine  associative  Reihe  von  Gefühlen,  teils  wirklichen,  teils 
bloss  möglichen.  Diese  Erklärung  auf  dem  Boden  der  Associa- 
tion spsychologie  scheint  aber  Mill  selbst  zuletzt  nicht  ausreichend. 
Die  Erscheinung  der  Erinnerung  und  Erwartung  schliesst  die 
Voraussetzung  ein,  dass  ich  selbst  und  kein  anderer  solches  jetzt j 
von  mir  vorgestellte  Gefühl  gehabt  habe  oder  haben  werde» < 
Danach  müsste  eine  Reihe  von  Gefühlen  die  Fähigkeit  haben, 
sich  ihrer  selbst  bewusst  zu  werden^  d.  h.  zu  wissen,  dass  sie  ein©  j 
zeitliche  Reihe  ist,  die  gegenwärtige,  vergangene  und  zukünftige  1 
Glieder  hat,  und  welches  die  Glieder  jeder  dieser  Arten  sind 
Will  man  sich  dieser  Paradoxie  entziehen  ^  so  bleibt  nichts  übrig, 
als  ein  einendes  Band  für  die  Glieder  der  Reihe  anzunehmen» 
das  von  den  Gliedern  verschieden,  und  kein  blosses  Produkt  der 
Association  der  Glieder  mehr  ist,  sondern  diese  apperzipiert*  Dann 
ist  dieses  Band  das  Subjekt,  und  die  Associationspsychologie  schlägt 


Stmirt  MllL 


481 


in  Apperzeptionspsychologie  um.  Die  Konsequenzen  dieser  Selbst- 
kritik hat  aber  Mill  nicht  mehr  gezogen. 

Dass  auch  die  blosse  Gefühlsmöglichkeit  in  einer  unzulässigen 
Weise  hypostasiert  ist,  um  die  Beständigkeit  des  Ich  heraus* 
zubringen,  hat  Mill  nicht  bemerkt.  Gerade  die  Hjrpostasierung, 
Vergegenständlichung  und  Hinausprojizierung  der  Möglichkeit  des 
Wahrnehmens  ist  es,  vermittelst  deren  er  den  reinen  Phänomenalis- 
mus annehmbar  und  haltbar  zu  machen  versucht.  Eine  Wahr- 
nehmungsmöglichkeit ist  nach  Mill  eine  Wahrnehmung,  die  unter 
gewissen  Bedingungen  eintreten  kann;  sie  ist  also  als  Möglich- 
keit, die  eine  gesetzmässige  Verknüpfung  zwischen  den  Eintritts- 
bedingungen und  dem  wirklichen  Eintritt  ausdrückt,  etwas  Be» 
ständiges,  während  die  wirklichen  Wahrnehmungen  und  Gefühle 
etwas  fortwährend  Wechselndes  sind.  Die  Wahrnehraungsmög- 
lichkeiten  werden  ferner  in  der  Regel  nicht  auf  einzelne  Empfin- 
dungen bezogen,  sondern  auf  bestimmte  Gruppen,  die  uns  allein 
interessieren,  und  die  wir  Objekte  nennen.  So  gelangen  wir 
dazu,  die  wechsehiden  wirklichen  Wahrnehmungen  als  Accidentien 
der  beständigen  Wahrnehraungsmöglichkeiten,  diese  aber  als  die 
Substanzen  zu  betrachten.  Die  sogenannten  ^  äusseren  Gegen- 
stände« sind  nichts  als  solche  konstante  Wahrnehmungsmöglich- 
keiten; alles  j»ausser  uns«  und  vor  allem  die  Materie  als  die  be- 
ständigste aller  Substanzen  ist  nichts  weiter  als  die  permanente 
Möglichkeit  von  immateriellen  Empfindungen  in  uns.  Sie  erschei- 
nen uns  endlich  als  die  Reah täten,  von  denen  die  wirkUchen 
Wahrnehmungen  nur  Repräsentationen  für  unser  Bcwusstsein  sind, 
und  für  gewöhnlich  sind  nur  sie  es,  auf  die  wir  unsere  Begriffe 
von  Thätigkeit,  Kausalität  u,  s.  w,  beziehen.  So  erklärt  sich  der 
Glaube  der  Menschen  an  eine  Aussen  weit  rein  psychologisch, 
ohne  dass  in  ihm  irgend  welche  Bürgschaft  für  die  wirkliche 
Existenz  einer  solchen  zu  finden  wäre. 

Es  ist  klar,  dass  Mills  Wahrnehmungsmöglichkeiten  in  Mills 
PhSnomenalismus  genau  dieselbe  Rolle  spielen,  wie  die  Dinge  an 
sich  im  transcendentalen  Realismus.  Darin  liegt  gerade  der  Wert 
der  Millschen  Fortbildung  gegenüber  dem  ilumeschen  Phänome- 
nalismus, dass  Mill  einsieht,  wie  wenig  wir  es  mit  den  unbe- 
ständigen wirkHchen  Wahrnehmungen  zu  thun  haben,  wie  sehr 
diese  nur  als  subjektive  repräsentative  Abbilder  der  beständigen 
Dinge  an  sich  für  uns  in  Betracht  kommen,  und   wie   ganz   und 


£    V,  Httrinianfi,  Aiugew,  W«rk©*     Bd.  XII, 


31 


482 


John  Stuart  MilL 


gar  unser  praktisches  und  theoretisches  Interesse  ausschh'esslich 
auf  diese  gerichtet  ist.  Die  Unzulänglichkeit  des  Phänomenalismus 
liegt  andererseits  darin  j  da&s  er  die  Richtung  unseres  Interesses 
auf  diese  beständigen  Dinge  an  sich  und  unsern  Glauben  an  die 
Kausalität  derselben  sowohl  untereinander,  als  auch  auf  uns  selbst 
anerkennt,  und  dabei  doch  sowohl  diese  Dinge,  als  auch  ihre 
Kausalität  zu  subjektiven  Illusionen  verflüchtigt.  Denn  die  aus 
meinen  wirklich  erfahrenen  Wahrnehmungen  abgeleitete  blosse 
bedingungsweise  Möglichkeit  ist  thatsächlich  eine  bloss  subjektive 
Vorstellung  von  einer  ev^entu eilen  gesetzmSssigen  Verknüpfung 
zwischen  dem  etwaigen  Eintritt  gewisser  Bedingungen  und  dem 
Eintritt  einer  wirklichen  Wahrnehmung.  Dies  ist  aber  das  Gegen- 
teil einer  realen,  thätigen  Substanz,  eines  selbständig  existierenden, 
aktionsfähigen  Dinges. 

Mill  erkennt  also  einerseits  das  Bedürfnis  an,  sich  in  dem 
Wirrsal  der  wechselnden  wirklichen  Wahrnehmungen  dadurch  zu 
orientieren,  dass  sie  als  repräsentative  Abbilder  auf  beständige 
reale  Dinge  an  sich  ausser  dem  Bewusstsein  als  auf  die  Ursachen 
ihrer  Entstehung  bezogen  werden;  andrerseits  aber  schränkt  er 
die  Zielpunkte  dieser  trän  sc  en  dentalen  Beziehung  auf  eine  Be- 
deutung ein»  welche  jenes  Bedürfnis  zu  einer  Prellerei  der  Natur 
und  diese  Beziehung  zu  einer  Selbsttäuschung  des  Bewusstseins 
machen.  Wir  glauben  durch  die  Beziehung  der  wechselnden 
Wahrnehmungen  auf  konstante  Dinge  eine  reale  Welt  ausser  uns 
zu  erkennen,  und  wir  erkennen  nach  Mill  damit  thatsächlich  nur 
konstante  Wahrnehmungsmöglichkeiten,  d.  h.  konstante  Ver* 
knüpfungsgesetze  der  subjektiven  Vorgänge  in  uns.  In  Bezug 
auf  alles,  was  ausserhalb  des  eigenen  Bewusstseins  liegt,  ist  der 
Mensch  durch  solchen  Phänomenalismus  zur  Unwissenheit  ver- 
urteilt; darum  ist  dieser  Standpunkt  Agnostizismus,  und  zwar 
nicht  mehr  bloss  in  Bezug  auf  das  Unbedingte,  sondern  schon  in 
Bezug  auf  alles,  was  das  subjektive  Innenleben  des  Einzelbewusst- 
seins  überschreitet,  — 

In  Bezug  auf  Religion  genügt  Mill  persönlich  die  Comtesche 
Plumanitätsreligton  vollständig.  Er  findet  das  Wesen  der  Religion 
in  der  kräftigen  und  ernsten  Richtung  unserer  Gefühle  und  unseres 
Strebens  auf  ein  ideales  Objekt  von  höchster  Vortrefflichkeit  mit 
Ausschluss  jeden  Egoismus,  und  diese  Bedingung  wird  von  Comtes 
Humanitätsrehgion  besser  als  von  irgend  einer  theistischen  Reli- 


Jokn  Stuart  MiU. 


485 


"gion  erfüllt.  Die  theistischen  Religionen  werden  so  lange  fort- 
bestehen, wie  sie  sich  als  überwiegend  nützlich  erweisen*  Wenn 
einmal  ein  Gott  als  Welturheber  angenommen  werden  soll»  so 
muss  es  ein  solcher  sein,  dem  der  Mensch  unbeschadet  seiner 
eigenen  sittlichen  Würde  Anbetung  zollen  kann,  d.  h*  ein  guter 
ethisch  vollkommener  Gott  Dann  kann  es  aber  kein  allmäch- 
tiger, also  kein  absoluter  Gott  sein,  sondern  nur  ein  durch  wider- 
strebende Mächte  beschränkter  Gott,  der  sich  bis  jetzt  vergebens 
bemüht  hat,  die  letzteren  zu  überwinden.  Gottesglaube  muss 
demnach  entweder  zum  parsischen  Dualismus  eines  guten  und 
eines  bösen  Gottes,  oder  zum  antiken  Dualismus  von  Demiurg 
und  Hyle  führen,  aber  keinenfalls  zu  einem  absoluten  Gott. 
Hamiltons  Dilemma  wäre  also  nach  der  entgegengesetzten  Seite 
zu  lösen,  als  es  von  Hamilton  geschehen  ist  Aller  Gottesglaube 
stützt  sich  aber  auf  die  weisen  und  zweckmässigen  Einrichtungen 
der  Natur,  und  wenn  die  mechanistische  Erklärung  des  Zweck* 
massigen,  wie  Darwin  und  Spencer  sie  lehren,  sich  bewähren 
sollte,  so  würde  die  Beweiskraft  dieser  Thatsachen  für  die  Existenz 
eines  Gottes  noch  mehr  abgeschwächt  werden,  als  sie  es  ohnehin 
schon  durch  den  Bestand  des  Übels  und  des  Unzweckmässigen 
wird. 

Mills  Standpunkt  ist  in  einem  wesentlich  anderen  Sinne 
Agnostizismus  als  der  von  Hamilton.  Beide  halten  das  Absolute 
oder  Gott  seinem  Wesen  nach  für  unerkennbar;  aber  während 
Hamilton  seine  Existenz  für  notwendig,  gewiss  und  unentbehr- 
lich hält  erklärt  Mill  auch  diese  für  zweifelhaft  und  gleichgültig. 
Hamilton  steht  fest  auf  dem  Boden  des  naiven  Realismus  in 
Bezug  auf  die  Erkenntnis  der  materiellen  Aussenwelt  und  des 
Ich.  Mill  löst  auch  diese  in  fiktive  Wahrnehmungsmöglichkeiten 
und  Gefühlsmöglichkeiten  auf,  so  dass  sein  Phänomenalismus 
zum  Illusionismus  wird.  Hamilton  ist  Agnostiker  nur  in  Bezug  auf 
das  metaphysische  Wesen,  nicht  in  Bezug  auf  die  Welt  des  er- 
kenntnistheoretisch Transcendenten  oder  der  Dinge  an  sich,  die 
er  unmittelbar  zu  erkennen  glaubt;  Mill  ist  Agnostiker  gerade 
in  Bezug  auf  diese  letzteren,  während  er  die  Existenz  eines  meta- 
physischen Wesens,  im  Sinne  eines  zugleich  absoluten  und  ver- 
ehrungswürdigen Gottes  leugnet  *")  — 

•)  VgL  •Kategorienlchj'e«,  S.  30c — 302;  »Das  »ittliche  BcwuMtJcm«,  2.  Aufl. 
S,  i78.  486—488.  497.  574. 

31* 


484 


Herbert  Spencer. 


Herbert  Spencer  (geb.  1820)  übernimmt  von  Hamilton 
und  Mansel  die  gewisse  Existenz  eines  Absoluten  als  Substanz 
und  Grund  der  uns  gegebenen  Erschein ungs weit  und  die  Un* 
erkennbarkeit  seines  Wesens,  von  Mill  den  subjektiv  idealen 
Phänomenalismus  und  die  Unerkennbarkeit  alles  jenseit  der  sub- 
jektiven Erscheinungen  Liegenden.  So  fliesst  bei  ihm  ganz  wie 
bei  Kant  das  metaphysische  Wesen  mit  den  erkenntnistheore- 
tischen Dingen  an  sich  zusammen,  weil  sie  gleich  unerkennbar 
sind.  Wir  können  nicht  wissen,  ob  das  absolute  metaphysische 
Wesen  unmittelbar  in  unsere  subjektiven  Erscheinungen  eintntt, 
oder  ob  wir  nur  eine  Wirkung  desselben  wahrnehmen,  die  mit 
gesctzmässiger  Beständigkeit  erfolgt.  Es  ist  aber  auch  gleich- 
gültig für  uns,  welcher  Fall  vorliegt,  da  wir  es  doch  nur  mit 
unseren  subjektiven  Erscheinungen,  Empfindungen  und  deren 
Beziehungen  unter  einander  zu  thun  haben. 

Gegen  Hamilton  und  Mansel  behauptet  er,  dass  das  Ab- 
solute mehr  als  bloss  negative  Bedeutung  für  uns  habe,  weil  erst 
die  Beziehung  auf  dieses  transcendente  Korrelat  unseres  Bewusst- 
seins  uns  ermögliche,  einen  Realismus  des  Erkennens  festzuhalten 
und  dabei  doch  den  naiven  Realismus  zu  vermeiden.  Gegen 
Mill  behauptet  er,  dass  starke  und  primäre  Vorstellungen  nicht 
von  schwachen  und  sekundären  aufgehoben  werden  können,  und 
dass  die  von  unserem  Willen  unabhängige  Abfolge  der  starken 
Bewusstseinszustäöde  von  Ursachen  ausser  uns  abhängig  sein 
muss,  denen  wir  eine  absolute  Wirklichkeit  zuschreiben  müssen. 
Er  verwirft  also  sowohl  Hamiltons  unmittelbaren  naiven  Realis- 
mus, als  auch  Mills  antirealistischen  subjektiven  Idealismus  und 
stellt  beiden  seinen  mittelbaren,  umgewandelten  oder  verklärten 
(transfigured)  Realismus  gegenüber.  Dies  ist,  ähnlich  wie  bei 
Kant,  ein  trän  sc  en  dental  er  Realismus,  der  die  Realität  der  sub- 
jektiven Erscheinung  in  ihrer  transcendentalen  Beziehung  auf  ein 
bewusstseinstranscendentes  Korrelat  sucht  p  dessen  Existenz  ge- 
wiss, dessen  Essenz  aber  völlig  unerkennbar  ist,  und  das  mit  dem 
absoluten  metaphysischen  Wesen  identifiziert  wird.  — 

Spencer  giebt  Mill  zu,  dass  wir,  rein  logisch  betrachtet, 
nicht  über  subjektive  Phänomene  hinauskommen  wurden,  da  das 
bestimmte  Bewusstsein  sich  nur  auf  solche  erstreckt.  Er  be- 
hauptet aber^  dass  wir  neben  diesem  bestimmten  Bewusstsein  noch 
ein    zweites   unbestimmtes   besitzen,    w^elches  das   fiur  uns  völlig 


Herbert  Spencer, 


485 


abstrakte  Wesen  zu  allen  Erscheinungen»  das  Absolute  zu  allem 
Relativen,  das  Reale  zu  allem  subjektiv  Ideellen,  das  unzerstörbar 
Beharrende  zu  allem  Wechsel,  die  Ex^istenz  zu  allen  Modifika- 
tionen, die  absolut  letzte  Ursache  zu  allen  Wirkungen  zum  Gegen- 
stande hat.  Erscheinung  ohne  Realität,  Relatives  ohne  ein  Ab- 
solutes ist  unmöglich,  darin  hat  Spencer  ganz  recht;  aber  die 
Frage  ist  eben,  ob  nicht  die  Reihe  der  Empfindungen  selbst  die 
letzte  Realität  und  das  Absolute  ist  und  von  uns  bloss  irrtümlich 
für  Erscheinungen  und  etwas  Relatives  gehalten  wird*  Hätte 
Spencer  mit  seinem  Beweise  für  die  Unentbehrlichkeit  eines  Ab- 
soluten recht,  so  wäre  es  ja  logisch  bewiesen,  und  seine  Be- 
hauptung, dass  es  logisch  nicht  erreichbar  sei,  wäre  hinfällig,  Ist 
aber  die  Behauptung  eines  solchen  Absoluten  richtig,  so  kann 
auch  sein  Wesen  nicht  mehr  schlechthin  unerkennbar  heissenj 
denn  Existenz,  Absolutheit,  Unbedingtheit,  Realität,  unzerstörbare 
Beharrung  und  absolut  letzte  Ursache  aller  Erscheinungen  sind 
doch  schon  eine  ganze  Reihe  von  Bestimmungen,  die  sicherlich 
dem  logisch  bestimmten  Bewusstsein  angehören*  Ob  aus  der 
Beschaffenheit  der  Erscheinungen,  deren  gesetzmässige  Ordnung 
der  phänomenale  Ausdruck  des  Wesens  ist.  nicht  noch  weitere 
Rückschlüsse  auf  die  Beschaffenheit  des  Wesens  möglich  sind, 
hat  Spencer  nicht  untersucht.  Ebenso  wenig  ist  er  der  Frage 
näher  getreten,  ob  nicht  die  Vielheit  und  Succession  der  subjek- 
tiven Erscheinungen  auf  eine  Vielheit  und  Succession  in  der 
bewusstseinstranscendenten  Realität  hinweise,  die  von  der  Be* 
harrlichkeit  des  Wesens  noch  als  eine  innere  Mannigfaltigkeit 
seiner  Bethätigung  zu  unterscheiden  sei 

Allen  diesen  Fragen  verschliesst  Spencer  sich  deshalb,  weil 
er  durch  Hamilton  und  Mansel  überzeugt  ist.  dass  wir  nur  Re- 
latives erkennen  können  und  das  Absolute  uns  unerkennbar  sei. 
Alles  Erkennen  beruht  auf  Unterscheiden,  Ähnlichfinden  und 
Beziehen;  bei  dem  Absoluten  aber  soll  beides  unmöglich  sein, 
weil  es  nichts  giebt,  womit  es  verglichen  werden  könnte.  Es  ist 
dabei  übersehen,  dass  das  Absolute  Spencers  nur  ein  Sammel- 
name für  alles  Bewusstseinstranscendente  ist.  also  nichts  weniger 
als  einfach  zu  sein  braucht,  sondern  eine  reiche  innere  Mannig- 
faltigkeit in  sich  schÜesst.  also  Gelegenheit  genug  zum  Ver- 
gleichen und  Beziehen  giebt.  Es  ist  ein  blosses  Vorurteil  des 
Phänomenalismus.  dass  die  Grenzen   des  Relativen  ^ch   mit  den 


486 


Herbert  Spencer. 


Grenzen    der   subjektiven    Erscheinung    im    Bewusstsein    decken, 
und    dass   das   Gesetz    der    Relativität    aller    Erkenntnis    durch- 
brochen   werde,   wenn    die   Sphäre   der   subjektiven   Erscheinung^ 
überschritten  wird.     Aber  sogar  das  Absolute  im  metaphysischen 
Sinne    des  Wortes   bietet    Gelegenheit  zum  Vergleichen    und   Be- 
ziehen,  nämlich   bei  der  Gegenüberstellung  des  Wesens  und  d 
Erscheinung.     Die  Erscheinung   oder    das   Relative   ist  ja    nicht 
etwas    ausserhalb    des  Wesens    oder    des    Absoluten    Belegenes, 
denn   sonst  hörte  dieses  auf,  ein  Absolutes  zu  sein;   sie  ist  viel- 
niehr   nur   ein   Moment   im   Absoluten   selbst,   und  das   Absolute 
wird  nicht  mit  etwas   ausser  ihm  verglichen,   wenn   es  mit  seiner 
SelbstolFenbarung  verglichen  wird.    Es  bleibt  also  von  Spencers 
Behauptung  nur  soviel  richtig,  dass   das  metaphysische  Absolutq^H 
uns   unerkennbar  bleibt,  so  lange  wir  versuchen,  es  ausser  aUer^l 
wirklichen    oder    möglichen    Beziehung  zur  Erscheinungswelt  zu 
denken;    mit  einem  solchen   vergeblichen  Versuch   hat   sich  aber 
auch  wohl  noch  niemals  ein  verständiger  Mensch  abgequält 

Wie  bei  Kant  das  vollständige  Noumenon  die  Summe  des 
negativen  und  positiven  Noumenon,  des  negativen  GrenzbegriflFs 
der  Erkenntnis  und  des  positiven  Dinges  an  sich  =  X  ist,  so 
auch  bei  Spencer.  Bei  beiden  hat  das  positive  X,  das  den  nega- 
tiven Grenzbegriff  des  Erkennens  zum  vollständigen  Noumenon 
oder  Absoluten  ergänzt,  ausser  Existenz  und  Substantialität  auch 
transcendente  Kausalität  als  letzte  Ursache  der  SinnesafFektioü. 
Aber  während  Kant  ihm  ausserdem  noch  die  Ideen  als  wesent- 
lichen Inhalt  zuschreibt,  hält  Spencer  jede  philosophische  Be- 
stimmung des  Absoluten,  wenn  auch  nur  im  problematischen 
Sinne,  für  ausgeschlossen  und  überlässt  das  philosophisch  Un- 
erkennbare in  seinem  ganzen  Umfang  dem  religiösen  Glauben, 
gleich  Hamilton  und  Mansel  überzeugt,  damit  einen  sicheren  und 
dauernden  Frieden  zwischen  Religion  und  Wissenschaft  hergestellt 
zu  haben. 

Alle  wissenschaftlichen  Grundbegriffe,  wie  Raum,  Zeit,  Be-^ 
wegung,  Materie,  Kraft,  Empfindung,  Bewusstsein,  führen  zu 
Selbst  Widersprüchen,  sobald  sie  absolut  betrachtet  werden.  Sie 
gehören  alle  nur  der  Sphäre  der  subjektiven  Erscheinung  an  und 
repräsentieren  als  Symbole  Realitäten  jenseits  dieser  Sphäre,  die 
nicht  begriffen  werden  können.  Sie  alle  sind  deshalb  auf  das 
Absolute  unanwendbar,  d.  h.  Gott  kann  weder  bewusst  noch  per- 


Herbert  Spencer. 


487 


sönlich  gedacht  werden,  weil  beide  Begriffe  für  ihn  zu  eng  und 
zu  niedrig  sind.  Aber  nichts  hindert,  dass  es  eine  Daseinsform 
gebe»  die  ebenso  hoch  über  Bewusstsein  und  Persönlichkeit,  be- 
wusster  Intelligenz  und  Willen  steht,  wie  diese  über  mechanischer 
Bewegung.  Wenn  Gott  nicht  bewusst  und  persönlich  gedacht 
w^erden  kann,  so  hindert  doch  nichts,  ihn  überbewusst  und  über» 
persönlich  zu  denken,  weil  diese  Bestimmungen  in  dem  positiven 
X  Platz  haben. 

In  diesem  Sinne  wäre  Spencers  Standpunkt  allerdings  mit 
der  Religion  verträglich,  wenn  er  nur  seinem  genaueren  Lehr- 
gehalt nach  dazu  angethan  wäre,  auf  ein  überbewusstes  und  über- 
intelligentes Absolutes  hinzuweisen  oder  wenigstens  ein  solches 
nicht  unglaubhaft  erscheinen  zu  lassen.  Denn  da  das  Wesen  des 
Absoluten  durch  alle  Erscheinungen ,  die  äusseren  sowohl  als  die 
inneren,  wirkt  und  sich  in  ihnen  ofiFenbart,  so  müsste  auch  seine 
überbewusste  Intelligenz,  wenn  es  solche  besässe,  irgend  wie  in 
der  Erscheinung-swelt  zu  Tage  treten.  Wenn  aber  der  phänome- 
nale Weltprozess  nur  ein  mechanisches  Wellenspiel  und  einen 
blinden,  zwecklosen  Kreislauf  von  Zuständen  zeigt,  dann  muss 
doch  wohl  solche  überbewusste  Intelligenz  im  Absoluten  ausge- 
schlossen sein.  Dass  aber  der  Weltlauf  nach  Spencer  nur  Wellen- 
bewegung und  Kreislauf  ohne  Sinn  und  Ziel  ist,  wird  die  nähere 
Betrachtung  seiner  Lehre  zeigen.  — 

Spencer  will  die  Erscheinungswelt  aus  zwei  Gesetzen  er- 
klären, dem  der  Erhaltung  der  Kraft  und  dem  der  Entwickelung. 

Die  grundlegende  Erfahrung  ist  die  des  Widerstandes  gegen 
die  eigene  Thätigkeit;  das  ist  aber  die  Empfindung  der  Kraft, 
und  zwar  einer  doppelten  Kraft,  der  w*iderstrebenden  und  der 
eigenen,  der  des  Nichtich  und  der  des  Ich.  Materie  ist  ein  Begriff 
von  gleichzeitigen  Lagen»  die  Widerstand  leisten,  Bewegung  eine 
Aufeinanderfolge  verschiedener  solcher  Lagen.  Beide  sind  also 
Äusserungen  der  Kraft,  und  Raum  und  Zeit  sind  Formen  dieser 
Äusserungen.  Nur  die  Kraftempfindungen  bilden  einen  unzerleg- 
baren Bewusstseinsinhalt,  in  den  sich  alle  übrigen  Bewusstseins- 
inhalte  zerlegen  lassen.  Aber  sie  selbst  bilden  auch  nur  eine 
relative  (subjektiv  phänomenale)  Wirklichkeit  (Kants  »empirische 
Realitätc),  die  auf  eine  sie  verursachende  absolute  Wirklichkeit 
hinweist,  Das  bewusstseinstranscendente  Korrelat  dieser  empfun- 
denen Kraft    ist  die  absolut   beharrende  und  alles   verursachende 


488 


Herbert  Spencer. 


Substanz,  die  uns  durch  das  unbestimmte  Bewusstseinc 
wird.  Nur  auf  sie»  von  der  die  empfundene  Kraft  bloss  ein 
repräsentatives  Symbol  für  das  Bewusstsein  ist,  bezieht  sich  naih 
Spencer  das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft,  nicht  auf  die  wech- 
selnde Kraftempfindung,  Dieses  Gesetz  ist  das  einzige  Gesetz 
a  priori»  das  es  giebt 

Ofifenbar  ist  es  erschlossen  aus  dem  Grundsatz,  dass  die  Sub- 
stanz das  absolut  Beharrliche  ist,  als  Obersatz,  und  der  Behaup- 
tung, dass  die  absolute  Substanz  das  transcendente  Korrelat  der 
Kraftempfindung  ist,  als  Untersatz;  der  Obersatz  ist  selber  nichts 
als  die  Definition  der  Substanz,  und  diese  Kategorie  ist  wiederum 
eine  Äusserung  des  logischen,  d.  h.  logisch  bestimmten  Be- 
wusstseins,  aber  nicht,  wie  Spencer  meint,  die  eines  ausser! ogischen, 
unbestimmten  ßewusstseins.  Spencer  nennt  dasjenige  Kraft,  was 
nur  Empfindung  der  Kollision  zweier  Kraftäusserungen  ist.  Er 
verkennt,  dass  schon  die  beiden  Kraftäusserungen.  aus  deren 
Kollision  die  subjektive  Kraftempfind uog  entspringt,  bewusst- 
seinstranscendente  Realitäten  für  die  Erkenntnis  sind,  aber  noch 
zu  der  gegliederten  Bethätigimg  des  absoluten  Wesens  gehören. 
Er  übersieht  infolge  dessen  auch  das.  dass  der  Ausdruck  KrsA 
noch  verfügbar  ist,  um  die  metaphysisch  transcendente  Ursache 
der  erkenntnistheoretischen  Kraft äusserung  zu  bezeichnen.  Kraft- 
empfindung ist  freilich  bloss  ein  repräsentatives  Symbol  der  Kraft- 
äusserung;  aber  Kraftäusserung  ist  mehr  als  ein  Symbol,  nämlich 
unmittelbare  Bethätigung  und  Manifestation  der  Kraft,  und  Kraft 
ist  weder  repräsentatives  Symbol  noch  blosse  Bethätigung,  sondern 
letzter  Grund  aller  Kraftäusserun gen.  Wenn  das  transcendente 
Korrelat  der  subjektiven  Kraftempfindung  wirkliche  Kraftäusse- 
rungen  sind,  die  miteinander  reell  kollidieren,  dann  ist  auch  die 
Kraft  selbst  etwas  absolut  Wirkfiches,  nämlich  die  letzte  Ursache 
dieser  Kraftäusserungen.  Wenn  aber  die  Kraftempfindung  nur 
Symbol  von  etwas  ist,  was  mit  Kraft  gar  nichts  zu  thun  hat,  dann 
giebt  es  auch  keine  wirklichen  Kraftäusserun  gen  und  keine  wirk- 
liche Kollision  von  solchen,  dann  ist  die  phänomenale  Kraft- 
empfindung im  Bewusstsein  nicht  mehr  Symbol,  sondern  eine 
psychologisch  unvermeidliche  Illusion.  Denn  sie  erweckt  die  un- 
entrinnbare Täuschung,  als  ob  w^irkliche  Kraftäusserun  gen  vor» 
banden  wären,  die  doch  in  Wirklichkeit  nicht  vorhanden  sein 
sollen.    Spencer  begreift  wohl,  dass  das  Gesetz  der  Erhaltung  der 


Herbert  Spencer. 


48g 


Energie  sich  nicht  auf  die  subjektiven  Kraftempfindungen  bezieht; 
aber  er  begreift  nicht»  dass  es  sich  ebensowenig  auf  die  be- 
harrende metaphysische  Substanz,  auf  das  mit  sich  identisch 
bleibende  Kraftwesen  bezieht,  sondern  dass  es  lediglich  in  Bezug 
auf  die  Gesamtheit  seiner  Bethätigungen,  d.  h.  in  Bezug  auf  die 
Summe  der  Kraftäusserungen  einen  Sinn  hat  Er  verkennt»  dass 
das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft  ebenso  sinnlos  wird,  wie  das 
des  geringsten  Widerstandes,  wenn  die  Wirklichkeit  schlechthin 
unerkennbar  ist 

Spencer  schwankt  infolge  dessen  zwischen  einem  realistischen 

Dynamismus    und    einem    illusorischen    Phänomenalismus»      Seine 

Naturphilosophie  geberdet  sich,  als  ob  sie  das  erstere  wäre;  seine 

Lrkenntnistheorie  aber  zeigt  deutlich»  dass  sie  konsequenter  Weise 

^liur  das  letztere  sein  darf.  Die  Naturforscher  schätzen  Spencers 
Lehre»  weil  sie  sie  im  ersteren  Sinne,  die  Theologen  und  Frommen, 
weil  sie  sie  im  letzteren  Sinne  auslegen.  Beide  merken  nicht, 
dass  diese  beiden  Deutungen  einander  schlechthin  widersprechen. 
Denn  als  reaüstischer  Dynamismus  wäre  Spencers  Philosophie  ein 
mechanistischer  Naturalismus»  der  jede  reügiöse  Verehrung  des 
als  blinde  Natiirkraft  erkannten  Absoluten  ausschlösse.  Als 
illusorischer  Phänomenalismus  aber  müsste  sie  aufhören,  irgend 
welchen  Beitrag  zur  Erklärung  der  Naturvorgänge  zu  liefern; 
denn  für  die  alsdann  allein  übrig  bleibende  Kraft,  die  subjektive 
Kraftempftndung,  gilt  eingestandenermassen  das  Gesetz  der  Erhal- 
tung der  Kraft  nicht,  und  ein  Absolutes,  das  nicht  Kraft  ist,  kann 
auch  nicht  unter  einem  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft  stehen.  — 
Wie  das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft  für  Spencers  eigent- 
Hchen  Standpunkt  eine  unpassende  Bezeichnung  ist  und  durch  die 
blosse  Beharrung  der  unerkennbaren  Substanz  ersetzt  werden 
muss,  so  ist  auch  sein  anderes  Gesetz,  das  der  Entwickelung,  mit 
einem  irreleitenden  Namen  behaftet  Es  sollte  heissen:  das  Gesetz 
der  Verteilungsänderung  von  Materie  und  Bewegung*  Wie  das 
Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft  nach  Spencer  die  Beharrung  der 
unerkennbaren  Substanz  ausdrücken  soll,  so  soll  dieses  zweite 
Gesetz  die  Veränderungen  beherrschen,  denen  die  Erscheinung 
der    Substanz    unterworfen    ist      Die    Entwickelung   ist   also   bei 

^Spencer  nicht,  wie  bei  Darwin  und  Haeckel,  letztes  Resultat 
anderweitiger  Gesetze,  sondern  selbst  höchstes  und  letztes  Gesetz 
des  Geschehens. 


490 


Herbert  Spencer. 


Ent Wickelung  oder  Evolution  ist  bei  Spencer  zunächst  nur 
eine  Bezeichnung  des  Ganzen  nach  einem  Teil.  Jede  Evolutiool 
führt  zu  einem  labilen  Gleichgewichtszustande,  der  alsbald  in 
Devolution  oder  Dissolution  umschlägt,  so  dass  Evolution  und 
Dissolution  nur  die  aufsteigende  und  abfallende  Seite  einer  zu- 
sammengehörigen Wellenbewegung  darstellen.  Auch  geht  überall 
gleichzeitig  mit  einer  Evolution  an  dieser  Stelle  Dissolution  an 
einer  andern  Stelle  vor  sich,  und  w^enn  in  einem  grösseren  Gebiet 
(z.  B*  auf  der  Erde,  oder  in  unserm  Sonnensystem,  oder  unsrer 
Weltlinse)  zeitweilig  die  Evolution  überwiegt,  so  überwiegt  dafür 
gleichzeitig  in  anderen  Gebieten  (z,  B.  auf  anderen  Planeten,  Sonnen- 
systemen oder  Weltlinsen)  die  Dissolution.  Wenn  in  Bezug  auf 
Succession  die  zeitliche  Unendlichkeit  des  Weltprozesses  ein  unend- 
liches Wellenspiel  von  Evolutionsphasen  und  Dissolutionsphasen  mit 
sich  bringt,  so  sorgt  die  räumliche  Unendlichkeit  dafür,  dass  neben 
den  entstehenden  Welten  auch  sich  auflösende  existieren  und 
umgekehrt,  d,  h.  dass  der  rhythmische  Wechsel  derselben  Zu- 
stände, der  im  Einzelnen  Kreislauf  ist,  doch  für  das  unendliche 
Ganze  Stillstand  auf  demselben  Fleck  mit  blossem  Erzittern  der 
Teile  ist. 

Aber  auch  innerhalb  jeder  Phase  eines  Einzelvorganges  zeigt 
die  Evolution  ein  Doppelantlitz,  je  nachdem  man  den  Blick  auf 
die  Materie  oder  auf  die  Bewegung  richtet.  In  der  Evolution 
zeigt  sich  Ansammlung  (integration)  von  Materie  und  Zerstreuung 
(dissipation)  von  Bewegung,  in  der  Devolution  oder  Dissolution 
dagegen  Absorption  von  Bewegung  und  Disintegration  der  Materie* 
Mit  anderen  Worten:  was  für  die  Materie  Evolution,  Konzentration 
oder  Integration  ist,  das  ist  für  die  Bewegung  Dissipation  oder 
Dissolution,  und  was  für  die  Materie  Disintegration  oder  Disso- 
lution ist,  das  ist  für  die  Bewegung  Absorption.  Spencer  be- 
zeichnet die  Zusammenfassung  beider  Vorgänge  an  der  Materie 
und  an  der  Bewegung  einseitig  nach  dem,  was  der  Materie  dabei 
widerfährt,  aber  im  Gegensatz  zu  dem,  was  sich  mit  der  Bewegung 
dabei  ereignet  Einen  Grund  hierfür  giebt  er  nicht  an;  er  lässt 
sich  durch  die  Art  und  Weise  bestimmen,  wie  er  persönlich  zu 
seinem  Begriff  der  Ent Wickelung  gelangt  ist 

Von  Coleridge,  der  sieb  an  Schelling  gebildet  hat,  und  von 
dem  Physiologen  von  Baer  hatte  Spencer  anfänglich  eine  teleo- 
logische Betrachtungsw^eise  und  die  Erkenntnis  überkommen,  dass 


Herbert  Spencer. 


491 


das  Leben  eine  Tendenz  zur  Individualisierung  ist,  dass  die  Höhen- 
grade des  Lebens  der  fortschreitenden  Verwirklichung  dieser  Ten- 
denz entsprechen,  und  dass  die  Steigerung  der  Individualisierung 
sich  durch  zunehmende  Differenzierung  der  Teile  und  wachsende 
Abhängigkeit  derselben  von  einander  vollzieht.  Die  Schellingsche 
»Idee«  bei  Coloridge  und  die  »Zielstrebigkeit«  bei  von  Baer 
stimmen  darin  überein,  dass  sie  der  komplizierteren  Individuali- 
tätsstufe einen  höheren  Wert  verbürgen,  weil  sie  dem  Zweck  des 
Lebens  vollkommener  entspricht.  Die  Entwickelung  hat  hier  den 
Sinn  eines  Aufsteigens  vom  Niederen  zum  Höheren.  Das  Höhere 
steht  nur  darum  höher  als  das  Niedere,  weil  es  dem  Zweck  besser 
dient;  das  Zusammengesetzte.  Verwickelte»  Differenzierte,  Durch- 
gebildete, Konzentrierte  und  Centralisierte  steht  nur  darum  höher 
als  das  Einfache,  Gleichartige,  relativ  Unbestimmte  und  Zu- 
sammenhangslose, weil  es  zweckdienlicher  ist.  Der  Begriff  der 
Entwickelung  oder  des  Aufsteigens  vom  Niederen  zum  Höheren 
hängt  also  gleich  dem  des  Höheren  an  dem  Begriff  des  Zweckes, 
Wo  das  Einfache  dem  Zwecke  besser  entspricht,  wie  z.  B,  bei 
Lösung  mathematischer  Aufgaben  oder  bei  der  Aufstellung  natur- 
wissenschaftlicher Hypothesen,  da  liegt  die  Entwickelung  (der 
mathematischen  Fertigkeit  und  der  naturwissenschaftlichen  Er- 
kenntnis) in  dem  Fortschritt  vom  Komplizierten  zum  Einfachen. 
Nun  bemerkte  Spencer  den  Zusammenhang  dieser  Begriffe 
nicht,  sondern  glaubte  die  Teleologie  ausscheiden  und  doch  den 
Begriff  der  Entwickelung  festhalten  zu  können.  Er  hielt  die 
SusserEchen  Merkmale»  durch  welche  die  Entwickelung  in  der 
Astronomie,  Embryologie,  vergleichenden  Anatomie  und  Sozio- 
logie sich  bemerklich  machte,  auch  dann  noch  zur  Feststellung 
ihres  Vorhandenseins  für  ausreichend,  nachdem  er  die  Möglichkeit 
der  Entwickelung  durch  Leugnung  des  Zweckes  abgeschnitten 
hatte.  Ursprünglich  hatte  er  die  Differenzierung  als  Merkmal 
der  Entwickelung  betont;  später  stellte  er  die  Konzentration  oder 
Integration  voran  und  fügte  die  Determination  hinzu.  So  wird 
nun  der  Begriff  der  Entwickelung  aus  äusserlich  aufgelesenen 
Merkmalen  zusammengesetzt,  deren  keines  unmittelbar  mit  Ent- 
wickelung etwas  zu  thun  hat.  Dass  das  Wort  überhaupt  noch 
festgehalten  wurde,  war  nur  die  Folge  einer  unvermerkten  Ideen- 
assoziation mit  dem  früher  gehegten  Begriff  der  Entwickelung, 
dem  doch  der  Nerv  nunmehr  unterbunden  war. 


492 


Herbert  Spencer» 


Wenn  Spencer  das  Zusammenwehen  eines  Haufens  dürrer 
Blätter  durch  den  Wind  Entwickehing  nennt,  so  dürfen  wir  uns 
nicht  mehr  wundern,  dass  er  auch  dem  rhythmischen  Wellenspiel 
des  mechanischen  Weltprozesses  diesen  Namen  nicht  vorenthält 
Mit  dem  aber,  was  der  philosophische  Sprachgebrauch  in  Deutsch- 
land Entwickelung  nennt,  haben  diese  Dinge  nichts  zu  thun. 
Leider  wird  durch  das  missbräuchlich  beibehaltene  Wort  auch  bei 
den  Lesern  der  Spencerschen  Werke  immer  wieder  die  unwill- 
kürliche Erinnerung  an  die  bisher  übliche  Bedeutung  des  Wortes 
wachgerufen  und  dadurch  in  ihren  Köpfen  eine  schwer  zu  schlich- 
tende Verwirnrng  hervorgerufen.  Der  Schein  wird  vorgespiegelt, 
als  ob  Spencer  dem  Entwickeln ngsbegrifF,  wie  er  sich  von  Lessing 
und  Herder  bis  zu  Hegel  und  SchelHng  ausgebildet  hat,  eine  natur- 
philosophische Grundlage  gegeben  habe,  während  er  doch  das 
Wort  seines  einzigen  Inhalts  beraubt  hat.  Alles,  w^as  Spencer  im 
einzelnen  in  der  Biologie,  Psychologie  und  Soziologie  geleistet 
hat,  hat  er  im  Widerspruch  mit  seiner  Erkenntnistheorie  und 
Metaphysik  geleistet  Denn  es  wird  alles  thatsächlich  unwahr, 
sobald  man  es  auf  die  Sphäre  der  subjektiven  Erscheinung  zu 
beziehen  sucht,  und  spottet  des  Spencerschen  Agnostizismus,  wenn 
man  es  auf  die  Sphäre  der  bewusstseinstranscendenten  Wirklich- 
keit bezieht  Lässt  man  es  aber  zwischen  beiden  Sphären  balan- 
cieren, so  verbindet  es  die  thatsächliche  Unrichtigkeit  in  Bezug 
auf  die  erstere  mit  der  angeblichen  UnStatthaftigkeit  irgend  welcher 
Aussage  über  die  letztere.  Darauf  muss  zuletzt  aller  phänome* 
nalistische  Agnostizismus  hinauslaufen,  der  seinem  Princip  zum 
Trotz  wissenschaftliche  Erkenntnis  darzubieten  unternimmt  — 

Die  Entstehung  des  Bewusstseins  fasste  Spencer  in  seinen 
beiden  ersten  Hauptwerken  als  Übergang  der  Bewegung  in 
Empfindung  auf  und  subsumierte  diesen  Vorgang  ebenso  wie  die 
Umwandlung  von  Bewegung  in  Wärme  unter  das  Gesetz  der 
Erhaltung  der  Kraft.  Später  erkannte  er  an,  dass  die  Entstehung 
der  Empfindung  aus  der  Bewegung  nicht  zu  erklären  sei,  und 
dass  keine  dieser  beiden  phänomenalen  Äussern ngsformen  des 
unerkennbaren  Kraftwesens  auf  die  andere  zurückzuführen  sei. 
Da  beide  aber  gesetzmässig  an  einander  geknüpft  sind»  so  hält 
er  es  für  praktisch  unerheblich,  ob  man  die  eine  für  eine  Um- 
wandlung der  andern,  oder  ob  man  sie  für  koordinierte  irreduk- 
tible  Farallelerscheinungen  des  Unerkennbaren  ansieht. 


Herbert  Spencer. 


493 


Das  Bewusstsein  ist  nicht  bloss  eine  Summa  von  Empfin- 
dungen und  Vorstellungen;  vielmehr  muss  es  hinter  denselben 
etwas  Substantielles  geben,  das  sie  mit  einander  verknüpft  und 
die  Einheit  des  Bewusstseinsinhalts  und  -Umfangs  sicher  stellt 
Demnach  ist  die  Seelensubstanz  zwar  unentbehrlich,  aber  sie  ist 
unerkennbar,  das  Seelenleben  jedoch  ist  auf  doppeltem  Wege  zu 
erkennen,  durch  die  objektive  Psychologie  als  Reihe  von  Ent- 
wickelungsstufen,  die  mit  den  biologischen  Hand  in  Hand  gehen, 
und  durch  die  subjektive  Psychologie,  die  sich  auf  Selbstbeobach- 
tung stützt  Individuell  betrachtet,  hat  der  Empirismus  unrecht, 
weil  jede  Erfahrung  bereits  auf  einen  reichen  Schatz  ererbter 
Verknüpfungsformen  trifft;  auf  die  Gattung  bezogen  hat  er  recht, 
weil  alle  Verknüpfungsformen  sich  nur  durch  allmähliche  Häufung 
empirischer  Eindrücke  bilden.  Überall  ist  die  seelische  Funktion 
früher  als  die  Verknüpfungsformen  und  Organe,  die  sie  sich  an- 
bildet und  durch  Vererbung  überträgt;  die  Seelensubstanz  ist 
dann  wiederum  das  Prius  der  seelischen  Funktion, 

Demnach  muss  doch  in  der  Seelensubstanz  die  Fähigkeit 
liegen,  vermittelst  ihrer  reaktiven  Funktion  Eindrücke  aktiv  zu 
verknüpfen,  noch  ehe  eine  ererbte  organische  Anlage  zu  diesem 
Zwecke  vorhanden  ist,  da  es  sonst  nie  zu  einer  solchen  kommen 
würde.  Ebenso  muss  die  Seelensubstanz  auf  jeder  Stufe  der 
Organisation  fähig  sein,  die  Verknüpfungsformen  besser  zu  voll- 
ziehen, als  die  Anlage  sie  darbietet,  weil  es  sonst  wohl  zu  einer 
Verfestigung,  aber  nicht  zu  einer  Vervollkommnung  der  erblichen 
Anlage  kommen  könnte,  Mit  dieser  Erwägung  ist  aber  der 
phylogenetische  Empirismus  Spencers  verurteilt,  als  eine  An- 
nahme, die  der  Priorität  der  Funktion  vor  dem  Organ  widerspricht 
Nur  auf  dem  Boden  einer  rein  sensualistischen  Assoziations- 
psychologie kann  ein  phylogenetischer  Empirismus  aufrecht  er- 
halten werden;  sobald  man  diesen  Boden  verlässt  und  eine  aktive 
Thätigkeit  der  Seele  in  der  Apperzeption  und  Verknüpfung  der 
passiven  Eindrücke  zugesteht,  wird  der  Empirismus  in  seiner 
gattungsmässigen  Gestalt  ebenso  theoretisch  unhaltbar,  wie  in 
seiner  individuahstischen.  In  praktischer  Hinsicht  allerdings  macht 
es  einen  grossen  Unterschied,  ob  man  die  Bedeutung  der  ererbten 
Anlagen  anerkennt  oder  das  Individuum  für  eine  leere  Tafel 
hält,  die  erst  durch  die  Erfahrung  beschrieben  werden  soll  Der 
unhistorische  Intellektualismus  und  seichte  Aufklärungsrationalis- 


494 


F,  A.  l-ange. 


mus  der  letzteren  Ansicht  wird  durch  die  erstere  historisch 
vertieft  und  alle  Reform  best  rebun  gen  werden  auf  den  umständ- 
licheren aber  wirksameren  Umweg^  der  allmählichen  modifizieren- 
den Einwirkung  auf  die  ererbten  ^^nlagen  hingewiesen.  In  dieser 
Hinsicht  bedeutet  der  gattungsmässige  Empirismus  Spencers 
einen  grossen  Fortschritt  über  den  sensualistischen  Empirismus 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  hinaus,  der  unter  den  Gebildeten 
Frankreichs  und  Englands  bis  zu  Spencer  noch  immer  seine  Herr- 
schaft behauptet  hatte,  — 

F.  A.  Lange  (1828—1875)  hat  neben  dem  Streit  zwischen 
Trendelenburg  und  Kuno  Fischer  am  meisten  dazu  beigetragen, 
die  Kantsche  Erkenntnistheorie  für  eine  Zeitlang  in  den  Mittel- 
punkt des  philosophischen  Interesses  zu  rücken.  Vorbereitet  war 
diese  Wendung  dadurch,  dass  dieSchopenhauersche  Philosophie,  die 
so  nachdrücklich  auf  Kant  hinweist,  in  den  sechziger  Jahren  mehr 
in  Aufnahme  gekommen  war,  und  dass  Kuno  Fischer  in  seiner 
Geschichte  der  neueren  Philosophie  eine  zweibändige  Darstellung 
des  Kantschen  Systems  geboten  hatte.  Schopenhauer,  Fischer 
und  Lange  waren  gleichmässig  Anhänger  der  idealistischen  Grund- 
sätze der  Kantschen  Erkenntoistheorie;  so  kam  es,  dass  bei  der 
Erneuerung  der  Kantstudien  ebenso  wie  in  der  unmittelbaren 
Schule  Kants  zunächst  diese  idealistischen  Bestandteile  der 
Kantschen  Erkenntnistheorie  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zogen 
und  die  bei  Kant  vorhandene  realistische  Unterströmung  teils 
ignoriert,  teils  ausdrücklich  als  eine  sich  selbst  widersprecheDde 
Verirrung  Kants  ausgeschieden  wurde.  ^h 

Lange  schliesst  sich  auf  das  Engste  an  Schopenhauer  afl|^| 
verleugnet  aber  seine  Abkunft  und  stützt  sich  auf  Kant,  wie 
Schopenhauer  Schelling  verleugnet  und  sich  auf  Flaton  gestützt 
hatte.  Langes  ganze  Geschichte  des  Materialismus  ist  zu  dem 
Zweck  geschrieben,  um  die  Synthese  des  Materialismus  mit  dem 
subjektiven  oder  traoscen dentalen  Idealismus  als  die  wahre  Philo- 
sophie hinzustellen,  d.  k  einen  von  Schopenhauer  zuerst  vertretenen 
Gedanken  durch  geschichtlichen  Nachweis  und  zeitgemässe  Aus- 
führungen sicher  zu  stellen.  Nur  Schopenhauers  Lösung  d^ 
Problems,  für  die  das  Buch  geschrieben  ist,  findet  in  dieser  Ge- 
schichte des  Materialismus  keine  Erörterung.  Von  Schopenhauer 
übernimmt  er  ferner  den  objektiven  Idealismus,  den  er  unter  dem 
Einfluss  von  Schiller  und  Fichte   umbildet,   und  den  empirischen 


F.  A,  Lange. 


495 


Pessimismus ;  dagegen  verwirft  er  die  Willensmetaphysik  und  die 
transcen dentale  Freiheit,  weil  das  Ding  an  sich  sowohl  nach  der 
subjektiven  Seite  hin  wie  nach  der  objektiven  unerreichbar  sei 
und  eine  notwendige  Illusion  bleibe. 

Von  Kant  hält  Lange  eigentlich  nichts  weiter  fest,  als  den 
apriorischen  Ursprung  der  Anschauungs-  und  Denkformen,  den 
falschen  Schluss  von  diesem  auf  ihre  bloss  subjektive  Gültigkeit 
und  das  Noumenon  als  negativen  Grenzbegritf.  Dagegen  leugnet 
er  mit  Schopenhauer  die  transcendente  Kausalität  des  Dinges  an 
sich  und  nimmt  mit  Fichte  an,  dass  das  Ding  an  sich  bloss  eine 
Kategorie  unseres  Denkens  ist,  und  dass  das  Ich  nicht  bloss  die 
Formen  ♦  sondern  auch  den  Inhalt  seiner  Vorstellungen  ganz  aus 
sich  produziert.  Aber  während  Fichte  die  materielle  Natur  als 
ein  blosses  Produkt  unserer  geistigen  Organisation  spiritualistisch 
Verflüchtigt,  will  Lange  ebenso  wie  Schopenhauer  die  Fühlung 
mit  der  Naturwissenschaft  und  ihrer  mechanistisch-materialistischen 
Weltanschauung  nicht  verlieren,  also  unsere  geistige  Organisation 
als  ein  Produkt  materieller  Vorgänge  betrachten.  Dies  ist  nun 
zwar  bei  Schopenhauer  möglich,  insofern  die  konkreten  Willens- 
objektivationen»  die  uns  als  Materie  erscheinen,  die  geistige  Orga- 
nisation hervorgebracht  haben,  während  der  so  resultierende  Geist 
erst  die  Erscheinung  der  Materie  hervorbringt.  Bei  Lange  jedoch, 
der  jedes  transcen dent  wirkliche  Korrelat  der  subjektiv  idealen 
Erscheinung  der  Materie  leugnet,  wird  das  Verhältnis  sich  selbst 
widersprechend.  Denn  nun  soll  die  vom  Geist  hervorgebrachte 
Erscheinung  der  materiellen  Organisation  des  Gehirns  dasjenige 
sein,  was  die  geistige  Organisation  und  ihre  Bethätigung  erst 
hervorbringt,  durch  welche  sie  selbst  hervorgebracht  wird;  d.  h. 
die  Wirkung  soll  die  Ursache  ihrer  Ursache,  das  Posterius  das 
Prius  seines  Prius  sein. 

Bei  den  Identitätsphilosophen  (Spinoza,  Scheüing,  Fechner)  wird 
der  Zusammenhang  zwischen  der  materiellen  und  seelischen  Er- 
scheinung dadurch  hergestellt,  dass  eben  dasjenige,  was  das  Ding 
an  sich  der  äusseren  materiellen  Erscheinung  ist,  zugleich  auch 
das  Ding  an  sich  der  inneren  seelischen  Erscheinung  ist,  oder 
dass  phänomenaler  Stoff  und  Erscheinungsich  nur  zwei  koordinierte 
Erscheinungen  ein  und  desselben  positiven  Noumenons  sind. 
Bei  Lange,  wo  das  Ding  an  sich  im  Sinne  eines  positiven 
Noumenons    geleugnet    und    für    eine    allerdings    unentrinnbare 


496 


F.  A.  Lang^. 


Dlusion  erklärt  wird,  fehlt  jedes  Band  zwischen  der  stofflichen 
und  der  ichlichen  Erscheinung.  Insoweit,  als  die  Erfahrung  noch 
eine  gewisse  Koordination  zwischen  den  Vorgängen  auf  beiden 
Erscheinungsgebieten  vorführt,  ist  diese  Koordination  als  eine 
nackte  Thatsache  völlig  unbegreiflicher  und  paradoxer  Art  hinzu- 
nehmen, da  durch  die  Leugnung  des  Dinges  an  sich  jede  Möglich- 
keit abgeschnitten  ist»  sie  aus  einem  beiden  gemeinsamen  Hinter- 
grunde zu  erklären. 

Bei  Spencer  steht  im  Hintergrunde  beider  Erscheinungs- 
gebiete das  Unerkennbare  als  ein  positives  Noumenon,  das  beide 
durch  seine  transcendente  Kausalität  hervorbringt,  als  eine  wesen- 
hafte absolute  Realität,  die  in  dem  Schein  von  beiderlei  Art  sich 
auswirkt  und  phänomenal  manifestiert.  Davon  kann  bei  Lange 
keine  Rede  sein,  nicht  nur,  weil  das  Unerkennbare  für  ihn  ein 
bloss  negativer  Grenzbegriff  ist,  sondern  vor  allen  Dingen  schon 
darum  nicht,  weil  die  Kausalität  nach  den  Grundsätzen  des  trans- 
cen dentalen  Idealismus  nur  bewusstseinsimmanente  Gültigkeit 
haben  soll.  Wäre  selbst  das  Unerkennbare  an  sich  etwas  Posi- 
tives, absolut  Reales,  so  könnte  es  doch  den  Schein  in  meinem 
Bewusstsain  nicht  beeinflussen,  weil  dazu  transcendente  Kausalität 
gehörte;  folglich  kann  es  auch  zur  Erklärung  dieses  Scheins 
nichts  beitragen.  Wenn  der  Anatom  mein  Gehirn  als  stoffliche 
Erscheinung  anschaut,  dessen  Bewegungen  ich  als  meine  Empfin- 
dungen spüre,  so  begreift  sich  das,  falls  ein  Ding  an  sich  vor- 
handen ist,  das  von  aussen  gesehen  dem  Anatomen  als  Nennen- 
masse*  von  innen  gesehen  sich  selbst  als  Empfindung  erscheint 
Wenn  aber  ein  solches  Ding  an  sich  nicht  existiert^  so  ist  schwer 
zu  verstehen,  was  die  Vorstellung  des  Anatomen  von  mein^ 
Gehirn  noch  mit  meinen  Empfindungen  zu  schaffen  haben  könnte 

Ferner  weiss  Spencer  ganz  genau,  dass  das  Gesetz  der  Er- 
haltung der  Kraft  in  Bezug  auf  den  bewusstseinsimmanenten 
Schein  als  solchen  nicht  gilt,  sondern  nur  in  Bezug  auf  eine 
bewusstseinstranscendente  Realität,  die  uns  allerdings  nur  nach 
ihrer  Existenz,  nicht  nach  ihrer  Beschaffenheit  erkennbar  sein  soll. 
Für  Lange  hingegen,  welcher  jede  bewusstseinstranscendente 
Realität  leugnet,  bleibt  gar  nichts  übrig,  als  das  Gesetz  der  Er- 
haltung der  Kraft  als  für  den  bevvussteinsimmanenten  Schein 
gültig  zu  behaupten,  wenn  er  es  nicht  ganz  leugnen  will.  Mit 
dieser  Behauptung  setzt  er  sich  aber  offenbar  mit  dem  Thatbestand 


Ft  A.  Lvsge. 


497 


in  Widerspruch,  da  im  Bewusstseinsinhalt  Kraftempfindüng-en  auf- 
tauchen und  wieder  verschwinden,  ohne  dass  von  einer  zeidichen 
Konstanz  ihrer  Gesamtenergie  irgendwie  die  Rede  sein  könnte,  — 

Lange  \vi\\  vor  allen  Dingen  sich  mit  der  modernen  Natur- 
wissenschaft gut  stellen;  ihre  mechanistische  Weltanschauung  soll 
die  einzige  Erkenntnis  sein,  die  nach  Zerstörung  der  Metaphysik 
und  Philosophie  noch  übrig  bleibt,  und  ihre  materialistische  Welt- 
anschauung soll  wenigstens  von  allen  mögUchen  dogmatischen 
Standpunkten  der  relativ  wahrste  sein,  w^enn  er  auch  ins  Subjek- 
tive, Phänomenale,  Bewusstseinsimmanente  umgedeutet  werden 
muss,  um  zur  Wahrheit  im  wissenschaftlichen  Sinne  zu  werden. 
Das  klingt  ja  nun  sehr  verlockend  und  sehr  schmeichelhaft  für 
die  Naturforscher,  und  manche  sind  diesem  Lockruf  gefolgt  und 
haben  sich  wunder  wie  wissenschaftlich  dabei  gedünkt  In  der 
That  aber  ist  es  doch  nur  der  den  Naturforschern  im  Blute 
sitzende  naive  Realismus  gewesen,  dessen  unüberwundene  Reste 
ihnen  den  Langeschen  Agnostizismus  als  einen  für  die  Natur- 
wissenschaft möglichen  Standpunkt  haben  erscheinen  lassen. 

Wie  Lange  eine  »Psychologie  ohne  Seelet  lehrt,  so  auch  eine 
Naturwissenschaft  ohne  reale  Materie.  Wie  die  inneren  Erschei- 
nungen des  Seelenlebens  vor  dem  Bewusstsein  dahin  fliessen,  ohne 
dass  dieser  Einheit  von  Bewusstseinsform  und  Bewusstseinsinhalt 
eine  Seele,  ein  vorbewusstes  transcendentes  Subjekt,  zu  Grunde 
läge,  so  auch  ziehen  die  äusseren,  stofflichen  Erscheinungen  vor 
dem  Bewusstsein  dahin,  ohne  dass  ihnen  eine  Materie,  eine  be- 
wusstseinstranscendente  materielle  Wirklichkeit,  sei  es  stoflflicher, 
sei  es  unstofflicher  Art,  zu  Grunde  läge.  Wenn  der  Naturforscher 
von  den  Schallschwingungen  der  Luft  oder  den  Lichtschwingungen 
des  Äthers  redet,  so  meint  er,  dass  ein  bewusstseinstranscendentes 
Etwas  wirklich,  d.  h.  jenseits  unseres  ßewusstseios,  viele  tausend 
oder  viele  Billionen  Schwingungen  in  der  Sekunde  vollziehe  und 
dadurch  unsere  Sinne  so  affiziere,  dass  die  gleichmässige  Qualität 
der  Schall-  oder  Lichterapfindung  in  unserem  Bewusstsein  entsteht. 
Nach  Lange  aber  existiert  kein  solches  schwingendes  Etwas 
ausserhalb  des  Bewusstseins,  das  uns  affizieren  könnte;  die  natur- 
wissenschaftliche Erklärung  muss  also  entweder  bedeuten,  dass 
^nser  abstrakter  Gedanke  von  so*  und  soviel  Luft  oder  Ather- 
iwingangen  die  Ursache  von  Schall-  und  Lichtempfindung 
aei,   welche  ihm  lange  vorhergeht,    oder  sie  muss  zugeben,   dass 


£.  V.  U a r  t m &n o ,  Auagcw«  Werke.    Bd.  XU. 


3^ 


498 


F.  A.  Lange. 


sie  niusionen,  die  auf  dem  Boden  des  naiven  Realismus  erwachsen 
sind,  auf  den  des  transcendentalen  Idealismus  sinnwidrig  üb^- 
trägt   und   als   durchschaute  Illusionen  zu  konservieren    fortfährt 

Das   Gleiche    ^It    für   die    naturwissenschaftliche    Lehre    von 
Molekülen    und    Atomen,    die    zugestandenermassen    durch    ihre 
Kleinheit  jeder  Wahrnehmung  entrückt  sind.      Die  Naturwissen- 
schaft   operiert    mit    solchen    abstrakten    Gedanken gebilden    nur 
darum,    weil   sie    annimmt,    dass  ihnen  jenseits  d^iS  Bewusstseins 
etwas  Reales  entspreche,  das  zu  Gruppen  vereint    imstande  sei, 
uns  kausal  zu  affizieren.      Beides  wird  von  Lange  für  unmöglich 
erklärt.     Entweder  müssen  dann  die  abstrakten  Gedankengebilde 
von  Molekülen  und  Atomen,  die  im  Kopfe  des  Physikers  herum- 
spuken,  die  Fähigkeit  haben,  in  allen  Menschen,  auch  denen»  die 
nicht  Physiker  sind,  die  sinnlichen  Wahrnehmungen  hervorzurufen, 
oder  sie  sind  überhaupt  zu  jeder  Erklärung  untauglich.    Entweder 
ist  die  stoffliche  Welt  in  meinem  Bewusstsein  aus  Atom  begriffen 
meines  Bewusstseins  aufgebaut,  oder  sie  hat  überhaupt  nichts  mit 
Atomen   zu   thun.      Entweder  haften   die  Naturkräfte  meiner  Er- 
scheinungswelt an  meinen  Atombegriffen  als  ihren  Träg'ern,  oder 
sie  haften  überhaupt  nicht  an  Atomen,  und  die  ganze  naturwissen- 
schaftliche Atomtheorie  ist  eine  reine  Absurdität 

Es  ist  klar,  dass  der  Agnostizismus  jede  Möglichkeit  natur- 
wissenschaftlicher Erkenntnis  genau  ebenso  aufhebt,  wie  diejenige 
metaphysischer,  und  dass  er  nur  durch  offenbare  Inkonsequenzeo 
gegen  sein  Princip  den  Schein  des  Gegenteils  vorzuspiegeln  ver- 
mag. Überall  verwickelt  er  sich  in  Widersprüche.  Dies  erkennt 
auch  Lange  bereitwillig  an,  und  lobt  Kant,  dass  er  einen  kleinen 
Teil  dieser  Widersprüche  in  seinen  Antinomien  zum  Ausdruck 
gebracht  hat.  Er  tadelt  nur  das  an  Kant,  dass  er  geglaubt 
hat,  diese  an  sich  unlösbaren  Widersprüche  durch  sein  positives 
Noumenon  lösen  zu  können.  Wissenschaftlich  ist  nur  eine  nega- 
tive Synthese,  die  beide  Seiten  des  Widerspruchs  ablehnt,  A  h. 
das  »Weder  —  noch.;  jede  positive  Entfaltung  des  synthetischen 
Triebes  führt  nicht  mehr  zu  wissenschaftlicher  Erkenntnis,  sondern 
zur  ästhetischen   Befriedigung  durch   philosophische   Dichtung.  — 

Unsere  geistige  Organisation  ist  nun  einmal  widerspruchs- 
voll eingerichtet,  deshalb  können  wir  gar  nicht  anders,  als 
uns  in  Widersprüchen  bewegen.  Das  Erkennen  wollen  auf- 
geben, weil  wir  es  als  unmöglich  erkannt  haben,  das  wäre  uader- 


F.  A,  Lauge. 


499 


spruchslos  gehandelt.  Wir  müssen  aber  widerspruchsvoll  handeln, 
d.  h.  weiter  nach  Erkenntnis  streben,  obwohl  wir  sie  als  unmög- 
lieh  erkannt  haben,  und  fortfahren,  uns  philosophische  Systeme 
zu  erdichten,  obwohl  wir  sie  als  Fiktionen  durchschaut  haben. 
Der  Widerspruch  zwischen  dem  Agnostizismus  des  Kopfes  und 
dem  philosophischen  Dichtungsbedürfnis  des  Herzens  gehört  eben 
auch  zu  unserer  geistigen  Organisation. 

Ein  ähnlicher  Widerspruch  besteht  bei  Lange  zwischen  dem 
empirischen  Pessimismus  und  dem  idealistischen  Optimismus,  Den 
Gegensatz  beider  hatte  Lange  bei  Kant  und  Fichte  vorgefunden, 
aber    er    steigert    ihn    zum    Widerspruch.      Den    metaphysischen 

'Pessimismus  Schopenhauers  verwirft  er  natürlich,  weil  er  ins 
unerkennbare  Gebiet  hinübergreift»  aber  an  seine  Stelle  setzt  er 
die  widerspruchsvolle  geistige  Organisation  des  Menschen,  die 
einen  erkenntnistheoretischen  Pessimismus  begründet.  Trotz  alle- 
dem soll  der  idealistische  Optimismus  des  Herzens  sich  behaupten, 
obwohl  doch  eigentlich  auf  Langes  Standpunkt  nichts  anderes 
wirklich  ist  als  die  Erfahrung,  und  für  diese  der  Pessimismus  gilt 
Dass  Lange  seine  Leugnung  des  Bewusstseinstranscendenten 
1er  Dinges  an  sich  im  Sinne  eines  positiven  Noumenons  konse- 

"quent  durchgeführt  hätte,  kann  man  nicht  sagen.   Schon  die  wider- 
spruchsvolle  geistige  Organisation,   die  als  vorbewusster    Grund 
le  bewussten  Geistesbethätigungen   bestimmt,  steht  dem  imma- 

'tienten  Bewusstseinsinhalt  durchaus  als  ein  transcendentes  Ding 
an  sich  und  als  eine  transcendente  Ursache  gegenüber.  Noch  mehr 
aber  ist  dies  mit  den  übrigen  Menschen  der  Fall  Denn  indem 
Lange  einen  generellen  Schein,  eine  Erscheinung  für  die  Gattung, 
und  die  Wirklichkeit  des  Fortschritts  in  der  Gattung  gelten  lässt, 
erkennt  er  die  Wirklichkeit  der  Gattung,  d.  h.  die  wirkliche 
Existenz  anderer  Bevvusstseine  ausserhalb  des  meinigen  an,  die 
doch  für  mein  Bewusstsein  nichts  anderes  sind,  als  bewusstseins- 
transcendente  Dinge    an   sich   und    positive   Noumena,    Wie   ich 

^von  ihrer  Existenz  etwas  erfahren  soll  ohne  transcendente  Kausa- 
lität derselben  auf  mich,  und  wie  diese  KausaUtät  vermittelt  sein 
soll,  wenn  nicht  durch  materielle  Dinge  an  sich»  dafür  bleibt 
Lange  die  Erklärung  schuldig. 

Da  alle  Philosophien  nur  Dichtungen  der  Phantasie  sind,  und 
jeder  nur  das  dichten  wird,  was  ihm  am  besten  gefällt,  so  muss 
der  subjektive  Wert   aller  gleichgesetzt  werden.     Ihr  objektiver 

31  • 


50O 


Der  Neukantianismus  und  seine  Richtungen. 


^ 


Wert  kann  nur  noch  nach  ethischen,  nicht  mehr  nadi  wissen- 
schaftlichen Massstäben  bemessen  werden,  audi  nicht  einmal  nach 
Wahrscheinlichkeit.  Nach  Lange  ruht  alle  Religion  und  Sittlich- 
keit auf  dem  widerspruchsvollen  Triebe  des  Menschenherzens, 
transcendente  philosophische  Systeme  zu  erdichten,  trotzdem  die 
agnostische  Erkenntnistheorie  sie  als  Fiktionen,  Illusionen,  Selbst- 
täuschungen entlarvt  hat,  D»  h.  nach  Lange  beruht  Religion  und 
Sittlichkeit  auf  der  wissentlichen  Fortsetzung  einer  bewusst- 
gewordenen  Selbsttäuschung,  auf  der  willigen  Hingebung  an  das 
als  vmwahr  und  illusorisch  Gewusste,  Ob  dieses  Fundament  der 
Rehgion  und  Sittlidikeit  besonders  haltbar  und  tragfähig  ist,  darf 
billig  bezweifelt  werden;  wenn  die  Fortsetzung  des  durchschauten 
Selbstbetrugs  auf  die  Dauer  möglich  wäre,  so  wäre  sie  doch 
schwerlich  noch  sittlich.  Nach  sittlichem  Massstab  bemessen  muss 
der  objektive  Wert  der  Langeschen  Philosophie  deshalb  geringer 
scheinen  als  der  jeder  anderen,  die  den  Glauben  an  ihre  eigene 
Wahrheit  als  möglich  bestehen  lässt 

Die  Philosophie  als  Dichtung  war  noch  ein  Rest  des  alten 
Sauerteigs,  den  Lange  nicht  ganz  mit  seinem  Agnostizismus  hatte 
verdauen  können*  Es  musste  die  nächste  Aufgabe  sein,  seinen 
Agnostizismus  von  diesem  illusorischen  objektiven  Idealismus  zu 
reinigen.  Von  dieser  Inkonsequenz  abgesehen,  durfte  man  sagen, 
dass  Lange  den  Agnostizismus  in  seinem  Princip  strenger  erfasst  und 
mit  besserer  Einsicht  in  seine  Konsequenzen  durchgeführt  hatte,  als 
irgend  ein  früherer  Phüosoph.  Eine  solche  Leistung  ist  aber  immer 
verdienstlich,  wenn  sie  auch  nur  den  negativen  Gewinn  bieten 
sollte,  einen  Irrweg  deutlich  als  Irrweg  erkennen  zu  lassen,  indem 
sie  ihn  durch  seine  Konsequenzen  ad  absurdum  führt.  Zunächst 
aber  fehlte  noch  viel  daran,  dass  Langes  Leistung  als  die  reductio 
ad  absurdum  des  Agnostizismus  begriffen  worden  wäre.*)  — 

Lange  machte  vielmehr  Schule.  Der  Neukantianismus  wurde 
in  den  siebenziger  und  achtziger  Jahren  in  der  Universitätsphilo- 
sophie  tonangebend.  Die  ganze  Philosophie  schrumpfte  zeitweilig 
auf  Erkenntnistheorie  zusammen.  Der  Rückgang  auf  Kant  wurde 
das  Feldgeschrei,  unter  dem  alles  fechten  wollte,  und  zwar  war 


*)  Vgl.  > Neukantianismus,  Schopenhauerianismus  «od  llegelUaismas««  S.  t — 5, 
17 — 22,  45—118;  >Phil.  des  Unbewusstcn* ,  10.  Aufl.,  Bd.  1,  S.  441 — 444,  Bd.  H, 
S.  476 — ^478»  Bd*  in,  S.  4<>5 — 466;  »Kritische  Grundlegung  des  ttmnsccndentälefi 
Realisraus*,  3.  Aufl,,  S,  81 — 84. 


Der  Neukantiaiiisiniis  und  seine  RicbtungeD. 


501 


es  fast  ausschliesslich  die  Kantsche  Erkenntnistheorie»  an  die  man 
dabei  dachte.  Lange  selbst  hatte  auf  dem  Boden  des  transcen- 
dentalen  Idealismus  den  Kantschen  Apriorismus  mit  dem  sensua- 
listischen  Empirismus  Humes  zu  verschmelzen  gesucht,  aber  den 
transcendentalen  Realismus,  der  bei  Kant  die  massgebende  Unter- 
strömung bildet,  bei  Seite  geschoben.  Auch  die  übrigen  Neu- 
kantianer stellten  sich  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  auf  den 
Boden  des  transcendentalen  Idealismus  und  verwarfen  das  Ding 
an  sich  gänzlich,  gingen  aber  in  rationalistische  Aprioristen  und 
sensualistische  Empiristen  auseinander,  und  diese  letzteren  wieder 
in  solche,  die  den  Phänomen alismus,  und  solche,  die  den  Empiris- 
mus betonten. 

Auf  dem  Standpunkt  des  rationalistischen  Apriorismus  stehen 
u.  a.  Cohen.  A.  Krause,  der  Kants  Dreigliederung  der  Kategorien 
in  eine  Viergliederung  umgeändert  und  nach  diesem  Schema  end- 
lose Tabellen  ausgesponnen  hat»  Lasswitz  und  die  Theologen 
Ritschi  und  Lipsius.  Sie  entsprechen  etwa  Beck  und  Maimon  in 
der  unmittelbaren  Kantschen  Schule.  Einen  Neufichtianismus 
vertreten  Bergmann,  Schuppe»  Rehmke,  Schellwien,  während 
Eucken  ähnlich  wie  sein  Amtsvorgänger  Fortlage  ausser  zu  Fichte 
einerseits  zu  Pia  ton  und  andererseits  zu  den  Theisten  hinneigt 

Auf  dem  Boden  eines  neuhum istischen  Phänomenalismus  steht 
eine  Gruppe  von  Autoren,  die  ihren  Standpunkt  als  yerkenntnis- 
theoretischen  Monismus«  oder  als  >immanente  Philosophie'?  be- 
zdchneo,  von  Schubert  -  Soldern ,  Leclair,  Mach.  Gegen  die 
Bezeichnung  :>immanente  Philosophie*  ist  nichts  einzuwenden, 
sofern  das  »immanent*  nicht  über  die  Bedeutung  »bewusstseins- 
immanentf  oder  *erkenntnistheoretiscli  immanent«  ausgedehnt 
wird,  also  die  Erkennbarkeit  alles  Bewusstseinstranscendenten 
schlechthin  geleugnet  wird.  Auch  ^^ erkenntnistheoretischer  Monis- 
mus€  ist  ein  solcher  Phänomenalismus  nur  so  lange,  als  er  strenger 
Solipsismus  oder  absoluter  Illusionismus  bleibt,  nicht  jedoch, 
wenn  eine  Mehrheit  von  Bewusstseinen  angenommen  wird.  Denn 
für  jedes  dieser  Bewusstseine  tritt  dann  sofort  wieder  der  Dualis- 
mus ein  zwischen  seiner  Vorstellung  von  der  Gesamtlieit  der 
übrigen  Bewusstseine  und  dieser  wirklich  existierenden  Gesamt- 
heit selbst;  d,  h.  für  jedes  Bewusstsein  sind  alle  übrigen  existieren- 
den Bewusstseine  »erkenntnistheoretisch  transcendentc  oder  > Dinge 
an   sich«.      Die    ganze  Darstellungskunst    dieser  Autoren   richtet 


502 


Der  Übergang  zuni  tnmscendentiJen  Realismus. 


sich  darauf,  diesen  Punkt  zu  umgehen,  zu  verschleiern,  oder  zu 
vertuschen,  mit  dessen  deutlichem  Hervortreten  ihr  Standpunkt 
auch  gerichtet  ist. 

Den  Empirismus  trägt  eine  andere  Gruppe  in  Kant  hinein, 
die  sich  an  den  französischen  Positivismus  und  den  agnostischen 
englischen  Empirismus  anlehnt,  auch  wohl  auf  die  sensualistische 
Periode  Feuerbachs  zurückgreift,  nämlich  Laas,  Avenarius,  RJehl 
und  Jodl.  Laas  nennt  seinen  Standpunkt  »Positivismus«  und 
bekämpft  lebhaft  den  Platonischen  Idealismus  in  jeder  Gestak; 
er  teilt  mit  Lange  nur  den  sensualisierten  und  phänomenali&ierten 
Materialismus,  verwirft  aber  seine  »Philosophie  als  Dichtung« 
und  schliesst  sich  noch  enger  als  Lange  an  den  Agnostizismus 
von  liume  und  Mill  an.  Zugleich  machen  sich  aber  auch  bei  ihm 
schon  Anfänge  eines  transcen dentalen  Realismus  geltend;  denn 
er  neigt  zur  Annahme  von  dynamisch  auf  einander  wirkenden 
realen  Substanzen  und  eines  wirklichen  Geschehens  in  einer  trans- 
cendenten  Zeit  hin,  Riehl.  Avenarius  und  Jodl  dagegen  beschrän- 
ken sich  ganz  auf  den  phänomenalisierten  Materialismus  und  be- 
trachten die  Metaphysik  nur  als  kritische  oder  negative  Disziplin.  — 

Einen  Übergang  lu  den  Vertretern  des  transcendentalen 
Realismus  bilden  neben  Laas  auch  Erhardt,  Liebmann  und  Diltliey. 
Erhardt  hält  zwar  an  der  transcendentalen  Idealität  der  Zeit  fest, 
behauptet  aber  trotzdena  die  transceodentale  Realität  der  Kau- 
salität Liebmann  giebt  zu,  dass  die  Ordnung  und  Aufeinander- 
folge der  Walirnehmungen  im  Bewusstsein  der  Ordnung  und  Auf- 
einanderfolge des  wirklichen  Geschehens  ausserhalb  des  Bewusst- 
seins  entsprechen  müsse,  und  räumt  die  Möglichkeit  einer  auf 
hypothetische  Erörterungen  beschränkten  Metaphysik  ein.  Dilthey 
erkennt  in  den  Wahrnehmungen  ein  System  von  Zeichen  für  die 
vom  Selbst  unabhängigen  Dinge  (an  sich),  welche  durch  Wider- 
stand und  Druck  auf  uns  einwirken.  Als  transcendentale  Realisten 
im  eigentlichen  Sinne  sind  zu  nennen  Ueberweg,  Volkelt,  Baumann 
und  die  Theisten  Carriere,  Otto  Pfleiderer  und  A.  Dorner  jr.,  die 
eben  deshalb  aber  sämtlich  nicht  unter  Agnostizismus  gehören; 
Bahnsen,  Mainländer,  Hamerling,  Hellen bach  und  du  Prel  werden 
wir  noch  weiterhin  als  transcendentale  Realisten  kennen  lernen* 

Das  Auftauchen  des  Neukantianismus  hat  das  Verdienst  ge- 
habt, eine  so  eingehende  Erörterung  der  erkenntnistheoretischen 
Probleme  herbeizuführen,  wie  sie  noch  in  keiner  früheren  Periode 


Der  Übergang  zum  transcendentaleQ  Realismus. 


503 


Stattgefunden  hatte*  In  geschichtlicher  Hinsicht  hat  diese  Er- 
örterung klargestellt,  dass  die  theoretische  Philosophie  Kants  aus 
verschiedenen,  disparaten  Bestandteilen  zusammengesetzt  ist,  dass 
es  weder  Kant  noch  irgend  jemand  anders  bisher  gelungen  ist, 
diese  Bestandteile  zu  einer  widerspruchslosen  Einheit  zu  ver- 
schmelzen, und  dass  alle,  die  an  Kant  angeknüpft  haben»  nur  einen 
oder  den  andern  dieser  Bestandteile  herausgegriffen  und  die  ihm 
widersprechenden  beiseite  gelassen  haben.  In  sachlicher  Hinsicht 
hat  sie  für  jeden  Unbefangenen  einleuchtend  gemacht,  dass  der 
sensualistische  Phänomenalismus  Humes  und  Mills  und  der  ratio* 
nalistische  transcendentale  Idealismus  Kants  und  seiner  Nachfolger 
in  ganz  gleicher  Weise  durch  ihre  Konsequenzen  zum  Solipsismus 
und  (nach  Beseitigung  auch  des  realen  Ich)  zum  absoluten  Illusionis- 
mus fülu'en,  und  dass  nur  der  transcendentale  Realismus  vor  diesen 
Konsequenzen  schützen  kann,  durch  welche  nicht  bloss  die  meta- 
physische, sondern  überhaupt  jede  Erkenntnis  aufgehoben  wird. 
Diesen  transcendentalen  Realismus  hatte  bereits  der  realistische 
Flügel  der  Leibnizschen  Schule,  z.  B.  Knutzen  und  mit  ihm  sein 
Schüler  Kant  bis  zu  seinem  späteren  Mannesalter  ins  Auge  ge- 
fasst,  aber  rationalistisch  deduktiv  behandeln  wollen  und  dadurch 
getötet.  Von  sensualistischem  Ausgangspunkt  aus  war  Ampere 
auf  den  transcendentalen  Realismus  als  den  allein  den  Natur- 
wissenschaften entsprechenden  erkenntnistheoretischen  Standpunkt 
gekommen,  auch  hatte  er  ihn  als  Physiker  induktiv  verwertet; 
aber  seine  Kraft  und  philosophische  Bildung  hatten  nicht  aus^ 
gereicht,  ihn  systematisch  durchzuführen  und  die  entgegenstehen- 
den Einwendungen  erschöpfend  zu  widerlegen.  Da  auch  Schleier- 
macher, Trendeienburg  und  Schelling  in  seiner  Berliner  Zeit  den 
Standpunkt  des  transcendentalen  Realismus  nur  angedeutet,  aber 
nicht  systematisch  durchgeführt  hatten,  so  blieb  seine  genauere 
Begründung,  Durcharbeitung  und  Verteidigung  dem  letzten 
Drittel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  vorbehalten. 

Wenn  nun  der  transcendentale  Realismus  als  der  einzig  und 
allein  übrig  bleibende  erkenntnistheoretische  Standpunkt  ergriffen 
wird,  so  ist  damit  zwar  jede  Möglichkeit  einer  apodiktisch  gewissen 
Erkenntnis  und  irgend  welcher  Erkenntnis  a  priori  beseitigt,  aber 
ebenso  auch  der  Agnostizismus,  Es  ist  der  Weg  eröffnet  zur 
Erlangung  einer  nicht  bloss  problematischen,  sondern  mehr  oder 
minder  wahrscheinlichen    naturwissenschaftlichen    und  metaphysi- 


504 


Der 


in  der  Natuiwi&senschafL 


sehen  Erkenntnis  unter  Benutzung  der  von  Kant  und  seinen 
Nachfolgern  verschmähten  induktiven  Methode,  welche  die  Eng- 
länder zwar  ausgebildet,  aber  nicht  auf  das  Wirkliche  anzuwenden 
gewagt  hatten»  Während  der  Agnostizismus,  wenn  er  sich  selbst 
nicht  untreu  wird,  niemals  etwas  anderes  als  Atheismus  sein  kann, 
bleibt  die  Frage  offen,  zu  welcher  Art  von  Metaphysik  die  traos- 
cendental  realistische  Induktion  führen  werde.   — 

Die  Naturwissenschaft  war  sich  zunächst  noch  viel  zu  unklar 
über  die  ihr  zu  Grninde  liegende  Erkenntnistheorie,  um  diesen  Weg 
schon  jetzt  einzuschlagen.  Während  die  Masse  der  Naturforscher 
in  dem  Vorurteil  befangen  blieb,  dass  materialistische  und  natur- 
wissenschaftliche Weltanschauung  sich  deckten,  und  die  wenigen 
anders  Denkenden  ihre  dann  meist  kirchlich  gefärbte  Ansicht  für 
sich  behielten,  traten  einige  tonangebende  Führer  der  Naturwissen- 
schaft mit  einer  Absage  an  den  Materia]ismus  hervor.  Helmholiz, 
der  anfangs,  wie  die  meisten  Naturforscher,  naiver  Realist  gewesen 
war,  wandte  sich  infolge  seiner  sinnesphysiologischen  Unter- 
suchungen von  diesem  Standpunkt  ab  und  geriet  je  länger  je 
mehr,  in  das  Fahrwasser  des  Neukantianismus,  den  er  für  die 
echte  Lehre  Kants  hielt  Dubois-Reymond  dagegen  bekannte 
sich  ausdrücklich  zum  Agnostizismus  als  einem  endgültigen,  für 
die  Menschen  unüberwindlichen  Standpunkt:  ignoramus  et  ignorabi- 
mus.  Er  hatte  damit  insoweit  völlig  recht,  dass  die  mechanisti- 
sche Erklärungs weise  der  Naturwissenschaften  für  immer  unfähig 
bleiben  muss,  über  das  Bereich  der  materiellen  Zusammenhänge 
hinauszuführen  und  in  die  Erkenntnis  des  Geistigen  einzudringen. 
Unrecht  hatte  er  nur  darin,  dass  er  daran  festhielt,  die  naturwissen- 
schaftliche Erklärungsweise  als  die  höchste,  letzte  und  einzige  dem 
Menschen  offenstehende  Erkenntnis  anzusehen.  Er  hatte  darin 
recht,  dass  mechanistische  und  naturwissenschaftliche  Erkenntnis 
sich  decken,  aber  darin  unrecht,  dass  naturwissenschaftliche  Er- 
kenntnis und  wissenschaftliche  Erkenntnis  überhaupt  sich  decken. 
Aus  jener  richtigen  und  dieser  falschen  Voraussetzung  musste  er 
formell  folgerichtig  zu  dem  falschen  Schluss  gelangen,  dass  jen- 
seits der  Grenzen  der  mechanistischen  Erklärungsweise  der 
Agnostizismus  sein  Reich  habe.*) 


*)  Vgl   »Ges   Stud.  II.  Aufsä.tzs«,  C.  II,  > Anfänge  nahirwisseDschaftlicber  Sdb 
erkeautais«,  S*  445 — 459, 


Der  Übergang  zum  atomistischen  Dynamismos* 


505 


Der  vereinigte  Einfluss  von  Helmholtz  und  Dubois-Reymond 
unterstützt  durch   den  Astrophysiker  Zöllner  und  die  wachsende 

■Beachtung  Fechners  untergruben  allmählich  das  Vorurteil  der 
fünfziger  und  sechziger  Jahre,  als  ob  naturwissenschaftliche  und 
materialistische  Weltanschauung  sich  deckten;  aber  sie  Hessen 
das  andere  naturwissenschaftliche  Vorurteil  unerschüttert,  als  ob 
wissenschaftliche  und  mechanistische  Weltanschauung  sich  deckten 
und  gewöhnten  an  den  Gedanken,  dass  die  Grenzen  der  mecha- 
nistischen   Erklärungsweise    die    Grenzen    wissenschaftlicher   Er- 

^kenntnis  überhaupt  seien.    In  Bezug  auf  Naturphilosophie,  Geistes- 

f Philosophie  und  Metaphysik  wurde  also  der  positiv  dogmatische 
Materialismus  nur  durch  einen  negativ  dogmatischen  Agnostizis- 
mus abgelöst,  der  die  Grundlosigkeit  seiner  vermeintlichen  Selbst* 
gewissheit  durch  höhnische  Verachtung  aller  metaphysischen  Ein- 
bildungen und  Träumereien  zu  ersetzen  suchte.  — 

Zugleich  bereitete  sich  aber  in  der  Naturwissenschaft  selbst 
von  anderer  Seite  her  ein  Umschwung  von  Das  von  Mayer 
entdeckte  und  durch  Helmholtz  zur  Anerkennung  gebrachte  Ge- 
etz  der  Erhaltung  der  JCraft  hatte  die  naturwissenschaftlich  Den- 

^kenden  daran  gewöhnt,  alle  bisher  sogenannten  Naturkräfte  als 
wechselnde  Erscheinungsformen  einer  und  derselben  Energie  zu 
begreifen.  Da  musste  sich  doch  die  Frage  aufdrängen,  was  denn 
diese  Energie  sei,  die  sich  als  konstante  Grösse  im  Wechsel  ihrer 
Formen  erhält.  So  lange  man  die  Naturkräfte  als  Ergebnisse 
ier  Stoffbewegung  und  den  Stoff  und  die  Bewegung  als  bewusst- 
seinstranscendente  Realitäten  dachte,  war  auch  die  Kraft  etwas 
Reales;  aber  mit  der  subjektiven  Idealität  des  Stoffes  und  der 
äwegung  verflüchtigt  sich  diese  vermeintliche  Realität  zur 
Illusion.  So  lange  man  andererseits  die  Naturkräfte  für  spezifisch 
verschieden  hielt  und  doch  alle  nach  Analogie  der  eigenen  ieib- 
Uchen  Kraftempfindung  dachte,  konnte  ihre  subjektive  Phänome- 
lalität    begreiflich    erscheinen;    aber    nun    waren    alle    spezifisch- 

^Verschiedenen  Kräfte  zu  blossen  Erscheinungsformen  der  Energie 
zurückgeführt,  die  als  transcendente  Wesenheit  hinter  ihnen  eben- 
sogut wie  hinter  der  eigenen  leiblichen  Kraftempfindung  un- 
erkannt thronte. 

Da  musste  doch  endlich  der  Gedanke  auftauchen,  dass  nach 
Auflösung  des  Stoffes  in  eine  rein  subjektive  Erscheinung  noch 
nicht   alles   ohne    Rest   in   subjektive  Erscheinung   aufgelöst   sei, 


5o6 


Der  Übergang  rum  atomisliscben  Dynamisuiiu. 


sondern  dass  die  Kraft  als  konstante  Energie  nunmehr  das  wahr- 
haft   Seiende,     das    unabhängig    vom    wahrnehmenden    Subjekte 
WirkHche   sei,   von    dem    alle    empfundenen  Kräfte    und    alle  ge- 
schauten Stoffe  nur  Erscheinungen  seien.    Neu  war  dieser  Gedanke 
eben  nicht.    Leibniz*  Naturphilosophie  beruht  auf  ihm  und  Bouter- 
wcks  Virtualitätssystem  hatte  ihm  eine   zusammenhängende  Aus- 
führung gegeben.     Aber    auch   in    der  Naturwissenschaft    war  er 
schon  öfter  ausgesprochen.  Im  Jahre  1844  hatte  Faraday  sich  ^u  der 
Atomtheorie  des  Mathematikers  Boscowich  bekannt,  nach  welcher 
das  Stoffpartikelchen,  an  dem  nach  der  gewöhnlichen  Vorsiellunj 
die  Atomkräfte  haften  sollen,  als  eine  blosse  sinnliche  Einbildunj 
verschwindet   und    das    Kräftesystem    des   Atoms    allein    als   die 
Substanz    des    Atoms    übrig    bleibt.*)      Auch    Helmholtz    neigte 
schon   1847   einer  solchen  Auffassung    zu.     Aber  die  Zeit  um  die 
Mitte   des  Jahrhunderts   war  noch  lange  nicht  reif  gewesen,   um 
eine  solche  Einsicht  aufzunehmen.    So  lange  der  naive  Realismus 
die  Köpfe   der  Naturforscher   beherrschte,  war  das  Vorurteil  desl 
wirklich  existierenden  Stoffes  unausrottbar.     Es   musste  erst  die 
Herrschaft  des  naiven  Realismus  gebrochen  werden,  und  das  wa 
ohne    den    Durchgang    durch    den    transcen  dental  •idealistischen' 
Phänomenalismus  nicht   möglich.     Erst  als  die  Naturforscher  mit 
diesem  einigermassen   vertraut   geworden    waren,   traten  die  Ge- 
danken   von    Boscov^dch    und    Faraday    wieder    hervor.      Zöllner  1 
(Wiss,  Abhandl.  I,    127}  bekannte  sich  zu   ihnen  und  endlich  traft 
Ostwald     auf,     um     »die    Überwindung     des    wissenschaftlichen 
Materialismus*  (Leipzig  1895)  durch  die  energetische  oder  dyna- 
mische Weltanschauung    vor   den    Ohren    aller    Naturforscher   zu 
verkünden. 

Fragt  man  aber,  was  denn  die  .^Energie«  sei,  die  sich  in 
allen  Erscheinungen  äussert,  so  muss  natürlich  die  Naturwissen- 
schaft die  Antwort  schuldig  bleiben.  Hiermit  weist  sie  aber  auf 
die  pluralistische  Willensmetaphysik  hinüber,  die  sich  inzwischen 
aus  dem  Schopenhau ersehen  Wiilensmonismus  in  Deutschland  ent- 
wickelt hatte.  Wenn  das  Licht  der  induktiven  Erkenntnis  die 
Natur  in  ihrem  von  der  menschlichen  Wahrnehmung  unabhängigen 
Dasein   erleuchten   und   den  Agnostizismus  verdrängen   sollte,  so 


*)  Faraday »   »Ober  die  Natur  der  Materie«,   im   Phil.   Mag,  1S44,   Bd*  XXIT« 


p.   136. 


Der  Agnostizisnnis  in  der  Psychologie. 


507 


musste  der  transcendentale  Realismus  den  transcendentalen  Idealis- 
niias  ersetzen,  und  dies  war  wieder  nur  auf  dem  Boden  einer 
dynamisch -thelischen  Metaphysik  mit  atomistisch  -individualis- 
tischer Ghederung  der  Kraftäusserungen  und  Wülensbethätigiin- 
gen  mögHch.  — 

So  lange  der  Agnostizismus  sich  darauf  beschränkt,  negative 
Erkenntnistheorie  und  Ivritik  aller  positiven  Erkenntnisversuche 
zu  sein,  so  lange  ist  er  zu  einer  unfruchtbaren  Spitzfindigkeit 
verurteilt,  die  nur  dadurch  etwas  Abwechselung  erhält,  dass  jeder 
seiner  Vertreter  in  etwas  anderer  Weise  den  letzten,  absurden 
Konsequenzen  diesem  Standpunktes  auszuweichen  sucht  Eine 
solche  Beschränkung  der  Philosophie  auf  Erkenntnistheorie  oder 
vielmehr  Ignoranztheorie  musste  bald  ermüdend  wirken,  ähnlich 
wie  das  unfruchtbare  scholastische  Gezänk  des  Nominalisoius  im 
Ausgange  des  Mittelalters,  Es  ist  kein  Wunder,  dass  daraus  die 
Sehnsucht  nach  irgend  etwas  Positivem  entsprang.  Diese  Sehn- 
sucht konnte  aber  auf  dem  einmal  angenommenen  Boden  des 
agnostischen  Phänomenaiismus  zunächst  nirgend  anders  Befrie- 
digung suchen  als  in  der  Psychologie.  Freilich  war  die  Psycho- 
logie auf  diesem  Boden  ganz  auf  Registrieren,  Beschreiben  und 

'Ordnen  von  thatsächlichen  Erfahrungen  und  Beobachtungen  be- 
schränkt, Sie  musste  sich  ganz  an  die  innere  Erfahrung  halten, 
sei  es  mittelst  blosser  Selbstbeobachtung,  sei  es  mittelst  Experi- 
mente, die  sich  in  Reihen  ordnen  liesscn. 

Schon  Beneke  hatte  auf  die  Selbstbeobachtung  als  alieinige 
Quelle  der  psychologischen  Erkenntnis  hingewiesen;  aber  er  hatte 
noch  geglaubt,  dass  das  Ich  sich  als  Substanz  und  Subjekt  eri'asse. 
Jetzt  konnte  es  sich  nur  noch  um  eine  Psychologie  ohne  Seele 
handeln.  Wenn  Leibniz,  Maine  de  Biran,  Beneke,  l,  H.  Fichte 
und  andere  in  ihrer  Psychologie  auf  den  Zusammenhang  der  be- 
wussten  und  unbewussten  Seelen thätigkeit  hingewiesen  und  eine 
Hauptaufgabe  der  Psychologie  in  der  Erklärung  der  Bewusst- 
seinserscheinungen  aus  unbewussten  seelischen  Vorgängen  gesucht 

I  hatten,  so  musste  die  agnostische  Psychologie  dies  als  einen 
principiellen  Irrtum  verwerfen,  Brentano  z.  B.  beschränkte  allen 
solchen  Bestrebungen  gegenüber  die  Aufgabe  der  Psychologie 
auf  die  Beobachtung  der  Bewusstseinsvorgänge,  Und  mit  Recht, 
wenn  einmal  alles  Bewusstseinstranscendente  als  unerkennbar  aus- 
geschieden ist;   denn    etwaige  unbewusste  Seelen  Vorgänge  hinter 


5o8 


Der  Übergang  zur  üidividuAlU  tischen  Witleiisinet&i>liystk, 


dem  eigenen  Bewusstsein  sind  entschieden  transcendent  für  dieses 
Bewusstsein.  Münsterberg  kann  es  allenfalls  bedauern,  dass  dieser 
Weg  ungangbar  ist,  aber  er  muss  an  seiner  Ungangbarkeit  fest- 
halten. 

Das  Hauptinteresse  der  Psychologie  richtete  sich  bei  dieser 
Sachlage  auf  den  psychophysischen  Paralleltsmus,  wie  er  von 
Fechner  aufgestellt  worden  war.  Zwar  gab  es  nicht  bloss 
agnostische  Psychologen,  sondern  auch  solche,  die  den  identitäts- 
philosophischen Pantheismus  Fechners  unter  Ausscheidung  seiner 
befremdlichen  Bestandteile  festhielten  und  den  psychophysischen 
Parallelismus  auf  die  doppelseitige  Erscheinung  eines  beiden 
Reihen  zu  Grunde  liegenden  Wesens  deuteten,  z.  B.  Paulseo. 
Aber  der  Agnostizismus  forderte  unausweichlich,  dass  eine  solche 
transcendente  Hypothese  ausgeschieden  und  der  psychophysische 
ParaUelismus  als  nackte,  keiner  Erklärung  fähige  und  bedürftige 
Thatsache  hingenommen  werde.  Weder  Wechselwirkung,  noch 
prästabilierte  Harmonie,  weder  monistische  noch  plurahstische 
Ontologie  auf  identitätsphilosophischer  Basis  als  transcendenter 
Hintergrund  des  phänomenalen  Parallelismus,  wieder  materia- 
listische noch  spiritualistische  Unterordnung  der  einen  Erschei- 
nungsweise unter  die  andere,  sondern  nackte  Faktizität  des  koor- 
dinierten Parallelismus ,  vor  der  der  Verstand  stille  steht  —  so 
muss  es  die  agnostische  Psychologie  fordern,  so  lange  sie  sich 
selbst  treu  bleibt.  Da  es  bei  solcher  Psychologie  nichts  mehr 
zu  denken  giebt,  sondern  geduldiges  Experimentieren  und 
Registrieren  die  ganze  Leistung  ausmacht,  so  heben  sich  auch 
keine  Denkcrindividualitäten  mehr  hervor,  sondern  die  namenl 
Massenarbeit  in  den  Laboratorien  ist  es,  worauf  es  ankommt.  — 

In  der  That  ist  aber  die  Behauptung  eines  psychophysischen 
Parallelismus  auf  rein  phänomenalistischer  Grundlage  gar  nicht 
aufrecht  zu  erhalten.  Wenn  es  nur  Ein  Bewusstsein  giebt^  das 
meinige,  so  kann  ich  wohl  Bewusstseinsinhalte  mit  stärkerer  oder 
schwächerer  Gefühlsbeimischung  und  solche  mit  deutlicherer  oder 
undeutlicherer  Lokalisation  unterscheiden;  aber  es  giebt  kein^i 
Bew^osstseinsinbalt  ohne  einen ,  wenn  auch  noch  so  schwachen 
Gefühlstimbre,  und  keine  Empfindung  ohne  eine,  wenn  auch  noch 
so  unbestimmte  Lokalisation.  Wenn  ich  das  Gesichtsbild  einer 
auf  meinen  Arm  aufgesetzten  Cirkelspitze  und  die  Empfindung 
des  Stiches  vergleiche,  so   liegt  in  beiden  etwas  Subjektives  und 


Der  Übergang  zur  individualismchcn  Willenstneiaphysik. 


509 


in  beiden  eine  verräu  ml  ichende  Verätisserlichung  oder  Objekt  i- 
vation  der  Empfindung*.  Ich  habe  also  gar  nicht  zwei  scharf 
geschiedene  Reihen  von  Erscheinungen,  bei  denen  von  einem 
?aralleüsmus  die  Rede  sein  könnte,  sondern  eine  einzige  Erschei- 

"nungsreihe  mit  verschiedener  Mischung  von  Subjektivität  und 
Objektivität  und  allmähhchem  Übergang  von  dem  Übergewicht 
ies    einen    zu    dem    des    anderen    Bestandteils.      Wenn    ich    die 

^Schwingungen  in  meinem  Gehirn  mit  dem  Mikroskop  betrachten 
und  verfolgen  konnte,  während  ich  empfinde,  so  hätte  ich  doch 
mr  zwei  gleichzeitige  Empfindungseindrücke,  deren  eine  ein  Über- 
fewicht  der  verräumlichten  Empfindung,  deren  andere  ein  Über- 
gewicht der  unbestimmt  lokalisierten  zeigte.  Erst  wenn  ich  bei 
der  mikroskopischen  Betrachtung  meiner  Hirnschwingungen  von 
der  Subjektivität  der  Empfindungen  abstrahiere,  aus  denen  diese 
Gesichtsanschauung  zusammengesetzt  ist,  und  bei  der  unmittel- 
baren Empfindung  von  der  unbestimmten  Lokalisation  absehe» 
durch  welche  sie  auf  bestimmte  Teile  meines  Körpers  mehr  als 
auf  andere  bezogen  ist,  erst  dann  gewinne  ich  zwei  Reihen. 

Diese  nicht  in  der  Erfahrung  gegebene,  sondern  willkürlich 

'hinzugefügte  Abstraktion  wird  erleichtert,  praktisch  genommen 
sogar  erst  dadurch  ermöglicht,  dass  mehrere  Bewusstseine  als 
vorhanden  zugestanden  werden.  Denn  nun  hat  das  Bewusstsein  A 
nur  von  seinen  Empfindungsbeimischungen  zu  abstrahieren,  während 
es  seine  Gesichtsanschauung  von  Gehirnbewegungen  mit  den 
Empfindungen  des  Bewusstseins  B  paraüehsiert.  Es  ist  damit  klar 
gestellt,  dass  der  Parallelismus  erst  durch  eine  Mehrheit  von  Be- 
wusstseinen  eine  praktische  Bedeutung  erlangt,  die  aber  schon 
den  konsequenten  Agnostizismus  umstösst.  Denn  für  das  Bewusst- 
sein A  ist  das  Bewusstsein  B  nicht  nur  seiner  Form  nach,  sondern 
auch  seinem  ganzen  Inhalt  nach  ein  transcendentes  Ding  an  sich, 
das,  wenn  es  existiert,  doch  ewig  unerkennbar  bleibt,  und  mit 
dessen  Inhalt  niemals  ein  eigener  Bewusstseinsinhalt  verglichen 
werden  kann.  Nur  wenn  das  Individuum  B  direkt  oder  durch 
Vermittelung  einer  für  A  und  B  gleich  transcendenten  materiellen 
Welt  auf  das  Bewusstsein  A  wirkt,  ihm  einerseits  von  seinen 
Empfindungen  Kenntnis  giebt  und  andrerseits  seine  Sinne  so 
affiliert,  dass  ein  Bild  des  Gehirnes  von  B  in  dem  Bewusstsein 
A  entsteht,  nur  dann  sind  die  Bedingungen  zur  Erkenntnis  eines 
psychophysischen  Parallelismus  gegeben. 


Sio 


Die  individuallstUdie  Willenimeuphysik. 


Eine  solche  transcendente  Kausalität  zwischen  den  Individual- 
bewusstseinen  ist  nun  nicht  mehr  auf  die  Empfindung,  d.  h. 
auf  die  passive,  nach  innen  gewandte,  auf  sich  selbst  reflek- 
tierte Seite  der  seelischen  Bethätigung  zu  beziehen,  sondern  nur 
noch  auf  die  aktive,  nach  aussen  gewandte,  aus  sich  heraus- 
gehende, auf  die  anderen  Individuen  gerichtete  Seite  derselben, 
die  man  Willen  zu  nennen  pflegt.  So  führt  das  Hauptproblem 
der  agnostischen  Psychologie,  der  p&ychophysische  Parallelismus 
unmittelbar  in  die  pluralistische  Willensmetaphysik  hinüber,  eben- 
so wie  wir  vorher  sahen,  dass  das  Hauptproblem  der  agnostischen 
Naturphilosophie  in  den  (atotnistisch  gegliederten)  Dynamismus 
und  die  agnostische  Erkenntnistheorie  in  den  transcendentalen 
Reaüsmus  hinüberleitet.  Die  pluralistische  Willensmetaphysik 
und  der  atomistische  Dynamismus  müssen  sich  bei  näherem  Zu- 
sehen als  ein  und  dieselbe  Sache  erweisen,  die  bloss  das  eine  Mal 
aus  psychologischem,  das  andere  Mal  aus  naturphilosophischem 
Gesichtspunkt  aufgefasst  wird.  Beide  aber  erfordern  einen  trans- 
cendentalen Realismus  als  erkenntnfetheoretische  Voraussetzung 
ihrer  Möglichkeit  Die  agnostische  Strömung  verschwindet  in- 
dessen nicht  mit  einem  Schlage,  sondern  wirkt  in  der  verschie- 
densten Art  und  Weise  in  den  weiter  zu  besprechenden  Gestalten 
des  Pluralismus  oder  Individualismus  nach. 


3.  Der  atheistische  Individualismus  und  Pluralisnius 

a.  Die  individualistische  Willensmetaphysik. 

In  den  fünfziger  und  sechziger  Jahren  hatte  die  Schopen- 
hauersche  Philosophie  wachsende  Beachtung  gefunden;  als  Zeichen 
davon  haben  wir  bereits  den  Standpunkt  Langes  kennen  gelernt 
Gleichzeitig  mit  Langes  Geschichte  des  Materiahsmus  erschien 
Bahnsens  Charakterologie  im  Jahre  1867.  Wie  das  erstere  Werl^^f 
den  Anstoss  gab  zur  agnostischen  Bewegung  in  Deutschland,^' 
so  das  andere  zur  Entfaltung  einer  pluralistischen  Willens- 
metaphysik und  eines  charakterologischen  IndividuaUsmus,  Darum 
beginnen    wir   die  Darstellung  des  individualistischen    und  plura- 


listischen  Atheismus  mit  Bahnsen  (1832—1882);  denn  alle  folgenden 
sind  von  ihm  beeinflusst,  vielleicht  mit  Ausnahme  von  Wundt, 
dem  die  Unbekanntschaft  mit  Bahnsen  schwerlich  zum  Vorteil 
gereicht  hat.  Während  Lange  von  Schopenhauer  die  Verschmel- 
zung des  phänomenalisierten  Materialismus  mit  dem  subjektiven 
Idealismus  übernahm,  so  Bahnsen  die  Willensmetaphysik,  aber 
mit  der  individualistischen  Ausprägung»  die  bei  Schopenhauer 
nur  eine  Nebenströmung  neben  der  Hauptströmung  des  Monismus 
bildet 

Bahnsen  war  von  Friedrich  Vischer  in  die  Hegeische  Dialek- 
tik eingeführt,  noch  ehe  er  Schopenhauer  kennen  gelernt  hatte. 
Von  der  Dialektik  Hegels  hatte  er  sich  vorzugsweise  das  negativ^e 
antithetische  Moment  angeeignet,  und  für  die  so  erlangte  Ansicht 
von  der  Negativität  des  Weltcharakters  schien  ihm  dann  die 
Schopenhauersche  Willenslehre  die  erwünschte  Bestätigung  zu 
bieten.  Er  geht  also  auf  eine  Synthese  Hegels  und  Schopen- 
hauers hinaus,  aber  in  dem  Sinne,  dass  er  das  Logische  und  den 
universellen  Evolutionismus  von  Hegel  verwirft  und  nur  das  An- 
tithetisch-Dialektische ohne  logische  Synthese  beibehält,  und  sich 
in  der  Hauptsache  zu  Schopenhauer  bekennt.  Bei  Hegel  ist  der 
Prozess  ein  universeller,  der  das  Individuum  aus  sicherzeugt  und 
wieder  in  sich  zurückijimmt ;  Schopenhauer  dagegen  schwankt,  wie 
tief  die  Wurzeln  der  Individuation  in  den  einen  Welt  willen  hinab- 
reichen, und  sucht  die  Rechte  des  Individuums  gegen  das  All- 
Eine  besser  zu  wahren  als  Hegel.  Bei  Hegel  ist  der  Prozess 
logisch,  und  das  Unlogische  nur  ein  Relatives  und  vom  Logischen 
Gesetztes  und  wieder  Aufgehobenes.  Bei  Schopenhauer  dagegen 
ist  der  Prozess  des  unlogischen  Willens  das  Ganze  des  realen 
Weltgeschehens  und  das  dabei  stellenweise  hervortretende  Ver- 
nünftige nur  ein  relativ  Logisches,  vom  Unlogischen  Gesetztes 
und  wieder  in  sich  zurück  Genommenes.  Ein  pluralistischer»  anti- 
logisch-realdialektischer Individuahsmus  muss  also  sich  Schopen- 
hauer viel  näher  verwandt  fühlen  als  Hegel,  obwohl  Schopen- 
hauer keine  Dialektik  kennt. 

Dazu  kommt  noch,  dass  Hegels  naiver  Pantheismus  die 
Wahrheit  des  christlichen  Theismus  entwickelt  zu  haben  glaubt, 
während  Schopenhauers  Pantheismus  sich  für  Atheismus  ausgiebt, 
nur  darum»  weil  er  antitheistisch  ist  Eine  pluralistische  Willens- 
metaphysik  macht  aber,  indem  sie  den  Wiilensmonismus  beseitigt. 


I 


5>2 


Bahnsen. 


mit  dem  Atheismus  ernst,  der  bei  Schopenhauer  nur  ein  Miss- 
verständnis seiner  selbst  war.  Die  mit  Bahnsen  anhebende  indiv^i- 
dualistische  Geistesströmung,  die  man  vielleicht  als  Neuschopen- 
hauerianismus  bezeichnen  könnte,  ist  deshalb  fast  durchweg 
atheistisch.  Hierin  durfte  wohl  eine  Nachwirkung  des  atheistischen 
Materialismus  zu  sehen  sein,  vielleicht  aber  auch  zugleich  eine 
Wechselwirkung  mit  dem  sich  neben  ihr  entwickelnden  atheisti- 
schen Agnostizismus.  Hierdurch  unterscheidet  sich  die  individua- 
listische Geistesströmung  im  letzten  Drittel  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts von  allen  früheren  individualistischen  Systemen,  2,  B. 
Leibniz,  Herbart,  Beneke  und  L  H.  Fichte,  bei  denen  der  Indivi- 
dualismus den  Theismus  selbst  dann  nicht  antasten  wollte,  wenn 
er  ihn  aus  dem  Bereich  metaphysischer  Erkenntnis  in*  das  des 
religiösen  Glaubens  verwies.  Ausserdem  stützen  sich  alle  früheren 
Individualisten  auf  die  Vorstellung  und  Vernunft,  Bahnsen  zum 
ersten  Mal  auf  den  Willen  in  seiner  unvernünftigen  Beschaffenheit 

Im  einzelnen  weicht  Bahnsen  von  Schopenhauer  vielfach  ab. 
So  bekennt  er  sich  z.  B.  zu  einem  transcendentalen  Reahsntus 
in  Bezug  auf  Raum  und  Zeit,  verwirft  die  ästhetische  Theorie 
vom  willensfreien  Erkennen,  schränkt  die  Bedeutung  der  Idee 
auf  eine  blosse  ästhetische  Spiegelung  im  bewussten  Verstände 
ein  und  sucht  die  sittliche  Besserung  nicM  in  einem  einmaligen 
Wundervorgang,  sondern  in  einem  allmählich  fortschrei tendeo 
psychischen  Prozess.  Den  Pessimismus  übertreibt  er  zu  einem 
verzweifelten  Miserabilismus  ohne  jede  Erlösungsmöglichkeit  und 
stellt  die  Selbstquälerei  des  sich  selbst  zerfleischenden  Willens 
als  einzigen  positiven  Zweck  des  Weltprozesses  hin,  weil  damit 
der  Wille  eben  erst  recht  »seinen  Willen  bekommt«r»  Auch  auf 
das  Erkennen  dehnt  er  den  desperaten  Pessimismus  aus.  So  be- 
rührt er  sich  mit  dem  Agnostizismus,  denn  er  lehrt  gleich  diesem 
die  Unerreichbarkeit  des  Wissens  und  das  Wissen  um  die  eigene 
Ignoranz  als  letztes.  Er  begründet  aber  diese  Ignoranztheorie 
noch  stärker  dadurch,  dass  die  logischen  Denkformen,  mit  denen 
der  Verstand  ausgerüstet  ist,  schlechthin  ungeeignet  seien,  um 
das  realdialektische  und  widerspruchsvolle  Wesen  der  Welt  zu 
begreifen  und  dass  es  der  nachträglichen  Anpassung  des  Gehirns 
nicht  völlig  gelingen  könne,  diese  dem  Erkenntniszweck  andpodtsch 
zuwiderlaufenden  Denkformen  in  ihr  Gegenteil  umzuwandeln. 

In  seinem  Stil  ist  Bahnsen    stark  von  Jean  Paul  beeinfl 


Die  genauere  Feststellung  seines  metaphysischen  Standpunktes 
hat  er  sich  erst  in  der  Auseinandersetzung  mit  der  »Philosophie 

des  Unbewu^ten^  und  mit  der  Kritik  erarbeitet,  die  ich  und 
Volkelt  an  seinen  Schriften  geübt  haben.  Seine  Bedeutung  beruht 
darin,  dass  er  der  erste  ist,  der  einen  zugleich  antimaterialistisclien 
und  atheistischen  Individualismus  aufgestellt  hat»  und  zugleich  der 
einzige,  der  aus  dem  unlogischen  Willensprincip  Schopenhauers 
die  strengen  Konsequenzen  gezogen  hat,  die  bei  Schopenhauer 
selbst  durch  die  Verknüpfung  der  metaphysischen  Idee  mit  dem 
Willen  noch  verschleiert  waren.  In  ersterer  Hinsicht  ist  er  für 
die  verschiedenen  Richtungen  des  auf  ihm  weiter  bauenden  Indi- 
vidualismus massgebend  geworden;  in  letzterer  Hinsicht  steht  er 
erst,   und   nicht  Schopenhauer,   als    der  eigentliche  Antipode  des 

f Hegeischen  Logismus  da.  Andere,  die,  von  ihm  angeregt,  ein- 
facher zu  denken  und  besser  zu  schreiben  verstanden,  haben  mit 
Ihren   Schriften  mehr  Eingang   ins  Publikum    gefunden;    aber  an 

^  spekulativer  Konsequenz  übertrifft  er  sie  alle  und  ist  darum  auch 
lehrreicher  als  sie  alle.  Freilich  ist  das  Ergebnis  kein  andreSi  als 
dass  dieser  Weg  ins  Absurde  führt  und  deshalb  gemieden  werden 
muss;  aber  mit  Anleihen  bei  überwundenen  Standpunkten  (z,  B, 
dem  MateriaUsraus)  und  mit  halben  Zugeständnissen  an  die  Wahr- 
heit wird  der  Nutzen  dieser  Lehre  bloss  verschleiert  und  der  Wert 
des  Unhaltbaren  nicht  erhöht.  Deshalb  scheint  mir  auch  heute 
noch  die  Bedeutung  Bahnsens  für  den  Fortschritt  der  metaphysi- 
schen Erkenntnis  grösser  als  die  seiner  Nachfolger. 

Bei  Hegel  ist  die  dialektische  Bewegung  des  Begriffs  die 
wahrhaft  vernünftige  Gesetzmässigkeit,  die  allerdings  die  einsei- 
tigen Verstandesgesetze,  welche  gewöhnlich  logisch  genannt  wer- 
den, aufhebt    Die  Wirklichkeit  wird  nur  mittelbar  dadurch  dialek- 

ptisch,  dass  ihr  Inhalt  und  ihr  Prozess  unbewusster  Weise  ganz 
und  gar  durch  Vernunft  bestimmt  ist.  Das  bewusste  Denken  des 
Philosophen  hat  keine  andere  Gesetzmässigkeit  als  die  Wirklich- 
keit, da  es  gleich  dieser  durch  die  dialektische  Vernunft  bestimmt 
ist.  Deshalb  befindet  es  sich  im  Einklang  mit  der  Wirklichkeit 
und  kann  diese  von  sich  aus  dialektisch  konstruieren.  Hegels 
Dialektik  bezeichnet  also  in  erster  Reihe  das  Gesetz  der  unbe- 
wussten  Vernunft,  in  zweiter  das  der  WirkUchkeit,  in  dritter  das  des 
bewussten  Denkens;  letzteres  beides  aber  ist  sie  nur  darum,  weil 
sie  das  erstere  ist     Bei  Bahnsen  ist  das  Verhältnis   ganz  anders. 

E.  V  Hartaxann,  Ausgew»  W^ha.    Bd.  XIL  33 


314  »■»»«' 

Auch  hier  steht  die  Dialektik  mit  den  Verstandesgfesetzen  in 
Widerspruch,  aber  diese  letzteren  werden  als  die  alleinigen  Ver- 
nunftgesetze anerkannt,  während  die  Dialektik  die  Gesetzmässig- 
keit des  unlogischen  Willens  und  dadurch  der  vom  W^illen  be- 
stimmten und  aus  Willen  bestehenden  Wirklichkeit  isL  Die 
dialektische  Gesetzmässigkeit  der  Wirklichkeit  steht  also  hier  in 
unlösbarem  Widerspruch  zu  der  logischen  Gesetzmässigkeit  des 
bewussten  Denkens,  während  es  eine  unbewusste  Vernunft  ebenso 
wenig  giebt,  wie  eine  unbewusste  Vorstellutng.  Darum  bezeichnet 
Bahnsen  seine  Dialektik  als  ^Realdialektik^^  im  eminenten  Sinne, 
im  Gegensatz  zur  Hegeischen  BegrifFsdialektik,  — 

So  gewiss  die  Hegeische  Begriffsdialektik  die  einzig  mögliche 
Form  der  Bewegung  und  des  Prozesses  im  Panlogismus  ist,  so 
gewiss  ist  die  Bahnsensche  Realdialektik  die  einzig  mögliche  Form 
der  Bewegung  und  des  Prozesses  in  der  reinen  Willensmetaphysik. 
Wenn  Logisches  und  Unlogisches  nicht  ein  koordiniertes  Paar 
ewiger  und  gleich  ursprünglicher  Principien  sind,  sondern  nur 
Eines  von  ihnen  Princip  ist,  dann  ist  der  Prozess  nur  dadurch 
möglich,  dass  entweder  das  Logische  zunächst  das  Unlogische, 
oder  der  unlogische  Wille  zunächst  das  Logische  innerhalb  seiner 
sich  selbst  antithetisch  kontraponiert.  In  beiden  Fällen  muss  der 
Prozess  zu  einem  dialektischen  werden.  Es  ist  Hegel  und  Bahnsen 
gleich  sehr  zum  Verdienst  anzurechnen,  dass  sie  diese  Notw^endig- 
keit  klar  erkannten  und  damit  zugleich  die  reductio  ad  absurdum 
ihrer  Principien  als  einseitiger  lieferten. 

Recht  schwach  bestellt  ist  es  mit  der  Begründung  der  Babnsen- 
schen  Realdialektik.  Bahnsen  giebt  zu>  dass  alle  Aporien,  die 
sich  aus  der  diskursiven  Reflexion ,  also  insbesondere  aus  der 
Mathematik,  ergeben,  für  die  Realdialektik  nichts  beweisen  können, 
und  dass  auf  sehr  vielen  Gebieten  sehr  vieles,  was  dem  Laien  ak 
Widerspruch  erscheint,  von  der  Wissenschaft  als  logischer  Zu- 
sammenhang  nachgewiesen  ist  Er  zieht  aber  daraus  nicht  den 
Schluss,  dass  der  Widerspruch  in  der  Wirklichkeit  ein  blosser 
Schein  ist,  der  auf  das  jeweilig  von  der  Wissenschaft  noch  nicht 
erhellte  Gebiet  beschränkt  bleibt,  sondern  er  fordert  die  Toleranz 
gegen  den  Widerspruch,  so  lange  noch  nicht  alle  Aporien  gelöst 
seien.  Schliesslich  giebt  er  zu,  dass  nicht  das  phänomenale, 
sondern  das  metaphysische  Gebiet  das  eigentliche  Herrschafta-j 
bereich   der  Realdialektik   sei,   nämlich   die  Essenz    des  WiUeii 


Bahnsen, 


515 


die  in  der  Sphäre  der  Realität  nur  zur  Erscheinung  gelangt.  Er 
schwankt  sogar,  ob  die  Erscheinung  als  Ausdruck  der  wider- 
spruchsvollen Willensnatur  selbst  ihren  antilogischen  Ursprung 
veraten  müsse,  oder  ob  sie  nicht  im  Gegensatz  zur  realdialektischen 
Essenz  ausschliesslich  unter  der  Botmässigkeit  des  logischen  Ge- 
setzes stehe- 
in der  metaphysischen  Sphäre  setzt  Bahnsen  der  phänomenalen 
Existenz  eine  potentia  existendl  voraus,  den  Willen  als  Vermögen, 
und  schreibt  diesem  Subsistenz  und  Substantialttät  zu.  Dieser  Sub- 
sistenz  setzt  er  dann  abermals  eine  potentia  subsistendi  voraus,  die 
er  jedoch  facultas  subsistendi  zu  nennen  vorzieht.  Diese  soll  unent- 
behrlich sein,  um  die  potentia  existendi  zur  wahren  Existenz  zu 
machen,  ihr  aber  doch  nicht  von  selbst  anhaften,  sondern  anderswo- 
her verliehen  werden*  Dasjenige,  was  der  potentia  existendi  die  facul- 
tas subsistendi  verleiht,  ist  somit  erst  das,  was  ihm  die  Essenz  verleiht, 
d,  h.  es  ist  die  potentia  essendi,  die  Bahnsen  aber  nun  vis  essendi 
zu  nennen  vorzieht.  Diese  vis  essendi  oder  Energie  soll  nun  das 
antithetische  Moment  zur  potentia  existendi  sein,  durch  das  die 
realdialektische  Zweiheit  in  der  Essenz  des  Willens  sichergestellt 
wird.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  diese  erkünstelte  hypothetische 
Begriffskonstruktion  nur  nachträglich  hinzugefügt  ist  und  für  die 
thatsächliche  Existenz  einer  realdialektischen  Willensbeschaffenheit 
nichts  beweisen  kann,  teils  weil  sie  gar  nichts  widerspruchsvoll 
Antithetisches  an  sich  hat,  teils  weil  die  Tendenz  zur  Selbst- 
entzweiung des  Wollens  aus  ihr  nicht  abzuleiten  ist,  teils  weil  sie 
selbst  in  der  Luft  schwebt. 

In  Wahrheit  ist  Bahnsen  dadurch  auf  die  Realdialektik  ge- 
kommen, dass  er  den  inneren  Seelenkonflikten  seine  Aufmerk- 
samkeit zuwandte,  dem  Streit  verschiedener  Begehrungen,  die 
den  Entschluss  manchmal  nach  entgegengesetzten  Seiten  drängen, 
so  dass  der  Individualwille  dasselbe  zugleich  zu  wollen  und  nicht 
ZVL  wollen  scheint.  Wo  neurasthenische  Gemütshyperästhesie, 
hypochondrische  Verstimmtheit  und  hysterische  Reizbarkeit  mit 
angeborener  Dyskolie,  desperatem  Miserabilismus  und  excen- 
trischem  Temperament  zusammentreflFen,  da  müssen  solche  inneren 
Konflikte  besonders  häufig  auftreten  und  besonders  heftig  werden* 
Aber  abgesehen  davon,  dass  die  Vielheit  charakterologischer  An- 
lagen, die  in  entgegengesetzten  Begehrungen  bei  einer  und  der- 
selben Veranlassung  zum  Ausdruck  gelangt,   auf  eine  individuell 

33* 


5i6 


Bahnsen. 


gegliederte  Vielheit  von  Hirnzellengnippen  hinweist,  so  liegt 
doch  in  der  Realopposition  verschiedener  Begehrungen  nicht  nur 
kein  Widerspruch,  sondern  sie  wird  sogcir  nur  dann  möglich, 
wenn  der  Widerspruch  ausgeschlossen  ist.  Wäre  der  Wider- 
spruch möglich,  so  fiele  der  Konflikt  fort,  denn  beide  entgegen- 
gesetzten Bestrebungen  würden  ungehindert  in  derselben  Seele 
neben  einander  bestehen,  ohne  sich  zu  stören.  Der  Konflikt 
beider  entspringt  nur  daraus,  dass  ein  modus  vivendi  zwischen 
ihnen  gefunden  werden  muss,  der  das  widerspruchsvolle  Neben- 
einanderfortbestehen beider  durch  ein  Kompromis  in  einer  Resul- 
tante beendigt.  Den  widerspruchslosen  Widerstreit  entgegen- 
gesetzter Willensrichtungen  oder  Kräfte  nennt  Bahnsen  das  Anti- 
nomische,  den  widerspruchsvollen  Widerstreit  das  Antithetische. 
Er  gesteht  zu,  dass  das  Realdialektische  im  eminenten  Sinne  nur 
mit  dem  letzteren  gleichzusetzen  sei.  Der  seelische  Konflikt  ist 
also  in  Bahnsens  Realdialektik  unrichtig  gedeutet  und  in  un- 
zulässiger Weise  verallgemeinert.  — 

Wird  nun  der  realdialektische  Charakter  der  Wirklichkeit 
als  erwiesen  angenommen,  so  ergiebt  sich  daraus,  dass  die  Wirk- 
lichkeit etwas  logisch  Unmögliches  (nämlich  in  sich  Widerspruchs- 
volles), das  logisch  Unmögliche  ein  faktisch  Notwendiges  (näm- 
lich durch  den  Willen  unabwendlich  Gesetztes),  und  das  logisch  Not- 
wendige (Widerspruchslose)  ein  faktisch  Nichtseiendes  ist.  Damit 
ist  die  Widerspruchslosigkeit  als  formales  Merkmal  der  Wahr- 
heit ausser  Kraft  gesetzt  und  ihr  Gegenteil,  die  widerspruchs- 
volle Beschaffenheit,  an  ihre  Stelle  gesetzt.  Nicht  alles  Wider- 
spruchsvolle ist  wahr,  aber  das  nicht  Widerspruchsvolle  ist  sicher 
unwahr.  Die  Übereinstimmung  des  Gedachten  mit  der  Wirklich- 
keit bleibt  als  materiales  Kriterion  der  Wahrheit  bestehen,  durch 
welches  das  bloss  Absurde  von  der  widerspruchsvollen  Wahrheit 
unterschieden  werden  muss. 

Bei  dieser  ursprünglichen  Stellungnahme  Bahnsens  ist  das 
*  Logische  ein  rein  auf  das  subjektive  Denken  beschränkter  Schein, 
der  von  der  Wirklichkeit  überall  Lügen  gestraft  wird ,  ein  leeres 
Schema  logischer  Stufenfolge,  ein  Fach  werk  von  gedanklichen 
Abstraktionen,  das  sich  allmählich  in  der  Geschichte  des  mensch- 
lichen Denkens  psychologisch  herausgearbeitet  hat  und  bloss  für 
das  diskursive  Denken  da  ist.  Aber  dabei  konnte  Bahnsen  doch 
nicht  stehen  bleiben.    War  es  schon  wunderbar  genug,  dass  das 


BnJinsca. 


517 


menschliche  Denken  sich  bis  jetzt  der  realdialektischen  Beschaffen- 
heit der  Wirklichkeit  so  gar  nicht  anzupassen  vermocht  hat,  so 
wäre  es  noch  wunderbarer,  dass  es  Denkformen  und  Denkgesetze 
geschichtlich  aus  sich  entwickelt  hat,  die  der  Wirklichkeit  gerades- 
wegs  widersprechen  und  gar  nicht  auf  sie  passen.  Ist  es  schon 
wunderbar  genug,  dass  ein  schlechthin  unlogischer  und  blinder 
Wille  in  sich  die  Tendenz  haben  soll,  mit  der  Zeit  vernünftig  zu 
werden,  und  sich  als  Wille  zum  Erkennen  offenbart,  so  scheint 
es  noch  wunderbarer,  dass  er  zu  seinem  Zweck  des  Erkennens 
einen  Weg  einschlägt,  der  vom  Ziele  ab,  nicht  zu  ihm  hinführt. 
Denn  die  Entwickelung  der  vernünftigen  Denkformen  und  Denk- 
gesetze ist  es  ja  gerade,  welche  zuletzt  zur  Verzweiflung  darüber 
filhrt,  dass  eine  ganz  anders  geartete  Wirklichkeit  überhaupt 
möglich  ist  Um  diesen  Schwierigkeiten  zu  entgehen,  musste 
Bahnsen  sich  entschliessen,  dem  Logischen  im  Gebiete  der  Wirk- 
lichkeit einen  wenn  auch  beschränkten  Platz  anzuweisen,  ver- 
wickelte sich  aber  damit  in  neue  Schwierigkeiten, 

Zunächst  räumt  Bahnsen  die  logische  Gesetzmässigkeit  in  dem 
interindividuellen  Widerstreit  ein,  in  welchem  verschiedene  Willen 
oder  Kräfte  gegen  einander  ringen.  Sodann  giebt  er  zu,  dass 
auch  in  dem  intraindividuellen  Widerstreit  jede  einseitige  Hälfte 
logisch  geradlinig  verlaufe  und  nur  beide  Hälften  gegen  einander 
sich  widerspruchsvoll  verhalten.  Drittens  gesteht  er  zu,  dass 
diese  einseitige  Logizität  jeder  Hälfte  der  realdialektischen 
Selbstentzweiung  eine  streckenweise  Logizität  der  Erschei- 
nungsreihen zur  unmittelbaren  Folge  habe,  und  dass  nur  der  Ge- 
samtprozess,  in  welchem  die  logischen  Strecken  beider  Hälften 
mit  einander  abwechseln,  eine  realdialektische  Zickzack bewegung 
zeige.  So  soll  die  Wirklichkeit  so  viel  Logisches  in  sich  schli essen, 
dass  die  Anpassung  des  Denkens  an  sie  durch  Ausbildung  der 
logischen  Formen  begreiflich  wird.  Unerklärt  bleibt  freilich, 
warum  das  Denken  sich  nur  den  logischen  Fragmenten  und 
Intermezzos  angepasst  hat,  ohne  auf  die  realdialektische  Be- 
schaffenheit des  Ganzen  Rücksicht  zu  nehmen. 

Diese  Auskunft  scheitert  zunächst  daran,  dass  jede  einseitige 
Hälfte  eines  realdialektischen  Widerstreits  selbst  wieder  in  sich 
realdialektisch  entzweit  sein  soll,  und  dass  diese  Diremtion  bis 
ins  Unendliche  geht.  Danach  ist  alles,  was  in  einem  grösseren 
Ganzen  Spaltungshälfte  ist,   in  sich  selbst  wieder  ein  realdialek- 


5i8 


Bahnsen. 


tisches  Ganzes;   in   seiner  ersteren  Stellung  soll  es  sich    logisch 

rechtläufig  und  geradlinig  bewegen,  in  seiner  letzteren  eine  real- 
dialektische  Zickzackbewegung  entfalten,  was  wohl  nicht  verein- 
bar ist. 

Alsdann  aber  entsteht  die  weitere  Schwierigkeit,  wie  das 
Logische  in  die  Wirklichkeit  hineinkommt.  Wie  kann  das  Be- 
reich der  phänomenalen  Existenz  die  Sphäre  logischer  KLorrekt- 
heit  sein,  wenn  die  in  ihr  sich  offenbarende  Essenz  den  Seins- 
widerspnich  in  sich  trägt?  So  gewiss  ein  völlig  vemunftloser 
Wille  niemals  vernünftig  werden  kann,  so  gewiss  muss  der  Wille 
schon  in  seinem  Ansich  etwas  Logisches  einschliessen^  wenn  sich 
am  Weltgang  etwas  dem  logischen  Schema  Entsprechendes  findet, 
und  ein  Reich  partieller  Weltvernunft  besteht,  wie  dies  in  der 
That  von  Bahnsen  angenommen  w^ird.  Dann  ist  auch  die  Wurzel 
dieser  Übereinstimmung  von  objektiver  und  subjektiver  Vernunft 
{nicht  bloss  in  einer  äusserlichen  Anpassung  der  letzteren  an  die 
erstere,  sondern)  in  der  logischen  BeschEiffenheit  des  Willensinhalts 
selber  zu  suchen.  Dieser  dem  Willen  immanente  logische  Inhalt, 
der  dem  realen  Entwickelungsprozess  die  Lineamen te  seiner  B€^h 
wegirngsrichturigen  vorzeichnet,  ist  freilich  von  jeder  Hyposta^H 
sierung,  von  jeder  Verquickung  mit  abstrakten  Momenten  des  ^ 
diskursiven  Denkens  und  von  der  Verwechselung  mit  der  trei- 
benden Kraft  der  Ent Wickelung  fern  zu  halten  und  zu  bewahren. 
Dieser  logisch  geartete  WiUensinhalt  besteht  nicht  neben,  son- 
dern an  dem  Willen  und  verhält  sich  zu  ihm  wie  ein  Accidenz 
zu  seiner  Substanz.  Er  macht  auch  nicht  den  ganzen  Willen  zu 
etwas  Logischem,  denn  hinter  ihm  steht  im  WUlenswesen  selbst 
der  realdialektische  Gegensatz  von  potentia  existeodi  und  vis 
esscndi,  der  in  der  Tendenz  zur  Selbstentzweiung  des  WoUens 
seinen  Ausdruck  fiodet.  — 

Was  ist  nun  dieser  logisch  geartete  Willensinhalt?  Bei  Schopen- 
hauer deckt  er  sich  einerseits  mit  dem  intelllgiblen  Charakter, 
andererseits  mit  der  Idee.  Bahnsen  hält  die  Gleichsetzung  mit 
dem  intelligiblen  Charakter  fest,  ersetzt  aber  diejenige  mit  der 
Idee  durch  eine  Identifikation  mit  dem  Motiv,  die  psychologisch 
nicht  zu  rechtfertigen  ist.  Das  Motiv  muss  ihm  alles  das  ersetzen, 
was  bei  Schopenhauer  die  metaphysische  Idee  ist;  denn  eine  unbe- 
wusste  Vorstellung  ist  ihm  eine  cootradictio  in  adjecto.  Das  Motiv 
soll  der  Willensinhalt  als  vorgestellter  oder  in  der  Form  der  Vor- 


Bahnsen. 


519 


Stellung  sein,  während  er  an  sich  der  intelligible  Charakter  ist 
Wenn  aber  der  Wille  an  sich  keinen  idealen  Inhalt  in  sich  hat, 
sondern  erst  der  Umsetzung  in  die  Form  der  bewussten  Vor- 
stellung (des  Motivs)  bedarf,  um  seinen  Inhalt  als  idealen  aufzu- 
fassen, so  bleibt  doch  wieder  das  zu  Erklärende  unerklärt.  Wie 
kann  ein  noch  nicht  idealer  Inhalt  (der  intelligible  Charakter)  ein 
Sein  fassen,  welches  idealiter  jedem  Einzelakt  seiner  Realisation 
vorangeht,  wie  kann  er  die  logischen  Formen  und  Gesetze  (so- 
w^ohl  für  die  vernünftige  Wirklichkeit  als  auch  für  das  vernünftige 
Denken)  in  sich  tragen  und  aus  sich  entwickeln,  wie  kann  er  über- 
haupt dazu  kommen,  Erkenntniswille  zu  sein,  und  seinen  Inhalt 
in  Form  einer  bewussten  Vorstellung  (als  Motiv)  wirklich  zu  er- 
kennen? Wie  soll  endlich  der  Indiväduahville  zu  einem  charaktero- 
logisch  bestimmten  Inhalt  gelangen,  wenn  dem  Willen  an  sich, 
abgesehen  von  der  konkreten  Individuation,  jeder  Inhalt  fehlt? 

Da  Bahnsen  den  Willensinhalt  im  Charakter  sucht,  so  ist  es 
begreiflich,  dass  er  einerseits  so  grosses  Gewicht  auf  die  Charaktero- 
logie legt,  andererseits  bemüht  ist,  den  Kant-Schellin g-Schopen- 
hauerschen  Gegensatz  von  intelligiblem  und  empirischem  Charakter 
festzuhalten.  Denn  während  der  empirische  Charakter  von  den 
Zufälligkeiten  der  Organisation  abhängig  ist,  soll  der  intelligible 
den  unveränderlichen  Wesenskern  der  Monade,  oder  wie  Bahnsen 
lieber  sagt,  der  Henade,  darstellen*  Man  kann  jedoch  nicht  sagen, 
dass  Bahnsen  die  Zerspaltung  des  Charakters  in  einen  intelligiblen 
und  empirischen  besser  als  seine  Vorgänger  begründet»  oder  die 
ihr  entgegenstehenden  Bedenken  entkräftet  habe.  Im  Gegenteil 
hat  er  sich  die  Sache  dadurdi  erschwert,  dass  er  den  transcenden- 
talen  Idealismus  aufgegeben  hat,  auf  den  die  Vorgänger  diese 
Spaltung  hauptsächlich  stützten.  Die  schätzbaren  Beiträge,  die 
er  zur  Charakterologie  geliefert  hat,  sind  durchweg  unabhängig 
von  der  Richtigkeit  oder  Unrichtigkeit  dieser  Spaltung.  — 

Bahnsen  hat  ganz  recht,  dass  er  ein  bloss  phänomenales  In- 
dividuum ohne  jede  substantielle  Grundlage,  d.  h.  eine  in  der  Luft 
schwebende  Thätigkeitsgruppe,  fiir  unzulänglich  hält,  um  die 
psychologische  Thatsache  der  Selbstbethätigung  und  Selbstthätig- 
keit  und  die  sittliche  Thatsache  der  Hingebung,  Verantwortlich- 
keit u,  s.  w  zu  erklären.  Andererseits  ist  er  besonnen  genug,  die 
Selbständigkeit  des  Individuums  nicht  für  absolut,  sondern  für 
beschränkt  zu  halten.     Da  läge  es  doch  aber  auch  nahe,  sich  bei 


520 


Bahnsen. 


den  höheren,  zusammengesetzten  Individuen  mit  einer  relativen 
Beständigkeit  statt  einer  absoluten  zu  begnügen  und  bei  allen  In- 
dividuen die  relative  Selbständigkeit  durch  eine  relative  Beständig- 
keit der  von  einer  absoluten  Substanz  ausgehenden  Thätigkeits- 
gruppen  genügend  gewahrt  zu  halten.  Dies  thut  aber  Bahnsen 
nicht,  sondern  hält  an  einer  ewigen  Dauer  der  substantiell  ge* 
sonderten  Henaden  fest.  Die  Ewigkeit  der  Henade  sichert  die 
Unmöglichkeit  jeder  Erlösung  und  die  ewige  Selbstzerfleischung 
des  Individualwillens,  um  die  es  dem  Miserabilismus  vor  allem  zu 
thun  ist.  Die  damit  untrennbar  verbundene  Lehre  von  unendlich 
vielen  Wiederverkörperungen  und  Lebensläufen  desselben  In- 
dividiiums  wird  von  Bahnsen  anerkannt,  aber  nicht  näher  aus- 
gefiihrt.  Jedenfalls  stellt  sich  Bahnsen  durch  die  Anerkennung 
der  Henade  als  einer  ewigen  in  scharfen  Gegensatz  zu  den  plura- 
listischen Willensmetaphysikem,  die  zwar  die  Uratome  als  ewige 
Individuen  anerkennen,  aber  die  höheren  Individuen  im  Sinne 
eines  hylozoistischen  Naturalismus  als  blosse  Produkte  aus  Ato- 
men oder  Elementarkräften  ohne  hinzutretende  Centralmonade 
ansehen  und  deshalb  auch  ihre  Fortdauer  über  den  Zerfall  der 
Atome  hinaus  für  unmöglich  erklären. 

Eine  Entwickelung  ist  auf  dieser  Grundlage  gleich  unmöglich 
als  Individualentwickelung  wie  als  Universalentwickelung.  Der 
intelligible  Charakter  bleibt  nach  unendlich  vielen  Lebensläufen 
unverändert  derselbe,  und  für  eine  universelle  Entwickelung  fehlt 
sowohl  der  einheitliche  Träger  als  auch  die  einheitliche  Leitung. 
Wie  im  Agnostizismus  ist  jede  scheinbare  Entwickelung  nur  Lim- 
Schwung  eines  Kreislaufs,  aufsteigender  Teil  einer  Welle,  Das  in- 
dividuelle Willenswesen  wird  durch  noch  so  viele  Erfahrungen 
noch  so  vieler  Lebensläufe  weder  klüger  noch  besser,  sondern 
setzt  mit  jedem  neuen  Lebenslauf  seine  Selbstquälerei  durch  Selbst- 
entzweiung fort  In  dem  Zwischenzustande  zwischen  zwei  Lebens- 
läufen muss  das  leiblose  Willenswesen  als  bewusstlos  oder  wenig- 
stens als  leer  von  jedem  bestimmten  Bewusstseinsinhalt  gedacht 
werden,  falls  nicht  gegen  die  materialistische  Errungenschaft  Ver- 
stössen werden  soll,  dass  ein  bestimmtes  BewüsstsMn  nur  auf 
Grund  einer  materiellen  Leiblichkeit  möglich  ist. 

Mit  der  Widerlegung  des  Evolutionismus  hat  Bahnsen  sich 
besondere  Mühe  gegeben;  ebenso  bekämpft  er  die  Teleologie,  so- 
weit sie    über   den   Individualzweck    und    die   zweckmässige   An- 


bildung  des  organischen  Leibes  durch  den  Individualcharakter 
hinausgeht.  Für  die  Teleologie  allein  sucht  er  den  subjektiv- 
idealistischen  Standpunkt  festzuhalten,  den  er  für  alle  übrigen 
Denk-  und  Anschauungsformen  überwunden  hat»  Der  positive 
Zweck  der  Welt  kann  nichts  anderes  sein ,  als  das  sich  Ausleben 
aller  Individualwillen  in  ihrer  ewigen  Selbstentzweiung,  Selbst- 
zerfleischung  und  Selbstquälerei,  die  damit  recht  eigentlich  ihren 
Willen  kriegen.  Bei  einem  unlogischen  Weltprincip  kann  auch 
der  Weltzweck»  wenn  überhaupt  noch  von  einem  solchen  ge- 
redet werden  soll,  nur  ein  unlogischer  sein. 

Der  letzte  und  tiefste  Grund,  warum  Bahnsen  an  einer  sub- 
stantiellen Getrenntheit  der  Henaden  festhält,  liegt  wohl  darin, 
dass  er  Wille  und  Substanz  identifiziert,  also  die  verschiedenen 
Individualwillen  auch  sofort  als  verschiedene  Substanzen  auffassen 
mus5.  »Der  Wille  selber  ist  das  Wollende  und  ist  nur  qua 
wollender;;  Thiin  und  Thäter  hier  noch  unterscheiden,  erklärt  er 
für  eine  mutwillige  Denkzerfaserung.  Bahnsen  verwirft  also  die 
Ansicht  Schopenhauers,  dass  die  Substanz  bloss  eine  Erscheinung 
für  das  Bewusstsein  sei,  und  bezeichnet  den  Willen  mit  dem 
Terminus,  der  ihm  auf  Schopenhauerschem  Standpunkt  vor  allem 
zukommt  Aber  das  Eigentümliche  ist,  dass  Bahnsen  im  allge- 
meinen die  Trennung  von  Subjekt  und  Prädikat  für  ein  unab- 
weisliches  logisches  Postulat  erklärt»  das  sich  nicht  zu  Ruhe 
bringen  lässt,  und  dass  er  andere  darum  tadelt,  die  Abstraktion 
eines  Thuns  ohne  Thäter  übrig  gelassen  zu  haben,  Nur  bei  dem 
einen  Punkte,  dem  Willen,  macht  er  ohne  nähere  Angabe  von 
Gründen  eine  Ausnahme  von  seinem  Grundsatz,  offenbar  weil 
ohne  diese  Ausnahme  sein  substantieller  Individualismus  den 
letzten  Halt  verlöre.  — 

Wenn  nun  die  Henaden  substantiell  sind,  so  sind  zwei  Fälle 
möglich:  entweder  sie  haben  Aseität  und  grundlose  Ewigkeit, 
oder  sie  sind  aus  der  Zersplitterung  einer  absoluten  Substanz, 
aus  einer  substantiellen  Selbstentzw^eiung  oder  vielmehr  Selbst- 
vervielung  des  Einen  Willens  entsprungen.  Wenn  dagegen  die  He- 
naden aus  einer  bloss  funktionellen  Selbstentzweiung  des  Einen 
hervorgegangen  w^ären,  dann  wären  sie  auch  nicht  gesonderte 
Substanzen,  sondern  nur  relativ  beständige  Thätigkeitsgruppen 
auf  Grundlage  der  absoluten  Substanz.  Die  Aseität  der  Henaden 
ist  nur  im  ersten  Falle  zu  retten,   ihre    getrennte  Substantlalität 


522 


Bähnseti. 


nur  in  den  beiden  ersten  Fällen»  während  der  dritte  Fall  zu  einem 
ontologischen  Monismus  hin  überleitet,  in  welchem  nur  phänomenal 
existierende  Individuen  Platz  haben.  Bahnsen  schwankt  ratlos 
zwischen  diesen  drei  Möglichkeiten. 

Die  Aseität  wäre  ihm  am  liebsten,  und  vor  der  Vervielfachimg 
des  in  ihr  Hegenden  Wunders  scheut  er  nicht  zurück;  aber  dann 
bleibt  die  Homogeneität  und  Gleichartigkeit  der  Henaden  iiner- 
'klärlich,  deren  thatsächliches  Gegebensein  Bahnsen  ebenso  aner- 
kennt, wie  ihre  Unentbehrlichkeit  fiir  die  reale  Wechselwirkung. 
Ebenso  unerklärlich  bliebe  in  diesem  Falle  die  in  der  Welt  unver- 
kennbare Tendenz  nach  Vereinheitlichung,  das  Streben  nach  Eins- 
werdung,  das  Bahnsen  an  Stelle  der  mangelnden  substantiellen 
Kinheit  setzen  möchte»  und  das  ihm  den  Zug  des  Gemüts  zum 
Pantheismus  erklären  solL  So  sehr  er  deshalb  an  vielen  Stellen 
die  Aseität  betont,  ebenso  sehr  hebt  er  an  anderen  hervor,  dass 
die  Individuen  nicht  wären  ohne  einen  gemeinsamen  Urgrund, 
dass  ihre  Homogeneität  von  diesem  gemeinsamen  Urgrunde 
herrührt,  und  ihre  Tendenz  zur  Vereinigung  gleichsam  isvie 
eine  Reminiscenz  aus  der  Zeit  ihres  realen  Einsseins  übrig  ge- 
blieben ist. 

Dann   fragt  es  sich   nur,    ob    die    realdialektische    Selbstent- 
zweiung des  Einen  Willens,   aus  dem  die  Henaden  entsprunge 
sein  sollen,   von  Bahnsen   als  substantieEe  oder  bloss  funktionelle 
aufgefasst    wird.       Hierauf    giebt    Bahnsen    die    Auskunft    (»^De 
Widerspruch  im  Wissen  und  Wesen  der  Welti,  S.  158),  dass  nur 
jenes  seine  Meinung  sein  konnte,  und  dass  dieses  nicht  bloss  elndj 
Abschwächung»   sondern  eine  Verfälschung  seines  Princips  wärewj 
Zugleich  bekennt  er  aber  auch,   dass  er  sich  bei  beidem   nicht 
Gescheites  vorstellen   könne,   und  dass  sein  Begriff  der  Substan 
keine  effektive  Zerteilung  zulasse.    Jedenfalls  kann  der  Begriff  defl 
realdialektischen  Selbstentzweiung  und  Selbstzerfleischung  die  sub- 
stantielle Zersplitterung  des  Einen  Urwillens  in  die  vielen  Henaden 
nicht  erklären.     Denn  dieser  Begriff  ist  gebildet  auf  Grund  der 
erfahrenen   Seelenkämpfe,  die  doch  thatsächlich  die  substantielle 
Einheit  der  Henade  unangetastet  lassen.    Er  müsste  also  bei  seiner 
Übertragung  auf  den  absoluten  Urwillen  eine  Umänderung  und  , 
Erweiterung  erleiden,    zu  der  keine  uns  bekannte  Erfahrung  eiai 
Recht  verleiht,   und    es   bliebe   dann    immer   noch   unbegreifüch* 
warum  die  realdialektische  Selbstentzweiung  innerhalb  der  Henade 


MainlUnder, 


523 


nicht  ebenso  wie  innerhalb  des  Urwillens  zur  substantiellen  Selbst- 
zersplitterung führt.*) 

b.  Die  pluralistische  WiUensmetaphysik. 

Mainländer  (richtig  Batz,  1841  — 1876)  macht  mit  der  sub- 
stantiellen, oder,  wie  er  sagt:  essentiellen  Zersplitterung  des  Einen 
Urwillens  ernst,  die  Bahnsen  zwar  ergreifen  zu  können  wünschte, 
bei  der  er  sich  aber  nichts  Gescheites  denken  konnte,  und  die  er 
sogar  für  unmöglich  erklären  musste.  Wenn  ich  bereits  im  Jahre 
1870  die  intelligiblen  Individuen  Bahnsens  »gleichsam  als  die 
Trümmer  (disjecta  membra)  eines  zerschlagenen  ci-devant  Gottes?. 
bezeichnet  hatte  (Phil.  Monatshefte,  Bd.  IV,  Heft  5,  S  386),  so  baut 
Mainländer  darauf  seine  im  Jahre  1874—1875  redigierte  »Philo- 
sophie der  Erlösung«.  Gleich  Bahnsen  ist  er  im  Gegensatz  zu 
Schopenhauer  transcen dentaler  Realist,  wenn  er  auch  seinen  Stand- 
punkt sonderbarerweise  transcendentalen  Idealismus  nennt  Gleich 
Bahnsen  schliesst  er  die  unbewusste  Vorstellung  als  unmöglich 
vom  Willen  aus,  versteht  also  auch  die  Idee  nicht  als  unbewusste 
Vorstellung.  Er  leugnet  die  Gattungsidee  Schopenhauers  und 
identifiziert  die  Individualidee  mit  dem  Individualwillen  in  dem 
Sinne,  dass  sie  die  bewusste,  vorsfellungsmässige  Auffassung  der 
diesem  Individualwillen  eigentümlichen  Art  der  Bewegung  be- 
deutet 

Aber  im  Gegensatz  zu  Bahnsen  verwirft  er  die  Unwandel- 
barkeit und  Ewigkeit  des  Willensindividuums  und  hält  an  dem 
Glauben  an  die  Möglichkeit  der  Erlösung  so  fest,  dass  er  sogar 
sein  System  ^Philosophie  der  Erlösung«  betitelt  Ursprünglich 
ist  sein  System  auf  reinen  Individualismus  und  darum  ebenso  wie 
das  Schopenhauersche  auf  eine  rein  individuelle  Erlösung  an- 
gelegt;**) aber  schon  bei  der  Redaktion  des  ersten  Bandes  im 
Jahre  1874  sucht  er  die  Universal  er!  ösung  nach  dem  Vorbilde 
der  »Philosophie  des  Unbewussten^  mit  der  Individualerlösung 
zu  vereinigen;  dies  gelingt  ihm  jedoch  trotz  einer  Umdeutung 
beider  so   wenig,    dass   er   vielmehr  den    Rahmen   seines    meta- 


♦)  Vgl  »Neukanüanisraufi,  Sdio|»eiibaaeriaiiismu5  und  Hcgtüanismust,  IV.,  »Bahn- 
sens chATukterologisdicr  Individualismus«,  S.  11  —  14.  31^3^*  175—^57;  »Philosophische 
Fragtn  der  Gegenwart«,  Xu.,   »Die  Realdklektik*,  S,  261—293» 

••)  Vgl  Sommcrlad:  »Aus  dem  Leben  Ph.  MainlÄodcre.  in  der  Zlschrft.  f  Phil, 
u.  phiL  KriL,    Bd.  tia,  S.  81,  79,  33,  84. 


£24  Mainländer. 

physischen  Individualismus  dadurch  aus  den  Fugen  treibt.  Im 
Gegensatz  zu  Schopenhauer  und  Bahnsen  fasst  er  mit  der  »Philo- 
sophie des  Unbewussten«  den  Weltprozess  als  das  Mittel  und 
den  Weg  zur  universellen  Erlösung  auf,  huldigt  also  einer  ge- 
schichtlichen Weltanschauung  und  glaubt  an  eine  reale  Ent- 
wickelung  teleologischer  Art.  Die  Bahnsensche  Realdialektik 
fällt  damit  für  ihn  hinweg,  da  die  durchgängig  zweckmässig  ver- 
anlagte Welt  rechtläufig  ihrem  Ziel  zueilt  und  es  spätestens  in 
einigen  Jahrhunderten  erreichen  soll  (Phil.  d.  Erlösung,  I,  312).  Die 
realistische  Seite  der  Schopenhauerschen  Naturphilosophie  ver- 
schmilzt er  einerseits  mit  dem  verschwommenen  Dynamismus  des 
monistischen  Naturalismus  der  Schellingschen  Schule,  andererseits 
mit  der  mechanistischen  Weltanschauung  des  naturwissenschaft- 
lichen Materialismus.  In  seinen  politischen  Zukunftsidealen  steht 
er  dem  Sozialismus  und  den  mystischen  Schwärmereien  Comtes 
Ucihe.  — 

Mainländer  billigt  Schopenhauers  Weg  nach  innen  zum  Ding 
an  sich  durch  die  Selbsterfassung  des  Willens;  aber  er  billigt  auch 
im  Gegensatz  zu  Schopenhauer  den  Kantschen  Weg  nach  aussen 
zum  Ding  an  sich  als  affizierender  Ursache  der  Sinneswahr- 
nehmung. Er  hat  also  zwei  Wege  statt  eines.  Er  tadelt  sogar 
Schopenhauer,  dass  er  den  Willen  nur  als  zeitliche  Erscheinung 
erfassen  zu  können  glaubt,  und  behauptet  mit  Unrecht,  dass  er  selbst 
ihn  als  Ansich  seiner  Individualität  unmittelbar  ergreife.  Er  hält 
zwar  an  der  Apriorität  des  Kausalitätsgesetzes  fest,  aber  nicht  an 
seiner  ausschliesslichen  Subjektivität,  sondern  nimmt  an,  dass  wir 
gerade  vermittelst  des  apriorischen  Kausalitätsgesetzes  mit  Recht 
von  der  Sinnesaffektion  auf  das  affizierende  Ding  an  sich  oder 
die  auf  uns  einwirkende  Kraft  schliessen.  Die  allgemeine  Kausa- 
lität aller  Dinge  an  sich  untereinander  in  der  Welt  erschliesst 
unsere  Vernunft  erst  a  posteriori  aus  vielen  Erfahrungen.  Auch  die 
Zeit  ist  erst  aus  einer  apriorischen  Synthese  der  Vernunft  zustande 
gekommen. 

Was  uns  subjektiv  als  Stoff  mit  sinnlichen  Qualitäten  erscheint, 
das  ist  objektiv  oder  real  oder  an  sich  nichts  weiter  als  Kraft  mit 
bestimmten  Bewegungsformen.  Nicht  die  Kraft  oder  der  Wille, 
der  mich  affiziert,  ist  blau,  rot,  schwer,  leicht,  glatt,  rauh;  wohl 
aber  liegt  in  seinem  Wesen  das,  was  so  auf  das  Subjekt  wirkt, 
dass  es  das  Objekt  in  diesen  Qualitäten  wahrnimmt  (Phil,  d,  Erl., 


Mainländer. 


5*5 


I,  514).  Das  Ding  an  sich  ist  nichts  als  Kraft  oder  Wille,  also 
schlechthin  unstofflich;  wir  können  es  aber  nur  als  stoffliches 
Objekt  wahrnehmend  auffassen  und  anschauen.  Das  Vorstellungs- 
objekt unterscheidet  sich  also  durch  seine  Stofflichkeit  und  die 
mit  ihr  verbundenen  sinnlichen  Qualitäten  vom  Ding  an  sich 
(ebd.  414).  Raum,  Zeit  und  Kausalität  dagegen  unterscheiden  das 
Objekt  nicht  vom  Dinge  an  sich  (ebd.  45).  Der  mathematische 
Raum  hat  zwar  kein  reales  Korrelat,  aber  der  Raum  Vorstellung 
überhaupt  entspricht  an  der  Kraft  die  reale  Wirksamkeitssphäre 
und  der  Zeit  die  reale  Seccession  der  Kraftv^nrkungen  (23).  Den 
Kant- Schopenhau ersehen  transcen dentalen  Idealismus  hat  also 
Mainländer  in  seinen  Fundamenten  so  umgebaut,  dass  er  die 
transcen  dentale  Gültigkeit  von  Ausdehnung,  Succession  und  Be- 
wegung in  den  Dingen  an  sich  unangetastet  bestehen  lässt  und 
nur  noch  die  ausschliesslich  subjektive  Idealität  des  Stoffes  mit 
seinen  sinnlichen  Qualitäten  behauptet,  da  er  im  Stoffe  nur  die 
Okjektivierung  der  fremden  Kräfte  für  das  Bewusstsein  sieht 
(454,  40 — 41}.  Nur  in  Bezug  auf  den  Stoff  (den  er  übrigens  stets 
-Materie«  nennt),  ist  Mainländer  noch  transcendentaler  Idealist 
geblieben,  in  allen  anderen  Beziehungen  ist  er  zum  transcendentalen 
Realismus  übergegangen.  Diese  richtige  erkenntnistheoretische 
Stellungnahme  findet  übrigens  bei  Mainländer  ebensowenig  eine 
Begründung  wie  bei  Bahnsen;  deshalb  konnten  auch  beide  auf 
den  Entwicklungsgang  der  Erkenn tnistlieorie  keinen  Einfluss  ge- 
winnen. — 

In  der  Naturphilosophie  verwirft  Meinländer  mit  Schopen- 
hauer die  atomistische  Gliederung  der  Kraft  als  eine  frivole  Aus- 
geburt der  perversen  Vernunft  (38,  39).  Er  giebt  die  Teilbarkeit 
der  chemischen  Kraft  zu,  aber  nicht  ihre  Zusammengesetztheit  aus 
Atomkräften.  Das  Individuum  eines  chemischen  Elements  ist 
eigentlich  die  ganze  Idee  desselben,  z,  B.  alles  Eisen,  das  im  Uni- 
versum vorkommt;  erst  durch  Teilung  dieses  eigentlichen  Indivi- 
duums entstehen  Teihndividuen,  wo  sich  eine  räumlich  geschlossene 
Sphäre  bildet,  2,  B.  ein  Stück  Eisen.  Substanzen  sind  diese  Indivi- 
duen nach  Mainländer  nicht;  wie  Schopenhauer  beschränkt  er  den 
Substanzbegriff  auf  stoffliche  Vorstellungsobjekte,  muss  ihn  also 
den  unstofflichen  Dingen  an  sich  versagen. 

Wie  der  Materialismus  durch  rein  mechanische  Bewegung 
aus  den  stofflichen  unorganischen  Elementen  die  Organismen  und 


5^6 


MainÜnder. 


aus  vorstelliingslosen  Bestandteilen  ein  Mischungsprodukt  mit 
einheitlich  vorstellendem  Bewusstsein  hervorgehen  Idsst,  so  auch 
Mainländer,  nur  dass  die  vorstellungslosen  Elemente  bei  ihm  un- 
stoffiiche  Kräfte  sind.  Die  Idee  oder  der  Typus  zweier  chemischen 
Elemente  ist  nur  durch  die  Bewegungsart  beider  verschieden ;  wo 
sie  zusammentreffen,  ergiebt  sich  aus  ihrer  verschiedenen  Be- 
wegung eine  Mischbewegung  der  verbundenen  Kräfte,  und  diese 
erscheint  uns  als  Idee  oder  Typus  einer  Kraft  höherer  Stufe.  Zerfällt 
die  Verbindung,  so  stirbt  die  Idee  oder  das  Individuum  höherer 
Stufe,  und  nur  die  einfacheren  Ideen  oder  Kräfte,  die  es  zusammen- 
gesetzt hatten»  leben  fort.  Da  es  soviel  Ideen  wie  Individuell, 
aber  keine  Gattungsideen  giebt,  so  entstehen  und  vergehen  die 
Ideen  höherer  Stufen  mit  den  Individuen  dieser  höheren  Stufen;  nur 
wenn  die  Mischungsbewegung  sich  durch  Zeugung  erhält,  dauert 
die  Idee  oder  das  Individuum  in  seinen  Nachkommen  fort 
Eigentlich  müsste  jede  Tierspecies  von  Mainländer  in  demselben 
Sinne  als  ein  einziges  Individuum  aufgefasst  werden,  wie  die  Ge- 
samtheit eines  chemischen  Elements,  und  die  Einzelindividuen 
wären  nur  Teilindividuen  dieser  betsimmten  Mischbewegung,  wie 
das  Stück  Eisen  ein  Teiliodividuum  der  elementaren  Bewegungs- 
form ist,  die  wir  Eisen  nennen.  Nur  unter  diesem  Gesichtspunkt  ist 
seine  Behauptung  zu  verstehen,  dass  der  Mensch  als  Individuum 
in  seinen  Kindern  reell  fortlebt.  Aber  diese  Auffassung  würde 
wieder  den  Individualismus  im  Sinne  des  Einzelwesens  zerstören, 
um  den  es  Mainländer  zu  thun  ist;  denn  sie  läuft  zuletzt  auf  die 
reelle  individuelle  Einheit  alles  organischen  Lebens  auf  der  Erde 
im  Sinne  eines  monistischen  Naturalismus  hinaus.  So  schlägt  der 
von  Mainländer  beabsichtigte  Pluralismus  in  seinen  Konsequenzen 
unwillkürlich  in  einen  Monismus  um,  weil  er  den  hylozoistischea 
Naturalismus  für  möglich  gehalten  hatte,  ohne  ihn  auf  den  d; 
naraischen  Atomismus  zu  stützen. 

UnsererVorstellung  des  Unorganischen  entsprechen  in  der  Wir! 
lichkeit  Kraft  emitun  geteilter  Bewegung,  unserer  Vorstellung  des  Or- 
ganischen Kräfte  mit  geteilter  Bewegung.  Unserer  Vorstellung  einer 
Pflanze  entspricht  die  Irritabilität  der  Kraft  auf  äussere  Reize, 
unserer  Vorstellung  eines  Tiers  die  Spaltung  In  Irritabilität  und 
Sensibilität  (50).  Im  Menschen  erhält  die  Sensibilität  durch  das 
Selbstbewusstsein  die  Fähigkeit,  in  sein  Inneres  zu  blicken*  Main- 
länder  operiert  hier   ganz   mit    den  Überlieferungen    der   älteren 


eöj 

] 


Mainlliider^ 


5^7 


Naturphilosophie.  Unserer  Vorstellung  des  Blutes  entspricht  der 
>Dämonc;  hier  verliert  sich  Mainländer  in  eine  phantastische 
Mystik  des  Blutes,  das  ihm  die  fehlende  Seele  ersetzen  soll. 

Dem  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft  stellt  er  als  sein  neues 
Weltgesetz  das  der  Schwächung  der  Kraft  gegenüber,  ohne  sich 
auf  eine  Widerlegung  der  induktiven  Grundlagen  des  ersteren 
einzulassen.  Während  der  Weltprozess  durch  Mischung  der  ele- 
mentaren ßewegungsweisen  zu  immer  höheren  Formen,  Typen, 
Ideen,  Individuen  und  Geistesstufen  führt,  soll  diese  Entwickelung 
des  idealen  Gehalts  der  Welt  erkauft  werden  mit  einer  allmäh- 
lichen Abschwächung  der  Intensität  der  Kraft,  Dieses  Gesetz  der 
Schwächung  der  Kraft  erscheint  Mainländer  dadurch  gesichert^ 
dass  es  ihm  als  unentbehrliche  Bedingung  der  universellen  Er- 
lösung gilt.  Was  er  dafür  gelegentlich  anführt,  steht  auf  sehr 
schwachen  Füssen:  die  Verkleinerung  der  vorweltiichen  Tiere  und 
Pflanzentypen  und  die  Abnahme  der  Grösse,  Kraft  und  Schönheit 
im  Menschengeschlecht.  Thatsächlich  hat  es  nie  ein  grösseres 
Tier  gegeben  als  den  Walfisch,  und  der  Mensch  hat  sich  ebenso 
wie  das  Pferd  erst  allmählich  aus  hässlichen  Zwergrassen  zu  seiner 
jetzigen  Grösse,  Kraft  und  Schönheit  emporgearbeitet  — 

Der  dynamische  Zusammenhang  aller  Kräfte  nötigt  über 
den  Individualismus  hinauszugehen  (102—105).  Da  aber  alle  Kau- 
salität immer  wieder  nur  auf  Individuen  fuhrt  und  innerhalb  des 
Reiches  der  Vielheit  bleibt,  so  ist  für  die  immanente  Sphäre  der 
Atheismus  wissenschaftlich  begründet  (103).  Beides  ist  nur  da- 
durch zu  vereinigen,  dass  die  Einheit  in  die  Vergangenheit  ver- 
legt wird,  während  der  Vielheit  die  Gegenwart  gehört.  Main- 
länder will  zwar  eine  immanente  Philosophie  geben,  d.  li.  hier 
nicht  etwa:  eine  bewusstseinsimmanente  oder  erkenntnistheoretisch 
immanente,  sondern:  eine  metaphysisch  immanente  Philosophie, 
die  sich  auf  die  Welt  der  Individuation ,  d.  h.  auf  das  Reich  der 
Dinge  an  sich,  beschränkt  Aber  er  erkennt  doch  die  Notwendig- 
keit eines  metaphysisch  Transcendenten  als  unentbehrlichen  Grenz- 
begriff an,  wenn  er  auch  nach  seiner  Ansicht  unerkennbar  bleibt 
Gleichwohl  hindert  ihn  dies  nicht,  über  dieses  metaphysisch  Trans- 
cendente  ganz  bestimmte  negative  und  positive  Behauptungen 
aufzustellen,  z.  B.  dass  es  frtlher  einmal  gewesen  ist,  aber  jetzt 
nicht  mehr  ist,  dass  es  eine  einfache  Einheit  war»  als  es  war  (mit 
Ausschluss  jeder  auch  nur  potentiellen  und  attributiven  inneren 


528 


Malnländer. 


Mannigfaltigkeit),  und  dass  es  das  denkbar  beste  und  vollkommen- 
ste Sein  war,  so  dass  kein  Grund  einer  Änderung  seines  Seins 
in  ihm  lag. 

Es  war  als  nihil  privativum  das  Übersein  oder  reine  AVesen, 
während    die    Sphäre   der  Existenz   die  metaphysisch   immanente 
Sphäre    des    Werdens,    der    Thätigkeit,    Bewegung,     Aktualität 
ist,    also    mit    dem    Reich    der  Vielheit    oder    Individuation    zu- 
sammenfällt,  die  damals  noch  nicht  existierte.     Mainländer  über- 
trägt aber  irrtümlich   die  Existenz  in  das  überseiende  Wesen  als 
solches  und  gelangt  dadurch   zu  unrichtigen  Folgerungen.      Das 
überseiende  Wesen  hatte  die  Wahl,  ob  es  eine  noch  nicht  seiende 
Existenz  setzen  wollte,  oder  nicht;  aber  es  hatte  nicht  die  Wahl, 
wie   Mainländer   annimmt,    ob   es    die   ihm   noch    gar    nicht   zu- 
kommende Existenz  behalten  oder  aufgeben  wolle.    Erst  nachdem 
es  die  Sphäre  der  Existenz   gesetzt  hatte,  konnte  ihm  die  Frage 
entstehen,  ob  es  dieselbe  bestehen  lassen,  oder  wieder    aufheben 
wolle;   im  letzteren   Fall  konnte  aber  die  Wiederaufhebung-   der 
Existenz    nur    zur   Wiederherstellung    des    reinen    überseienden 
Wesens,  d.  h.  zum  nihil  privativum,  aber  niemals  zum  absoluten 
Nichtsein   oder  nihil  negativum    führen;    denn   das  Übersein    des 
Wesens  kann  von  der  Negation  der  Sphäre  der  Existenz  in  keiner 
Weise  berührt  werden.     Wenn  überhaupt  so  etwas  wie  ein  über- 
seiendes Wesen  gedacht  werden  soll,  so  kann  es  nur  als  zeidos 
ewig  gedacht  werden;   es  hat  dann  keinen  Sinn,   von   einer  ver- 
gangenen Zeit  zu    reden,   in    der  es  war,  und  von  einer  gegen- 
wärtigen, in  der  es  nicht  mehr  ist,  oder  gar  von  einer  zukünftigen, 
in  der  seine  letzten  Reste  aufgehört  haben  werden  zu  sein.    Eine 
Existenz  kann  teilbar  sein,  eine  überseiende  Essenz  kann  es  nicht 
sein.    Alle  diese  Unmöglichkeiten  aber  behauptet  Mainländer,  weil 
er  das  Übersein  des  Wesens  und  die  Existenz  verwechselt,  und 
darauf  baut  er  seine  Auffassung  des  Weltprozesses  (320 — 327).  — 

Was  die  einfache  Einheit  unmittelbar  nicht  kann,  nämlich 
vom  Übersein  ins  Nichtsein  übergehen,  weil  seine  unzerstörbare 
Wesenheit  oder  essentia  das  Hindernis  dagegen  bildet,  das  soll 
sie  mittelbar  dadurch  vermögen,  dass  sie  ihre  Essenz  in  die 
Existenz  wirft,  in  die  Welt  der  Vielheit  zerspUttert  und  dort  sich 
von  einander  verzehren  und  aufreiben  lässt.  Der  Wille,  zu  welchem 
die  einfache  Einheit  sich  kraft  ihrer  transcendentalen  Freiheit  ent- 
schliesst,  ist  also  Wille  zum  Nichtsein  oder  Wille  zum  Tode,  imd 


Mainläßder. 


529 


der  Wille  zum  Leben  ist  nur  seine  Erscheinung;  denn  der  Zweck 
des  Lebens  ist  das  sich  Ausleben  der  Essenz,  die  Schwächung 
der  Kraft  bis  zur  NulL  Um  diesen  Zweck  zu  erreichen,  muss 
die  in  der  Welt  enthaltene  Kraftsumme  reif  werden  zum  Tode 
(330),  Was  unser  Bewusstsein  als  Mittel  und  Zweck  auseinander- 
halten muss,  das  ist  freilich  in  dem  inneren  Triebwerk  der  Natur 
vereinigt  (535 — 336).  Dass  der  Wille  zum  Leben  nur  Erscheinung 
eines  Willens  zum  Tode  ist,  bekundet  sich  bei  den  Gasen  in  ihrer 
Zerstreuung,  bei  den  Flüssigkeiten  in  ihrem  Zerfliessen,  bei  den 
Pflanzen  und  Tieren  in  ihrem  Absterben,  freilich  erst  nachdem 
sie  sich  fortgepflanzt  haben.  Aber  in  ihnen  allen  ist  der  Zweck 
des  Lebens  verdunkelt,  der  erst  vor  dem  Denkergeiste  strahlend 
und  leuchtend  aus  der  Tiefe  des  Herzens  emporsteigt  (334).  Wo- 
durch also  die  Welt  erlöst  und  der  Zweck  des  Weltprozesses  er- 
füllt wird,  das  ist  erst  der  bewusstc  Geist  auf  seiner  höchsten  Stufe. 

Der  Geist  bewirkt  die  Erlösung  auf  doppeltem  Wege:  vom 
Standpunkt  des  Individualismus  durch  die  Virginität  des  Einzel- 
nen, vom  Standpunkt  des  Universums  durch  das  vgrosse  Opfer« 
der  Menschheit,  welches  das  Erlöschen  der  unorganischen  Natur 
nach  sich  zieht,  und  durch  die  Entwickelung  des  idealen  Staates 
vorbereitet  wird.  Die  einzige  vollkommen  sichere  Erlösung»  die 
igleich  das  Individuum  rascher  zum  Ziele  fülirt,  ist  die  indivi- 
luelle  (21g t  216,  247).  Wer  nicht  vor  der  Gesamtheit  die  Er- 
'lösung  findet,  der  findet  sie  in  ihr  (600);  denn  das  Menschheits- 
schicksal stösst  auch  die  Nichtwollenden  unerbittlich  weiter  auf 
der  Bahn  zum  Ziele  (211).  Wer  nocli  keine  Kinder  hat,  der 
findet  in  der  Virginität  die  absolute  Erlösung;  wer  schon  welche 
hat,  möge  in  ihnen  die  wahre  Erkenntnis  wecken  und  sie  so  auch 
zur  Erlösung  führen  {220).  Wer  so  die  Erlösung  versäumt  hat, 
findet  sie  in  einigen  Jahrhunderten,  wenn  die  durch  den  idealen 
Staat  geläuterte  Menschheit  den  Kollektivselbstmord  vollzieht 
(311 — 312).  Die  Natur  wird  dann,  da  sie  ihren  Zweck  erreicht 
hat,  keine  neuen  menschenähnlichen  Wesen  hervorgehen  lassen 
(343)*  vielmehr  werden  alle  Tiere  und  Pflanzen  der  Menschheit 
nachsterben,  alle  Gase  sich  verflüssigen  und  auch  diese  Flüssig- 
keiten durch  Schwächung  der  Kraft  auf  Null  erlöst  werden  (344)* 

Vom  Standpunkt  des  Individualismus  ist  keine  Ethik  möglich 
als  die  des  Individualeudämonismus  oder  Egoismus,  deren  Wahl- 
spruch  ist:    pereat   mundus  dum   ego  salvus  sim    (213),    und   fiir 

£,  V.  HartmADD,  Ausgew.  V^'erke.     Bd.  Xll,  ^^ 


530 


Mainländer. 


welche  Recht  und  Unrecht  nur  etwas  Konventionelles  ist  (589).  Da 
alle  Handlungen,  sowohl  die  dem  Charakter  gemässen,  als  auch  die 
aus  Deliberation  ihm  zuwiderlaufenden,  egoistisch  sind  (189,  137), 
so  kann  es  gar  keine  andere  Ethik  geben,  als  Individualeudämonik 
(169).  Denn  die  Individualität  ist  im  innersten  Kern  Egoismus 
(530)  und  es  giebt  nur  egoistische  Handlungen  (573).  —  Gleich- 
wohl wird  Christus  gelobt,  weil  er  den  natürlichen  Egoismus  ab- 
geschnürt hat  (262),  und  wird  zum  Zweck  der  Erlösung  aller  (260) 
die  Hingabe  des  einzelnen  an  das  Allgemeine  (212),  das  willige 
Eintreten  in  die  Bewegung  des  Ganzen  (217),  die  Darbietung  der 
ganzen  Kraft  als  Werkzeug  an  das  Schicksal  (301)  gefordert  und 
die  bewusste  Übereinstimmung  des  individuellen  Willens  mit  dem 
teleologischen  Entwickelungsgang  des  Ganzen  zum  Fundament 
der  Moral  gemacht  (217,  218,  301). 

Diese  beiden  Moralprincipien ,  den  Egoismus  und  die  willige 
Hingabe  an  das  Ganze,  mit  einander  ohne  Widerspruch  zu  ver- 
einigen, hat  Mainländer  keinen  Versuch  gemacht.  Der  Egoismus 
fordert  die  Individualerlösung,  mag  aus  den  übrigen  Menschen, 
selbst  aus  den  eigenen  Kindern,  werden,  was  da  wolle.  Die  Hin- 
gabe an  das  Allgemeine  dagegen  fordert  Mitarbeit  an  der  Be- 
schleunigung der  universellen  Erlösung,  sei  es  auch  auf  Kosten 
einer  Verlangsamung  der  eigenen.  Mainländer  selbst  schätzt 
denjenigen  höher,  der  das  letztere  thut  (221 — 222)  und  erkennt 
damit  an,  dass  die  Hingabe  an  das  Ganze  ein  höheres  Moral- 
princip  ist  als  der  Egoismus.  Der  Egoismus  fordert  Virginität, 
wenn  diese  das  richtige  Mittel  zur  Selbsterlösung  ist;  der  höhere 
Zweck  der  Universalerlösung  dagegen  fordert,  dass  alle  Menschen 
sich  so  viel  als  möglich  in  neuen  Individuen  auseinanderlegen, 
damit  die  Reibung  im  Kampf  ums  Dasein  gesteigert  werde  (281). 
Dass  die  Virginität  der  höchstentwickelten  Geister  eine  umgekehrte 
Zuchtwahl  durch  Vergeudung  des  angesammelten  Vererbungs- 
kapitals zur  Folge  haben  würde,  hat  Mainländer  dabei  noch  gar 
nicht  beachtet.  Wenn  es  keine  Handlungen  giebt  als  egoistische, 
so  ist  die  Hingabe  an  das  Allgemeine  unter  persönlichen  Opfern 
eine  widersinnige  Forderung,  deren  Erfüllung  unmöglich  ist.  Wenn 
dagegen  die  Hingabe  an  das  Ganze  psychologisch  möglich  und 
zugleich  die  wahre  sittliche  Forderung  ist,  dann  ist  die  vorzeitige 
Selbstsalvierung  des  Einzelnen  eine  unsittliche  und  pflichtwidrige 
Handlungsweise. 


Die  nähere  Art  und  Weise,  wie  die  Erlösung  des  Einzelnen 
und  des  Weltganzen  sich  vollziehen  soll,  ist  sehr  anfechtbar. 
Wenn  es  nur  darauf  ankommt,  ohne  Nachkommen  zu  sterben, 
so  braucht  ja  der  Kinderlose  nur  sich  selbst  zu  töten,  und 
der  Kinderbesitzende  nur  seine  Kinder  mit  zu  töten.  Denn 
dadurch  erreicht  er  dasselbe  Ziel  schneller»  sicherer  und  schmerz- 
loser, als  durch  die  Virginität  Handelt  es  sich  aber  nur  darum 
der  Fortdauer  des  Individuums  in  seinen  Nachkommen  vorzu- 
beugen, so  giebt  es  dazu  viele  Mittel,  die  die  Kämpfe  der  Vir- 
ginität  ersparen.*)  Wenn  Mainländer  glaubt,  dass  gerade  durch 
diese  Kämpfe  die  Kraft  geschwächt  werde  (339 — 540),  so  fällt 
das  der  Kritik  seines  Gesetzes  der  Schwächung  der  Kraft  an- 
heim-  Jedenfalls  ist  nicht  einzusehen,  inwiefern  Seelenkämpfe 
um  die  Bewahrung  der  Virginität  die  Kraft  mehr  schwächen 
sollen,  als  irgend  welche  anderen,  und  warum  sie  nicht  ebenso- 
gut wie  andere  geeignet  sein  sollen,  die  Kraft  der  Selbstbeherr- 
schung und  Selbstüberwindung  zu  stärken.  Dass  das  Individuum 
als  solches  in  seinen  Nachkommen  fortlebt,  wird  niemand  glauben, 
der  auf  die  Mischung  der  Eigenschaften  in  den  Nachkommen 
aus  denen  der  Vorfahren  beider  Eltern  und  auf  die  Diskontinuität 
des  Bewusstseins  achtet.  Wäre  aber  die  Behauptung  Mainländers 
richtig,  so  wurde  sofort  aus  ihr  folgen,  dass  jeder  Mensch  ebenso 
mit  seinen  Vorfahren  wie  mit  seinen  Nachkommen  reell  eins  ist, 
also  auch  durch  seine  Vorfahren  mit  allen  übrigen  Nachkommen 
derselben,  d.  h.  mit  der  ganzen  Menschheit.  Ohne  die  reelle 
Einheit  mit  den  Nachkommen  hat  die  Virginität  als  Mittel  der 
individuellen  Erlösung  keinen  Sinn;  mit  dem  Zugeständnis 
dieser  Voraussetzung  wird  man  aber  sofort  von  der  Selbst- 
erlösung zur  Menschheitserlösung  hinübergeführt. 

Dnss  durch  das  Aussterben  der  Menschheit  auch  die  Erde 
absterben  und  das  Weltgebäude  verschwinden  sollte,  bedarf  wohl 
keiner  Kritik.  Ob  der  Kollektivselbstmord  der  Menschheit 
sich  gleichzeitig  oder  etwa  durch  allgemeine  Virginität  all* 
mählich  vollzieht,  das  macht  dabei  keinen  Unterschied.  Main- 
länder befindet  sich  eben  in  dem  fundamentalen  Irrtum,  als  ob 
der  Wechsel  zwischen  zwei  phänomenalen  Zuständen,  Leben  und 
Tod,  irgend  welchen  Einfluss  auf  das  metaphysisch  transcendente 


♦)  Vgl   »Das  sitllicbc  Bewuastseint.  i.  Aufl.,  S.  S49~55<' 


34' 


53« 


Mainläoder. 


Wesen  haben  könnte,  das  sich  nach  ihm  in  die  unorganischen 
chemischen  Elemente  zersplittert  hat.  Wenn  die  Menschheit  ein 
Ende  nimmt,  so  hören  ja  nur  bestimmte  Mischformen  der  Be- 
wegung auf,  zu  welchen  die  Bewegungsformen  der  unorganischen 
Elementarkräfte  sich  verbunden  haben  und  in  welche  sie  sich 
bei  diesen  Verbindungen  geteilt  haben;  aber  die  Kraftkompo- 
nenten selbst  bleiben  davon  ganz  unberührt.  Nur  ein  Akt  von 
metaphysisch  transcendenter  Bedeutung  kann  über  das  Sterben 
der  Verbindungen  hinaus  die  Existenz  der  Welt  selbst  aufheben; 
ein  solcher  aber  ist  dem  Menschheitsgeist  nur  dann  möglich, 
wenn  er  mehr  ist  als  Mischung  und  Teilung  der  Bewegungen 
unorganischer  Elementarkräfte,  Aber  selbst  die  Aufhebung  der 
gesamten  Existenz  könnte  doch  das  Übersein  des  Wesens  nicht 
berühren ,  sondern  höchstens  in  das  nihil  relativum  desselben  zu- 
rückführen, ohne  es  einem  absoluten  nihil  negativum  irgendwie 
näher  zu  bringen.  — 

Ebenso  wie  der  Mainländersche  Individualismus  an  der  Er- 
lösung des  Individuums  scheitert,  ebenso  an  der  Konstituie- 
rung desselben.  Er  möchte  die  transcen dentale  Freiheit  der  Selbst- 
setzung dem  Individuum  retten,  indem  er  sich  das  Individuum  als 
präexistent  in  der  einfachen  Einheit  vor  ihrem  Zerfall  denkt,  und 
die  transcendentale  Freiheit  des  einheitlichen  Ganzen  auf  ihre 
präexistenten  Bruchstücke  überträgt  (559).  Es  ist  aber  klar,  dass 
in  einer  einfachen  Einheit  noch  kein  Platz  für  eine  Vielheit 
von  Individuen  ist,  die  sich  ihren  Charakter  selber  wählen,  und 
dass  nach  der  freien  Selbstzcrsplittening  des  absoluten  Wesens 
jedes  Bruchstück  sich  so  vorfindet,  wie  es  durch  die  That  des 
Absoluten,  aber  nicht  durch  die  seinige,  bestimmt  ist  Übrigens 
kann  aus  einer  einfachen  Einheit  niemals  eine  Vielheit  und  ein 
Prozess  entspringen;  aber  selbst  ein  in  sich  vieleiniges  Wesen  kann 
niemals  die  Einheit  seines  Wesens  in  eine  Vielheit  von  Wesen 
zerspalten  und  zersplittern,  wie  Mainländer  annimmt*  Dass  Main- 
länder die  vorwekliche  Einheit  Gott  nennt,  ist  ein  Wortmissbrauch, 
da  Gott  nur  das  Absolute  als  Objekt  des  religiösen  Verhältnisses, 
also  nur  innerhalb  des  Weltprozesses  heissen  darf.  Das  Evan- 
gelium Mainländers,  dass  Gott  gestorben  sei  (108),  ist  nicht,  wie 
er  meint,  die  erstmalige  wissenschaftliche  Begründung  des  Atheis- 
mus (103)1  sondern  eine  metaphysische  Absurdität  und  eine  reli* 
giöse  Blasphemie.     Alles  was  Mainländer  gegen  den  Pantheismus 


Hamerltng. 


533 


vorbringt,  passt  nur  auf  den  abstrakten  Monismus,  der  in  der 
That  das  Individuum  zu  einem  blossen  Schein  ohne  reelle  Existenz 
verflüchtigt,  aber  nicht  auf  den  konkreten  Monismus, 

Eine  einfache  Einheit,  die  weder  Wille,  noch  Geist,  noch  ein 
Ineinander  von  beiden  ist  (322),  kann  niemals  Gott  weder  sein 
loch  werden,  kann  aber  auch  niemals  so  geschickt  platzen,  dass 
^ihre  Bruchstücke  einen  teleologischen  Weltprozess  aufführen 
müssen.  Der  gegenwärtige  dynamische  Zusammenhang  der  Welt 
kann  niemals  durch  eine  entschwundene  frühere  Einheit  erklärt 
werden,  sondern  nur  durch  eine  ewige,  die  zu  jeder  Zeit  besteht. 
Das  Leben  der  Welt,  das  Gottes  Tod  ist.  gleicht  einem  Uhrwerk, 
das  vom  Uhrmacher  so  eingerichtet  ist,  um  mit  dem  letzten 
Pendelschlag  zu  zerfallen,  oder  einem  Mühlwerk,  das  nicht  nur 
das  Aufgeschüttete,  sondern  auch  sich  selbst  zerreibt  und  ohne 
Rest  aufzehrt.  So  wenig  es  jemals  dem  Nichts  gelingen  würde, 
sich  durch  Zerspaltung  und  Verbindung  seiner  Teile  zum  Sein  em- 
por zu  schwindeln,  so  aussichtslos  wäre  jeder  Versuch  des  Seins, 
durch  Spaltung  und  Selbstzerreibung  sich  ins  Nichts  aufzulösen.  — 

Der  Dichter  Hamerling  {1830 — 1889)  nimmt  in  seiner  »Ato- 
mistik des  Willens«,  die  1890  erschienen,  aber  der  Hauptsache 
nach  wohl  schon  in  den  siebziger  Jahren  verfasst  ist,  eine  von 
Bahnsen  und  Mainländer  abweichende  Stellung  ein,  indem  er  den 
Einen  AllwUlen  oder  die  Eine  Urkraft  fortdauern  lässt,  wenngleich 
sie  sich  ewig  in  vielen  Willensmonaden  oder  Atomkräften  verend- 
licht. Er  giebt  zu,  dass  dieser  Urwille  sich  nicht  teilen  oder 
substantiell  zersplittern  könne,  behauptet  aber,  dass  er  sich  in 
vielen  Kräften  oder  Willen  wiederholt,  weil  das  Unendliche 
nur  in  der  Verendlichung,  das  Eine  nur  in  der  Vervielung  zum 
Leben  und  Dasein  gelange.  Wie  das  Unendliche  es  anfängt, 
sein  Wesen  ohne  Teilung  zu  verendlichen  und  solche  Verend- 
lichung vielmals  zu  wiederholen,  darüber  lässt  Hamerling  sich 
nicht  näher  aus.  Die  »Philosophie  des  Unbewusstenc  tadelt  er 
darum,  dass  sie  diese  Wiederholung  und  Verendlichung  des 
Willens  als  blosse  Willensakte  deute,  und  fordert,  dass  die  Monaden 
wirkliche  Willens wesen  und  Wille nssubjekte  seien.  Als  Grund 
führt  er  an,  dass  das  individuelle  Icligefühl  unmöglich  wäre, 
wenn  das  Subjekt  des  WoUens  in  seiner  Einheit  als  absolutes 
Subjekt  verharrte.  Merkwürdigerweise  erkennt  aber  gerade 
Hamerling  an,   dass  das  besondere  Ich  nur  ein  Objekt,    ein  Ge- 


534 


Hamerling. 


wusstes,  ein  Bewusstseinsphänomen  ist,  und  dass  das  Subjekt,  das 
Wissende  zu  diesem  Gewussten,  das  allgemeine  Ich*  eine  reine 
unpersönliche  Thätigkeit,  oder  ein  Sein  sei,  das  erst  durch  den 
Gegensatz  gegen  das  Objekt  und  Nichtich  zum  Subjekt  und  Ich 
werde  (Atomistik  des  Willens,  I,  219—220,  226,  253).  Wenn  also 
allen  individuellen  Bewusstseinsichs  nur  das  eine,  allgemeine^B 
absolute  Subjekt  zu  Grunde  liegt,  so  sollte  man  meinen,  dass^l 
darin  eher  ein  Hinweis  liegt,  dass  auch  für  alle  individuelle 
Willensakte  nur  ein  allgemeines,  absolutes  Subjekt  des  Wollens 
erforderlich  sei  und  in  der  That  sieht  Hamerling  alle  Atome  als 
Ein  Atom,  d.  h.  alle  Atomvvillen  als  Einen  Willen  an* 

Von  Bahnsen  und  der  >Philosophie  des  Unbewusstenc  unter- 
scheidet sich  Hamerling  auch  darin,  dass  bei  ihm  alle  Individuen 
höherer  Ordnung  ebenso  wie  bei  Haeckel,  Spencer  und  Mainländer 
blosse  Summationsphänomene  aus  Individuen  niederer  Ordnung. 
letzten  Endes  also  aus  Atomkräften  sind,  und  zwar  sowohl  nach 
ihrer  äusseren,  wie  nach  ihrer  inneren  Erscheinung.  Die  Mit- 
wirkung einer  hinzukommenden  Thätigkeit  höherer  Ordnung 
bleibt  unbedingt  ausgeschlossen,  sowohl  eine  solche»  die  aus  einer 
einheitlichen  Willensmonade  höherer  Art,  als  auch  eine  solche, 
die  unmittelbar  aus  dem  Absoluten  stammt.  Insofern  er  alles 
Dasein  als  Leben  und  alles  Leben  als  reine  Zusammensetzung 
aus  dem  Leben  der  Atome  auffasst,  bekennt  er  sich  zum  Hylozois- 
mus.  Jedes  Atom  hat  Existenzgefühl,  aus  dem  sich  ein  Ich  ent- 
wickeln kann.  >Das  Atom  ist  Princip  des  Lebens,  das  Ich  Princip 
des  Denkens,  das  Atom  Princip  des  Unbewussten,  das  Ich  Princip 
des  Bewussten.  In  diesem  Sinne  kann  man  sagen,  dass  das  un- 
endliche Sein  sich  »setzt«  als  endliches,€  »Wie  alle  Atome  Eins 
sind,  so  sind  alle  Ich  Eins^  (ebd.  I»  254 — 235).  Das  Gesamt- 
bewusstsein  eines  Individuums  höherer  Ordnung  summiert  sich 
aus  den  Bewusstseinen  seiner  Elemente,  deren  Bewusstseine 
zu  ihm  verschmelzen,  d.  h.  es  ist  ein  aus  Punktuellem  zusam- 
mengesetztes Kollektivbewusstsein  (ebd.  L  Z39,  256),  Wie  kann 
dann  aber  das  Ich  des  zusammengesetzten  Individuums  auf  ein 
besonderes  Individualwesen  hindeuten,  wenn  seine  Einfachheit 
auf  Täuschung  beruht?  Wie  kann  für  die  innere  Erscheinung  ein 
Individualismus  festgehalten  werden,  wenn  das  Individuum  doch 
nach  innen  ebenso  wie  nach  aussen  nichts  ist  als  Produkt  aus 
der  Aggregation  der  Atomempfindungen  und  Atomkräfte? 


HAmerling» 


533 


In  der  Erkenntnistheorie  bekämpft  Hamerling  den  Aprioris- 
mus  Kants  und  der  Neukantianer,  weil  er  selbst  mit  in  dem  Irr- 
tum dieser  seiner  Gegner  befangen  bleibt,  als  ob  der  apriorische 
Ursprtiog  der  Kategorien  ihre  bloss  subjektive  Geltung  nach 
sich  ziehe.  Er  ist  transcen dentaler  Realist  in  Bezug  auf  die  Denk- 
formen und  die  Teleologie,  bleibt  aber  transcendentaler  Idealist 
in  Bezug  auf  die  Anschauungsformen»  trotzdem  er  ihre  Apriorität 
bestreitet.  Der  Grund  dafür  liegt  darin»  dass  Hamerling  das 
Reich  der  Individuation  oder  die  objektiv  reale  Welt  für  schlecht- 
hin diskret  mit  Ausschluss  jeder  Art  von  Kontinuität  hält  Alle 
kontinuierlichen  Formen  des  Daseins  und  Geschehens  können 
demnach  nur  ein  subjektiver  Schein  sein,  der  sich  bei  dem  Ver- 
suche, diese  diskrete  Vielheit  synthetisch  zu  apperzipieren ,  ent- 
wickelt. Er  steht  hier  unter  dem  Einfluss  Herbarts,  vermag  aber 
die  Schwierigkeiten,  die  dieser  ungelöst  gelassen,  nicht  zu  verrin- 
gern. Dass  Zeit  und  Raum  doch  irgendwie  auf  das  Reich  der  Dinge 
an  sich  bezogen  und  angewandt  werden  müssen,  leugnet  er  nicht, 
ja  er  schreibt  sogar  den  Atomkräften  Expansion  und  Kontraktion, 
also  räumliche  Bewegung  zu.  Aber  er  bestreitet,  dass  der  reale, 
oder  intelligible,  oder  absolute  Raum  noch  Raum  zu  nennen  sei. 

Dass  der  StoflF  nur  ein  Vorstellungsbild  von  dem  Wirken  im- 
materieller Kräfte  sei,  darüber  ist  Hamerling  mit  den  übrigen 
Willensmetaphysikern  einverstanden;  aber  er  huldigt  nicht,  wie 
Mainländer,  dem  Irrtum,  als  ob  dieser  Punkt  allein  genüge,  den 
Namen  des  transcendentalen  Idealismus  festzuhalten.  Vielmehr 
sieht  er  ein,  dass  schon  die  Anerkennung  der  transcendentalen 
Realität  der  Denkformen  allein  genügt,  um  den  Standpunkt  des 
transcendentalen  Realismus  sicher  zu  stellen,  und  dass  selbst  das 
Festhalten  an  der  transcendentalen  Idealität  der  Anschauungs- 
formen den  traoscendentalen  Realismus  wohl  modifizieren,  aber 
nicht  in  transcendentalen  Idealismus  zurückwerfen  kann.  Die  Ab- 
neigung Bahnsens  und  Maioländers  gegen  den  Begriff  der  »un- 
bewussten  Vorstellungc  teilt  er  nicht,  sondern  hält  ihn  für  eine 
zutreffende  Formulierung  des  Thatbestandes  und  den  an  ihm  haf- 
tenden Widerspruch  für  blossen  Schein.  Den  Pessimismus  be- 
kämpft er  vom  Standpunkt  des  Lebensgefühls,  der  Teleologie  und 
der  ästhetischen  Weltauffassung,*)  — 

*)  ^E^*  mdneti  Aufsau  »Robert  HamerLIxig  als  FbUosoph«  In  der  »Gegenwart«, 
189I1  No.  I. 


e^5        Übergvng  von  der  substantiellen  zur  fraktioneUen  Willensmetaphysik. 

Die  bisher  besprochenen  Individaalisten  sind  ^lelchmässig  an 
dem  Versuch  gescheitert»  die  Substantialität  der  höheren  oder  auch 
bloss  die  der  niederen  Individuen  mit  der  Substantialität  des  Abso- 
luten zu  vereinigen,  das  sie  für  die  Gleichartigkeit  der  vielen  Indi\i- 
dualsubstanzen  ebenso  wenig  entbehren  konnten,  wie  für  die  ein- 
heitliche Gesetzmässigkeit  den  dynamischen  Zusammenhang*  und  die 
teleologische  Verein heitlichungstendenz  des  ganzen  Weltprozesse& 
Sie  mussten  an  diesem  unlösbaren  Problem  sich  ebenso  verg^eblich 
abmühen,  wie  die  Theisten.  Ob  die  absolute  Substanz  absoluter 
Wüle  oder  absolute  Persönlichkeit  ist,  macht  keinen  Unterschied 
in  Bezug  auf  die  Unmöglichkeit  aus,  dass  sie  sich  in  abgelötete 
Substanzen  teilen,  zersplittern,  vervielfältigen  soll  Wenn  der 
wahren  und  echten  Substanz  Aseität  zukommt,  so  können  die 
durch  Teilung,  Setzung  oder  Schöpfung  entstandenen  Substanzen 
nur  uneigentliche  Pseudosubstanzen  sein;  denn  ihnen  fehlt  die 
Aseität,  gleichviel  ob  sie  vor  endlicher  oder  vor  unendlicher  Zeit 
angefangen  haben  zu  existieren»  ob  ihre  Entstehung  aus  der  ab- 
soluten Substanz  zeitlich  oder  ewig  war.  Sind  hingegen  die  In- 
dividuen wahre  und  echte  Substanzen,  dann  dürfen  sie  nicht  eine 
absolute  Substanz  zu  ihrem,  gleichviel  ob  begrüFlichen  oder  zeit- 
lichen Prius  haben.  Aber  wenn  es  mit  dem  Substanzbegriff  nicht 
geht,  so  geht  es  vielleicht  ohne  ihn.  Auf  der  Basis  der  Willens- 
metaphysik war  bis  dahin  noch  kein  Versuch  gemacht  worden,  die 
Substanz  im  metaphysischen  Sinne  völlig  auszuscheiden.  Bahn- 
sen hatte  Wille  und  Substanz  ausdrücklich  identifiziert;  Mainländer 
hatte  zwar  das  Wort  »Substanz*  vermieden,  aber  an  seine  Steile 
das  auf  sich  selbst  beruhende  j«> Wesen«  gesetzt.  Es  musste  ein- 
mal versucht  werden»  den  reinen  Herakliteismus  in  der  WiUens- 
metaphysik  durchzuführen,  die  substanzlos  auf  sich  selbst  gestellte 
Thätigkeit  als  Wollen  zum  Princip  zumachen  und  auf  dieser  Grund* 
läge  den  Pluralismus  der  Atomkräfte  mit  einem  Absoluten  zu  ver- 
einigen. 

Dass  die  in  der  Luft  schwebende  Thätigkeit  des  spekulativen 
Pantheismus  gerade  der  Grund  für  die  Auflösung  des  Pantheismus 
und  seine  Ersetzung  durch  Theismus  und  Materialismus  geworden 
war,  das  konnte  nur  einen  Denker  stutzig  machen,  der  von  diesem 
Entwickelungsgange  der  Metaphysik  dieses  Jahrhunderts  Kenntnis 
und  Verständnis  hatte.  Glücklicher  Weise  fand  sich  einer,  dem 
beides  fehlte^  weil  er  von  der  Naturwissenschaft  herkam  und  bei 


WondL 


537 


seinen  nachträglichen  philosophischen  Studien  von  der  Philosophie 
der  beiden  letzten  Menschenalter  fast  ausschliessh'ch  den  Agnosti- 
zismus berücksichtigte.  So  konnte  die  Probe  auf  das  Exempel 
unbeirrt  von  störenden  Nebenrücksichten  angestellt  und  das  wert- 
volle Erg^ebnis  gewonnen  werden,  dass  auf  diesem  Wege  die 
pluralistische  Willensmetaphysik  ebensowenig  zu  einem  haltbaren 
Standpunkt  durchzubilden  ist,  wie  vermittelst  substantieller  Willens- 
monaden« — 


Wundt  (geb.  1832)  hält  den  naiven  Realismus  in  Bezug  auf 
die  numerische  Identität  von  Vorstellungsobjekt  und  Ding  an  sich 
(von  ihm  »reales  Objekt«  genannt)  fest  und  bleibt  der  Gewohnheit 
der  Naturwissenschaften  treu,  nur  Stück  für  Stück  die  Eigen- 
schaften des  Objekts  ins  Subjekt  zurückzunehmen,  ohne  darum 
den  Grundirrtum  des  naiven  Realismus  principiell  aufzugeben. 
Von  Leibniz  übernimmt  er  die  Wahrheit  der  begrifflichen  Ver- 
standeserkenntnis im  Gegensatz  zu  der  Unwahrheit  der  unmittel- 
baren anschaulichen  Wahrnehmung.  Von  Kant  die  Unterschei- 
dung von  Verstand  und  Vernunft,  Verstandesbegriffen  und  Ver- 
nunftideen, die  Unwirklichkeit  der  letzteren  und  den  Begriff  der 
synthetischen  Apperzeption  in  einem  Sinne  des  Wortes,  der  von 
dem  in  der  modernen  Psychologie  üblichen  weit  abweicht  Von 
Heraklit,  Fichte  und  Hegel  die  substanzlos  in  der  Luft  schwe- 
bende Thätigkeit,  welche  erst  mittelbar  den  Schein  von  Substanzen 
hervorbringt.  Von  Herbart  die  Behauptung,  dass  das  Ding  mit 
vielen  Eigenschaften  einen  Widerspruch  einschliesse  und  dass  die 
Gottesidee  nicht  in  das  Bereich  der  Wissenschaft  und  Philosophie, 
sondern  lediglich  In  das  des  Glaubens  gehöre.  Von  der  WUlens- 
metaphysik  Schopenhauers  und  noch  mehr  seiner  die  Idee  leug- 
nenden Jünger  das  Vorurteil,  als  ob  der  Wille  der  Vorstellung 
nicht  als  eines  koordinierten  Princips  bedürfe  *  sondern  dieselbe 
aus  sich  allein  hervorbringen  könne»  Von  Lange  die  Psychologie 
ohne  Seele,  d.  h.  den  Glauben,  dass  das  Seelenleben  keiner  geis- 
tigen Substanz  bedürfe.  Vom  metaphysischen  Dogmatismus  aller 
Zeiten  den  unkritischen  Glauben,  als  ob  die  Philosophie  es  mit 
Erkenntnissen  von  apodiktischer  Gewissheit  zu  thun  habe  und 
die  verächtliche  Geringschätzung  der  blossen  Wahrscheinlich- 
keit Von  der  mechanistischen  Weltanschauung  eines  Haeckel 
und  Spencer  (ebenso  wie  Mainländer  und  Hamerling)  den  Hylo- 


538 


WnndU 


Beseeltheit  aD« 


zoismus'*'),  d.  h,  die  Empfindungsfähigkeit  u 
Atome,  und  die  Annahme,  dass  die  höheren  Individuen  blosse 
Summationsphänomene  aus  dem  Zusammenwirken  der  Uratome 
ohne  jeden  Hinzutritt  höherer  Willcnsakte  seien. 

Mit  Bahnsen  teilt  er  die  Neigung,  die  ideale  Tendenz  zur 
Vereinheitlichung  im  Weltprozess  an  die  Stelle  einer  ihm  zu  Grunde 
liegenden  realen  Einheit  zu  setzen»  mit  dem  Theismus  die  Sehn- 
sucht nach  einem  Gott,  für  den  auf  seinem  Standpunkt  schlechter- 
dings kein  Platz  ist,  mit  dem  Agnostizismus  den  völlig  proble- 
matischen, jeder  ReaUtät  ermangelnden  Charakter  der  Idee  des 
Absoluten  und  die  absolute  Unbestimmtheit,  Unbestinimbarkeit 
und  Unerkennbarkeit  ihres  Inhalts.  Von  Fechner  entlehnt  er 
den  psychophysischen  Parallelismus,  der  aber  in  seinen  spätereo 
Schriften  von  ihm  selbst  thatsächlich  überwunden  worden  ist,*^) 
und  die  Erklärung  der  unbewusst  zweckmässigen  Bethätigiing  des 
Organismus  aus  der  Mechanisierung  früherer  bewusster  Zweck- 
thätigkeit.  Wundt  hat  ersichtlich  Unglück  darin  g:ehabt,  von 
allen  möglichen  Vorgängern  gerade  solche  Punkte  zur  An* 
eignung  ausgewählt  zu  haben »  deren  Unhaltbarkeit  bereits 
durch  den  Fortgang  der  geschichtlichen  Eiitwickelungf  darg^etbao 
war.  — 

In  der  Erkenntnistheorie  verwirft  er  den  naiven  Realismus,  in- 
soweit dieser  den  subjektiven  Schein  der  Anschauung  für  etwas 
Reelles  am  realen  Objekt  (Ding  an  sich)  nimmt,  den  transcen- 
dentalen  Idealismus,  insofern  er  Apriorismus  ist  und  ein  den 
Denkformeo  entrücktes  Ding  an  sich  lehrt.  Er  selbst  ist  naiver 
Realist  in  Bezug  auf  die  numerische  Identität  von  Vorstellungs- 
objekt und  unabhängigem  realen  Objekt  (Ding  an  sich),  trans^ 
cendentaler  Realist  in  Bezug  auf  die  Denkformen,  aber  trans» 
cendentaler  Idealist  in  Bezug  auf  die  Anschauungsformen,  soweit 
diese  an  AnschauungeQ  haften.  Nur  als  reine  Begriffe  sollen 
Raum  und  Zeit  ebenfalls  eine  transcendente  Geltung  haben.  Die 
Apriorität  der  Anschauungs-  und  Denkformen  verwirft  er  nur 
für  das  Bewusstsein,  als  vorhergehende  Begriffe  und  leere  Formen ; 


*)  "Wondt   musbrancbt    die  Termini,    z.  B.  Hylozoismus    für   Fecbsers    Gestira- 
beseelung,   Aoiaiismuj!    für   ThcÜsmus,  Appercepüon   für  Wille,   Intellektiuilismus  r"ur 
Logumns,  Ideali»mtis  für  SpintualiKmiis,  Spiritualismus  für  Idealismus,   traiuceadeaten 
Monismus  für  Idendtätsphilosophie,  reales  Objekt  für  Diag  an  sich  u,  s.  w* 
*♦)  Gnindriss  der  Psycholc^e,  3.  Aufl.,  S,  383—389. 


d 


Wuadt. 


539 


hl  dr  aber  unbewusste  Geistesthätigkeit  leugnet,  so  gilt  diese  Ver- 
werfung unbedingt.  Die  Vorstellungen  werden  auf  die  realen 
Objekte  (Dinge  an  sich)  bezogen,  deren  Bilder  oder  Symbole  sie 
sind;  diese  aber  entsprechen  ihnen  als  von  uns  unabhängige 
Existenzen  und  sind  ihre  mittelbaren  Ursachen.  Das  klingt  ganz 
transcendental-realistisch;  aber  dass  solche  unabhängige  Existenzen 
neben  und  hinter  unseren  Vorstellungen  vorhanden  sind,  will 
Wundt  naiv  realistisch  durch  die  (numerische)  Identität  von  Vor- 
steUung(sobjekt)  und  (realem)  Objekt  in  der  Anschauung  erweisen. 
Das  »reale  Objekt«  ist  ihm  nichts  anderes  als  die  Vorstellung 
selbst  nach  Anbringung  der  logischen  Korrekturen.  Trotzdem 
soll  es  die  relative  Konstanz  und  Beharrlichkeit  haben,  die  dem 
Vorstellungsobjekt  fehlt,  weil  es  •  vorstellbar« ,  d.  h.  Vor- 
stellungsmöglichkeit im  Sinne  Mills  bleibt.  Wie  dieses  bloss 
mögliche  reale  Objekt  Ursache  der  wirklichen  Vorstellung  werden 
könne,  und  wie  es  als  Ursache  mit  seiner  Wirkung  in  Eins 
fallen  kann,  hat  Wundt  nicht  erklärt  Ebensowenig  hat  er  er- 
läutert, wie  die  Begriffe  unseres  abstrakten»  reflektierten,  diskur- 
siven Denkens  auf  die  ^^realen  Objekte«  anwendbar  sein  können, 
da  er  doch  ein  unbewusstes  intuitiv  Logisches  als  Bestimmungs- 
grund für  die  Beschaffenheit  der  »realen  Objekte«  leugnet  und 
diese  ganz  als  Produkte  von  einseitigen,  blinden  Willensakten 
auffasst.  Die  begriffliche  Verstandeserkenntnis  nennt  Wundt 
äussere,  die  anschauliche  Wahrnehmungserkenntnis  aber  innere 
Erfahrung.  Der  Verstand  ist  nach  ihm  analytisch»  interpretiert, 
erklärt  und  begreift;  die  Vernunft  ist  synthetisch,  ergänzt  und 
ergründet  Diese  Unterschiede,  die  Wundt  selbst  überall  ver- 
wischen muss,  weil  sie  gar  keine  haltbaren  Grenzen  ziehen,  nimmt 
Wundt  zum  Anlass,  um  mit  Kant  transcendente  Vernunftideen 
über  den  Verstandesbegriffen  aufzustellen.  Diese  fallen  aber  teils 
in  das  Bereich  der  Verstandeserkenntois,  teils  in  das  unbestimmte 
Unerkennbare,  w^o  alles  Denken  aufhört.  Sie  sind  ein  offen- 
barer Verstoss  gegen  die  induktive  Methode,  der  ein  von  der 
Naturwissenschaft  ausgehender  Denker  am  wenigsten  untreu 
werden  sollte,  und  ein  Hioübertreten  auf  den  Langeschen 
Standpunkt  fiktiver  Begriffsdichtung,  den  doch  Wundt  selber 
bekämpft. 

Wundts  Tafel  der  Verstandesbegriffe  und  Vernunftideen  ist 
folgende : 


^^O  Wundt. 

A.  Verstandesbegrlffe. 

I.  Reine   Formbegriffe. 
Einheit 

Mannigfaltigkeit 
Qualität  Quantität 

Das  Ein-       Das  Zusam-  Das  Ein-        Die  Viel- 

fache mengesetzte  zelne  heit 

Allgemeiner  Zahlbegriff 
Unabhängig  Abhängig 

veränderliche  Zahl         veränderliche  Zahl 
Allgemeiner  Funktionsbegriff. 
2.  Reine  Wirklichkeitsbegriffe. 
Sein  Werden 

Substanz  Kausalität 

Substanz  und  Accidenz  Ursache  und  Wirkuncf 

Kraft 
Potentielle  Kraft  Aktuelle  Kraft 

Substantielle  Kausalität  Aktuelle  Kausalität 

Ursache  Zweck. 

B.  Transeendente  Yernunftideeii. 

1.  Kosmologische  Ideen. 
Raum  Zeit 

Unendliche      Unendliche  Unendliche       Unendliche 

Teilbarkeit      Ausdehnung  Vergangenheit       Zukunft 

Materie  Kausalität 

Begrenzte  oder    Begrenzte  oder  Bestimmter  Bestimmtes 

unbegrenzte         unbegrenzte  oder  unbestimm-    oder  unbestimm- 

Teilbarkeit         Ausdehnung  ter  Anfang  tes  Ende 

2.  Psychologische  Ideen. 
Einzelseele  Gesamtgeist 

3.  Ontologische  Ideen. 
Individuelle  Einheit  Universelle  Einheit. 

Zu  beachten  ist  dabei,  dass  die  Anschauungrsformen  hier 
unter  die  transcendenten  Vemunftideen  subsumiert  sind,  dass 
Einheit  sowohl  unter  den  formalen  Verstandesbegriffen,  als  auch 


Wtmdt. 


541 


tinter  den  ontologischen  Vernunftideen  figuriert,  und  dass  Kau- 
salität sowohl  unter  den  realen  Verstandesbegriffen ,  als  auch 
unter  den  kosmologischen  Vernunftideen  vorkommt.  — 

Die  Substantialität  der  Indiv^dualseele  als  solchen  bestreitet 
Wundt,  weil  dieselbe  weder  einfach  noch  absolut  konstant  ist, 
ausserdem  aber  auch  noch,  weil  sie  dadurch  verdinglicht,  d.  h, 
hier:  verräumlicht  und  verstofFlicht  würde.  Letzterer  Grund  hat 
nur  so  lange  Bedeutung»  als  die  Substantialität  mit  räumlicher 
Stofflichkeit  identifiziert  wird.  Dies  that  Wundt  in  seinen  frühe- 
ren Werken,  wo  er  den  naturwissenschaftlichen  Begriff  der  stoff- 
lichen Substanz  für  richtig  und  nur  einer  hylozoistischen  Er- 
weiterung bedürftig  hält.  In  seinen  späteren  Werken  dagegen 
schreibt  er  ihm  nur  eine  vorläufige,  provisorische,  uneigentliche 
Geltung  als  orientierender  Hilfsbegriff  zu.  während  die  schein- 
bar stoffliche  Substanz  sich  metaphysisch  in  lauter  Kraftwirkungen 
oder  substanzlose  Willensakte  aufgelöst  hat.  Wenn  es  nun  noch 
eine  metaphysische  Substanz  geben  soll,  so  muss  sie  unräumlich 
und  unstofflich  sein,  so  dass  eine  »Verdinglichung«  der  Seele  bei 
der  Übertragung  des  Substanzbegriffs  auf  sie  nicht  mehr  zu  fürch- 
ten wäre.  Wundt  verwirft  aber  denselben  auf  seelischem  Gebiet 
auch  deshalb,  weil  er  Konstanz  der  Energie  und  Konstanz  der 
Substanz  als  Wechsel  begriffe  betrachtet,  und  ein  Gesetz  des 
Wachstums  der  geistigen  Energie  aufstellt.  Durch  die  Inkonstanz 
der  geistigen  Energie  erscheint  ihm  die  Substantialität  des  Geistes 
ausgeschlossen,  weil  die  Substanz  doch  eben  das  Konstante  sein 
müsste.  Dagegen  ist  freilich  einzuwenden,  dass  die  Konstanz  der 
Substanz  und  die  der  Energie  ganz  verschiedene  Begriffe  sind, 
und  dass  das  Wachstum  der  geistigen  Energie  von  dem  VVundt- 
schen  Standpunkt  aus  nur  auf  Transformatton  von  Atomenergie 
aus  materiellen  in  geistigere  Erscheinungsformen  zurückgeführt 
werden  kann,  ohne  die  Konstanz  der  Gesamtenergie  zu  beein- 
trächtigen. 

Der  Hauptgrund,  warum  Wundt  sich  gegen  jede  Substanz 
erklärt,  ist  der,  dass  Dinge  und  Individuen  nur  relative  Konstanz 
haben,  die  metaphysische  Substanz  aber  absolute  Konstanz  haben 
müsste,  dass  also  Substanz  nur  als  absolute  Substanz  denkbar 
ist  Er  sieht  also  ein,  dass  die  Anerkennung  der  Substanz  ihn 
zum  Monismus  treiben  wtirde;  diesen  aber  weist  er  als  einen 
nicht  ernst  zu  nehmenden  > geistreichen  Einfalle  ab,  weil  er  Plu- 


542 


WundU 


ralist  sein  will.  Dazu  fügt  er  noch  andere  Gründe  hinzu.  Der 
SubstanzbegrifF  soll  zunächst  unfruchtbar  sein,  weil  er  uns  nichts 
darüber  lehrt,  worin  die  hinzugedachte  Substanz  bestehe.  (Diese 
Art  der  Unfruchtbarkeit  teilt  er  mit  dem  Kausalitätsbegriff,  der 
auch  nichts  darüber  lehrt,  worin  die  hinzugedachte  hypothetische 
Ursache  bestehe.)  Er  soll  ferner  sich  selbst  widersprechen  als 
»denknotwendige  Hypothese«,  weil  er  einerseits  denknotwendig 
ist,  andererseits  als  eine  Zuthat  zur  Wirklichkeit  nur  hypothetisch 
ist.  (Ein  subjektiv  notwendiges  Denken  kann  in  seiner  objektiven 
Gültigkeit,  d.  h.  in  seiner  Anwendbarkeit  auf  das  bewusstseins- 
transcendente  Gebiet  immer  noch  hypothetisch  sein.)  Er  soll 
endlich  darin  sich  selbst  widersprechen,  dass  er  als  Substanz 
Unveränderlichkeit,  als  Kraft  aber  veränderliche  Wirksamkeit 
verlangt.  (Im  ersteren  Falle  ist  auf  die  Substanz  mit  Ausschluss 
der  Accidentien,  im  letzteren  Falle  auf  dieselbe  mit  Einschluss  der 
Accidentien  reflektiert,  so  dass  das  grammatische  Subjekt  ver- 
schieden ist  und  kein  Widerspruch  besteht.)  Wundts  Polemik 
gegen  das,  was  er  »substantielle  Kausalität«  im  Gegensatz  zur 
»aktuellen  Kausalität«  nennt,  ist  gegenstandslos,  da  für  solche 
wohl  kein  Vertreter  zu  finden  sein  dürfte.  Niemand  sieht  in  der 
Substanz  heute  noch  etwas  anderes  als  eine  konstante,  aber  un- 
entbehrliche Bedingung  bei  der  aktuellen  Kausalität.  Deshalb 
hindert  auch  die  Annahme  der  Substanz  nicht,  wie  Wundt  glaubt 
die  Einsicht,  dass  Kausalität  und  Teleologie  dieselbe  Sache  nur 
unter  verschiedenen  Gesichtspunkten  sind.  — 

Wundt  selbst  behauptet  aber  die  Einheit  und  Äquivalenz 
von  Kausalität  und  Teleologie  nur  für  die  allgemeine  Zweck- 
mässigkeit der  äusseren  Naturgesetze,  bestreitet  aber  jene  be- 
sondere physische  Teleologie,  die  der  ältere  Vitalismus  annahm, 
und  lässt  nur  da  besondere  Zweckmässigkeit  zu,  wo  sie  aus  be- 
wusst  seelischer  Thätigkeit  entspringt.  Unter  dem  Gesichtspunkt 
der  allgemeinen  Teleologie  ist  die  Natur  Hilfsmittel  und  Vorstufe 
in  der  Selbstentwickelung  des  Geistes;  unter  dem  Gesichtspunkt 
der  besonderen  Teleologie  dagegen  ist  alle  scheinbar  unbewusste 
Zweckthätigkeit  der  Organismen  Äusserung  einer  stattgehabten 
Mechanisierung  früherer  bewusster  Zweckthätigkeit,  die  in  den 
Centralorganen  Rückstände  hinterlassen  hat.  Da  diese  Fechnersche 
Erklärung  aber  doch  nur  auf  eine  beschränkte  Auswahl  von 
Fällen     bei     stark     centralisierten     höheren     Organismen     passt. 


Wuödt 


543 


^fio  sieht  Wundt  sich  veranlasst,  eine  zweite,  eigene,  Erkläruoiiji' 
ainzuzufügen,  die  er  *dic  Heterogonie  der  Zwecke^  nennt  Sie 
esagt»  dass  jede  bewußte  Zweckthätigkeit  ihren  Zweck  über- 
schreitet  und  unbeabsichtigte,  final  zufällige  Nebenwirkungen 
hervorruft,  die  dann  nachträglich  vom  handelnden  Individuum  <^\s 
seinen  Zwecken  gemäss  anerkannt  und  zum  Ausgangspunkt 
weitergehender  bevvusster  Zweckhandlungen  gemacht  werden. 

Das  teleologische  Problem  hat  sich  hier  darauf  zusammen- 
gebogen» wie  eine  teleologisch  zufällige  Überschreitung  der  be- 
wussten  Zweckthätigkeit  möglich  ist.  Giebt  man  diese  Entstehung 
des  Zweckmässigen  aus  teleologisch  zufälligen,  mechanischen  Ur- 
sachen einmal  zu,  dann  braucht  man  sie  nur  zu  verallgemeinern, 
um  den  Einfluss  bewusster  Zweckthätigkeit  entbehrlich  und  ver- 
schwindend klein  zu  finden.  Soll  aber  mit  der  Einheit  von  Kau- 
salität und  Teleologie  ernst  gemacht  werden,  so  muss  sie  gerade 
bei  diesem  Punkte  durchgeführt  w^erden.  Indessen  diese  Durch- 
föhrung  scheitert  an  denselben  Gründen,  wie  die  Entstehung  des 
Zweckmässigen  aus  be^russter  Zweckthätigkeit.  In  beiden  Fällen 
fehlt  die  einheitliche  Vernunft,  welche  allein  die  Einlieit  des  Zweck- 
prozesses sichern  könnte.  Es  ist  ebenso  unbegreiflich,  wie  ohne 
Anerkennung  einer  einheitlichen  teleologischen  Vernunft  im  Uni* 
versum  die  allgemeinen  Naturgesetze  zweckmässig  ausfallen 
sollen,  an  welche  die  Thätigkeit  der  Atome  gebunden  ist,  als  wie 
aus  dem  bewussten  Zusammenwirken  der  bewussten  Zweckthätig- 
keit aller  einen  Organismus  konstituierenden  Atome  die  einheit- 
liche bewusste  Zweckthätigkeit  dieses  Individuums  und  die  be- 
sondere Zweckmässigkeit  seiner  Organisation  zustande  kommen 
soll.  — 

Für  den  Psychologen  Wundt  ist  das  Wollen  ein  Produkt 
des  Fühlens  vermittelst  des  Affekts;  für  den  Metaphysiker  Wunut 
hingegen  ist  das  Fühlen  eine  variable  Reaktion  des  Wollens,  also 
eine  sekundäre  Thätigkeit  Primäre  Thätigkeit  ist  nur  das  immer 
sich  selbst  gleiche  Wollen,  abstrahiert  von  dem  wechselnden  Vor- 
stellungsinhalt, den  es  erzeugt.  Diese  Thätigkeit  nennt  Wundt 
sonderbarerweise  die  reine  oder  transcendentale  Apperzeption. 
Lant  versteht  darunter  diejenige  logisch -synthetische  Intellektual- 
inktion,  durch  welche  alle  meine  Bewusstseinsmhalte  als  die 
raeinigen  zusammengefasst,  oder  als  zu  meiner  Bewusstseinssphäre 
gehörige  gedacht  werden.    Die  Psychologie  versteht  unter  Apper- 


544 


Wimdt. 


zeption  seit  Herbart  die  Beziehung  des  Perzipterten  auf  das 
schon  früher  Bekannte,  seine  Einordnung-  in  vorhandene  Vor- 
stell ungsreihen  und  die  damit  verknüpfte  Aneignung-  in  den 
Schatz  der  bisherigen  Erfahrungen  und  Erkenntnisse.  Es  ist  ge- 
wiss verdienstlich  von  Wundt,  die  Aktivität  aller  Apperzeption 
und  die  Unentbehrlichkeit  des  Wollens  für  jede  Apperzeptions- 
thätigkeit  betont  zu  haben.  Aber  er  irrt  offenbar,  wenn  er  die 
Apperzeption  für  ein  blindes,  noch  vorstellungsloses  Wollen  hält, 
das  erst  den  ihm  noch  fehlenden  Vorstellungsinhalt  her\'orbringen 
soll;  denn  die  Apperzeption  setzt  einerseits  die  bereits  perzipierle 
Vorstellung  voraus,  andrerseits  die  Reihe  derjenigen  Vorstellungen, 
zu  denen  sie  apperzipiert,  d,  h.  denen  sie  eingeordnet  werden  soll. 
Er  irrt,  wenn  er  die  apperzipierende  Thätigkeit,  welche  der  Per- 
zeption  erst  nachfolgen  kann,  zu  einer  solchen  stempelt,  die  der 
Perzeption  vorhergeht,  indem  sie  den  Inhalt  der  zu  perzi pierenden 
Vorstellung  erst  erzeugt.  Er  irrt,  wenn  er  den  intuitiv  logischen 
Charakter  der  synthetischen  Intellektualfunktion  verkennt,  in 
welcher  sowohl  die  den  Vorstellungsinhalt  erzeugende  vorbewussie 
Thätigkeit,  als  auch  die  ihn  apperzipierende  Thätigkeit  besteht. 
Er  irrt  endlich»  wenn  er  das  Wollen,  das  diese  logischen  Synthesen 
erst  zur  realen  psychischen  Thätigkeit  macht,  für  leer  und  blin*i 
hält,  statt  seinen  durch  und  durch  teleologischen  Charakter  anzu* 
erkennen.  Erst  durch  diese  Anerkennung  wird  die  Apperzeptions- 
psychologie endgültig  über  die  blosse  Assoziationspsychologie 
hinausgehoben,  während  die  Betonung  des  dabei  beteiligten  Wollens 
erst  die  Vorbedingung  für  den  Übergang  von  dem  passiven  sich 
Zusammenfinden  der  Vorstellungen  zu  ihrer  aktiven  Auswahl, 
Beziehung  und  Verknüpfung  bildet.  Wundt  zielt  auf  die  Apper- 
zeptionspsychologie ab,  aber  er  verlegt  sich  den  Weg  zu  ihr.  in- 
dem er  die  unbewusste  Zielstrebigkeit  des  Wollens  und  den 
intuitiv  logischen  Charakter  der  dabei  beteiligten  synthetischen 
Intellektualfunktionen  verkennt  und  aus  reinem,  d,  h.  leerem 
Wollen  ableiten  will,  was  nur  aus  vorstellungserfüllteni  und  logisch 
operierendem  Wollen  abzuleiten  ist. 

Wundt  räumt  ein,  dass  das  Wollen  als  reines  vorstellungs- 
loses  Wollen,  schlechthin  unbestimmt,  uod  von  anderen  ununter- 
scheidbar  ist,  dass  es  als  solches  zu  der  Gesamtheit  der  übrigen 
Willen  noch  gar  keine  Beziehungen  haben  kann,  dass  es  vielmehr 
solche  erst  durch  das  Eintreten  der  Vorstellungen  empfängt  und 


erst  durch  sie  zum  bestimmten,  konkreten,  inhaltvollen,  reell  wir- 
kung"sfähigen  wird.  Andrerseits  will  er  den  Vorstellungsinhalt 
des  Wollens  erst  aus  der  Wechselwirkung  mit  anderen  Willens- 
thätigkeiten  ableiten,  nämlich  aus  der  produktiven  Thätigkeit, 
welche  als  Reaktion  auf  das  Leiden  folgt,  das  durch  die  Kollision 
niit  einem  fremden  Wollen  hervorgerufen  wird  Der  Vorstellungs- 
inhalt soll  also  die  Wirkung  der  thelisch- dynamischen  Wechsel- 
beziehungen sein;  diese  aber  soll  wiederum  die  Wirkung  der 
konkreten  Bestimmtheit  der  Willensakte  durch  Vorstellungsinhalte 
sein.  Das  ist  offenbar  ein  circulus  vitiosus;  ein  solcher  ist  nur 
zu  vermeiden,  wenn  dem  Willen  entweder  ein  charakterologisch 
bestimmter,  aber  von  der  Vorstellung  unabhängiger  Inhalt  zu- 
geschrieben wird  (Bahnsen),  oder  aber  ein  Inhalt  von  Vorstellun- 
gen, die  zunächst  unbewusst  sind.  In  der  That  ist  das,  was 
Wundt  beschreibt,  nicht  die  Entstehung  der  Vorstellung,  sondern 
die  ihres  Bewusstwerdens.  Da  Wundt  aber  gegen  unbewusste 
Geistesthätigkeit  eine  ebenso  entschiedene  wie  unmotivierte  Ab- 
neigung hat  und  Bahnsens  Standpunkt  gar  nicht  kennt,  so  zieht 
er  es  vor,  in  dem  Widerspruch  jenes  Cirkels  stecken  zu  bleiben. 
Den  noch  von  Lotze  an  I.  H.  Fichte  bekämpften  Begriff  des 
relativ  Unbewussten  erkennt  Wundt  an  und  bringt  ihn  mit 
Nachdruck  zur  Geltung;  den  der  absolut  unbewussten  Geistes- 
thätigkeit bekämpft  er  mit  Argumenten,  aus  denen  bloss  das 
eine  hervorgeht,  dass  er  gar  nicht  weiss,  was  dieser  Begriff 
bedeutet. 

Die  Welt  ist  ein  Stufenbau  von  Willensindividualitäten  ver- 
schiedener Ordnung,  die  sich  äusserlich  als  Gesamtorganismen, 
innerlich  als  Gesamtwillen  darstellen.  Ausgangspunkte  auch  der 
Geistesent Wickelung  sind  die  Atome,  in  denen  alles  vorgebildet 
ist,  was  in  den  höheren  Einheiten  zur  Entfaltung  kommt  Die 
Atomgeister  sind  die  Reservoire  aller  Geistesentwickelung  im 
Weltprozess;  alle  Intelligenz  und  Genialität  der  Individuen  höherer 
Ordnung  stammt  ausschliesslich  aus  ihrer  Intelligenz,  da  es  keine 
andere  Quelle  giebt.  Der  Einzelne  ist  der  einzige  Erzeuger  neuer 
Kräfte  auch  des  Gesamtlebens,  und  es  giebt  keine  Gemeinschafts- 
zwecke, die  nicht  zuvor  als  bloss  individuelle  Zwecke  der  Ge- 
meinschaftsglieder existiert  hätten.  Was  das  einzelne  Atom  als 
solches  nicht  könnte,  das  lernt  es  in  geeigneter  Wechselbeziehung 
mit    seinesgleichen    aus    sich   herauspumpen.     Bei  keiner  Konsti- 

£.  V.  Uartmaoa,  Auigew.  Wefkc.     Btl.  XU, 


54^ 


WuDdt, 


tuierung  eines  Individuums  höherer  Ordnung-  konnmt  aus  einer 
anderen  geistigen  Quelle  etwas  hinzu.  Er  teilt  den  Herbartschen 
Irrtum,  als  ob  getrennte  psychische  Einheiten  aus  eigener  Kraft 
und  ohne  weitere  Vermittelung  durch  ein  sie  verbindendes  Ab- 
solutes innerlich  oder  geistig  auf  einander  wirken  könnten.  In 
alle  dem  zeigt  sich  sein  pluralistischer  Hylozoismus  in  unver- 
schleierter  Nacktheit  — 

Der  Gesamtgeist  hat  keine  Existenz  ausserhalb  der  EinzeJ- 
geister,  die  ihn  konstituieren,  und  darum  sein  Prius  bilden;  aber 
er  ist  ebenso  real  wie  sie,  weil  sie  ebenso  substanzlos  sind  wie  er, 
und  beide  nur  in  der  substanzlosen  Aktualität  ihre  Realität  haben. 
Ziel  der  Geistesentwickelung  und  praktisch  -  ethisches  Ideal  ist 
zunächst  der  Gesamtgeist  der  irdischen  Menschheit  und  weiterhin 
der  Universalgeist  oder  die  universelle  Gemeinschaft  des  kos- 
mischen Geisterreichs,  von  der  wir  noch  durch  einen  unüber- 
brückbaren Abgrund  getrennt  scheinen.  Weshalb  für  die  Ver- 
wirklichung der  Sittlichkeit  eine  Gemeinschaft  von  Milliarden 
Geistern  günstiger  sei,  als  eine  von  Millionen  oder  Tausenden  oder 
noch  weniger,  lässt  Wundt  iinerörtert,  desgleichen,  wie  er  dazu 
kommt,  dieses  sein  ethisches  Ideal  als  ethisches  Postulat  hinzustellen» 
obwohl  er  dasselbe  für  aussichtslos  hält  Das  Merkwürdigste 
aber  ist,  dass  er  aus  der  Aussichtslosigkeit  dieses  Postulats  die 
logische  Nötigung  zu  einer  Ergänzung  schöpft,  nämlich  zu  seiner 
Rückprojektion  in  den  letzten  Grund  des  Seins  und  Werdens 
Während  er  alle  Versuche,  aus  der  Erfahrungswelt  auf  geradem 
Wege  zu  einem  einheitlichen  Weltgrunde  zu  gelangen,  als  Stecken- 
bleiben in  fehlerhaften  Analogien  verwirft,  glaubt  er  auf  diesem 
Umweg  über  das  ethische  Ideal,  dessen  nach  vorwärts  aussichts- 
lose Phantasmagorie  kühn  nach  rückwärts  projiziert  wird,  zu 
einem  solchen  zu  gelangen,  und  hält  dies  fiir  einen  moralischen 
Beweis  Gottes. 

Freüich  ist  das  so  Erreichte  nicht  eine  real  gültige  Hypothe 
sondern  bloss  eine  reahtätslose  Idee,  die  aber  doch  als  Idee  denl 
notwendig  sein  soll.    Auch  als  Idee  ist  sie  etwas  rein  Imaginär 
mit  dem  es  unmöglich  ist,   irgend  etwas  anzufangen,   weil  es 
Bezug  auf  seinen  Inhalt  schlechterdings  unbestimmbar  ist.     Denir' 
der  so  erlangte  einheitliche  Weltgrund   kann  einerseits  nicht  von 
dem   aus   ihm  folgenden  Weltinhalt   abgelöst,  sondern  muss  U: 
adäquat   gedacht   werden.     Er   kann    aber  nicht  absoluter  Wi 


WundL 


sein,  weil  er  als  absoluter  vorstellungslos  sein  und  bleiben  müsste, 
als  vorstellungsloser  aber  wieder  kein  wirklicher,  konkreter  Wille 
sein  könnte.  Er  kann  nicht  absoluter  Verstand  sein,  weil  die 
Forderung,  unendlich  viele  Vorstellungen  auf  einmal  zu  umspannen, 
alle  Thätigkeit  zum  Stillstand  bringen  würde.  Er  kann  auch 
nicht  Einheit  des  absoluten  Willens  mit  dem  absoluten  Verstände 
wie  bei  Leibniz  sein,  denn  wenn  damit  auch  die  Leerheit  des 
WoUens  wegfiele,  so  bliebe  doch  die  unendliche  Menge  gleich- 
zeitiger Vorstellungen  bestehen.  Dass  diese  Schwierigkeit  nur 
aus  der  von  ihm  angenommenen  Unendlichkeit  der  Welt  ent- 
springt und  mit  Annahme  einer  endlichen  Welt  verschwindet, 
hat  Wundt  nicht  in  Betracht  gezogen. 

So  glaubt  Wundt  den  Beweis  gefiihrt  zu  haben»  dass  weder 
Wollen  noch  Vorstellen  noch  die  Vereinigung  beider  jemals  als 
Universalprincipien  gedacht  werden  können,  d  h.  dass  der  ein- 
heitliche Weltgrund  dem  Weltinhalt  nicht  adäquat  gedacht  werden 
darf,  dem  er  doch  adäquat  gedacht  w^erden  sollte.  Die  realitäts- 
lose und  zugleich  inhaltlich  unbestimmbare  Idee  desselben  bleibt 
eine  unvollziehbare  Denkaufgabe,  d.  K  Wundts  Metaphysik  mündet 
mit  seinem  so  wunderbar  postulierten  und  rückprojizierten  Abso- 
luten in  reinen  Agnostizismus.  Wäre  die  Idee  zwar  ihrem  Inhalt 
nach  in  einer  dem  religiösen  Glauben  als  Gottesidee  genügender 
Weise  bestimmt  (wie  bei  Kant),  so  könnte  dem  religiösen  Glauben 
überlassen  werden,  die  wissenschaftlich  mangelnde  Realität  und 
Existenz  hinzuzufügen.  Wäre  andererseits  die  Realität  des  ein- 
heitlichen Weltgrundes  wissenschaftlich  gesichert  und  nur  sein  In- 
halt unerkennbar,  so  könnte  dem  religiösen  Glauben  anheimgestellt 
werden,  diese  Realität  mit  einem  ihm  zusagenden  idealen  Inhalt 
zu  filllen.  Wo  aber  sowohl  die  Realität  als  auch  die  inhaltliche 
Bestimmtheit  unerkennbar  bleibt,  da  fehlt  dem  Glauben  jeder 
Anhaltspunkt,  um  ein  realitätsloses  Unerkennbares  als  Gott,  d.  h. 
als  Objekt  eines  religiösen  Verhältnisses  anzunehmen.  Die  üb- 
rigen Vertreter  der  pluralistischen  Willensmetaphysik  haben  jeden- 
falls konsequenter  gehandelt,  als  sie  sich  ofiFen  und  entschieden 
zum  Atheismus  bekannten.  — 

Es  ist  nach  alledem  Wundt  ebenso  wenig  gelungen,  die 
Vielheit  substanzloser  Einzelthätigkeiten  mit  einer  einheitlichen 
Allthätigkeit  in  eine  verständliche  Beziehung  zu  setzen  oder  gar 
aus  ihr  abzuleiten,  wie  es  den  übrigen  Vertretern  der  pluralistischen 

3S* 


548 


WundL 


Willensmetaphysik  gelungen  war,  die  Vielheit  substantieller  EiiizeP 
willen  mit  einem  substantiellen  Allwillen  oder  Urwillen  in  eine 
verständliche  Beziehung  zu  setzen  oder  aus  demselben  abzuleiteo. 
Es  ist  ihm  femer  ebenso  wenig  gelungen,  aus  der  Wechsel- 
beziehung vieler  vorstellungsloser  Einzehvillen  die  Entstehung 
der  Vorstellung  und  des  Logischen  zu  erklären,  vne  den 
übrigen  aus  dem  Wesen  und  der  Bethätigung  des  Einzel- 
willens als  solchem.  Insoweit  ist  Wundts  Leistung  bloss  nega- 
tiv: er  hat  von  einem  Wege  mehr  gezeigt,  dass  er  nicht  zum 
Ziele  führt. 

Nebenbei  hat  aber  auch  seine  Metaphysik  noch  einen  posi- 
tiven Wert»  insofern  sie  einen  Übergang  von  der  pluralistischen 
zur  monistischen  Willensmetaphysik  bildet  Wundt  hat  auch  die 
naturwissenschaftlich  Denkenden  mit  dem  Gedanken  vertraut  ge* 
macht  dass  nicht  nur  die  Seele,  sondern  auch  die  Materie 
bloss  dem  Scheine  nach  Substanz,  in  der  That  aber  reine 
Aktualität  ist  und  bloss  in  dieser  Aktualität  ihre  Realität  hat 
Indem  er  die  Vielheit  der  Geister  und  Dinge  auf  eine  Vielheit 
von  WiUensakten  zurückführt,  arbeitet  er,  ohne  es  zu  wissen  und 
wollen,  an  der  Auflösung  des  ontologischeo  Pluralismus  und  an 
der  Vorbereitung  des  konkreten  Monismus,  Denn  dass  hinter  allen 
diesen  Willensakten  kein  substantielles  Subjekt,  hinter  allen  diesen 
Thätigkeiten  kein  Thätiges,  hinter  der  aktuellen  Vielheit  keiii 
einheitlicher  substantieller  Weltgrund  stehe,  das  wird  sich  der 
menschliche  Verstand  doch  niemals  weismachen  lassen.  Sobald 
man  aber  dieses  anerkennt,  tritt  man  auf  den  Boden  des  kon- 
kreten Monismus  hinüben 

Hamerling  besitzt  zwar  diesen  substantiellen  All  willen  als 
fortdauernden  einheitlichen  Weltgrund  und  absolutes  Subjekt  aller 
Thätigkeit,  aber  er  kann  von  der  Substantialität  der  Individual- 
willen  nicht  los.  Wundt  hat  zwar  die  Substantialität  der  Indivi- 
dualwillen  als  falschen  Schein  überwunden,  hat  aber  dabei  auch 
die  Substantialität  und  die  Willensessenz  des  einheitlichen  Welt- 
grundes mit  über  Bord  geworfen;  er  hat  das  Kind  mit  dem  Bade 
ausgeschüttet.  Fügt  man  von  beiden  das  richtige  zusammen, 
indem  man  das  Falsche  ausscheidet  dann  hat  man  den  konkreten 
Monismus,  freilich  erst  einen  solchen  des  blinden,  alogischen 
Willens,  der  so  noch  immer  Atheismus  bleibt  Denn  ein  blosser 
Wille  ohne  Vernunft  und  Idee  mag  noch  so  absolut  sein ,  er  wird 


WtmdL 


549 


doch  niemals  zum  Objekt  eines  religiösen  Verhältnisses  brauchbar 
sein,  also  niemals  Gott  heissen  können,*)  — 

Das  Ansehen»  das  Wundt  als  Forscher  geniesst,  stützt  sich 
übrigens  keineswegs  auf  seine  Metaphysik,  die  doch  in  vielen 
Punkten  für  den  Geschmack  des  Publikums  nicht  agnostisch 
genug  und  für  den  der  naturwissenschaftlich  Gebildeten  zu  spe- 
kulativ ist»  sondern  auf  seine  physiologische  Psychologie  und  die 
in  dieses  Gebiet  gehörigen  Spezialstudien,  Die  physiologischen 
Arbeiten  von  Weber  und  Helmholtz  über  Tastsinn,  Gesicht  und 
Gehör  einerseits  und  Fechners  Psychophysik  andererseits  bilden  die 
Ausgangspunkte  von  Wundts  physiologischer  Psychologie.  Wenn 
sich  an  die  exakten  Massbestimmungen  in  physiologischen  Labora- 
torien und  an  die  aus  ihnen  aufgestellten  Reihen  und  Tabellen 
im  Publikum  übertriebene  Erwartungen  geknüpft  haben,  so  ist 
Wundt  daran  nicht  schuld.  Er  hat  die  physiologische  Psychologie 
wohl  nie  anders  aufgefasst  als  im  Sinne  einer  Hilfsdisziplin  für 
die  Psychologie.  Aber  die  exakte  experimentelle  Forschung  stand 
von  den  Naturwissenschaften  her  in  dem  naturwissenschaftlichen 
Zeitalter  der  letzten  Jahrzehnte  in  so  ungemessenem  Ansehen, 
dass  man  sich  von  ihrer  Anwendung  auf  die  Psychologie  einen 
völligen  Umschwung  und  neuen  Aufschwung  der  Geisteswissen- 
schaften versprach  und  überall  nach  Errichtung  von  Lehrstühlen 
und  Laboratorien  für  die  neue  Disziplin  verlangte. 

Nachdem  nunmehr  dieses  Verlangen  für  die  grösseren  Uni- 
versitäten gestillt  ist  und  die  Ergebnisse  von  mehreren  Jahrzehnten 
sich  doch  als  vorläufig  recht  dürftig  her  ausgestellt  haben,  ist, 
wenigstens  in  Deutschland,  eine  merkliche  Ernüchterung  und 
ruhigere  Beurteilung  der  Sachlage  eingetreten*  Zwar  giebt  es 
immer  noch  Schwärmer,  die  da  glauben,  die  Erneuerung  der 
Wissenschaft  werde  schon  noch  kommen,  wenn  nur  erst  noch 
einige  Menschenalter  oder  Jahrhunderte  hindurch  experimentiert 
und  Tabellen  auf  Tabellen  gehäuft  sein  werden.  Indessen  die  be- 
sonneneren Elemente  haben  sich  nachgerade  überzeugt,  dass  diese 
Arbeiten  doch  nur  im  Vorhofe  der  Philosophie  und  Psychologie 
liegen,  dass  sie  zwar  in  mancher  Hinsicht  genauere  quantitative 
Bestimmungen    geliefert,    aber    auf    keinem    Punkt    zu    wirklich 

*)  VgL  »Wundti  Syitera  der  PhUoüophic«  m  den  »Preossischeii  Jahrbäcliefii*, 
Bd.  66.  S.  r— 3I,  113—151:  »Wtmdti  Ethik«  in  »Kritwche  Wanderungen  durch  die 
PhilcMophie  der  Gegenwart c.  No.  IV,  S»  76—104* 


550 


Der  übeTsinnliche  Materislismiis  oder  transcendentalc  Individualismus, 


neueo  Aufschlüssen,  ErkJärungen,  Hypothesen  oder  Theorien  hin- 
geführt haben  und  schwerlich  jemals  mehr  leisten  werden. 
Von  einem  späteren  Beurteiler  könnte  sogar  ihr  Hauptwert  darin 
gefunden  werden,  dass  sie  das  philosophische  Interesse  der  aka- 
demischen Kreise,  welches  Jahrzehnte  lang  wie  hj'pnotisiert  auf 
die  Erkenntnistheorie  beschränkt  war»  wieder  auf  die  Psychologie 
gelenkt  und  dadurch  ihren  allzusehr  verengten  Gesichtskreis 
wieder  erweitert  hat 

Die  empirische  Psychologie  am  Ende  des  vorig'en  Jahr- 
hunderts war  gar  zu  unmethodiach,  diejenige  Benekes  litt 
dem  Grundirrtura,  das  Ich  erkenne  sich  nicht  als  Erscheinung 
sondern  wie  es  an  sich  ist,  auch  diejenige  Brentanos  blieb  in  der 
Einseitigkeit  bloss  innerer  Selbstwahrnehmung  stecken.  Jetzt  zum 
ersten  Maie  wurde  die  Psychologie  auf  eine  methodische  Verglei- 
chung  der  Ergebnisse  der  Selbstbeobachtung  mit  den  jeweiligen 
äusseren  Bedingungen  gegründet.  Das  Verdienst,  hierzu  einen 
entscheidenden  Anstoss  gegeben  zu  haben,  wird  Wundt  in  der 
Geschichte  auch  dann  unvergessen  bleiben»  wenn  seine  Metaphysik, 
Logik  und  Ethik  längst  verschollen  sind. 

Wenn    bis   jetzt   noch  keine  besseren   Früchte    des  wieder- 
erwachten Arbeitsdranges  auf  dem  Gebiete  der  Psychologfie  über- 
haupt zu  verzeichnen  sind,  so  liegt  das  hauptsächlich  daran,  dass 
die  Köpfe  der  lebenden  Generation   meist  durch  eine  mehr  oder  , 
minder      ago  ostische     Erkenntnistheorie     und     MetaphysikscheuJ 
zu  sehr  mit  Vorurteilen  eingenommen  sind.     Eine  fruchtbare  psy 
chologische  Arbeit  ist  erst  zu  erwarten,  wenn  die  trüben  Schlamr 
fluten  der  agn  ostischen  Überschwemmung  sich  allgemach  wiede 
verlaufen    haben  werden,  von   denen   auch  die  Wimdtsche  Meti 
physik  noch  verschlammt  ist.     Für  die  schon  von  Beneke  ange 
bahnte    Übertreibung,    durch    welche    von    einigen    Neueren    di^ 
Psychologie  an  die  Stelle  der  Philosophie  überhaupt  gesetzt  wir 
und    alle    philosophischen    Disziplinen    in    Psychologie    aufgelc 
werden,  ist  Wundt  nicht  verantwortlich. 


c  Der  übersinnliche  Materialismus  oder  transcendentale 

I  ndividualismus. 
Der  sinnliche  Materialismus  war  daran  gescheitert,  dass  er 
eine  bloss  subjektive,  bewusstseinsimmanente  Erscheinung,  den 
Stoff,    zum   Weltprincip    machen    wollte,    dass   er  die  Teleologic 


Der  dberstnnlicfae  Materialismtis  oder  tranaceDdentale  Individuallsmia. 


551 


nicht  erklären  konnte  und  nicht  über  den  irdischen  Individual- 
eudäinonismus  hinaus  konnte.  Der  Agnostizismus  hob  sich  selbst  auf 
und  drängte  zu  einer  induktiven  Weltanschauung  auf  transcenden tal- 
realistischem Boden  hinüber;  er  mündete  in  eine  individualis- 
tische und  pluralistische  Wülensmetaphysik,  die  nur  in  Bezug  auf 
den  absoluten  Weltgrund  agnostisch  und  damit  als  Wissenschaft 
atheistisch  blieb.  Die  individualistische  und  die  pluralistische 
Willensmetaphysik  vermochte  weder  als  reiner  Pluralismus  ohne 
einheitlichen  Weltgrund  fertig  zu  werden,  noch  auch  dieses  Eine 
mit  dem  Vielen  widerspruchslos  zu  verbinden;  sie  scheiterte  an 
dieser  Aufgabe  ebensogut,  wenn  sie  versuchte,  sowohl  das  Eine 
als  auch  die  Vielen  als  Substanzen  oder  Wesen  zu  fassen  (Bahn- 
sen, Mainländer,  Hamerling),  als  wenn  sie  beide  als  substanzlose 
Thätigkeiten  hinstellte  (Wundt).  Es  blieb  nun  noch  der  Versuch 
übrig ,  den  Materalismus  und  mit  ihm  den  Individualeudämonismus  in 
eine  übersinnliche  Sphäre  zu  erheben,  die  Teleologie  auf  diesen 
übersinnlichen  Materialismus  zu  stützen,  den  Agnostizismus  in  Be- 
zug auf  den  absoluten  einen  MMtgrund  streng  festzuhalten,  und 
dem  Individualismus  an  dem  übersinnlichen  Materialismus  einen 
neuen  Halt  zu  geben.  Setzt  man  die  Worte  i- übersinnlich <  und 
»transcendentak  in  ihrer  Bedeutung  einander  gleich,  so  wird  der 
übersinnliche  Materialismus  zum  transcendentalen  Individualismus. 
Die  individualistische  Willensmetaphysik  Bahnsens  lässt  zwar 
den  Wesenskern  des  Individuums  zwischen  den  durch  keine  Er- 
innerungsbrücke verbundenen  Lebensläufen  als  bewusstloses  Sein 
fortdauern,  bietet  damit  aber  keine  Handhabe,  um  den  irdischen 
Pessimismus  durch  einen  transcendenten  Optimismus  zu  ver- 
klären oder  eine  transcendente  Entwickelung  des  Individuums 
anzubahnen*  Die  pluralistische  Willensmetaphysik  Mainländers, 
Hamerlings  und  Wuodts  giebt  der  Sehnsucht  des  Individuums 
nach  persönlicher  Fortdauer  keine  Nahrung,  sondern  schneidet 
ihr  jede  Hoffnung  ab,  zerstört  aber  damit  auch  den  Nerv  des 
Interesses  am  Individualismus  überhaupt.  Dem  Menschen  kommt 
alles  darauf  an,  dass  sein  Wesenskern,  wenn  er  fortdauert,  als 
selbstbewusste  Persönlichkeit  fortdauert;  aber  es  liegt  ihm  gar 
nichts  daran,  ob  er  als  bewusstlose  Substanz  fortdauert.  Denn 
dann  können  die  verschiedenen  Lebensläufe  ebensogut  von  ver- 
schiedenen Willenswesen  als  von  einem  und  demselben  gelebt 
werden.    Soll  aber  der  materialistische  Grundsatz,  dass  ein   be- 


552 


Der  übersinnlicbe  Materialismus  oder  tnniscendenUle  Indiiridiialisiniis. 


stimmtes  Bewusstsein  nur  aut  materieller  Grundlage  mög^Iich 
gewahrt  werden,  so  muss  vor  allen  Dingen  für  einen  materiellen 
Leib  während  der  Zwischenpausen  der  sinnlichen  Lebenslä 
Sorge  getragen  werden.  Dies  kann  nicht  der  sinnliche  Leib  sei 
der  im  Tode  zerfällt,  folglich  bleibt  nichts  übrig  als  die  Annah 
eines  übersinnlichen  Leibes  aus  un wahrnehmbarer  Materie,  der 
sich  beim  Zerfall  des  sinnlichen  Leibes  erhält 

So  filhrt  der  Individualismus  als  transcenden taler  mit  N< 
wendigkeit  zum  übersinnlichen  Materialismus.  Er  bleibt  dal 
einerseits  wissenschaftlicher  Atheismus»  well  er  den  Agnosti- 
zismus in  Bezug  auf  Gott  festhält  und  wird  andererseits  prak- 
tischer Atheismus,  weil  er  das  Objekt  des  religiösen  Verhältnisses 
nicht  in  einem  Absoluten,  sondern  in  dem  eigenen  transccBden» 
talen   Subjekt,  d,  h.  in  dem  eigenen    übersinnlichen  Leibe   sucht. 

Neu  ist  dieser  Standpunkt  nicht,  sondern  nur  eine  Erneuerung 
der  indischen  Sankhyalehre  des  Kapila»  des  einen  der  drei  Systeme 
die  Indien  hervorgebracht  hat.  Wenn  Schopenhauers  Monism 
als  eine  romantische  Restauration  der  brahmanischen  Vedanta- 
lehre  anzusehen  ist  und  Main  länders  Atheismus  eine  deutliche  An- 
lehnung an  den  buddhistischen  Nihilismus  {freilich  nicht  an  seinen 
erkenntnistheoretischen  Illusionismus)  zeigt»  so  war  zur  Vervoll- 
ständigung der  romantischen  Erneuerung  des  Indertunis  auch 
die  Wiedergeburt  der  Sankhyalehre  gleichsam  historisch  gefordi 
Der  übersinnliche  Materialismus  war  eigentlich  niemals  ausgest 
ben,  sondern  war  durch  den  pneumatischen  Leib  des  Paulus  ein 
Bestandteil  der  christlichen  Glaubenslehre  geworden.  Die  mys^ 
tischen  und  tfieosophischen  Spekulationen  der  späteren  Ausläufer 
des  Neuplatonismos,  insbesondere  des  Psellos  oder  Psellios,  hatten 
ihn  dem  Mittelalter  zugeführt,  wo  er  unter  andern  von  den  Kabba- 
listen  gepflegt  wurde,  Paracelsus  und  seine  Schule  hatten  ihm 
in  der  Renaissancezeit  diejenige  Form  gegeben »  in  welcher  er 
durch  die  beiden  van  Helmonts  auch  Leibniz  berührte,  und 
durch  die  Roseokreuzer  und  andere  Geheimverbindungen  sich  bi 
in  dieses  Jahrhundert  erhielt. 

Der  Astralleib  bei  Paracelsus  deckt  sich  durchaus  mit  dem 
pneumatischen  Leibe  bei  Paulus,  dem  unveräusserlichen  Leibe  der 
Monade  bei  Leibniz  und  dem  Ätherleibe  bei  L  H.  Fichte.  Nur 
war  dieser  Begriff  des  übersinnlichen  Leibes  bisher  nur  als  Glied 
in  naturalistisch-pantheistischen  oder  theistischen  Systemen  benutzt 


ler^J 


M 


Der  übersinnliche  Materialismui  oder  traoscendentale  Indlvidaallsmus, 


553 


worden.  Jetzt  hatte  die  starke  materialistische  und  agnostische 
Zeitströmung  den  Versuch  nahe  gelegt,  den  übersinnlichen  Leib 
als  Princip  der  Individualität  in  einem  atheistischen  Systeme  zu 
verwerten  und  damit  ganz  zu  Kapila  zurückzukehren. 

Einen  besonderen  Anstoss  erhielt  dieses  Unternehmen  durch 
das  Auftauchen  des  modernen  Spiritismus,  der  die  bei  Propheten, 
Zauberern,  Hexen  und  Heiligen  altbekannten  abnormen  Erschei- 
nungen durch  Reihen  von  Sitzungen  mit  geeigneten  Medien  syste- 
matisch hervorzurufen  bemüht  war  Diese  abnormen  Erschei- 
nungen» deren  Thatsächlichkeit  von  der  rationalistischen  Aufklärung 
des  lö*  und  19.  Jahrhunderts  in  Bausch  und  Bogen  verworfen 
wurde,  haben  auch  unsere  hervorragendsten  Denker  der  Neuzeit 
lebhaft  beschäftigt.  Kants  »Vorlesungen  über  Metaphysik«  zeigen, 
dass  seine  »Träume  eines  Geistersehers«  keineswegs  bloss  ironisch 
gemeint  sind,  wenn  er  auch  später  in  der  Anthropologie  sich  ab- 
sprechend über  das  Gebiet  äussert.  Schelling  in  seinem  Gespräch 
>Über  den  Zusammenhang  der  Natur  mit  der  Geisterwelt  *  (Werke, 
Abth.  I,  Bd,  9,  S.  i^iio),  Hegel  im  dritten  Bande  der  Encyklo- 
pädie  (S.  151 — 198,  204),  und  Schopenhauer  in  den  Parerga 
(L  215 — 328)  suchen  jeder  nach  einer  anderen  Richtung  hin 
dem  abnormen  Erscheinungsgebiet  philosophische  Bedeutung  abzu- 
gewinnen. Die  naturphilosophische  Schule  hat  sich  mit  mehr  Eifer 
als  Kritik  der  Erörterung  desselben  gewidmet;  insbesondere  haben 
Schuberts  Schriften  bis  in  unsere  Zeit  nachgewirkt  und  eine  um- 
fangreiche, aber  von  den  Philosophen  lange  missachtete  Utteratur 
(Nees  von  Esenbeck,  Justinus  Kerner,  Ennemoser  u.  s,  w.)  nach 
sich  gezogen.  Pertys  Schriften  bilden  dann  den  Übergang  zu 
den  neueren  Theisten,  die  sich,  durch  L  H.  Fichte  angeregt,  diesen 
Problemen  zuwandten,  wie  Ulrici  und  der  Baaderianer  Franz 
HoflFmann,  und  lebhaft  dafür  eintraten,  dass  der  Spiritismus  einen 
beachtenswerten  Kern  erhalte.  In  derselben  Richtung  musste  die 
Beschäftigung  namhafter  Naturforscher  mit  diesen  Problemen 
wirken,  wie  z,  B.  die  von  Crookes,  Wallace,  Flammarion,  Zöllner. 

Durch  solche  theistische  Vertreter  der  akademischen  Philo- 
sophie und  naturwissenschaftliche  Autoritäten  gedeckt  konnten 
auch  die  atheistischen  Transcendentalindividualisten  den  Versuch 
wagen,  ihren  übersinnlichen  Materialismus  aut  selbst  erlebte  spiri- 
tistische  Erfahrungen  zu  stützen.  Aber  sie  täuschten  sich  in  der 
Erwartung,   dass,    was  den  Theisten    recht,   auch  den  Atheisten 


554 


von  HeUenbiicb. 


billig  sein  werde.  Sie  werden  bis  heute  noch  so  wenig  als  Philo» 
sophen  angesehen»  dass  der  erste  Autor,  welcher  es  wagte,  sie  in 
die  Geschichte  der  Philosophie  einzureihen,  diese  Vermessenhett 
damit  büssen  musste,  dass  sein  grosses  Werk  schon  um  dieses 
einen  Umstandes  willen  von  massgebenden  akademischen  Autori- 
täten fiir  *  unwissenschaftlich«  erklärt  wurde.  Um  so  mehr  scheint 
es  mir  eine  Forderung  der  Gerechtigkeit,  diesen  zur  Vervoll- 
ständigung des  Individualismus  unentbehrlichen  und  durch  die 
historische  Kontinuität  in  seinem  Auftreten  vollauf  gerechtfertigten 
Standpunkt  hier  nicht  unerörtert  zu  lassen,   — 

von  Hellenbach  {1827  — 1887)  knüpft  zunächst  an  die  indivi- 
dualistischen Bestandteile  in  Schopenhauers  System  an  und  will 
untersuchen,  wie  tief  die  Wurzeln  der  Individuation  in  das  Wesen 
hinabreichen.  Mit  Bahnsen  teilt  er  den  transcendentalen  Realis- 
mus, führt  aber  die  bei  diesem  nur  angedeutete  Konsequenz  des 
metaphysischen  Individualismus:  die  Seelen  Wanderung,  energisch 
durch.  Von  Kant  und  Schopenhauer  übernimmt  er  die  dynamische 
Auffassung  der  Materie,  bestimmt  dieselbe  aber  näher  (wie  die 
Philosophie  des  Unbewussten)  als  atomis tischen  Dynamismus, 
Er  bekämpft  den  sinnlichen  Materialismus,  die  mechanistische 
Weltanschauung  der  modernen  naturwissenschaftlichen  Biologie 
und  den  naiven  Realismus  mit  gleicher  Entschiedenheit.  Den 
beiden  ersteren  hält  er  die  Unentbehrlichkeit  eines  zweckmässi^^^ 
organisierenden  Princips  hinter  der  groben  Materie  und  ihred^H 
Mechanismus  entgegen,  dem  letzteren  die  Verschiedenheit  unserer 
subjektiven  Empfindungen  und  Anschauungen  von  der  Beschaffen- 
heit der  wirklichen  Natun  In  seinen  sozialistischen  Reformge- 
danken ist  er  hauptsächlich  durch  St,  Simon  und  Fourier  beein- 
flysst,  zeichnet  sich  aber  vor  Dühring  durch  konkrete  Bestimmt- 
heit, vor  Comte  und  Mainländer  durch  verhältnismässige  Besonnen- 
heit seiner  Vorschläge  aus* 

Gleich  Schopenhauer  betont  er  die  Phänomenalität  von  Zeit, 
Raum  und  Kausalität,  versteht  aber  darunter  nur,  dass  sie  dem 
Wesen  des  Willens  nicht  angehören,  welches  er  als  absolutes 
Ding  an  sich  bezeichnet  Dagegen  erkennt  er  die  Notwendigkeit 
an,  dass  Zeit,  Raum  und  Kausalität  Formen  der  Natur,  der  rela- 
tiven Dinge  an  sich  im  erkenntnistheoretischen  Sinne  des  Worts, 
oder  des  individualisierten  und  objektivierten  Willens  seien.  Freilich 
sind   die  Sinnesqualitäten    ganz   von    der  Organisation   abhängig* 


von  Hellenbach. 


555 


und  dasselbe  behauptet  Hellenbach  auch  von  der  Dreidimensiona- 
lität  des  subjektiv  idealen  Anschauungsraums.  Er  giebt  nicht  zu, 
dass  es  die  Dreidimensionalität  der  wirklichen  Raumverhältnisse 
in  der  ausserbewussten  Natur  ist,  durch  welche  die  Seele  mittelbar 
genötigt  wird,  ihre  räumliche  Rekonstruktion  der  Empfindungen 
in  nicht  weniger  und  nicht  mehr  als  drei  Dimensionen  auszuführen. 
Vielmehr  hält  er  diese  Zahl  der  Dimensionen  des  Bewusstseins- 
raums  für  rein  subjektiv  bestimmt  durch  die  geistige  Veranlagung, 
die  wieder  auf  der  Organisation  des  Gehirns  ruht.  Er  übernimmt 
von  Zöllner  die  Hypothese,  dass  die  problematische  vierte  Dimen- 
sion des  Raumes  gewisse  Erscheinungen  in  mediumistischen 
Sitzungen  erklären  könne,  hält  aber  an  der  Zahl  4  für  die  Dimen- 
sionen des  wirklichen  Raumes  in  der  Natur  nicht  fest,  sondern 
schwankt  zwischen  einer  noch  grösseren  Zahl  und  NulL  Die 
Spiritisten  haben  in  der  Mehrzahl  andere  Erklärungen  für  die 
Erscheinungen  angenommen  als  die  vierte  Dimension,  so  dass 
diese  Hypothese  in  spiritistischen  Phänomenen  bis  jetzt  keine 
Stütze  findet  Dass  die  Einschränkung  der  Dimensionenzahl  auf 
Null  den  Raum  überhaupt  aufhebt  und  damit  an  seiner  Stelle 
ein  anderes  principium  individuationis  erforderlich  macht»  hat 
Hellenbach  nicht  bemerkt;  sonst  würde  er  diesen  Fall  nicht  als 
eine  Möglichkeit  behandelt  haben.  Die  Nulldimensionalität  des 
transcendenten  Raumes  kehrt  entweder  den  Pluralismus  sofort  in 
Monismus  um,  oder  sie  macht  eine  raumlose  Konstruktion  der 
Individuation  und  der  Kausalität  zwischen  den  raumlosen  Indi- 
viduen zur  Aufgabe, 

Den  Glauben  an  die  SubstantiaHtät  und  Wesenhaftigkeit  des 
Ich  bekämpft  Hellenbach  auf  das  Heftigste  und  lehrt  seine  blosse 
Phänomenalität  und  seine  strenge  Sonderung  von  der  Seele.  Den 
Beweis  für  die  Existenz  einer  intelligenten  und  wollenden  Seele 
hinter  dem  erst  allmählich  sich  entwickelnden  Erscheinungsich 
findet  er  einerseits  in  der  biologischen  Unentbehrlichkeit  eines 
organisierenden  Princips,  andrerseits  in  der  Möglichkeit  von  Wahr- 
nehmungen, die  nicht  durch  die  leiblichen  Sinne  vermittelt  sind 
(bei  der  Telepathie»  der  Gedankenübertragung,  dem  Hellsehen).  Da 
nichts  im  Verstände  ist,  was  nicht  vorher  in  den  Sinnen  war.  so 
wird  durch  Ausschaltung  der  leiblichen  Sinnesorgane  bewiesen, 
einerseits»  dass  es  noch  eine  zweite  sinnliche  Wahrnehmungs weise 
giebt,  und   andrerseits,    dass  es  ein  wahrnehmendes  Subjekt  für 


556 


H  eilen  bju:h> 


diese  zweite  Wahrnehmungsweise  giebt  Es  ist  wahrscheinlich, 
dass  das  seelische  Subjekt  dieser  zweiten,  ungewöhnlichen  Wahr- 
nehmungsweise zugleich  das  der  ersten,  gewöhnlichen  ist  (Es 
fehlt  dabei  nur  der  Nachweis,  dass  bei  Aussclialtung  der  Sinnes- 
organe auch  die  zu  ihnen  gehörenden  Nervencentren  ausser  Funk- 
tion gesetzt  seien,  und  dass  diese  nicht  ausreichen,  um  dynamisdie 
Schwingungsreize  oder  psychische  Inspirationen  in  sinnliche  An- 
schauungen umzusetzen.)  — 

Indem  Hellenbach  stillschweigend  voraussetzt,  dass  das  Subjekt 
des  hellsehenden  Wahrnehmens  durch  andre  Hilfsmittel  als  die 
leiblichen  Centralorgane  zu  Anschauungen  und  Vorstellungen 
gelangt,  schreibt  er  ihm  einen  unsichtbaren  Leib  hinter  dem  sicht- 
baren, einen  Metaorganismus  hinter  dem  Organismus  zu.  Diesen 
Metaorganismus  betrachtet  er  als  vermittelndes  Glied  sowohl  für 
die  Organisation  des  Organismus  als  auch  für  die  hellsehende 
Wahrnehmung.  Die  Un wahrnehmbarkeit  des  Metaorganismus 
macht  ihm  keine  Schwierigkeit,  da  ja  viele  Zustände  der  Materie 
und  vor  allem  die  Atome  selbst  unwahrnehmbar  sind.  Der  Meta- 
organismus jedes  Individuums  muss  vor  seiner  Konzeption  b^tan- 
den  haben,  da  er  sonst  nicht  die  Auswahl  und  Verarbeitung  der 
Zeugungs-  und  Nährstoffe  und  die  embryonale  Ent Wickelung  leiten 
könnte,  Demgemäss  wird  er  auch  übrig  bleiben»  wenn  der  Orga- 
nismus im  Tode  zerfällt,  obwohl  seine  Un  wahrnehmbarkeit  uns 
hindert,  dies  unmittelbar  zu  beobachten. 

Der  Metaorganismus  wird  von  Hellenbach  mit  der  Seele 
identifiziert,  d.  h.,  da  er  materiell  ist,  die  Seele  wird  materiali- 
siert Wäre  der  Metaorganismus  von  der  Individualseele  ver- 
schieden und  nur  Mittel  für  die  Individuation  eines  AllwiMens 
oder  Allgeistes,  dann  wäre  diese  Individuation  nur  als  eine  funktio* 
nelle  zu  verstehen,  und  der  Monismus  bliebe  in  Kraft.  Soll  der 
Metaorganismus  in  dem  Sinne  Princip  der  Individuation  sein,  dass 
die  substantielle  Selbständigkeit  und  Besonderheit  der  Individual- 
seele durch  ihn  verbürgt  wird,  dann  muss  er  mit  ihr  identisch 
sein.  Soll  der  transcen dentale  Individualismus  mehr  sein  als  eine 
bloss  funktionelle  Individuation  des  All -Einen,  so  muss  er  über- 
sinnlicher Materialismus  sein.  So  verstanden  ist  der  Metaorganis- 
mus nicht  mehr  Hilfsmittel  der  Seele  für  Organisation  und  Wahr- 
nehmung, sondern  er  selbst  ist  das  transcendentale  Princip  und 
Subjekt  dieser  beiden  Thätigkeiten.     Die  Materialisation  der  Seele 


von  HeUenbadi. 


557 


ist  indessen  bei  Hellenbach  keine  VerstoflFlichung  derselben  im 
Sinne  des  naiven  Realismus,  weil  ja  die  übersinnliche  Materie  des 
Metaorganismus  ebenso  wie  die  sinnliche  des  Organismus  aus 
unstofflichen  Kraftatomen  zusammengesetzt  ist.  So  kommt  auch 
die  Identitätsphilosophie  im  transcendentalen  Individualismus  zu 
ihrem  Recht,  freilich  in  einem  ganz  naturalistischen  Sinne.  Denn 
es  sind  ja  die  denkbar  niedrigsten  Formen  der  Objektivation  des 
Willens,  die  materiebildenden  Atome»  aus  denen  der  Metaorganis- 
mus, d.  h.  die  Seele,  ohne  Rest  zusammengesetzt  ist. 

Der  Metaorganismus,  der  substantielle  Wesenskern  des  Indi- 
viduums, wirkt  nicht  nur  auf  den  Organismus  oder  Zellenleib, 
den  er  sich  angebildet  hat,  sondern  empfängt  auch  Rückwirkungen 
von  ihm.  Er  geht  nach  dem  Tode  nicht  mehr  als  derselbe  aus 
dem  absterbenden  Organismus  hervor,  als  der  er  in  ihn  bei  der 
Konzeption  eintrat  Er  ist  bereichert  durch  die  Erfahrungen  dieses 
Lebens  und  enthält  ihren  kapitalisierten  Niederschlag.  Ebenso 
wird  es  ihm  aber  auch  in  künftigen  Lebensläufen  ergehen  und 
ebenso  ist  es  ihm  in  vergangenen  ergangen.  Der  Metaorganismus 
ist  in  jedem  Zeitpunkt  seiner  Gesamtdauer  der  kapitalisierte 
Niederschlag  der  Erfahrungen  und  Charaktermodifikationen  aller 
bereits  von  ihm  durchgemachten  Lebensläufe.  Die  gemeine,  auf 
das  Erscheinungsich  gerichtete  Selbstsucht  wird  dadurch  zu  einer 
transcendentalen  emporgeläutert,  d.  h,  auf  das  transcen dentale 
Subjekt  aller  dieser  Lebensläufe  gerichtet.  Der  sinnliche  Egoismus 
wdrd  zum  übersinnlichen,  bleibt  aber  Egoismus. 

Der  Metaorganismus  ist  es  auch,  der  magische  Kräfte  ent- 
faltet und  Leistungen  vollbringt,  denen  der  Organismus  nicht 
gewachsen  ist.  Diese  Durchbrechung  der  gewöhnlichen  phänome- 
nalen Gebundenheit  erfolgt  nur  bei  besonders  veranlagten  Indi- 
viduen, kann  aber  auch  durch  Übung  gesteigert  werden  (Er- 
ziehung zum  Medium).  Nicht  alle  Erscheinungen  ungewöhnhcher 
Art  sind  durch  die  Metaorganismen  der  anwesenden  leiblichen 
Individuen  erklärbar;  bei  manchen  muss  man  zur  Erklärung  die 
Mitwirkung  leibfreier  Metaorganismen  (Spirits)  annehmen.  So 
liefert  Hellenbach  dem  modernen  Spiritismus  eine  metaphysische 
Grundlage  und  wird  darum  von  den  Spiritisten,  Okkultisten  und 
Theosophen  so  hoch  geschätzt. 

Wenn  Naturvölker  die  Seele  nicht  anders  als  räumlich  und 
stofflich   denken  können,  so  ist  das  verzeihlich.     Die  ganze  Ent- 


von  Hellenbach. 


Wickelung  der  Metaphysik  hat  sich  aber  mit  darum  g-edreht,  di< 
Verräumlichung  und  Verdinglichung  der  Seele  zu  einem  Stoff 
oder  einer  Materie  von  feinerer  Beschaffenheit  aufzuheben.  Es  ist 
ein  arges  Missverständnis  der  Identitätsphilosophie,  wenn  man  si^J 
in  der  Materialisierung  des  Geistes  oder  in  der  Auflösung  d^^^ 
Materie  in  ein  Objekt  des  bewussten  Geistes,  statt  in  der  Er- 
klärung der  Materie  wie  des  bewussten  Geistes  aus  einem  hinter 
beiden  liegenden  Dritten  sucht.  Nirgends  sagt  Hellenbach,  dass 
es  Atomkräfte  anderer  Art  seien,  aus  denen  die  Seele,  als  aus 
aus  denen  der  Leib  zusammengesetzt  ist;  es  sind  nur  dort  un- 
wahrnehmbare, hier  wahrnehmbare  Verbindungsformen,  zu  denen 
Atome  gleicher  Art  sich  vereinigt  haben. 

Das  biologische  und  teleologische  Problem,  wie  aus  der 
mechanischen  Vereinigung  unorganischer  Atome  Lebendiges  und 
Zweckmässiges  entspringen  könne,  ist  nur  vom  Organismus  auf 
den  Metaorganismus  zurückgeschoben,  aber  im  Metaorganismus 
von  Hellenbach  so  wenig  gelöst,  wie  im  Organismus  von  der 
Naturwissenschaft,  Wie  die  feineren  Atomverbindungen  des  Meta- 
organismus es  anfangen,  die  gröberen  Atom  Verbindungen  zu  einem 
Organismus  zusammenzufügen,  bleibt  ebenfalls  unerklärt  Wie  die 
Atome  im  Metaorganismus  es  fertig  bringen,  ihre  vielen  Atom- 
Bewusstseine  zu  einem  einheitlichen  Individual-Bewmsstsein  und 
ihre  vielen  atomistischen  Willensrichtongen  zu  einem  einheitlichen 
Individual willen  zu  verschmelzen,  bleibt  bei  Hellenbach  ebenso 
rätselhaft,  wie  dasselbe  Problem  in  Bezug  auf  den  Organismus  bei 
den  sinnlichen  Materialisten.  Alle  Probleme  sind  bloss  um  eine 
Stufe  zurückgeschoben,  keines  der  Lösung  näher  gerückt,  wohl  aber 
die  Schwierigkeiten  vervielfacht  und  ein  trübes  Nebelreich  zwischen 
die  Wirklichkeit  und  den   einheitlichen  Weltgrund  eingeschoben, 

Wenn  der  Metaorganismus  bloss  aus  feineren,  dünneren  und 
flüchtigeren  Verbindungen  der  gleichartigen  Atome  besteht  wie 
der  Zellen  leib,  so  ist  zwar  seine  Wechselwirkung  mit  diesem  be- 
greiflich, nicht  aber,  wie  es  zugehen  soll,  dass  die  feineren  und 
flüchtigeren  Verbindungen  im  Tode  erhalten  bleiben,  während 
die  gröberen  und  kompakteren  sich  auflösen.  Da  Hellenbach  die 
Relativität  der  Individuationsstufen  anerkennt,  so  muss  auch  zu 
jedem  Tier-  und  Pflanzenorganisoius  ein  Metaorganismus  an- 
genommen werden,  ja  sogar  jede  Zelle  muss  einen  solchen  haben, 
gleichviel,    ob   sie  als   isolierte    oder  mit    anderen  räumlich  ver- 


von  Hellenbach. 


559 


iunden  lebt.  D.  k  aber  in  Individuen  höherer  Ordnung  muss 
der    Ineinanderschachteluiig    von    Organismen   verschiedener    In- 

dividuationsstufen  eine  ebensolche  von  Metaorganismen  ent- 
sprechen. Damit  geht  der  Gewinn  wieder  verloren,  dass  der  Meta- 
organismus  des  Gesamtindividuums  als  Centrabnonas  oder  Archon 
oder  Hegemonikon  die  Teile  des  Organismus  leiten  und  beherr- 
schen soHte.  Denn  nun  müsste  er  ja  erst  den  Kampf  mit  den  in 
ihn  eingeschachtelten  Metaorganismen  niederer  Stufe  aufnehmen, 
deren  jeder  den  ihm  entsprechenden  Organismus  niederer  Stufe 
organisieren  und  leiten  will.  Vollständig  durchgefilhrt  ergiebt  die 
ganze  Ansicht  nur  eine  gespenstische  Verdoppelung  der  Wirk- 
lichkeit, die  far  die  Erklärung  gar  nichts  leistet.  — 

Die  Bürgschaft  dafür,  dass  der  Metaorganismus  den  Tod  des 
Organismus  überdauert,  kann  nur  darin  gefunden  werden,  dass 
»leibfreie  Bummelseelen«  an  den  spiritistischen  Sitzungen  mitwirken. 
Wenn  aber  dem  Metaorganismus  der  Lebenden  magische  Kräfte 
zugeschrieben  werden,  so  müsste  doch  zunächst  erst  die  genaue 
Grenze  gezogen  werden,  wo  die  Leistungsfähigkeit  dieser  aufhört 
und  eine  Ergänzung  der  Erklärung  durch  Spirits  nötig  wird 
Um  diese  von  Hellenbach  unterlassene  Untersuchung  anzustellen, 
hat  Aksakow  sein  zweibändiges  Werk  »Animismus  und  Spiritis- 
mus« geschrieben.  Dass  ihm  darin  der  versuchte  Nachweis  miss- 
lungen  ist,  habe  ich  in  einer  besonderen  Schrift*)  dargethan; 
Aksakow  hat  keinen  Versuch  gemacht,  meine  eingehende  Wider- 
legung zu  entkräften,  sondern  den  Text  seiner  ersten  Auflage 
in  seiner  zweiten  Auflage  und  in  der  französischen  Ausgabe  unver- 
ändert abgedruckt  Der  Beweis  darf  demnach  bis  auf  weiteres 
als  nicht  geführt  gelten.  Damit  fällt  aber  auch  die  Berechti- 
gung hinweg,  die  Fortdauer  des  übersinnlichen  Metaorganismus 
über  den  leiblichen  Tod  hinaus  zu  behaupten,  d,  h.  der  ganze 
transcendentale  Individualismus  verliert  sein  Fundament 

Alles  Lebendige  erhält  seine  Form  im  beständigen  Wechsel 
des  Stoffs,  durch  Mauserung  seiner  materiellen  Bestandteile:  das 
wird  also  auch  vom  Metaorganismus  gelten  müssen.  Alles  Leben- 
dige durchläuft  in  seiner  Form  einen  CykJus  von  Phasen,  die  mit 
dem  Keim  beginnen  und  mit  der  Auflösung  im  Tode  enden. 
Auch    dem  Metaorganismus   muss  eine  solche  Abwandlung   von 


♦)  »Die  Geiiterhypothcfte  des  Spüiti«mu3  und  iclne  Plumtome.« 


von  Hellenbach. 


Phasen  zugeschrieben  werden,  da  er  allmählich  entsteht  und  mit 
jeder  neuen  Inkorporation  seine  Form  um  den  kapitalisierten 
Niederschlag  neuer  Lebenserfahrungen  bereichert.  Sollte  da  nicht 
auch  im  Leben  des  Metaorganismus  auf  den  aufsteigenden  Teil 
des  Gesamtlebenslaufes  ein  absteigender  folgen  und  der  ersten 
Entstehung  eine  letzte  Auflösung  folgen?  Kann  der  Metaorgani^ 
mus»  der  den  Tod  vieler  Zellenleiber  überdauert,  mehr  verbürgen 
als  eine  relativ  längere  Lebensdauer  der  Seele,  die  ebensogut  wie 
das  Leben  jedes  Zellenleibes  mit  dem  Tode  endet,  wenn  auch  erst 
später?  Und  kann  bei  der  Relativität  aller  Zeitmasse  der  vor- 
läufige Fortbestand  des  Metaorganismus  über  den  leiblichen  Tod 
hinaus  mehr  bedeuten  als  eine  Galgenfrist?  Paulus  darf  den 
pneumatischen  Leib  *unverweslich<:  nennen,  weil  er  weder  auf 
Formenabwandlung  noch  auf  Stoffwechsel,  weder  auf  die  Ent- 
stehung  desselben  aus  Atomen  noch  auf  die  Möglichkeit  seiner 
Wiederauflösung  durch  Disgregation  der  Atome  Rücksicht  zu 
nehmen  hat  Hellen bach  aber,  der  naturwissenschaftlich  denken 
will,  muss  auch  den  Metaorganismus  aus  naturwissenschaitltcheo 
Gesichtspunkten  betrachten,  d.  h,  für  verweslich  haltecu  Für 
Paulus  ist  der  pneumatische  Leib  nur  eine  wunderbare  Bekleidung 
der  unsterblichen  Seele»  für  Hellenbach  ist  er  die  Seele  selbst, 
so  dass  mit  ihm  auch  die  Seele  sich  auflöst 

Wem  kommt  schliesslich  die  gewonnene  Galgenfrist  zu  Gute? 
Nicht  dem  Ich,  nicht  der  Kontinuität  des  persönlichen  Selbst- 
bewusstseins,  nicht  der  menschlichen  Persönlichkeit  als  solchen : 
denn  diese  sterben  mit  dem  Zellenorganismus,  an  dem  sie  haften. 
Nur  dem  Metaorganismus  und  dem  transcendentalen  Individual- 
geiste,  der  als  Sumraationsphänomen  aus  den  Innerlichkeiten  der 
Atome  resultiert,  die  den  Metaorganismus  zusammensetzen.  Wäre 
die  Seele  an  sich  unbewusst  und  gewänne  erst  durch  den  ZeUen- 
leib  ein  Bewusstsein,  so  könnte  man  sagen,  dass  nur  das  Be- 
wusstsein  des  Individualgeistes  stirbt,  dieser  selbst  aber  mit  dem 
Metaorganismus  fortlebt;  dann  wäre  auch  die  Einheit  des  unbe- 
wussten  Individualgeistes  mit  dem  ihm  durch  den  Zellenleib  zu- 
wachsenden Bewusstsein  verständlich.  Aber  dann  wäre  ja  der 
Metaorganismus  überflüssig.  Soll  dieser  irgend  eine  Bedeutung 
haben,  so  muss  sie  darin  liegen,  dass  er  ein  zweites  Bewusstsein 
hinter  dem  des  Zellenleibes  ermöglicht  und  diesem  zweiten  Be- 
wusstsein die  Kontinuität  über  die  vielen  Wiederverkörperungen 


TOn  HeUenbicIl. 


56  r 


hinaus  verbürgt.  Dieses  zweite  Bewusstsein  kann  Hellen bach 
auch  darum  nicht  entbehren,  weil  er  eine  unbewusste  Intelligenz 
für  unmöglich  hält,  also  die  zweckmässigen  Wirkungen  des 
organisierenden  Princips  auf  eine  transcendentale  bewusste  Intelli- 
genz zurückführen  muss. 

Das  hat  aber  den  Nachteil,  dass  das  zweite»  kontinuierliche 
Blbstbewusstsein  des  Metaorganismus  zu  einer  zweiten  Persön- 
lichkeit auswächst,  die  mit  der  ersten  des  Zellenleibes,  dem  Ich. 
licht  mehr  zu  vereinigen  ist,  sondern  ihm  als  ein  *Du«  gegen- 
übersteht Der  Individualgeist  geht  in  zwei  selbstbewusste  Per- 
sönlichkeiten aus  einander,  eine  sterbliche  und  eine  unsterbliche. 
deren  eine  von  der  anderen  magisch  besessen  ist.  Das  zweite, 
transcendentale  Selbstbewusstsein  mag  in  das  erste,  phänomenale, 
leiblich  vermittelte,  hineinschauen;  dieses  kann  jedenfalls  nicht  in 
jenes  hineinblicken  und  weiss  von  ihm  nur  indirekt  als  von  einem 
fremden.  Der  Egoismus  kann  sich  mithin  nur  auf  das  unmittel- 
bar bekannte  Ichbewusstsein  beziehen,  aber  nicht  auf  das  trans- 
cendentale Selbstbewusstsein  des  Metaorganismus,  das  ihm  als 
Dämon,  Genius,  Fravashi,  Schutzgeist,  Schutzengel,  aber  jedenfalls 
als  ein  ebensosehr  anderes  Individuum  gegenübersteht,  wne  irgend 
eine  andere  lebende  Person  oder  ein  Künstler  oder  Schriftsteller 
vergangener  Zeiten,  oder  ein  Engel  der  himmlischen  Heerscharen. 
Ob  dieser  transcendentale  Individualgeist.  der  sich  in  meine  Ange- 
legenheiten einmengt,  nach  meinem  Tode  fortlebt  oder  stkbt, 
geht  mich  um  nichts  mehr  an,  als  ob  irgend  eines  jener  anderen 
genannten  Individuen  fortlebt  oder  gestorben  ist. 

Ob  jener  Geist  von  meinem  Leben  Nutzen  oder  Nachteil  hat, 
kann  mich  nicht  mehr  interessieren,  als  ob  irgend  ein  Engel  aus 
meinem  Handeln  Gewinn  oder  Verlust  erleidet,  und  dies  kann 
schwerlich  ein  stärkeres  Motiv  zum  sittlichen  Handeln  für  mich 
werden,  als  ob  andere  Menschen  von  meinem  Thun  Förderung 
oder  Schaden  erleiden.  Auch  ob  der  Dämon  erfahrener  und 
tüchtiger  wird,  kann  mich  nicht  mehr  bekümmern,  als  dass  die 
Menschen,  zu  denen  ich  in  wahrnehmbarer  Beziehung  stehe, 
erfahrener  und  tüchtiger  werden.  Der  Begriff  des  transcendenten 
Egoismus  ist  nur  da  an^vendbar,  wo  das  Ich  meiner  eigenen 
Persönlichkeit  nach  dem  Tode  erhalten  bleibt,  aber  nicht  da,  wo 
es  stirbt  und  ein  anderes  mir  unbekanntes  Ich,  das  nicht  mein  Ich 
ist,  erhalten  bleibt*    Eine  Ethik,  die  den  Egoismus  benutzen  will. 

B.  t,  U&rtiDaaii,  Au»s^w.  Werke.    Bd.  XII.  36 


502 


von  HeUenbicb. 


um  den  Menschen  in  den  Dienst  jenes  tran&cendentalen  Indi\*idual- 
geistes  zu  stellen,  mutet  dem  Egoismus  zu,  dass  er  ein  anderes 

Ich  für  das  seinige  hält,  beruht  also  auf  einem  offenkundigen 
Widerspruch.  Der  ganze  abersinnliche  Materialismus  entspringt 
aus  dem  egoistischen  Verlangen,  das  Leben  des  eigenen  Ich  über 
den  Tod  hinaus  gesichert  zu  wissen,  und  sei  es  auch  nur  um  eine 
Galgenfrist.  Die  Durchführung  des  übersinnlichen  Materialismus 
zeigt  aber,  dass  der  Egoismus  dabei  doch  um  das  Ziel  seiner 
Sehnsucht  geprellt  wird;  denn  statt  seines  Ich  ist  es  ein  anderes 
Ich,  das  fortlebt.  — 

Der  übersinnliche  Materialismus  oder  transcendentale  Individua- 
lismus ist  darum  eine  wichtige  Etappe  der  metaphysischen  Ent- 
wickelung,  weil  er  zum  ersten  Male  den  übersinnlichen  Leib  nicht 
bloss  naiv  realistisch  als  selbstverständliches  Zubehör  der  LTnsterb- 
lichkeit  denkt,  sondern  mit  klarem  Bewusstsein  die  Konsequenz 
der  materialistischen  Wahrheit  zieht,  dass  ein  bewusstes  Geistes- 
leben nur  auf  leiblicher  Unterlage  möglich  ist.  Der  Versuch 
scheitert  daran,  dass  ein  anderer  Leib  auch  nur  einem  anderen 
Bewusstsein,  Selbstbewusstsein,  Ich,  persönlichen  Geistesleben  als 
Grundlage  dienen  kann.  Ohne  Leib  kein  bewusstes  Geistes- 
leben, mit  anderem  Leibe  eine  andere  Persönlichkeit;  über  diese 
Alternative  ist  nicht  hinauszukommen.  Da  ihre  beiden  Seiten 
für  die  Hoffnung  einer  persönlichen  Fortdauer  gleich  tödlidi 
sind,  muss  diese  Hoffnung,  soweit  sie  egoistischer  Natur  ist,  wohl 
überhaupt  begraben   werden. 

Egoistisch  ist  der  Selbsterhaltungstrieb,  die  instinktive  Todes- 
furcht, das  Verlangen  nach  Glückseligkeit  und  eigenem  Lebens- 
genuss  über  den  Tod  hinaus  und  der  Drang  nach  unbegrenzter 
persönlicher  Vervollkommnung  durch  Selbsten t Wickelung.  Streift 
man  diese  Motive  ab,  so  bleibt  nur  die  Idee  der  individuellen 
Vervollkommnung  und  Weiterentwickelung  ohne  Beziehung  auf 
das  eigene  Ich  übrig,  sei  es,  dass  sie  an  die  Stelle  einer  geleug- 
neten oder  bezweifelten  Universalentwickelung  tritt,  sei  es,  dass 
sie  nur  eine  Ergänzung  zu  ihr  bildet.  Der  konkrete  Monismus 
braucht  keine  Ergänzung  zur  Universalentwickelung,  weil  das  in 
allen  Individuallebensläufen  thätige  Subjekt  ein  und  dasselbe  ab* 
solute  Subjekt  ist.  Der  Individualismus  hat  es  weit  schwerer,  an 
ein  Zusammenwirken  aller  Individuen  zu  einer  gemeinsamen  Ge- 
samtentwickelung zu  glauben.    Da  seine  Substanzen  in  den  vielen 


du  Ptel. 


563 


Individuen  stecken,  so  muss  auch  die  Entwickelung  von  ihm  zu- 
nächst und  hauptsächlich,  wenn  nicht  gar  ausschliesslich  in  einer 
individuellen  Entwickelung-  gesucht  werden»  wenn  sie  nicht  gänz- 
lich geleugnet  wird.  So  erscheint  die  individuelle  Entwickelung 
über  den  Tod  hinaus  zwar  als  eine  dem  pluralistischen  Indi\idualis- 
mus  nahe  liegende  Idee,  aber  als  eine  solche,  die  überflüssig  wird, 
sobald  man  von  ihm  zum  konkreten  Monismus  übergeht,  und  für 
die  selbst  auf  dem  Boden  des  Individualismus  keine  Möglichkeit 
einer  Realisierung  nachgewiesen  werden  kann.  — 

Du  Prel  (1839 — 1899)  ging  ebenfalls  von  Schopenhauer  aus 
und  gelangte  nach  Arbeiten,  die  sich  teils  auf  Darwins  Auslese 
im  Kampf  ums  Dasein,  teils  auf  Ernst  Kapps  Erklärung  des 
Werkzeugs  durch  unbewusste  Projektion  von  Leibesorganen 
stützten,  zu  einem  transcendentalen  Individualismus.  Das  erste  Buch, 
in  welchem  er  diesen  Standpunkt  öffentlich  vertrat  (»Philosophie 
der  Mystik*,  1884/85)  verfasste  er  jedoch  erst,  nachdem  er  die 
Hauptwerke  Hellenbachs  kennen  gelernt  hatte.  In  diesem  Buche 
sucht  er  den  transcendentalen  Individualismus  nicht  aus  dem 
Spiritismus,  sondern  aus  dem  Somnambulismus  zu  begründen; 
in  seinen  späteren  Werken  aber  stützt  er  ihn,  ebenso  wie  Hellen- 
bach,  auf  den  Spiritismus.  Während  jedoch  Heüenbach  sich  vor- 
zugsweise auf  selbst  erlebte  Thatsachen  beruft»  arbeitet  du  Prel, 
ähnlich  wie  Perty,  und  mit  gleich  wenig  Kritik,  auf  das  Fleissigste 
die  ältere  und  neuere  okkultistische  und  spiritistische  Litteratur 
durch.  Im  allgemeinen  deckt  sich  der  Standpunkt  du  Preis  mit 
demjenigen  Hellenbachs,  so  dass  die  Kritik  des  letzteren  auch  auf 
den  ersteren  passt.  Es  bleibt  nur  übrig,  die  vorhandenen  Unter- 
schiede zu  beleuchten. 

Wenn  Hellenbach  sich  zuerst  für  die  vierte  Dimension  be- 
geistert hatte,  später  aber  die  Frage,  ob  der  transcendente  Raum 
n  oder  o  Dimensionen  habe,  in  der  Schwebe  gelassen  hatte,  so 
hält  auch  du  Prel  diese  Frage  offen.  Während  aber  Hellenbach 
der  Zeit  transcendente  Geltung  zugeschrieben  hatte,  sucht  du  Prel 
einen  Unterschied  zwischen  der  transcendenten  und  bewusstseins- 
immanenten  Zeit  dadurch  zu  konstruieren,  dass  er  der  ersteren  ein 
c-transcendentales  Zeitmass^  zuschreibt.  Schon  in  seiner  Dissertation 
hatte  er  Kants  transcendentale  Idealität  der  Zeit  dadurch  be- 
weisen zu  können  geglaubt,  dass  im  Traum  und  ähnlichen  Zu- 
iden  bisweilen  eine  reissend   schnelle  Bilderflucht  eintritt  (d.  h. 

36* 


564 


du  PrtU 


die  oorxnale  Geschwindigkeit  des  Vorstellungsablaufs  sich  di 
Hirnhyperästhesie  steigert).  Wie  zwei  Zeitabläufe  mit  versdue- 
dener  Geschwindigkeit  in  einem  und  demselben  Weltprozess  Platz 
iänden,  und  wie  ihre  Wechsel w^irkung  sich  gestalten  solle,  hat  er 
unerörtert  gelassen.  Trotzdem  eine  rein  physiologische  Erklärung 
der  Erscheinung  ausreicht,  hat  er  an  der  Verwechselung^  eines 
relativ  rascheren  Ablaufs  der  Hirnprozesse  mit  einer  andersartigen 
Beschaffenheit  der   transcendenten  Zeit  hartnäckig  festgehalten. 

Hellenbach  denkt  soweit  physiologisch,  dass  er  das  Gredächtois 
auf  organische  Eindrücke  zurückführt;  du  Prel  dagegen  denkt 
mystisch,  indem  er  diese  Erklärung  verwirft  und  statt  üirer  die 
Aufbewahrung  der  Gedächtnisvorstellungen  in  einem  leibfireiea 
transcendentalen  Bewusstsein  annimmt,  ja  sogar  die  Unentbd»"- 
lichkeit  dieser  Erklärung  für  einen  Bew^eis  der  Eidstenz  eines 
leibfreien  transcendentalen  Bewusstseins  hält.  Bei  Hellenbach 
stützt  sich  das  Gedächtnis  des  transcendentalen  Bewusstseins  tu/ 
materielle  Veränderungen  im  Metaorganismus,  ebenso  wie  das* 
jenige  des  gemeinen  Bewusstseins  auf  solche  im  Zellenleibe.  Du 
Prel  verwirft  aber  die  physiologische  Erklärung  deshalb,  weO  €t 
der  Materie  ein  Fassungsvermögen  für  so  viele  Spuren  nicht  lü- 
trauti  muss  sie  also  für  den  Metaorganismus  und  den  Zellenleib 
aus  demselben  Grunde  verwerfen.  Das  Latentwerden  einer  Vor- 
stellung für  das  gemeine  Bewusstsein  bedeutet  nach  ihm  ihr 
Aktuellbleiben  im  transcendentalen  Bewusstsein,  in  welchem  nichts 
vergessen  w^erden  kann.  Das  transcen dentale  Bewusstsein  um- 
schliesst  demnach  die  gleichzeitige  Aktualität  aller  im  Leben  auf- 
genommenen Vorstellungen,  z.  B.  aller  jemals  gehörten  Musik- 
stücke. Während  sein  Inhalt  bei  Hellenbach  ganz  auf  dem 
Metaorganismus  und  dem  in  ihm  kapitalisierten  Schatz  der  eiD* 
pfangenen  und  verarbeiteten  Eindrücke  beruht,  findet  er  bei  du 
Prel  an  dieser  materiellen  Grundlage  keine  Stütze,  sondern  ist 
auf  die  eigene  stetige  Aktualität  angewiesen. 

Aber  man  darf  nicht  etwa  daraus  folgern,  dass  du  Ptel  auf 
ein  immaterielles  transcen  dental  es  Bewusstsein  hinaus  will,  vdelixiclff 
huldigt  er  dem  übersinnüchen  Materialismus  in  noch  viel  ent- 
scMedenerer  Weise  als  Hellenbach.  Bei  beiden  ist  der  Metaorg^iis- 
mus  die  Seele  selbst,  und  alle  seelische  Thätigkeit  eine  Funktion 
des  Metaorganismus.  Indessen  ist  der  Metaorganismus  bei  Hellen- 
bach zw^ar  materiell,  aber  nicht  stoflFHch.  d.  h,  die  ihn  zusammen- 


du  Prcl. 


565 


setzenden  Atome  sind  unstojfFliche  Kräfte;  bei  du  Prel  dagegen 
ist  er  selbst  ebensogut  stofFlich  wie  dynamisch,  nämlich  eine 
objektiv  untrennbare  Einheit  von  Stoff  und  Kraft.  Für  Hellen- 
bach  ist  der  Stoff  bloss  eine  subjektiv  ideale  Erscheinung  im 
Bewusstsein«  die  durch  das  unstofFliche  Dynamidensystem  der 
Dinge  an  sich  hervorgerufen  wird;  für  du  Prel  hat  der  Stoff  eine 
transcendentrcale  Existenz,  allerdings  nur  in  Verbindung  mit  der 
Kraft,  von  der  er  nur  durch  Abstraktion  getrennt  werden  kann. 
Du  Prel  steht  also  in  Bezug  auf  Stoff  und  Kraft  genau  auf 
dem  Standpunkt  Büchners,  nur  dass  er  einen  phantasiemässig 
ins  Übersinnliche  hinaus  projizierten  sinnlichen  Stoff,  Büchner 
aber  diesen  sinnlichen  Stoff  selbst  meint;  du  Prel  fällt  also  tief 
unter  den  von  Hellenbach  erreichten  metaphysischen  Standpunkt 
hinunter,  nämlich  vom  rein  dynamischen  Materialismus  auf  einen 
stofflichen  oder  genauer:  stofflichen  und  dynamischen  Materialis- 
mus, ist  aber  eben  darum  den  Laien,  die  vom  naiven  Realismus 
und  sinnlichen  Materialismus  herkommen »  so  \riel  zusagender  und 
verständlichen  Seine  Bekämpfung  des  Materialismus  ist  demnach 
nichts  weiter  als  eine  Bekämpfung  des  sinnlichen  Materialismus 
durch  einen  ganz  ebenso  naiven,  aber  desto  phantastischeren  und 
abergläubischeren  übersinnlichen  Materialismus.  — 

Du  Prel  nennt  alles  i^transcendental«,  was  nicht  oberhalb  der 
Schwelle  des  wachen,  normalen  Bewusstseins  liegt,  also  z.  B»  das 
Traumbewusstsein  des  gewöhnlichen  und  des  durch  narkotische 
Mittel  erzeugten  Schlafes,  das  somnambule  Bewusstsein  ersten 
Grades  in  der  gewöhnlichen  Hypnose,  das  somnambule  Bewusst- 
sein zweiten  Grades  im  hypnotischen  Hochschlaf  oder  Tiefschlaf, 
das  alternierende  Bewusstsein  bei  gewissen  Zuständen  geistiger 
Störung,  das  zur  Sonderung  von  zwei  und  mehr  getrennten  Per- 
sonen in  demselben  Individuum  führen  kann  u.  s.  w.  Alle  diese 
verschiedenen  Bewusstseinssphären,  die  hinter  und  unter  dem  nor- 
malen wachen  Bewusstsein  liegen,  fasst  du  Prel  in  eine  zweite 
Persönlichkeit  oder  ein  zweites  Selbstbewusstsein  zusammen, 
obwohl  sie  unter  einander  mindestens  ebenso  sehr  geschieden  sind 
we  jedes  von  ihnen  vom  wachen  Bewusstsein.  Er  behauptet  auf 
Grund  dieser  Zusammenfassung  einen  Dualismus  der  Persönlichkeit 
im  Individuum,  während  er  doch  nur  von  einem  Pluralismus  der 
Personen  reden  dürfte  ^  dessen  Zahl  weit  über  die  Zwei  hinausgeht. 
Er  übersieht  dabei,  dass  die  verschiedenen  Unterbewusstseine  von 


566 


du  Prel. 


dem  normalen  Bewusstsein  nicht  schlechthin  getrennt,  sondern 
durch  schmale  Erinnerungsbrücken  und  erschwerte  Associationen 
verbunden  sind ,  so  dass  der  falsche  Schein  verschiedener  Persön- 
lichkeiten in  einem  Individuum  nur  da  entsteht,  wo  durch  krank- 
hafte Decentralisation  des  Nervensystems  diese  Brücken  zeitweilig 
ungangbar  geworden  sind  und  die  Associationen  zwischen  den 
verschiedenen  Bewusstseinen  nicht  mehr  gelingen  wollen. 

Die  Unterbewusstseine  sind  eine  längst  bekannte  Thatsache; 
das  Überbewusstsein  ist  eine  unverbürgte  Hypothese,  aber  sein 
thatsächlicher  Bestand  soll  durch  die  falsche  Identifikation  mit 
dem  Komplex  der  Unterbewusstseine  sichergestellt  werden.  Die 
Unterbewusstseine  haben  einen  sinnlich-bildlichen,  reflexionslosen, 
symbolischen,  zur  Personifikation  geneigten  Inhalt,  und  entbehren 
in  ihrer  Bilderflucht  der  zielbewussten  Leitung  eines  zwecksetzenden 
Willens,  und  zwar  in  um  so  höherem  Masse,  je  weiter  sie  sich 
vom  normalen  wachen  Bewusstseine  entfernen.  Das  Überbewusst- 
sein dagegen  soll  durchaus  geistiger  und  zielbewusster  Art  sein, 
denn  es  soll  den  Aufbau  und  die  Heilung  des  Organismus 
leiten,  Inspirationen  geben  und  dem  gewöhnlichen  bewussten 
Geistesleben  als  Genius  vorstehen.  Die  vielen  Unterbewusstseine 
gehören  tieferen  Stufen  der  Individualität  als  das  normale  Bewusst- 
sein an,  und  ihr  Hervortreten  deutet  auf  den  Eintritt  einer  Decen- 
tralisation hin;  das  Überbewusstsein  dagegen  muss  einer  höheren 
Stufe  der  Individualität  angehören,  denn  es  soll  ja  die  vielen 
Individualbewusstseine  der  verschiedenen  Lebensläufe  zu  einer 
höheren  Bewusstseinseinheit  zusammenfassen.  Die  vielen  Unter- 
bewusstseine sind  ebenso  wie  das  normale  Bewusstsein  an 
physiologische  Hirnfunktionen  gebunden,  wahrscheinlich  sogatr  an 
die  Funktion  tiefer  liegender  Hirnteile;*)  das  Überbewusstsein 
dagegen  soll  leibfi-ei  in  Bezug  auf  den  sterblichen  Zellenleib  sein, 
wenn  es  auch  Funktion  des  übersinnlichen,  unsterblichen  Meta- 
organismus  ist.  Die  Unterbewusstseine  deuten  atavistisch  zurück 
auf  tiefere  Stufen  der  Organisation,  aus  denen  die  menschliche 
sich  entwickelt  hat;  das  Überbewusstsein  aber  deutet  nach  vor- 
wärts auf  das  hinaus,  was  aus  dem  Menschen  weiterhin  werden  soll. 

Bei  diesen  Gegensätzen  ist  es  völlig  unstatthaft,  aus  den  das 

*)  Vergl.  Prof.  Th.  Meynert:  »Sammlung  von  populären  wissenschaftlichen  Vor- 
trägen über  den  Bau  und  die  Leistungen  des  Gehirns«,  Wien,  Braumüller,  i8q2, 
S.  218—225. 


du   Prel. 


567 


Unterbewusstsein  bezeugenden  Erfahrungen  auf  die  Existenz  eines 
zellenleibfreien  Überbewusstseins  zu  schliessen,  bloss  weil  beide 
^transcendentaU  genannt  werden,  und  Kant  unter  dem  *trans- 
cenden taten  Subjekt*  etwas  oberhalb  des  empirischen  Subjekts 
Belegenes  verstanden  hat.  Dass  die  uns  aus  den  Unterbe^vusst- 
seinen  bekannten  bewussten  Seelenthätigkeiten  es  nicht  sind,  die 
den  Organismus  bauen,  erhalten  und  heilen,  ist  wohl  sicher.  Die 
Frage,  ob  die  bauenden,  erhaltenden  und  heilenden  Thätigkeiten 
einem  Überbewusstsein  als  bewusste  angehören,  oder  ob  sie  als 
absolut  unbewusste  aufzufassen  sind,  kann  dadurch  ihrer  Lösung 
aicht  näher  geführt  werden,  dass  man  den  Inhalt  der  Unter- 
bewusstseine  untersucht.  Die  ausnahmsweise  überraschenden  Leis- 
tungen der  Unterbewusstseine  stammen  teils  aus  der  Verengerung 
und  Koncentration  des  Gesichtskreises,  teils  aus  einer  Hyper- 
ästhesie der  funktionierenden  Hirnteiie,  die  das  Erwachen  schwacher 
Erinnerungen  und  die  Leichtigkeit  der  Association  ebenso  be- 
günstigt, wie  den  Eintritt  von  Inspirationen,  Woher  diese  Inspi- 
rationen stammen,  ob  aus  absolut  unbewusster  Geistesthätigkeit 
oder  aus  dem  individuellen  Überbewusstsein,  bleibt  dabei  offene 
Frage,  — 

Du  Prel  begnügt  sich  nun  aber  nicht  damit,  das  leibgebundene 
Unterbewüsstsein  mit  dem  leibfreien  Überbewusstsein  zu  iden- 
tifizieren, sondern  er  identifiziert  weiterhin  das  »transcendentale 
ßewusstsein*  mit  dem  »transcendentalen  Subjekt«,  d.  h.  die  Thätig- 
keitssphäre  mit  dem  Thäter,  die  Funktion  mit  ihrem  Träger,  Da 
letzteres  das  metaphysische  Wesen  selbst  ist,  so  erklärt  er  den 
Somnambulismus  (d.  h,  das  Studium  der  Unterbewusstseine)  für 
die  Eingangspforte  zur  Metaphysik,  Es  ist  aber  offenbar  leichter, 
von  der  bekannten  normalen  bewussten  Geistesthätigkeit  auf  ihren 
Träger  oder  das  in  ihr  thätige  metaphysische  Subjekt  zurückzu- 
schliessen,  als  von  einer  hypothetischen  überbewussten  oder  unter- 
bewussten  Geistesthätigkeit  auf  deren  Träger,  und  keinenfalls  kann 
die  Seitwärtsbewegung  von  einer  Bewusstseinssphäre  zu  einer 
anderen  dazu  beitragen,  sich  dem  Subjekt  zu  nähern,  das  gleich- 
massig  hinter  und  über  allen  steht 

So  wenig  du  Prel  die  Existenz  eines  individuellen  Überbe- 
wusstselns  hat  glaubhaft  machen  können,  ebensowenig  hat  er 
irgend  einen  Grund  dafür  üu  erbringen  vermocht,  dass  das  Subjekt 
eines  solchen  etwaigen  individuellen  Überbewusstseins  numerisch 


568 


du  Ptel* 


identisch  sei  mit  dem  Subjekt  des  normalen  Bewusstseins,  Vom 
Standpunkt  des  Monismus,  d.  h.  der  Einheit  des  absoluten  Subjekts 
in  allen  Individuen  wäre  ja  auch  die  Einheit  des  Subjekts  des 
Überbewusstseins  mit  dem  des  normalen  Bewusstseins  selbstver- 
ständlich; aber  vom  Standpunkt  des  Individualismus  ist  sie  es  gar 
nicht,  sondern  bedarf  sehr  des  Beweises,  ehe  sie  behauptet  werden 
darf  Du  Prel  aber  behauptet  sie  ohne  jeden  Beweisversuch  und 
nennt  den  Menschen  ein  Amphibium  höherer  Art,  monistisch  als 
Subjekt,  dualistisch  als  Person.  — 

Einen  Monismus  des  Naturganzen  über  der  Vielheit  der 
Individuen  giebt  zwar  auch  du  Prel  als  unentbehrlich  zu,  lässt 
sich  aber  auf  eine  nähere  Erörterung  d^selben  nicht  ein,  die 
offenbar  seinen  transcendentalen  Individualismus  umstossen  müsste. 
Wenn  er  seine  Seelenlehre  ^monistischt  und  überhaupt  seinen 
Standpunkt  »Monismusc  nennt,  so  meint  er  damit  nicht  einen 
Gegensatz  zum  ontologischen  Pluralismus  der  Individualsubstanzen, 
sondern  zum  Cartesianischen  Dualismus,  also  das.  was  man  sonst 
Identitätsphilosophie  nennt.  Die  Behauptung,  dass  es  nur  eine 
einzige  Art  von  Substanz  gebe,  sucht  er  dadurch  zu  sichern,  dass 
er  die  Substantialität  des  Geistes  leugnet  und  nur  diejenige  des 
Stoffes  anerkennt,  ähnlich  wie  Häckel  die  Einzigkeit  des  Weil- 
gesetzes dadurch  herstellt,  dass  er  die  Teleologie  leugnet  und  nur 
die  Kausahtät  gelten  lässt.  Der  Geist  ist  in  du  Preis  Augen 
bloss  eine  Funktion  des  Stoffes,  die  Seele  ein  räumlich-stoffliches, 
geformtes  und  gegliedertes  Ding,  nur  aus  dünnerem  und  feinerem 
Stoffe  als  der  Leib,  Damit  sinkt  er  auf  die  kindliche  Anschau- 
ungsweise der  Naturvölker  zurück;  für  ihn  hat  die  gesarate 
Erkenntnistheorie  und  Metaphysik  vergebens  daran  gearbeitet, 
diesen  naiven  Realismus  zu  überwinden*  Aber  dem  gefilrchteten 
Dualismus  entgeht  er  darum  doch  nicht,  denn  er  trägt  ihn  in  die 
materielle  Substanz  selbst  hinein  in  Gestalt  des  Gegensatzes  von 
Stoff  und  Kraft.  Der  Stoff  als  solcher  kann  nicht  geistig  fiink* 
tionieren.  sondern  nur  als  kraft  begabter  vermittelst  seiner  Kräfte, 
Statt  der  versprochenen  Einheit  haben  wir  also  wieder  wie  bei 
Büchner  doch  nur  die  Verkuppelung  Zweier,  deren  Verhältnis.  Zu- 
sammengehörigkeit und  Verbindungsweise  völlig  unklar  bleibt*)  — 

*)  Vgl,  »Moderne  Probleme  ,  2,  Aufl.,  No.  XV»  S.  207 — 277;  »Phil,  des  Unbe- 
wttsstcn^,  10-  Aufl.,  Bd.  n,  S,  468,  519—521;  »Der  SpmdsmM»,  2.  AbA.  ;  »Die 
Geistethypotbese  de«  Sptritumus  und  seine  Phantome«. 


Hellenbach  und  du  Prel  gelten  den  deutschen  Spiritisten  als 
diejenigen,  welche  ihrer  Weltanschauyng  eine  philosophische 
Grundlage  gegeben  haben.  Mit  diesem  spiritistischen  transcen- 
dentalen  Individualismus  in  Deutschland  traf  eine  verwandte 
Strömung  zusammen,  die  angloindische  Neotheosophie,  die 
in  der  international  verzweigten  >theosophischen  Gesellschaft«  ihre 
Vereinsorganisation  hat.  Diese  nimmt  aus  der  Sankhyalehre  die 
substantielle  Selbständigkeit  des  Individuums,  aus  dem  Buddhis- 
mus das  Karma  oder  das  Gesetz  der  substantiell  fortbestehenden 
Summe  von  Schuld  und  Verdienst  des  Individuums  als  des  Be- 
stimmungsgrundes für  das  Schicksal  der  künftigen  Lebensläufe 
aus  der  brahmanischen  Vedantalehre  ein  müssig  im  Hinter- 
grunde liegendes  abstrakt  Eines  Sein  als  einheitlichen  Weltgrund. 
aus  allen  zusammen  den  absoluten  Illusionismus  des  Majaschleiers 
und  den  Aberglauben  an  Dämonen,  Naturgeister  und  allerlei 
Spuk.  Diese  einander  widersprechenden  Bestandteile  werden  zu 
einer  Weltanschauung  zusammengesetzt,  die  der  christlichen  eben- 
so überlegen  sein  soll,  wie  der  abendländischen  Wissenschaft.*) 
Die  mehrfach  erwähnte  Hinneigung  zu  Indien  bei  Schopenhauer 
und  seinen  Schülern  erleichterte  die  freundliche  Beziehung  zwischen 
dem  deutschen  transcendentalen  Individualismus  und  dieser  anglo- 
indischen  Neotheosophie.  Der  ganze  Vorgang  erinnert  an  die 
Einwanderung  orientalischer  Kulte  ins  römische  Reich  beim 
Niedergange  des  Glaubens  an  die  alten  heimischen  Götter. 

Als  in  den  letzten  vorchristlichen  Jahrhunderten  das  Be- 
wusstsein  von  dem  Werte  des  Individuums  erwacht  war  (neuere 
Psalmen,  Epikureismus,  Stoicismus),  da  wollte  der  Egoismus  sich 
nicht  mehr  mit  der  schattenhaften  Existenz  im  Hades  begnügen,  und 
die  freien  Männer  strömten  zu  den  Mysterien.  Wenn  daselbst  auch 
für  die  niederen  Grade  der  Eingeweihten  theatralische  und  sym- 
bolische Schaustellungen  genügen  mussten,  so  suchten  doch  die 
höheren  Grade  ihre  Sehnsucht  nach  Fortdauer  zweifellos  mit 
spiritistischen  Sitzungen  zu  nähren  und  ihren  Glauben  zu  kräftigen* 
Aus  dem  Kampf  ums  Dasein  der  vielen  verschiedenen  Mysterien 
ging  zuletzt  das  Christusmysterium  (vgl.  Col.  i,  26 — 27;  4,  3)  als 
Sieger  hervor,  teils  weil  es  sich  an  alle  Geschlechter  und  Stände 


•)  »PhÜoiOphisdie  Fragen  der  Gegenwart«,  No.  IX;  ilndische  Gnosis  oder  Gc- 
heimlehre«,  S*  179—306. 


ejO       Der  selbstherrliche  Individualismus  oder  die  Apotheose  des  Egoismus. 

wandte,  teils  weil  es  so  einfach  war.  Die  Auferstehung  Christi 
war  die  Bürgschaft  für  die  der  Seinen  (Col.  2,  12 — 13;  3,  i  und  4). 
Seit  nun  aber  die  überlieferten  Zeugnisse  für  die  leibliche  Auf- 
erstehung Christi  vor  dem  Richterstuhl  der  modernen  historischen 
Kritik  sich  als  unzulänglich  erwiesen  haben,  um  diesen  Glauben 
zu  stützen,  ist  das  Wort  des  Paulus  in  Kraft  getreten:  wenn 
Christus  nicht  auferstanden  ist,  so  ist  unser  Glaube  eitel.  Da 
greift  die  unsterblichkeitsdurstige  Masse  wieder  zurück  nach  den 
Beweismitteln,  die  in  den  antiken  Mysterien  den  Glauben  be- 
kräftigen sollten,  hüllt  sie  in  ein  pseudowissenschaftliches  Män- 
telchen und  holt  den  phantastischen  Aufputz  noch  etwas  weiter 
her  als  die  Alten,  nämlich  aus  Indien.  In  dem  Masse,  als  der 
christliche  Unsterblichkeitsglaube  wankend  wird,  muss  die  indische 
Lehre  der  Metempsychose,  Reinkarnation  oder  Wiederverkör- 
perung an  ihre  Stelle  treten  in  allen  den  Kreisen,  in  welchen 
der  Egoismus  noch  üppig  genug  wuchert,  um  sich  auch  als  trans- 
cendenter  Egoismus  geltend  zu  machen  und  für  seine  Selbst- 
behauptung den  transcendentalen  Individualismus  zu  fordern.  Dass 
er  damit  sich  selbst  täuscht  und  sein  Ziel  verfehlt,  haben  wir  be- 
reits bei  der  Kritik  Hellenbachs  gesehen.  — 

Da  der  Egoismus  die  treibende  Kraft  des  Individualismus  ist. 
sowohl  der  individualistischen  Willensmetaphysik,  als  auch  des 
transcendentalen  Individualismus,  so  muss  er  sich  schliesslich  auch 
als  solche  enthüllen,  damit  das  bisher  bloss  verschleiert  zu  Grunde 
liegende  Princip  in  seiner  ganzen  Nacktheit  und  Blosse  zu  Tage 
tritt.  Denn  jedes  Princip  muss  rücksichtslos  bis  in  seine  letzten 
Konsequenzen  durchgeführt  werden,  damit  man  erkennt,  was  mit 
ihm  zu  erreichen  ist  und  was  nicht,  und  wohin  man  gelangt,  wenn 
man  sich  ihm  anvertraut. 

d.  Der  selbstherrliche  Individualismus  oder  die  Apotheose 

des  Egoismus. 
Diese  Wendung  hatte  sich  bereits  im  Anfang  des  19.  Jadir- 
hunderts  im  Anschluss  an  I.  G.  Fichte  durch  Friedrich  Schlegel 
vollzogen,  der  die  Freiheit  der  dichterischen  Phantasie  aus  dem 
ästhetischen  Schein  in  das  wirkliche  Leben  übertragen  wollte. 
Aber  damals  galt  das  als  eine  vorübergehende  Verirrung  der 
Romantik,  die  von  ihrem  Urheber  selbst  später  verleugnet  wurde. 
Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  tauchte  dann  aus  der  Zersetzung 


Fr,  Schlegel. 


der  Hegeischen  Schule  der  politische  und  soziale  Anarchist  Stirner 
als  einer  der  Vorboten  der  Revolution  auf,  der  es  ernst  meinte, 
der  aber  wie  ein  Meteor  wieder  verschwand,  weil  die  Zeit  für 
seine  Wirksamkeit  noch  nicht  gekommen  war.  Gegen  Ende  des 
Jahrhunderts  endlich  zog  Nietzsche  die  letzten  Konsequenzen  des 
selbstherrlichen  Ich  und  wurde  dadurch  zum  litterarischen  Haupt- 
vertreter der  decadence  fin  de  siecle. 

Fr.  Schlegel  (1772 — 1829)  verwirft  die  Doppelheit  und 
Sonderung  des  absoluten  Ich  vom  empirischen  bei  Fichte  als 
einen  Dualismus,  der  Spekulation  und  Leben  ausein anderreisst. 
Denn  nicht  nur  im  Philosophen  waltet  das  absolute  Ich,  sondern 
auch  in  dem  Dichter,  weil  nach  Fichte  die  Kunst  den  transcenden- 
talen  Gesichtspunkt  zum  gemeinen  macht.  Wer  wahrhafter  Philo- 
soph oder  Dichter  ist,  der  hat  den  Gegensatz  des  absoluten  und 
empirischen  Ich  überwunden;  wer  es  nicht  hat,  der  gehört  zu  den 
Rohen,  Platten,  Gemeinen  Schon  nach  Schilber  macht  die  ästhe- 
tische Auffassung  frei  von  der  Sklaverei  des  Sittengesetzes;  es 
giebt  keine  andere  Tugend  als  Genialität,  die  alles  adelt  Im 
theoretischen  Gebiet  ist  die  Schranke  der  besonderen  Individualität 
absolut  und  darum  das  Ich  bloss  relativ;  das  praktische  Ich  aber 
ist  selbst  das  absolute,  indem  es  das  Empirische  bestimmt.  Es 
giebt  also  keine  Schranken,  als  die  das  Ich  sich  selbst  gesetzt 
hat,  mithin  auch  keine,  die  es  nicht  selbst  wieder  aufheben  könnte. 

Das  Ich  ist  die  absolute  Macht,  die  alles  schaflFt;  es  ist  aber 
auch  ebenso  die  Macht,  das  GeschaflFene  wieder  zu  vernichten. 
Nur  muss  es  irgend  welche  Schranken  doch  wieder  herstellen, 
um  Ich  zu  bleiben.  Deshalb  ist  die  Anstrengung  des  Wirkens, 
Ringens  und  Arbeitens  doch  schliesslich  zwecklos,  und  der  Müssig- 
gang,  die  gottähnliche  Kunst  der  Faulheit  nach  Art  der  griechischen 
Götter,  oder  das  schöne  Vegetieren  der  Pflanze  erscheint  als  das 
Höhere.  Aber  es  ist  etwas  im  Gemüt  unvergänglich:  die  Sehn- 
sucht ujLch  der  ewigen  Jugend  und  das  Suchen  nach  ihn  Im 
Suchen  selber  der  Sehnsucht  findet  der  Mensch  allein  die  Ruhe,  die 
Einheit  von  Schaffen  und  Faulheit.  In  ihr  liegt  das  Göttliche, 
das  nicht  ausser  dem  Ich  gesucht  werden  darf,  sondern  in  seinem 
dgenen  Wesen.  Welcher  Gott  kann  dem  Menschen  ehrwürdig 
»in,  der  nicht  sein  eigener  Gott  ist?  Jeder  Gott,  den  der  Mensch 
sich  nicht  selbst  gemacht  hat,  ist  ein  Abgott.  In  diesem  Sinne 
ist   die  Religion  ein    Produkt  der  Freiheit;    denn  das  Ich   ist   sn 


sich  selbst  zum  Absoluten  geworden,  und  die  Moralisten  haben 
unrecht,  dem  hierher  Gelangten  Vorwürfe  über  Egoismus  tu 
machen. 

Für  den  Genialen  giebt  es  nichts  Heiliges,  weil  es 
keine  Schranke  giebt,  die  er  nicht  gesetzt  hätte»  und  über 
die  er  sich  nicht  hinwegsetzen  könnte;  er  ist  frei  von  jeder  Sitte 
und  Gesetzlichkeit.  Er  verfolgt  niemals  einen  Zweck  mit  Ernst, 
weil  er  weiss,  dass  alle  Zwecke  eitel  sind.  In  der  Erhebung  über 
alle  Schranken  und  Rücksichten  wird  er  sich  seiner  Unendlichkeit 
negativ  bewusst.  positiv,  indem  er  diese  seine  Freiheit  geistig  und 
sinnlich  geniesst.  Aber  er  nimmt  sich  selbst  in  keinem  Augen- 
blicke ernst,  weil  er  keinen  Zweck  ernst  nimmt;  er  spielt  mit 
sich  ebenso  wie  mit  der  Welt,  und  nur  dieses  freie  Spiel  ist  ihm 
ernst.  Die  Genialität  äussert  sich  darum  als  Humor,  d.  h-  als 
ein  Schillern  zwischen  Ernst  und  Scherz,  das  stets  denjenigen 
täuscht,  der  es  für  eines  von  beiden  mit  Ausschluss  des  andern 
hält.  Die  auflösende  und  paradoxe  Seite  dieses  genialen  Humors 
aber,  die  am  meisten  in  die  Augen  fällt,  stellt  sich  als  Ironie  dar. 
und  darum  ist  die  Ironie  zu  dem  Stichwort  geworden,  unter 
welchem  die  Schlegelsche  Lehre  fortgewirkt  hat.  Der  Schellin- 
gianer  Solger  hat  sich  sogar  bemülit.  die  Ironie  für  den 
Umschlag  der  Idee  der  Schönheit  in  die  Idee  Gottes  zu  ver- 
werten, ohne  damit  Anerkennung  zu  finden. 

Diese  Übersteigerung  des  empirischen  Ich  zur  Absolutheit 
war  eine  Widerspiegelung  der  Ausschreitungen  der  französischen 
Revolution  in  der  deutschen  Litteratur,  welche  damals  noch  die 
Neigung  hatte,  ihre  Strömungen  philosophisch  zu  begründen. 
Schlegel  vertrat  diesen  Standpunkt  in  seinen  Schriften  von  1798 
bis  1801,  modifizierte  ihn  aber  schon  in  seinen  von  1803 — 180Ö 
gehaltenen  Vorlesungen,  und  kehrte  ihn  in  den  Vorlesungen 
seiner  letzten  Lebensjahre  in  das  Gegenteil  um.  Mit  der  Rückkehr 
der  Romantik  aus  dem  revolutionären  Sturm  und  Drang  in  die 
Bahnen  der  Restauration  verschwand  auch  Schlegels  Evangelium 
des  selbstherrlichen,  aller  Schranken  spottenden  Ich,  und  ihr 
Urheber  selbst  flüchtete  sich  vor  den  Verirrungen  seiner  Jugend 
in  den  philosophischen  Theismus  und  in  den  Schoss  der  allein 
selig  machenden  Kirche,  ohne  mit  diesem  späteren  Standpunkt 
irgend  welchen  Einfluss  auszuüben.  Von  geschichtlicher  Be* 
deutung  ist  nur  sein  erster  Standpunkt,  der  des  selbstlierrlichen 


Sünici 


573 


Individualismus;    denn    dieser    sollte    noch    zweimal   seine    Auf- 
erstehung feiern.  — 

Als  die  Linke  der  Hegeischen  Schule  zu  revolutionären  Ten- 
denzen hinneigte,  wurde  mit  dem,  was  bei  Schlegel  ästhetische 
Ironie  gewesen  war,  bittrer  Ernst  gemacht.  Rüge  bekämpfte  vou 
1840  an  den  aristokratischen  Geniekultus  von  Strauss  im  demo- 
kratischen Interesse  und  überhaupt  alle  Romantik  als  den  Stand- 
punkt der  fixen,  d.  h.  der  festgewordenen,  obwohl  durch  den  Pro- 
testantismus überwundenen  Idee.  Feuerbach  war  1841  — 1843  be- 
,reits  dazu  gelangt»  nicht  mehr  die  vernünftige  Idee  des  Menschen, 
andern  den  leiblichen,  sinnlich  gegebenen  Menschen  als  den  wahr- 
haft wirklichen,  und  die  Glückseligkeit  als  seine  Bestimmung  an- 
zusehen, hatte  aber  noch  nicht  Zeit  gefunden,  seine  abstrakt 
rationalistische  Humanitätsreligion  und  Humanitätsmoral  auf 
Grund  dieser  sensual istischen  Wirklichkeitsphilosophie  umzu- 
gestalten. Die  französischen  Sozialisten  Louis  Blanc  und  Proud- 
hon  hatten  in  Deutschland  an  Weitling  einen  Nachfolger  gefunden; 
auch  Marx  hatte  seine  schriftstellerische  Thätigkeit  bereits  er- 
öffnet. Edgar  Bauer  verwarf  nicht  nur  jede  Staatsform,  sondern 
auch  Gesellschaft,  Nationalität,  Ehe  und  Privatbesitz,  um  den 
Menschen  von  allen  Fesseln  gelöst,  frei  auf  sich  selbst  zu  stellen» 
In  der  »reinen,  freien  Kritik:  Edgars  und  Bruno  Bauers  hat  die 
negative  Seite  der  Hegeischen  Dialektik  sich  von  ihrer  positiven 
Ergänzung  abgelöst  und  ist  zur  alles  zersetzenden  Sophistik  ge- 
worden, deren  Spiel  das  Subjekt  im  Interesse  der  Wahrheit  ruhig 
und  heiter  zuscliaut.  — 

Stirn  er  (richtig  Schmidt.  1806 — 1856),  der  von  Bauer  per- 
Snlich  stark  beeinflusst  war,  stellte  sich  die  Aufgabe»  das  Hegel- 
le  Ideal  des  Vernunftstaats,  das  sozialistische  Ideal  der  kommu- 
nistischen Arbeitsgesellschaft,  das  Feuerbachsche  Ideal  der  all- 
gemeinen Humanität  und  das  Bauersche  Ideal  der  in  der  >reinen 
Kritik«^  zur  Geltung  kommenden  unpersönlichen  Wahrheit  gleich- 
massig  als  unhaltbar  zu  erweisen  und  auf  den  Trümmern  aller 
zerstörten  Ideale  dem  souveränen  Ich  seinen  Thron  zu  errichten. 
Er  stützt  sich  dabei  ebenso  wie  Schlegel  auf  das  Fichtesche  Ich, 
d.  h.  auf  das  empirische  Selbstbewusstsein ,  dass  er  mit  Schlegel 
und  Feuerbach  zum  Absoluten  erhebt,  so  dass  die  Fichtesche 
Unterscheidung  zwischen  empirischem  und  absolutem  Ich  ver- 
schwindet.    Wohl  aber  hält  er  den  Unterschied  zwischen  schaf- 


fendem  und  geschaffenem  Ich  fest.  Das  letztere  ist  selbsbewusst 
und  durch  das  mitgeschaflFene  Nichtich  begrenzt,  also  nicht  ab- 
solut; das  erstere  ist  alles  in  Allem,  der  Schöpfer  sowohl  des 
selbstbewussten  Ich  als  auch  des  Nichtich,  aber  es  ist  auch  nicht 
selbstbewusst  oder  bewusst,  sondern  gedankenlos  wie  im  tiefsten 
Schlafe  oder  Nachdenken,  unsagbar,  unaussprechlich,  unaufeeig- 
bar.  unerreichbar  liir  das  Wissen.  Das  schöpferische  Ich  gehört 
weder  zu  der  Welt  der  materiellen  Dinge,  noch  zu  der  des  (be- 
wussten)  Geistes,  die  ja  beide  nur  seine  Schöpfung  sind;  es  ist 
aber  auch  nicht  Substanz,  denn  als  solche  wäre  es  unvergänglich 
und  unsterblich,  woran  Stimer  nichts  gelegen  ist.  Es  ist  vielmehr 
der  vergängliche,  sterbliche  Schöpfer  seiner  selbst;  es  ist  Nichts, 
und  in  seiner  Selbst  verzehrung  bis  zum  Tode  erweist  es  sich  auch 
als  das  Nichts,  dass  es  ist.  Anfang  und  Ende  des  Stirnerschen 
Werkes  lautet:      Jch  hab'  mein'  Sach*  auf  Nichts  gestellt!* 

Ich  als  schöpferisches  bin  schon  Eigner  der  Welt  der  Dinge 
und  des  Geistes,  der  Natur  und  der  Weltgeschichte,  denn  alles  ist 
mein  Geschöpf  Ich  als  geschaffenes  selbstbewusstes  Ich  bin 
noch  nicht  Eigner  der  Welt,  da  das  Nichtich  mir  als  Schranke 
gegenübersteht.  Aber  wie  ich  mich  selbst  beständig  verzehre»  so 
auch  die  Welt,  die  ich  als  schöpferisches  Ich  immer  neu  schaffe. 
Mir  als  geschaffenem,  selbstbew^ussten  Ich  gehört  jederzeit  nur 
soviel  von  der  Welt,  als  ich  mir  von  ihr  aneigne,  um  den  Hunger 
meines  Egoismus  damit  geniessend  zu  stillen.  Wie  Ich  Schöpfer 
und  Eigner  von  allem  bin,  so  auch  der  alleinige  Massstab  und 
Wertmesser  von  allem,  und  darum  schlechthin  vollkommen. 
Ich  bin  zwar  als  geschaffenes  Ich  wahrer  und  vollkommener 
Mensch,  als  schöpferisches  Ich  aber  zugleich  mehr  als  Mensch, 
und  am  (Feuerbachschen)  Begriff  des  Menschen  gemessen  das 
Unmenschliche:  denn  ich  bin  das  allein  Wirkliche,  und  alles 
andere  hat  nur  eine  von  mir  abgeleitete  Wirklichkeit  Ich  bin 
nicht  ein  Ich  neben  anderen  Ichs,  sondern  das  alleinige  ich,  und 
so  erst  der  Einzige.  Da  die  ganze  Welt  mein  Geschöpf  und 
mein  Eigentum  ist,  bloss  dazu  bestimmt,  von  mir  verzehrt  zu 
werden,  so  kann  ich  mit  ihr  schalten  wie  ich  will  Recht,  Sittlich- 
keit, Heiligkeit  haben  für  mich  keinen  Sinn,  denn  meinem  Eigen- 
tum bin  ich  nichts  schuldig,  und  wenn  es  mir  beliebt,  es  zu  hüten, 
so  thue  ich  es  meinetwegen   und  aus  keinem  andern  Crrunde.  — 

Es  giebt  keine  andere  Motivation  als  eine  egoistische;  wo  es 


anders  scheint,  findet  ein  Besessensein  von  fixen  Ideen  statt, 
die  meist  in  der  Kindheit  und  Jugend  suggeriert  worden  sind. 
Die  Eigenheit  oder  innere  Freiheit  ist  das  Freisein  von  solchen 
fixen  Ideen,  die  die  egoistische  Motivation  fälschen;  die  äussere 
Freiheit  dagegen  ist  ein  unrealisierbares  spukhaftes  Phantom,  weil 
das  geschaffene  Ich  immer  von  dem  mitgeschaffenen  Nichtich 
begrenzt  sein  muss,  um  als  selbstbewus&tes  existieren  zu  können. 
Staat,  Gesellschaft  und  Humanität  sind  solche  fixe  Ideen,  die 
schlimmste  aber  ist  die  der  unpersönlichen  Vernunft  oder  objek- 
tiven Wahrheit.  Die  Souveränität  des  Staates  hebt  die  meinige 
auf  und  stempelt  ihre  Bethätigung  zum  Verbrechen;  das  Gemein- 
wohl der  Gesellschaft  steht  Meinem  Wohl  im  Wege  und  macht  mich 
zum  eigentumslosen,  mit  allen  anderen  gleich  entlohnten  Lompen. 
Die  Idee  der  Humanität  und  allgemeinen  Menschenliebe  ist  der 
letzte  Überrest  der  Gottesidee,  die  im  Christentum  zum  Gott- 
menschen wurde,  von  dem  dann  Feuerbach  bloss  den  Gott 
abstreifte.  Der  heilige  Geist  ist  zum  unpersönlichen  Menschengeist 
geworden;  aber  ein  solcher  existiert^ nur  als  Erscheinung  in  mir 
und  steht  als  solche  auf  gleicher  Linie  mit  der  Sinnen  weit  Geist 
und  Sinnlichkeit  dürfen  mich  gleich  wenig  in  der  Gewalt  haben; 
sie  sind  erst  mein  eigen,  wenn  ich  sie  nach  Gefallen  befriedige, 
wenn  ich  z»  B.  nur  meinetwegen  liebe,  weil  ich  mich  in  der  Liebe 
geniesse. 

Wer  die  Wahrheit  sucht,  der  sucht  den  Herrn  und  Meister, 
der  ihn  überwältigen  und  besitzen  soll*  Ich  aber  durchdenke  die 
Dinge  nur,  um  sie  mir  anzueignen;  ich  finde  in  ihnen,  was  ich  in 
ihnen  suche,  und  suche  in  ihnen,  was  ich  gerade  suchen  will. 
Mein  Urteil  ist  um  so  unbefangener,  je  weniger  es  sich  von  den 
Dingen  imponieren  lässt  und  je  ungenierter  es  meinem  Belieben 
folgt.  Jede  Zeit  findet  eine  andere  Wahrheit,  weil  sie  eine  andere 
sucht.  Mir  hilft  es  nichts,  wenn  die  Gedanken  frei  sind,  Ich  aber 
von  ihnen  beherrscht  werde.  Das  absolute  Denken  ist  dasjenige, 
welches  vergisst,  dass  es  Mein  Denken  ist;  mein  »eigenes«  Denken 
wird  dagegen  von  mir  nach  meinem  Gefallen  geleitet  und  ist  die 
rastlose  dialektische  Zurücknahme  aller  sich  verfestigenden  Ge- 
danken im  Dienste  meines  Willens.  Der  *  reinen  Kritik«  ist  die 
Wahrheit  das  Kriterion»  der  »eigenenc  bin  Ich  es.  Als  Eigner 
von  Allem  bewähre  ich  mich,  indem  ich  meinen  Humor  auch  mit 
den    erhabensten    Gedanken    und    Gefühlen    spielen     lasse.     Jede 


576 


Stiraer. 


Wahrheit  ist  mein  Geschöpf,  aber  auch  gleich  nach  dem  SchOj>- 
fungsakt  mir  bereits  wieder  entfremdet,  Vernunft  ist  das  Buch 
der  Gesetze,  die  gegen  den  Egoismus  gegeben  sind;  wirklich  ist 
aber  weder  die  göttliche  noch  die  menschliche  Vernunft,  sondern 
nur  die  Meinige.  d.  h,  die  egoistische  Vernunft,  welche  vom  Stand- 
punkt der  allgemeinen  Vernunft  »Unvernunft«  ist. 

So  sind  alle  bisher  als  heilig  geltenden  Güter  >entwertetf 
und  der  nackte  Egoismus  an  ihre  Stelle  gesetzt  Das  Wissen  hat 
sich  zum  Wollen  umzugestalten,  die  Denkfreiheit  der  Willensfreiheit 
im  oben  angegebenen  Sinne  Platz  zu  machen;  in  ihr  werden  die 
»persönlichen  und  freien«  Menschen  der  Zukunft  erstehen.  Das 
einzige  Ziel  ist  Persönlichkeit»  daher  t^ Personalismus«  der  Name 
des  neuen  Princips,  wenn  man  doch  einen  haben  will.  In  der 
Erziehung  muss  nicht  der  Wissenstrieb  sondern  der  Willenstrieb 
gepflegt  werden.  Auch  diese  Wendung  weist  auf  Fichte  zurück. 
Aber  wenn  Fichte  den  Willen  als  sittlichen  und  die  sittliche 
Selbstthätigkeit  als  allgemein  gültige  vernünftige  Selbstbestimmung 
des  Willens  auffasst,  so  verwirft  Stirner  diesen  Begriff  als  einen 
in  sich  widerspruchsvollen  (nach  Art  der  ^beschränkten  Press- 
freiheit«)  und  setzt  die  unvernünftige  Willkür  und  das  launenhafte 
Belieben  des  Augenblicks  an  ihre  Steile. 

Die  Missachtung  des  Eides,  Eidbruch,  Meineid  sied  für  mich 
selbstverständlich,  wenn  sie  mir  frommen,  und  vor  dem  Scheuss- 
lichsten  schrecke  ich  nicht  zurück.  Nichts  respektiere  Ich,  weder 
das  Leben,  noch  die  sinnlichen  oder  geistigen  Güter  eines  anderen, 
nicht  einmal  das  Heiligtum  seines  Innern,  z,  B,  seine  Religion, 
Überzeugung,  Ehre.  Da  es  mir  nur  darauf  ankommt,  meine 
Kraft  auszuleben  und  die  Welt  für  mich  zu  gebrauchen  und  zu 
verbrauchen»  so  sind  mir  alle  Nlittel  der  Macht  und  List  gut 
dazu,  um  meine  Machtsphäre  zu  erweitern.  Kann  ich  anderer 
Kräfte  für  meine  Zwecke  gewinnen,  um  so  besser.  Schliesse 
ich  mich  mit  anderen  vertragsmässig  zu  einem  Verein  zusammen, 
so  breche  ich  den  Vertrag,  sobald  er  mir  nicht  mehr  passt.  Ich 
kämpfe  um  Vormacht  und  Vorrecht;  da  ich  diesen  Kairipi  mit 
besseren  Aussichten  gegen  die  einzelnen  als  gegen  geschlossene 
Organisationen  führen  kann,  so  ist  Verfassungslosigkeit  in 
jeder  Hinsicht  (Anarchie)  mein  nächstes  Ziel.  Alle  Fragen,  auch 
die  Eigentumsfrage,  sind  nur  durch  den  »Krieg  aller  gegen  alle* 
zu    entscheiden;    darum    hat     dieser    an    Stelle    der    gesetzlichen     , 


StimcT, 


577 


Ordnung  zu  treten,  damit  ich  die   bequemste  Geleg^e^dt    finde 
zum  Emporkommen  oder  zur  »Empörungc.  — 

Stlrner  ist  soweit  folgerichtig ;  aber  er  wird  sich  untreu,  wenn 
er  ein  menschliches  Zusammenleben,  Liebe,  Freundschaft,  Ver- 
trauen und  wirtschaftliche  Vereinigungen  auf  solchem  Boden  fiir 
möglich  hält,  während  doch  jeder  von  jedem  den  schlimmsten 
Treubruch  und  Verrat  zu  gewärtigen  hat.  Sein  Standpunkt  zeigt 
sogar  schon  darin  ein  bedenkliches  Zugeständnis  an  den  gemeinen 
Menschenverstand,  dass  er  die  anderen  Ichs  in  demselben  Sinne 
für  wirklich  nimmt  wie  das  eigene.  Wenn  die  ganze  Welt  nur 
eine  von  mir  und  für  mich  gesetzte  Erscheinung  ist,  so  sind  auch 
die  anderen  Menschen  nur  Bestandteile  meines  Nichtichs,  abo 
etwas  spezifisch  anderes  als  mein  Ich  und  können  höchstens  eine 
von  diesem  abgeleitete  Wirklichkeit  aus  zweiter  Hand  haben. 
Mein  selbstbewusstes  Ich  ist  zwar  auch  bloss  Erscheinung  in  mir, 
aber  es  ist  als  die  Eine  Seite  der  gesamten  Erscheinungswelt 
nur  der  Totalität  des  Nichtich  und  nicht  den  einzelnen  Bestand- 
teilen und  Gliedern  desselben  gleichzusetzen  und  gegenüber- 
zustellen. Es  ist  sogar  zu  bestreiten,  dass  meinen  Vorstellungs- 
objekten der  übrigen  Menschen  wirkliche  »Ichs«  entsprechen, 
wenn  es  auch  zum  Schein  meines  Nichtich  gehört,  dass  ich  ihnen 
solche  leihe  und  zuschreibe;  denn  damit  würde  ja  die  Voraus- 
setzung umgestossen  sein,  dass  Ich  der  einzige  bin,  und  dass  die 
Welt  mein  Eigentum  ist  Wenn  dagegen  das  schöpferische, 
gedankenlose  Ich  gleichzeitig  viele  selbstbewusste  Ichs  neben- 
einander geschaflfen  hat  (worunter  auch  das  meinige  sich  befindet)» 
so  steht  jedes  von  den  letzteren  zu  dem  ersteren  in  gleicher  Be- 
ziehung und  kann  keines  von  ihnen  mehr  die  anderen  als  sein 
Eigentum  reklamieren,  Sie  sind  dann  alle  gemeinsames  Eigentum 
jenes  unbewussten  schöpferischen  Ich,  dem  keins  von  ihnen  näher 
steht  als  das  andere,  also  auch  .dasjenige  nicht,  welches  ich  das 
meinige  nenne. 

Stirners  Apotheose  des  Egoismus  scheitert  also  theoretisch  an 
dem  Unterschiede  des  schaffenden  Subjektes  und  des  geschaffenen 
Ich,  den  er  nur  anerkennt,  um  ihn  immer  wieder  zu  missachten. 
Ebenso  scheitert  er  praktisch  an  der  Unmöglichkeit,  mit  solchen 
Grundsätzen  ein  erträgliches  Zusammenleben  herzustellen.  Sein 
Anarchismus  hat  darin  etwas  rührend  Kindliches,  das  er  sich 
dieser  Unmöglichkeit  gar  nicht  bewusst   wird  und   von  sozialen 


B,  V,  H«rtmaiiD«  Aii««ew.  Werke.     Bd.  XII. 


37 


578 


Stimer. 


Vereinen  auf  solcher  Grundlage  träumt.  Die  praktischen  Anar- 
chisten schwächen  die  Stirnerschen  Grundsätze  soweit  ab,  dass  sie 
nur  gegen  die  Verteidiger  der  alten  Organisationen  Geltung  be- 
halten, unter  einander  aber  die  Tiger  zu  sanften,  verträglichen 
Lämmern  werden  sollen.  Aber  Stirner  selbst  hat  es  erkannt  und 
ausgesprochen,  dass  die  »Eigenen c  nicht  eine  Partei  bilden  können, 
weil  sie  damit  aufhören  würden,  »Eigene«  (d.  h.  Eigenbrödler)  zu 
sein.  Jeder  Versuch  einer  Abschwächung  der  Stirnerschen  Ver- 
absolutierung des  Egoismus  zur  gemeinen  Klugheitsmoral  hebt 
das  Eigenartige  seines  Standpunktes  auf  — 

Stirner  weiss  wohl,  dass  der  »Eigne«  im  Krieg  aller  gegen 
alle  unterliegen  kann;  aber  er  tröstet  sich  damit,  dass  ihm  an  der 
UnvergängHchkeit  nichts  liegt  und  dass  er  auch  seinen  eigenen 
Untergang  mit  ebenso  lächelndem  Humor  mit  ansehen  kann,  wie 
sein  Unterliegen  im  Kampf  der  Gedanken,  weil  ja  alles  bloss  ein 
Schein  im  Ich  für  das  Ich  ist.  Er  kann  mit  seinem  Leben  eben- 
sogut spielen  wie  mit  seinen  Gedanken  und  Gefühlen.  Vielleicht 
ist  es  ihm  auch  gar  nicht  um  Emporkommen  durch  Arbeit  und 
mühevolles  Ringen  zu  thun,  sondern  um  genussreiche  Faulheit 
(Annäherung  an  Schlegel).  Was  der  Eigne  aus  sich  macht,  das 
hängt  eben  von  seinem  Belieben  ab.  Ein  Ideal,  das  ausserhalb 
seines  wandelbaren  Wollens  läge,  darf  er  nicht  zugeben.  Aber 
vielleicht  liesse  sich  doch  aus  den  gemachten  Voraussetzungen 
näher  bestimmen,  welches  der  dem  Ich  erreichbare  Gipfel  der 
Bethätigung  seines  Egoismus  ist. 

Bei  Stirner  soll  eigentlich  nur  das  einzige  eigene  Ich  wirklich 
und  alle  anderen  vermeintlichen  Ichs  blosser  Schein  in  Mir  und 
für  Mich  sein;  da  sich  dies  aber  nicht  aufrecht  erhalten  lässt,  so 
sollen  alle  Ichs  »Eigne«  werden.  Das  scheitert  aber  erstens 
daran,  dass  die  meisten  Menschen  gar  nicht  die  Anlage  dazu 
haben,  etwas  Eigenes  hervorzubringen  oder  aus  sich  zu  machen, 
und  gar  nichts  weiter  wollen,  als  sich  in  den  Formen  der  staat- 
lichen, kirchlichen  und  sozialen  Organisation  als  unselbständige 
Glieder  eines  grösseren  Ganzen  ausleben,  von  dem  allein  sie  In- 
halt, Wert  und  Ehre  empfangen.  Es  scheitert  zweitens  daran, 
dass  für  viele  »Eigne«  kein  Platz  auf  der  Welt  ist,  weil  zum 
Hammer  auch  ein  Amboss  und  zum  Wolf  eine  Schafherde  gehört 
Die  grosse  Masse  kann  nicht  mehr  sein  als  eine  Herde,  aus 
welcher  und  über  welcher  jener  »Eigne«  sich  als  Ausnahme  erhebt, 


NlebBttüie. 


579 


der  »mehr  als  Mensch*  ist  und  an  der  Humanitätsidee  bemessen 
uls  »Unmensch«  erscheint  Diese  Einsicht,  die  Stirner  noch  fehlte, 
bringt  Nietzsche  hinzu.  Wenn  Stirners  Denken  auf  einem  demo- 
kratischen Grunde  erwuchs,  so  fühlt  Nietzsche  sich  durchaus  als 
Aristokrat;  wenn  für  Stimer  der  Anarchismus  Mittel  fiir  die 
»Eiß'enheitT  aller  ist,  so  ist  er  für  Nietzsche  nur  das  Mittel,  um  auf 
den  Trümmern  aller  bisherigen  Herrschaftsformen  den  Absolutis- 
mus *des<  Übermenschen  zu  errichten.*)  — 

Nietzsche  (geb.  1844)  knüpft  ebenso  an  Schopenhauer 
an,  wie  Stimer  an  Fichte,  und  verhält  sich  zu  Stirner  wie 
dieser  zu  Schlegel  In  seiner  ersten  Periode  sucht  er  Schopen- 
hauers Willensmetaphysik  mit  Richard  Wagners  Kunsttheorien 
auf  Grund  eines  ästhetischen  Gefühlsenthusiasmus  zu  ver- 
einigen. In  seiner  zweiten  Periode  huldigt  er  dem  Wahrheits- 
Pathos  des  rücksichtslosen  unbestechlichen  Denkens,  nähert  sich 
dem  Agnostizismus  und  verhält  sich  rein  kritisch  und  negativ; 
insbesondere  wendet  er  seine  .Schärfe  gegen  die  heteronome  Moral 
und  Religion  des  Christentums  und  gegen  die  eudämonistische 
Philistermorah  In  seiner  dritten  Periode  erst  sucht  er  die  Lebens- 
aufgabe in  der  Steigerung  des  Wollens  zu  übermenschlicher 
Stärke,  in  der  Verwirklichung  seines  Ideals  des  Übermenschen; 
hier  nimmt  er  einen  Anlauf  zur  Begründung  einer  neuen  positiven 
Moral  und  Religiosität,  bleibt  aber  in  der  blossen  Aufgabesteüung 
stecken,  hauptsächlich,  weil  er  sich  von  den  Nachwirkungen  seiner 
zweiten  Periode  nicht  ganz  frei  machen  kann. 

Von  Schopenhauer  wird  der  Wille  zum  Leben  mit  dem  Willen 
zum  Erkennen  gleichgesetzt,  weil  Schopenhauer  unter  Erkennen 
in  diesem  Wortzusammenhange  nicht  die  abstrakte,  diskursive, 
theoretische  Erkenntnis,  sondern  das  Setzen  einer  anschaulichen 
Welt  versteht.  Bei  Nietzsche  spaltet  sich  der  Wille  zum  Leben 
in  Willen  zur  Macht  und  Willen  zum  Erkennen  als  seine  beiden 
Seiten,  die  verbunden  oder  abwechselnd  hervortreten  können. 
Auch  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  knüpft  Nietzsche  an 
Schopenhauers  subjektiven  Idealismus  an,  bleibt  aber  in  einem 
unklaren  Schwanken  zwischen  indischem  Illusionismus,  positivisti- 
schem Agnostizismus  und  Feuerbachschem  Sensualismus  stecken. 

♦)  Vgl.  meine  «EthiAchen  Srndien«,  No.  IH,  »Stiraers  Verherrlichung  des 
oismus«,  S.  70 — 90;  »PhÜ.  des  UubtTwussteo«;  10.  Aufl.,  Bd«  n,  S.  370 — 572;  »Das 
sittliche  Bewusstsein«,  2.  Aufl.,  S.  528,  610,  636 — 637. 

17* 


cgo  Nietzsche. 

Wie  Schopenhauer  spricht  er  bald  die  Kausalität  den  Dingen  an 
sich  gänzlich  ab,  bald  sucht  er  sie  in  ihren  Willenswirkungen. 
Gleich  jenem  kennt  er  die  Vernünftigkeit  nur  als  abstrakte  dis- 
kursive Reflexion  und  hält  alles  Intuitive  und  Instinktive  für  den 
irrationalen  Gegensatz  der  Vernunft,  weil  es  der  Gegensatz  des 
Abstrakten,  Reflektierten  und  bewusst -Vernünftigen  ist.  Gleich 
Schopenhauer  versteht  er  unter  Religion  nur  asketische  Selbst- 
opferung im  indisch -urchristlichen  Sinne  und  entbehrt  jedes  Ver- 
ständnisses für  das  protestantische  Princip  der  Religiosität 

Im  Gegensatz  zu  Schopenhauer  bekämpft  er  die  Mitleidsmoral, 
weil  er  mit  Hegel  das  Leid  und  den  Schmerz  für  etwas  an  und 
für  sich  Gleichgültiges  hält,  aber  mit  Schopenhauer  im  Leidens- 
weg den  Heilsweg  sieht  und  deshalb  ganz  folgerichtig  Ver- 
schärfung des  Leides  verlangt.  Die  Wahrheit  des  Schopenhauer- 
schen  Pessimismus  erkennt  er  bereitwillig  an;  aber  einerseits  hält 
er  mit  Hegel  die  Entwicklung  für  eine  höhere  Aufgabe,  vor  der 
alle  Rücksichten  auf  Lust  und  Leid  verschwinden  müssen,  und 
andererseits  findet  er  mit  Bahnsen,  dass  in  dem  selbstbereiteten 
Leid  der  Wille  gerade  erst  recht  seinen  Willen  bekommt  Wenn 
Schopenhauer  hofft,  den  Willen  von  der  Selbstbejahung  zur 
Selbstverneinung  überführen .  zu  können,  Bahnsen  aber,  weil  er 
diese  Hoff"nung  für  trügerisch  hält,  den  Pessimismus  zum  Misera- 
bilismus  steigert,  so  ruft  Nietzsche  jubelnd  bravo  und  da  capo  zu 
der  Selbstquälerei  des  Willens.  Schopenhauer  und  Bahnsen  be- 
urteilen die  Willensbejahung  aus  dem  Gesichtspunkt  der  Vernunft 
nach  ihren  vernunftwidrigen  Folgen,  obwohl  sie  bei  ihrer  Auf- 
fassung der  Vernunft  gar  kein  Recht  dazu  haben,  das  Weltprincip 
aus  einem  so  sekundären  und  untergeordneten  Gesichtspunkt 
zurechtzuweisen  und  zu  meistern;  Nietzsche  verwirft  darum  diese 
besserwisserische  Schulmeisterei  des  Willens  durch  die  Vernunft, 
weist  den  Pessimismus  als  eine  oberflächliche  Vordergrunds- 
Ansicht  aus  bloss  rationalistischem  Gesichtspunkt  zurück,  und  be- 
urteilt die  vernunftwidrigen  Folgen  des  Wollens  rein  vom  Stand- 
punkt des  unvernünftigen  Wollens  aus,  als  das  seinem  Weltprincip 
recht  eigentlich  Gemässe  und  Seinsollende. 

Mit  Mainländer  übereinstimmend  verkündet  er,  dass  Gott  ge- 
storben und  tot  sei,  wobei  es  aber  zweifelhaft  bleibt,  ob  ein 
wirklicher  Gott  selbst  gestorben  ist,  der  früher  gelebt  hat,  oder 
nur  der  früher  lebendige  Glaube  an  Gott.     Mit  dem  Realdialek- 


ier  Bahnsen  zei^t  Nietzsche  darin  Verwandtschaft,  dass  er  die 
scheinbar  widerspruchsvollen  Erscheinungen  mit  Vorliebe  und 
Behagen  aufsucht,  ohne  sich  um  die  Synthese  der  Gegensätze 
und  die  Autlösung  der  Schein  Widersprüche  zu  bemühen.  Wenn 
Sdrner  mit  der  Auflösung  aller  Wahrheit  in  persönliche  Urteils- 
MTÜlkür  den  modernen  Agnostizismus  vorwegnimmt,  so  kann 
Nietzsche  sich  bereits  auf  denselben  stützen.  Er  besitzt  weder 
für  sich  ein  objektives  Erkenntnisstreben,  noch  will  er  anderen 
objektive  Erkenntnis  vermitteln;  denn  er  lässt  keine  Wahrheit 
gelten  und  hat  zu  jedem  Ja  ein  Nein,  zu  jedem  Nein  ein  Ja*  Den 
»objektiven  Menschen*,  der  sich  zum  passiven  Spiegel  der  Welt 
macht,  kann  er  nicht  verächtlich  genug  behandeln.  Der  Wille 
zum  Erkennen  bedeutet  bei  Nietzsche  etwas  ganz  anderes  als 
Setzung  der  anschaulichen  Welt  oder  theoretische  Orientierung 
in  ihr.  Wenn  die  Wahrheiten  ebenso  wie  bei  Stirner  doch  nur 
Phrasen,  Redensarten,  Worte  sind,  so  bleibt  dem  Ich  nichts  übrig, 
als  an  diesen  Phrasen  sich  spielend  zu  ergötzen,  d.  h.  mit  Bildern, 
Gedanken,  rhetorischen  und  poetischen  Figuren  und  Worten  geist- 
reich zu  seinem  eigenen  Vergnügen  zu  spielen.  Der  Intellekt  wird 
so  zum  Spielzeug  des  gelangweilten  Willens;  daneben  aber  hat  er» 
wie  bei  Stimer,  die  praktische  Bedeutung,  Werte  zu  schaffen, 
die  alten  Werte  zu  entwerten  und  umzuwerten  und  neue  zu 
prägen, 

Carlyles  Heroenkultus  feierte  die  Heroen  doch  nur  darum, 
weil  sie  innerhalb  des  Rahmens  der  Menschennatur  Grosses  für 
ihre  Völker  und  für  die  Menschheit  geleistet  hatten;  er  forderte» 
dass  an  ihrem  Vorbilde  die  ganze  Menschheit  zu  einem  Geschlecht 
von  Helden  sich  emporläutern  sollte.  Nietzsche  spottet  über 
diesen  Glauben  Carlyles  und  setzt  an  seine  Stelle  die  Oberzeugung. 
dass  die  Geschichte  nicht  um  der  Massen  willen,  sondern  nur  um 
der  w^enigen  Individuen  wdllen  da  sei,  die  aus  ihr  hervorragen. 
Die  Helden  und  Weisen  aller  Zeiten  winken  einander  über  die 
Jahrhunderte  hinweg  zu,  und  das  einzige  Glück,  das  der  Masse 
verbleibt,  ist  die  bewundernde  Anschauung  dieser  Heroen  und 
das  stolzdemütige  Gefühl,  als  Masse  ihren  Fussschemel  auszu- 
machen. Die  Masse  ist  ihm  bloss  das  stinkende  Mistbeet,  in 
dem  die  Heroen  zu  übernatürlicher  Grösse  emporwachsen,  ein 
rechtloses  Material,  mit  dem  die  Übermenschen  zu  ihrer  Förderung 
rücksichtslos  schalten  und  walten  können. 


582  Nietzsche. 

Der  Hegeische  Begriff  der  Entwickelung  wird  von  Nietzsche 
sehr  hoch  gestellt;  aber  während  Hegel  ihn  auf  die  Verwirklichung 
des  Vernünftigen  im  objektiven  und  absoluten  Geiste  (Staat,  Kunst, 
Religion  und  Wissenschaft)  bezieht,  kann  Nietzsche  ihn  nur  auf 
die  Steigerung  des  Menschentypus  zum  Übermenschen  in  wenigen 
Ausnahmeexemplaren  anwenden.  Diese  Steigerung  besteht  aber 
in  einer  Maximation  des  Machtwillens  und  Erkenntniswillens. 
Sie  erfolgt  in  erster  Reihe  durch  die  Herausbildung  und  Ver- 
vollkommnung einer  Aristokratie  aus  der  Plebs,  in  zweiter  Reihe 
durch  die  Herausbildung  von  Völkertyrannen,  europäischen 
Tyrannen  und  Menschheitstyrannen  aus  der  Aristokratie.  Der 
Aristokratie  gegenüber  ist  die  Plebs  rechtlos  und  bloss  zur  Aus- 
beutung da;  dem  Tyrannen  gegenüber  ist  wiederum  auch  die 
Aristokratie  so  rechtlos  wie  die  Plebs  und  nur  Unterbau  seiner 
Grösse.  Die  heteronome  Herdenmoral  der  Masse  wird  durch 
die  aristokratische  Herrenmoral  überwunden,  die  aber  selbst  wie- 
der nur  Vorbereitung  für  die  Moral  des  Einzigen,  des  Über- 
menschen wird,  und  ihr  gegenüber  nur  die  Moral  einer  enger 
begrenzten  Herde  darstellt.  Stufenweise  vollzieht  sich  die  Züch- 
tung des  Übermenschen  durch  Steigerung  der  Stärke,  Härte, 
aller  bösen  Instinkte,  alles  Raubtier-  und  Schlangenartigen  im 
Menschen  mit  gleichzeitiger  Lossagung  von  aller  Moral  im  bis- 
herigen Sinne.  — 

Die  »neue  Moral«  Nietzsches  lässt  sich  dahin  zusammenfassen: 
alles  ist  gut,  was  die  Züchtung  des  Übermenschen  fördert,  schlecht, 
was  sie  hemmt  oder  hindert.  Inbezug  auf  die  alte  Moral  gilt 
der  Satz:  nichts  ist  wahr,  alles  ist  erlaubt.  Die  neue  Religion 
Nietzsches  ist  der  Ichkultus  des  Übermenschen,  seine  Selbst- 
anbetung und  seine  Ehrfurcht  vor  sich  selbst  als  dem  erreichten 
Weltziel.  Aber  beides  hat  er  nur  angedeutet,  nicht  ausgeführt. 
Als  Wertschöpfer  tritt  der  Übermensch  mit  seinem  Intellekt  an 
die  Stelle  der  mangelnden  Vorsehung;  indem  er  der  Masse  seine 
neuen  Werte  und  seine  Leitung  des  Weltprozesses  aufzwingt, 
tritt  er  auch  für  sie  an  die  Stelle  der   fehlenden  Gottheit 

Aber  der  Tyrann  kann  dessen  müde  werden,  über  Sklaven 
zu  herrschen;  dann  steht  es  ihm  frei,  den  Willen  zur  Macht  als 
gesättigt  aufzugeben,  und  sich  bloss  noch  mit  dem  spielenden 
Erkenntniswillen  zu  ergötzen.  Dann  wird  der  tyrannische  Un- 
mensch oder  das  bestialische  Raubtier  zum    unschuldigen  Kinde, 


las  in  sei i gern  Vergessen  lachend  spielt  In  derselben  Lage 
befinden  sich  diejenigen  Übermenschan Wärter»  welche  vorläufig 
nicht  die  Gelegenheit  haben,  sich  zu  Tyrannen  aufzuschwingen. 
Aber  der  Wille  wird  niemals  klüger  oder  vernünftiger;  er  kehrt, 
wenn  der  Mensch  lange  genug  lebt,  immer  wieder  vom  blossen 
Erkenntniswillen  zum  Machtwillen  zurück.  Dieses  Schaukelspiel 
zwischen  Welttyrann  und  Weltpbilosoph,  Lebeosgier  und  Lebens- 
ekel, erschöpft  den  Inhalt  des  Übermenschen,  wenn  man  ihm  die 
letzte  Maske  lüftet  Der  Ichkultus  bleibt  in  beiden  allotropen 
Zuständen  des  Übermenschen  der  nämliche;  denn  der  Philosoph 
weiss  sich  als  potentiellen  Tyrannen»  wie  der  Tyrann  sich  als 
potentiellen  Philosophen  weiss.  Kein  Zustand  ist  dem  anderen 
überlegen;  welcher  von  beiden  jeweilig  besteht,  ist  gleichgültig 
und  hängt  nur  von  Wille  und  Gelegenheit  ab»  sofern  die  Anlage 
zum  Übermenschen  gegeben  ist. 

Stimer  hatte  seine  Sache  auf  Nichts  gestellt,  d.  h.  den  Ich- 
kultus auf  den  vergänglichen  Schöpfer  seiner  selbst  gegründet,  der 
sich  verzehrt,  indem  er  sich  geniesst.  Er  hatte  dem  Ich  die 
Souveränität  bei  Lebzeiten  verliehen,  um  es  schadlos  zu  halten 
für  seine  Vergänglichkeit  Nietzsche  ist  anspruchsvoller;  er  begnügt 
sich  nicht  mit  der  Fastnachtsherrlichkeit  eines  für  einen  Tag  als 
König  aufgeputzten  Bettlers.  Der  Ü  bermensch  als  aktueller  Welt- 
philosoph und  potentieller  Welttyrann  will  es  nicht  bloss  von  heute 
auf  morgen  sein,  sondern  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit.  Das  Ich 
mag  ein  vergängliches  Princip  sein,  der  Individualwille  kann  nur 
ewig  sein,  wenn  er  letztes  Weltprincip  ist  Das  hatte  schon 
Bahnsen  verkündet  und  die  Fortdauer  der  Selbstquälerei  des 
Willens  in  immer  neuen  Lebensläufen  daraus  gefolgert,  und  Hellen- 
bach und  du  Prel  hatten  damit  ernst  gemacht  und  Moral  und 
Religion  auf  das  Verhältnis  des  empirischen  Ich  zu  seinem  trans- 
cendentalen  Subjekt  gebaut  Gleich  ihnen  glaubt  auch  Nietzsche 
an  die  ewige  Wiederkunft  aller  Individuen,  die  sich  ihm  zum 
>Ring  der  Ewigkeit«  zusammenschliesst. 

Aber  er  unterscheidet  sich  in  einem  wesentlichen  Punkte  von 
Hellenbach  und  du  Prel:  er  verwirft  mit  Bahnsen  die  Ent- 
wickelung  des  transcendentalen  Individuums  in  der  Reihe  seiner 
Lebensläufe  und  geht  so  weit,  die  ewige  Wiederkehr  des  Gleichen 
zu,  behaupten.  Der  Schein  der  Entwickelung  kann  sich  demnach 
bei  Nietzsche  wie  bei  Bahnsen  nur  streckenweise  innerhalb  einer 


t^g^  Nietzsche. 

Weltperiode  einstellen  und  sich  nur  auf  die  äusseren  phänomenalen 
Bedingfungen  für  das  zeitweilige  Hervortreten  der  ewig  unwandel- 
baren Anlagen  des  Individuums  beziehen.  Der  Fatalismus  dieses 
ewigen  Einerleis  von  Wiederholungen  erweckt  Nietzsche  weder 
Langeweile  noch  Grauen;  vom  Standpunkt  des  unvernünftigen 
Lebenswillens  ruft  er  immer  von  neuem  lustig  da  capo.  Dem 
geborenen  Übermenschen  ist  ja  die  ewige  Übermenschheit  gewiss; 
was  könnte  er  mehr  wollen,  da  es  doch  nur  auf  dieses  Ziel  an- 
kommt? Die  Menschen  freilich,  die  keine  Anlage  zum  Über- 
menschen in  sich  spüren,  dürften  darüber  anders  denken;  allein 
um  deren  Meinung  hat  sich  ja  der  Übermensch  nicht  zu  kümmern, 
da  sie  nur  gleichgültiges  Material  zur  Befriedigung  seiner  Herrsch- 
sucht sind.  — 

Nietzsche  hat  das  Verdienst,  in  einer  demokratischen  Zeit  ftlr 
die  Aristokratie  und  den  höher  veranlagten  Ausnahmemenschen 
eingetreten  zu  sein,  und  die  heteronome  und  eudämonistiscbe 
Pseudomoral  mit  Nachdruck  bekämpft  zu  haben.  Aber  er  miss- 
achtet die  Rechte  der  Masse,  verkennt  ebenso  wie  Stirner  die 
Gliedlichkeit  des  Einzelmenschen  in  dem  Organismus  der  Mensch- 
heit und  die  notwendige  Leitung  des  Willens  durch  die  Vernunft, 
und  er  weiss  deshalb  nichts  von  einer  sittlichen  Autonomie,  die 
auf  der  essentiellen  Einheit  der  subjektiven  Vernunft  mit  der 
objektiven  beruht.  Die  »neue  Moral«  und  Religion,  die  er  an 
die  Stelle  der  alten  setzt,  ist  nur  die  Systematisierung  des 
Grössenwahns;  dieser  Grössen wahn  aber  entspringet  aus  der 
neurasthenischen  Willensschwäche,  die  sich  über  sich  selbst  mit  dem 
Phantasiebild  einer  übermenschlichen  Willensstärke  tröstet,  welche 
nur  zu  wollen  brauche,  um  sich  die  ganze  Welt  zu  Füssen  zu 
legen.  Nietzsches  Übermensch  gleicht  darin  den  indischen 
Heiligen,  deren  Macht  in  ihrer  Phantasie  über  die  der  Götter  in 
eben  dem  Masse  hinauswächst,  wie  ihr  Wille  thatsächlich  ausser 
Funktion  getreten  und  der  Bethätigung  entwöhnt  ist.  Nietzsche 
hat  uns  nicht,  wie  er  behauptet,  den  Übermenschen  gelehrt, 
sondern  nur  seiner  Sehnsucht  nach  diesem  seinem  Ideal  Ausdruck 
gegeben. 

Dieses  Ideal  selbst  scheint  seinem  positiven  Gehalt  nach 
äusserst  fragwürdig.  Die  blosse  Befriedigung  des  Erkenntnis- 
triebes, der  Intellektualismus,  ist  selbst  dann  einseitig,  eitel  und 
zwecklos,  wenn  diese  Befriedigung  annähernd    erreichbar  ist  (so 


NieL/selic. 


585 


z.  B.  bei  Aristoteles,  Spinoza,  Hegel);  sie  ist  doppelt  eitel  auf 
dem  Boden  des  Ag-nostizismus,  wo  der  Erkenntnistrieb  sich  selbst 
zum  Narren  hat  und  mit  blossen  Gedankenspielen  und  Wortspielen 
über  seine  Nichtigkeit  hinwegtäuscht  Die  Herrschsucht  um  ihrer 
selbst  willen  ist  womöglich  noch  eitler  und  nichtiger.  Zwar 
scheint  es  so,  als  ob  der  Übermensch  bloss  herrschen  wollte,  um 
den  Übrigen  seine  Wertprägung  aufzuzwingen;  allein  auch  das 
ist  ein  falscher  Schein. 

Der  Übermensch  handelt  ja  geradezu  widersinnig  und  gegen 
sein  eigenstes  Interesse,  wenn  er  es  unternimmt»  die  nur  für  ihn 
passende  Übermenschenmoral  der  Masse  aufzuzwingen,  statt  sie 
in  ihrer  Herdenmoral  zu  bestärken,  die  allein  für  die  Herde 
passt,  und  die  allein  ihm  möglich  macht,  sie  weiter  zu  tyrannisieren 
und  zu  verachten.  Alle  Tyrannen  sind  klug  genug  gewesen»  die 
Masse  in  ihrer  heteronomen  Moral  zu  bestärken,  um  ihre  eigene 
Herrschaft  über  sie  zu  sichern.  Aber  selbst  abgesehen  von  der 
Unklugheit,  für  die  neue  Moral  des  einsamen  Übermenschen 
Propaganda  machen  zu  wollen,  würde  sich  doch  solche  nur  im 
Kreise  drehen.  Denn  die  neue  Wertprägung  des  Übermenschen 
bewertet  alles  danach,  ob  es  der  Maximation  des  Macht  willens 
und  spielerischen  Erkenntnistriebes  dienlich  oder  hinderlich  ist. 
Sind  diese  Wertmassstäbe  eitel,  so  sind  es  auch  die  nach  ihnen 
bestimmten  Werte.  Ist  die  Herrschsucht  als  Selbstzweck  nichtig, 
so  sind  es  auch  die  Werte,  die  nur  darin  bestehen,  diesem 
nichtigen  Zweck  als  Mittel  zu  dienen,  so  ist  es  auch  die  Propa- 
ganda für  die  allgemeine  Anerkennung  dieser  Werte  an  Stelle 
aller  nach  anderen  Massstäben  bestimmten. 

Daraus  folgt  nun  freilich  weiter  nichts,  als  dass  Nietzsches 
Ideal  des  Übermenschen  durchaus  irrationelU  widerspruchsvoll 
und  subjektiv-individuell  ist.  Das  muss  es  aber  auch  sein»  wenn 
es  einerseits  blosses  Postulat  des  unvernünftigen  Willens  und 
andrerseits  Konsequenz  des  ganz  persönlich  zugespitzten  Indivi- 
dualismus sein  soll.  Individuen,  in  denen  andere  Triebe  die  Ober- 
hand haben,  werden  dieses  Ideal  ganz  anders  ausgestalten  müssen; 
aber  jeder  hat  für  seine  Person  genau  so  recht  wie  jeder  andre, 
da  alles  an  der  irrationellen  Willkür  hängt.  Allen  solchen  Aus- 
gestaltungen gemein  kann  nicht  das  Positive,  sondern  nur  das 
Negative  an  ihnen  sein,  die  Ablehnung  alles  dessen»  was  die  Will- 
kür  beschränkt,    die   Missachtung    aller   Rücksichten,      In    allen 


^86  Nicteschc. 

Fällen  wird  der  konsequente  Egoist  eine  freche,  tückische,  hinter- 
listige, treulose,  verräterische,  grausame  Bestie  zu  sein  sich  be- 
mühen müssen,  aber  auch  ebenso  sorgsam  darauf  bedacht  sein 
müssen,  diese  Errungenschaften  zu  verhehlen  und,  soweit  nötig, 
ihr  Gegenteil  zu  heucheln,  um  seine  Zwecke  zu  fördern.  Nur 
diese  negative  Seite  des  Nietzscheschen  Ideals  konnte  Allgemein- 
gültigkeit für  alle  Egoisten  oder  Eigenen  beanspruchen,  und  es  ist 
sein  Verdienst,  das  Stirnersche  Ideal  des  »Eigenen«  in  diesem 
Sinne  ausgeführt  und  geklärt  zu  haben,  so  dass  man  deutlich 
sehen  kann,  was  das  Ergebnis  des  Krieges  aller  gegen  alle  für 
den  Menschentypus  sein  muss.*)  — 

Schlegel,  Stirner  und  Nietzsche  stellen  einen  Protest  des  Indi- 
viduums gegen  die  im  modernen  Leben  zunehmende  Reglemen- 
tierung und  Schabionisierung  dar  und  geben  seinem  heissen  Ver- 
langen Ausdruck,  sein  Eigenstes  ungehemmter  ausleben  zu  dürfen, 
als  die  gegenwärtigen  poUtischen,  kirchlichen,  sozialen,  juridischen, 
polizeilichen,  militärischen  und  Schulzustände  es  gestatten  wollen. 
Sie  stellen  damit  dem  zwanzigsten  Jahrhundert  in  veränderter 
Form  eine  Aufgabe,  wie  der  Liberalismus  sie  dem  neunzehnten 
gestellt  hatte,  nämlich  die  Vielregiererei  und  die  Schablone  auf 
das  wirklich  Notwendige  einzuschränken  und  dem  Individuum 
mehr  Spielraum  zu  seiner  Selbstgestaltung  zu  gewähren,  als  es  jetzt 
zu  haben  pflegt.  Wie  alle  Forderungen,  die  als  Gegenschlag  gegen 
empfindlich  gewordene  Übelstände  hervortreten,  schiesst  auch  diese 
in  ihrer  nächsten  Formulierung  weit  über  das  Ziel  hinaus  und  ver- 
liert sich  in  anarchistische  Utopien  und  in  den  Götzendienst 
der  Tyrannen.**) 

Der  Grund  dafür,  dass  diese  Forderung  grösseren  Spielraumes 
gerade  im  neunzehnten  Jahrhundert  hervorgetreten  ist,  hängt 
mit  der  steigenden  Schätzung  der  Persönlichkeit  zusammen. 
Diese  Schätzung  taucht  zuerst  in  den  jüngeren  Psalmen,  dem 
Stoicismus  und  Epikureismus  auf,  verschwindet  dann  im  Mittelalter 
wieder,  erwacht  aufs  Neue  mit  der  Renaissance,  wird  vornehmlich 
durch  Luther  in  die  protestantische  Kultursphäre  eingeführt, 
stagniert  dann  aber  wieder  für  längere  Zeit  und  gewinnt  erst  seit 

*)  Vgl.  meine  »Ethischen  Studien  ^,  No.  II,  »Nietzsches  neue  Moral  c,  S.  34 — 69. 

**)  Vgl.    meine    Aufsätze    »Die    Sozialdemokratie   und    der    Anarchismus«,  in  der 

Gegenwart«   1896  No.  52  und  1897   No.    i.     Ich   habe  dort  gezeigt,  wie   beide  Zeit- 

erscheinungen  principiell  bloss  Spaltungsprodukte  des  sich  auflösenden  Libendismos  sind. 


N  fett  sehe. 


587 


Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  einen  höheren  Aufschwung, 
der  besonders  durch  Goethe  und  Wilhelm  von  Humboldt  beein- 
flusst  ist.  Der  Wert,  den  ein  Teil  der  Theisten,  namentlich 
L  H.  Fichte  auf  die  Persönlichkeit  legt,  ist  so  hoch,  dass  dieser 
Begriff  bereits  zum  Centrum  der  Weltanschauung  gemacht  wird, 
und  sogar  die  Persönlichkeit  Gottes  nur  als  Ausfluss  dieses 
Princips  erscheint.  Im  letzten  Menschenalter  ist  die  Schätzung 
der  Persönlichkeit  ebenso  übertrieben  worden,  wie  sie  in  unkulti- 
vierten Zeiten  unter  dem  rechten  Masse  zurückgeblieben  war 
Zeugnis  dafür  liefert  die  Denkmälerwut,  der  in  gewissen  Kreisen 
mit  Goethe,  Richard  Wagner  und  anderen  getriebene  Personen- 
kiütus,  das  unverhältiiismässige  Interesse  an  Biographien,  das 
Bestreben,  die  Werke  der  Kunst  und  Wissenschaft  aus  den  zu- 
fälligen persönlichen  Erlebnissen  und  Lebensumständen  ihrer  Ur- 
heber erklären  zu  wollen,  das  Versinken  der  Kunst-  und  Litteratur- 
geschichte  in  den  Kleinkram  von  Personal notizen  u.  s.  w.  Das 
Oberwiegen  subjektiver,  persönlicher  Interessen  über  objektive, 
sachliche  hat  von  jeher  für  spezifisch  weiblich  gegolten,  und  so 
wird  man  seine  allgemeine  Verbreitung  in  der  Gegenwart  wohl 
als  ein  Symptom  der  Effemination  deuten  dürfen,  die  aus  zu 
starkem  Verbrauch  von  Nervenkraft  auf  allen  Gebieten  entspringt. 
Für  eine  solche  Zeitstimmung  musste  eine  Philosophie  gelegen 
kommen,  die  das  Princip  des  Individualismus  ins  Extrem  treibt. 
Nun  ist  ja  freilich  die  Persönlichkeit  allein  das  Medium,  durch 
das  alles  Unpersönliche  im  Menschheitsleben  verwirklicht  werden 
kann,  und  die  Persönlichkeit  drückt  dem  Unpersönlichen,  das 
durch  sie  hindurchgeht,  iliren  Stempel  auf,  sei  es,  dass  die  Schlacken 
der  Persönlichkeit  es  verunstalten,  sei  es,  dass  ihr  eigenartiger 
Duft  es  reizvoller  macht.  Aber  der  Glaube,  alles  Unpersönliche, 
Allgemeine,  Objektive  lediglich  aus  Persönlichem  ableiten  zu 
können,  ist  ebenso  einseitig  und  imümlich,  als  der,  es  ganz  aus- 
schalten zu  können.  Dem  ersteren  huldigt  z.  B.  die  allerneueste 
Theorie  der  Kunst,  die  das  Kunstwerk  lediglich  als  Erzeugnis 
der  Subjektivität  und  Individualität  des  Künstlers  auffasst.  Diese 
Überschätzung  der  persönlichen  Subjektivität  durfte  eine  Theore- 
tisierung  in  einer  ebensolchen  Weltanschauung  erwarten;  und  als 
sie  bei  Nietzsche  eine  solche  fand,  konnte  die  Freude  darüber 
gegen    die   Mängel    ihrer  Begründung    und   Durchführung   nach- 


588  Nietzsche. 

sichtig  machen.  Wer  die  Überschätzung  der  Individualitat  nidit 
teilt,  wird  auch  keinen  Grund  haben,  diese  Nachsicht  zu  teilen.  — 

Im  Theismus  hatte  die  menschliche  Persönlichkeit  sich  dodi 
noch  in  ein  festes  System  von  Persönlichkeiten  eingegliedert,  das 
an  der  absoluten  Persönlichkeit  Gottes  sein  Haupt  hatte,  von 
ihr  seinen  Zusammenhang  erhielt  und  durch  diese  Eingliederung 
an  bestimmter  Stelle  die  menschliche  Persönlichkeit  in  ihre  un- 
überschreitbaren  Schranken  wies.  Indem  der  Atheismus  mit  der 
Persönlichkeit  Gottes  zugleich  das  Absolute  selber  totschlug,  ent- 
fesselte er  die  nun  allein  übrig  bleibende  Persönlichkeit  des 
Menschen  und  machte  ihr  die  Bahn  frei,  um  sich  selbst  wenig- 
stens in  der  Phantasie  an  die  Stelle  des  Absoluten  zu  setzen. 
Auch  dieser  Versuch  musste  gemacht  werden,  um  sich  zu  über- 
zeugen, was  dabei  herauskomme.  Dass  dieses  Ergebnis  absurd 
ist,  kann  niemanden  abschrecken,  der  sich  auf  den  Stand- 
punkt des  unvernünftigen  Willens  stellt.  Man  kann  nichts  thun, 
als  darauf  aufmerksam  machen,  dass  man  zwischen  zwei  Be- 
urteilungsstandpunkten wählen  müsse:  dem  des  unvernünftigen 
Willens,  der  im  Menschen  immer  eine  individuelle  Zuspitzung  an- 
nehmen muss,  und  dem  der  Vernunft,  der  stets  über  die  Indi- 
vidualität übergreift  in  die  objektive  Sphäre  von  allgemeiner 
Gültigkeit.  Stellt  sich  das  Individuum  auf  den  letzteren  Stand- 
punkt, dann  ist  es  mit  seiner  Selbstherrlichkeit  und  Selbstver- 
götterung aus;  es  sinkt  zum  beschränkten  Werkzeug  allgemeiner 
Mächte  herab,  als  die  es  dann  nicht  bloss  die  Vernunft,  sondern 
auch  den  Willen  erkennt. 

Bei  Stirner  hatte  das  Ich  sich  beschieden  in  Bezug  auf  die 
Absolutheit  seines  Bestandes  und  sich  in  trotzigem  Galgenhumor 
mit  der  Vergänglichkeit  seiner  zeitweiligen  Absolutheit  abge- 
funden. Darin  liegt  aber  eine  Inkonsequenz.  Wenn  es  sich  in 
Bezug  auf  das  vor  ihm  und  nach  ihm  bescheidet  und  als  zeitlich 
begrenzt  anerkennt,  so  kann  es  sich  auch  in  Bezug  auf  das  mit 
ihm  Gleichzeitige  bescheiden  und  seine  Beschränktheit  und  Nicht- 
absolutheit  anerkennen.  Wenn  es  aber  für  seine  Lebensdauer 
Absolutheit  beansprucht,  so  muss  es  sich  auch  gegen  die  zeitliche 
Beschränktheit  dieses  absoluten  Lebens  empören,  zumal  wenn  die 
Zeit  für  einen  blossen  Schein  im  Bewusstsein  ausgegeben  wird. 
Will  das  Ich  sich  selbst  verabsolutieren,  so  muss  es  das  auch  in 
jeder  Hinsicht,  also  auch  auf  seine  Ewigkeit  pochen,  oder  es  muss 


Ergplinfs  dp-s  Indiviflti^iliBmtt'i 


5H9 


überhaupt  anerkennen,  dass  es  nur  Glied  an  einem  grösseren 
Ganzen,  d.  h.  nicht  absolut  ist.  Somit  geht  Nietzsche  folgerichtig 
weiter,  wenn  er  die  Ewigkeit  für  den  Übermenschen  fordert;  aber 
er  hat  darüber  nur  in  Andeutungen  und  in  sibyllinischem  Orakel- 
ton geredet  und  es  unterlassen,  die  Konsequenzen  dieser  Forderung 
and  die  für  ihre  Verwirklichung  unerlässlichen  Bedingungen  zu 
durchdenken. 

Dies  nachzuholen,  wäre  die  nächste  Aufgabe  seiner  Anhänger, 
welche  an  dem  ewigen  Einerlei  der  Wiederkehr  des  Gleichen  bis 
jetzt  wenig  Geschmack  gefunden  zu  haben  scheinen.  Es  müsstc 
vor  allen  Dingen  der  EntwickelungsbegrifF  auf  die  Reihe  der 
Lebensläufe  angewendet  werden.  Soll  dann  nicht  die  materialis- 
tische Errungenschaft  missachtet  werden,  dass  das  bewusste 
Geistesleben  von  materiellen  Vorgängen  bedingt  ist,  dann  muss 
für  diese  Entwickeln ng  ein  übersinnlicher  Materialismus,  sei  es  im 
rein  dynamischen,  sei  es  im  dynamischstofFlichen  Sinne  des  Wortes 
herangezogen  werden.  Mit  anderen  Worten:  eine  metaphysische 
Durchbildung  und  Fortbildung  des  selbstherrlichen  Individualismus 
Nietzsches  ist  nur  möglich  durch  Verschmelzung  mit  dem  trans- 
cendentalen  Individualismus,  sei  es  im  Sinne  Hellenbachs,  sei  es 
in  demjenigen  du  Preis.  Dieselben  berechtigten  Erwägungen,  die 
von  Bahnsen  zu  Hellenbach  und  du  Prel  hinführten,  müssen  auch 
von  Nietzsche  zu  diesen  zurückführen.  Wem  jeder  dieser  Stand- 
punkte kritisch  unhaltbar  erscheint,  der  wird  in  ihrer  Verknüpfung 
nur  eine  Addition  der  Widersprüche  sehen,  an  denen  die  Bestand- 
teile leiden,*)  — 


Blicken  wir  auf  den  Individualismus  im  Ganzen  zurück,  so 
ist  es  nötig,  von  der  Anerkennung  auszugehen»  dass  der  Pantheis- 
mus den  billigen  Ansprüchen  des  Individuums  nicht  gerecht  ge- 
worden war.  Abgesehen  von  dem  Naturalismus  der  naturphilo- 
sophischen Schule  Schellin  gs  huldigten  die  Pantheisten  am  Anfang 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  einem  abstrakten  Monismus,  der 
zwar  mehr  oder  weniger  das  Bestreben  hatte,  sich  zum  konkreten 
Monismus  emporzuarbeiten,  aber  in  den  Anläufen  dazu  stecken 
blieb.  Die  vielen  Individuen  blieben  ein  blosser  Schein,  der  sich 
auf  unerklärliche  Weise  im  abstrakt  Einen  entwickelt    Schleier- 


*)  Vgl  meinen  Aufsatz: 
Jalirbücbem«,  BcL  96,  Heft  i 


>Der  IncUvlduati^mus  der  Gegenwart«    in  den   rPreus». 

s.  30—56. 


ego  Ergebnis  des  Individualismus. 

machers  transcendentaler  Realismus,  der  allein  die  Möglichkeit 
geboten  hätte,  sich  dieser  Konsequenz  des  transcendentalen  Idealis- 
mus zu  entziehen,  blieb  unausgeführt  und  unbeachtet.  Schopen- 
hauer begnügte  sich  damit,  die  Frage  aufzuwerfen,  wie  sich  das 
Individuum  zum  AU-Einen  verhalte,  wagte  aber  nicht,  ihrer  Lösung 
näher  zu  treten.  Der  Theismus  nahm  dieses  Problem  auf  und 
suchte  die  Substantialität  des  persönlichen  Individuums  mit  der 
Substantialität  des  persönlichen  Absoluten,  die  des  Geschöpfes  mit 
der  des  Schöpfers  zu  vereinigen.  Er  scheiterte  aber  damit  nach 
beiden  Seiten,  indem  ihm  an  der  absoluten  Substanz  die  Persön- 
lichkeit, an  der  individuellen  Persönlichkeit  die  Substantialität 
zerrann  und  in  die  stetige  schöpferische  Produktion  oder  Erhaltung 
umschlug. 

Der  materialistische  und  agnostische  Atheismus  schüttete  das 
Kind  mit  dem  Bade  aus,  indem  er  wegen,  der  Unhaltbarkeit  der 
absoluten  Persönlichkeit  gleich  die  absolute  Substanz  oder  das 
Subjekt  der  absoluten  Thätigkeit  mit  verwarf  Das  Individuum 
wurde  nun  vom  Standpunkt  des  Materialismus  und  Naturalismus  zu 
einem  blind-notwendigen,  mechanisch  entstandenen  Produkt  elemen- 
tarer Stoffe  oder  unorganischer  Kräfte,  zu  einem  blossen  Summations- 
phänomen  niederer  Bestandteile  ohne  innere,  thelische,  teleologische, 
metaphysische  Einheit,  ohne  ideale  Bedeutung  und  Würde  herab- 
gesetzt. Diese  naturalistische  Auffassung  des  Individuums  klingt 
sogar  noch  in  der  pluralistischen  Willensmetaphysik  bei  Mainländer, 
Hamerling  und  Wundt  nach,  obwohl  sich  hier  schon  der  Über- 
gang zu  einer  höheren,  teleologischen  Auffassung  anbahnt;  aber 
es  fehlt  doch  bei  ihnen  allen  der  auf  den  einheitlichen  Individual- 
zweck  gerichtete  einheitliche  Individualwille,  welcher  der  Vielheit 
der  den  Organismus  konstituierenden  Elementarkräfte  ideell  voran- 
ginge  und  sie  überragte  und  beherrschte.  Die  Substantialität  des 
Individuums  ist  gerettet,  sofern  seine  Bestandteile  substantiell 
(und  nicht  wie  bei  Wundt  blosse  Thätigkeiten)  sind,  aber  um 
teuren  Preis,  nämlich  um  das  Opfer  der  idealen  und  realen  Ein- 
heit des  Individuums. 

Das  Gefühl  für  die  Würde  der  eigenen  Individualität  lehnt 
sich  nun  mit  Recht  ebenso  sehr  dagegen  auf,  dass  das  Individuum 
ein  bloss  mechanisches  Associationsprodukt  von  niederen  Sub- 
stanzen ohne  innere  vorhergehende  Einheit,  als  dass  es  ein  blosser 
Schein  am  AU-Einen    ohne  Wirklichkeit   und   eigene   Wirkungs- 


fähigkeit  sein  sol].  Gegen  den  Naturalismus  und  abstrakten 
Monismus  reagiert  gleichmässig  das  persönliche  Selbstgefühl  und 
fordert  die  ihm  von  beiden  vorenthaltene  »Eigenheit«  zurück. 
Das  Individuum  soll  vor  allen  Dingen  Substanz  sein,  gleichviel 
wie  es  um  die  absolute  Substanz  daneben  bestellt  ist.  Die  letztere 
wird  entweder  in  den  nebligen  Hintergnmd  des  Agnostizismus 
entrückt  oder  geradezu  geleugnet.  Im  ersteren  Falle  bleibt  das 
Verhältnis  der  Individualsubstanz  zur  absoluten  Substanz  ebenso 
unklar  und  mit  Widersprüchen  behaftet  wie  im  Theismus.  Im 
letzteren  Falle  tritt  das  Individuum  an  die  Stelle  des  Absoluten, 
sieht  aber  seine  phantastisch  übertriebenen  Ansprüche  an  der  un- 
erbittlichen Nüchternheit  des  Wirklichen  scheitern. 

Damit  dürften  denn  alle  Möglichkeiten  erschöpft  sein,  ver- 
mittelst deren  dem  Individuum  zu  seinem  Rechte  verholfen  wer- 
den kann,  so  lange  es  dasselbe  sein  soU^  was  das  Absolute  auch 
ist,  d.  h.  entweder  gleich  ihm  Substanz,  oder  gleich  ihm  blosse 
Thätigkeit.  oder  endlich  absolut  an  seiner  Statt.  Da  sie  alle  nicht 
zum  Ziele  fuJiren,  so  dürfte  die  Voraussetzung  falsch  sein,  die 
diesen  Möglichkeiten  gemein  ist,  nämlich  die  Annahme,  dass  das 
Individuum  das  nämliche  sein  müsse»  was  das  Absolute  auch  ist. 
Wenn  das  Absolute  unpersönliche  Substanz  ist,  das  persönliche 
Individuum  aber  nur  eine  Funktion  des  Absoluten,  die  das  ideelle 
Prius  der  von  ihr  herangezogenen  und  beherrschten  niederen 
Funktionen  bildet,  dann  fallen  alle  Schwierigkeiten  fort,  während 
alle  berechtigten  und  wohlbegründeten  Ansprüche  des  Individuums 
erfüllt  sind.  Diese  Lösung  wird  erreicht,  wenn  der  abstrakt 
monistische  Pantheismus  sich  zum  konkreten  Manismus  erhebt, 
der  Theismus  sowohl  die  Persönlichkeit  des  Absoluten  als  auch 
die  eigene  Substantialität  des  Individuums  als  unhaltbar  fallen 
lässt,  der  Individualismus  die  beständige  Gegenwart  des  Einen 
substantiellen  Weltgrundes  beim  Weltprozess  (Hamerling)  mit  der 
Funktionalität  der  Individuen  ohne  eigene  Substantialität  (Wundt) 
verbindet,  und  anerkennt,  dass  die  Persönlichkeit  dieser  Individual- 
funktion  von  der  Dauer  des  Zellenleibes  abhängt  (Hellenbach, 
du  Prel). 

So  erweist  sich  von  allen  Seiten  her  der  konkrete  Monismus 
als  das  Eine  Ziel,  auf  das  der  Pantheismus,  Theismus  und  Indivi» 
dualismus  gleichmässig  hindrängen,  und  in  dem  sie  alle  zusammen- 
treffen.    Der  konkrete  Monismus  ist  der  Standpunkt,  in  welchem 


QC2  Rückblick  auf  die  Entwickelung  seit  Kant. 

alle  Wahrheitselemente  jener  anderen  Standpunkte  zu  aufge- 
hobenen Momenten  werden,  alles  Unwahre  von  ihnen  abgestreift 
wird,  und  damit  zugleich  alle  Widersprüche  entschwinden,  die 
nur  an  den  unwahren  Bestandteilen  jener  anderen  Standpunkte 
haften.  Der  konkrete  Monismus  giebt  Gott  was  Gottes  ist:  die 
Absolutheit,  Substantialität,  Geistigkeit  u.  s.  w.,  und  dem  Indivi- 
duum was  ihm  gebührt:  die  Wirklichkeit  und  Wirkungsfähigkeit, 
teleologische  und  thelische  Einheit  der  Funktion,  relative  Kon- 
stanz der  Persönlichkeit  ohne  absolute  Konstanz  derselben,  An- 
lehnung an  die  absolute  Einheit  des  substantiellen  absoluten  Sub- 
jekts und  relative  Selbständigkeit  allen  anderen  Individuen  gegen- 
über ohne  Selbständigkeit  dem  Absoluten  gegenüber. 


Rückblick  auf  die  Entwickelung  seit  Kant 

Überschauen  wir  die  Entwickelung  der  Metaphysik  seit  Kant, 
so  zeigt  sich,  dass  dieses  letzte  Jahrhundert  die  alten  Probleme 
gründUcher,  vollständiger,  umfassender  und  auf  höherer  Bewusst- 
seinsstufe  durchgearbeitet  hat  als  irgend  eine  frühere  Epoche,  d.  h. 
dass  sie  der  grossen  Entwicklungsspirale  einen  neuen  höheren 
und  weiteren  Umlauf  hinzugefügt  hat.  Darüber  hinaus  aber  hat 
diese  letzte  Epoche  einen  völligen  Umschwung  eingeleitet,  der 
mit  einer  Umkehrung  der  Bewegungsrichtung  der  Spirale  zu  ver- 
gleichen ist.  Alle  frühere  Metaphysik  wollte  apodiktisch  gewisse 
Erkenntnis  a  priori  sein  oder  gar  nicht  sein;  um  dies  sein  zu 
können,  glaubte  sie  deduktiv  oder  konstruktiv  verfahren  zu  müssen. 
Erst  in  dieser  Epoche  von  Kant  bis  zum  Agnostizismus  ist  es 
evident  geworden,  dass  die  Metaphysik  durch  diese  Alternative 
zum  Nichtsein  verurteilt  ist,  weil  eine  apodiktisch  gewisse  Meta- 
physik a  priori  schlechterdings  unmöglich  und  ein  blosses 
Phantom  der  Einbildung  ist,  von  dem  sich  die  früheren  Jahr- 
hunderte haben  äffen  lassen. 

Kant  glaubte  an  diese  Alternative  und  zerstörte  die  apriorische 
Metaphysik,  die  sich  auf  etwas  jenseits  des  Bewusstseins  Liegendes 
bezog.  Aber  er  hielt  an  der  Möglichkeit  einer  apodiktisch  ge- 
wissen Metaphysik  a  priori  fest  und  beschränkte  sie  nur  auf  die 
Gesetze   der  subjektiven  Erzeugung  der  bewusstseinsimmanenten 


Röckbück  auf  die  Eot wickelang  «dt  Kant. 


593 


Erscheinungswelt,  d.  h.  er  ging  zum  Phänomenalistnus  über,  um 
auf  phänomenalem  Gebiete  den  metaphysischen  Urteilsapriorismus 
zu  retten.  Fichte,  Schelling  und  Hegel  zogen  die  systematischen 
Konsequenzen  dieser  Stellungnahme  nach  Seiten  des  Vorstellens 
und  Denkens,  Schopenhauer  nach  Seiten  des  Wollens.  Indem  sie 
sämtlich  das  menschliche  bewusste  Denken  und  Wollen  mit  dem 
absoluten  unbewussten  Denken  und  Wollen  vermengten  und  ver- 
wechselten, erweckten  sie  damit  von  neuem  den  Schein  einer 
konstruktiven  Metaphysik  a  priori,  die  hinter  das  Bewusstsein  bis 
zur  absoluten  Thätigkeit  zurückgriff.  Die  Theisten  hielten  eben- 
falls principiell  an  einer  apodiktisch  gewissen  Metaphysik  fest, 
suchten  aber  der  Erfahrung  und  Induktion  schon  nebenbei  eine 
gewisse  Rechnung  zu  tragen.  Die  Doppelheit  des  auf-  und  ab- 
steigenden Lehrganges  bei  Krause,  der  negativen  und  positiven 
Philosophie  bei  dem  späteren  Schelling  brachten  in  die  ältere 
Auffassung  der  Metaphysik  bereits  einen  Bruch  und  endeten  mit 
einer  zwiespältigen  Halbheit.  Die  Sonderung  des  exakten 
Wissensgebietes  von  dem  bloss  wahrscheinlichen  Glaubensgebiet 
bei  Herbart  und  Beneke  bereitete  das  weitere  stückweise  Ab- 
bröckeln der  apodiktisch  gewissen  Metaphysik  vor. 

Der  atheistische  Materialismus  ist  der  letzte  Standpunkt  der 
sich  mit  der  ganzen  Beschränktheit  seines  naiven  Realismus  ap 
den  Glauben  klammert,  dass  eine  apodiktisch  gewisse  Metaphysik 
möglich  sei;  aber  er  beschränkt  ihren  Inhalt  darauf,  dass  Kraft 
und  Stoff  ewig  seien  und  aus  ihnen  alles  andere  hervorgehe, 
während  für  alles  konkrete  Wissen  die  induktiven  Naturwissen- 
schaften als  einzige  Quelle  einer  immerhin  nur  wahrscheinlichen 
Erkenntnis  eintreten.  Der  Agnostizismus  endlich  schränkt  das 
Gebiet  apodiktisch-gewisser  Erkenntnis  auf  Null  ein  und  erklärt 
damit  die  Metaphysik  für  unmöglich,  weil  er  noch  immer  in  dem 
falschen  Glauben  an  die  Richtigkeit  der  obigen  Alternative  be- 
fangen ist.  Die  öffentliche  Meinung  spricht  ihm  dieses  Urteil 
nach,  schon  weü  es  so  wenig  Kopfzerbrechen  macht,  und  weil 
das  Klügersein  als  die  Weisesten  der  Vergangenheit  fiir  die  Un- 
weisen so  angenehm  ist. 

Das  Gericht  an  den  letzten  Systemen  mit  Gewissheitsanspruch 
iftt  ebenso  vollzogen  wie  an  den  früheren.  Die  philosophie- 
geschichtliche Kritik  hat  unwiderleglich  bewiesen,  dass  die 
apodiktisch  gewisse  Metaphysik  a  priori   ein   für   allemal   tot  ist 


E.  V.  H^Lrlmano,  Au»iccw.  Werke.    £kL  XU. 


38 


594 


Rückblick  stuf  Mt  Ennrickcluug  seit  Rast 


und  nie  wieder  erwachen  kann,  sowenig  wie  die  Alchemie  oder 
Astrologie,  Sie  hat  ferner  gezeigt,  dass  alles,  was  frühere  Meta- 
physiker  deduktiv  oder  konstruktiv  abgeleitet  zu  haben  glaubten« 
sich  doch  nur  auf  sehr  unvollständige  Erfahrungen,  unvermerkte 
Induktionen,  unbestimmte  Analogien  oder  gar  auf  unbegründete 
Vorurteile  und  Überlieferungen  stützte,  und  dass  alles  Haltbare 
und  Wertvolle  an  der  bisherigen  Metaphysik  induktive  Erkennt- 
nis von  blosser  Wahrscheinlichkeit  war.  Aber  das  letztere 
giebt  der  Agnostizismus  auch  noch  nicht  einmal  zu,  weil  er  aus 
seiner  falschen  Erkenntnistheorie  folgert,  dass  gar  kein  Hinaus- 
schreiten über  die  Erfahrung  möglich  sei,  dass  alles  Erkennen 
auf  deskriptive  Empirie  eingeschränkt  und  schon  der  induktive 
Empirismus  ein  Phantom  sei.  Der  Agnostizismus  musste  mit 
dieser  Übertreibung  auftreten,  um  das  eingewurzelte  Vorurteil 
von  der  Möglichkeit  apodiktisch  gewisser  Erkenntnis  mit  Stumpf 
und  Stiel  auszurotten.  Seine  Übertreibung  auf  das  rechte 
Mass  zurückzuführen,  daran  arbeiten  di«  letzten  Theisten  eben  so 
wie  die  Individualisten,  welche  sämtlich  nur  noch  wahrscheinliche 
Ergebnisse  ohne  Gewissheit  zu  liefern  beanspruchen. 

Warum  sollte  nicht  aus  der  abgethanen  deduktiven  Meta- 
physik a  priori  eine  induktive  Metaphysik  a  posteriori  sich  ent- 
puppen können,  da  doch  aus  der  Alchemie  eine  Chemie,  aus  der 
Astrologie  eine  Astronomie  hervorgegangen  ist?  Die  Umkehr 
der  Richtung  hat  sich  im  letzten  Menschenalter  ganz  unmerklich, 
aber  mit  fortschreitender  Bestimmtheit  und  Klarheit  vollzogen, 
nachdem  sie  von  mir  bereits  bei  meinem  ersten  Auftreten  1868 
in  der  Schrift  Ȇber  die  dialektische  Methode <  und  in  der  ersten 
Auflage  der  »Philosophie  des  Unbewusstenc  als  leitender  metho- 
dologischer Grundsatz  aller  künftigen  Philosophie  überhaupt  und  derJ 
meinigen  insbesondere  proklamiert  worden  war.  Man  hat  dieses- 
Grundsatz  aufs  eifrigste  bekämpft  und  ist  noch  heute  fern  davon, 
ihn  offen  anzuerkennen:  aber  man  hat  thatsächlich  in  wach- 
sendem Masse  nach  ihm  gehandelt,  und  das  genügt  vorläufig. 
Die  nächsten  Jahrhunderte  werden  sich  seiner  als  des  wichtigsten 
Fortschritts  in  der  Metaphysik  des  neunzehnten  Jahrhunderts  auch 
bewusst  werden. 

Hand  in  Hand  mit  dem  Umschwung  der  Methode  ging  auch 
ein  solcher  der  Schreibweise.  Um  sich  dessen  bewusst  zu  werden. 
braucht   man    nur    eine    beliebig    herausgegriffene   metaphysische 


Rückblick  aaf  die  Eotwickelung  eeit^antT 


595 


Erörterung  von  Kant.  Fichte,  Schelling.  Schleiermacher,  Hegel. 
Baader»  Krause  oder  Herbart  mit  einer  ebensolchen  von  Schrift- 
stellern des  letzten  Menschenalters  zu  vergleichen,  die  nicht  gerade 
in  akademischer  Korrektheit,  Vornehmheit,  Weitschweifigkeit  und 
I^ngweiligkeit  stecken  geblieben  sind. 

Leider  ist  das  Mass  des  Talents,  das  den  Metaphysikern  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  von  der  Natur  zuerteilt  ist,  nicht  mit 
der  Klärung  der  metaphysischen  Aufgabe  in  gleichem  Verhältnis 
gewachsen.  Am  Anfang  des  Jahrhunderts  stehen  die  spekulativen 
Denker  ersten  Ranges,  die  Pantheisten.  In  den  Theisten  sinkt 
es  stufenweise  bis  zur  Schwächlichkeit  herab.  Bei  den  Materialisten 
und  Agnostikern  wundert  man  sich  über  die  künstliche  Verengung 
des  Gesichtskreises,  und  je  weiter  diese  Verengung  fortschreitet, 
desto  mehr  verhärtet  sich  der  Eigensinn  im  Festhalten  dieser  Enge, 
wie  er  stets  mit  Beschränktheit  des  Verstandes  verbunden  ist 
Dies  gilt  für  die  Individualisten  und  pluralistischen  Willensmeta- 
physiker mit,  soweit  sie  vom  Agnostizismus  durchseucht  sind;  aber 
auch  die  nicht  mit  ihm  behafteten  erscheinen  ihrem  Meister 
Schopenhauer  gegenüber  doch  nur  als  schwächere  Epigonen.  — 

Es  wird  dies  begreiflich»  wenn  man  bedenkt,  dass  der  ganze 
Theismus  und  Atheismus,  der  auf  die  pantheistische  Epoche  der 
Metaphysik  folgte,  doch  am  Ende  nur  die  Aufgabe  hatte,  zwei 
Irrwege  nebst  allen  ihren  Abzweigungen  möglichst  gründlich 
durchzuarbeiten,  um  sie  für  die  Geschichte  als  Irrwege  zu  erweisen, 
und  daneben  diejenigen  Ergänzungen  herauszuarbeiten,  durch 
deren  Hinzufiigung  der  Pantheismus  gegen  die  Kritik  gesichert 
und  allen  Anforderungen  entsprechend  würde.  Das  erstere  ist 
nur  ein  negatives  Verdienst»  das  letztere  allein  eine  positive 
Leistung,  aber  doch  immerhin  nur  eine  von  subsidiärer  Bedeutung. 
Diesen  Aufgaben  waren  anch  geringere  Talente  gewachsen;  ja 
sogar  für  ihren  negativen  Teil  war  eine  gewisse  Einseitigkeit  und 
Beschränktheit  des  Gesichtskreises  geradezu  unerlässlich. 

Die  naiven  Pantheisten  arbeiteten  mit  verkehrten  Methoden 
(Deduktion,  Konstruktion  und  Dialektik)  auf  ein  unerreichbares 
Ziel  (eine  apodiktisch  gewisse  Metaphysik)  hin.  Sie  stützten  sich 
auf  eine  völlig  unhaltbare  Erkenntnistheorie  (den  transcendentalen 
Idealismus),  welche  konsequent  durchgeführt  zum  absbluten 
Illusionismus  und  Agnostizismus  führen  musste,  Sie  bauten  ihre 
Systeme   auf  eine   in   der  Luft   schwebende   absolute  Thätigkeit, 

38* 


596 


Rückblick  auf  djc  EntwickiJmig  seit  Kant 


ohne  Substanz  und  Subjekt,  und  fassten  diese  Thätigkeit  entweder 
einseitigr  als  Denken  oder  einseitig  als  Wollen  auf,  ohne  von  einer 
dieser  Seiten  her  die  andere  wirklich  ableiten  zu  können.  Infolge 
ilires  transcendentalen  Idealismus  blieben  sie  im  abstrakten  Monis- 
mus stecken»  trotzdem  sie  in  ihren  Spitzen  (Hegel  und  Schopen- 
hauer) zum  konkreten  Monismus  hinstrebten ;  d.  h.  sie  vermochten 
dem  Individuum  in  seinem  Verhältnis  zur  Welt  und  zum  Abso- 
luten nicht  gerecht  zxi  werden.  Das  Verhältnis  zwischen  absolutem 
Vermögen  und  Möglichkeit  einerseits  und  absoluter  Thätigkeit 
andererseits  blieb  bei  ihnen»  so  weit  es  überhaupt  schon  Berück- 
sichtigung fand»  im  Unklaren,  Ihren  Pantheismus  hielten  sie  för 
die  Erfüllung  und  gereinigte  Wahrheit  des  christlichen  Theismus» 
ohne  den  principiellen  Unterschied  zwischen  Pantheismus  und 
Theismus  zu  bemerken.  Der  Einfluss  der  materiellen  Bedingrungen 
im  Organismus  auf  das  bewusste  Geistesleben  findet  noch  keines- 
wegs die  genügende  Beachtung  und  Würdigung  (ausser  bei 
Schopenhauer). 

Die  Theisten  legten  an  die  Erkenntnistheorie  nur  vorsichtig 
zögernd  ihre  Kritik  an,  machten  aber  doch  stückweise  schon  dem 
transcendentalen  Realismus  Zugeständnisse,  die  den  späteren 
Umschwung  wenigstens  vorbereiten  halfen,  wenn  sie  ihn  auch 
nicht  herbeiführten.  Sie  fügten  zur  absoluten  Thätigkeit  das  sub- 
stantielle absolute  Subjekt  hinzu  und  begingen  dabei  nur  den 
Fehler,  dieses  Subjekt  als  selbst bcwusstes  und  persönliches  Ich  zu 
denken,  um  die  abgebrochene  Kontinuität  mit  der  christlichen 
Überlieferung  wieder  herzustellen.  Sie  fügten  die  beiden  Thätig- 
keiten  des  Denkens  und  Wollens  als  gleich  unentbehrliche  und 
koordinierte  Attribute  zusammen  und  legten  beide  der  absoluten 
Substanz  als  Attribute  bei.  Damit  machten  sie  es  möghch.  die 
Einfachheit  der  absoluten  Substanz  (unter  Abstraktion  von  den 
Attributen)  mit  der  Vieleinigkeit  des  absoluten  Wesens  (Sub- 
stanz samt  essentiellen  Attributen)  ohne  Widerspruch  zu  verbinden, 
und  aus  dem  vieleinigen  Wesen  einen  Prozess  zu  erklären,  der 
aus  einem  einfachen  Wesen  für  immer  unerklärlich  bleibt.  Sie 
machten  weiterhin  den  Unterschied  zwischen  Potenz  und  Aktus, 
Wille  und  Wollen»  InbegrifiF  der  logischen  Möglichkeiten  (Formen 
und  Gesetze)  und  aktueller  absoluter  Intuition»  d.  h.  zwischen 
logischem  Formalprincip  und  Idee  soweit  deutlich»  dass  er  künftig 
nicht  mehr  übersehen   werden   kann.     Dadurch   ermöglichten   sie 


Rückblick  ftuf  diV  Eatwickeltmj^  seit  Kant. 


597 


es  wiederum,  die  Unwandelbarkeit  des  Wesens  mit  der  Wandel- 
barkeit seiner  Thätigkeit  und  die  potentielle  Unendlichkeit 
der  essentiellen  Attribute  in  Bezug  auf  etwaige  Thätigkeit  mit 
der  Endlichkeit  ihres  Aktus  selbst  ohne  Widerspruch  zu  ver- 
einigen. So  erst  wurde  es  möglich,  die  Widersprüche  zu  über- 
winden, die  sich  in  der  früheren  Metaphysik  an  die  Einfachheit, 
Unwandelbarkeit  und  Unendlichkeit  des  Absoluten  geknüpft  und 
die  Lehre  vom  Absoluten  immer  wieder  zum  abstrakten  Monis- 
mus zurückgedrängt  hatten,  wie  gross  auch  die  Anstrengungen 
gewesen  sein  mochten,  ihm  zu  entfliehen.  Die  Theisten  förderten 
femer  das  Problem»  wie  sich  das  Individuum  zum  Absoluten  ver- 
halte, indem  sie  den  BegriflF  der  geschaffenen,  sekundären  oder 
abgeleiteten  Substanz  soweit  bearbeiteten»  dass  er  bis  dicht  an 
den  Punkt  gefilhrt  wurde,  wo  er  in  den  Begriff  des  Modus  oder 
der  blossen  Thätigkeitsgruppe  umschlägt.  Bei  den  spätesten 
Theisten,  welche  die  materialistische  Epoche  des  Zeitgeistes  bereits 
hinter  sich  haben  {z.  B.  Lotze)  findet  endlich  die  Abhängigkeit 
des  bewussten  Geisteslebens  (Gedächtnisses»  Charakters  u.  s.  w.)  von 
leiblichen  Funktionen  bereits  grundsätzliche  und  vollständige 
Anerkennung.  — 

Der  sinnliche  Materialismus  hat  seine  Mission  damit  erfüllt, 
dass  er  an  den  Gedanken  dieser  Abhängigkeit  so  gewöhnt  hat, 
dass  keine  spätere  Metaphysik  mehr  sich  über  ihn  hinwegzusetzen 
wagen  darf  Daneben  hat  er  auch  das  Gebiet  der  induktiven 
Methode  erweitert  und  die  Unentbehrlichkeit  eines  erkenntnis- 
theoretischen Realismus  für  den  gesunden  Menschenverstand 
wieder  hervorgehoben,  wenn  er  auch,  statt  zum  transcendentalen 
Realismus  überzugehen,  den  Fehler  beging,  in  den  naiven  zurück- 
zufallen. 

Der  Agnostizismus  machte  nicht  nur  Kehraus  mit  allen 
Träumen  von  einer  apodiktisch  gewissen  Metaphysik,  sondern 
führte  auch  wider  Willen  den  transcendentalen  Idealismus  ad  ab- 
surdum, indem  er  den  absoluten  Illusionismus  und  die  Unmöglich- 
keit irgend  welcher  Erkenntnis  als   seine    Konsequenz   aufzeigte. 

Die   individualistische    und    pluralistische   Willensmetaphysik. 

und  der  transcendentale  Individualismus  des  übersinnlichen  Materia- 

Hsmus  vollzogen,  wenn  auch  zum  Teil  noch  ohne  rechte  Klarheit 

►  über   ihr  eigenes   Thun,    den    Übergang    vom    transcendentalen 

Idealismus  Schopenhauers  und  der  übrigen  Pantheisten  zum  trans- 


cqg  Rückblick  auf  die  Entwickelang  seit  Kant. 

cendentalen  Realismus,  wie  ich  ihn  bereits  1868  in  der  Philosophie 
des  Unbewussten  proklamiert,  187 1  in  der  Schrift  über  »das  Ding 
an  sich  und  seine  Beschaffenheit«*)  näher  begründet  und  seitdem 
in  zahlreichen  Schriften  verteidigt  und  genauer  durchgeführt 
habe.  Der  selbstherrliche  Individualismus  Stimers  und  Nietzsches, 
der  an  dem  transcendentalen  Idealismus  Fichtes  und  Schopen- 
hauers und  an  dessen  ag^ostischen  Konsequenzen  festhielt,  beraubte 
sich  damit  zugleich  der  Möglichkeit,  für  den  Fortschritt  der  Meta- 
physik irgend  etwas  Positives  zu  leisten. 

Der  übersinnliche  Materialismus  Hellenbachs  und  du  Preis 
hat  das  Verdienst,  den  unsterblichen  Metaorganismys  als  die  Be-  • 
dingung  aufgezeigt  zu  haben,  unter  welcher  allein  an  eine  Un- 
sterblichkeit der  bewussten  Individualseele  gedacht  werden  kann. 
Da  weder  die  Hypothese  eines  solchen  Metaorganismus  irgend 
welche  wissenschaftliche  Haltbarkeit  hat,  noch  auch  das  Individual- 
bewusstsein,  dem  sie  die  Fortdauer  vermitteln  soll,  sich  mit  dem 
persönlichen  Bewusstsein  des  Menschen  oder  seinem  Ich  deckt,  so 
ist  die  Unsterblichkeitsidee,  welche  gestützt  werden  sollte,  damit 
gründlicher  als  je  zuvor  ausgeschaltet;  dadurch  ist  aber  wieder 
der  Nerv  des  metaphysischen  Individualismus  überhaupt  gelähmt, 
der  gerade  in  dem  Unsterblichkeitswunsche  wurzelt  und  aus  ihm 
seine  Kraft  empfängt. 

Fasst  man  den  Standpunkt  Hamerlings,  nach  welchem  der 
all-eine  substantielle  Weltgrimd  in  den  Individuen,  in  denen  er 
sich  setzt,  fortbesteht,  und  denjenigen  Wundts,  nach  welchem  das 
Individuum  eine  blosse  Gruppe  von  Thätigkeiten  ist,  synthetisch 
zusammen,  so  hat  man  die  Grundlage  eines  konkreten  Monismus, 
nämlich  eine  allgegenwärtige  absolute  Substanz,  deren  atomistisch 
gegliederte  absolute  Thätigkeit  relativ  konstante  Gruppen  von 
Teilthätigkeiten  bildet,  die  wir  Individuen  nennen.  Aber  der  so 
erhaltene  konkrete  Monismus  ist  noch  ebenso  naturalistisch  wie 
der  Hylozoismus  Haeckels,  Spencers  und  Mainländers,  weil  die 
Individuen  äusserlich  wie  innerlich  blosse  Summationsphänomene 
aus  Atomkräften  und  Atombewusstseinen  sind.  Der  Individua- 
lismus hat  diesem  Naturalismus  gegenüber  so  weit  Recht,  dass  zu 
der   Summe   der   Atomkräfte   und   Atombewusstseine   noch  eine 

*)  Die  zweite  und  dritte  Auflage  dieser  Sclirift  führt  den  Titel  »Kritische  Grrand- 
legung  des  transcendentalen  Realismus«. 


Rückblick  auf  die  Entwick etatig  seit  Kant, 


599 


leitende  und  sie  in  sich  zusammenfassende  Centralmonade  hinzu- 
konimen  muss;  Unrecht  hat  er  nur,  dass  er  in  dieser  Central- 
monade eine  Individuais ubs tanz  sucht,  statt  eine  Gruppe  von 
Thätigkeiten  des  absoluten  Subjekts,  die  sich  auf  diese  Gruppe 
von  Atomkräften  leitend  und  verknüpfend  beziehen. 

Alle  Richtungen  des  Atheismus  haben  gemeinsam  dahin  ge- 
wirkt, mit  dem  Gedanken  an  die  Möglichkeit  eines  Lebens  ohne  per- 
sönlichen Gott  vertraut  zu  machen,  ohne  darum  doch  die  Sehnsucht 
nach  Gott  aus  dem  menschlichen  Herzen  austilgen  zu  können,  Sie 
haben  dadurch  darauf  vorbereitet,  die  bisher  allein  gültige,  d,  h.  die 
theistische  Auffassung  Gottes  zu  entbehren,  ohne  darum  Gott  als 
Objekt  eines  religiösen  Verhältnisses  entbehren  zu  können.  Un- 
willkürh'ch  haben  sie  damit  einer  weiteren  Läuterung  und  Ver- 
geistigung des  Gottesbegriffs  vorgearbeitet,  die  in  der  Abstreifung 
er  anthropopathischen  Bestimmungen  des  Bewusstseins,  des  Selbst- 
bewusstseins  und  der  Persönlichkeit  vom  Absoluten  bestehen  muss, — 

Nachdem  nun  die  theistischen  und  atheistischen  Richtungen 
der  Metaphysik  des  neunzehnten  Jahrhunderts  sowohl  den  nega- 
tiven als  auch  den  positiven  Teil  ihrer  Aufgabe  erfilllt  haben,  ist 
die  Zeit  dafür  reif  geworden .  um  den  Faden  der  pantheistischen 
Entwickelung  da  wieder  aufzunehmen,  wo  Hegel  und 
Schopenhauer  ihn  haben  liegen  lassen.  Aber  diese  Anknüpfung 
muss  allen  Berichtigungen,  Ergänzungen  und  Fortfüh- 
rungen Rechnung  tragen,  welche  seitdem  im  Theismus 
und  Atheismus  zu  Tage  getreten  sind.  In  allen  Punkten: 
in  der  Methodologie,  Erkenntnistheorie,  Kategorienlehre,  Prin- 
cipienlehre.  in  den  Anlehnungen  der  Metaphysik  an  die  Natur- 
philosophie, Psychologie  und  Religionsphilosophie  und  im  Ver- 
hältnis des  Absoluten  zum  Individuum,  sind  wir  viel  weiter  ge- 
kommen, als  die  grossen  Denker  im  ersten  Drittel  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  es  waren  und  sein  konnten.  Aber  alle 
diese  Fortschritte  hegen  zerstreut  herum  und  machen  kein  syste- 
matisches Ganze  aus,  weil  die  Gegenwart  entweder  überhaupt 
nichts  mehr  und  noch  nichts  wieder  von  Metaphysik  wissen  will, 
oder  aber  die  heutigen  Metaphysiker  nicht  auf  dem  Boden  des 
konkret -monistischen  Pantheismus  stehen. 

Die  Geschichte  der  Metaphysik  lässt  es  als  die  nächste  Auf- 
gabe erkennen,  den  konkretmonistischen  Pantheismus  auf 
Grund   der  induktiven   Methode   und   der  transcendental- 


5oO  Rückblick  auf  die  Entwickeluag  seit  Kant. 

realistischen  Erkenntnistheorie  durchzubilden,  das  absolute 
substantielle  Subjekt  des  Theismus  ohne  dessen  Bewusst- 
sein,  Selbstbewusstsein  und  Persönlichkeit  in  den  Pantheismus 
hereinzunehmen,  den  einseitigen  Panthelismus  und  Panlogismus 
vermittelst  zweier  koordinierter  Attribute  der  Substanz  zu 
überwinden,  der  materialistischen  Abhängigkeit  des  bewussten 
Geisteslebens  von  organischen  Funktionen  uneingeschränkt  Rech- 
nung zu  tragen  und  dem  Individuum  eine  würdigere  und 
relativ  selbständigere  Stellung  als  im  abstrakt  monistischen 
und  naturalistischen  Pantheismus  anzuweisen,  ohne  es  darum 
zu  hypostasieren.  In  diesem  Sinne  habe  ich  die  Aufgabe  der 
Metaphysik  seit  der  Mitte  der  sechsiger  Jahre  aufgefasst  und 
mich  bemüht,  zu  ihrer  Lösung  beizutragen.  Ob  ich  die  Aufgabe 
damit  richtig  erfasst  habe,  und  inwieweit  es  mir  gelungen  sei, 
ihrer  Lösung  näher  zu  kommen,  das  zu  erörtern,  muss  künftigen 
Geschichtschreibem  vorbehalten  bleiben. 


ANHANG 


Sachlich  geordnete  Übersicht  meiner  Schriften. 

(Februar   1900.) 
I.  Erkenntniitbeorie. 

a,  Systeinatischei. 

Das  Erkennen.  Eine  Einleilung  io  die  Philosophie  4  in  der  Wiener  WodienscbnK 
»Die  Zeit«,   1897,  No,   146—149,   150 — 154), 

Das  Griindproblem  der  Erkenntnistheorie. 

Kategorienlehre  (insbesondere  in  jedem  Kapitel  der  erste  Abschnitt,  der  über  die  be- 
treffende Kategorie  in  der  subjektiv  idealen  Sphäre  handelt). 

Das  Unbevusste  im  Denken  und  in  der  Entstehung  der  sinnlichen  Wahniehmung 
(»Phil  d.  Uobewussten»,  10.  Aufl.,  Bd.  I,  A,  Kap.  VD— Vin.  S.  261-^305, 
468-473). 

Transcendentaler  Ideülismus  und  Realismus  (in  der  »Zeitschrift  IBr  Philosophie  und 
phdosophische  Kritik«,  Bd.  99»  S.   183 — 209). 

Die  letzten  Fragen  der  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik,  i.  Erkenntnistheorie  (in 
der  »Zeitschrift  fftr  Philosophie  und  philosophische  Kritik«,   Bd.   108,  S.  55— 73K 

b.  Historisch-Kritisches. 

Geschichte  der  Metaphysik,  Bd.  I.  u.  U  fzablreiche  AbBchniite,  siehe  Inbattsverteichnis). 
Kants  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik  in  den  vier  Feiioden  ihrer  Entwickelting. 
Kiitlsche  Grundlegung  des  transcendentalen  Realismus. 
Kant  und  die  heutige  Erkenntnistheorie  (»Phil.  Fragen  der  Gegenwart««  No.  XI«  S*  244 

bis  260). 
Schellings  philosophisches  System,  Kap.  II :  die  intellektaelle  Anschauung»  und  Kap.  III : 

die  Erkenntnistheorie.     S.  28 — 96« 
J.  H.  V.  Kirchroanns  erkeuntnisthcorciischer  ReJiUsmus. 
Lotzes    Erkenntnistheorie    und     Metaphysik    (»Lotzes    Philosophie«,    No,    II ,     1—7 

S,  47— «54)- 
Lange -Vathingers  lubjektivistiBcher  Skeptidsmus  (»Neukantianismus,  Schopenhaucrianis- 

raus  und  Hegelianismus«,  2,  Aufl.,  11^   1  —  16  u.  19»    IO,   1—3,  S.   i^ — 7,   17 — 29, 

45—104,    116— IJ2). 
Wtmdts  Erkeuntnistheoiie  (in  den  »PreiisiticheD  Jahrbflcbeni«,  Bd«  66»  S.  6 — t8K 


6o2  Anhang. 

Zum  gegenwärtigen  Stande  der  Erkenntnistheorie  (»Kritische  Wanderungen  durch 
die  Phil,  der  Gegenwart«,  No.  VII.  i.  Volkelts  EAenntnistheorie,  2.  Bieder- 
maons  »reiner  Realismus«,  3.  Domen  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik, 
S.  182—235). 

Der  theologische  Neukantianismus  (»Die  Krisis  des  Christentums  in  der  modernen 
Theologie«,  No.  in). 

n.  Methodologie. 
Die  logische  Determination    in  der  subjektiv  idealen  Sphäre  (»Kategorienlehre«,  S.  281 

bis  318). 
Methode   der  Untersuchung  und   Art   der   Darstellung    (»Phil.   d.  Unb.«,    10.  Aufl. 

Einleitendes,  Ib,  S.  5—13). 
Über  die  dialektische  Methode. 

Die  Realdialektik  (»Phil.  Fragen  der  Gegenwart«,  No.  Xll,  S.  261—298). 
Hallers  Dialektik  (»Krit.  Wanderungen«,  No.  VI  2,  S.  154—173). 
Über  wissenschaftliche  Polemik  (»Ges.  Studien  und  Aufsätze,  A  II,  S.  42 — 67). 
Das  Erkennen.    III.  Die  Methoden  des  Erkennens  (in  »Die  Zeit«,  No.  152 — 153). 
Schellings  philosophisches  System,  S.  26 — 39. 

in.  Psychologie, 
a.  Systematisches. 

Der  Instinkt  im  menschlichen  Greiste.  Das  Unbewusste  in  der  geschlechtlichen  Liebe, 
im  Gefühl,  in  Charakter  und  Sittlichkeit  und  in  der  Mystik.  Das  Unbewusste 
und  das  Bewusstsein  in  ihrem  Werte  fUr  das  menschliche  Leben  (»Phil,  des 
Unb.«,  IG.  Aufl.,  Bd.  I,  B.  I— IV,  IX  u.  XI,  S.  177—233.  306—321,  346—360, 
430—433»  463—466,  473—474)- 

Die  Unterschiede  von  bewusster  und  unbewusster  Geistesthätigkeit.  Die  Entstehung 
des  Bewusstseins.  Das  Bewusstsein  in  der  Pflanze.  Der  Begriff  der  Individuali- 
tät (»PhU.  d.  Unb.«,  Bd.  H,  C  I,  UI,  IV  2,  VI,  S.  3—15,  29—64,  82—95. 
124—155,  467—473»  478-481). 

Gehirn  und  Intellekt.  Charakter  und  Wille.  Die  Vererbung  insbesondere  des  Cha- 
rakters. Die  Vererbung  von  Anlagen  und  Fertigkeiten.  Die  Abkürzung  der 
Ideenassodation  und  die  Vererbung  der  Denkformen.  Die  Entstehung  der  An- 
schauiwgsform  der  Räumlichkeit.  Das  relativ  Unbewusste  (»Phil,  des  Unb.«, 
Bd.  m.    Erstes  Buch  No.  IV— IX,  XH  2,  S.  98—242). 

Die  Grefiihlsmoral.  Die  Vemunftmoral  (»Das  sittliche  Bewusstsein«.  2.  Aufl.  2.  Abth. 
A  n,  S.  143-281). 

Die  religiöse  Funktion  als  Grefühl  (»Die  Religion  des  Geistes.«     A  I  2,  S.  27 — 55). 

Die  Entstehung   des  Kunstschönen    (»Phil.  d.  Schönen.«     Kap.  Vm,   S.  522 — 586). 

Der  Wertbegriff  und  der  Lustwert    (»Ethische  Studien,  S.  126 — 159). 

Das  Wesen  des  Gesamtgeistes  (»Ges.  Studien  und  Aufsätze.«     C.  V,   S.  504 — 519). 

b.  Historisch-Kritisches. 
Frauenstädts  Umbildung  der  Schopenhauerschen  Philosophie.     Bahnsens  Charakterologie 

(»Neukantianismus  etc.«     III  4—5,  IV  1—4,  S.  132—137,  175 — 21 1). 
Hallers  Mystik  (»Krit.  Wanderungen«.  VI  3.  S.  173— 181). 
Die  Motivation  des  sittlichen  Willens  (»Krit  Wanderungen«,  V,  S.  105^141). 


Anhang. 


603 


^(mdu  Psychologie  (in  den  'Preussischen  Jabrbücbem«,  Bd.  66,  S,   132  —  141). 
Der  Somnambuiisnm»  (.Moderne  Probleme-,  2*    Aufl.,  No.  XV,  S.  207 — 277). 
Der  Spiritismus  (iiisbesondere  S.  23^34,  57 — 84). 

Die  Geisterhypoihese  des  Spiiitismiis  ood  seine  Pbaatome  (insbesoadere  S.  <}— §i, 
69—70). 

IV.  Naturphilosophie. 
3k.  System»  tisch  es. 

Philosophie  des  Uobewusstec,  10.  AuB.«  fid.  L  EioleiteDdes.  A.  Die  BlrscheiDung 
des  Unbewasstei)  in  der  Leiblichkeit.    Aabaag:  Zur  Physiologie  der   Nerveacentra 

(s.  I— 173. 363-463*  475-478^ 

GehirD  und  GangUen  als  HedingimgeD  des  tierischcD  Bewusstseina.  Die  unbewusste 
Seelenthäügkeit  der  Pflanic,  Die  Materie  als  Wille  und  VorsteUang  (atomiatischcr 
Dynamismus).  Der  Bcgrifl"  der  Indiridualität.  Das  We^en  der  Zeugung  vom 
StaDdpuiikt  der  Ail-Eiubeit  de»  Uobewussten.  Die  aulsteigende  Entwickelung  dea 
organischeo  Leben»  auf  der  Erde  (.Phü,  d.  üob.<.  Bd*  n  C.  n.  IV  t.  V,  VI. 
IX,  X,  S.  16—28»  65—82,  96—154»  202—251»  468»  473—481,  510—514). 

Das  üubewusste  vom  Standpunkt  der  Physiologie  und  Desceadcnjctheorie :  Allgemeine 
Vorbemerkungen.  Desceadeaztheorie  und  natürliche  Zuchtwahl.  Die  Teleologie 
vom  Stimclpuakt  der  ÜcaccDdenztheorie.  Die  Entwickdung  vom  Standpunkt  der 
Desceadeaztheorie.  Der  Instinkt  als  ererbte  Hirn-  und  Gunglienprüdispoiiition. 
Die  Instinkte  der  untergeordneten  Ceutralorgime  deb  Ncr^cusyslemit  ( •  Pbü.  d. 
ünb,«  10.  Aufl.  Bd,  m.  Entes  Buch,  Kap.  I— Dl  und  X^XJU  S.  3—97. 
243—2^). 

Die  Räumlichkeit  in  der  objektiv  realen  und  metaphysischen  Sphäre  («Kategorienlehre«» 
S.  j  42— 172). 

b.  Historisch-Kritisches. 

Kants  Erkenntnistheorie  and  Metaphysik,  S.  197 — 215,  228 — 256. 

ScbeUings  Naturphilosophie  (^Schellings  philosophisches  System«»  Kap.  V.  S.  137 — 190), 

Wahrheit  und  Irrtum  im  Darwinismus.  Die  nai urwissenschaftlichen  Grundlagen  der 
PMl.  d.  Unb.  und  die  darwinistische  Kritik  (Phil.  d.  Unb..,  10.  Aufl.,  Bd.  III. 
Zweites  und  drittes  Bach,  8.  333—510)» 

Naturlorschung  und  Philosophie.  Anfänge  naturwissenschaftlicher  Selbsterkenntnis.   Ernst 
H^kel.    Über  die  Lebenskraft.    Schopenhauer  und  die  Farbenlehre.    Dynaiuismus 
und  Atomismus   (»Ges.  Studien  und  Aufsätze*»    C.  I™ IV»  VI — VII»  S.  421 — 503, 
520—545). 
iTnndts  Teleologie  (in  den  »Preussiscben  Jahrbüchern«»    Bd.  66»  S.   123 — 132). 

Die  Versöhnung  zwischen  Philosophie  und  Naturwisseaschatt»  Die  Teleologie.  Physik 
tmd  Metaphysik    (»Neukantianismus  etc.*,  II  6»  111  (>  uud  9»  S.  t>2 — 65»  137 — 145» 

155- «57)* 
Das  Ende  des  naturwissenschaftlichen  Zeitalters  (»Tages fragen«»  No.  XIH»  S.  1 86— 197). 

V.  Metaphysik. 
a.  Systematisches. 
Kategorienlehre  (insbesondere  in  jedem  Kapitel  der  dritte  Abschnitt»   der  die  be- 
treffende Kategorie  in  der  metaphysischen  Sphäre  behandelt). 
Die  Verbindung  von  Wille  and  Vorstellung.     Die  All-Einheit  des  Unbewussten.    Das 


604  Anhang. 

Unbewnsste  and  der  Gott  des  Theismus.  Die  Individuation.  Das  Ziel  des  Welt- 
prozesses and  die  Bedeutung  des  Bewusstseins.  Die  letzten  Principien.  Das  Un- 
bcwusste  (»Phü.  d.  Unb.c.  lo.  Aufl.,  Bd.  I,  A  IV,  S.  100—108,  Bd.  H,  C  VII.  Vm. 

XI,  xrv,  XV.  s.  155—201.  252—272.  391—466,  480—510,  523—539,  Bd.  m. 

Erstes  Buch,  Kap.  XII,  S.  295—330). 
Zum  Begriff  der   unbewussten    Vorstellung    (in    den  »Philosophischen   Monatsheften c, 

Bd.  28,  S.  1—25). 
Die  letzten  Fragen    der   Erkenntnistheorie    und    Metaphysik.     2.    Metaphysik    (in    der 

»Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik«,    Bd.    108,    S.  211 — 237). 
Zur  Auseinandersetzung    mit    Hm.   Prof.   Domer   (in   der   »Zeitschr.   f.   Phil.   u.   phiL 

Kritik«,  Bd.  113,  S.   i-    12). 
Religionsmetaphysik  (»Die  Religion  des  Geistes«,  B.,  S.    113 — 268). 
Der    Pessimismus    und    der    Gottesbegriff   (»Zur    Gesch.    u.    Begr.    des   Pessimismus«. 

No.  XIV,  S.  310-326). 
Übersicht  der  wichtigsten  philosophischen  Standpunkte  (»Phil.  Fragen  der  Gegenwart«, 

No.  IV,  S.  58-  78). 
Die  allotrope  Kausalität  (im  »Archiv  für  systemat.  Phil.«,  1898,  Bd.  V,  Heft  i,  S.  i — 24. 
Zum    Begriff   der   Kategorialfunktiou    (in   der   »Zeitschrift    für   Phil.    u.    phil.    Krit.%, 

Bd.  115.  S.  9— »9)- 

b.  Historisch-Kritisches. 

Geschichte  der  Metaphysik. 

Kants  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik,  S.  46 — 61,  183 — 197,  215 — 228). 

Schellings  Philosophie  im  Verhältnis  zu  Vorgängem  und  Zeitgenossen.  Die  intellek- 
tuelle Anschauung  im  engeren  Sinne.  Das  unbewusste  absolute  Wissen  and  das 
absolute  Bewusstsein.  Die  Principienlehre.  Die  Individuation  (»Schellings  phiL 
System«,   Kap.  I,  U  3—4,  IV  und  VI   i,  S.   1—27.39—51,97—136,  191—204). 

Das  phil.  Dreigestira  des  19.  Jahrhunderts  (»Ges.  Studien  und  Aufsätze«,  D.,  S.  549 — 729). 

Mein  Verhältnis  zu  Schopenhauer.  Die  Schopenhauersche  Schule  (»PhiL  Fragen  der 
Gegenwart«,  No.  II— EU,  S.  25—57). 

Zur  Geschichte  der  Philosophie  der  neuesten  Zeit.  Zu  Schopenhauers  hundertjähiigem 
Geburtstag.  Mein  Verhältnis  zu  Hegel  (»Kritische  Wanderangen«  No.  I — HI. 
S.  1-75). 

Frauenstädts  Umbildung  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  Bahnsens  charakterolo- 
gischer  Individualismus.  Volkelts  Panlogismus  des  Unbewussten.  Rehmkes 
Monismus  des  unendlichen  Geistes  (»Neukantianismus,  Schopenhauerianismus  und 
Hegelianismus«,  2.  Aufl.  der  »Elrläuterungen  zur  Metaphysik  des  Unbewussten«. 
Kap.  in,  7—8,  II— 14»  IV  B.,  V— VI,  S.  7—17.  29—42,  145—155.  »63—174. 
211 — 362). 

Lotzes  Philosophie,  S.  i — 47,  154 — 183. 

Die  Behandlung  meiner  Philosophie  in  der  philosophiegeschichtlichen  Litteratur  (in 
der  »Gegenwart«,  1897,  No.  47). 

Wundts  System  der  Philosophie,  i.  Der  allgemeine  philosophische  Standpunkt. 
3.  Der  Kampf  gegen  den  Substanzbegriff.  6.  Der  einheitliche  Weltgrund  (in  den 
»Preussischen  Jahrbüchem«,  Bd.  66,  S.  i — 6,  18 — 31,  141 — 152). 

Ein  Neuschellingianer  [Portig]  (in  den  »Preuss.  Jahrbüchem«,  78,  Heft  3,  S.  369 — 382). 

Fechners  Universalbewusstsein  (in  der  »Sphinx«,  1891,  Juniheft,  S.  321 — 330). 


Anhang. 


605 


;in  neuer  Scbopeobaaenancr  [h'ctersj  [in  det   •Gegeowiit«^    1883,  No.  24). 
Robert  Hamerling  alj  Philosopb  (io  der  *GcgeiJwaTt<»   1891,  No.   i). 

VI.  Endimonologivcbe  Axiologie. 

a,  Sysiematiscfaet. 

Die  AxiolDgie  und  Ikre  Gb'ederang.     Die  Stellung  des  Pcssimifmtu   in  meinem  philo- 

Mophiscben  System.     Ist  der  Pessimismus    wiisenscbaftlJcb    zu    begründen?     (»Em 

Geschichte  und  Begründang  des  Pessiinisinns«,  No.  L  11,  X,  S,  1     2S,  239 — 262). 
Die  Beweise  und  Geltungssp baren  dea  Pestimismuj.   Die  Möglicbkcit  der  Empfindungs- 

bflancc  (>Phil.  Fragen  der  Gegenwart«,  No.  J  -2,  S.  78     102), 
Das  Kompensationsäquivalent    von  Lost  und   Unlust    (iZur    Geschichte    u.    Begr,    des 

Pessimismus«,  No.  XI,  _S.  263—  277). 
Der  Wenhcgrifr  und  der  Lustwert  ( »Ethische  Studien*,  No.  VT,  S.   126-159). 
Die  Allweisheit  des  Unbewussten  und  die  Bestmöglichkeit    der  Welt.     Die    Thorbeit 

des  Wollen«  and  das  Elend  des  Daseins  ,^Phil.  d.  Unb.*,  Bd.  H,  C.  XO— XIU, 

S.  171  -590.  514— S36)' 

Leibnix  als  praktiicber  Optimist  {>Ges,  Studien  und  AufiäUec,  A  III,  S.  68—87}. 

Ist  der  Pessimismiu  schädlich?  Kann  er  endehlich  wirken?  Fährt  er  zum  Selbst- 
mord? Die  Lust  als  höchster  WertmasssUb.  Der  Pessimismaa  und  der  Gottes- 
begriff.  Die  Bedeutung  des  Leids  (>Zur  Geschichte  u,  Begr,  des  Pessimismos« 
2.  erw.  Aufl.,  No.  VII-  IX,  Xn,  XIV-  XV,  S.  156-239,  277-288,  310—373). 

Ist  der  Pessimismus  trostlos?     (»Ges.   Studien    und    Aufsätze* ♦    A  VII,  S.    I47— 165). 

Der  Pessimismus  und  die  Ethik  (»Phil.  Fragen  der  Gegenwart*.  No.  V  3.  S.  102 — 112). 

Gegen wartspessitmsmui  und  Zukanftsopttmismui.  Ethik  und  Pessimisnius  (t  Ethische 
Studien-,  No.  VII,   i  a,  2b,  S,  160-164,   185     199). 

Das  sittliche  Bewusslsein,  2.  Aufl.,  S.  48—60,  472—486»  509—520,  526 — 528,  534  -612, 
671—688. 

Die  Religion  dei  Geistes.  S.  50 — ^55,  89 — 102,  15a  155,  180  183,  235  237, 
255-  268,  303     306), 

Philosophie  des  Schonen,  S.  358—341,  377-381,  411—417»  487—490. 

Das  Wesen  des  TrAgischen  (>Ges.  Studien  und  Aufsätze«,  B  114,  S,  292-307). 
b.  Historiich-Kritjschet. 

Plotins  Axiologie.  Kant  idi  Vater  des  modernen  Pessimismu*.  Plümachcns  Geschichte 
de«  Pessimismiia.  Der  Pessimismus  in  der  Lyrik.  Dörings  philosophische  Gtitcr- 
lehre  (»Zur  Geschichte  und  Begründung  des  Pessimismus«^,  2.  Aufl.,  No.  UI- VI 
und  XIV.  S,  64-155,  288—310). 

in  welchem  Sinne  war  Kant  ein  Pessimist?  (►Pbil.  Fragen  der  Gegenwart*,  V  4. 
S.    112-     121). 

Kant  und  der  Pessimismus  (in  den  »Kantitudien*,  ß.  V,  Heft  i). 

Das  religiöse  Bewusstsein  der  Menschheit  im  Stufcugsmg  seiner  Entwicklung,  S.  133—135. 
167—171,  231  236,  288  303,  31»— 3^5»  4»5-4^3.  457™4*»0'  SÖl—SÖS. 
614—618), 

VIL  Ethik. 

I.  Etbifche  Principicolehre* 

>af  sittliche  Bewusstsein,  2.  Au8.  der  Phänomenologie  des  sittlichen  Bewusatseini. 
Unterhalb  und  oberhalb  von  gut    und    bÖse.     Nietzsches    neue    Moral.     Stirners    Ver- 
herrlichung des  Egoismus.     Die  antike  Humanität     Heteronomie  und  AntonomJe. 


6o6  Anhang. 

Der  WertbegrifT  and  der  Lastwert.  Ethik  and  Eadämonismos  («Ethische  Stadien«. 

No.  I— Vn.  S.   1—227). 
Die  religiöse  Anthropologie  (»Die  Religion  des  Geistes«,  B  II  i,  S.  180 — 237). 
Der  Pessimismas  and  die  Ethik  (»Phil.  Fragen  der  Gegenwart«,  No.  V  3,  S.  102 — 112). 
Wandts  Ethik.     Die  Motivation  des  sittlichen  Willens  (»Krit.  Wanderangen«,  No.  IV. 

V,  S.  76—141). 
Der  IndiWdaalismas  der  Gegenwart  (in  den  »Preussischen  Jahrbüchern*,  Bd.  96,  Heft  3, 

s.  30-56). 

2.  Individualethik. 
Das   sittliche    Bewasstsein    (insbesondere    >da8    Moralprincip    der    sittlichen  Freiheit«. 

s.  323—379)- 

Religionsethik  (»Die  Religion  des  Geistes«,  C  I,  S.  271 — 306). 

3.  Socialethik. 

Die  objektiven  Moralprincipien  oder  die  Ziele  der  Sittlichkeit  (»Das  sittliche  Bewasst- 
sein«, Zweite  Abtheilang  B,  S.  472 — 612,    insbesondere  S.  597 — 607,  531 — 568). 
a.  Rechtsphilosophie. 

Die  Moralprincipien  der  Rechtlichkeit  und  Gerechtigkeit  und  der  Billigkeit  (^das  sitt- 
liche Bewusstsein«,  S.  400—439). 

Die  GrundbegrÜTe  der  Rechtsphilosophie,  (»Phil.  Fragen  der  Gegenwart«,  X,  S.  206—243). 

Prindp  und  Zukunft  des  Völkerrechts  (»Ges.  Studien  und  Aufsätze«,  A.  X,  S.  121 — 146). 

b.  Politik. 

Zwei  Jahrzehnte  deutscher  Politik  und  die  gegenwärtige  Weltlage. 

Die  Gefahr  der  Demokratie.  Unsere  Verfassung.  Der  Niedergang  der  Volksvertretung. 
Die  Reform  der  Volksvertretung.  Die  kirchlichen  Zustände  in  Preussen  (»Tages- 
fragen«, No.  n— VI,  S.  25—98). 

Das  Judentum  in  Gegenwart  und  Zukunft,  2.  Aufl,  Kap.  8  u.  9,  S.    10  4 — 146. 

Die  zweijährige  Dienstzeit.  Der  politische  Horizont.  Europäische  Politik  und  Welt- 
politik. Der  Neutralitätsvertrag  mit  Russland.  Die  Sozialdemokratie.  Der 
Anarchismus.  Die  Kampfmittel  gegen  die  Sozialdemokratie.  Grriecfaenland  und 
Deutschland.  Die  Verstärkung  der  deutschen  Kriegsflotte.  England  und  Deutsch- 
land. Die  agrarische  Frage.  An  des  Jahrhunderts  Wende.  Die  Erde  im  zwan- 
zigsten Jahrhundert.  Deutschland  im  zwanzigsten  Jahrhundert  (in  der  »Gegenwart«, 
1890  No.  24;  1892  No.  i;  1896  No.  40,  41,  51,  52;  1897  No.  i,  14,  39,  40; 
1898  No.  14,  23—24;  1899  No.  I,  52;  1900  No.  i). 
c.  Volkswirtschaft. 

Die  Verteilung  des  Arbeitsertrages.  Die  Erhöhung  der  Produktivität  der  Arbeit.  Die 
Bodenfrage.  (»Die  sozialen  Kernfragen«,  A  I,  11,  i — 3,  B  m,  D  I,  S.  i — 117, 
312—372,  440—514). 

Das  sittliche  Bewusstsein,  S.  499—513,  537 — 546). 

Das  Judentum  in  Gegenwart  imd  Zukunft  (2.  Aufl.,  iCap.  8  u.  9,  S.  104 — 164). 

Steuern  wir  einer  Plutokratie  entgegen  (»Tagesfragen,  No.  I). 

Die  Kreditwirtschaft  (in  der  »Gegenwart«,  1896,  No.  i). 

d.  Soziologie. 

Was  sollen  wir  essen?  Die  Gleichstelltmg  der  Geschlechter.  Die  Lebensfrage  der 
Familie.  Die  heutige  Geselligkeit.  Die  Wohnungsfrage.  Moderne  Unsitten 
(»Moderne  Probleme«,  2.  Aufl.,  No.  I,  III— VII,  S.  i— 21,  36—120). 


Anli&ng« 


607 


>ie  Jun^emfr&ge.  Der  Zweikampf-  Das  Spiel.  Lotterie  und  Totalisator  («Tages- 
fragen«,  No.  VII— X,  S,  99— iJS) 

Da«  Judentum  in  Gegenwart  tind  Zukunft,  2.  Aufl.,  Kap.  1^2  und  4 — 7,  S.  l — 29, 
51—104). 

Die  Principicn  der  Freiheit  und  Gleichheit,  (»Da»  littliche  Bewusitiem«,  S,  300 — 323). 

Der  tUT  Erhaltung  einer  Aristokratie  erforderliche  ZinszuschuES  zum  Lohn  der  geistigen 
Arbeit.  Der  dem  schädlichen  Lujlus  dieuende  Teil  des  Arbeitsertrages.  Die 
Arbeitsscheu.  Die  Arbeitslosigkeit,  Die  Arbeitvergeudung.  Hygienische  Ver- 
besserungen. Die  Bekämpfung  de*  Trunkes.  Die  zeitliche  und  personelle  Ver- 
teilung der  Arbeit  Die  Verringerung  der  dem  schädlichen  Luxus  dleoeoden 
Arbeit.  Die  Bevölkerungs frage  (»Die  sozialen  Kernfragen«,  A  U  4— S»  ^  ^* 
U  i^i,  C  L  n  I,  D  n,  S.  117— «49.  »75—297,  373—439.  S»4— S70 

Das  G^flLngnts  der  Zukunft  («Ges.  Studien  u.  Aufsätze«,  A  X,  S.  206 — 232). 

Erziehung  und  Bildung. 
a.  Schulwesen. 
Zur  Reform  des  höheren  Schulwesens. 
Die    Übcrbürduug    der    Schuljugend.      Die    preussische    Schulreform    von    iSSj.      Der 

Streit  um  die  Organisation  der  höheren  Schulen  (»Moderne  Probleme«  «    2.   Aufl., 

No.  X-XIL  S.   157-193)* 
Di«    preussische    Schulreform    von    1892.      Der    deutsche    Unterricht    im    Gymnasium. 

(»Tagesfragen«,  No.  XI— Xu,  S.   105—185). 
Die    Verbesserung   des  Erziehungs-   und   ßildungswesens   der  Arbeiter»    (»Die  sozialen 

Kernfragen^   B  IT  3,  S.  297—311). 
Das  heutige  Gymnaalum  (in  der  «Gegenwart«,   1899,  No.  9). 

ß.  Universitätswcsen. 

Zur  Reform  des  Unwersiiatsunterricbtcs.  Das  PhUosophicstudium  auf  den  Universi- 
täten (.Moderne  Probleme*,  No.  Vfll— fX.  S.   120—137). 

Symptome  des  Verfalls  in  Künstler-  und  Gelehrtenkrcisen  (»Ges.  Studien  und  Aufsätze* 
A  rV,  S.  184-^205). 

Die  akademische  Frau  (in  dem  Kirchhoflscben  Sammelwerk  gleichen  Titels,  Berlio , 
Sleinitz,   1897,  S.   IS^^-'SS*- 

Weibliches  UniTersitätsstudium  iß  der  > deutschen  Warte«,  1896,  No.  345  B), 

y,  Litteratur. 

Über  SchriftsteUerei .  Erfolg  und  Kritik.  Das  Philosophiestudium  durch  Lektüre. 
Wie  wird  man  Philosoph?     (»Tagesfragen*,  No.  XV— XVII,  S.  214—286). 

Dichters  schönstes  Denkmal,  (*Ges.  Studien  and  Aufsätze«,  A  XI,  S.  333—247), 

Der  Bficher  Not.  Die  epidemische  Ruhmsucht  unserer  Zeit.  (tModeme  Probleme«, 
No.  Xiri— XIX,  S.  193--207). 

VItli  ReiigionapbiJosophic. 

Systematiiches. 
He  Religion  des  Geistes. 
Unterhalb  und  oberhalb  von  gut  und  bdse.     Religionsphilosophische  Tkesen  (»Ethische 

Studien*,  No.  1  und  VIII,  S-  t  —  33,  228 — 241). 
Das    Unbewussle    und    der   Gott    des     Theismus    (»PhiJ.   d,  Unb.«      Bd.    II,    C   VII, 
S,  175 — 201,  482—510)* 


6o8  Anhang. 

Der  Pessimismus  und  der  Gottesbegriff.  (»Zur  Geschichte  und  Begründung  des 
Pessimismusc,  No.  2,  XIV,  S.  310-326). 

b.  Historisch-Kritisches. 

Das  religiöse  Bewusstsein  der  Menschheit. 

Die  Anfänge  der  Religion  (in  »Westennanns  illustrierten  Monatsheften,  1897,  Dezember- 
heft, S.  325-    341). 

Geschichte  der  Metaphysik,  Bd.  I,  siehe  Register  unter  »Religionsphilosophen«  und 
»Trinitätslehret,  Bd.  II,  dcsp;l.  unter  ^Selbstbewusstsein  und  Persönlichkeit  des 
Absoluten«  und  »Trinität«. 

Ein  chinesischer  Klassiker  (»Ges.  Studien  und  Aufsätze«.  A  VIII,  S.   166-183). 

Die  Selbstzersetzung  des  Christentums  und  die  Religion  der  Zukunft,  3.  Aufl. 

Die  Krisis  des  Christentums  in  der  modernen  Theologie,  2.  Aufl. 

Lotzes  Verhältnis  zum  Christentum  (»Lotzes  Philosophie«,  S.  42—47). 

Zur  Religionsphilosophie.  Philosophie  und  Christentum.  Was  ist  Nirwana?  Indische 
Gnosis  oder  Geheimlehre  (»Phil.  Fragen  der  Gegenwart«,  No.  VI-  IX,  S.  121-    206). 

Biedermanns  s reiner  Realismus«:.    -Kritische  Wanderungen«,  No.  VII,  S.  219 — 222). 

Das  Judentum  in  Gegenwart  und  Zukunft.     Kap.  3,  Religion,  S.  29 — 50. 

Die  dreipersönliche  Gottheit  bei  Schelling  -^Schellings  philosoph.  System-,  VI  3, 
S.  216-    221. 

Zur  Geschichte  der  christlichen  Religion  (in  der  »Gegenwart«   1900,  No.   14). 

IX.  Ästhetik, 
a.  Systematisches. 

Die  Philosophie  des  Schönen. 

Das  Unbewusste  im  ästhetischen  Urteil  und  in  der  künstlerischen  Produktion  (»Phil, 
d.  Unb.«.  Bd.  I,  B  V,  S.  233-   253). 

Zur  Ästhetik  des  Dramas.  Das  Problem  des  Tragischen.  Ober  ältere  und  moderne 
Tragödienstoffe.     (»Ges.  Studien  und  AufsäUe*,  B  I-  HI.  S.  251-  319). 

Freie  und  unfreie  Ktinste  (»Tagesfragen«,  No.  XIX,  S.   198—213). 
b.  Historisch-Kritisches. 

Die  deutsche  Ästhetik  seit  Kant. 

Aus  einer  Dichterwerkstatt.  Shakespeares  Romeo  und  Julie.    Der  Ideengehalt  in  Goethes 
Faust.     Schillers  Gedichte:  »das  Ideal  und  das  Leben«  und  »die  Ideale«.    Zur  Ge- 
schichte der  Ästhetik.     (>Ges.  Studien  und  Aufsätze«,  B  IV-   VIII,  S.  320—417). 
X.  Philosophie  der  Geschichte. 

Das  Unbewusste  in  der  Geschichte  (»Phil.  d.  Unb.«,  Bd.  I,  B  X,  S.  322-345). 

Das  Wesen  des  Gesamtgeistes  (*Ges.  Studien  und  Aufsätze«,   C  V,  S.  504 — 519). 

Das  Unbewusste  in  der  Entstehung  der  Sprache  (ebd..  B  VI,  S.  254 — 260). 

Die  Ergebnisse  der  modernen  Sprachphilosophie.  (»Krit.  Wanderungen«,  No.  VIII. 
S.  236—310). 

Prindp  und  Zukunft  des  VölkerrechU  (»Ges.  Studien  und  Aufsätze«,  A  VI, 
S.  121— 146). 

Das  religiöse  Bewusstsein  der  Menschheit. 

Das  sittliche  Bewusstsein,  S.  317,  322,  507—540,  564—582). 

Die  Bevölkerungsfrage  (»Die  sozialen  Kernfragen«,  D  II,  S.  514—559)- 

Phil.  d.  Unbewussten,  Bd.  II,  S.  376—389. 

Druck  von  Carl  Otto  in  Meerane.