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Full text of "Geschichte Der Musik In Italien Deutschland Und Frankreich"

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PUBLIC LIBRARY 

Kansas City, Ho. 
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Z ENVELOPS CO., KANSAS CITY, NO, 



PUBLIC LIBRARY 




ODD! H5133mi 1 



Aus den Vorreden 
zur zweiterij dritten und vierten Auflage, 



Was die Grundsatze betrifft, welcke ich bei dem vorliegenden 
Werke als *die leitenden festlialten zu mftssen glaubte, so ist das Wich- 
tigste in der Einleitung zur orsten Vorlesung erwalint. 

Eine besondore Aufmerksamkeit babe icli auf die Scldchtung des 
Material*, die Gruppirunfj des Sto/s verwendet. Darauf scMea es mir 
vor Allem anzukommen, wenn vor den Augen des Lesers em deut- 
liclies Bild dor bisherigen Entwicklung wirklicli aufgestellt werden 
Bollte. Die Gruppirung des Stoffs in den ineisten der vorhandenen 
Werke war nicht tibersicMlicli. Icli glaube, mit der meinigen, in der 
Hauptsache wenigstens, das Eiclitige getroffen zu liaben, oline damit in 
Abrede zu stellen, dass bei weiteren Fortscliritten Umstellungen noth- 
wendig sein werden. 

Ein zwoitor, eben so wichtiger Zweck war fur mich. eine au- 
nahernde Feststellung der allgemeinsten Ge&ichtspuncte, der Kategorien, 
unter denen die Hauptepoclien und die Haupterscteinungen zu be- 
greifen sind. Diesen ScMtt zu tliun, scbien mir vorzugsweise am dbr 
Zeit, um der Willkur oder Einseitigkeit in der Auffassung, der Zer- 
splitterung und Yereinzelung in den Ansichten entgegenzutreten. Natur- 
licb. konnte nicM zugleich und in demselben Grrade auch. die ent- 
gegengesetzte Seite, der Eeiehtlium der Detailschilderung, berucksicMigt 
werden. Icli xnusste mich zu Gunsten der einen Seite auf Kosten der 
anderen entsclieiden, wenn icli nicht eine ganz \inverMtnissxnassig gi-6s- 
sere Ausdelmung in Ansprucb. nelimen wollte. 

Welter habe icli versuclit, die Gesc-hichte der Musik mit den wichttffsten 



IV 

!> , 

Ersctieinungen des allgemeinen Geisteslebens in Vwlindtfng zu Iringen 
Naturlich konnten Mer nur erst die nachsten, anniiherungwcisen Bostim- 
mungen gegeben werden, undausserordentlichvielbleibtnochzu tlmn tibrig. 
Vergleicht man indess mit dem Gegebenen die friihere Betraehtungswcise 
der Erscheinungen auf. musikalischem Gebiet, so wircl man findon, dass ich 
damit iiberhaupt den" Anfang gemaclit liabe. Jetzt ist vieles von dem, 
was ich zuerst aussprach, schon in das Leben ubergegangen. Das zu- 
letzt Gesagte gilt uberhaupt von vielen in dem Bttclie ausgesproclionon 
Anscliauungen. Bs ist dasselbe niclit wie man vielleicM vermuthon 
konnte miter den Einflitssen des Umschwungs dor leteten Jalire 
entstanden, meine Ansicliten im Gegontheil warou festgostellt, bovor an 
den letzteren gedachfc wurde. Der gogeuwartige Umscliwuug war die 
ErfuUung dessen, was ich goalmt hatte, Iccinosw^gH das inoiuo llichkmg 
neti Bestimmende. Nur in Folge der iimoreu Verwandbcliaft moiner 
Bestrebungen ergriff ich Partei ftir E. Wagner. 

Endlich war fur mich eiu Hauptxiel inoinea Strebeua dor Wunscli 
der WiederenoecJcung der Meisterwerke der 'MrJlow.nGU Jahrhuudet'lfi. 
Ich liabe, soweit nur irgend daxu Golegonlioit geboton war, stets mieh 
bestrebt, auf diese Schiltee aufmorksam zu luaehen, und wonn man die 
gegenwartigen Zustande mit deiieri vergleicht, die nocii vor drcwsig Jalireu 
die herrsctenden waren, wenn man die mhlrclcheu Auffiiliruiigou iiltorer 
Werke, die vielen erncuteu Auagabeu doryolbou inn A ago fanst, HO darf 
ich wol hieran einen Antheil mir beimessen. Wenn ich indoss die 
altere Kunst dem Leben cler Gogeuwart naho scu briugtm bointiht war, 
so geschah. dies, im Unterscliied von andoron Freundon der Vorxoifc, nicht 
mit jener bei dieseu *beliebten oinseitigen Voiiiobe fiir daa Alto, en g*o- 
schah immer mit vorxtiglicliBtor BeriickBichtigung dor Oogouwart, so 
dass diese nicht als die Zeit dos Vorfalb orHchion, niclit als elwas 
Untergeordnetes, im Gegenthoil als die Haii]>taacljo zur floltung kani. 
Es ist dies das Unterachoidcnde moinor Auffassung von der Anderer, 
welche ausschKesslich die altero Kunat wollen golton lassen. Ich strobto 
nach unparteiischer Beurthoilung allor Hpochon nnd suelite mich eben 
so weit von dem entgegengeselsston Fohler oiuor ausschliesslichen Aner* 
keunung der Neuzeit fern ^u halten. 

Das geschichtliche Material habe ich aus den grossoron vorliande- 



nen Werken nur aufgenommen. Die Aufstellung der Kategorien gait 
mir als die Hauptsache uncl das Thatsachliche zog icli mehr nur zur 
Erfiillung und Belebung in dio Darstellung herein. Meine Schrift soil 
dalier keineswegs an die Stelle anderer grosserer "Werke treten, diese 
uberfltissig machen, sie soil zu ihnen hinfilkren und die oft etwas ab- 
sehreckende Lecture derselben durch eine vorausgegangene Orientirung 
erleichtern, zugleich aber soil sie in den Stand setzen, eine bestinnnte 
Ansicht, welclie aus meinem Ueberblick gewonnen wurde, mitzubringen, 
clamit der naifc dem Gegenstancl noch nicht vertraute Leser die grosse 
principielle Binseitigkeit, der die rneisten dieser Scliriften unterliegen 
vermeiden lernt. 

In eine erschopfendo Darstellung der Geschichte der Musik gehort 
auch eine ausfuhrliche und vollsttodigo Benieksichtigimg der tedmischeii 
Soite, des gesammtou Materials und der Umbildungen, die im Gebrauclie 
desselben erfolgt sind; in glcieher Weise eine Geschichte der inusikali- 
schen Formcngestaltung. Sollen derartige Angabon aber melir sein als 
eine ganz ausserliclie, gcistlose Besclireibung, so muss man zuvor zur 
Vorgoistigung der Erachoinungen, zur Erfassung des die Formen schaf- 
fonden und mngestaltcndon achOpforisclion Princips durcligedrungen sein, 
um scinon Ausgaugnpunct von dieser Seite nehmen zu konnon. Um zu 
diesena Eesultat zu gelangen, war das, was icli gegeben habe, der erste 
nothwendige Schritt. Nur auf diesom Wege wird man domnach in dor 
Folgozoit weiter zu gelangen vonnogen, niclit allein von Seite der cm- 
piriscben Forschung mit Uiugoliung desselben. 

So hoffe ich, dass man mir Gereclifcigkeit widerfahren lassen wcrde, 
selbst wenn die Zukimft liingst liber das, was ich gegeben habe, lunaus- 
gogangen ist, Mnausgegangen dariiber sowol durch ein reicheres, immer 
neu lierzugebraclites thatsacbliches Material und durch Aufklarung liber 
viele dunklo, jotzt nodi wenig boarboitete Partien, als auch durch Ver- 
naittlung einer weiter ausgobildoteu Aesthetik und einer fortgeschrlttenen 
Kritik. Bonn wie die GescMclite dor Kritik und Aesthetik vorarbeitet, 
so wird die erstere wieder oine ausserordentliche Forderung orhalten, 
wenn die lotztgenaunten beiden Fiicher weiter gediehon sind. 

Dr. F. Brendd. 



Vorwort 

zur fiinfton imd seclistou Auflagp. 



Als (lor Untorzeichnoto von der Vorlagshandlung die Auffordoning 
erMelt, die fftnfte Auflage dor BrendoPscLon GcBehi elite dor Mnsik vor- 
znbereiten, war es zugloicli oino Innoro Vorpflichtung, woblio ilm be- 
stimmte, diese Aufgabo xu ubernolmien. Molirorc Jahre liindurch haU.o 
er mit dem verowigtcn Verfasser ties vorliegcndon Workos in naliom 
perBonliclien Verkohr gestanclcn und oine ITftllo goistigor Anroguugon 
Ton ihm enipfangen, Eino in sidi liarmonisclio Natur, wio Brondol 
war, im Besitz einer selbststandig errungcnon durdigcMldoten Welt- 
anschauung, die sein ganzos Woaon lobonclig durclulriing, voll goiBtigor 
Kegsamkeit, mit gloiclior Encrgio di luloreswju dort Lubona wio dor 
Kiinst mid der WiBBonschaft erfassond, bt^ginHhirt itir die Jdoalo dor 
Zukunft, wio sic. durcli das Uingon und Mtrebon dor (jogonwart liin- 
durch diinimeni, don Blick Bchaffoiwfroudig vorwiirts gorielitot, niiiHHto 
er, wie jodo walirliaft productive Evsclioiinmg , naiuontlioli anf Jiingerc 7 
die, empfanglicli , ilun nahor traton, allnoitig bolcbcnd wirton. lit 
innigom Danko gegon den Veratorbonoii bckoime ich OB, daHH UrondoPH 
Personlichkeit auf moine Eiitwicldung von outsclK^idoniloin KinlluHHO 
gcwesen 1st. EB war somit aucli nur cine Pflicht d<u* Piolat, dans icli 
seine goistigo fliutoiiassonBcliaft antnit, gowiBsonliafL bc-strobt, dan von 
ibm Empfangono wiodorum mm Nutzou deusolbou xu vorworthou. 

BrondePs Goscldcliio dor Musik, oiu .Hanptwcvrk, woicliOB go winner-' 
maasson den Korn seiner GoHaituntlowtungon , dio Mmumo aoiuor dor 
Kunstwissenschaft gogobonon Anrogungou ontluilfc, iat luwtroitig von 
epocbemacliender Bedentung gowosou* Die gonaimuto gogonwatiige 
Kritik stoht, bowusst odor unbowiiHBt, uutor doiu KinfhiHHo dor in ilir 
niedorgclogton Anschauungen und orBclioint von ibnon gonahrt 



ersten Male war Mer in clas bisher nur in ausserlicher Zusammen- 
stellung vorliegende Material Zusammenhang gebracht, die GescMchte 
cler Musik als ein grosses, gesetzmfesig sicli entwickelndes Ganzes ge- 
fasst und clas Urtlieil fiber ihre einzelnen Ersclieinungen objectiv, nack 
wissenschaftlichen Gesichtspuncten festgesteUt, waren die verschiodenen 
Epoclion sowol, wie die grossen Trager derselben in dem Mittelpunct, 
iu cler Eigentlitiinlichkeit nntl Mile ihres Lebens, in iliren innersten 
Zusainnicnliiingen unter sich, wie mit der allgemcinen Geistosentwiek- 
limg erfasst. Zu solchen Besultaten war freilicli nur zu gelangen durch 
cine Vereinigung von philosophischem Tiefblick mit dem Vermogen 
IraiiBtleriBcher Intuition, wie sie Brendel eigen war. Ihr verdanlen 
wir u.A. jeno in jeder Beziehung meisterliaft ausgeffihrton Cliarakteristiken 
imscrer drei Claysiker Haydn, Mozart und Beethoven, Cliai*akteristiken, 
wolcho oine tiofore, treuere und umfassendere Anscliauung von dem 
Wcson dcrselbon, ilirer Entwicklting und ihrein Verhiiltniss zu einancler 

gebon, aln en allo bcstgemeiuten Analysen ilirer Werke, wie sie bisher 

& 

moint ublioli waren, alle specifisch musikalischen Erorterungen zu gewaliren 
venndgeiL Jeno Objoctivitfit der Anscliauung, cler fireie und weite Blick, 
die Kinwiclit in clas Walton und die Ziele cles in* der geschicbtlichon Ent- 
wicklung der Kunst sioli oflbnbaroudon GeisteB ist es auch gewesen, welclio 
ihn mit voller Begeisterung und Entscliiedenheit fur die drei Meister 
eintreten Mess , welche *an cler Spitzo der gegenwartigen Epoclie stehen, 
fur Berlioz, Wagner, Liszt. Mit einer Sicherhoit, welche nanaent- 
licli Berlioz und Liszt gegemiber, die erst in neuester Zeit eine eat- 
sprocliende Wiirdigung zu finden beginnen, tiberrasclien muss, erkannte 
Brendol ihre Becleutung, erfasste or den Kernpunct der durch ihre Er- 
sclioinung angeregten Fragen und fixirte or die Grundzfige ffir ihro 
Bourtheilung. Die Vordiensto, welcho sich Brendel uni die Forderung 
dor Anerkennung clieser Manner erworben hat, werden mit deren Naineu 
uutrennbar vorknfipft bloiben, 

Die Toiidenz cler Brendernclien Musikgeschichte , nach welcher 
dieselbe dem Lescr in grossen Ziigen ein cleutliclies Bild dor gesammten 
Entwicldung der Musik vor Augen stellen und hauptsachlich die 
geistigen Beziige in den Erscheinungen zur Anschauung bringen sollte, 
machtc es nothig, bei der Aufnahme des geschichtlichen Materials mit 



vm __ 

einor gewissen Besclinlnkung m verfaliren. Brondol hat sicli Meriiber 
ausdriicklich orklart, und os war demnach niclit am Platzo, wonn man ihm 
aus clem Mangel dor lustorischon Dotailscliildonmg und dor Quollen- 
forscliung oinen Vorwurf machte, und einen Tadol gogon ilm aussprach, 
dass or Etwas niclit leistete, was zu loisten gar niclit seino Absicht war. 
Dass es nach Feststollung dor aUgomeinen Qosiclitspuncto die woitere 
Aufgabe sei, von ilinen aus inclir und mohr wiodor zuin Oonoroton liorab- 
zustoigen, dosson war sich Brondcl nolir wolil bewnsBt, und hat or oben- 
falls ausdrficklich bemerkt. Da dor Ilntorzcuclmoto mit dor Brwoitorung 
des Worses in clem bezoiclmoten Sinno noch niclit mm Al)schlusa go- 
langt ist, hat or sich bci dor Bearbeitung dor vorliegondcn sochston 
Auflage darauf boschraukt, daa Tluit.Hfu-hlicho gcnan nach don neuo- 
sten Foi'Bchungcn foHtzuKtollon dor el)cn o,rst orHcliionouo 4. Band 
von AmbroB' Musikgoschichto konnte liiorl)oi nicht inohr bouutzt 
worilen , die biographibclicn Baton und dio (Chronologic zu borichtigon, 
hie und da dio Angaben fiber nou nidi ontwickdndo .Formon priiciwor zu 
fassen und in dor Barstollung dor nounsfcon 55oit die in dor jungHton ()o- 
genwart aufgotrotonon Tonsoteor und auBffilu f oncl(jn KiinBtlor luichzutragon, 
sowic dio Urthoilo fiber 'die boroifcs bowpvochon gewoH(mon Lobondon, wo 
OH noting orscliion, m orgauzon. 

Leipzig, im Soptomber 1878. 

I 



Inhalts-Verzeielmiss. 



Vorlesung. 

Seite 
Einleitung. Erste Anfange der christlichen Musik. Ambrosius. Gregor. 

Weitere Fortschritte im Mittelalter. Hucbaldus. Guido von Arezzo. Franco 
von Koln. Marchettus. Johannes de Minis. Die weltliche Musik dieser Zeit. 
Troubadours und Minnesanger. Tliibaut, Brste Versuche auf musikalisch- 
dramatischem Gebiet, Adam de la Hale 1 

Ziveite Vorlesung. 

Die GescMchte der Musik bei denNiederlandern: Dufay. Ockenheim. 
Der Zustand des Orgelspiels : Antonio degli Organi und Bernhard der Deutsche. 

Notendruck: Petrucci. Josquin. Deutsche und italienische Tonsetzer. 
Willaert. Orlandus Lassus. Bintheilung der Geschichte der Musik, die 
allgenieine Entwicklung des Geistes in der Geschichte, die Stufenfolge der 
Kiinste und die weltgeschichtliche Stellung der Tonkunst ,20 

Dritte Vorksuny. 

Geschichte der Musik in Italien: Eomische Schnle, Palestrina, Nanini* 
Allogri. Vittoria, Baj 40 

Vierte Vorlesung. 

Die weltliche Musik dieser Zeit in Italien. Allgemeiner Umschwung 
des Geistes. Irste Anfange der Oper. Caccini, Bardi, Graf von Vernio. 
Galilei. Peri. OorsL Einuccini. JB. del Cavaliere. Das Oratorium. 
Wesen und geschichtliche Bedeutung der neuen Brfindungen 58 

F&nfte Vorlesung, 

Zustand der Instrumentalmusik. Fortgang der Oper; Giacobbl Quagliati. 
Marco da Gagliano. Tonsetzer im Stile Palestrina's : Benevoli und Bernabei. 

Spatere Meister: Viadana und Carissimi; Cavalli und Cesti. Neapolita- 
nische Schule: A. Scarlatti. Durante. Leo. Greco. Astorga, Spatere Ton- 
setzer: Jomelli. Teradeglias, Pergolose "... 77 



Sechste Vorlesuny. 

Seito 
Die Gesangskunst in Italien; Ferri. Farinelli. Porpora. Pistocclii 

Bernacchi. Erste Ausbildung der Kunst des Yiolinspiels : Corelli Tartini. 
Locatelli. Pianoforte und Orgel : Dom. Scarlatti. Frescobaldi. Die vene- 
tianische Scliule: A. und GK Gabriell Lotti. Marcello. Oaldara. Die 
bolognesisclie Schule: Colonna, Clari ............... 97 

Siebente Vorlesung. 

Die Hauptepochen der ELunst. Cliarakteristik der italionischen und 
deutschen Musik. Blick auf die Hauptentwicklungsstufen der letztereu . . 116 

Ac Ate Vorlesung. 

Erste Anfange der deutschen llusik. Lutlier. Der evangelische Ge- 
meindegesang. Quellen. desselben. Walther. Senfi. Allgemeino Einthcilung 132 

N&unte^ Vorlefnmg. 

Fortgang nach Luther's Todc. Osiander. Johannes Eccard. M. Pratorius. 
Schiitz. Orgel- und Klaviermusik: M. Pratorius. Scheidt. Paoliolbol. 
AmmerbacK. Die Suite und die Sonatc. Kuhnau. Die Laute ..... 1f)() 

Zehnte Vorlesuny. 

Der weltliche G-esang. Albert. Verpflanzung clcr Oper nach Doutsch- 
land, H. Schiitz. Die Oper in Hamburg, Keiser. Matthcson. Handel. 
Telemann. Handel und Sebastian Bach, Cliarakteristik Bolder von Eochlit^ 171 

El fie Vorle.siDtfj. 

Handel und Sebastian Bach. Ghnraktoristik Bcider, Allgemeino Be- 
trachtungcn tilier das richtigo Yerstandniss insbosondoro Bach's untl die 
moderne Ueberavbeitung alterer Werke. Dor Wonclepunct in dor Gosohiohto 
der deutschen llusik ..... , .............. 208 

r /A oolfte Vor/Mw t fj* 

Erste Anfange der franzosisehon Musik: die iranssosisclio Opov. Caiubort. 
Lully. Wciterer Fortgang: Gluck und Piccini ........... ^l>7 

Drcisehnte I r 



Die italienischo Oper in Beutsehknd: Hasse. Nainuanu, Graun. Die 
tleutsche, insbesondcro koinische ()))er, die Opcrotto und das Melodrani: 
G. Benda. Schweitzer. Hillor. Ditiersdorf. Eoichardt, Wonnol Mttllor. 
Erstcr Aufsohwung der Instruinentahuusik ; Emanuol Bach, Friedoinaim 
Bach. J. Haydn . . * ................... 2(50 



Vierzeknte 
Mozart und Beethoven. Biographien und Charaktoristik dcrselbeu , 



XI 

Fiinfzehnte Vorlesung. 
Allgemeine Oharakteristik Haydn's, Mozart's und Beethoven's .... 306 

Seckszehnte Vorlesung. 

Die Schule Mozart's in Deutschland, Frankreich und Italien. DieKirchen- 
musik in Deutschland. Allgemeine Entwicklung des religiosen G-eistes. 
Folgerungen hieraus beziiglicli der Zustande der Kirchenmusik 328 

Siebzehnte Vorlesung. 

Die Kirchenmusik des letzten Jahrhunderts : Emanuel und Friedemann 
Bach. Stoltzel. G-raun. Eolle. Homilius. Doles. Killer. Naumann. Fasch. 
Fux. G-assmann. Tuma. Czernohorsky. Brixi. Zach. Stadler. Eybler. 
Ett. Tomaschek. Cherubini. Schneider. Lowe. Klein. Mendelssohn. Haupt- 
mann. Franz. Kiel. Beethoven. Wagner. Schumann. Berlioz. Liszt. 
Orgelmusik und Orgelvirtuosen: Einck. Fischer. Eitter. Hesse. Haupt. 
Schneider. Becker. Schcllenberg. Stade. Thiele. Merkel. Faisst. Krejci. 
Brosig. Fischer. Thomas. Topfer. "Winterberger, Korner. Engel. Liszt. 
Ghoralgesang: Hiller. Eitter. Das Oratorimn: Schneider. Mendelssohn. 
Schumann. Marx. 4 Hiller. Eeissiger. Eubinstein, Leonhard. Eeinthaler. 
Engel. Markull. Mangold, Meinarclus. Kiel. Liszt 346 

Aehteelmte Vorlesung. 

Die Oper. Bntwicklung derselben in Deutschland riach Mozart. Zumsteeg. 
Winter. Weigl. Gallus. Gryrowetz. Himmel. Kreutzer. Hummel. Beethoven. 
Spohr. C. M. v. Weber. Marschner a ... 374 

Neunzehnte Vorlesung. 

Die Oper. Bntwicklung derselben in Italien. Ficcini. Traetta. Paesiello. 
Oiniarosa. Martin. Mayer. Zingarelli. Eossini. Charakteristik der italieni- 
schen Oper. Fort gang auf dem Gfebiete der Oper in Frankreich. Die komische 
Oper, clas Taudeville. Eameau. Eousseau. Monsigny. Philidor. d'Alayrac. 
Isouard. Boieldieu. Herold. Halevy. Adam. Die grosse Oper daselbst. 
Salieri. Oherubini. Mehul. Spontini. Die neucste Epoche der Oper seit 
1830 in Frankreich. Auber. Meyerbeer. Die italienische Oper der neuesten 
Zeit. Bellini, Donizetti. Verdi 401 

Zwttnzigste Vorlesun'g. 

Die ueuoro Epoche der Oper in Deutschland seit dem Jahre 1880. Be- 
trachtungen darliber und Oharakteristik der Zustande. Die Ursachen des 
"Verfalis. Beispielswcise Erwahnung mehrerer Tonsetzer: Eies. Wolfram. 
Ohelard. Lindpaintner. Kreutzer. Eeissiger. Lortzing. Dramatische Sanger 
und Sangerinnen. Die Mozart' sche Schule der Instramentalmusik. Eosetti. 
Pleyel. Q-yrowetz. Wranitzky. Hoffmeister. F. E. Fesca. A. Eomberg. 
G-. Onslow. L. Spohr. Die Mozart' sche Schule der Pianofortemusik. Hummel. 
Moscheles. 0. Ozerny. Wolfl. Steibelt. A. E. Muller. J. W. Tomaschek. 
A. Schmitt. 0. M. v. Weber, dementi. Cramer. Berger. A, Klengel. 



Seite 

Field. Prinz Louis Ferdinand. Dus&ek. 0, Mayer. Kalkbrenner, H. Herz, 
Pollini. Virtuosen auf der Violine und anderen Orchesterinstrumenten. Be- 
trachtungen uber die Stellung und Bedeutung der ausfiihrenden im G-egen- 
satz zur schaffenden Kunst .................. 430 

JEirvmdzwansigste Vorleswig, 

Der erneute Aufschwung der deutschen Musik in den 30er und 40cr 
Jahren, Concert-, Kammer- und Hausniusik als Mittelpunct der Entwicklung. 
F. Ries. F. Schubert. C. Lowe. F. Menclelssohn-Bartholdy. R. Schumann. 
F. Chopin. Stephen Heller ................... 461 

Zweiund&waiisigste Vorlesnng. 

H, Berlioz. R. Franz. Die Instrumental-, insbcsondere Pianoforte- 
virtuositat und der erneute Aufsclrwung derselbcn: F. Liszt. F. llendels- 
sohn. Clara Schumann. A. Henselt. F. Hillor. S. Thalberg u. A, Virtuoson 
auf den Orchesterinstrumenten : N. Paganini. Ernst Vieuxtomps u. A. Parish- 
Alvars. JDie Schulen Mendelssohn's und Schumann's: N. W. Grade. F. Hillor. 
St. Bennett. J. J. H. Verliulst. J. Eietz. C. Beinooke. H. Hirsohbacb. Aeltere, 
noch in dieser Epoche thatige Toasetzer, sowie jungere, wolche cine mehr 
vereinzelte Stellung einnehmen: L. Spohr. H. Mar.sclmer. C. GK Reissiger. 
W, H. Yeit. J. W. Kalliwoda. F. Lachner u. A. Die Kritik : F. Kochlitz, 
E. T. A. Hoffmann. G. W. Fink, L. Rellstab. A. B. Marx. ft. "Weber. 
R, Schumann .... ................... 501 



Vorlwung. 
Die Zeit des Ucbcrgangcs und der ncuosto Aufsclawung. R. AVagner . 549 

V'ierund&WMiz'igHtti Vovlcsnny. 

Die Theorie E. Wagner's. Die Musik als Sorxdorkunst dom Wagnor'schon 
musikalischen Drama gcgoniiber. Franz Lisnt in seiner zwelton Epocho. Die 
Schulen "Wagner's und Liszt's, Raff, v. Billow. Sobolowski. v, Bronsart. Soifrisj. 
Draesokc. Lassen, Cornelius. "Woisslioimer, Pamrosch. Gotzo, Hitter* J* Rcubko. 
Schulz-Beuthen. Riemonsohneidor. Suchor. Stor. Khighardt, Hubor. Lohmann. 
Andere hervorragendc Talcnte dieser Zoit. Volkmann. Rubiiifltoin. Die 
Schulen Mendelssohn's und Sclramami'H. Brahms, Joachim. Bargiol 
Kirchnor. Jensen. Grimm u, A. Tonsoteer mil minder b(-stitumt ausg(- 
pragtor Physiognomic. Nachtraglicho Erwahnung luehroror Namoiu Virtuo- 
scn dor noueston Zeit. .............. ..... r>65 



Schlussbctrachtung. Riickblick auf den durcMaufonen Wog, Dor bis- 
herige Standpunct der TonkuuRt. Dor Umschwungf der neuofltcu Zoit und 
die Aufgaben fur Gogonwart itncl Zukunft ............. 



Erste Vorlesung, 



Einleitung. Erste Anfiinge der christliclien Musik. Amljrosius. Gregor. Weitere 
Fortscliritte im Mittelaltcr. liucbaldus. Ghiido von Armo. Franco von Koln. 
Marclicttus von Padua. Johannes do Muris. Die wc k ltliclie Musik dieser #eit. Trou- 
badours und Mimicsangor. Tliibaut Erste Yersuche auf musikaliscli-drama- 
tischem G-cbiet. Adam de la Halo, 

Iiulena icli es untcmehmo, in, tlom nachfolgenclen Cursus Tor Ihnen 
die Gescliiclite dor Musik m boliandoln, muss icli mich zunSlcliBt sowohl 
fiber die Grlinde, welclie niich r m der Walil dieses Qegenstandes bestimm- 
teu, al aucli liber die Gosichtspuncto, uuter welch en icli eine Beliand- 
lung dcssclbon ffir aiigemosson eraelito, auBSprecbeu. 

Die Musik ist die hcrrscliende Kunafc der Gegenwart; iiicbt nur, 
daRH diesoll)0 in den weitestcn Kreasen Eiugaiig gewonnen hat, man 
erkennt in ihr zugleicli oincu wichtagen Tlieil der Eraiehnng, und ein 
orliohtes und grundlicheres Interesso an der Tonkunst gilt als eine nicht 
abzuweisende Fordorung fur den Gebildeteii. Dies rechtfertigt im Allge- 
meinen die Walil moincs Gcgonstandes, wenn icli vor einem PubKcum, 
welclieB nicht allein aus Kfmstlem und Kiinstlerimien besteht, denselben 
zur Beliandlnng wiihle. Man kann jetzt fast durcliweg, wenn auch nicbt 
eigone Tvenntniss und Uebnng, KO docli gostcigerto Empfangliclikeit und 
Bekannteohaft init den Hauptwerkon dor Tonkunst bei dem Publicum 
vorauBHeteen. Es lag jodocli in den binherigeii Verhfiltnisson, wenn trotz 
diesos gesteigerten Intoressos, trotz allcr Vortrautlieit rait den Werken 
dor Tonkunst, ein tie feres VerstiindniBS naeli verschiedenen Seiten hin 
oft nodi immer yermisBt wtirde. Die gewobnliche Einfiihrung bildete 
bisher in der Regel Pianofortespiel und Gesang, und in Fallen, wo diese 
Uebung in der Jugend nicht gewonneu wurde, eine durcli haufigen 
Concertbesuch vermittelte Bekanutnchaft mit den Moisterwerken , wenig- 
stcns der neuercn Zelt. Griindlicljeres VerstandniBS , eine mnfassendere, 
bowusstere An&chauung mangelte. Die Theorie liegt dem Kunsstfreunde 



zu fern ; die musikalische Tvritik sotzt eine specielle Vortrantlieit voraus ; 
so 1st dem Publicum, aucli bci clem beaten Willen, wenig odor gar kerne 
Gelegenkeit geboten, si<jli ein liefores Verstandniss m erwerben. Ir 
diesem Uebelstancle liegt dor zweite Grund fur die Walil nioinos Gegon- 
standes. Die Gescliichte der Kunsfc ist die beste Lelirmoistorin ; die 
Bekanntschaft mit xhr ist das, was dem Kunstfreunde, und mit ilim auch 
einem grossen Theile der Dilettanton und Kunstler, bislier mangelte ; sie 
ist, indem sie das allmahliche Werden, die Entsteliung und Woitor- 
bildung bis zu dem Pimcte der Vollendung, ebon so selir den Riick- 
gang und den Verfall zeigt, mehr als jedcs andere Gobiet nmsikaliscken 
Wissens geoignet, eine gonauore Eiusiclit, ein grundlicheres Verstandniss 
iusbesondere aucli der Gogonwart und ilirer Ersclioiimngen vorznboreiten. 
Niclit antiquarisclie Gelelirsamkeit will icli dahor duroh moino Beluind- 
Imig des GcgenstandcB ford(u*n. Es iwt zwar moine Absicht, Iliuon eine 
Anschauung der gosainintou Kunwi zu gewiiliren und aucli die Grossen 
der Vorgangcnlioit ntihor m rficlccn; vorzugwwoiao abor wfinsclio ioh auf 
Hire BotLoiligung an dor Xunnt unnatteibar cinzuwirken und Sie zu 
.einem l)ewuHBtcron VorHtfinduiHK der JUauptwerko der Tonkunnt und ihror 
M'eister m fiiliron. 

Die fiesicilitspuncfco ITir UKUIIO Beliandlung do.s (Jegenslandes orgobon 

sioh mm Thcil Iiionms, zimi Tlioi] aim dciu Slandjmncto der ("Jeacluclit- 

schreibuug dor Musik in dor Gogomvart. fch nproclio niclit alloin und 

ausscliliesHlidi zu Kfmstleni und Ivfuistltu'iiuuui, icli richte moino Worte 

an (j(sbildcto ilberliaii])!,, an o.in Publiciiin, vvi( k . cs J^r. lioclilitz vor 

Augen liaite, aln or ? ,Fur Fnnindo dor Tonkuimt" Hi-hrieb. Ks ist dom- 

nach das, was nur do.n Musikc^r infcoroHHinMi kann, ontHcIiiodou auHZU- 

HcliliftHHon. KH ist lonior niclit das oxHt( k , Mai, dans icli dicson Gogon- 

stand vor einem groHMoron PubUomu bekmcllo. Otdloro "Wiodorholungon 

habon mir goswigt, w( k .lcli(3 Ausdolinung als dio zwockinitaigHto zu be- 

trachten, sie liabon anir gololirt, daws (^s dwv.lums liilHcli infc, Nainon und 

Tliateaclien m liilufon, W(dl boi dor goringon Vortraiitlio.it d<u- Moisten 

iriit unsorom Gogonstando dadtirc.h nur Vorwirrung liorvorgomfon wird; 

ira GogontUoil liegt ^n-ado in indgliclistor Bosc-lin'tnliung dan untor den 

gegonwiirtiigon VovliiiltniHHon 'und untor niehion (JoHicliljHimuctou, nac.h 

meinem Daf(lrluilt(i, <ui)zi{f Uiclitigo; nur dadwv.li kann dio ({ondiiclito 

d<u- Miwik doin Kunsirroiindo nalior tfobraoht, das Abscliraekeude bo- 

soitigt werdon, 

Was die blsborige Boliandlung dos Gogonstandos botvifft, HO wird 
oino kurzo Ucborsiclit fiber dan (Jolointoto moino Aufgabo in diosor Bo- 
ziolmng sogldcli foHtntollon. Dio Gost-liiditc dor Miwik Tiat in nouestor 



Zeit grossero Beachtung und eine liber die fruher gemachten Anfange 
binausgehende Bearbeitung gefuiiden. Nachdem man ina vorigen Jahr- 
hundert in England, Deutschlantl nnd Italian begonnen hatte, in grosseren 
Geschichtswerken freilicli noch selir rolie und migeordneto Materialien- 
saninilungen 7Ai veranstalten, ist erst soit 40 bis 50 Jahren welter For- 
derndes, zum Tlieil Grosses, geleistet worden. Ich nenne unter diesen 
^orderern zunachst den beriihmten lieidelberger Juristen Thibaut, der 
ii seiner geistvollen Sclirift: ,,Ueber Eeinlieit der Tonkunst", einer der 
Erston in den 20 er Jahren t dieses Jalirhunclerts. auf die unbeachteten 
Schiitze der Vergangenheit aufmerksam machte, und fur das Studium 
der altoren Musik eine nachdriickliche Anregung gab. Der k. k. Hof- 
rath It. G. Kiese wetter, Edler von Wiesenbrunn in "Wien hat 
sp liter in seiner ,,Geschichte der europaisch-abendliindischen oder unserer 
houtigon Musik" (Leipzig, Breitkopf und Hiirtel) ein umfassendes Lehr- 
bucli gogeben, worin das Material wohl geordnet und kritisch gesicltet 
aufgestellt ist, ausserdera in mehreren anderen Wcrken, so namentlich 
in seiner in dersolben Verlagshandlung erschieneneu Schrift: ,,Scliick- 
nale und BeschafTenheit dcs weltliehen Gesanges etc." einzelne Partien 
der Oescliichte der Musik ausfuhrlicher bebandclt. Urn dieselbe Zeit, 
rl. h. in den 4()cr Jahren, wnrdo von deni preussischen Gelieimrath 
0. von Winter fold in Berlin die grosse Epoche der deutschen Musik 
von Luther bis auf Sob.' Bach und H tin del in einem hochst griind- 
lichen, ausgezcichneten Werke behandclt, welchen unter do-in Titel: 
,,T)er ovangelisclie Kirchengesang" gleichfalls von der genannten Hand- 
lung veroffentliclit worden ist, naclidcm schon fruher in iihnlicher Weise 
die Qescbichto der vonotianischen Musikschulo von demselben Verfasser 
bearbeitet worden war. Eine vortreffliehe Monographie liber den, grossten 
italienisclion Tonseteer Q. P. da Palestrina hat der papstliche Ka- 
pellmeister G. Baini: ,,TJeber das Leben und die Werke des G. P. 
da Palestrina", deutsch von F. S. Kandler (Leipzig, Breitkopf und 
Hartel 1834), gegeben. Verdiensle, insbesondore was die Hulfsmittel 
xum Studium cler Musik betriift, erwarb sich auch der Leipziger Organist 
0. F, Becker: icli nenne beispielsweise nur seine Sclirift: ,,Die Ton- 
werke des 16. und 17. Jahrhunderts " (Leipzig, Fleischer 1847). In 
seiner ,,Geschiehte der Hausmusik" (Leipzig, Fest'sche Verlagsbuchh, 
1840) hat derselbo eiiien bis dahin ganz imbeachteten Gegenstand zum 
ersten Male bearbeitet. Eine geistvolle Zusammensfcellung, der erste 
Versuch einer pragmatischen Qeschichte unter hoheren, allgemeinen 
kunstgescliichtUchen GesichtHpuncten, findet sich in dor BiograpWe 
Mozart's von dem Uusson A, Ulibischeff, obschon dem Werke groSse 



Einseitigkeit und Befangenheit in Bossug auf olio neuoron "ErBohointmgen 
mm Vorwurf gemacht werden raiiHB. Elno AuBwahl von MuHikHtuokon 1 
aus den verschiedensten Epocheu nut kurxen Klrlfuitorungon hat V r. Itocli- 
litz In seinem grosseii Worker ,,Saimnlung voratglieher UoHangHHtftektf 
vom Ursprung gesotera&BsigGr Harmonic etc." (Mainx, Solicit) gogobon. 
Yortreffliches loisteto A. B Marx in cinxoliion Aufeiiteon und Hiograi>hlon 
in Schilling's ,,UniveraallQxikou dor Tonkunnt' 4 und an aiohroron andoren 
Orten. In seiner ,,Kunsfc den GoBangoH" hat dornolbe yiouilioh, xtiorHl 
den Versuch gemacht, das Chaos friilmr ungoordnoior VorHtollungon xu 
lichten mid in Be/vug auf oinigo Haupt]>uncto xinn Princ.i]) vov/tidriugon, 
Ich nenne ferner nnter Dencn, dio sioh Vordionnto crworbou habon, Howohl 
durch Schriften, wie (lurch HorauB^abo alter Workc: Dohu, (kuninor, 
Prosko, Frlir. vonTuchor. AuHgo/oichuotow mullich int naiHouLlioh 
in allerncuoster Zoit violfac.li goloistofc wordon. Unfco.r <1on dor Qiudlon- 
forschiuig angclidrigen W<u'kcn orwsilnio icli: A, Sclnuid'B HchviHt fibor 
Qluck: 3,OhriHtoph Wlllil)ald Kitfaa' von (Uuck. DOHHOU Lobcm und ton- 
Mnstlorisclios Wirko.n "(Lo.ip/Jg, Fbinchor 185^), In dionoiu Hucho int /tun 
ersten Male cine uaiifasscndo DarHttdlung don r rhatHru'.hlic-hoH 
so wenig daBsclhc aiu'h gcsnftgt, wan dan iiHlh(^.iH( 4 lu k . (Iriboil 
Ich nenno fernor in dioHoin KiiHaimnculjango Otto Jahn'H 'Work flbtvr 
Mozart, das von "Frhu"! ric.h Ohry Haiidor nbcir Ilsindol, dio iin ornluui 
Bando voiiie^ndo Jtiogruphio Hol>. Bach'n" von M K U(;a (Hftitnritljclio 
dreiWerkebelliroitkoprund Iliirtol), llaydu'H von (I I<\ Pohl (L Hand), 
C. M. v. Wcbor'H von Max Maria v, Wob<n , nowio dan Huc.lt <-. M 
v. Weber in Hoincn "Workcn" vou Jfihun, fc.nuu* dio Bio^'niphion 
Bcothovou'H von Nolil und Tluiyor, Franz Mohuborl'H von If, 
Kroisslo v, Hollboni, dioMonographio von 'Ilndhardt flbor dinOpor in 
Mfinchcn, von PfirHlouau fiber frfilioro Dn^dnor MuHikyjiHi.ando. A. 1{. 
Marx IwhancloltG in umfangroicJuMi Hnhriflion <! 1 nek nnddi( v . Opo.r", HOWIO 
Beethoven aln Tondichter, Kinigo Jjihro (VOIu^r vorollenllicJiio dorrtolbo 
Autor eine Schril't: ,,I)in Mtwik den 19, Jjihrhnnderi.H und Hire IMlegc,", die 
ebon fill IH hior atigefnhrt wnrdeii nniHH, uui, HO inehr, aln darin d(r 
(lor Kiehtnng, die ic.h binho-r vo.rlblgl; haJ)(\, iin "Wesonilic.hon I 
AxiHBordem hat donwlbo in Heino,n ,,Krinn( k <rung(^n", Mi(.th( i Jlnngeu UUH 
neinern Leben enttialtend, H<,itrag( i , xur ZeitgCrMchic.hi^ gelicdnrt (I<b<r- 
luiupt hat nich in den lotxttvu Jahron der IteichUuun der Public-atiioTinn 
nocli jnolir geHteigert. Kataloge, .Hriefw^'.Imol, xuin Thoil hoc-lml; dankenH 
wcrther Art, Hind violfach crsc.huinc.n* (<di hebe uut,or dienen thin M oy.arU 
Ivutalog von L. v. Kiic.hol, dit^ von dtunHc.lbon heraUHgo^^eiHui Brirtfo 
.11 oo fcli ov on's an d<vn tehorxog "Rudolph, und die von Ij. No hi vv- 



dffentlichten Briefe des genannten Meisters, sowie die zwei Bancle um- 
fassende Briefsammlung von Mendelssohn hervor. In Bezug auf geist- 
volle Auffassung und tiefes Verstandniss sincl B. "Wagner's gegenwartig 
in einer Gesammtausgabe (Leipzig, E. W. Fritzsch) vorliegenden Schriften, 
namentlich ,,0per und Drama", sowie F. Liszt's Aufsatze in der ,,Neuen 
Zeitschrift fur Musik" (in den Banclen 40, 4:1 und welter) von hochster Be- 
deutung geworden. Eine grosse Anzalil von Monographien, Ideineren Sclirif- 
ten uberliaupt fiber einzelne Tonsetzer oder einzeliie Eiclitungen der Ton- 
kunst ware schliesslich nocli anzufiiliren, wenn hier der Ort sein konnte, 
ein ganz speciolles Verzeichniss zu geben. Aucli die Gesehiclite der Musik 
selbst, als zusammenhangendes Gauzes, erMelt durcli das nmfangreiche, MB 
zum vierten Bande vorgeschrittene Werk von A. W. Ambros eine in lioliem 
Grade dankenswertlie Bereicherimg. Von grOsster Bedeutung ist ferner, was 
Eduarcl Sclielle in einzelneii Arbeiten, namentlicli fiber fruhere Zeit- 
abschnitte, in der ,,Nenen Zeitschrift fur Musik" niedergelegt liat, und 
luerbei ist nocli niclit einmal (lessen, was auslandiache, namentlich 
franz5sische Scliriffcsteller geleiatet liaben, gedacht. Allerdings sind aueh 
inungon aufgetancht, welche, ohne alien Beruf, und ohne naeli 
einer Soite, sei es nacli der der historischen Forscliung oder der 
'\vi6aenschaffclichen Betrachtung, Selbststandiges zu bieten, lediglich den 
gftustigen Moment zu benutzen und auszubeuten suchen. 

Sie entnelimen aus dicsen Angaben, wie die TMtigkoit auf dem 
Gebiote, welches 'wir zu durchlaufen haben, in neuerer Zeit mehr und 
niehr sich gesteigert hat. Bin ganz auHserordentlicher Eeiclithum des 
Stoffes ist hsroitB aufgespoichert. Viele Absclinitte der Gesohichte der 
Miinik sind in (let That beinahe chon erschopfoud und mit grosser Meister- 
Hchaft beliandolt, audero froilich erscheinen zur Zeit noch iminer ver- 
nachliisHigt. Naliirlich haben wir in dieser unserer gegenwartigen Dar- 
stellung von diesem Roichthum faat abzusehen. In dem engen Ralimen, 
in clen ich das Ganze zusammeniaBsen muss, wurde es eine Unmoglich- 
keit sein, denwdbeii zu bewaltigen. Uns kommt es darauf an, in leiclit- 
fassliclier, mogliclist ftbersichtlicher Darstellung einen Blick auf das 
Ganze der Ent wick lung zu eroffnen, don Strom der Brscheinungen, 
die gogensoitigc Beziehung sowie die Aufeinanderf^a^e der- 
H el ben, den ZuHammeuhang clarin vor Augen zu stellen. Auch 
gescliielit es leioht, daas )>oi der Vortiefung in einen hesondoron Gegen- 
stand von Seiten der Aufcoren gowisse subjective Sympathien und An- 
tipathien sich erzeugen, welche vor oinor imifasHendenJBetrachtung nicht 
Stich halten. Solcher Binseitigkeit gegenftber muss es unser Bestroben 
jcin, mit frciem Blick das G esammtgebiot zu beherrschen, 



6 

mit Unbefangeuheit clcn Worth auch des VerBchiodenartigsten abzuwfigon, 
urn auf diese Weiso uns zu einer moglichst allgomoingtiltigon Anachau- 
ungsweise zu erhoben* Tin ongston Zusammenhango fernov mit diesor 
Aufgabe, mit einer zu gowinnonden uinfassonden Uobersicht tibor 
den Gang der Erscheinungen steht die andero: cine tioforo Einniclit 
in die innere Gesetzmassigkeit zu gewinnen, in Bozug auf das 
Ganze des Stoffs zum Princip vorzudringon. Die Geachickto dor 
Kunst ist melir ais nur ein hunter Wochsel zufalligor PoraOnlichkeifcon 
und Brscheinungen. Auf die Erfassung dioser tiofor liegondon Gcsctz- 
massigkcit kommt GB daher weitorhin kauptaiichlich an, und dies inn BO 
mehr, als diese Aufgabe im Qanzen nur erst Bolten gostollt mid oino 
L5sung derselben vcrsucht worclen ist. Tlir wcrdon wir daher cine 
besondere Aufmerksanikeit zu widmcn hal)on. Eino solcho Hotrachtxmg 
ist zugleich die Grundlago fiir je<le liOhcro Kritik, gooignot, oino objec- 
tive Wflrdigung der vcrscbicdoncn KunstorHchoinungon, an dor OB mr 
Zeit noch so sehr felilt, anzuhahneiu KB ist fornor au<un Zwo<jk, die 
Tonkunst in ihren Bossiohuiigon zur allgomoinou gointigon Knl- 
wicklung erkennen zu lasson, ihren ZiiHanmionhang init don a^8%- 
meinon, welthowegendon Miichteu, Boweit dicB gogenwi'lrtig, Im ^ k 
fast ganzliclien Mangel tiller Vorarbeilen, nioglich, darzuthmu W( 'fin 
ich endlich den tiefon goiyiigon Inhalt, dor in den "Worken 
grosson Tonmcislor zur ErHclioinuug gokommou int, 
bemiilit bin, rosultirt diiraus die WoltaiiBcluuiung dor 
Kunstlor und ihror Kpochen. Wir habon auf dioso WOJHO, wio ich 
glaube, ek oigontlifimlicJios Gobiot abgogronzt, innorhalb d(^HHO)i wir unn 
bewegen. werdon. Daboi soil moino DarBtellung die Looturo jonor vor- 
hin genannton Sclirifton kcinonwogs Qborflilsaig inachon, im Gogcniihoi! 
zu donselben und zu ein or aiiBftihrlichoren Boschftftigung daiuit hitiloitcn. 
Was darin hin und wiodor EiriscitigOH vorkonmit, wordon Wio, vorhoroiliot 
durch das hi or Gogebono, clnnn mit groHBeror Hicliorlioit Jjourthoilou 
konnen, und pclilicaHlich an Hoinon Ort zu Htollon wiwaon. Am ntiof- 
mtitterlichsten ist binher iitmier die Nouzoit bohandolt wordon. Sio 
isl dalier auch voraigweiso zu botonon und tuu aim fill uliclmton m bo- 
handeln. EB gilt dio GoHihtH]mncto fiir ErfuBBiuig dcrnolbon uufeulindon, 
es gilt die Gegenwart zu bogroifon, inn don groHBen Hohritt mr nMwim 
Kunatstufo vomiberoiton, OH wircl nofcliwendig, Abroohnung mit dor Vor- 
gangonhoit m halton, urn Hodanu mit nm BO gTfiBBOror Bontimmthoit dor 
Zukunft cntgogontroton zu konnen: allos dioB frei YOU jodwodor Pavfcoi- 
lichkeit, yon allor Voroingonommouhoit, Wor dio OoBchiclito o 
behandoln will, BIUBH lib or don Partoion Htohon, 



Ich kann micli nach diesen einleitenden Bemerkungen sogleich zur 
Sacho selbst wenden, und gebe Ilinen in der heutigen und in der 
nachsten Vorlesung einen Ueberhlick fiber die Vorgeschichte unserer 
Kunst im Mittelaltcr bis zur Zeit des hohern Aufschwunges derselben 
im 16. Jahrhunclert. Ich beschranke micli hier auf das Nothwendigste ; 
es ist eine kurze Uebersicht der Hauptpuncte, die ich Ihneri gebe. 
Kiese wetter bat gerade diesen Absclmitt In seiueni Geschichtsabriss 
selir ausfiihrlich dargestellt, so dass derselbe in seiner Selirift fast die 
grossere Halfte dersolben einnimmt. Diesein Autor folge ich hier in 
meiner Erzahlung. Allerdings hat Schelle in den vorhin bereits er- 
walmten Artikeln gegen viele der bisher ublichen Ansichten und somit 
auch gegen die von Kiosewetter mitgetheilten Ilesultate seiner Forsch- 
ungen Einsprueli erhoben und bezeichnet gar Manclios als vollig unzu- 
lassig. Schelle hat indess noch keine ausfiihrliclic selbststSndige Dar- 
stellung aller dieser Vorgange, aus dor es moglich wiirde, eine zusammen- 
hangende Mittheilung zu entlehnen, gegeben, mid ich werde mich daher 
darauf beschranken, an den botreffenden Stollen auf dessen abweichende 
Auffassung hinztfweisen. 

Es war eine weit verbrcifceto, ticf eingewurzelte Meinung, dass 
unsero heutige Musik aus der der alien Griechen entsprungen, gewisser- 
maassen nur eine Portsetzung derselben sei, und die SchriftsteHor sprachen 
deslialb auch hiiufig von einem Wiodoraufleben der giiccMschen Musik 
im Mittolaltor. Ki eg e wetter, in seineni zucrsb genaunten Worke, ist 
dieser Ansicht mit Bestimmtlieit entgcgengotreten, indein er zu Anfang 
clesselben sagt: Allerdings gab es eine Zeit, in wekher die christliche 
Musik cles europaischen Occidents sich bei jener RathB erholte und 
lange sehr lange wurden die AusHprficlie der griechischen Sclnift- 
steller als die Quelle aller nmsikalischen Theorie angesehen: die Wahr- 
heit aber ist, class die neue Musik nur in dem Maasse gedieh, als sie 
sich von den ihr aufgedrungenen griechischen Systemen zu entfernen 
anting, und dass sie einen bedeutenden Grad von Vollkommenheit erst 
dann erreichte, als es ihr gelang, sich auch noch der letzten Ueber- 
bleibsel altgriechischer Musik vollends m entledigen. Mit dieser hatte 
sie schon sehr lange, ich mochte sagen von joher, kaum mehr als das 
SubHtrat Ton und Klang geniein. Aus der altgriechischen Musik 
ware, wenn Alt-Hellas ungestort noch durch zwei Jahrtausende fort- 
geblflht hatte, eine Musik, dor unsrigen ahnlich, nimniermehr hervorge- 
gangen; in den Systemen, in welch en sie dort durch die Autoritat seiner 
"Weltweisen, durch das Herkommon, ja selbst durch burgerliche Gesetze, 
im eigentliclmten Sinne festgebannt war, lag das unfibersteiglicho Hinder- 



8 

niss Hires Wachsthums. Sollte die schone Kunst der T5ne sicb dereinst 
noch zu jener Vollkommenheit entfalten, doren Keira wol tiberall in 
ihr lag, so musste sic dort untorgehen , und andorwarts, oin anderes 
Wesen , neu geboren werclen. Die altgriocliische Musik starb in Hirer 
Kindbeit; ein liebenswiirdiges Kind, abet unfahig je mr Eeife zu ge- 
langen. Fin* die MenscKheit war ihr Untergang Item Verlust". Durch 
die hier ausgesprocliene Ansicht ist fur imscre Bolraclilxing ein bcstim niter 
Anfangspunet gegebon; wir bcschaftigen HUB liior mil der Goschiohto 
der christlichen Musik, in doin doppcllcn Sinno, dans nicht blon die 
Tonkunst der v o r christlichen , sondern auch die der apatcron nicb L- 
christlichen Volkcr ausgeschlosson ist. Was die lotztoren botrifl'fc, HO 
konnen, wie natflrlicli, die Leistungon dioscr auch idcht ontfcrul in 
Vergleich kommen rait der holien Vollendung der diristlicheai KuiiHfc; 
hier allein erscheint die Tonkunst zur Wuvde cfiuior walirluiflon Kuiwt 
entwickelt. Die gliicklich begabton, fcinon, scbarfwiniigou Griochcn abor 
besassen zwar oino sohr ausgobildete Munik; nicbt Ungoschiok, TalcnL- 
losigkeit waren die Ursaclie dor gcringon Erlblge; die Munik indoHH 
befaiid sich dort in einein Bodcn, (lev uberhaupt niclit fur nio d(u* go- 
eignete war. Die Tonkunst ist die Kunst des Gomfiklw, BIO Hpriolil aln 
solche die innersten Tiofen dor Scele aim; die inn ere Welt int abor orwl; 
durch clas Gliristenthum crwchloHsen worden. Bei den Griechon witr dor 
Sinn nach ausen gowendot, das Plastoclio vorliorrHclioml. Anch die 
gesammto Sussere Heschaflonlioit ilirer Muaik war oino durchaiw vc.r- 
schiedene, Meloclie und Hanuonie in tmsorom Sinno den Gruwhon gfuizlioh 
unbekannt. Das ChriHtonthum und dio Folgon dosnolbon vcvmichtotou 
daher mit Rechfc die griochiychon TonwoiBon tuid die griecluHclio Thoorio, 
obschon erst nacli langon, muliBoligon Katnpfoii, nach vitdlaltigen, oft 
wiederholton Versuchen und erst naclulem ein Jahrtaunend hintlurch die 
griechische Musik dan Aufkeimen dor chriatliclion ot'tmalH orndiwort und 
gehemmt liatte. EB ist dies dio Kinwirlning don Giw.IuHchon auf 
das Christlicho oin bemorkoimwortlior UmBtand, obschon or hior noch 
nicht in seiner ganzon Bodoutmig hervortritt. Ich inaclie jotxt im Vor- 
ubergehen auf dieso EvHcheiuung nur aufinorkHam, indoin ib Hpiitor nsihor 
darauf zurfickkomnion mum. 

Die neue Musik, weam man aio in ihron orHton Anfangon Hclion HO 
nennon will, war unboa<j]itot in niodovon Hutdon, ja in, verborgenen Ildhlon 
ontstanden. Ki OHO wet tor orylihlt, wio in don Vovsaxmnlungon dor 
ersten (Jhristen, meint armor, schlichlior, mit dor nohr schwiorigou Thoorio 
dor griechisclion Musik gam rabokanntor Leuto, oin liBcliHt oiirfachor, 
kunst- und rdgollosor Naturgonang ontntandon soi, dor oiusthmnig, tactlon, 



die BewegiiDg nur yon der Lange und Kfirze cler Textsylben entnehmend, 
allmahlich gewisse Accente, gewisse Betonimgen fur die Datier erhalten 
imd in dieser Qestalt clurch ofteres Anhoren in den Gemeinden sieh fest- 
gestellt mid fortgepflanzt babe. 

Bei ganzlichein Mangel einer Regel jedoch musste in dein Maasse, 
als die Gemeinden zahlreicher wurden, die nothige Gleichheit und Ueber- 
einstiiumung in den Melodien immer schwieriger uncl endlich umnoglich 
warden. Im 4. Jahrlmndert, als schon Kirchsprengel nnd Oberliirten 
entstaiiden waron, nnd Manner von wissenschaftliehor Bildung das 
Christeiithum angenommen liatten, imternahmen es daber einige gelehrte 
Bischoie, den Gesang zu ordncn und festzustellen. Dies konnte nur 
inittclst einer gcregelten Tonleiter bewerkstelligt werdeu. Es war 
natfirlich, dass man in deni Nachlasse der griechiselien, damals bekann- 
ten musikalischen Scliriftsteller Eath suchte. Man fand Mer eine sebr 
schwicrige, kunstvoll ausgebildete Theorie, nnendlicb Yieles, was man 
niclit gebraucbcn konnte mid womit man Nicbts anznfangen wusste, 
Totireihcn, die das schr getibte Ohr kainn am Monochord erkennt und 
die die nioiiscblic.be Stinmio bei aller Uebnng nicbt vernebmlich an- 
geben kann u. s. w. Man fand aber auch bier und da Anfange, von 
denen sich mit Aenderungen Biuiges gobrauchen und zur Feststellung 
einos so ciiifaclioii Gesanges, wie der cliristlicho war, in Anwendung 
bringou lions. 

Der lioilige Am^roshis ist es, dor unter dieson Verbesserern des 
KircbcngeHanges zuerst und mifc besonderer Anerkcnnung erwahnt wird. 
Goboren im Jabre 33H, studirte A nib rosins zu Rom, zeiclinete sich 
dorfc yanuiclist als Redncr uncl Pbilosopb aus, wurde sod aim 369 zum 
Statihalter fiber inebrcrc Provinzen crimmit und ondliob im Jabre 374 
einHtinmdg, aber so sebr gogen seinen Willon, class er an fangs mebrere 
Orausamkeiten beging, um die Leuie von der Walil abzubalten, zum 
Biscbof von Mailand erwablt. Dein regen Eifer dieses Mamies, der 
Tluifcigkeit, die clerselbe, als er einmal die Bischofswiirde angenommen 
hatle, bald enifalteie, verdankt die Kircbe, verdankt die Tonkunst die 
naclibaltigsfce Forderung. A m b r o s i u s war es numlieli, der dem Kirch en- 
gosang eine festo lonale Gmndlage gab, indem er 4 Tonreihoii auswiililte, 
denen or rait Beseitigung der scbwerfiilligen grieclnselien Namen die Be- 
zeicbnung des 1., 2., 3. und 4. Tones gab. Es warcn dies die Ton- 
reihen : cl o f g a b c d e f g a b c d o f g ab c d o f gab c d e f g. Auf diese 
begriinclete sich von nun an der Kircbengesang. 

Ambrosias war en sodann, der jene Melodien, wolcbo sicb bei 
clen gofctcsdienstliolien Ucbungen der ersten Christen gebildet batten, 



diese aus der ersten Gluth der Bogeisterung . hervorgegangenen und 
nocli von Neueren hochgeriilimten Gesiinge regelto und so zu ihrer Er- 
lialtung wesenttich beitrug. Zum Beweisc, wie sehr die Verbesserungon 
dieses Mamies die damalige Zeit liberraschen mochten, fuhre icli cine 
Stelle aus den Bekenntnissen des lieil. Augustinus an: ,,Die Stimmen", 
sagt dieser, als er in der Kirch e zu Mailand jeno Gesango zuerst ver- 
nommen hatte, ? ,flossen in moino Ohren, Wahrheit wurde in mein Herz 
getraufelt, und das Gefuhl der Andacht stromte in slissen Thranen der 
Freude liber". Es sind dies Worto, die nur ein Soldier spriclit, den 
ein bis daliin nlclit Gekanntes tiberwaltigt und die innersten Tiofcn der 
Seele erschiittert. Ambrosias' Bestimmungeii famlen iiberall die boroit- 
willigste Aufnahme, und es war auf diese Woiso aclion ein widltigcr 
Schritt zur Bildung, z\\r Foststellung dor neuon Musik gesclielien. 

Dem heiligen Gregor dom Cfrosscn, der in den Jiihren 590 bis 
604 die clristliclic Kirch e regierfcc, war es vorl>c]iaiton , auf diosor 
Grundlago foi'tzubauen und das eigcntlicho Fundament fur dan ganxe 
spiltere Gebaudo zu legcn. Greg or sammelte die bereits vorliandenen 
Melodion, vorbessorte diesclbon, vonnohrte sie durcli nouo uncl ftihrte 
das auf diese Wciso Gowonnono in der ganzon cliristlidien Kirclie ein, 
als cine Norm, von der nioht abgewiohen werden durfto. Ein Exem- 
plar dieses Mclodien-BucIiGS wurde an dcm Altar 8i Peter's in Horn 
nieclergelegt und mit einer Kette befestigt, um im Jjaulo der Zoiton 
cntsteliondc Abwciclmngen nach demselben zu bericlitigen. Er be'hielt 
fcrncr die borcits vorliandenen ambrosianiHclien vior Kirliontono bci, 
fttgte abor dionon noch vior none, von dor Ihiterquarto oiner jotkm der 
vorliandenen aungolionilo Tonroilicu liinxiu, die Touroilion alitulofga 
hcdofgah cdofguhc dofgahcd. Dioso lotsstoron warden, 
dies boilfiutig erwiilmt, die plagaliscliou genannt, mm UntorHchiodo von 
den altoren, welclie den Namon dor autlionLisoliou orhiolton. Der Untcr- 
sclucd diesor Tonreilion von unworn lumtigon Tonloitnm npringt noglnicAi 
in die Augon : wahrend die unsrigeu molitw welter Bind aln TranB- 
positionon einer und dornolbon Tonart, warori jcmo S(JbsiHtan(Ug(i Oottwon- 
gattimgen, in doron jeder dor lialbe Ton cine andoro Sii(^llo ohnialan. 
Das von A ml) ro si UN JJogonno.no war HO zur cvnton Hfcufo dor Vollcm- 
dung gebraclit uncl dadurdi dor ernto bodoutciido ftruud fur die Hpiltoro 
Tonkunst gelegt. Er war m ondlich, der an. dio Sttdlo der 
ordontlich RclmorfS.lligon griccliischon Benomiuugon die ernten 
des latoiniBchon Alphabets als Namen der T5no setzte. Allon dieR abor 
war, nacli Kiosewetter's Bemerkung, nclion im UrBprungo melir, als 
dio in ihro Systeme oingozwfington (Jrioohon jomals kauutou odor nur 



11 

ahnten. Im Vorubergehen sei erwahnt, wie der Umstand, dass Gregor 
cliese Buchstaben an die Stelle der fruheren Namen setzte, nicM auf die 
Vermuthung bringen darf, als ob er auch schon eine, wenn auch unvoll- 
standige Kenntniss unserer Notirungsweise besessen habe, denn dies war 
keineswegs der Fall. Die letztere ist, wie ich nachher noch erwahnen 
werde, eine viel spatere Erfindung, imd kein Schriftsteller vor dem 
14. Jahrhundert hat von derselben Gebrauch. gemacht*)/ 

Nach diesen bedeutenden Anfangen hfitte nun wohl ein unmittel- 
barer Fortgang stattfinden konnen. Doch das sollte erst nacii Jahrhun- 
derten goschehen. Die Unbilden der spateren Zeit bracMen Qregor's 
System bald in Verfall und in Yergessenlieit , seine Gesange selbst 
waren in Qefahr, vollig auszuarten und verloren zu gehen. Unter die- 
sen Umstanclen nalimen sich einige gelelirte Geistliche des verfallenen 
Kirchengesanges an, aber ilir Unstern wollte, dass sie, statt der von 
Gregor gebroclienen Balm m folgen, von der Autoritat Qriechenlands 
nicht loszukommen vennochten, dort Vorbild und Eegel suchton und 
dcmgemass, statt das Neue zu fordern, es nur in seiner Fortbildung 
hemmten. Glficklicher Woise incless gelang es ihnen niclit, ihron Be- 
strebungen den Sieg zu verschaffen ; die widerstrebenden Elcmente des 
chriatlichon Glaubens und der cliristlichen Musik waren doch zu sehr 
ausgobreitet und y,u tief cingcdrungen, als dass melrr denn blosso lang- 
jalirige Hommung das Kesultat ilires Strebens liatte sein konnen. Ins- 
bosondore aber, als Karl der Gross e, oinkehrend in sicli selbst und 
sich abwondend von den Zerstreuungen des Kriogslebens, dein Gottes- 
dionat, der Kunst und Wissenscliaft seine Auflnerksamkeit zuwendete, 
orblickon wir aucli den Kircliengesang wiedcr gehoben und wesentlicli 
go.fordert. Vorzugsweise war das Interesse des Genannten von Einfluss, 
als nun auch in den (ibrigen Landorn seiner Herrscliaft durch ihn kriiF- 
tige Anrogungon gegjoben wurden. 

Mit fliorten Bemerkungen kann ich die erste Epocbe der Gcschiclite 
unserer Musik, die Zeit der ersten Entstehung und Bogrundung der- 
selbon, boschlioRson. Der Grand fur das spatere Gebaude war durch 



*) Sohollo (Band CO dor Neucn Zeitsclirift fur Musik, Jalirgan^ 1864, Nr. 
J() 7 S. 78) bcsireitet die obe-n angefiihrten Verdionste dieser Manner. Er sagi \i. A,, 
dans nock nicht einmal im 8. Jahrhundert eine systematischo Schoidung^der authen- 
tisohcn und plagalisclxen Tonarien bcstanden habe. Im wcitoren Verlaufo crklart 
er, dass es falscli sei, die Melodic als cine Erfindung 1 der neucren Kunstperiode 
hinzusiollon, und sidi von dor altcsten Melodic die ,,al)Rurdo Vorstellurig ZM ma- 
ohon, dass sie nur eine syllabische G-osangsweisc, ein unorganiRches Couglomerat 
von gleioharligen Not en nach Art des (Jantits firmus" gewesen sei. 



Ambrosius und Greg or golegt warden. Dies ist im Auge zu be- 
halten ; dies ist das Wesentlicho. Wir treten unserem Gegenstando jetzt 
schon naher, Indem wir die Versudie, welche in den Jalirlnmdorten des 
Mittelalters gemacht wurdon, bofcrachton, 

Icli erwabnte vorliin, wie ein wesenfclicher Mangel dor grieobiscben 
Muaik in clem Mangel der Harmonie beslandon babe ; das Eigontbumlicbe, 
Charakteristische der modernen Musik selion wir darum xuerst da bo- 
stirnmter hervortroten, wo wir den erston Antangeu dor spatoron Har- 
raonie begegnen. Die ersten harmoniscben Venmche, sowie die woilo- 
ron Fortseliritte darin sind es claber zuniicbtst, auf die icli Hire Aufmork- 
sanikoit lenke. 

Ueber die ersten Anfaiige der Farm oirie im iViibou Mil to! alter, bemorkt 
Kiesew otter, bat ew von jeber vorydhioclono M(unung(^n und Hagen 
gegeben, so claHS es schwer ist, bicrilber etwas ganx Hi^tiinnitoB fostzu- 
stellen. Der erste Vernuch, wio es nohoint, oiner Hannonio, oinor Vor- 
bindung melircror gleicbzeitig auf vonscbiodonon Tonnliiifcn erklingender 
Stimmen, zoigt sicb in oiner von dem Moncb llucbtildus, auc.li Ucbu- 
bald, Hub aid genannt, liintoiiassenen Sclirift. Dieser war ein sebr 
gelohrter Moneli aua Mantlern, welchor niicli einein iii tlultigcn* Bearbei- 
tung der musikalinclion Tbeorie verbraclifctm Leben in H(dir lioliera AUor 
im Jalire 930 gestorbeu ist. Hue bald scheint die MebrKfeunndgkoit, 
da er von ihr als von oinor bekauuton Sadie s]ricbt, nicht Holbwl. orliinden, 
sondern riur y.uorst tbeoretiscb begrundet m luibou. Kr niimnt in seinem 
Tractat das griediiscbe HjKtcin xinn AusgangHpunc.t. Die (iileeben kanuton 
nur den emstinnnigon Uc^aug und die Bogleitung (lossc^llx'.n dundi die 
Octave. DioMO, sowio dio Quinte und (iuarie< gallon ilinon Mmi als 
Consonanxen, wjibrend m\ die Torx und Sexto, dio *IIauj)tl)(^tandtbeile 
unserer consonirenden Acoordo, Itlr diBsojurotul liiolton, und dor niatbe- 
inatischen (Construction ibrer Tonloitor gtnnass fijr disHoniro.ud, lialten 
musston. Diese ItoHtinmiungtui (iborlragt nun Hue bald auok auf die 
Vorbindtmg niebrerc.r TOIHJ m ffloiobxoiUgoni Krklingon und omplioblt 
demnacb das Fortscbreiten />W(dor odor iiwliro.iw Ktininion in (lotjBonanxon, 
Er boxoiclinot eine, Holclio Vorlnndung von Stimmen mil dom Naiuon 
,,()rganurn", d< j ,r dann Jiudi spater tU,r gowobnliobo und iK^rrscjhondc- wunlo. 
Zwei Arbon den Organuui sind OH, wtdcbo Hucbald orkliirt. Dio m-Hto 
Art bostolit in der Vorbindung oiner llauptstimmo niit yswoi odor molir 
andoren Stmtmon, die mil diosoa* in liuiuton odor Quarton und Oetavou 
cinhorgobciL Hoi dr xwoifcon Art sotzt or fiber ciuo Vrinci])alHthnnie 
KwiHchon (iouHouanssou auch andcrc nicbt consouirondo Intorvallo, dio ^Q 
und die von ilun fur dissoniroml goluiltcno Torz in versolnedoner 



_ 13 . 

Dies sind die ersten Versuclie, einer gleiehzeitigon Verbindung 
von Tonen, das erste Wagniss einer Harmonie. Die Hauptsache 
ist, dass dasselbe unternommen wurde; die Versuche selbst sind noch 
ganz roh. 

Urn eine jetzt ganz unbedeutend scheinende Erfindung zu machen, 
mussten im Mittelalter Jahrhunderte voriibergehen. Es lag dies in den 
bekannten Verhaltnissen desselben, deren ich hier nicht weiter zu ge- 
denken nothig habe. Die meisten Erfindungen blieben auf die Orto 
ibrer Entstehung, auf die Bloater, beseliriinkt und mussten claher wieder-* 
holt gemacht werden. Erst im 11. Jahrhundert tritt uris wieder eine 
Erscheinung entgegen, welche naheie Aufmerksamkeit in Anspruch 
nimmt. Bin Benedictiner - Mimeh aus dem Hosier zu Pomposa in der 
Nahe'von Ravenna und Perrara war es, Guido von Arezzo, urns 
Jahr 1020 lebend, welcher in diesem Jahrhundert die Tonkunst wesent- 
lich fonlerte und einen so grossen Kuf erlangte, dass noch jetzt sein 
Name unter denen der Musikor des Mttelalters der bekannteste, oder 
vielinehr unter den Musikfreunden einzig gekannte ist. Guido sail ein, 
wie wenig durch den vor und zu seiner Zeit tiblichen Unterricht ge- 
leistet werden kdnne, und wendete desbalb seine Sorgfalt vorzuglich auf 
Verbesaerung des Praktisclien. Eine vemflnftige praktiselic Lehr- 
methode aufznstellen , war sein Hauptbostreben. Er war so glucklich, 
mehreres seino'n Wunschen Entsprechcndo zu ersinnon. Seine Erfolge 
erregten in seiner nachsten Umgebung einiges-Aufeehon, so dass er, ver- 
leumdot , auf Befelil des Oberen das Kloster verlassen und sicli einige 
Zeit in der Premde umhertreiben musste. T he o da Id, Bischof von 
Arozzo, nahm ilm endlieh bei sich auf, und unter dessen Schutze setzte 
er seine Bestrebungen fort. Sein Kuf verbreitete sicli , drang zu dem 
damaligon Papst Johann XIX., der ilm zu sicli kommen liess und leb- 
haft aufmunterte. Spitter kelirte er in sein Bloater zuriick, da der Obere 
desselben sein fruheres Benehmen schon Ifuigst bereut hatte. Guide's 
groHstes und wosontiichstes Vertlienst beatand in der Verbesserang und 
zweckmiissigereu Anordnung der Tonschrift. Er kennt zwar noch keines- 
wegH die spatcre Notenschrift ; schon vorliin erwahnte ich, dass diene 
eine weit spfttdre Erfindung sei. Die frfihere Notirungsweise , die nota 
romuua, die sogenannten Neumen, beatauden in kleinen Puiicton, Hat- 
chen, Strichelchen in verscliiedenen Richtungen, Gestalten und Farbon, 
welche, fiber den Text gesetxt, dem Sanger durch ihre Stellung die Ton- 
bohe versinnlichten, auch ganzo Tongruppen bezeiclmeten, nur dass 
man, urn etwaB melir Ordnung in solclie Bezeiehnung zu bringen, spa- 
ter eine, auch zwei Linien quer fiber den Text zog. Guido nahm 



__ 14 

seinen Ausgangspu.net davon, fugto aber don vorgefundonon frulier iib~ 
lichen zwei Linicn noch zwei audere bei, und lelirte nicht allein die 
Linien, sondern auch die Zwischenraume benutzen, so dans er dadurch 
der spateren Tonsclirift wesentlicli vorgearbeitet hat. Wie durcli 
Hucbald der erste Anstoss zurHarraonie gegeben wurcle, HO sohen wir 
liier einen zweiten FortBchritt angebalint, eine besBere Notirungsweise, 
die fur die fortschreitende Kunst ein wesentliches ErfordorniBB war, mid 
es offonbart sich uns schon liier, indom wir solien, wio ein Stein nach 
1 dem anderen xu rtem grossen Qebrmdo lieraugel)racht \vird, jenc Qosote- 
mSLssigkeit des Ganges, jene innorc Nothwondigkcit dor Eniwicklung, 
von "wolclicr die gosammle naclifolgonde Zoit ein innuer HprcchcnderoB 
Zcugniss ablegt^ Ein so wilstes Durchoinandor ])ohn oratoii Bluik jene 
Bestrobungon des Mittclaliors xoigon, so entdockon wir bei niilioi'or Bo- 
trachtung tloch bald die Idee, wolclic das Zonstrouto v( v /rknfi])rt, die Tdoe, 
welch e alle diewe Erychoiimiigtin Jiervornift, und dion int das Intora- 
nante bei dieBOii xuniiohst minder iuto.remnten gH(*ihic.hf;)ichoji Thtit- 
sachen. Wir go-walirun ein ntctcH, nnablitaHigos Ringen, und wenn wir 
die Seliwierigkeiten bodenkon, mit den on did Tonkunst jinohr aln die 
anderon Kdihsto xu kami>ien luilte, indom sic ilir Vorbild wcdov in der 
Natur noch in groHHcn Mnstern deB Altertlnmis (and, HO (vraclioint UIIB 
die beiiu mim Blick niiihaoligc und langHiuno EnLwickluiifj; in der That 
rasch und cufol^reiclh - Waa fluido'n LtUHtungen hn HanuoniHchen 
betufl't, BO hat or darin buno Forkcliritte g<,nuuiht. EH lindot Hich bei 
Him genau dannelbe wieder wio bo.i Hucbald, obsdhon r <IoHH<m Hc.Iirif- 
ten niclit gokannt zu liabon acheint. Audi (,r nuwiht s<mi(^ Siitxe durch 
Vcrdoppelung drei- und vierntinunig; wir haben dioHclbon Folgen von 
(iuarteu und Quintan in govador Bewegung\ .Btulautig noi crwalint, dtiHH 
er die bekanntcu boim Oeaange ilblichon Nainen: nt, w, vd, ot. zuorHt 
angewendet hat, indom er die AnfiingHHylbon einer lateiniBchon Otlo anf 
den heiligon Job a nn en daxu wahlte. Nodi ruehroro ando.ro PJrfmdun- 
gen werden ihm zngoschviobon, doch iwt OB walirH<'.h(iinH<ih , dann die- 
selbon erst von semen Selmlern und Nachfolgorn ill in. boigologt worden 
Bind, loh Libcrgehc dionolbon iiln nichfc hierher gclK'irig, urn, HO niohr, 
als in Kteo Bich doch kaum ein doutiiclum Bild von cT^nsolbon wiirdo 
geben lasaen. 

Kino Erweiterung dor Lehre von der Mannouio brachte orst, init 
noch inehreren wichtigon Entdeckungen , dan 12. Jahi'lmndort, o))Bhon 
KTahoros hi( k ,rfiber xur Zeit noch nicht bokannt int. Bio LftiHtungou doB 
folgenden Jahrhnndovts abor xoigon, daBB man in dioswn Zoitabsclmitfc 
( 4 inen wiohiigen Porfadiritfc m Stando gobracht habcn mum* KB mfls- 



" 15 

sen damals scbon gliickliehere Versuche iu der Harmonie, ja sclion in 
ctwas mannigfaltigeren , zusammengesetzten Tonverbindungen gemaeht 
worden sein; auf dem Wege praktischer Untersuchungen musste man 
bald dahinter kommen, class die von den Grieclien als Dissonanzen ver- 
rufenen grossen und kleinen Terzen, grossen und kleinen Sexten durch- 
aus nichts Widriges besassen; es muss in dieses Jahrliundert die Erfin- 
dung und ersto Ausbildung der Note fallen, es muss endlich die.Ein- 
theilung der Noten Linsiclitlicli ihrer Zeitdauer, damals Mensnr genannt, 
orfundon wordeu sein. Was das Letztere betrifft, so leuchtet ein, dass 
mit niannigfaltigcren ' Tonverbindungen die NothwendigkSw, Noten vor- 
schiedoner flcltuiig zu besitzen, gegeben war. Eigentlichen Tact liatte 
man nioht; man mans die Noten der Pigur naeli (lurch bestandiges 
Zalilen. 

Diese Erfindungen zu pflegen und zur Reife zu bringen, war nun- 
melu- die Aufgabc ties nachfolgondeu, dcs 13. .lahrhuuderts. Es traten 
jeizt bedeutende Lelirer auf, welclie im Stande waron, schon eine etwas 
siusgcarbeiieto Theorie aufeustellen. Einer dieaer Manner, von welchem 
jiucli (dne Schrift auf ims gekommen ist, war Franco von Koln^ in 
den ersten Jahrzelinteu des 13. Jalirlmnderts, der scliou vollkcmmione, 
unvollkommeno uud mittlere Consonanxen unterschoidet, sowie vollkom- 
mene uud unvollkommene DisBOuaiizen. Was Fraiikreieli betriil't, BO 
beweinen die aua dem 12. und 13. Jabrbuudert mis lil)eiiieferten mehr- 
Htimmigeii Toiwatze, dass man aucli dort einen Anfang im Harmoiiiechen 
gcmaclit liatte. In England erblicken wir ebenfalls verwaudto BestroLungen. 
ftegon Ende dcs 13. uud m Aiifang des 14. Jalniiuuderts begegneu uns 
zwei ScIuiftHttiller, welclio grosse Portschritto bcwirkt, niclit nur die 
Lohre von der Monsur weitnr atisgebildet, sondern aucli, was Harmonie 
botvifft, zuerst befriedigende Itcgeln g( j .geben baben, Eegeln von soldier 
UoBchaffonho.it, dass nach denselben, aueli nach unsern heutigen Be- 
griffon , zuni ersten Male reine Accordo und reine Harmoniefolgon 
gobildot wcrden konnten. Zurn ersten Male erscheint jefczt das 
Oesetz, dass zwei vollkommene Consonanzen , Quinten und Octaven, 
niclit in gerader Bewegung auf einander folgeu sollen; mm ersten Male 
erkennt man sclion etwas genauer das Wesen der Dissonanzen und die 
Notbwendigkeit, dieselben in die nachstfolgende Consonant aufzulosen. 
Marcliettus von Padua und Jolamies de Mnrls, ein franxSsischer 
Geistlicher lind Dr. der Sorbonne m Paris, sirid die Manner, denen diese 
Portsdiritte auf theoretischem Gebiete zu danken, wennschon hiBsichtiidi 
der praktischen Anwendung ihrer Gnmdsatze immer noch viel zu wfinschen 
iibrig blieb. 



H6 

Das bi&her Erwahnte betrifft insbesondere die oino Hauptscito dor 
Musik, die Harmonie, mid doren allrnaliliclic Ausbildung ; andors ver- 
hielt es sich mit dem zwoiton, wiehtigsten Bestandtlieile, dor Molodie. 
Walirend. die erstere Gegonstand cler sorgfiiltigsten Iforsclmng war und 
insbesondore von den Gelehrten, den Goistlichen , cultivirt wurde, or- 
blicken TO die letztere vernachlassigt und in ilirem lieclite durchaus 
niclit anerkannt, so dass sie nur als etwas Beilfiufiges und Untergeorcl- 
netes nebenher gelit. \ Gehort die Harmonie in den Kreis der Rclmlc, 
so wurde die Molodie clem Lobon, und ihre Ausbildung dem naturliclien 
Gefulil der fiberlassen. j Bomerkonswortli ist indoss, class man, 

nach. einor " Bemerkung v. "Wint erf eld's, auf diesem vernadiliiSHigten 
Gebiete fniher m befriedigeudon LciBtiingon und zur Almung doa don 
Tonen innowolmendcn GeisteB golangtc, aln in joncr Spliilro, wo cler 
kunstlerische Sinn unterdriickt wurde. 

Seit dem 12. und 1o, Jalirlnindort batten dio Lolioron Ktamlo wiorst 
in der Provence angefangon, sicli mit VooHio uucl OoBang xu boscliflf- 
tigen. Bald vcrbroitoto sich die Liobo tlaffir aticli bei tins in Doutnch- 
land, wo, so wie dort die Tx^JllJAiloBi'B, welche vovKiigHwoino aln die 
Beforderer jener Uichtung xu bozoicbnon sind, die Mjjyo^ 
nannt werclcn nifiswon. Die Zahl diegjor Dicliter und Sfingor vonnolirto 
sicli ansserordcntlicli, und wir orblickon in den Keilien do.rHolbcn K(H 
nige uud Fiii^tcn. So wircl unto.r Anderen ills oinor dor boriiluntoHion 
Troubadours Tliibant, Ivonig von Navarra (gob. 1201, gMt. 1^1) ge- 
nannt, von welcliom aucli Melodien aufgofnn(l( i .u wordon sind. Ifnglfu^ 
liclier Liobhal)or dor Konigiu Jiltinca von luisbilion, Aw Muttcu- des 
heil. Ludwig, wurde ilnn geniilien, mr .BeHiinffcigung Kimior lu^ftigcm, 
liotfnungsloscn Loidonadiaft sicli dem Ktudiiun dor Poosio nnd Mimik 
m widnien; er that clion mit solcliom Glflclc, dasn or dio stJHMiBten Jae- 
der und Melodien, die man jo golir,,u liatt(^, liorvorbrachio. Vorgloichou 
wir cliese Melodien, von dcnon uu^ IvioHowotlor Proljen inittlioilt, inifc 
jenou Htoifcu, unorquicklichon, liannoniHclion Vorsuclwn dornolbon Koit, 
so bemerkou wir bald, wie jonon Trou]>adours gan% ditw^llxi Bodcm- 
tung, die sie fur das Lobon uborliaupt tfowannon, auoli in Bowig auf 
die Tonkunat Iieizulogon ist. w Sio warim o-s a , nagt. in d(,r orntcu-on Ho- 
ziehung oin franxosisclier Sclmftstollor, ,,wolc ) li( > , ncliolaHtiHcho Xftnlcch 
reien und tlblo Erxioliung vorbannt&i, das Hotragou verf(unort(vu , die 
Regeln der Artigkoit- oinffilirtou, dio Untorlmltung l)olobii(^i und di 
Galantorio der Einwolmer lauiorteu. Dio- 'JHOfliclikoifc, wolc.lio dio Kraii- 
zosen vor den Volkern anderer LiinJor ansxoichnot , war dio Fvucht 
ilirer Lieder, und wenn wir aucli oic.lil uosere Tugondon vou ibnon 



17 

lierleiton, so lehrfcen sie uns wenigstens, dieselbon liebenswurdig zu 
machen." So schufen sie aucli in Bezug auf Musik freiere Bewegun- 
gen und gef&Digere Wendungen; an die Stelle dor Berechnung und 
einer bios verstiindigen Kunst, wie in jenen harmonisehen Versuchen, 
trat bei ihnen Seele, Ausdruck, und wir sehen dalier an diesen leben- 
dig hervorsprossenden Naturerzeugnissen Gefiihl fur die Seele der Ton- 
weisen fruher in das Bowusstsein gerufen, als an jenem Grauen, Star- 
ren. Von der urn diese Zeit orfundenon Mensur haben diese Siinger 
noch keinen Gebrauch gemaclit; sie waron, im engeren Sinne, musika- 
lisch niclit sohr unterriclitet und folgien nur der Eingebung ilires Ta- 
lents. Bemerkcnswertli ist, dass sicli iu diesen Melodien sclion ziemlich 
der Cliarakter der spater so selir beliebten franzosischen Chanson zeigt; 
aucli das ist zu erwfihnen, dass dieselbcn sclion weit cntscliiedener, als 
die damalige liannonisclie Musik, unsero modernen Dur- und Mollton- 
leifcern, unsere modernen Ausweicliungen erkennen lassen. Der gesunde 
Sinn jener Naturalisten liatte schueller das Eiclitige getroffen, als der 
Scliarfsinn der gelelirten Hiiupter. 

Icli beschliesse diese Skizze niit einer Ilindeutung auf das, was 
auf dr am at i sch em Gebiet geschah. Audi die draraatischen und thea- 
tralisclien Vorsuche des Mittelalters waren niclit ganz oline Musik, und 
nainentlidi die Molodie fand liier ein Gebiet, wo sie unumsclirankte 
Geltung genoss mul welches ihr zugleich Gelegenhoit zu weiterer Aus- 
bildung darbot. Diese Darstellungen waren anfangs so rob und pobel- 
liaft, dass wir ihrer luer nur Erwiilinung tliun, um anzudeuten, wie der 
Sinn fur das Scenisehe frtih erwacht war. G. W. Fink in seiner ,,Ge- 
schichte der Oper" spricht des Liingereu und Breiteren fiber diese den 
Musik freund der Gegenwtrt wenig interessirenden Dinge, wahrend er, 
wie dies so oft in alteren Werken der Pall war, die Neuxeit selir kurz 
und nur ganz obenhin beliandelt. Wer sich demnach fiber jene Br- 
Rehoinungen genauer unterrichten will, darf nur jene ausfiihrliche Dar- 
stellung nachlesen. Bei steigender Cultur bildeten sich aus diesen rohe- 
sten Anffmgen reifere und gesclimackvollero Erzeugnisse hervor. Sie 
erhielten den Natnen Misterion und bestanden aus einer anstiiudige- 
ren, ctwas gebildeteren Darstellung religioser Begebenheiten. Seit dem 
12. und 13. Jahrlmndert insbesondere verbreiteten sich solche Spiele aus- 
serordentlich, und im Jahre 1313 erbaute man in Paris ein eigenes Theater 
dafiir. In den G$sfmgen zu diesen geistlichen Schauspielen lierrscMe an- 
fangs der Mrchlich-rituale, clioralartige Ton vor ; spilter nahni, je mehr die 
Auffiilirungen aus den Handen der Geistliclien in die der Laien ubergin- 
gen, auch die Musik eine volksmiissigere Haltung an. An dem heiteren, 

2 



_ -1ft 

JLO " - 

kunstliebenden Hofe der Provence finclen wir den Troubadour Adam 
de la Hale (1240 1286) als Verfasser mehrerer sehr htibseher Lieder- 
spiele mit weltlichem Inhalt wieder. Das Charaktoristische und Wo- 
sentliche der spSteren Oper fohlto jenen Mlieston Versuchen nocli ganz- 
Hch, aber 1m weiteren SInne als Vorstufen fur die spSter so machtige 
Kunstgattung sind dieselben zu beachten, indem der Sinn fur das Dra- 
naatische dadurcli geweckt und gesteigort wurde. Die Handlung 1st 
noch ausserordentlicli einfach, aber wir bemerken eine Gewandtheit, 
Rundung und Eleganz, die man ciner so frlihen Zeit kaum zutrauen 
mochte, Der Dialog, bomerkt Kiese wetter, sei naiv und lebendig 
und sprudle von ungesuchtem und troffendoni Wife. "Bines dieser Stilcke 
ftihrt den Titel: ,,Eobin und Marion". Ich will den Gang dosaolbon 
in Kflrze mittlieilen, um Thnon cine Anscliauung davon zu gobon: Ma- 
rion tritt auf und singt ein Liedclien, in wolehom Bie ihre Liebe m 
Eobin ausspricht. Junker Aubert, eben vom Tuvniorplartss kommond, 
erscheint, einen Falken auf der Faust. Er sagt Marion Schraoiclxoloion, 
sie antwortet, Bie liebe Eobin, und bittet den jungen Herrn, aie in Rulio 
m lassen. Aber die Leidcnschaft Anbort's orwaclit darutn urn BO lief- 
tiger; er stiirmt fort mit der VerBichenmg, auf dor Stelle Hich ernaufen 
zu wollen. Statt aller Antwort Rpottct Marion Hoinor. "Itobin kommt 
und plaudert von der bovoratohondon Hoclwcit. Jndem or fortgoJit, um 
einen Sanger und die JTrcundo mm IfoHto xu bOHtellcn, orsclieint noch- 
inals Aubert, der die Auttfulu'uiig H<unos KnfeolilussCH mr Xeit noch 
ausgesetet hat; er sucht mit dem, xuruckkohrcnclon Robin Btreit, miter 
dem Vorwando, tlieHor liabe semen Falken lioruhrt. Sio worrton luuidgo- 
xnein, Hobin crhalt ttichtigo Sclilugo und bloibt auf dtmi Platee liogen, 
wiihrend Marion von Aubert entftlhrt winl Ufutior, der bestellto Sftngor, 
tritt auf, ist noch Zougo der Entftihnmg, bemtiht aich aber ssunSlchst, 
den jammerlich klagendon Kobin wieder m nich, m bringou. Matt nielit 
nicht ein, wie die Sache endon noil. Bald indoHH kohvt Aubert, von 
Marion's Widerstand ermtidet, freiwillig zuriick und fiborgiobt liobin die 
Brant. Allgemeiner Tanz und ein Oenang (Uvutior'H Hchlit^Ht daB Gauze, 
Auch die in dioBem Singnpiole vorkommomlon Licdchon xoigwi inoiat 
geMigo und flioaaenilo Mclodik und bcwog(^u Bich in zum Tlioil gan% 
entschiodencr Weise in uiworor Dur- und Molltonalitilt. Hio wurden 
ohne allo Begleitung goHungon. 'Fund cino Bolcho statt, BO konnto m 
nur ini Einklango mit den Noton don GoHangon goHchoheiu 

Walirond nun das Volk soiuo Liodor sang und boi fortBchreitondor 
Civilisation die Gobildeton nich an don Woison dor TroubadourB und 
Miuuosangor ergotzten, luitten die ycbulinaaHigon Munikor, die sicli solbat 



19 

vorzugsweise Cantores nannten, in ilirer Weise pedantisch fortgearbeitet, 
ohne von dem, was das Leben bot, Notiz m nehmen. Ihnen war der 
Gesang nicht eine schone Kunst zur Erlieiterung, sondern Gegenstand 
eines muhsamen Stadiums. Harmonie und Melodie, die Arbeiten der 
Schule, und die Bestrebungen des weltlichen, naturalistischen Sinnes 
waren strong gescMeden. Die eigentliclien Musiker blickten init Stolz 
auf das weltliclie Treiben lierab. So dauerten die Verhaltnisse geraume 
Zeit Mnclurcli fort. 

Dies ist der Standpunct der Musik bis ungefabr zum Jahre 1300. 
Im Ganzen zeigt sich immer noch nur sehr wenig Befriedigendes. Be- 
denken wir jedocli, woranf icli schon vorMn hindeutete, die Schwierig- 
keiten, mit denen die sidh entwickelnde Tonkunst zu kampfen hatte, so 
ersclieinen uns 'diese Versuche in einem weit gtinstigeren Lichte. Durch 
das Bislierige sind nun aber auch die ersten Yersuche, die ersten und 
unreifsten Bestrebungen fur imnier beseitigt. An Mchts fehlte es jetzt, 
als dass das, was die Theorie gewonnen hatte, nun wirklich zur Aus- 
fuhrung kam und in das Leben selbst eingefulirt wurde. Diese wei- 
teren Portseliritte werden den Gegenstand meiner nachsten Yorlesung 
bilden. 



Zweite Vorlesung, 



Die G-cschichte dcr Musik bci don Niodorliinclorn: Dufay. Ookcnlicim. Dcr 
Zustand des Grgelspiels: Antonio degli Orgam imd Bornhard tier Deutsclie, 
- Notendruck: Pelrucei, Josquin. Deutsche und italiouischo Tonsetaor. 
Willaert. Orlandus Lassus. Emtheilung dor ttosclriclite dor Musik, dio all- 
gemeine Entwicklung dcs Oteistes in dor Qoscbiclito, dio Stufonfolge der Kunste 
und die \veltgcscliiclitliclio Stellung dcr Toukunsfc. 

Bie Darstollung cler Antange uiisoror Musilc in don orsten 'Christ- 
lichen Zeiten und den Jalirhuntlovtcn dcs MittelalteiB boBcIiaftigto micli 
in der vorigon Vorlosiing. Wir salncn, nachdom das orsto Fundament 
diircli Aufetellung von Tonleitern gclogt war, wio allmaiilicli oin Qnmd- 
stein nach dom andcron zu dorn Rpfitcron grossen Gobdudo horbeigescliafpfc 
ward, und verlioBBon die Entwicklung an dom Puncte, wo zuorst bofrio- 
digendoro Uogeln fur hannoniseho Combination gogobon waron, Icli 
scliloss mit der Bomerkung, dass eB jotsst gait, das Gowonnono in das 
Leben einzufflhron. 

IJener UmBtand, dass die Tonhmst bis (lahin mohr oino Wisson- 
schaft,/in dor That nodi kaunx oino Kunst m nennon war, darf nlcht 
befremden. Wir orblickon die Haiiptthiitigkoit bis tlaliin auf dio all- 
mahliehe Ausbildung^dor Harmonic, dio Auffiuduug Hirer Gosotzo ge- 
richtet, weil nur auf dieso "Woiso das Material ftir dio IfmHtlcrisclie 
Darstdlung gewonnen ivcrdon konnto. |l)io pootinchc Soito dor Kunst, 
soweit in jonor Zoit davon dio licde soiu kann, ward ropraBontirt durch 
den woltliclion Gosang, fund im Volksliedo, in dor Molodio iliron AUB* 
drncLJ So bcdoutsam nun dioo Scitc int, HO wtlrdc man boi dor woi- 
teren Verfolgung diosos WogcB aus dom blossonNaturalismus doclx 
nicht herausgokommcn sein. Sollto dio Mnsik sich oinflt 7,11 jonor urn- 
fassenden geistigen Bodeutung orhobon, die sio spater crlangte, BO war 
eine lange Verstandesarboit notldg; man mussto in dio Tiofe lonabstei- 
gen, urn fur jenes grosse Gcbaudo oincn ontsprcclicndon Grand m lo- 



21 

gen. Unter den angezeigten Umstanden war das Studium der Musik, 
wie naturlich, immer nur Wenigen vorbehalten, und von derselben als 
Kunst konnte fast nocli Mckts in der Welt hervortreten. In Italien 
war der mehrstimmige Gesang damals und noeli geraurae Zeit spater 
in die Kirche nieht aufgenommen. Bs ist kein Grand gegeben, ztt ver- 
muthen, dass es in Spanien oder in England anders oder besser gewesen 
sein sollte. Nur yon Frankreich hat man bestimmte Nachrichten von 
dem Gebrauche eines mekrstimmigen Gesanges in den Kirchen; bei alle- 
dem aber stand diese Eunst doch noch ajif der untersten Stufe. In 
Deutschland findet man sogar noch bis spat im 15. Jahrkundert Nicits 
von Harmonie; der Kirchengesang war durchaus nur ein eintoniger. 

Jetzt endlieh klart sich die Scene aUmahlieh auf. ^Wenn bis daMn 
die gebildeten Nationen Europas in ihren Bestrebungen Hand in Hand 
gegangen waren, so dass bald tier bald da eine Erfindung gemacht, ein 
Fortsclnitt bewirkt wurde, so concentrirt sich von nun an die Entwick- 
lung, und wir sell en jetzt ein Yolk, was musikalische Kunst betrifffc, 
gross und gewaltig auftreten, so selir, class dasselbe weit liber ein Jatr- 
liundert Mnaus sick der unbedingtesten musikalisclien Herrschaft in Eu- 
ropa erfreute* Die Lehren der frffiher genannten Theoretiker liatten 
zunachst Eingang und heimisclien Boden bei den Niederlandern 
gefunden, einem Volke, das bei seiner ausserordentlielien Woilhaben- 
heit, bltthend durcli Manufacturen und Gewerbe, Handel, Scliifffahrt und 
ttichtiges Gemeinwesen, einer materiellen Betaglichkeit des Daseins sich 
tiberlassen konnte. Die contrapunctische Kunst gelangte hier zuerst 
naliezu in Vollkommenlieit, und zwar in froMichen geselligen Kreisen 
zu praktischer Geltung, und beliebte Volkslieder pflegte man auf dlese 
Weise zu singen. Dann gewann dieselbe Zutritt zu den Hofen, j;ur 
Unterlialtung der Grossen, und bald offneten sieh. nun auck die Tliore 
der Kirclie der neuen Kunst, urn ihr einen siegreiclien Einzug zu ge- 
statten. Die Kirehe hatte stets die musikaliscken Bestrebungen begtin- 
stigt. Wie dieselben zuerst aus ikrem Sclioosse hervorgegangen waren, 
so ahnto sie wohl, dass ikr durcli die Tonkunst spater die grosste Yer- 
herrliclaung kommen werde. 

Nacli dem Zeugnisse des papstlichen Kapellmeisters Baini waren 
es Niederl&nder , welcke die ersten contrapunctiscli gesclariebenen Messen 
nacb, Eoin brachten. Yom Jakre 1380 ab findet sich., wie vorhandene 
Eechnungen nachweisen, der Name des nachraals beriihnit gewordenen 
Wilkelm Dufay aus Chimay im Hennegau in dem Yerzeickniss der 
Sanger der papstlichen Kapelle, der Name des Mannes, den Baini als 
den ersten eigentlichen Tonsetzer und Contrapunctisten , nicht allein 



jener Kapelle, sondern der modernen Zoit iiberhaupt bezeichnot. Dm 
papstliche Archiv 1st im Alleinbesitz der Werke dieses ersten Contra- 
punctisten, und Baini war es daher vorbehalton , tins zuorst mit ilim 
bekannt zu machen. Keiner war so sehr wie diesor Sclxriftstoller durcli 
seine aussere Stellung in den Stand gesetet, fiber jene Anfftngo geregelter 
Earmonie Aufscliluss zu geben, uncl auf diese Weiso einen siclieron Aus- 
gangspnnct fur die GescMclite der Musilc festzusteUon. Kiosewetter 
hat in seinem grosser en Werke niir einige Bruchsfriicko mitgothoilt und 
thut sich, wie er selbst sagt, etwas auf diese Bekanntmachimg m Gute. 
Im Uebrigen wissen wir ausserordentlicli wenig yon dem gcnannten 
Tonsetzer; er lebte bis zum Jaliro 1432 liocligeachtet in der piipstliclien 
Kapelle. Dies ist die einzige Nacluiclit, die wir liber ilm besitzon. Die 
Compositionen dieses Mannes xeigon in jeder Boziohung schon eine 
vollkommen fertige Kunst. | Die Harmonio iat rein. ] Dies ist das "Wesont- 
licbe; dieser grosao Sclnitt isfc jctzt vollbraclit; auHSordem isfc froilicli 
nicht viol Bfilimensworthos zu sagon. jDio Tonsotaor dieser Zoit benutzten 
kircliliche, gregoriamsche Melodion als die Gnaullago iliror ausgoffilirbon 
kircLlichen Compositionen, solcho Melodien bilden clou Kern nnd worden 
gewolinlicli von dom Tenor in langon, ennudenden Noton vorgotragou. 
Die Tonarton sind die grogorianisclion. VerseteiingHzoichen linden sioli 
nirgends. Indess ist gewiss, dasB die damals in dor Ctompositiouslohro 
stets wolil imterriclitoton Stinger dioso cliromatiBclien Vorilnderungen boim 
Vortrag aus eigener Eiusiolit liiimigeftigt liabon. Die Anuahmo, tlas 
die Compositionen in dor Gostalt, in der wir sie verzeiclmefc ftnclon, go- 
sungen worden waron, ist niclit walirBclieinlicli ; es war jcclon falls nnr 
Sitte , die YersetzungHzeichon wogxulassoii. ,1 Die Oomponitionon Hind ohno 
al^i Melodic, Bchwerfiillig und hart, gomoinliin fur vier Stamen, Boltener 
fiir drei odor funf gesetzt. I Alle gleichen sicli im Ausdruck , mOgon die 
Textesworte nocli so vorschiodon soin, odor richtiger, aio sind doBwogon 
allo gleioh, weil Ausdmck fiborliaupt riocli folilt unrl dor Verntancl dio 
allein hervortretende Thatigkoit ist. Eigontlieli fugirton, Stil findot man 
in Dufay's Compositionen nocb niclit. Von den Toxten sind nur die 
ersten Worte am Anfang cles Stfickos Hngcsclulcbon ; man sotzto voraus, 
dass dieselben don Siingern bekannt waxen, und von diesen sogioich den 
Noten wlirden untergelegt werdon konnon. 

Naclidem jotzt ein soldier Grand gologt worclen war, konnto von 
den Naclifolgern weiter fortgeacliritton warden, "Wonn eB bislior vor- 
zugsweiso daranf angokominon war, oinfacho, molirsliminigo Siifeo m 
Stande zu bringen, im sogonannton oinfachcn Contrapunct, BO nlhort 
man sicli jetzt schon der kiinstleriBclion SateweiBO, dem doppoltoa Con- 



23 

trapunct, und es 1st insbesondere die Form des Canons, welche zuerst 
zur Geltung koinmt: man n&hert sict dieser kunstlichen Satzweise so 
sehr, dass man sich bald in gelelirte musilraliselie Grubeleien versenkt 
und diese Kiclitung, dies ist das Bemerkenswertheste, in den Nieder- 
landen iiberliaupt zur herrschenden wird. Bald begegnet uns der Name 
eines Mannes, der, liber Dufay Mnausgehend, den Kiinsten des doppelten 
Contrapunctes ilire Ausbildung gab, der zu seiner Zeit sehr berflhmte 
Name Johannes Okeghem, gcwolmlicli Ockenlieim, geb. im Eennegau 
urn 1430, gest. urns Jahr 1513. Ockenheim genoss die ausgezeioli- 
netste Hoehaclitung seiner Zeitgenossen, sowohl wegen seiner Composi- 
tionen, wegen der Fortsclnitte , die ihn fiber seine Vorganger Mnaus 
ftilirten, als auch wegen seines Lelirtalents, das ihn in den Stand setzte, 
die vorzuglichsten Meister, die zu seiner Zeit und nacli ihm glanzten, 
zu bilden. Die sclion bei Dufay erwalinten charakteristisolen Eigen- 
scliaften: Mangel an Melodie, Unsangbarkeit, Ausdruckslosigkeit, dauern. 
fort. Neu kommt hinzu eine etwas planinassigere Anlage ; Ockenheim's 
Arbeiten sind, wie Kiesewetter bemerkt, niclit melir so ganz und 
gar bios unvorlierbereclmetes Brgebniss der contrapunctisclien Operation*, 
sondern meistcns sclion sinnig niit irgend einer bostimmten Absicht an- 
gelegt. Man flndet .ferner bei Ockenheim eine grossero Qewandthoit 
in der Handhabung contrapunetischer Forinen, zugleich ist aber aucli 
damit eine Yerirrung ins Abstruse gegeben. Die Form des Canons wurcle, 
wie sclion erwalmt, am hiiufigsten und zwar in deu verscMedensten, kiinst- 
lichston Gestaltungen angewendet. Man notirte denselben in einer Zeile 
und liesB den Sanger die Auflosung aus beigeschriobenen symbolischen 
Sprficlien orrathen. Aucli die Taktverhaltnisse wurden Gegenstand grtible- 
rwclier Eiperimente; es gab Canons, in welchen die verschiedenen Stim- 
men untcr verscMedonen Taktzeiclien sangen. Der Satz war insgemein 
vierstimmig, man vermehrte jedocli zuweilen die Stimmenzabl ins Ueber- 
triebene. 

Es wurde zu weit fuhren, wenn icli diose Bestrebungen im Ein- 
zelnon verfolgen wollte. Zuclem ist dieser Absclmitt der GeschicMe der 
am wenigsten interessante. Soviet auch gescbieht, im Ganzen ist doch 
Alles noch mittelalterlicli unerpicklieL Die Mederlander , namentlich 
die jotzt genannten Manner, liaben die bescliwerliclie Arbeit ubernommen, 
im hfiheren Sinne das Fundament fur die spatere Kunst zu legen. ?J Was 
liatfcoa"^ fragt Ulibisch off sehr riclitig, ,,die grossen Tonkfinstter der 
Harmonie, Bach, Handel, Mozart, angefangen, wonn nicht geschickte 
und ausdauerncle Arbeiter Jak'hunderte lang die Steinbrticlie ausgebrochen, 
die Minen ausgobeutet, und das solide Material hergerichtet , behauen, 



geformt imd gesclimiedet Mtten? "Was sie gomaclxt Mttcn? Hfibsclie 
Gartenhauselien von gemaltein Holze, cleren Karnicse aus Gesangsver- 
zierungen imd deren Friese aus Bonladen bestanden Mtton; frisch und 
glanzend fitr eine Stunde, woranf die Mode darflbor weggoblasen, und 
Alles bis auf die letzte Spur verwisdxt Mtte." Dicse tiefsinnige Ver- 
standesarbeit, bemerkte ich schon vorhin, war nothwendig, urn cler spiiteren 
grossen Kunst eine wiirdige Grundlage zu boreiten. Das ist das grosso 
Verdienst jener fruhesten Meistcr; in das Eeicli der schonen Kxmst 
selbst einzutreten , war ilmen, sowie iiberliaupt den Meclerliindern, nicbt 
beschieden. In diesem Zoitabschnitt, den ick bis jetzt bosproclien habo, 
er nmfasst das Jalirlamidert von 1380 bis 1480 ist dcr Grund 
zu dem Bulm golegt wordon, desson sicb. die Moderlander in der nun 
folgenden Zeit in der ganzcn civilisirtcn Welt erfreuten. Durcb. Ockon- 
heim's Schulo wurde die Kunst in alle Lander vorpllan^t, und nacb. 
einer Beiucrlmng Kiosowcttor's soil aicli gonoalogisch nachweisen 
lassen, class Ockenlicim cler Stammvater aller Schuloii dor spatoron 
Zeit gewesen ist. Nock sei erwiilmt, class in diesem Zoitraiuu die Or gel 
die bodoutendston. Vcrbosserungon in der Stmctur und dona Mcclianis- 
nitis erfalu-on luit. Die altesten Orgoln aus den Zoitou dos MittelalterB 
zeigten nodi die rolieste und imgoscliicktosto Bescliaflonlioit. Die Tauten 
waren oiuon lialbou Schuli broit, (lurch cinon morkliclion Zwiselienrauiu 
von eiiiandor gesondert, und imiBsten itiit don Ptiusten odor mit clou 
Ellenbogcn in Bowcgung goHofet wordcu. Die allnuililiclie Ausbildung 
dankt dieses Instrument, d:is wiclitigsto in jener Zoit, doin tlontrapiuxct, 
und os beganu jetzt ditiHOiiii dio fruhereu Dienste rciclilicli m vorgolton. 
Die Kimstgoscliiclito nmnit zwcsi KfuiHtlor: Antonio Sguarcialupo, 
aucli Antonio dogli Organ! gonannt, zu Floronx, imd Bornhard, 
mit clem Boinanion tier Deutnche, xu Vonodig* 

Das liShoro GoiHtonlobon, woklios sicli jetet in Europa alhniililicli 
/it vorbreitcn bogann, inuHto don gfinsligston Einlluss JuBHorn auch auf 
Fortbildung/lor Tonkiuwt und Vorbroitiuig dornolben in weiteren Krei- 
sen. Wie dio LioWiaborei fur die Irildcndou KfniBto nmchr und niolir 
zunalun , begannon die GroHHou aucli Tiir Muaik nicli 7Ai iiitorossircu, uncl 
die Tonsote orliioltou di( nachdnlckliclisto Aufnmntorung uud gfmstigsto 
Voranlaflsung , ilir Talent zu ontfaltciu An den KOfon ontntanden Ka- 
pollon, xu clonen niodeiii'imlischo Musikor uiitor froigobigon Bodingxin- 
gen horufen wurcleu, Lelirsttilile fiir Munik wurdon errichtet in dor 
zwoifceii Hiilfte cles 15, Jahrhunflovb* /AiNoapol, Mailand xotd an andoron 
Orten Ttalions* | Insbeadndoro abor, ala zu Anfang don 1C. Jahvlmndorto 
clie rapste Julius 11, uncl Leo X. jouo fflunzondo Bapliaol'solxo Zeit 



25 

fiir Italien herbeiftlhrten , erreichte die niederlandiscke Musik in Italien, 
Spanien , Frankreich und Detitschland ikre hochste Anerkenmmg. | Als 
endlich im Jalire 1502 der Italiener Ottaviano dei Petrucci aus 
Fossembrone im Kirchenstaate den Notendruck nut bewegEchen Tjgen, 
erfand, war for den erfolgreichsten Aufschwung der Tonkunst die wich- 
tigste Anregung gegeben. Ockenheim's grosster Schuler, Joscpiin de 
Pres, oder Jodocus Pratensis, oderaPrafto genannt, geb. kochst- 
wahrsoheinlicli zu Cond<5 urn 1445, war der erste jener "Mederlftnder, 
in dem die Kunst sick unter den bezeickneten Einfiussen von der frukeren 
bis dahin lierrsclienden Steiflieit, SchweriSJEgkeit und Harte einiger- 
maassen befreite; er wurde der Hanptreprasentant der nun folgenden 
Epoche, und zu seiner Zeit war es namentlicli , wo seine Landsleute 
sich der unbedingtesten musikalisclien Herrscliaft in Buropa erfreuten. 
Sclion Luther, das Wesen Josquin's richtig erfassend, hat irgend- 
wo liber ihn und zugleicli die Wendung, die durch denselben in 
der Kunst hervorgebracht wiu-de, das treffende Urtheil gegeben: 
,,Josquin ist der Noten Meister, die habens mussen maclien, wie 
er wollt; die andern Sangmeister mtissens n^clien, wie es die Noten 
wollen haben". |Baini aber bemerkt, dass in den gelungeneren Wer- 
ken dieses Mannes zum orsten Male die Morgenrotlie des spateren Pale- 
st rin a- Stils dSminere. Sehr jung begab er sich zu Ockenheim in 
die Lehre. Unter Six t us IV,, urn das Jalir 1480, finden wir ihn als 
ganger der papstlichen Kapelle, spater, in der Zeit zwisclien 1484 und 
1490, gegen Erwarten (da er zu Eom in grossem Ansehen stand) in 
der Dmgebung Lorenzo's des Prachtigen in Plorenz, dann am Hofe 
Konig Lud wig's XII. (dessen Regiening in die Jalire 1498 1515 
fallt). Seine letzto Lebenszeit verbrachte er in seiner Heimath, in 
Cond<5, wo er am 27. August 1521 als Propst des dortigen Domcapitek 
gestorbon ist. Kiesewetter nennt J o s q u i n cines der grossten musika- 
lisclien Genies allor Zeiten. Macht man es ilim nicht ohne Gnmd zuni 
Vorwurf, class er die musikalischen Witze und Ktinsteleien auf eine 
ubenmissigo Hoke getrieben habe, so ist doeh gewiss, bemerkt er, dass 
jeder seiner Satze in den ktinstlichsten , wie iu den anspruchslosereii 
Compositionsgattungen sich durch irgend einen Zug des Genies von 
den xahllosen Arbciten seiner Kunstgenossen und Nachaknaer unter- 
sclieidet. 

J Bis clahin hatten die NiedorlSnder allein und unumsehrankt im 
oicho"der Tonkunst gelierrscliij Jetzt begannen auch andere Nationen 
ihnon allmahlich niolit zwar den Rang, aber doch ikre biskerige Allein- 
horrschaft streitig zu machen. In Deutschland traten sckon in der zwei- 



. 26 

ten HSlfte dcs 15. Jalirhiinderts einigo treffliche Tonsetzer auf, Adam 
deFulda, Stephan Malm, HeinrichFinck, Heinrich Isaac, 
von denen besonders dor Letetere mit Auszoichnung zu nonnen ist. In 
Frankreich orlangto Eloazar Genet, gonannt il Oarpontrasso (von 
seiner Vatorstadt Carpontras) , Mitgliod dor piipstliehen Kapollo, sohr 
grosses Ansehen, und wurdo doslialb von soinein Conner Leo X. mit 
der Bischofswfirde bokloidot. Spanior warcu als Sangor sohr boliobt in 
der papstliclien Kapellc. Unter den oinliohnischon Mitgliodorn daselbst 
wird Cos tan 7,0 Feat a als dor crsto bodoutoudo Uompomat mid Vor- 
laufer Palestrina's gonannt. 

Die bisherige Darstcllung, die Besprecliung dor Thatigkoit der Ton- 
setzer, hat Sie orratlien lassen, wolclieB die Mittel waren, die donsol- 
ben m Grobote standen. Ich cvwahnto schon frtilior, wie dor einstimmige, 
weltlicho OoHang von den Arbeiton dor Contrapunctiston skeng gosc.Mo- 
den war. Es leuchtot ein, dans der orstoro uin HO inolir zxiificktrat , jo 
niehr die Kunst der Letzteren zu liolicrer litufo wicli entwiclfelte, Bs 
gal) jetzt allein mohrstimmigon GoHang. IiiHtnunonto kannto man zwar 
Hohon in grosnor Zalil; an eine oigentliclie IcnnHtnuiHHige und HoJbst- 
atandigo IiwtranontnJmuHik war tiber bis jetzt noc-li niht ontfovnt zu 
dcnkon, lioclistens wnrden zur Verstiirkung otlor UntorHtilknng des 
Chores Ziiikou, Powuinon und allenfallH Tvotnpoton angowondot, wolc.ho 
mit den Stiinmen unisono giiigon. |l)ie (Joigo and die Louir warou den 
Handon dor wandeniilen MuHikanlon flborlasHon, nnd ebon so wenig 
wio diese goachtot; man berief nie, damit sie zwn Taiwe aufij])iolton,! 
Die Orgcl ist alw das einzige in dor allgenieinen Adilaing lioluu* gentellte 
Instrument m bozoichnou. Die luHtnmioutirtton waron von dm (ugont- 
liclion wiHsoiwdiaftlidi eraogenen MiiHikorn, tl h. den Siingern, gauxlic/h 
geBchiodeu und bilileton oino eigeiie Xunft unter dem Nani<in von Sfcadt- 
pfoifern, Kunstpfoifevn od<* Tbflnnoni. DIOHO liatton auc.li ilire eigene 
Art, far iliro Instninioulo zu notiroii, din sog'onannto deutsclie Tabu- 
lator. Das Clavier ersdioint alloin fur d<m Imuslidion Oolmuich, did 
Harfe war zur Zeit nocli kanin gcnannl. Hin und wiedor tliaten wicl 
abor doch scliou Virtuosen auf cinzolnou fnstninumten liorvor, so 
blinde Oonrsul 'Pauinann aiw Nlirnborg, der ini Jalire I47;5 ntarb. 

Icli lube Helton Ixnnovkt, dasH oino mis full rl ichor o Parstollung* die- 
or Vorgoscliiclito niclit in inoiuont Plane liogt; es koimnt lediglich 
davauf an, TImoii die HauptiMiuoto m boxoidinon. Aus dioaoiu (Irundo 
boflchilinko icli micli auf Erwrilmung- dor widitignton Kunntler/ welebo 
als Itoprasontaiitou z\i botradit(m nind, oline die Krzahlung rait einer 
uberfltiBBigon Mongo von Nanien m bolastou. Jetet nintl nodi 



oh' 

4>( 

Manner zu Hennen, mit denen icli die Bespreehung des gegenwartigen 
Absclinitts beschliesse. 

Unter den Mederlandern, welclie, tlieils berufen,. theils um ihr Gluck 
in Italien zu machen, dort einwanderten, war auch Hadrian Wlllaert, 
1480 zu Brugge geboren. Als junger Mann von etwa 26 Jaliren sehon 
im Heimathlande beriihmt, kam er um das Jahr 1516 nacli Kom. Dort 
in der papstliclien Kapelle wurde eine Motette seiner Composition, die 
in grossem Anselien stand, aber denNamen Josquin's trug, gesungen. 
Als er sein Keclit auf dieses Work geltend maclite , beleidigte er damit 
die Stinger, die als genaue Kenner Josq inn's doch augenscheinlicli 
getauscht waren, so selir, dass die Motette von dem Augenblicke an 
zuruckgelegt wurde und Willaert's Gluck in Kom verscherzt war. Er 
wendete sich in Folge davon nach Venedig, wo er sclaon im Jalire i 527 
die Stelle eines Kapellmeisters am Com cles lieiligen Marcus, eine Stelle, 
die in der Folge als eine Art von musikalischer Grosswiirde gait, erhielt. 
Hier, in Venedig, erlangte Willaert sehr naclilialtigen Einfluss; er 
wurde der Stifter der naclmials sehr bedeutenclen und bertihmten vene- 
tianisclien Scliule, die im Laufe der naclifolgenden Jalirhunderte eine 
grosse Zalil vorziigliclier Componisten gebildet hat, raid namentlich auch 
fur tins von Interesse ist, da sie einen lebendigen Einfluss auf deutsche 
Kunst iiusserte. Er starb am 7. December 1562. Willaert war der 
Brste, soviel man welss, der fur eine grossere Anzahl von Stimmen, 
als bisher gewohnlich war, ftir sechs und sieben, componirte; auch wird 
er als der Brfinder der Composition fiir zwei und drei Chore bezeiclmot, 
eine Satzweise, die durch die grossartigo Wirkung, welclie sie hervor- 
zurufen im Stancle ist, mit Eecht bald Nachahmung fand. Bbenso ist 
Willaert der eigentliclie Schopfer des Madrigals, jenor musikalisclien 
Form, die in den nachsten Jahrhunderten die ausgebreitetste Herrschaft 
erlangen sollte, * 

In Allom, was zur Vorschule der hoheren Tonkunst gerechnet 
worden kann, gingen die sammtlichen gebildeten Natioiien Europas 
Hand in Hand. Spater zeigte sich bei den verschiodenen Volkern eine 
stets wachsende lebendigere Betheiligung. Ueberall wurde indess immer 
noch im niedorlandischen Stile gearbeitet, -und nationale Eigentliiimlich- 
kcit bemerken wir noch an keinem Orte. Nun endlich tlieilt sich der 
Hauptstrom,- und es wird nothig, denselben in seinen verschiedenen 
Wendungen zu verfolgen; jetzt endlich boginnen auch andere Lander 
den Faden der Entwicklung aufzunehmen. In den Niederlanden , in 
Prankreich, Deutschland und Italien waren zwar auch zu dieser Zeit 
immer noch niederlandische Musiker in fast unglaublicher Anzahl in 



28 

Thatigkeit; aber der EInfluss derselben wurde schwacher, 30 mehr die 
verschiedenen Volker em eigenthiimliches musikalisches Leben entfalteten. 
Als Sanger der papstlichen Kapelle lebte um 1540 in Kom der Spanier 
Cristofano Morales, geb. zu Sevilla, beruhmt als Componist. In 
Frankreich traten Compositeurs anf, der en Werke durch die seit 1530 
eroffneten Druckereien von Paris und Lyon verbreitet wurden* In 
Deutschland rief die kirchliche Information Sehopfungen hervor, die, 
einer neueren Geistesrichtung angehorig, fur die Tonkunst eino neue 
Welt eroffneten. Johann Waltlier und Luclwig Senfl werdenhier 
spater noch zu besprechen sein. Auch Palfestrina, durch welchen 
die italienische Kirelienmusik zu classisclier BBhe geluhrt wurde, fallt 
in diese Zeit. 

Bevor ich jetzt die Weiterbildung der Tonkunst in den einzelnen 
Landom verfolge, will icb zuvor, wonn aucli dor Zeit olwas vorgreifend, 
die Periode der Niedorlander zum Abschluss bringen. Noch oinen Mei- 
ster liaben die Niederlande liervorgebraclit , der, wolil der grOssto und 
horvorragondHto von alien, das bis daliin Geleistete ssusammonfassto, der 
diesc Eiclitung, soweit es auf dieser Stufo iiberhaupt nioglicli war, zur 
Yollendung fulirte. Es ist dies Orlandus do lassus, Roland Las SUB, 
in Ttalien Orlando Lasso, in Frankroich Eoland Lass 6 genannt, 
aus Mons im Hennogau, geb. 1520. Sein urspriingliclier niederlandisclier 
Name war Kolaud do Lattro; als abor sein Vator, der FalHchmfluzoroi 
iiberwiesen, m der Ehronstvafo verurtlioilt wurde, init einer Eoibo 
falsclier Munzen um clen Hals drei Mai um das IFocligoricht m gohon, 
findorte er seinen urspilingliclion Namen, vorlioHH Kin Vatorland und 
ging nach ftalien. In seinein 1.S, Jahro lawn or nach Noapel und vor- 
woilto danolbst zwei Jahro. Im Jahro :I54J wurde or von doin Oardinal- 
Erzbischof von Floronz, der sich obou in Kom bofand, soljr wohlwollencl 
anfgenommon und orhiolt die KapellraeiBterstolle am Latoran, die er 
aber nur sechB Monato vorwaltoto, wcil or, um seine todkrankou Eltorn 
noch ein ,Mal m sehon, sclmell in soin Vatorland zuruckeilto. J3ei 
seiner Anktmft clioso jodoch nicht Biolir am "Lobon fmdend, bliob er in 
soinom Vafcerlando nicht lango, ging nach England, dann nach Frank- 
roich, unit HOSH sidi zulct/.t in Antworpen niodor. Him* lobto er im 
Umgaugo writ don auHgozoichnoteton, golohrtoBton und vornohmston Mftn- 
nern, von Allen soin OH grosson TalontoB, wio soinos ollenen CharaktorH 
wogon aufs Hochsto goohrt mid goliobt. Im Jahro 'lf)57 orhiolt er 
von Hcrzog Albert V, oiuon Kuf nach Miinchen, als Leitor der dortigon 
berfihnxtou Kapolle, zugleich mit dom Auftrage, die vorzflglichston nie- 
dorlandischon Musikov zu werbeu und mitzubringon. Im Jahro 1562 



trat Lass us in seine Stellung in Munchen ein; Mer, an der Haupfr- 
statte seiner Wirksamkeit, gewann er bald ein bedeutendes Ansehen, 
einen Ruhm, der sicli allmahlich liber die ganze civilisirte Welt ver- 
breitete, nnd einen bedentenden Einfluss auf die Ausbildung deutscher 
Musik. "Wie der bald naher zu besprechende Palestrina von den 
Italienern der Furst der Musik genannt wurde, so Lassus von den 
Niederlandern und Deutschen. Die Auszeichnungen , die ilini m Theil 
wurden, waren zahlreich. Der Konig von Frankreich ernannte Dm 
zum Maltheserritter, der deutsche Kaiser Maximilian hatte ihm frfiher 
schon den Reichsadel verlielien ; der Papst ernannte ilin zum Bitter vom 
goldnen Sporn ; das sehr schnieichelhafte Wortspiel : Sic ille est Lassus, 
lasswn qui recreat orlem (das ist der Lassus , der die lasse , die nitide 
Welt erquickt) zeigt eine auf ihn gepragte Denkmiinze. Auch in Paris 
verweilte er eine Zeit lang. Einem spateren Rufe Carl's IX. folgend, 
unteraahin Lassus eine zweite Reise nact Paris, erfuhr aber auf 
dem""Wege den sclinell erfolgten Tod des . Konigs und fcehrte des- 
h/b nacb. Mtinclien zuruck, wo er am 15. Juni ^ISQij^SlsJS^fePJ 1 I, n 
europaiscliera Rufe starb. Dort in Munclxen befinden sicli auch seine 
gesammelten, grossentlieils nocli nicM veroffentlicliten Werke, zusammen, 
wie erzalilt wircl, 2337 Compositionen entlialtencl. Lassus wircl ge- 
schildert als ein schlichter deutscher Masa, der die schraeichelhaften 
Aeusserungen der Grossen und seinen Rulim durcli ganz Europa in be- 
sclieidener Zuriickgezogenheit nicM sowohl genossen, als vielmehr ge- 
tragen liabe. Seine Werke sind ilireii Texten und der Bestimmung 
eines jeden geinass selir mannigfaltig und so verschieden in der 
Schreibart, als dies damals moglicli war. Diese Vielseitigkeit, diese 
grossere Mannigfaltigkeit des Ausdrucks hat Lassus, wie es seheint, 
vor seinen Vorgangern voraus; sie ist Resultat der schon gereifteren 
Kunst und der giinstigeren iiusseren Bedingungen. Ganz sich frei 
m machen von den einst angostaunten Ktinsteleien seiner Vater ver 
jnochte jedoch auch dieser lotzte Meister nicht, von jener schwerM- 
ligen, oft ausdruckslosen Trockenheit, und in das Reich der schonen 
Kunst selbst einzutreten, war ihm nicht bescMeden. Obschon er der 
Zeit nach der nachstfolgenden Periode angehort, wurzelt er doch geistig 
in der vorangegangenen. Die Zeit der MederMider ist die Morgen- 
dammerung der Tonkunst: das aufgehende Licht wircl geahnt; in ein- 
zelnen Erscheinungen ist es wahrnehmbar , aber fiber die Dammerung 
hinaus ist man nicht gekommen. I Lassus 



Mederlander, die in einem Zeitraum von 200 Jahren der "Welt wohl 
an 300 Tonsetzer geliefert hatte. J Die Musik, dutch dieses Volk in 



30 

ganz Europa verbreitet, begann jetzt, namentlich in Italien und Deutsch- 
land, eine einheimisclie Kunst m warden, und wie einst die Nioder- 
lande, so sendete ItaJion bald nun schon seine Sobno in alle kunstlieben- 
den Lander ans, und errang jene Oberherrschaft , die es bis weit 
Herein in das yorigp Jakbundert belmuptet hat^Bei vermindertcr Nacli- 
frago nach niederlandisclien Tonkiinstlern vermindcrte sicli dor Antriob, 
sich einer Kunst zu widmen, welche niclit mehr wie sonst Rulrni und 
Ileiclitlium im Auslande versprach. Die Nieclcrlander batten iliro go- 
scliiehtliclie Bostinnnung erffllt und treten nun fto immer zurttck von 
clem Schauplafczj 

" Hiermit ist die VorgescMclite iinseror Kunst, sind die Lolir- nncl 
Wanderjahre derselben boschlossen, und icli bin auf dom Puncto angc- 
langt, wo ieh Ilmen die Bintheilung dcs gesammten Stoffes vovlogon 
kann. Ueberblicken Sie den bislior durclilaufonon Zoitraum, so be- 
merken Sie drei Hauptentwicklungsstufon , drci Hauptabschnitto, 
in die sicli derselbe zeiiegt^er^orste wird gobildot dadurch, dasH ftir 
die Tonkunst durcli das Christentlium fiberliaupt oin geeignotor Bo(%n 
gewonnon ist ; * wir orblicken die ersten Anfange dor neuen Musifc und 
den ersten Schritt zu ihrer Eegclimg dureli AufBtellung von Tonleltorn; 
die $5 weit o, Mliere Stufe beginnt da, wo die Haiiptoigontliuraliohlcoit 
des Neuen, weitn auch noch in rolioster Qostalt, wo die ersten liar- 
monisclien Vorsuclio heTVortreton;] durcli dioson Schritt sind zugloicli 
cine Mengo anderer bedingt, welche als nothwentligo Folgo dieses orsto- 
ren crscheinon ; jdor dritto Absclinitt wird auHgofiillt durcli dio Bpoolio 
dor Niodorlandor , duroli die orsto geiungeue pniktinclio Anwoudung des 
bis dahin durcli thoorotischo Untersuclmngen Gewonneuen.) Hionnit 
scliliesst, wio bemorkt, die Vorgeschiclite unserer Kunst, die orsto 
grosse Hauptporiode, und wir betreten die xwoito, welclie dio 
Meisterjahre, dio elassisclio Zeit dor Tonkunst, die GoseMclite dor Musik 
bis auf unsere Tage onthslt. 

Bevor ieh mich jedocli m dor Darstollung (lor mm folgondon wicli- 
tigcn Thatsachcn weude, ist es nofchwondig, dioson Kintritt dor Ton- 
kunst in das Lobon, dioson ersten grosHWi Aufsdiwung, von dem an 
sicli dio Herracluift dornolbon datirt, unter allgomoiuon Gesiclitspuncten 
zu betraekten , an diosom Wondopuncto cine umfassondo Oriontirung tibor 
den zurftckgelogton Wog sowol, wie tiber clen nooh bevorstolienden oin- 
troton m lasson, Jch muss otwas weit ausholen; icli muss Einigos aus 
der Plulosophio dor QoscMchto ontlolinon, sow|e aus tier allgomoinon 
Aosthotit; die Eesultate diosor Botraclitung abor sind wiebtig, sie be- 
zeiclinon tins die woltgoscluclitlicbo Stollung der Tonkunst, ihr Vorhfilt- 



niss zu den Schwesterkunsten, sowie die geistige und culturgeschichtliche 
Bedeutung derselben. 

Die Entwicklung des Menschengeschlechts zeigt uns das interes- 
sante Scliauspiel der Befreiung des Geistes aus den Banden des Natur- 
lichen, welche ihn anfangs fesselten; sie zeigt uns die Erhebung des 
menschlichen Bewusstseins aus seiner friiliesten Versunkenlieit in das 
Natflrliclie zur Existenz des Geistes in Geistesgestalt. "Wir haben bei 
dieser Entwicklung die Anschauung, wie der Hensch sich aus den 
thierisclien Zustanden, mit welchen seine Geschichte beginnt, mehr und 
mehr horausarbeitet und sicli als Mensch erfassen lernt, und erblicten in 
diesem Fortgange ein rastloses Weiterschreiten von dem Unvollkomm- 
nen zum mehr Vollkommenen, so dass Diejenigen irren, welclie ineinen, 
dass die Geschichte, wie die Natur, in einformigein Kreislauf sich drehe. 
Die Geschichte ist ein prachtvoller , zum Himmel emporstrebender Bau, 
dem die welfcgeschichtlichen Volker und die grossen Individuen als Bau- 
steine dienen, ein Bau, welclien jedes spater folgende, bei dem Fort- 
schritt betheiligte Volk hoher emporthurmt 

Der Orient ist der Anfangspunct dieser Entwicklung, der Sonnen- 
aufgang der Geschichte; der Orient eroffnet dieso.grosse Gallerie der 
Volker und Individuen. Hier ist es, wo das Bewusstsein, anfangs nock 
ganz von dem Natilrliclien gefesselt, in den Staaten hoherer Gestaltung 
aus dieser Versunkenlieit sich emporzuarboiten und einer hohereu geistigen 
Existenz zuzustreben beginnt. Aegypten wird von der modernen Wissen- 
schaft als dasjenige Land in der friiliesten Entwicklung der Qeschichte 
bezeichnet, welches am entschiedensten das Erwachen zu selbststtodiger 
Geistigkeit, das Hinarbeiten zum menschlichen Bewusstsein, das Heraus- 
arbeiten aus den thierischen Sympathien zur Erscheinung bringt. Die 
Sphinx kommt von Aegypten nach Griechenland und giebt dort das 
bekannte Bathsel auf, dessen Losung der Mensch ist; sie stiirzt sich 
ins Meer, als Oedipus dasselbe deutet; das Geheiinniss, welches sie 
bewahrte, ist offenbar, der Hohepunct ihres Bewusstseins ist Gemeingut 
geworden, und ihre besondere Existent ist vernichtet. In Griechenlands 
schonen Tagen leuchtet zum ersten Male der helle Tag eines rein mensch- 
lichen Bewusstseins; hier beginnt die hohere Geschichte des Mensehen- 
geschleclits; die Vorstufon sincl iiberwunden, und die geistige Arbeit 
nimmt ihren Anfang. So sehr aber auch der^Geist mit der ganzen 
jugendlichen Klarheit und Energie sich zu erfassen, so sehr er sich frei 
auf sich selbst zu steflen vormochte, die tiefste Einkehr in das Innero, 
die tiefste Selbsterfassung war jener Stufe des Bewusstseins noch nicht 
gegeben. Oedipus todtet, ohne dass er es-wei^s, seinen Vater, und 



on 

0,0 

heirathet, mit seiner Abstammung unbekannt, gleichfalls olme Vorwis- 
sen, seine Mutter. KToch in dor Darstellung des Sophokles, auf der 
Stufe der hochsten Ctiltur Grieehenlands demnach, eraclitot er sich die- 
ser Verbrechen. sclinldig: was dieser Monsdi Oodipus in seiner sinn- 
lichen Erscheiuung begangen bat, daflir glanbt er einstelien m mfissen, 
ohne class seln Bewusstsein davon Etwas weiss; was nacU clmstlichen 
Begriffen ilnn niclit zngerechnet werden konnte , das lastot auf ilnn mit 
solclier Schwere, dass es seine Existent vernichtet. Erst das Chrislen- 
thnm hat den Geist in solcho Tiefen hinabgeffihrt, dass er sich rein als 
solclier erfassen konnte ; erst Mer ist dieser innerste Mittolpunct orBchlos- 
sen; erst im Christentlmm erkennt sich dorselbc als dor Hen* der Welt, 
als die Macht, welcho alles Natflrlicho be^wingt, ,,Qott ist ein (Joist, 
und die Din anbeten, mussen ilm im Goist nnd in (lor Walirlioit 
anbeten"; und welter: ,,Solig Hind, die reines "I [croons niud". Burcli 
die Reinlieit des Heracns, durch die Ausselieidung alloB Natiirliclien 
wird diesc Erhobung bewirkt; das mensclilidie fnnore ist an die 
Spitze gostcllt, die Fiillo dos Goistcs ist aufgoBchlosHcn ; die Vorsoli- 
nung mit Gott dnrch die Eoinhoit dos Herxons, die Ldsung allor 
Widorsprticho im Geisto, (las Princip ftir die gosammto nac^lifolgondo 
GeiBtesentwicklung ist gogol)on. Das (Jluistentlmin ist dor groHHO Wendo- 
punet in dor Goschiclito; bis m ihm Inn orstrookt Rich dioHolbo, von 
ilim aus beginnt sic. In Ivanipf trotend iudess mit der lieiduiKclion Welt, 
Wurzel fasscnd zunachst in Lfindoni, wolclie, wio Grioohonlaiul , don 
Geint nnr erst in soinor nnmittelbaron Kmhoit mit dom Natiirliclion xtir 
Erscheinung m Iningon vonooclitoii , koimto O,H nodi ni(*.lit. sogloidi in 
seiner gansson GroHso nnd Rolnlieifc xur (loltung golungou. Audi os ssaigt 
sich an fangs mit Sinnlichom boliaftet, und im woitovon Vorlauf dor Jahr- 
hnndorto dos Mittolaltors orschoint in Folgo davon, statt oinor tibor- 
wiogond goistigen Welt, die fnnorlidikoit dos clniHtlichou "FriucipH' im 
KatliolicisinuB wiodor nacli aiWHOii gowoiulot und vorwoltlic^t. Dor nSlclmto 
woliigoschiclitlieho Sclvritt war die durc.h don ProtostautiHuniH gowounouo 
Yertiefung, und durch ilm sohou wir jotet dio roicho GoiHtoswolt in 
PbiloHophio, PocHie und Kunst horvorgorufi^i , wolclio dio lotom Jalir- 
tandorto verhoniicht liat, Dio tiftfwlo Kinkolir don (Jointon in nidi Holbnt, 
im Hiubliok auf dio gosammto voraitHgt^gaugono Entwid<luug, int liier 
erreicht, ein 55iol, wdfrauf dio Bewogung dor GoHcliichto YOU Anbogiun 
lunarboitoto. 

Dom entsprochond gostaltot Rich, dor Fortgang in d<m KQiiHten. 
Audi dio Ktinsto xcigon in ihror gosclticlitlichou Folgo don FortHchritt 
vom Aoussoron mm Tnncron, von schworor, Kauin orffiUomlor Matorio, 



33 

vom Uebcrgewicht des Aeusseren zuin Hinabsteigen in die Tiefen cles 
Geistes, der dadurch immer mehr in der ilim angemessenen Gestalt 
erscheint. So wie zwar nur ein Inhalt die Natur in ihrer unendlichen 
Mannigfaltigkeit durchdringt, so wie die Natur in ihrem tiefsten Grande 
nur als der vcrschiedon gestaltete Ausdruck eines Lebensprincips zu 
lasscn 1st, so ist es auch nur ein Geist, ein In ha It, der in den ver- 
scliiedenen Iviinsten seine aussere Erscheiming findet. So wie jeiloch die 
vcrscliiedencn Reich e der Natur bald nielir bald weniger vollkommene 
Offenbarungsstufen des ein en Geistes sind, bald mehr bald weniger 
geeignet erseheinen, das Ganze des Weltinhalts zur Erscheiming zu 
bringen, so wind auch die verscliiedenen Kiinste bald melir bald minder 
angemessene Ausdrucksweisen fur die Unendlichkeit ties Geistes. Diose 
Angemostfonheit der kunstleriscben Ausdrucksmittel dafur, die grossero 
oder goringere Fiihigkeit der einzelnen liunste, diese Unendlichkeit zur 
Erschoinung zu bringen, thro grossere oder geringere Unfiihigkeit , die 
Totalitat cles Geistes darzustellen, bestimmt die Eangordnung derselben. 
Diejonige Ivunst ist die hochste, umfassendste , wolcbe den Geist in ent- 
sprochendstor Weise zur Erschcinung zu bringen vermag, deren Mate- 
rial ihn in seiner ganzon Ffille aufzimehmen faliig ist, diejenige die nie- 
drigste, die dies am wenigsten erreicht und noch am meisten mit dem, 
Materiellen zu kSnipfen hat. Die Poesie ist die hochste, die Baukunst 
die nieclrigste Kunst, denn hier ist der Geist noch in die Materie ver- 
soukt, dort erscbeint die Matorie vorflfichtigt , und in den Geist aufge- 
noniinon. Sculptur, Malerei und Musik liegen zwischen den genann- 
tou heiden Endpuncten und bilden die Vgrmittlung clerselben. Der 
Baukunst am niichsten steht die Sculptur, an diese schliesst sich die 
Malerei, an diese die Musik, und das Ganze kront und vollenclet 
die Poesie als die hochste, allumfassendo Kunst, die universelle, 
welche die Eigenthflmlichkeit tier anderen Kunste, soweit es ihr Ma- 
terial gestattot, in sich aufnimmt, die Darstellung der Stimmungen 
des Herzens mit der Musik gemeinschaftlich hat, und in iliren Scbil- 
derungen die plastische Anschaulichkeit der bildenden Kunst zu erreichen 
bemtilit ist. 

Baukunst und Sculptur kampfen noch mit der schweren , Eaum er- 
ftillenden Materie. Hierzu kommt, dass das Werk der Baukunst noch 
nicht vollstandig in sich abgeschloHsen erscheint, da es, auf ein Anderes, 
auHser ihm Befindlichos hinweisend, noch nicht sich selbst Zweck ist. 
Der Tempcl bezeichnet, so zu sagen, nur erst die Wohnung der Gott- 
hcit, er ist nicht an sich selbst schon die Erscheinung des Gflttlichon. 
Als btirgeiliche Baukunst aber dieut dieselbe noch endlichen Zwecken 

3 



84 

und Mngfc mit clem geniclnon Leben zusammen. llmfassendor ist das 
Material dcr Setilptur, fiihiger fiir die Darstollung der Totalitiit des 
Geistes; die Kunst erwackt in ihr zu grosseror iudividuoller Lebendig- 
keit; clas Werk der Sculp tur ist em in sicb abgesclilossones Gauzes, sich 
selbst Zweck, und das Unorganised , Elcmentarische dor Baukunst ist 
versclrwunden ; die menscliliche Gostalt ist der nachste Ausdruck des 
Geistes. Aber es felilt der Bildhauorlcunst der bolebte Blick, der Blitz 
des Auges, und soinit Dasjenige, was auf sinnliclicm Gebiot don Geist 
am Angernessensten zur Erschoinung zu bringen vovnuig. Der Mangel 
des Blicks ist liier nur darmn kein Mangel, well anf der Stufo 
wenigstens, welche diese Kunst bei den Grieclien ohmahm - aller Aus- 
druck nocli in die Gesammtheit dos Korpcrs golegt, und das Antlite mit 
diesem obenmaasig beliandelt, niclit" aber einneitig bevoraigt nnd alloin 
2um Organ des AusdrneJb gemaclit ist. A us diosom Grundo int ancb der 
nackte mensclilic.ho Korper der wichbigMlc Gego.nntand all<^r Darstollungon 
in dioser Knnst. Die Malorei beschriinkt sicli anf dio Fldcho, indein 
sie den Scheiu der riiumlichen Ausdolimmg nacli alien Seiten an die 
Stelle der wirklicben vollon liamnorfnllung sotzt. Das Materiollo ist 
sclion zum Theil veiilticlitigt , und der Geist bat Exintouz in einor ihm 
entspreclienclercn Sphiiro gowonnen. So vorBoliwindet ancli das Nackte 
insoweit, class es nur nocli eiu Gegenwtand ncben anderon int, obne dass 
der Accent ausschlicHHlicli darauf rulit. Abor der Gowt ist dessenunge- 
achtet nocli an das Materiello gebumlon. Ho Bcdoutendes das Ange zu 
oifonbarcu vonnag, inmier ist os oin rnin siimlic.lies Ausdrucksmittol, 
mid in der Kunst wcnigstoBs unveruiogond, dio Fiillo der Uogungon des 
Herzena und seine wecbselndeu Stimmungoax zur Darstelluug m bringen. 
Die Malorei ist zwar iiu Htande, das hinoro Loben desselbcvu, die Sfcim- 
mungon und Leidenscbaften, die Situationon dor Soolo in (josfcalten, Pby- 
siognomien und Blick aus/Aidrfwkcn, OH Hind abor tlooli immer fiberwiegend 
nur die imicbtigor und deutliclier borvortrotondon , don gesanunten Oha- 
raktor des Jndividuuins bcstinnnondou Kigons(*.luifton, w(^lcbo sio zur Dar- 
stollung bringt, niclit dio inoliv iiu 'Inn(u*ou V(^rschlossonon , zartoron, 
loiclitor voruberscliwobendoa Regungon. KH giobt Kinpiindungen und 
Zustande, wolclio sicli im Aeussercn dos MonHtilion gar niclifc ausprslgon, 
und fiir dieso hat dann tlio Maloroi koin Organ. Diose tiofston, vorbor- 
gensten Itegungen datvAistollon , ist gauss oigontlicb dio Aufgabo dor 
Tonkunst. Sio hat das Material gcfundon, wolcbos die Tiofon dor 
Soele mmnttolbar zum Ausdriu* bringon kanu, Dies ist die ilohoit, dio 
GrGsso dor Musik, dioser Kimst d(U" Scol<s worin sio von koinor andoron 
orreicht wirci Dass sio jedocli, uud iuBbosondoro dio roino Tnstrmnontal- 



35 

musik, nicht vermag, ihren Inhalt zur Deutliehkeit der Yorstellung heraus- 
zuarbeiten, dass sie den Geist nur erst in Stimmungen der Seele erscheinen 
lasst, 1st als ilire Beschranktheit, als ihr Hauptniangel zit bezeichnen, und 
sie muss darum den Preis, die hochste Stufe des Kunstgebiets, der Poesie 
iiberlassen, welche, universeller, die Tiefe der Empfindung und die Klar- 
heit des Gedankens zu einen, den Geist am vollstandigsten zu offenbaren 
vermag. In der Poesie ist das Aeussere, Sinnliche ganzlich verfliiclitigt ; 
der Schall des Wortes ist nicht mehr umnittelbarer Ausdruck des Geistes, 
wie in der Tonkunst der Ton, sondern erscheint herabgesetzt zu einer 
willkurlichen Bezeichnung fur einen darin verborgenen Inhalt. 

Es erhellt - aus dem Gesagten , wie jede Kunst eine hervorstechende 
Eigenthiimliclikeit besitzt, in der sie alle ubrigen tibertrifft, wie sie aber 
auch eben so sehr der nachstfolgenden stets den Preis iiberlassen muss; 
diese biisst die Yorziige der vorangegangenen zum Theil ein, entschadigt 
aber daflir wieder durch neue, bisher nicht gekannte Eigensctaften. Wenn 
wir daher sehen, wie die verschiedenen Ktlnstler, Musiker und Dichter, 
Maler und Bildhauer, oft genieint sind, die Kunst, die sie speciell ver- 
treten, an die Spitze aller ubrigen zu stellen, so wie die Ktinstler im 
Allgemeinen wieder gern sich als Herrscher im Eeiche des Geistes iiber- 
haupt betrachten, und eine Neben- oder wol gar Unterordnung im Yer- 
haltniss zur Wissenschaft nicht gern "dulden, so ist das ein verzeihlicher 
Irrthum, den wir tiberall da selien, wo die Vertiefung in eine Specialitat 
den Blick fur das Allgemeine triibt. So sehr aber auch dem oben Dar- 
gestellten zufolge die Grenzen der einzelnen Kunste in einander ver- 
laufen, und diese Manches gemeinschaftlich besitzen, so scheiden sich 
doch auf diese Weise die Kunstgebiete, und es ist darum hier der Ort, 
wenigstens was Musik und die Nachbarktinste betrifft, im Voriibergehen 
die Grenzen noch etwas genauer anzudeuten. 

Die Malerei hat nicht mehr die Aufgabe der Plastik, fast aus- 
schliesslich die menschliche Gestalt sich zum Vorwurf zu wahlen, und 
den Geist so weit darzustellen, als er in diese einzudringen fahig ist. 
Sie geht iiber die Schranken des KOrpers hinaus, indem'sie ihren Aus- 
druck hauptsachlich im Gesicht concentrirt und die ubrigen Korpertheile 
als untergeordnete hinstellt. Das Nackte tritt darum zuruck, clem Ge- 
sichtsausdruck, sowie uberhaupt einer complicirten Composition weichend. 
Im Vergleich mit der Musik aber ist sie auf einen engeren Kreis von 
Eegungen der Seelc beschrankt, und es entgeht ihr das fliichtig Yer- 
schwebende, es entgehen ihr alle zarteren Bewegungen des Inneren. 
Beide indess begegnen sich in der Darstellung von Stimmungen. Die 
Musik lasst dieselben umnittelbar erklingen, die Malerei bemachtigt sich 



36 

ausserer Gregenstiindo, imi diesclben dadurcli zur Anscliauung zu bringen. 
Jene geratli auf einon Abweg, wenn sie den Boden Hirer Tnnerliclikeit 
verlSsst, nncl, soweit sie es vermag, durcli ausschliossliche Nacli- 
bildung von Acusserlichkeiten , duroli sogenannte Malevoi, die Stini- 
mung in uns lorvorrufon will; diesc iiborscliroijbot iliro Grenzcn und 
niiliert sicli der Musik, wenn sio zur Darstollung wiiblt, was niclit in 
dieser wirldicli aufgelit, sondern, dariVber Mnaus liogond, niohr nur 
gealmt und errathen werdcn kaim. Die Malovoi irrt, wenn sio sicli, 
statt im Bilde Alles zu conccntriren, in Stimniungen verliiut't, wolclie 
die scliarfen Umrisse der Qostalton vorachwiimnon lasscn ; die Musik gelit 
fohl, wenn sic die Objectivitiit der Malorei erroiclien, durcli gotreuo 
Nachbildung von Aeusserliohkeiten all o in das Jnnoro wocken will. 
Ein Orgolspioler in gvossartigor Kh'clio boi abondlichor Bcleuclilung 
gemalt, icli sail ein soldier Bild kann uns wol crratliou lasaen, 
uin was es sicli liaiulolt, abor das Gomiilde woist ubor sioli liinaus auf 
Etwas, das aussorhalb seiner Oronzoii liogt, vonumgoselzt, tlass dasselbo 
nicht bios Arclutektursttlck soin soil, und der OrgolHpiolor allein oiuo 
niclit gliicldicli gewiililto Stadage xn Widen besthnmt ist. Ko schweifen 
niancho Gomiilde der Dusseldorfor ScluJo ebenfalls fiber diese Qronzo 
Mnaus, briugo.n mis Stimmungcu zur Anscliauung, ffir woloho das J)ar- 
gestellte nur eine Andeutung ist, und OH Hchoint luer das erste (Jruud- 
gesetz tiberselien, dass dan, was die JVhiloroi malt, wirklidb aticli in ilir 
Bereich eingelie. Die Musik golit folil, wenn mo NatureindnuAe, Sicbt- 
baros und HOrbares, ausserlidi alloiii nabbil<loiii will, statfc diesolben in 
don Brennpunct dor kftnstloriHohon Kini)fhuluiijjf ziwannnon/Aifasson, und 
nur das auszusproclien, w a s d u r o b j o n o E i n tl r ii c k e in u o r 1 i c b g o - 
weckt wurdo. Hie vormag* dies wat: auf keino aiuloro Woiso, alB 
indem sio die liussere Erscbeinung* naclil)iltlot; d(n; grosso UntorHcliiod 
abor ist, ob dies auf nur ausHOrliclie WOIHO gOHcliiobt, ob der Kfuwtlor 
mil don Augon dos Naturforscliors, niifc doin Verstaudo, beobachtet, 
odor ob durdi das Nacligcbildoto dio ytiiinuung durchklingt, d. b. ob 
clor luinsfclor kiinstleriscb , inifc dor ,1 Mi a n t a B i o , soinon ( I egonstand 
crfasst liat. 

Wiclitiger gostaUtik sicli dan Vtu'luiitniss dor MuHik zur POOHIO und 
das Inoiiiandorsoliwoilon b(jitlor (3el)ioto; wir boniorkon iibiU'baupt woit 
mebr oin Votwfirtsgroifen der oinon Kunst in dio uilohrtfcfolgondo, als 
oinen lliickgang dersolben; so schwciffc dio Malovoi in M,usik, dioso in 
dio Poosie binuher, seltoner abor dioso in jouo, odor dio Musik in dio 
Malorei. 

Dio Pooaio bat init der Tonlciuwfc, wie diose juifc dor Malovci, das 



37 

Reich der Stimmungen gemeinschaftlich ; wahrend aber die Musik darauf 
beschrankt ist, gelit jene, die Einlieit der Stimmung iiberschreitend, 
fort zu grosseren Gegensatzen, die sie clurch das Band des Gedankens 
zu verbinden vermag, fort zur Deutlichkeit der Vorstellung uncl zu 
scharfster Besthnmtheit des Ausdrucks. Die Musik unternimmt, wie uns 
einzelne misslungene Beispiele der neueren Instrumentalmusik lehren, 
einen vergeblichen Mug, wenii, sie die Poesie in dieser Deutlichkeit 
erreichen, weriu sie den Ausdrucfc zu solder Bestimmtheit fortfuhren 
will,, clas unmittelbar in Worte zu ubersetzen, was sie meint; sie giebt 
dainit gerade ihre grosste Eigenthiimlichkeit, das Unsagbare auszuspre- 
clien, aiif. Andererseits freilich vermag dieselbe ihre Grenzen viel welter 
auszudelmen, als die Beschrtaktheit einselien imd zugestehen wiU. Zwar 
ist sie niclit im Stande, zu Gegensatzen fortzuschreiten, welcte in der 
Poesie nur nock durcli die wirkEche Einlieit des Qedankens ihre Ver- 
sohnimg finden. Audi darf die Musik niclit zu solcien losgerissenen 
Besonderheiton, welche das Band einheitlicher Stiinmung nicht umschlin- 
gen kann, sich steigem, wenn sie nicht sich selbst untreu werden will 
Wurzelnd in der Empfindung, vennag sie irn AUgemeinen nur bis an die 
Grenzen dieses Keiches vorzuschreiten ; will sie mit dem Wort an Be- 
stimmtheit wettoifern, so verlasst sie ihren Boclen, so bringt sie lauter 
Bcsonderhciten, besondere Seelenzustande zur Darstellung, ftir welche 
die Binheit nicht mehr in der Grundstinunung, sondern in dem dartlber 
schwebenden, musikalisch nicht dargestellten, abstracten Gedanken liegt, 
und die Harmonie des Kunstwerks ist zerrissen. Beispiele aus der 
neuesten Kunstentwickelung aber haben uns gelehrt, class trotz der An- 
naherung an den Gedanken, selbst clen abstracten, diese Einheit der 
Stimmung sich bewahren lasst, dass eine solche nicht bios durch das 
ausschliessliche Verweilen in der Region der Empfindung, sondern durch 
die Totalitat des Geistes herzustellen ist. 

Es bleibt mir noch tibrig, die beiden Betrachtungsreihen, welche 
ich bisher getrennt verfolgte, zusammenzufassen. 

Der Entwicklung cles allgemeinen Geistes in der Geschichte und 
der soeben bezeichneten EigentMmlichkeit der einzelnen Klinste entspricht 
die geschichtliche Aufeinanderfolge derselben, die abwechselncle Er- 
hebung derselben zu Tragerinnen des Zeitbowusstseins. Der Orient, 
diese noch in das Naturliche versenkte Welt, beginnt mit cler Bau- 
kunst. Die Werke derselben gincl in das Abenteuerliche verzerrt, oder 
sie streben ins Ungeheuere, ohne das Maass der Schonheit, und die 
Sculptur, wo sie auftritt, bringt es noch nicht zur reinen menschlichen 
Gestalt, sondern nur zu einem dammernden Ahnen, zu Anfangen, die 



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bald, wie in Indien, in das Monstrose sicli veiiieren, bald, wie in 
Aegypten, mit TMergestalten verwachsen sind. In dassischer Vollendung 
erscheinen Baukonst und Sculptur zum ersten Male in Griechenland ; 
zum ersten Male tritt, entsprechend dor Stufe ernes rein menschlichen 
Bewusstseins, welche jetzt erroicht war, die menschlicho Gestalt auf in 
ihrer Reinheit, und das Thierische, das in Aegypten nocli cin Wesent- 
liches war, erscheint zum Attribut der Getter herabgesotzt. Ntir weil 
den Griechen innerlich das Bewusstsoia dor Menschonnatur aufgegangen 
war, vermochten sie cntsprechende aussero Gebilde hinzustollon ; denn 
der Menscli vermag mir ' u clas in der thn umgebondon Wolt wahrzuneh- 
men, wofiir das geistige Verstandniss schon orwacht ist, w3.hr end alles 
Andere, obschon wahrnebmbar, niclit in sein Bewussteein fallt. Etir das 
Clmstenthnm gentigten diese Ktinste nicht melir ; das Chrwtenthum for- 
dorte ein hoheres Material zum Ausdruck fur seinen Tnlialt. Die Malerei 
flbernahm zunadist die Offonbarung cles fortgesclnittenen Geistes, Gei- 
stiger als die Sculptur und zugleich noch sinnlicli gonug, urn oinerseits 
dom noch mit Sinnlichem bohaftoten, noch nicht in seiner Roinheit or- 
scheinenden Christenthum , anderersoits der noch hoidniach - plastische 
Elemente in sich tragenden Individualitat der Ttaliener und Grioohen 
Gentige zu leisten, golangto in ilir der christliche Goist zunadist zum 
gegenstandlidien Bewusstsoin seiner selbst. Audi die Baulmnst, dom 
neuen Prindp gemfiss umgestaltet, foiorto eine erneuto Blfitho, aber jotzt 
vergeistigt, so class das Matoriollo moglichst verMchtigt orschoint, Bnd- 
lioh erblicfcon wir, hervorgcrufen clurch die gottesdienBtlichen Vorsamm- 
lungon der Christen, die ersten Anfiingo unserer Musik. Dio Kunst, 
welche dem holier ontwickolton Bowusstsoin spfttor als hQchstes Organ 
des Ausdmckfl dionon sollto, mussto hier zugleich, boi den ersten An- 
ISngen veilinclerter "Woltansdiauung, ihre erste Entstehung findon. 

Die Tloformation fiihrte das in dor Welt und in looron Aeusserlich- 
keiten untergegangono Ohristonthum zunadist zu seiner ursprtlnglichon 
Eeinheit zurflck; dor grosso Schritt aus dor Aoussorliohkoit des Katho- 
lidsmus in die innoro Welt des Goistes wurde durch sie voEbracht, und 
das religiose Bewusstsoin gewann aussorordontlich an Vertiefung, Aber 
auch im Katholicismus wurde miter der Einwirkung der Keformation 
eine Ernouerung des religiosen Lobens angostrobt. Die Papste, wio 
Julius 1L und Loo X., in Sinulichkoit, woltliche Pracht und Luxus 
versunken, orgriffen in der woiton HSlfto clos 16. Jahrhunderts in diesem 
Sinne onorgischo Maassregoln. Dioso'grosson Bowogungonwaron 
die weltgosohichtlicho Goburtsstundo dor Tonkunst als 
hoherer Kunst, ihnon verdankt sie ihren Kintritt in das 



39 

Leben, und ilire Befreiung von den scliolastischen Spitz- 
fin dig keit en der Schule. Jetzt wurde die Musik die herrschende 
Kunst und dies bis herab auf die Gegenwart, Organ des neuen Geistes, 
so dass sie in den Jahrhunderten der Neuzeit die kunstlerisclae Spitze 
des Bewusstseins bildet. Oder genauer wenn dies den grossen Lei- 
stungen auf dem Gebiet der Poesie gegentiber als zuviel gesagt erschei- 
nen sollte: sie wurde diejenige Kunst, welclie, der ausgebreitetsten 
Sympatliie sicli erfreuend, das in der Tiefe des Bewusstseins Selilurn- 
mernde, Allen Gemeinsarne, zum Ausdruck braclite. 

So gewaliren wir die Stufenfolge der Kiinste, wie sie ihrem inneren 
Wesen nacli sicli darstellt, zugleicli verwirklicM in der zeitlichen Er- 
sclicinung. Die Poesie aber hat aucli Her eine eigentMimliclie Stellung. 
Umfassender als alle ttbrigen Kitnste und nicht an ein beschranktes 
Material gebunden, fur dessen Handhabimg eine besondere Begabung, 
eine besondere Organisation nothwendig ist, tm Gegentheil sich des alien 
Menschen eigenen Ausdrucksmittels bedienend, begleitet sie, die alteste 
zugleich und die neueste Eunst, alle Oulturzustiinde, niclit stehend oder 
fallcnd init einer besonderen Epoclie, deren Wesen gerade dem ilirigen 
besonders entsprecliend ware, wie wir das bei den anderen Kunsten er- 
blicken, obsclion naturlich. aucla bei ilir Hebungen und Senkungen in der 
Entwicklung zu unterselieiden sind. 



Dritte Vorlesung, 



GrORcldcMc dcr Musik iu Ualicn: Ilomiseho Scvliulo, PalcHtrina. "Nauini, Allo#vi. 

Yitloria, Baj. 

Nachdem wir die Vorgoscliiclito loll nannto Bio die Lolir- und 
Waudorjahro dor TonluuiBt kennen golornt liabon, troton wir doin 
orston Aiifsehwungc tlcrtfolbon xu clusHischor HOlio niilior. Die Niodor- 
lando vcTHclrwindon fur immer von dom Scliauplatz ; Jlalion, DoutHch- 
lancl und JPrankroicli iibornohiuoai dio Woitorontwicldung, mid wordon 
bis liorab auf die Gogoawart ilio fur MuBik bodouttmdBton Lfindor Kuropas. 
In England xoigten sich /Avar Anfingc oinor oigonou Munik, abcr dio 
Kunst 1st boi diosen AuCiugen gobliebon, olino 7Ai oinor wirklichon und 
umfassondon Entwickluug m golangon, und OH sind doHlialb imv vor- 
oinzdto ErBclioinungou m ncnncn. Tliomaw Tallin und donnon 8cluilor 
Bird, Beido OrganiHton dor Kdnigin Kliaabotli, Hind dit^ wonigon Ton- 
sotzor, dio sicli tun di(^o Zoit dort uuHgoxoicIiiK^ liabon. Was Spanion 
beferiJTt, so liabo icli Bchon in dor Itfelon VorloHung oinoB'horvorragon- 
don Nainens orwalmt, oinon andoron wordo icli naohlior godonkon. EB 
Bind in dioaoni Lando aucli nur voroinxolli(i J^rHc^ioinunjjfon, wolclu^ dio 
GoBcldclito /at nennou liat ; Iriorai kouunt nodi, daH dioH( wouigon licr- 
vovragondon TonHct/AU" in Ifcalion lobton, dort iliro .Hildung orlialton liatton, 
und also gointig oinom andoron Uodon angtdidron* Fra,nkroicli tritfc (ivtit 
spatov in dio Kntwicklnng oin, in dtun gogcuiwilrtigon 55oital)Hclmifct or- 
Bolioiut Boirio luuiHt obonlalln nodi nolir unbodcuitoud. 

l)outacliland und ftalion Hind dio Lilndor, woldio /Ainlu'lint - - und 
wir kfmnon Bogloich IiijwuCugon: au<^li ITiv allo Polgoxoit inunikaliBcli 
grotffl und bodoutond auffcnilKui. 

Jokt infc os xiiiuldlisi; T tali on, mit doHHon Goschic.'hlo wir UUB aua- 
fiilniiclior 7Ai boKclififfcigon liabon, 



41 

Icli wies schon in der vorigen Vorlesung auf die grossen weltge- 
schichtlichen Bewegungen bin, deren Schauplatz das 16. Jahrhundert 
war : ein lebliafter Drang nacli Erneuerung cles religiosen Lebens, nach 
Neugestaltung desselben aus dem Innern heraus, das Bedurfniss, nicM 
(lurch Vermittelung bios verstandesmassig erfasster Dogmen (wie im 
Mittelalter) , sondern rein im Geist imd unmittelbar mit der Gottheit 
sieh eins zu wissen, machte sich geltend. Auch die Mrchliehe Tonkunst 
war yon diesen Bewegungen nicht unberuhrt geblieben, rnehr imd rnehr 
hatte sic sich im Laufe der Zeit aus den Banden einer verstandes- 
massigen Kunstelei befreit, mehr imd mehr sich zur Sprache des un- 
mittelbaren Gefiilils erhoben. Aber noch fehlte es an einer entscheiden- 
den That, in welcher der neue Geist schlackenlos imcl rein zur Erschei- 
nung gekommen ware, gewissennaassen sich selbst mit Bewnsstsein erfasst 
hatte. Die unter der Einwirkung der Keformation sich vollziehende 
Restauration cles Katholicismus, welche in clem Concil zu Trient ausser- 
licli ihren Abschluss fand, rief diese That ins Leben. Palest rina war 
der Genius, in welchem der nene Geist wie yerklart aufleuchtete, der 
Genius, dor mit unmittelbarer Gewalt Alles ergriff als der beredte Ver- 
kfludiger dcssen, was in den Herzen seiner Mitwelt lebte imd nach 
Ausdruck gerungen hatte. Die katholische Kirche selbst erkannte auf 
dem erwahnten Concile Pa lest rina als den Tonlmnstler an, (lurch 
wclchon ihr religioses Bewusstsein den vollstandig entsprechenden Aus- 
druck gefuuden habe. 

Ich muss der naheren Umstancle dieser letzteren Tliatsache ausftihr- 
lichor geclenken, da dieselbe wenigstens fur das aussere Schicksal der 
katholischen Kirchenmusik entscheidencl gewesen ist. 

Auf dem Tridentinischen Concil (iin Jahre 1562) , in welchern die 
Katholiken ihre Reformation erblickten, warden, wie Sic wissen, die 
dofinitiven Grundlagen der katholischen Kirche gelegt; das gesammte 
dogmatische Gebaude des Katholicismus sowohl, wie seine aussere Dar- 
stellung im IdrcMichen Cultus wurcle einer Revision unterzogen, nm 
dann cine enclgtiltige Feststellung 211 erhalten. Es war natlirlich, class 
aucli die Musik, als ein integrirender Bestandtheil des Cultus, bei den 
Verhandlungen mr Sprache kam, uncl die Frage aufgeworfen wurde, 
ob sie in ihrem dermaligen Zustande ihrem Zwecke entsprache. Zwei 
Puncte waren os hauptsachlich, an denen man Anstoss nahm: zunachst 
die Aufuahme weltlicher Liecler in die kirchlichen Tonwerke. Zur 
Erliiuterung dessen muss ich bomerken, dass die bisherigen Tonsetzer 
ftir ihre Messon nicht HUT den gregorianischen Kirchengesang, sondern 
auch Volksmelodien zur Grundlage genommen hatten. Zu diesem ganz 



gewohnlichen xmd allverbreiteten Verfahren mag anfangs die Unfahig- 
keit cler Tonsetzer, im Melodisclien ebenso erfinderiscli aufzutreten, wie 
in der contrapunetischen Behandlung, Voranlassung gegeben haben. Es 
dachte jedoch dabei Memancl an Profanation; Kireblicbes uncl Welt- 
liches war in jener Zeit (iberhaupt nictt strong geschioden, das Kirch- 
liclie war vielmelir das Allumfassende. Die Tonsetzer betracliteten die 
Yolksmelodien in domsolbon Sinne als rolien Stoff itir ihre contra- 
punctisclien Tongewebo, wie die kirchliclien Ritualmotivc. Zudem er- 
innerten die fiber Volkslieder aufgobauten kirclilicb.cn Compositionon in 
ihrer ganzen Haltung in Niclits an den weltliclicn Urspmng dor Themen. 
Beclenldicli konnte hOclistons die Benennnng cler Mossen nacli den An- 
fangsworten cler weltliclien Lieder sein, clurcli wolcho allerdings mit- 
imter liochst wuncleiiiclie Contrasfco mm Vorschcdn kamen. Es kann 
nicht befremdcn, class die katbolisclie Kircbo, in iliroii radical on Reform- 
bestrebungen, in ibrem Eifer, jodo Spur des Weltlichen von dom Cultus 
fernzubalten, an dieseiu Puncte als an einem Missbrauclio Anstoss nalim 
und auf Boseitigung desselbon draug. - Ein xwoitcr Puiicjt der gegen 
die Kircliemnusik orliobenen Anklage bctraf die TJnvorstiindlicbkcit der 
Textesworte in deni contrapunctischen Gefloclito, weblie oino eindring- 
liclie, unmittolbare Wirktmg cler boiligen Musik verliindere, 

So wurde clenn im Hinblick auf diese Uobolstando in cler 22. Rite- 
ting von dor Kirclaenversammlung cine licinigung cler goistliclion Musik 
bescblossen ; sie ei aus cler lurch o zu ycrbamion, kam man tiberein, 
sofern sie sei es im Gesange oder im Orgolspiol ~ irgond oino JJoi- 
iniscbung cles Frochen, Unroiuou zoigo, damit dan Hans don Horrn walir- 
haft ein Botliaus sein uncl lieissen konnc. Diosor BeschluBB wurde Mitte 
September 1562 gefasBt. Der Untomcht dor Jugond in clem gregoria- 
nischen Gesange wurcle ausclnicldicli vorordnet, jedo anclcre Musik aber 
bei Seite gosotzt. Es war nahe daran, class die polypbone Musik ganz 
aus der Kircho vorbannt worclon ware. Nur clio Schuterodon oiniger 
Mitglieder uncl eine Vorstollung, woicho Kaiser Ferdinand L, ein 
grosser Musikfround, durch seinen Gcsandten machen lioss, clio Figural- 
musik joner Missbriiuclio wegon nicht vollig m vorbajinou, da sic, roclit 
angewondot, das wirksamste Mittel sein konne, das Qoinflth in AndacM 
211 orb ebon, mildorton die Stimmtmg der Kirchonvorsammlung, uncl cs 
wurdo nur verordnot, nalicre Erortcrungcn anzustcflon. DasB alien go- 
rtigtcn Mangeln cntscliiedon entgogengotroton wordon miisse, darin war 
man einvorstandon* Die Vollstrookung dor gofassten Besclillisso, die 
nahero Bostimmung war das GescMft cles Papstos. Die Ausfulirung 
vorschob sich aber bis zum Jahre 1564, weil Pius IV* bis claMn anderc, 



43 

dringendere Sorgen besehaftigt batten. Am 2. August des Jahres 1564 
ernannte derselbe eine Commission von acbt Cardinalen, die mit seiner 
Zustimmung wieder zweien aus ibrer Mitte die weitere Erorterung der 
Sache (ibertrugen. Der ML Carl Borromeo und Vitellozzo Vi- 
tellozzi waren diese Beauftragten, die mit acht zu diesem Zweck er- 
wahlten Mitgliedern der papstlichen Kapelle zu einer Beratbung sich yer- 
einigten. Die Verstandigung fiber die AusscTaliessung von Messen mit 
profanen Tbemen verursachte nur geringe Mfihe, Qrosse Scbwierigkeit 
dagegen fafid die Forderung der Cardinale, dass die lieiligeu Worte des 
Gesanges unausgesetzt und deutlicli mussten vernommen werden konnen. 
Die Sanger bemerkten, dass solche Verstandlicbkeit nicht immer m 
erreichen sei. Das "Wesen der barmoniscben Musik bestehe in Nacb- 
ahmimgen iind Fugen; ilir diese nehnien, ware so viel, als sie ver- 
nichten; bei langeren Satzen namentlich sei jene Forderung unerreicb- 
bar. "Wenn die Hannonie der wfirdigste Schmuck der MrcHiclien Peier 
sei, oline jene kunstreiche Ausfthrung und Gestaltung aber nicbt be- 
steben konne, so dfirfe auf Verstandlicbkeit der Worte nicht zu streng 
gedrungen werden. Man vereinigte sicb endKch, einen Versucb zu 
machen, eine Probe einfacb edlen Stils zu veranstalten, einen Gompo- 
nisten zur Ausfuhmng dieser Aufgabe zu veranlassen, urn zu erfahren, 
ob die Forderung wirklich realisirt werden konne. Man waHte hierzu 
den bereits allgernein gekannten Palestrina und iibertrug ihm die Aus- 
flihrung der Aufgabe. 

GriOYanni Pierluigi war geboren zu Palestrina, einer Heinen 
Stadt in der Nalae von Eom, im Jabre 1514*); von diesem' seinen Ge- 
burtsort hat er den Namen Palestrina, mit dem er gewohnlich be- 
zeichnet wird, erbalten. Die Stadt Palestrina ist das alte Praneste, und 
wo daher des berttbmten Tonsetzers Name ins Lateinische fibersetzt vor- 
kommt, beisst er Praenestinus. Pierluigi ist im Deutsclien mit 
einem Wort nicbt wiederzugeben. Der Name entspricbt dem deutsclien : 
Peter Aloys; daher beisst auch Palestrina im Lateiniscben voll- 
standig: Johannes Petrus Aloysius Praenestinus. 



*) Wie Schelle constatirt hat (vergl. Neue JZeitschrift fiir Musik, Jakrgang 
1864, Band 60, Nr. 10, S. 80). Derselbe beweist aueh, dass das Leben Pale- 
strina'Sy wie es uns vorliege, zum grossen Thei] in. den Kreis der musikalischea 
Legende gehore. Sein eigentliclier Parailienname sei Saute gewesen. Baini alber 
babe sicb, nicht ein einziges Mai die Millie geriommen, das wenige Stunden von 
Eom entfernto Palestrina zu besuclien und dort NacMorschungen anzustellen. Aus 
daselbst aufgefundenen Urkunden gehe hervor, dass Palestrina im Jahre J544 
Organist und Kapellmeister an der Kathedrale seiner Geburtstadt gewesen sei. 



44 

Von seinen frtiheren Lebensumstanden ist nur wenig bekannt. Eg 
wird bericMet, dass tier Knabe, einstmals von seinen Aeltern nach Kom 
gescMckt, auf der Strasse Santa Maria Maggiore hinsehlendernd, vor 
sich Mn gesungen babe und yon dein Kapellmeister von Maria Maggiore 
zufallig gehort worden sei. Dieser babe ilm, da Strmme tind Art zu 
singon ihm gefallen, in seinen Unteniclit genommen. Diese Angabe 
jedocli, erst l 1 /^ Jahrhundert spator niedergeschrieben, hatfce, wie Baini 
sagt, des Boweises sehr vonnothen. Glaublicher sei es, dass die armen 
Aeltern Palestrina's, durch die Betrachtung der grossen Vortheile 
ermuntert, deren sich die Tonkiinstlor jener Zeit orfrouten, bald 7Ai clem 
Entscliluss gekommen waren, das frtili sicli ontwickelnde Geriie dieses 
Solines clem Dicnste irgend oiner grosseren Kirch e zu wiclmon, urn so 
mehr, als sie dadurch zugleich der Sorge fur soino woitoro Ausbildung 
enthoben waren. Nachdem er den crsten Mxisikunterriclit in seiner Vater- 
stadt erhalten hatte, wurde or (540 nach Kom goscliickt, dort seine weitere 
Ausbildung zu suchen. Die Schule ties Niodoriandora Claudius Gou- 
dimel war die bcrttlmiteste ; ilir wurdo Johannes tibergoben zugleich 
mit mehrcren Ancleren, namentlich dem naclimals im Vorein rait ihm 
wirkenden Giovanni Maria Nanini, mid bier logto or den ersten 
Grand zu seiner kunstlerischen Ausbildung. Schon urn das Jalir 1551 
finden wir ihn an der (lurch Papst Julius IT. boi der Vaticanischen Ba- 
silika von St. Peter gostiftoton, nach iLrom Begnindor die Juliscbe 
genannten Kapelle in Thiitigkcit, an fangs unter dem Titel oinos Magister 
puerorum, dann als MagixUr capellae. Hier verhoiratheto or sich mit 
einer gowisson Lucretia. EH war dioa em Act, dor spator sohr ontscbei- 
clend ftir die Gostaltung seines Lebens wurde. Hier auch gab er Boino 
ersten Compositionen heraus. Er gewann sich cladurch die Achtung und 
Gunst des Papstes Julius I FT,, dem sie gowidmot waren, und eino 
gltassoiido, froilicli nur kurze Zoit dauorudo, bald vorderbHcho Auszoich- 
nung. Dor Papst hot ibm eino Stollo unter seinen ftangern an, und 
Pale sir in a folgto cliesem ehrenvollon llufo, logto noin Kapolhneistor- 
anit bei St. Peter niodor und wurde 1555 in seine nouo Stollung oiu- 
gcfiilirt. Allein xwci Monato npiitor starb dionor Papnt. Der Nachfolgor 
desselbon, Marcellus, Palostrina's grosner OOunor, oroflhoto dom- 
selbon im Gcisto seines Vorgiingors AiiBsicht auf oino nooh ohronvollore, 
mial)hangigo, piorgonfroio Stellung. Nichts Hcliion das Glflck den Kfinst- 
lors zu trubon. Schou war ein Band aiouor OompOBttionon dazu boHtimmt, 
clem nouon. Horrschor clargobiiu^ht m wordon, Alloin Marcellus starb 
nach einer Regiorung von 21 Tagon, bovor die gegobonon Vorspreclmn- 
gon fur Palest rina realisirt waron, und CB bogann in Mgo davon 'fur 



diesen jetzt eine Epoclie kummerlicher Existenz. Paul IV., der nachste 
Papst, hatte kaiun den papstlichen Stuhl bestiegen, als er die Deputirten 
des Sanger-Collegiums zu sicli berief uncl sie fragte, ob alle Voi'gSage 
und Eimlchtungen In der KapeUe nach den Beschlussen und letzten Be- 
formen der Kirchenversammlung stattfanden. Man antwortete inifc Ja. 
Der Papst fragte welter, ob die Sittenreinlieit der geistlichen Sanger 
wirklich nach deft vorliandenen strengen Yorschriffcen verbttrgt werclen 
konne, nnd beraerkte, er habe gehort, dass einige Sanger im Collegium 
waren, welche dem geistlichen Stande nicht angehorten. Man antwortete 
verlegen, es befanden sieh allerdings drei verheiratliete Mitglieder clar- 
unter, aber sie waren auf Lebenszeit arigenoininen und nach den beste- 
henden Gesetzen konnten dieselben nur wegen schwerer Yergehungen 
ausgestossen werden. Unter diesen befand sicli Palest r in a. Per Papst 
billigte, was sie sagten, entliess sie mit seinem Segen, und am 30. Juli 
1555 erschien die Verordnimg, dass die drei verlieiratlieten Mitglieder, 
welclie zum Skandal des Gottesdienstes und der Kircliengesetze in dor 
ZapeUe lebten, ausgestossen werden soflten. Palest rina, mit Familie 
belastet, verfiel, als er diese Nachricht, die ilin auf monatlich 6 Scudi 
beschrankte, erbielt, in eine schwere, langer als zwei Monate dauernde 
Kranldieit. Docli das Gllick wollte ilim woliL Die Kapellnieisterstelle 
an der Lateranensisclien Hofkirclie war eben offen. Palestrina erhielt 
von dem Domherrn dieser Kirclie eine Einladung, diesolbe anzunehmen. 
Er folgte dem Rufe, obschon karglich besoldet, und trat den I, October 
1555 ein. In dieser Stellung weilte er seclis Jalire, wo dann sein Ge- 
schick wieder eine gunstigere Wendung nahin. Fur seine Studien aber 
waren diese sechs Jalire von der grossten "Wiclitigkeit ; er arbeitete 
ausserordentlicli fleissig, und das Erwachen seines Genies datirt sieh aus 
dieser Epoche seines Lebens. Eines seiner Werke, welches fur alles Spa- 
tore von entscheiclencler Wiclitigkeit geworden ist und don Grund zu 
Palestrina's nachnialigem Eulime gelegt hat, faflt in diese Zeit. Es ist 
eine Composition fur die Passionswoclie , bekannt unter dem Nanien 
Lnproyeria, folgende Worte enthaltend : Was habe ich die getlian, mein 
Yolk, oder womit habe ich dich betrubt ? Antworte mir. Aus Aegypten 
habe ich dich gefithrt, und du hast deinem Heiland das Kreuz bereitet. 
Was k5nnte ich dir Mehreres thun und hatte es nicht gethan? Als 
meinen auserwahlten Woinberg habe ich dich gepflanzt, aber bitter hast 
du mir vergolten. Mit Galle und Essig hast du meinen Durst gestillt, 
mit dem Speore deines Heilandes Seite durchbohrt. Heiliger Gott, 
heiliger starker Gott, heiliger ewiger Gott, erbarme dich unser". Die 
Schlussworto werclen abwechsclnd griechisch und lateinisch gesungen. Sie 



46 

ftihren den Namen Trisagion. Als zur Zeit des Kaisers Tlieodosius, 
so berichfcet dies beilaufig zu erwalmen die Legende, Oonstanti- 
nopel YOU einem furchtbaren Erdbeben und einem heftigen Sturmo heim- 
gesucht war, wurde ein Heiner Knabe mit fortgorissen und in die Ltifte 
erhoben. Der Kaiser und der Patriarch Proclus waron zugegen mit 
einer nngelieuern Menschenmenge uncl riefen alle laut in der gewohn- 
lichen Bittformel: Herr, erbanne dich unser. Der Knabe kam unbe- 
schadigt wieder auf die Erdc herunter und rief jctzt mit lauter Stimme 
den Anwesenden jenes Trisagion: Hoiliger, starker, ewigor zu, mit 
dem Befehl, sich dieser Worte fortan bei ihren Goboton zu bodienen. 
Kamn aber liatte er dieses gosprochcn, so sank er todt zur Erdc" zuriick. 
Auf diese Weise sollen jcne Worte in die Liturgio der Kirclie gokommon 
sein. Die musikalische Bebanillung des mitgotheilton Textes orregte 
allgemeiu einen solchon Enthusiasmus, und machto einon so tiefon Ein- 
druck, dass der Papst Pius IY. sich davon ezne Absehrift ausbat, und 
sie in seiner Kapelle auszufiihren befalil. Zirai ersten Male wurde das 
Werk am Cliarfreitage des Jahres 1560 aufgofulirt und ist soit dieser 
Zeit bis auf die Gegenwart herab alljShrlich in der hoiligen Woche in 
der papstlichen Kapelle wiederholt worden. Palest r in a liess zu jenen, 
ein tiefes Geheimniss klindenden Worten die einfachsten, scHichtesten 
Tonverbindungon erklingon, wie sie clem sanften, aber ornston Vorwurfo 
iincl dor innigen Reue geziemtcn. Zur niiheren Veranschauliehung ge- 
denke icli Mor noch einiger Aousserliclikoiten. Bei dor Ausliihrung 
namlicli werden die Altfce und alles Uobrigo von dem Thronhimmol bis 
auf die FussbOdon auch noch ihror taglichen gewolinliclien Bedockung 
entlcleidet. Die Cardinal e erscheinen einzig an diosem Tago statt in 
Seide in Sarscho gokloidot; die ganzo Liturgio veniith den (Jharakter 
von Verwirnmg und Unvollstaudigkoit ; koine Weihrauchwolken, koin 
KerzenscMimner. Alle Bilder sind sclion Tags zuvor verhullt. Jetzt 
wird, bovor der Priester dio Donneratags gowoihto, in das hoiligo Grab 
niedcrgelegte Hostie erliebt und goniosBt, nur das Krouz enthullt, als 
Gegonstand der Vorolirung. Paarweiso nahon Rich ilou dio Glflubigon, 
sich clavor nioderwcrfend. UnterclesB ertont jonor Ohorgoaang von der 
HOlio dor Kapolle. Wie nun die Umgobung boi der gamen lacier jedes 
Schmuckcs und Glanssos entldeidet in iliror ernsten Tranor das Gonuith 
um so mehr zu einor innorliclion, goistigon Andacht stimrat, so vornali- 
men in dem Werko Palostrina's dio H5ror statt cles bisherigen 
Prunkes mit den Kunstmittoln zum orsten Male nur die Tone dos Ge- 
ftihls. Der grosso Schritt aus don Vorstufou der Kunat in das inner e 
Heiliglhum dorselbon war gethan. 



47 

Jetzt nun, als die Verbesserung* cler Kirchennausik zur Sprache kam, 
erinnerte man sich Palest rina's und seines soeben besprochenen 
Werkes, sowie anderer, ahnlicher Compositionen, die er in der nachst- 
folgenden Zeit dem Papste uberreicht hatte. Die Cardinale machten 
den Sangern bernerklich, class jene als eine Hauptbedingung ausge- 
sprocliene Forderung Her erreicht sei, dass die heiligen "Worte klar und 
deutlicli gehort wtirden. Es wurde indess erwidert: kurze Stiicke dieser 
Art konnten niclit entsclieiden ; bei langeren Gesangen bleibe die ge- 
stellte Forderung, wenn man sie nicht beschranke, unerreichbar. Man 
vereinigte sich endlicli, wie selion bemerkt, dahin, es auf eine Probe 
ankommen zu lassen, und Palestrina die Composition einer ganzen 
Messe aufzutragen. ISTeben volltonender Harmonie, Beichthum und kunst- 
voller Verfleclitung, Abwesenheit aller bereits verworfenen Ausscliwei- 
JFungen, solle wiirdiger, andachtiger Ausdruck, vollkommene Verstandlicli- 
keit der Worte die verlangte Messe auszeichnen. Gelinge es, diesen 
Forderungen zu genugen, so solle in KtieksicM der geistliehen Tonkunst 
keine Aenderung eintreten. Palestrina wurde durch den Cardinal 
JBorromeo personlicli von diesein Auftrage unterrichtet, und er schrieb 
nun ini Geiste cler ihm gewordenen Aufgabe nicht eine, sondem drei 
Messen, jede zu seclis Stiimnen. Baini erlautert ausftilirliclier , vie 
weise und wohlbedacM die Zahl dieser Stimmen genannt werden miisse, 
Durch doppelte Basse wollte er grosseren Spielraum in der Ausfiihrung 
gewinnen, oline die Grundstimme zu selir anstrengen zu dtirfen; neben 
kunstlicher Verfleclitung sollte ihm so die Moglichkeit bleiben, die 
Stimmen in zwei Chore vertheilt gegen einander wirken zu lassen, ohne 
die Stimmenzahl zu selir zu vervielfachen, wodurch der IQaiiieit Eintrag 
geschehen ware; es sollte Mannigfaltigkeit und stete Verstandlichkeit 
erreicht werden. Die erste Messe, bemerkt jener Schriftsteller, tragt das 
Gepriige des Ernstes und der Andacht und erfullt das Gemtitb mit 
heiligem Schauer. Der Handschrift fand man nach Palestrina's Tode 
auf dem Titel beigefugt: illwnina oculos meos (Herr, erleuchte meine 
Augen), als sicheres Zeichen, dass er die Hlilfe des Hochsten vor Beginn 
seines schweren Werkes angefleht hatte. Bewegter und mehr voll Aus- 
druck kindlichen Vertrauens war die zweite Messe; aber beide trugen 
doch mrnier noeli einen Beischmack des alten niederlandischen Stils. 
Priift man beide genau, sagt Baini, so findet man den Stil des Jos- 
quin, ein anderes Mai den des Costanzo Festa und Anderer. Man 
giaubt hier einen Mann zu sehen, der die Wahrheit zwar in der Feme 
erblickt und ihr nacheilt, wenn er sie aber erreicht zu haben giaubt, 
nur ihren Schatten in den Handen halt. Ein Werk der reinsten Be- 



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geistenmg, vollkoimnon frei von jocler 'Schwcrfiilligkoit, war erst die 
dritte Mossc. Andachtig und clocli belebt 1st dor Gosang dor Stimmen, 
ergreifond die Harmonie, von dor hochsten Mannigfaltigkeit die Anord- 
nung dos Einzolnen. Die Worto sind iiberall vollkonunen vorstandlich, 
die Schonholfc des Ganxen inl oino heilige, niclit auf dom Trunk dor 
Ivunstraittel beruhende. Am 28. April drrtif) begaben sich sfunintliche 
papstliehc Siinger auf Befelil des Cardinals Vitclloz^i in He-inon Palast, 
wo ssugleicli die ubrigen Curdiniilo yicli oinfanden. Die dritto Messe 
trug vor alien den Prois davon und orstritt dor Figuraliinwik oino blei- 
bende Stelle in dor rdmischen Kirclie. Die papstliclien Siingor ompftngon 
den erfrenlidien Boscheid, class in dor goiHtlickm Miwik Niclita goaml(,rt 
werden tsollo, aber auc.li die driugoudo Malmung, nur Gosangc, ibrtan 
auszuftihron, wolclio den Jloiliglluinia gloic.h wiirdi^ wiiren, -\vio, die drei 
goLorton Mearion. Xwei Monato njiiltor wnrde dio I'roiHniOHHo mn\ ei'Kten 
Male Lei dem Gultesdionste in Gc^onwart don Papstc^ vorgotragon. 
Pius IV. soil ausgorufon liabon: ,,llior glelit ein Joluumen in dom 
irdisclien Jerusalem UHB eine Kinpiiiidung von jenom (SoHango, den dor 
hoiligo Apontel Joluinnen in dom liinmiliHclion JeniHalem oiimt in 'pro- 
plietJBclior Enfafurkmig vornahiu." Baini al>or soluxubt: ,,Aln diono Tone 
mm oraton Male in dor SixtiiuHclton Kapelle erklang'on, in jonein Jleilig- 
thiiine, welclies Baukunnt xiud Muloroi nic/ht lango vorher orst vor- 
herrlicht hatton, nprangen dioso Kunste von ihron Hiteen, innanntoti die 
Tonkunst aln iliro obonbiirkigo HoliwoHfcor, und ^rdHBeros linteiicken ei- 
griil die Anwonwidon, alw /air Xloit Grioc.honlaudrf jomaln tlu^ llorer dor 
beriilnntosten Tonkfnmtler O([(\Y diclitorischon Hfui^er oinpCandou." 

So iBt, durch diono That, Palentrina der Uegrunder dor itali(Uii- 
Bchen KirdicnniuHik, (hu; JJogrtlndor OI'IIOH nationalon KunntHiilH filr ftalien 
geworclen. Zugloicli wurdo durcli ilui auf dioBe WiHt die daHHinohe 
?oit dor chriBtlieheii Miwik, (lie Epoc.he dor hf>heren Ktnwt eroffnet. 

Allo fnllieren ScliriftHtollcr, nodi vor .USiiO, vorlotfkm das jekt bo- 
sprochono Ereignisn in die itogiorungHiago den Papnten MaroclluH, und 
glaubton, dasn durcli dionon die Kolbrni (let; KirolionniuHik veranhiHBt uncl 
durchgenetet worden Bel EH wax (lion ein Irrthuni, dor ovnt durcli die 
nenoron ForHcliniigou H(un,o UoMoiLiguiig 1 gefundon hat. Bald nach jononi 
Vorgange, jonor PrciHortheilung niianlich, wurdo I^ilentrina oroffnot, 
dasB Vliilipp JL von Spanion die "Widnvung jeiuu 1 b'orulunton .Preimue^o 
gem annolnuon wordo. Palestrina ginfj dariibor 3 nit ncineni Gunner, 
dem Cardinal Vitollossfli, m Jiutlu Ha orgiib sich, daHH OH am go- 
oignetston nein wiirde, dimi Konig* einen gamen Band Moswon, xintor 
tlenen nich atieh die gokronto bofindon intiBHe, m tlodicirt^u; die Mliro 



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aber der Hervorrufung dieses grossen Werkes mtisse Eom bleiben. Ihrem 
Titel zufolge solle sie einem Papste als sclion friiher zugeeignet er- 
sclieinen: so moge sie denn nach Papst MarcellusIL, Palestrina's 
frQherem Gonner, genannt warden: Missa papae MarcellL Hieraus 
ist die Entstehung des Namens, ist die Entstebung spaterer Missver- 
standnisse zu erklaren. 

Icli muss von nun an, nachdem icli in Etieksicht auf die Wiebtig- 
keit des Gegenstandes absiclitlich -fiber die bedeutendste That Pale- 
strina's, die Eettung der heiligen Tonkunst, ausfukiicber berichtet 
liabe, die Erzalilung von den spateren Lebensumstanden und kunst- 
lerisclien Leistnngen des Meisters melir zusammendrangen. Ira Jabre 
1561 wurde er zum Kapellmeister an der liberianischen Hauptldrche, 
Santa Maria Haggiore, 1565 zum Tonsetzer der papstlichen Eapelle 
ernannt. Im Jalire 1571 endlich erliielt er jene Kapellmeisterstelle yon 
St. Peter im Vatican, die er sclion fraher eimnal innegebabt iatte, 
wieder zurtick. 1580 traf ihn ein herber Yerlust; seine Gattin wurde 
ilim dnrcb den Tod entrissen. Dies blieb nicht obne Einfluss auf seine 
Werke. Die traurige Gemtitlisstimmung, die ibn lange Zeit iindurcfi 
belierrsclite, finclet sich deujtlicli ausgepragt in den ein Jabr spater ver- 
Dffentlicbten Compositionen. Palest rina war tief gebeugt, und nur 
die Kunst in Gemeinscliaft mit der beiligen Scbiift ricbtete itn wieder 
auf. Neben dem Grabe der geliebten Gattin, so war anfangs sein Ent- 
scbluss, sollte sein Gesang zum letzten Male ertonen, und dann ftir 
iinmer verstummen. In diesem Sinne componirte er die Worte : An den 
Wassern zu Babel sassen wir und weinten, wenn wir an Zion gedacbten, 
unsere Harfen Mngen wir auf an die Weiden, die darinnen sind", Dann 
in der Sebnsuclit nacb dem Tode, der iin mit der Entschlafenen ver- 
einigen sollte, sclieint die Furclit ewiger Trennung von ihr durcb seine 
Siinde ibn tief ergriffen zu baben: ,,Herr, wenn du konunen wirst zu 
ricbten die Welt, wie werde icb bestelien vor dem Antlitz deines Zornes ; 
icb erbebe, welie rnir, meine Seele ist betrubt". Sehnsuclit nach lieiligem 
Troste erwacbte dann in seinem Gemutb. : ,,"W"ie der Hirscb sclireit nacb. 
der friscben Quelle, so schreiet meine Seele nacli dir, o Ilerr!" Endlicb 
getrostet und wieder gekraftigt, componirte er eine grossere Zabl ?on 
Psalmen, u. a.: ,,Icb rufe zu dem Herrn, er erhoret mich; icli bebe meine 
Augen auf zu dir, der du irn Himmel sitzest" u. s. w. Im Jabre 1584 
widmete er dem Papst Greg or XIIL ein Work, welcbes durcl die 
Neubeit cler Bebandlung und Tiefe der Auffassung einen Beifall gewann, 
wie sonst keines seiner frtiheren. Es sind 29 Motetten aus dem hohen 
Liede Salomons. Die Zueignung legt eine kurze Eccbenscbaft ab von 

4 



dem bisherigen. Leben und Scliaffen des Klinstlers. Er liabe, sagt er, 
in fraheren Jahren seine Tone an Lieder unheiliger, abgottischer Liebe 
vergeudet und Keue und Scham dariiber empfunden. Darum habe er 
der heiligen Tonlcunst sicli zugewendet, das Lob Christi und seiner 
jungfraulichen Mutter gesungen, und endlicli Salomons Lied sich erlesen, 
das die hcilige Liebo Uhristi m seiner Braut, der Seele, feiere, wo er 
denn Veranlassung gefunden, nach lebhaftcrem Ausdruck zu streben, 
urn die ganze Gluth und Innigkcit des Qedichts m erroichen, eine Ver- 
siclierung, die sicb, wie Konnor dor Composition bezcugen, durcli das 
ganze Werk bewiihrt. Der Sehmorz urn den Vorlust seiner Qattin 1st 
bier in reino, hoilige Sehnsucht und ireudige Hoflhung des Wiedersehens 
aufgelost; die friihoren lierben Totlesgcdanken Hind zu mildom Ernste 
verMiirt. Die Zeit wiirdo os mir nic.ht gestation, die wiclitigsten 
Worko Pales trina's allc, wenn auch uur im Vovuborgohon, z\i erwiibnen. 
Er hat wie Orlandus Las BUS aussorordontlich iloisnig gearbeitet. 
12 Bande Messen, i Buck aclitetimmigor Moswon, 7 BiicJior Motetten, 
2 Bticlier Offertorien, 2 Biichcr Litaneien, und noch sohr violes Andere 
findot sich aufgezeiclinot. Nur die piipstliclio Kapollo bosifat eine voll- 
stajidigo Saminlung seiner Worko. IJns sind am moisten ftugiinglieh die 
Siitzc in der vom Froilierrn von Tuchor horausgegobouon Saimnlung: 
Kirclicngosringo der berfihintoHton italionischouMoistor (2Hofte, Wien, Dia- 
bolli) und die unter dom Titol: Mmiva sacra (Leipzig, Peters) veran- 
staltote Ausgabo uller der Compositiouen, welche in der heiligen Woche 
in Eom aufgefilhrt "vverclen; das fnihov orwfihnto grosse Qoschichtswerk 
von Pr. RoehlitH onthiilt gloicli falls anohroro. Nouovdings ist auch 
die Mma papue MareeMi und .eine grossere Sammlung seiner Worko boi 
Breitlcopf &Hartel in Leipzig (horauHgogobon vonTh. do Witt) und in 
den ,,Den]aiuilorn der Tonkunnt" (Borgedorf boi Hamburg) im Druck or- 
scluenen. 

Palostrina starb am 2. Februar 1594, in demnolbon Jahve demnach, 
in welchein Orlandus LasHiiB vorschiod; die boidon groHHten Toinnoistor 
dos J(). Jahrhunderts traten gloiclwoitig ab von dem Schauplatz* Schon 
am Abend soinos Todostagos wurde soino ontsoolto lltillo zu ihror Kuhe- 
statto nach dor Petorskircho gobnicht. Die Mitgliedor der pSpstliclien 
Kapelle nicht allein, alle Kunntler Roms und cine grosso Kongo Volkos 
folgton clem Hugo. Wftlirond der Procession und in dor Kircho wurtlon 
Werke seiner Composition geHimgon. An dem allgemeinon Bogrilbniss- 
orte, in der notion Kapelle dor H( v aligen Simon und Judas in St. Peter 
ruht sein Leichnam im einfaeJion Sargo, der atif oinor Bloiplatto die Tn- 
schrift ftihrt: Joannes Petrus Aloysius Praenestiuus musicae 



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prineeps. Weder eh abgesondertes Grabgewolbe, noch ein Denkstein 
wurde ihm zu Theil Er erhielt diese, Kuhestatte nicht als eine Aus~ 
zeichnung, sondern, -wie Baini sagt, in Folge seiner Wohnung. Heut- 
zutage werden in St. Peter nur Papste beigesetzt. 

Italienische nnd andere Scliriftsteller der alteren und neueren Zeit 
erscliopfen sich in Lobspruchen fiber Palestrina. Der eine nennt ihn 
das Liclit und den Glanz der Musik, ein anderer den Fursten, wieder 
anclere den Vator der Musik. Man erzahlt, sein Ansehen sei schon bei 
seinem Leben so bedeutend gewesen, dass vierzelin der vorziiglichsten 
italienischen Tonsetzer eine zu diesem Zweeke veranstaltete Sammlung 
von^Psalmen ilirer Composition in Druck gaben und ihm zueigneten, 
urn ihm auf diese Weise ihre Verehrung zu bezeigen. Er eiiebte es, 
' dass man den von ihm gescliaffenen Stil nach seinem Namen benannte. 
Alle Schriftsteller im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte haben sich 
bemuht, zu Palestriua's Preis und Verherrlichung beizutragen. Ii. C. 
F. Krause in seinen ,,DarsteUungen aus der Geschiclite der Musik" be- 
merkt: ,,ls[ach meiner Ueberzeugung hat dieser StU einen bleibenden 
Werth fiir alle Zeiteu, als erne in ihrer Art voUendete, ini Geist und 
Gemtith des Menschen tief begriindete Kunstgattung. Daher tann auch 
,der Sinn daftir und die Erregbarkeit auf Erden nie yerloschen. Die 
grossten Kunstkenner der neueren und neuesten Zeit sind die grossten 
Verehrer des Palestrinastils". Sfehr YorziigHch hat Thibaut in 
seiner schon in der ersten Yorlesung genannten Schrift liber ihn gesprochen, 
und ich bedauere, dass sich Einzelnes daraus nicht mittheilen lasst, da 
die Benxerlmngen nur zerstreut sich vorfinden. Aber Thibaut erscheint 
genahrt von dem Geiste Palestrina's, und die ganze Schrift ist wol 
als dasjenige Werk zu bezeichnen, welches vorzugsweise geeignet ist, 
zu eineni tieferen Verstandniss dieser gesammten Kunst hinzufiihi*en. 
Thibaut nennt Palestrina tiefsinniger alsLassus, und so durchaus 
Meister der Kirchentonarten und des Satzes im reinen Dreiklange, dass 
Ruhe und Seligkeit bei ihm vielleicht mehr, als bei irgend einem anderen 
Meister zu linden sei. Baini, alle Kriifte zur Verheniichung des aus- 
serordentlichen Mannes aufbietend, hat die Stufenfolge der "Werke, die 
allmaliliche Entwicklung und Weiterbildung , die sich darin zeigt, einer 
genauen Erdrterung unterworfen. Zehn Stile, vom Beginn bis zu Ende 
der kiinstlerischen Thatigkeit Palestrina's, unterscheidet er. Es kann 
indess, wie auch v. Winterfeld bemerkt ? keinem Zweifel unterliegen, 
class Baini der Eifer, alle Vortrefflichkeiten seines Helden hervorzu- 
lieben , Her zu weit geftihrt, allzusehr ins Specielle gehende Unterschei- 
clungen hat machen lassen. Der Hauptpunct, auf den es bei der Wtir- 



- 52 

digung des Meiyters ankommt und den auch Kochlitz hervorhebt, ist, 
dass die Formen des kiinstlichen Satzes aufgehort haben, Selbstzweck, 
Zweck des Tonwerks zu sein, dass Palest rina dieselbon mm Mittel 
des Ansdrucks herabgesetzt bat. Alles Uebrige ergiebt sich Meraus von 
selbst. Nur das ist zu erwahnen, dass Palest rina allerdings von den 
Eomstmitteln einen bald freieren, bald strengeren Gebrauch gemacbt hat, 
je nachdem es Inhalt und Bestimnmng des Werkes geboton. Vollkom- 
men im Besitze aller Gelohrsamkeit und aucli der Grubeleien der vori- 
gen Periode, bemorkt Roclilitz, mochte or der Anwendung dieses Be- 
slfees sich nicht uberall entiiussorn. Abor er unterschiod Musik fur 
Gelehrte und Kunstkennor und Musik fur die Gemoinde beim Gottes- 
dienst. Tn den Werken der ersten Gattting zeigt er sieb noch innner 
den Mederlaudern vorwandt; die zwoite Gattung ist es, die sein Ver- 
dienst mn die Welt bezoiclmet Hier schriob or gecliimgt, leicht lasslich, 
klar, durchsichtig, zugleicli aber aucli den grosson Anspnichon gelehrter 
Kimstwissenschaft gemilss, mtr dass diese Seite hior weniger hervor- 
tritt; Her sclirieb er zugleieli mit Scliwung und Begoistorung in grosser, 
ernster Haltung. Wo sein Ausdruck webmlithig und niedergebougt sicb. 
darstellt, ist clocli nirgends eine Anwandlung von Weichlichkeit und 
imedlcr Empfindsamkeit zu spiiren; ebensowenig in Gesiingen entgegon-, 
gesotzten Inhalts boi aller Enorgie Etwas von Leidenschaftliclikoit und 
Gewaltsamkeit. Es ist dies das Charaktoristischo aller Worko dieser 
Kunststufe, der Epoc]ie des erliabenon Stils, diose grossartigo Haltimg, 
dieser Ernst, dioso Wiirde. Jene Worko sind ebon so weit von der 
Scliwerfalligkoit und Stan-licit einer Yorstnfe der Kunst, wie von der An- 
mtith, LieblichkeitundWoicliheifc spatorerEpochen entfornt, violloicht, wenn 
wir einen Gesicbtspunct aug der Diclitkunst entlelinen wollen, im Ohavak- 
ter am meiston clem Epos vorwandt. Tbibaut vorgleicht in der That 
Palestrina mit Homer. Das Epos ist Kesultat dor orsten Entwick- 
langsBtufe oines Volkoa, jouor Stufo, wo das Individuollo soin Kocht noch 
niclit in Anspruoh gouoiumon hat, dor Einxolno noch nicht einon abgosclilos- 
senen Krois, eino besondoro Welt fflr sich bildot, sonclern in dor Gesammt- 
heit aufgoht, und nur das ssnin Inlialt hat, was das Gemoinsarno Aller ist. 
So komnat auch hior gum alloin die Sadie xuv DarBtollung , dor kirch- 
lich religiose Inhalt oline allo aulyoctivo BeiniiBchung und Modification. 
Empfmdungen, die das Subject ffir sich hat, die es m oinom besonderen 
Subject machen, sincl liier noch gar nicht vovhantlon. Aller Ausdruck 
geht oinssig und allein HUB dem Gaiizeu dor OompOHitiou liorvor, weit 
versehioden von tier Musik der spfitoven Koit, ja dieser ontgogongosotzt. 
Nicht durcli ihro Mannigfaltigkeit und ihren Keiis, wie die Werke der 



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Stufe des schonen Stils, vermogen uns diese Conipositionen zu bezau- 
bern; sie sincl bedeutend durch ihren Gehalt, ihren Ernst, ihre Wurde, 
durch das Ungetheilte , Ganze cler Stimmung, das sich in ihnen aus- 
spricht. Nur in der Totalitat jies Stiickes 1st der Ausdruck zu sucheu ; 
Alles, was Affect lieissen konnte, fehlt ganzlich. Audi an ein Hin- 
arbeiten auf Einganglichkeit oder wol gar auf Effect ist noch nicht ent- 
fernt zu denken. Die meisten jener Werke warden an Sonn- und 
Festtagen regelmassig wiederholt ; die Zuhorer liatten Zeit, sich mit ilinen 
vertraut zu maclien; Effectcompositionen aber sind das Zeichen sinken- 
der Kunst. Urn so weniger diirfen wir verlangen, sogleicli und nacli 
eimnaligein Horen mit jenen alten "Werken vertraut zu werden ; in cler 
That zeigen dieselben for uns ganz anders Gewohnte beim ersten Blick 
eine gewisse Starrheit Hierzu kommt, dass sie wesentlich auf eine 
bestimmte Umgebung berechnet sind, und auch das tragt dazu bei ? an 
Ort und Stelle ihre Eindringlichkeit zu erhohen, fur uns aber das Ver- 
stanclniss zu erschweren. Brlauben Sie, dass ich hierbei noch einen 
Augenblick yerweile. Die gottesdienstlichen Handlungen und Gebrauche 
der romischen Kirche namlich sind ein grosses Ganzes, wo jeder Theil 
nothwendig, wesentlich beitragt, die Wirkung des anderen zu erhohen; 
sie versetzen schon in die Stimmnng, welch e die Musik als die passende 
wunschen muss, und umgekehrt eint wieder die Musik jene verschiedenen 
Einclrlicke zu einem grossen Ganzen. Der Charakter der liturgischen 
Handlungen der romischen Kirche uberhaupt ist durchaus ein drataa- 
tischer. Hauptgedanke ist, dass Geist und Herz der versammelten Ge- 
meinde zurtick auf das Originalereigniss geftihrt werden soil, dass dieses 
als sich wiederholend vorgefuhrt wird, z. B. in der Passionswoche Ge- 
danken und Gefiihle auf die letzten Lebenstage Christi sieh so concen- 
triren, als wCLrden jene Vorgange noch einmal in cler Wirklichkeit ge- 
schaut. Ich erinnere an das , was ich schon vorhin bei Gelegenheit der 
ersten Composition Pales trina's, die Aufsehen machte, sagte und theile 
Ilinen noch zur Veranschauliehung die Schilderung eines alteren italie- 
nischen Eeisenden mit, welche ein nachher noch zu erwahnendes "Werk, 
die Aufftihrung des Miserere, betrifft. Jener Keisende erzahlt: 5 ,Gegen 
4 Uhr begaben wir uns in die Sixtina und sassen dem jtingsten Ge- 
richt von Michelangelo, das die untergeliende Sonne eben heleuchtete, 
gogen"iiber ? in gcspannter Erwartung des durch ganz Europa beriihmten 
Gesanges, der oft schon die Sirenenkraft gehabt haben soil, Anders- 
glaubige in den Schoos der Kirche zuruckzufuhren. Der fur die Frauen 
bestimmte Platz Mite sich mit schwarz geHeideten Danaen. Endlich 
kamen die Cardinale in violetten Kleidern mit ungeheuren Schleppen 



einliergegangen , und wahread sie schnell vorwarts cilten, hatte der 
Sehleppentrager alle Hande voll zu tlmn, urn den zusamnaengerollten 
Schweif Mnterlier zu entwickeln. Alle Sitze fullten sicli endlicli mit 
diesen und anderen vornehmen Geistlich&n. Die Korzea wurclen ange- 
ztindet; man erwartete in feierlicher Stille den Papst, Nach dessen 
Eintritt wurdo das Signal ziun Anfang gegeben. Die Psalmon begannen ; 
man singt deren etwa j3 nach der "Weise des gregoriaaischoa Gesangcs 
und loscM bei jedem eins der J3 pyramidaJisoli aufgcstellten Lichter aus. 
Nun beginnen die Klagelieder des Propheten. Einigo Stinimen Idagen 
liber clen Tod des gottliclien Solanes in so wehmutlisvollcn Tonen, dass 
selbst ein eisernes Gemtitli in Bangigfcoit und Almung zerfliesson wurde. 
Sielie, die LicMer verloschen, nur eins, die wachsamo Muttorliobo dor 
Madonna, brennt noch, man intonirt zum Miserere, die SSngor oinigen 
ihre Stimnaen. Endlicli eiiosclit aucli die letzte Korzo, und Allos liegt 
in Dammerung versenkfc. Nur die Gestalten der Cardinale und weissen 
Pralaten, unbeweglich wie Bilclsiiulen sitzond, loucUton durcli das Dunkel ; 
alle Sinne yergelien, nur Tone kana unsoro Seole auffasson. Ta-dioBOia 
Augenblicke erliebt der Chor der unsiclitbaren Siingcr kraftvoll und 
durclidringend seine Stimmo: Herr, orbarmo dicli uasor. Acli, welch 
banges Sehnen besttirmt miser lierz. Wir wollon m don Ftlsaoa dos 
Heilands fallen und sie mit tausend Tliriinen hoissor Liobo benetzen. 
Wie wair lat Der geredet, welclicr zum Hcil seiner Seele Niclits sohn- 
lici'er wiinsclitc, als dass in der Stuncle des Tocles diese sflsson Tone 
ilin umklingen inochten; dona wahrlich, unsoro Socle quillt in ilinen 
zumHrmmel. Aber schoa sind sie vorhallt an don Wfiadoa, die Michel- 
angelo's Eiesengeist tibertonclite. Wir ziohon durch die Hollebarclen 
und langen Scliwerter der altertlramlielion Schwoizer in doa Bolmnmorn- 
clen Saal vor der Sixtiaa. Vorscliloiorto KSiaoriaaon wallon fiber dio 
von Fackeln boleuchtoto Konigstroppe liinab, die in unondlicher Forao 
sich in den Saulengtingen des St. Peter vorlierk Welch ein Nachtgo- 
malde! kraftige Schattea, hoho Gewolbe, stolzo Sduloa, woito IVaoa 
und magisclie SchOahoit uberall." Sio entnehmen aua dioson Worton 
die Grosse nntl Macht des Miadrucka; Sio oataohiuou aber aucli darariB? 
wie die Musik dort als Tlioil dor goaarmnton gottosdioaHtli<jlioa Handlung 
auftritt uncl an ihrer Eiadriaglic/hkoit verliert, wonn BIO von diosor los- 
gerissea wird. Joao Worke miisson in iliror aatfirlichou Umgolnuig go- 
hort werden, wenn sio ihro voile Kraft und, Wirlamg angora nollon. 
Warden dieselben von clom Uodoa, dom sio ursprunglidi angolulren, los- 
gerissea, so gloiclien sio oiaor sfldlichon, in ein fromdos, rauhoros Klhua 
versetztea Pflaaze, 



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Durct die von Pales trina gestiftete ScMe, die in der Mge sict 
setr ausdetnte und lange Zeit tindurct erhielt, durct das grosse An- 
seten, in welctem der Meister stand, dadurct, dass seine "Werke vor 
allem beim offentlicten Gottesdienste eingefiitrt wurden, kam es daMn, 
dass in seinem Stile zu sctreiben fttr nottwendig eracttet, und dann 
selir lange Zeit tindurct als nactatmungswertte Sitte und guter Ton 
beibetalten wurde , so dass auf diese "Weise der personlieli bescteidene 
Mann Herrscher ward im Eeiclie der Tonkunst Jatrtunderte tinduret, 
und einer grossen AnzaH trefflicter Talente die Batn vorgezeichnet tat. 

let will jetzt noct einige der bedeutenderen Manner , welcte tteils 
umnittelbar der Sctule des Meisters angetoren, tteils, in spaterer Zeit 
lebend, der YOU itm gebroetenen Batn folgten, namtaft machen. 

Keben Palest rina wirkte der sehon vorhin genannte GioTanni 
Maria Nanini, ein vorziiglicter Mann, dessen Kulim aber durch den 
schnell und uberall Mn verbreiteten des Meisters versctlungeft ward. 
Von seinen Werken ist nur wenig bekannt geworden, jeclenfalls ans 
demselben Grande; sie sind denen Palest rina's sehr atnlieli, metr 
jedoct den sanften und zarten, als den feierlicten und den ertabenen. 
Sein Geburtsjatr ist unbekannt. Im Jaliie 1577 wurde er als ein vor- 
trefflicter Tenorist in die papstliche KapeUe aufgeaommen ; Goudimel, 
im tohen Alter, soil aucli iln gebildet haben; dann aber wendete sich. 
Nanini mit ganzliclier Hingebung an Palest rina. Er wurde nach 
dem Tode desselben dessen Amtsnachfolger und Compositions- und 
Musikletrer in der romischen Sctule, der er als Director vorstand. 
Ein Z5gling seiner letzten Lebensjatre war der durct sein Miserere 
weltberutmte Gregorio Allegi% geb. urn das Jatr 1590 und seit 1629 
Mitglied der papstlichen EapeHe, zunactst als Sanger, dann als Erchen- 
componist, gest. im Jatre 1652, ein nater Verwandter des rutmgekron- 
ten Malers Antonio Allegri, genannt Correggio. Von den zatl- 
reicten, gelehrten, weitausgeftitrten Werken dieses Mannes, welcte Rom 
besitzt, ist uns Nictts bekannt. Desto metr aber ist jenes soeben er- 
watnte Werk gekannt und verbreitet, welctes im Auslande seinen Ruf 
feststellte. B u r n e y , der von dem papstlicten Sanger Santarelli eine 
Absctrift ertielt, tat es bekannt geinactt. Officielle Absctriften auf 
papstlicten Befetl sind nur zwei davon genomnien worden; die eine 
wurde an^einen Konig von Portugal, die andere an den. Kaiser Leo- 
pold I. gesctickl Bekannt ist, dass Mozart bei seiner Anwesenteit 
in Eom dasselbe nach zweimaligem Antoren aus dem Gedacttnisse auf- 
sctrieb. Die Composition ist fur zwei Ctore gesetzt, von denen der eine 
flinfstimmig, dor andere vierstimmig betandelt ist; sie bestett aus 



mehreren kurzen, einandcr sehr ahnlichen Satzen, die in Rom durcli 
liturgische Handlungcn unterbrochen "werden. Von dem ersclititternden 
Eindruck, den sie bei aller Einfachheit hervorzurufcn vermag, 1st schon 
oben gesproclien worden. Es ist nieht so leicht fur uns, sicli diesor 
Stumming zu bemachtigen ; ist dies aber golungen, so wirkt sie iiber- 
waltigcnd, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man'cher Horer be- 
richtet, er sei bis zu Thranen geriihrt worden. ,,Der Sinn der Worte", 
sagt W. Heinse in seiner ,,Hildcgard von Hohenthal", ,,geht in die 
Zuhorer mit seiner ganzon Starke und Ftille fiber, ohno class man die 
Musik, ja sogar die "Worte merkt, da man in lautor reine Empflndung 
versenkt ist. Schauder der Keue, Auf- und Niederwallen boklommener 
Zarflichkeit, Hoffnung und Scliwermutli , Seufzer und Klagon einor lie- 
benden Seele. Das Zusammenscbnelzen uncl Vorfliossen der reinen 
Tone offenbart das innero Gofuhl eines hinunlischon Wosons, welches 
sich mlt der ursprunglichon Schonhcit wieder vereinigen mochte, von 
der es clurch seine Siinde gotronnt ist". Ich nonne forner den Spanier 
Tommaso Lodovico da Yittoria^ gob. um das Jahr 1550, ein Zogling 
der romisclien Schulo und clann Mitglied der papstlichen Kapelle. Koch- 
litz bezeichnet ilm als einon ernston, strengen Mann, der sich Pale- 
strina zum Vorbild gonommen habe, aber melir in clem Tiefeinnigen 
und Kltnstlichen, als in clem Binfachen und Eithrenden; Thibaut sagt, 
dass er das spanische Feuer mit geistlichor Demuth auf herrliche Woise 
vereinige. In dor Sammlung von Tucker befindot sich ein vortrefflicher- 
Satz von ihm: 3 ,0 vos omne,$". Ich nonne endlich noch cinon Kiinstler, 
der zwar spater lobto, clem Geiato nach aber noch der alien Sclmle an- 
gehort: Tommaso Baj, gob. in tier weiton Hiilfte des 17. Jalirhundorts, 
gest. im Jahro 1714 zu Rom. Baj vordankt, wio Allegri, soinon Ituhm 
oinem Miserere, das, noch jetzt am Griindonnorstago alljiihrlich gesungon, 
nach dem Muster des Allegri 'schon Werkes goarboitot ist, Es ist dieses 
neuo Miserere clio einsdgo Composition dor spStoron Zoit mit Ausnaluno 
einor Tonschopfung Baini's , welchor die Bhre m Thoil gowordon 
ist, untor die Musifcstftcko aufgenommen zu worclon, die aUjfthrlich an 
beslimmtcn Fosttagon wiodorholt wordon. Man setzto ]5aj's Miserere 
an die Stello oines von A.Scarlatti, welches bci Soite gologt wurdo. 
Um Sie nicht m ormfitlen, scLliesso ich, hiormit clio heutige Mitthei- 
lung, die jetzt schon eino ctwas grSssere Aufldohmmg gewonnon hat. 
Einigo Naiiien aus apaterer Zoit, die noch gonannt werden konnten, 
iibergohe ich Her, da sich, im Vorlauf der naclifolgenden Darstollung 
noch Gologonheit finden wircl, dorselbon m gedonken. Palestrina 
und seine Schulo bezeiclmen oino Epoche und fallen dioselbo aus. Was 



KM 

( 

sonst nodi aus diesein Zeitabsclinitte aus anderen Eacliern der Ton- 
kunst zu erwahnen ist, wird in der nachsten Vorlesung seine Stelle 
finden; nur die eine Bemerkung gestatten Sie rair noch, dass es eine 
grosse Einseitigkeit unseres Musiklebens genannt werden inusste, wenn 
die Mer besprochenen Werke dem Genusse cles musikalisclien Publicums 
so ganzlicli entrtickt blieben, wie es in neuerer Zeit uncl bis vor Kur- 
zem bei uns der Fall war. Die Gegenwart hat allerdings aucli Mer 
Manches angeregt, was wir vor einer Eeihe von Jahren kaiim noct er- 
warten durften. Hoffen wir daher, dass die besprochenen Werke, so- 
weit es bei einer scion vorflbergegangenen geschichtlichen Erscheinung 
flberhaupt moglicli ist, mehr und melir wieder zum Leben erwachen. 



Vierte Vorlesung, 



Die weltliclie Husik dieser Zeit in Italian, Allgomeinor ITmscliwtmpr fox (\^{ m 

stes. Ersto Anfango dor Opor. Caccint Bardi, Graf von Vcruio. Galilei. Perl 

Corsi Rmuccmi. E. del Cavalierc. Das Oralorium, "Wosou uud gesclxicht- 

licho Bedoutung dor iioucu Erfiudungcn. 

Durch Palest rina win-do cler Grand gelogt ssu dor gesammton 
nadifolgentlen Entwicklung; die Werko Paldstrina's und seiner Sclmlo 
sihd das Fundament, auf welchem das spatcre Gobfmdo aufgoltihrt wurdo; 
zugleicli aber ist damit die orste Epocho cler italionisclion Musilc be- 
scHossen, die Bpoclie dos orhabonon Stils im Gogonsatx HU dor des 
schonen, welclio jetzt folgt. 

Sie erinnern sicli der Andeutungon, welclio icli fiber (lie toclmischo 
sowol wie goistigo Bescliaffonhoit (lor Tonkunnt, aowoit diosolbo bis 
dahin in ihrer Aunbildung goiliohon war, gogcbon habo. Instrumental- 
musik gab es nodi niclit, man kanntc allein den molirstiimnigen, den 
Ohorgesang; wir liabon die Anscliauung von grossen, broiton MaBBon 
in don Gompositionon jener Zeit; die Worke Palostrina's sind ans 
Quaclerstoinen anfgetuhrto, imposanto Gebiiude, strongo Hohoit ist der 
Yorwaltondo Cliaraktor, allor Ausdruclc ist auf claB Andiiclitigo, Foierliclie 
gorichtet; Melodie in uiisorom Sinne fohlt ganzlieli; obonso wonig war 
das goaanunto Koiclx der Accordo scliou ovsclilowBon. DroikMnge Bind 
die fiborwiogondou Bostandllioilo. Sio erinnorn nidi fornor aus dor 
orston VorloBung dor Mitthoihmgon, wololio icli llinon fiber die molodi- 
Bclxcn Bostrobungon, fiber don weltlidion Qosang im Mittolalter gab. 
AusHorordontlicli boliobt in don luioltnton und niodrigBton Kroison, sahon 
wir an diosen lobendlg und unmittelbar aus pootischor Eingobung ont- 
sprmigonon Gosangon Empfindung frtilior zum Ausdruck gelangen, als in 
don Worlcen dor golohrton Musikor, donon dio Kimst bin daMn fiber- 
wiegond oiu Gegonstancl vorBtandigor Arbeit war; wir sahon abor aucb., 



59 

wie die Letzfceren von clem weltlichen Gesange sich abwendeten und auf 
denselben mit Verachtung herabblickten. 

Betrachtet man die fraheren contrapunctischen Versuche im Mattel- 
alter, bei den ersten Niedeiiandern und in Italien, erwagt man das 
Barbarische, Steife, GeschmacHose derselben: so begreift man leicht, 
dass Leute von Geschmack und Gehor, von gesundem Sinn und Gefuhl 
nur wenig davon erbaut sein konnten, und muss es natfirlich finden, 
wenn insbesondere die Italiener, denen die Neigung fur Melodie ange- 
boren ist, kein sonderliches Veiiangen nach der neuen Weisheit ein- 
pfanden, und darum wider Erwarten spat erst diese Kunst sieh aneig- 
neten. Andererseits konnte es.aber ebensowenig feHen, dass die Har- 
monie eine so gewaltige, folgenreiche Entdeckung, die, wie Chr 
H. Weiss e in seiner Aestlietik bemerkt, mitEeclit den anderen gleich- 
zeitigen Entdeckungen von weltgescMchtlicher Bedeutung beigezahlt zu 
werden verdient Eingang bei alien ftir Musik begabten Nationen, 
insbesondere bei den Italienern und Deutschen, finden niusste, sobald 
dieselbe einmal zu grosserer Ausbildung gedieken war und die Tonsetzer 
niclit melir bios fur das Auge der Kunstkenner arbeiteten, sondern die 
Wirkung auf das Olir zu berucksichtigen anfingen. Im 15. und 16. 
Jahrhundert war der Sieg des Contrapuncts entscMeden ; die Harmonie 
trat aus der Kirch e heraus in die "Welt, und erliielt mm auch irn ge- 
selligen Leben melir und melir Anerkennung und Burgerreclit. Da es 
zuerst nur wenige Sanger gab, welche einen mehrstimmigen Gesang vor- 
zutragen wussten, so erliellt, dass nm* die Keichsten anfangs sich. einen 
solchen Genuss verscliaffen konnten, und es trug dies dazu bei, der 
neuen Eunst langere Zeit Hndurch das Anselien eines besonders Kost- 
baren, Wunschenswertlien zu geben. Die Harmonie wurde Gegenstand 
des feinen Tones in der vornelimen Welt, Gegenstand der Mode; die 
Melodie trat immer mehr zurfick, wurde vernaclilassigt und gerietli bald 
ganzlich in Vergessenheit. Um der immer gesteigerten NacMrage des 
Publiciuns zu gentigen, bildete sich eino grosse Anzah.1 von Sangern for 
den vierstimmigen Gesang aus. Die Liedersanger, die friiher Bevor- 
zugten, ja allein Herrschenden , saben sicli bald auf Meine hausliclie 
Kreise, oder die Zusammenkunfte lustiger Gesellen besohrankt. Der 
Kampf der Harmonie und Melodie endigte rait einer volligen Unter- 
drfickung der letzteren; sie gerietli ganzlich in Vergessenheit, und der 
einstimmige Gesang musste, so unglaublich dies klingt, um das Jalir 
1600 in der That neu erfunden werden. Wenn friiher der Contrapimct 
auf den Kreis der Schule beschrankt gewesen war, ulid in der Welt 
allein die Melodie sich Geltung erworben hatte, so finden wir im 15. 



60 

iind 16. Jahrhundert gerade das TJmgekehrte. Die Melodic geht ver- 
loren, oder 1st auf ganz unbemerkte, xmteigeordnete Erase bcschrankt, 
walirend die Harmonic in den weitesten Kroisen Bingang gewinnt nnd, 
alle Herrschaft an sieh reissend, der kunstvollen, wcltlichen Musik Ursprung 
mid Entstehung giebt. Unter den eigentliclien Freunden xmd Beschfitzern 
dor Kunst gab es ausser dem vierstimmigen jotzt keinen ande- 
ren Gesang mehr. Neben den grossen kirchlichen Worken schen wir 
daher sowol for die lioheren Stando, als auch fur das Yolk verschiedene 
Musikgattungen auftreten, welche das nun schon grosso allgemoine Yer- 
langen befnedigten. 

Wir finden Mer Veranlassung, wenn aucli nur im Voriibergelien, 
die Blicke mm ersten Male auf Neap el zu ricliton, jenes Noapol, wel- 
ches in den folgenden Jakiiunderten die mnsikalischo Weltliorrscliaft 
erlangen sollte, wiewol es sicb in diosom Zeitraum wedor durch Ton- 
setzer von Euf auszoiclmete, nodi eine neapolitanische ScMo iiberliaupt 
schon bestand. In der zweitcn Halfte clos 15. Jahrhundorts aber, unter 
Ferdinand von Aragonien, Konig von Neapel, der, solbst wissen- 
scliaftlicli gebildet, Wissenschaft und Kunst oltrte uncl fordorte, liatto 
Neapel schon ausgezeichnete Manner in alien Ffichorn. Meliroro niodor- 
landische Meister lob ton und wirkten dori Von Orlandus Lassus 
liabe ich dies ausdrucklicli erwahnt. Aus spSLteror Keit wird als ganz 
besonders schatzenswertlier Forderor um dies sogloidi m bomorken 
der Pfirst Gesualdo daVonosa, urns Jalir 1600, gonannt. Dieser 
grundete solbst eine Akademie in soincm Schlosso; or war von Jugond 
auf fur Musik erzogon worden. Seine weltliolion Oompositionon tiber- 
scliritton bald die Gronzen von Italien, so allgomein war die Beliebtkeit 
und Verbreitung dorsolbon, uncl noeh Handol soil in oinigo seiner 
"Werko, wie erzahlt wird, naolirero Modulationou diesos Mamios aiifge- 
nommon liaben, sowie auch dor golchrto P. Martini dieselbon fiber 
die Maasson pries. Der schono Himmel Neapels und die reicliston Gabon 
der Natur, die daraus hervorgehonde Hoitorkoik, Bowoglichkoit, Schon- 
heit und Sorglosigkeit dos Lobens vorsetzon clort in oino dauorude poeti- 
sclie Stimmung. Das gesanmto Dasoin ist eingotauclit in oino pootischo 
Atmosphfire, und es orklfirt sicli hioraus, wio dor woltliclio Gesang clort 
oinen bosondors gilnstigon Bodon, tliiB untordrliokto jnelotlischo Element 
wieder einige Anerkonnung finden, konnto. 

Piir Prounde oinos leicliteren, auch loicWertigen Gosangos entstan- 
den die sogonannten Canzoni vUlanesche* Villanollen oder Villoton, 
eigentlich Bauernliedor, obschon wodor dom Toxto noch cler Melodie 
nach wirkliclio Yelkslieder. Der Text einor solchon Yillanolla, dor, wio 



61 

es scheint, einem deutschen Landskneeht in den Mund gelegt wird, ist 
folgender: , 5 Ich trinke gem Malvasier, ieh triiike nie anderen Wein; 
urn Mitternacht stelie icli auf, dann gelie ieli und driicke das Fass, und 
trinke bis mm fruhen Morgan. Der Wein ist theuer, lieber Vetter, aber 
er macht mir Lust zum Tanzen. Icli trinke gern Malvasier" u. s. w. 
Die Gattung der Poesie sowol, als der Gesellschaft, far welche solche 
Gesange passend waren, ist Mermit bezeichnet. Etwas feiner, initunter 
auch frivoler, sind die sogenannten Villote alia, Napoletana, worm nea- 
politanisclie Singmeister vorgestellt werden, welche jnngen Damen die 
Anfangsgriinde der Musik leliren wollen. ,,"Wer von euch Frauen will 
die Gagliarde lernen? Komnit zu uns, die wir feine Lehrer sind, welche 
des Abends und Morgans nie verfehlen zu spielen: tan tan tan tarira" 
u. s. w. ist der wundeiiiche Text eines solchen Stucks. Fur die vor- 
nelimeren und gebildeteren Kreise der Gesellseliaffc wurden, von der 
venetianischen Schule um das Jahr i530 ausgeliend, Madrigale ge- 
dichtet und componirt. In neuerer Zeit bezeiclinet man mit dem Namen 
Madiigal ein kurzes, acht- bis zwolfzeiliges Gedicht, welcies die LieBe 
oder den Naturgenuss zum Gegenstand hat und mit einem witzigen 
oder auci zarten Gedanken schliesst. Weit ausgedehnter war die Be- 
deutung des Madiigals damals. Man verstand unter diesem ISTainen 
tiberliaupt ein kurzes Gedicbt weltlichen Inhalts, melir oder minder 
contrapunctisch behandelt und fur drei, vier bis sieben Stimmen gesetzt. 
Das Madrigal war in seiner Blfitheperiode nicht bios das, was jetzt 
Kammermusik genannt wird, sondern es bildete aucli in dramatisclien 
Vorstellungen aller Art, Tragodien, Komodien, Schafergedichten, in Bur- 
lesken und Maskeraden, bei Festaufzugen und bei alien anderen aim- 
lichen Gelegenlieiten den Chor. Die Wichtigkeit dieser Compositions- 
gattung geht hieraus hervor. Sie war die einzige, die wichtigste welt- 
liehe Form, die Hauptgattung, welche der Kirchenmusik gegentiberstand. 
Den Tonsetzern, die vor Einfahrung derselben ihre Gelehrsamkeit und 
ihr Talent kirchlichen Werken gewidmet batten, wobei es nur auf Aus- 
druck im Grossen und Ganzen, auf Darstellung der Gesamnitempfindung 
ankam, ohne dass ein Streben nach besonderem Ausdruck der Speciali- 
taten des Textes sichtbar gewesen ware, gab die Anwendung ilirer 
Kunst auf geistreiehe Worte weltlichen Inhalts zuerst den Gedanken, 
dass die Musik bestimmt sein konne, die Textesworte im Einzelnen zu 
begleiten und eindringlicher zu machen, so den Gesammtausdruck zu 
nuanciren und naher zu bestimnien. Die Einfuhrung des Madrigalstils 
war der wichtigste Schritt zur Verfeinerung des Geschmacks sowol der 
Tonsetzer, als auch des Publicums. Die zweite Epoche der italienischen 



62 

Musik, die des sclioneif <Stils, wurcle insbesondere dadurch vorbereitet 
mid eingeleitet, ein fur die gesammte KunstgescMclite iiusserst wicli- 
tiger Fund Das Madrigal wurde niemals, wie es bei der Kircbenmusik 
frflher stets und spater nodi Mn und wiedor ublich war, fiber eino sclion 
vorhandene Melodie, einen Tenor, eomponirt, sondern humor froi erfun- 
den, und gestattcto daruin die grosste Mannigfaltigkeit der "Form und 
Behandlung. Wir finden es oft im einfaclisten Stil, eben so oft im holieron, 
Mnstlicheren Contrapunct componirt. Die Tausendo von Madrigalen, 
die ein gansses Jalirhundert hindurch und noch fiber diese Zeit liinaus 
im Druck orscMenon sind, bowoisou die ausserordontliclie Tlieilnalime 
des Publicums, die kaum jemals bofriodigto Naclifrago nacli diosou Com- 
poaitionen, die von Jeclem, der Bich (iberluiupt fiiv Miwik mtorosHirte, 
geaucht wnrden. C. F. Becker in seiner Scliriffc: ,,T)io Tonwerke des 
16. und 17. Jalirliunderfa" giobt S. 1 ( J1 big 2I6 eino Uoborwcht der in 
diesor Zeit godruckton Worko dioHor Gattung, welclio oiuo Anscliauung 
des ausserordentlielien RoichtbmnB und der groayou Fniclitbarkeit der 
Tonsetzor gewiibron kann. Einor der bodoutondHton Moistor in dieser 
Gattung war Luca Maronzio, Sflnger der papsilichou Kapollo, geb. 
um 1550, gest. im Jahre 1599. Dio Rrfindimgen dionoa Ooiuponiston 
sind fur die damaligo Zeit mannigfaltig, singbar, trellbnd im Ausdrucko. 
Waro zu seiner Zeit die Molodio eben so gokanut und goBuclit gowosou, 
als OB die iiberwiogend harmoniHclion Maflrigale waron, or wurdo jeden- 
falls oin Muster aucli in der Melodio fur noiuo Zoit geworden seiiu Man 
nannte ilin dioser Eigonschaftou wcgen ,,dou fiboraus sfisseu Soli wan 
Italious (il pih dolce ciyno (Ml 7 Ii<di<t) <( 

Dies sind die Zustaude dor italienisclion Musik im 16. Jahrlmndert 
Die liatmonischo Kunst hatto in don weitosten Kroison Bingang gewon- 
nen, clas Gobliudo dor KirchonmuBilc insbosondoro stand fost gogrundot 
Kaum abor, daBH alle dioso BoBtrobungon mm Al)Bchlus und ssur Vollon- 
dimg gelangt waron, so beroifoto sich aucli Bclion oin machtigor Um- 
scliwimg vor. Ein fiischor lYflhlingshanch, oin Haucli doB froion, sidi 
alien Fessoln dor Autoritat ontwindoudou OowtoH durchssog die Welt, 
Don Monschon ging in dor Sohonlipit, in dor Hingabo an dio Wolt und 
die sinnliclio Erschoinuug, wolcho dom fnlluiuou roligiOHon Goiato als 
sundliaft orseMenon war, iiach laugon Jalirhundorton wiodor dan BowuBBt- 
soin ilirer oingeboronon HerrlicWkoit auf. Dio Blicko, dio bis dahin mu 
auf don Himmol goriclitot gowoson waron, wondoton sicli dom IrdincliOK 
y,u und gowakrten init EtHtaiuion dosson Horrlichkoit. Dio groswon 
Malor ttalions hatton frulicr sclion aln dio Musikor dioHo Umgoetaltung 
vollbracht, und dio Maloroi von don kircliliclien, Foasolu boiroit. ! Sclioi 



9 

UO 

im Jahre 1518 hatte, wie f F. Kugler in seiner n Qeschichte der Malerei" 
erzablt, Correggio ich erwabne beispielsweise diesen charakteri- 
stiscben Umstand den Nonnen eines Klosters in Parma beidnische 
Gegenstande gemalt, Gegenstande, deren Bezielinng zu einem jSTonnen- 
Hoster allerdings nicht sebr einleuchtet, deren Wahl aber far jene Zeit 
bezeicbnend genannt werden muss. An der Hauptwand des Saales stellte 
er Diana vor, welcbe auf einem von weissen Hindinnen gezogenen 
Wagen von der Jagd zuriickkekrt ; die leichte Bekleidung der Gottin 
verbiillt Her nur wenig die Formen einer vollkommenen Jugend. An 
clem Gewolbe ist eine Weinlaube gemalt, mit 16 ovalen Oeffnungen, in 
welcben man Gruppen der reizendsten Genien erblickt. Diese haben 
meist Attribute der Jagd bei sicli, Horner, Hunde, den Kopf eines 
Hirsches u. s. w., ocler sie liebkosen einander, oder pflucken FrticMe 
von den Handera der Laube. Man kann nicMs Anmuthvolleres, kein 
sflsseres, holderes Spiel selien, als in cliesen Kindern. Darunter sincl 
j 6 Lunetten, deren Grund, gran in grau gemalt, mit anderen mythischen 
Darstellungen ausgefullt ist: den Grazien, der Fortuna, den Parzen, 
Satyrn u. s. w. Die italienisclien Nonnen lebten um diese Zeit in 
grosstmogliclier Freilieit, ohne Clausur, und die Aebtissinnen oft in fiirst- 
licher Pracht und Ueppigkeit. Das Stadium der PhilosopMe sowie 
der Naturwissenscbaften trug gleich sebr bei, die Geister, obscbon unter 
beftigem Widerstreben der Earche ich erinnere an Galilei und den 
lierrlicben Giordano Bruno, der im Jabre 1600 als Ketzer in Eom 
verbrannt wurde von der dogmatiscben Gebundenbeit der friiberen 
Zeit zu befreien. Im Protestantismus war das Princip der Neuzeit auf- 
gestellt worden, und die Lebenskraft der katboliscben Kircbe begann 
zu scbwinden. Die Bescbaftigung mit der griecliscben Literatur endlicb 
hatte die letzte Finsterniss aus den Kopfen entfernt und fur die Welt 
und ibre Lust die Augen geoffnet. Florenz namentlicb war ein Mittel- 
punct fur derartige Bestrebungen, und wir selien daher aucb, wie die 
der bezeicbneten neuen Geistesricbtung entsprecbende Kunstgattung, 
welcbe das Gebaude der grossen Kircbenmusik erschutteiie, zum Wanken 
und endlich zum Sturze bracbte, dort zuerst bervortrat. 

Die BetracMung ist jetzt bis zu dena Puncte gefubrt, wo jene grosse, 
durcbgreifende tlmgestaltung der Tonkunst in Europa erfolgte, welche 
eine bis dabin ungeabnte Welt aufscbloss und die moderne Zeit unmittel- 
bar einleitete; eine Umgestaltung, so gross und bedeutend, dass in der 
gosammten GescMcbte der Musik damit allein das Entstehen der Instru- 
mentalmusik in Deutscbland, was kunstgeschichtliebe Bedeutung betrifft, 
einigermaassen verglicben werden kann : die Betraclitung ist bis zu dem 



64 

Zeitabschnitt gefiihrt, wo die Oper, diejenige Kunstgattung, aus welcher 
die gesammte neuere Musik hervorgegangen 1st, geschaffen wurde. "Wir 
stehen jetzt, Mem wir diese Umbildung im Keiclie der Tonkunst vor 
uns haben, an der Grenzscheide der alien und neuen Zeit. 

Sie erinnern sicli aus der ersten Vorlesung der Bemerkungen, welclie 
ich liber die dramatischen und theatralischen Versuclie des Mittelaltera 
machte: jener rohen Volksfeste, danu der etwas gebildeteren Darstellun- 
gen in den Misterien, endlich der Liederspiele Adam's cle la Hale. 
Icli will jetzt, bevor ich zur Hauptsaclie komme, Tlmen noch Einiges 
tiber die weiteren VorgSnge auf diesoni Gebiete in den oben besproche- 
nen Jahrhunderten mittMlen, Das Intorosso fur scenische Darstellungen 
dauerte fort; dieso selbst warden gebildoier, je mclir iiberliaupt Bildung 
Eingang gewann. Doch gelioren alle diese Darstollungon nur im weito- 
sten Sinne zu den Vorstufen der Oper, die eine viel spiitere Erlindung 
ist. Die friilieren Geschichtsclireiber der Oper gobon Nachrioht von 
glanzenden Hoffesten in Italien, sconisclxen Darstellungon, bei clenen 
auch gesungen wurde, und reclanen diese Unterlialtungon sclion m den 
Vorstufen der Oper. So wurde im Jalire 1388 Mr Vermahlung des 
Herzogs Galeazzo Sforza roit der Prinzoasin Isabella von Ara- 
gonien in Mailand ein dramatisches Spectakel voranstaltet, dem auch 
noch link in seiner Geschichte der Oper eine bosondore Bedeutung 
beilegt. In der Mitte eines pracMigon, von oinor licrrliclien Galleria 
umgebenen Saales, auf der eine grosse Menge vorschiodonor Justrumon- 
talisten verfheilt waren so wird orzaiilt , sail man eine grosse 
Tafel, die fur das ftirstliclie Paar und die Gaste beBtimmt war, oline 
irgend eine Art von Zubereitung* Sobald dor Herzog tind die Herzogin 
erschienen, naLm das Fest seinon Anfang, Jason erOffnete die Scene 
mit den Argonauten, welche mit einer drolienden Miene umherschritten, 
das berflhmto goldene Vliess mit sicli ffihrend, welches sic auf (lor Tafel 
als ein Geschenk zurfickliessen, nacladem sie ein Ballet 8 go fcanzt hatton, 
welches ihre Bewimderung der scli^nen Braut ausdriiekte. Hierauf er- 
sehien Mercur und erzahlte, wie or dem Apollo, damaligen Hirton des 
KMgs Admet in Thessalien, das sclionste, fettosto Kalb von der ganzoa 
Heerde woggestohlon liabo, um es den Nouvormahlton als Geschenk dar- 
zubringen. Nachdem or dassolbe auf der Tafel niodorgologt hatto, trat 
Diana auf, als Jftgerin gosclmiiickt und von iliren Nymphon bogloitet, 
welche unter dem Klange von Waklinstrumenten auf oiner vergoldoten 
und mit laub geschmuckton Tragbahre oinon selir soliflnon Hirsch trugen, 
So ging die Sache mit Unterbrochungou in verschiodonou Al)theilungen 
eine lango Zoit hindurch fort. Kieeewotter hat gozoigt, dass das 



Ganze welter Mchts war, als eine Maskerade, um die Gerichte auf die 
Tafel zu bringen, ein dramatischer Versuch, wo der Speisezettel den In- 
halt bildete. Bemerkenswerther scheint, was fiber einen Vorgang in 
Kom berichtet wird* Hier hatte der Cardinal EaphaelBiario ein 
Misterium, die 5 ,Bekehrung des heiligen Paulus", gedichtet. Baulustig, 
liess er nach seiner Angabe zu Eom ein bewegliches, zienilich glanzen- 
des Theater errichten, wo das Stuck wirklieh zurn grossen Ergotzen der 
Menge ini Jahre 1480 aufgefuhrt wurde. Der Autor der Musik soil ein 
gewisser Francesco Beverini gewesen sein. Ueber die nahere Be- 
schaffenheit derselben aber ist Mchts bekannt, und es lasst sich dem- 
nach der cladurch etwa bewirkte Fortschritt nicht naher bezeichnen. Solche 
Auffiihrungen indess, wenn auch noch fur die Eunst ohne Bedeutung, 
hatten doch das Kesultat, dass scenische Darstellungen mit Musik immer 
beliebter wurden. Die Neigung daffir nahm in nachster Zeit im Laufe 
des 15. und 16. Jahrhunderts in Italien immer mehr zu; namentlich 
wetteiferten die Fursten in Oberitalien, derartige Auffuhrungen an ihren 
Hofen zu veranstalten. Mcht mehr allein Augenlust sucMe man zu be- 
friedigen, auch der Musik wurde mehr und mehr gedacht. Besonders 
bei festlichen Gelegenheiten waren solche Vorstellungen bald unentbehr- 
Hcli, und dann auch meist mit Musik und Gesang verbunden. Vor alien 
^eichnete sich in Kunstliebe und Pracht der gelehrte Hof der Mediceer 
"KIS. Florenz war wahrend der Kegierungsperiode clieser Fursten das 
Athen ItaUens, und Florenz wuide auch der Ort, wo die Oper ihre Ent- 
stehung fand. Die contrapunctische Kunst hatte, wie bemerkt, in den 
Kreisen der hoheren Stande bereits Geltung gewonnen, und der fruhere 
einfache, einstimmige Gesang war, wie es schien, fur immer verloren 
gegangen. Der musikalische Theil jener scenischen Darstellungen bestand 
uaher jetzt aus Choren im Stile des Madrigals, der Dialog der Fabel 
vwde nur gesprochen. Die Gesange, die Chore erschienen nur in soge- 
B>nnten ,,Intennezzi a , welche selbst in besonderen, von dem Drama oder 
der Komodie geschiedenen Fabeln bestanden und zwischen den Acten 
aufgefuhrt wurden; oft auch wurcle die Musik oder irgend ein Madrigal 
den Acten nur als zur Erholung von der anstrengenden Auf- 
keit auf die Fabel dienend betrachtet. Das Hauptdrama selbst 
totand nur aus dem Dialog; Chore waren beigefupt je nach der Forde- 
rung des Gedichts, vorzuglich am Schluss der Acte. Von dieser Be- 
schaffenheit sind alle grosseren Drarnen auch noeh im 16. Jahrhundert 
gewesen: ein Stuck z. B., welches Alfonso della Viola, einer der 
Zoglinge aus "Willaert's Schule, im Jahre 1560 fur den 
von Ferrara in Musik gesetzt hatte; ein Stuck, welches 1564 zu 

5 



Bologua in dem Palaste des vornehmen Hausos Bontivoglio aufgefiihrt 
wurde: s ,Vi<ne.ostansa della fortuna"-, eine Tragodie ,,0rfoo", welche die 
Bepublik Venedig zur Unterhaltung Heinrich's TIL von Frankreich 
im Jahre 1574 hatte auffuhren lassen, und melirere anderc. Es war 
dies Alles auch noch nicht entfernt die wirldiclio Oper; man hatto sick 
derselben aber dadurch jedenfalls urn cinen Scliritt geniiliert. Es ist von 
Wichtigkeit, genauer zu betraehten, wie jene Sfcftcko, besondors in Florenz, 
in ihrem Detail beschaffen gewesen sind, indcm nur durch Vergleiclumg 
desjenigen, was im 16. Jahrhundort liblicli gewesen, mit dem, was in 
den letzten Jahren desselben und zu Anfang dos nachfolgondon Jahr- 
hnnderts entstand, sioh das walirliaft Noue, das Wesentliclie dos groBSon 
Uinscliwungs anf dem Gebict dor Musik, die Zeit dor Brftndimg dor 
Oper ennitteln lasst. tn oinom Stucko, welches in dor Mitte don 
16. Jahrhunderts in Floronz anfgeiiilitt wnrdo, ssoigt sicli in einer vom 
Himrnel herabsdiwebonden Wolko Vonus, das Qonpann dor wowson 
Schwane aus ihrem Muscliolwagon lenkend, in ihrom Gefolge die dvoi 
Grazien und die Jalireszoiton. Indom sich die Wolko aonkt, erblickt 
man in dem offenon Himmolsraum Jupiter, Juno, Mars und die fibrigon 
GOtter. Von ilinen gelit, wie bericlitot wird; eine ,,wnnderBtiBse llarmouio 
aus, welche melir Gottern als Monschen anyAigolioren nolieint", mul OH 
verbreitet sich zugleioh ,,ein kostbarer Duft, dor den ganzou Saal or- 
ffillt". Von der anderen Seite der Bitlmo orsclxoint, als auf Krtlen wa^ 
lend, Amor, in seinem Gefolge die Hollhung, die urclit, die , Erolilicli- 
keit und der Schmerz. Es beginnt oiu Taiw, und zugloich orklingt oin 
Gesang zwischen Venus und Amor. Man aollto orwarton, dans dieso 
Strophen von Venus und Amor, wenu uiolit als Duett, so dock lied- odor 
arienniassig wiiren gosuugon worclen, Dies war aber koiueswogs der 
Fall. In der Besclireibung dieses Sttioks wircl ausdrueldicli orzalilt, dass 
"die Strophen der Venus achtstimmig , die Amors liinfstinmng gewesci^ 
dass dieselben auf der Btilme durch Sthnmen gosungen uud hintor d^ 
Scene mit Instrumenten begleitet worclori wiiren. Noch an keinem Orto 
und bei keiner Gelegenheit zeigt sich eine Spur von einstimrnigem Ge- 
sang. Bei einem Feste aber, welches bei Gelegonheit einer VermahlungB- 
feier in Elorenz im Jahro 1539 statfcfand, war Jemantl auf den Binfijjj 
gekommen, die Oberstimme oines Madrigals von einer Person allein ftia- 
gen, und die ubrigen Stimnaen von Tiistrumonten ausftihrcn m lassen. 
Der Sanger sang in der Itolle dos Silen die Oberstimme und bogloitoto 
sieh selbst mit einem Violone (Viola grOssoror Gattung), wahrond die 
anderen beiden Stimnaen auf Blasinstrumenten ausgefuhrt warden. 1^ 
Text enthalt das Lob des goldenen Zeitalters, dessen Wiederkehr cffir 



67 

Sanger dein neuvermalilten furstlichen Paare wunsclit, obschon der traurige 
Singsang, wie Kiesewetter sagt, die Hoffnung Heraufnicht selir ent- 
schieden auszudriicken scheint. So bedeutungslos an sicli, muss indess 
rl ieser selfeanae Versuch dock als erster, unreifster Anfang, als erster, 
wenu aucli geringfiigiger Anstoss, als die Basis betrachtet werden, auf 
welclier sick gegen Ende des Jakrhunderts ein ausgeftikrterer einstim- 
miger Gesang erkob. Es zeigte sick Mer wieder das erste Wagniss 
eines soleken. Das Verfakren, die Oberstimme eincs Madrigals von einer 
Person singen und die tibrigen Stiinmen clurck Instrumente ausfuhren 
zu lassen, land bald Nackakmung und es sind aus jener Zeit melirere 
derartige Compositionen vorlianden. Zngleich begann Meraus die kohere 
Gesangskunst sick zu entwickeln; man versuclite jene langgekaltenen 
Noten der Oberstimme eines Madrigals init allerlei Coloraturen zu ver- 
bramen, man sucbte mehr Bewegung und Mannigfaltigkeit in den Gang 
der Stimme zu bringen, und der erste Schritt zur Ausbildung des Einzel- 
gesanges war damit gethan. Icli sage: der erste Schritt, denn wunder- 
bar ist es, wie jene Sanger, zum Tbeil selbst Tonsetzer, niclit gleicli 
darauf vern^len, eigentliclie Cantilenen, Melodien zu erfinden und zu 
diesen eine passende Begleitung zu ersinuen, sondern sicli fortwahrend 
damit abqualten, die bedeutungslose Oberstimme eines Madrigals durch 
Piguren bis zur Unkenntliehkeit zu verzieren. Langere Zeit indess noeli 
verging, bevor aus diesem bald sehr figurenreicli werdenden Bravour- 
gesang die eigentliche Oantilene wieder liervorging. So ist es zu er- 
klaren, wenn beriehtet wird, dass der berulnnte Sanger Caccini bei 
der VermaHung des Grossherzogs Franz rnit Bianca Capello im 
Jalire 1579 die Kol|e der Nacht in einem Intermezzo mit Begleitung 
von Yiolen gesungen habe. Wir finden denselben Gebraucb bei Festen, 
welche ebenfalls zu Florenz im Jahi*e 1589 gefeiert wui'den. Die Hofe 
Oberitaliens hatten sclion jetzt mehrere eigentliche Kunstsanger in ihren 
Diensten. Der genannte Caccini, ein gewisser Jacopo Peri und 
eine Sangerin Vittoria ArcMlei werden als die beruhrntesten unter 
denen zu Florenz genannt. Castraten waren darnals weder in den Ka- 
pellen nocb. an den HSfen eingefubrt, wie es scheint, zur Zeit eine noch 
ganz unbekannte Sache. 

Jls konnte niclit fehlen, dass man jetzt bei dieser neuen "Wendung 
der Dinge, und bei so viel gegebenen Mitteln, endlieli doch. darauf ver- 
fallen musste, Cantilenen von einem bestimniten Ausdruck, 
also Sologesang im eigentKclien Sinne, zu erfinden. Von den Sangern 
am Hofe zu Morenz, bemerkt Kiesewetter, war zur Verwirklichung 
der Idee eines selbstst&ncligen, auf den Ausdruck bestimmter 



68 

Empfindungen und Zustande abzwecfcenden Gcsangcs keiner so 
berufen, als Giulio Caccini, auch YOU seiner Geburtsstadt Griulio Ro- 
mano genannt. Weim zwar kein grosser Meiater in der Knnst des Con- 
trapuncts, hatte er docli darin einlge Studien gemaclit und war nicht 
nur ein guter ganger im Gesehmack der Zeit, sondern aucli, mid vor- 
zflglicli, als GesangMrer ausgezeichnet. Seine Gesiingo gab or in oinor 
Sammlimg unter dem bedouteamen Titel: L move vmwhe im Jaliro 
1601 berans. Er bezeichnet sich in dor Yorrede selbst als den Ersten, 
der solclxe GesSnge erclaclit, und erzahlt, class or vor mebreren Jahron 
verschiedene derselben bei einona Besuclie In seiner Vatorstadt vor Liob- 
babern und Kennern niifc nngenacinem Beifall liabo lioron lasson; dioBO 
Herren batten ihm versicLei't, dasB sie bifl dahin nock nio oinen aiiu- 
lidien Gesang gehort, da man soust nur die Oborstimmo oinos Madrigals 
gesungen habe, wobei an don Ausdruck irgond oinor Kmplindung nicht 
zu denken gewesen sei. In der cnvalinton Sclirift bat Oaccini Bolno 
neuen Alien mit alien Singraanioron zuorst voroilbntliclit. Bs golit dar- 
aus hervor, dass der Kimstgesang, was Kolilfortigkoit betriJrt, Hclioii oiiion 
holien Grad von Annbildimg crreiciit Iiatto. 

In Florenz lebto damals, imtor Violen, oiii ftuflsorst tlitttigor Bo- 
scMtzer und Liebhaber der Ktiusto und WisBonsohafton, Giovanni ItardjU 
Graf von Veraio* Als Mitgliod gelelirter GosollHchafton, angovogt von 
dein Beispiele des Hofos und aus oigcnor Noigung, bosprach sih dor- 
gelbe am liebsten til)or BildnngHgogouHifiudo, und mom TIaus wurdo bald 
der Mittel- und Sanmielpunct fur Allo, wolclio von oinout liirtiorou Tutor- 
esse beseelt waren. G. B. Doni, ein geBcliiitetor Hcluiftstollor fiber 
griechisclio Musik, Socrotar am (/avdiuabcoUogiuin in Koiu, gob. xu 
Florenz 1616, gout. JG(59, bat cine Abliaudlimg fiber jono wiBBcnHcliafV 
liclion und tflnstloriscliou lioatrobungou, weldio datnaln in Floronx BO viol 
Anklang fanclon, goschriobou, die ^ugloich mit oiuigon Vorrodcn dor Ton- 
setzor als Hauptquollo liir die KonntnisB diesor Vorgilngo xu botraclitou 
isfc. Hieraus will ich oin Bruclistiick mittlieilou. Dor VorJtiHHor eraiililt : 
,,Diesor vortreftlichc Cavalier, Bardi, Graf von Vor uio, war gauss bo- 
sonders dem Studium dos Altortluuua urul doux dor Thoorio und .Praxis 
der Musik orgobon, dio or molirorc Jalir<s hmdttrdi ao cxiwig Htudict 
liatte, dass or fur soino Jlcit oin gtitcr und corrector TouBofcxor gowor- 
den war. Soin Haus war dor bontaudigo Vorsanmilungsort aller Por- 
sonen von Talent und oino Art blfthondor Akadomio, wo dio jfmgoron 
Louto vom Adel siclx oft vorsanunolton, um iluro MiiBHOHtumlou in Iflb- 
lichen Uobungen und gololvrfcou G(^Hpraclion m vorbriugou, vorxiiglich 
liber QogeuBtanclo der Musilf, iudoin os dor WuuBch tlor ganscon (iosoll- 



- 69 - 

schaft war, jene Kunst, YOU welcher die Alien solche Wunder erzahlen, 
wieder zu entdecken, so wie dies mit manclien anderen, dnrch die Ein- 
falle der Barbaren verloren gegangenen Kenntnissen bereits cler Pall war. 
Im Laufe dieser Erorterungen war man allgemein dartiber einig, dass 
die neuere Musik an Anmutli und im Ausdruck der Worte sehr mangel- 
haft sei s und dass, um. ibren Mangeln abzuhelfen, irgend eine andere 
Art von Cantilene oder Gesangsweise versucht werden iniisse, bei welcher 
die Textesworte nicht unverstandlicli gemacht, noch der Vers zerstdrt 
wurde. Yincenzo Gfalilei" es ist dies der Vater des beruhmten 
Naturforschers Galileo Galilei ,,war zujenerZeit unter den Ton- 
kiinstlern und Kunstkennern in einigem Anselien, uncl verfolgte, liier- 
durcli geschmeichelt, seine musikalisclien Studien mit solchem Eifer, dass 
er bald zn der Reife der Einsicht gedielien war, ein Werk tiber die 
Missbrauche der neueren Musik liefern m konnen. Angeeifert durch 
den Beifall, den dieses Bucli fand, versucMe Galilei neue Dinge, und 
war unter dern Beistande des Grafen Bardi cler Erste, welcher Me- 
lodien fur eine Stimme setzte, indem er jene pathetiscbe Scene 
des Ugolino nacli der DicMung von Dante in Musik brachte, und 
selbst sehr Eeblich mit Begleitung einer Viola vortrug. Dieser Versuoh 
gefiel ini Allgemeinen Qberaus woH, obgleieh es Leute gab, welche das 
Wagsttick belachten. Nichtsdestoweniger setzte or fernef ia demselben 
Stil einige Praginente der Klagelieder des Jeremias, welclie vor einer 
frommen Versammlung aufgeffihrt wurden. Um eben diese Zeit war 
Ca.soini, ein feiner und gebildeter Siinger aus Kom, dort 
pflegte den Zusammenkimften im Hause des Grafen Vernio 



beizuwolnen. Eingenommen von einer leidenscliaftliclien Neigung fttr 
jene neue Gattung, studirte er dieselbe mit grossem Heisse, indem er 
eigene Compositionen mit Begleitung eines einzelnen Instruments sang, 
"welclies gewOhnlich die Theorbe oder grosse Laute war, die von dem 
lufaffig eben auch zu Florenz anwesenden Bar dill a gespielt wurde. 
Caccinfalso setzieTfe Galilei nachahmend, wiewohl in einom schS- 
neren und gefalligeren Stile, viele Canzonetten und Sonette, welclie von 
den vortrefflichsten Dichtern lierrtilirten, und nicht von sold en elenden 
Eeimschmieden, deren man sonst wohl sich bedient hatte, und welche 
juch noch jetzt nicht selten die Lieblinge unserer Musikor sind. Man 
kan^Ton ihrn^sagen,"* 'dass er der Erste gewesen ist, welclier diesen 
Petler eingesehen hat und zur Erkenntniss daruber gekommen ist, dass 
die Kunst des Contrapuncts allein noch nicht die Erziehung des Compo- 
nisten vollendet, wie man sich. insgemein eingebildet. Caccini gestand 
in der Folge selbst, dass die in dem Hause Vernio 's gepflogenen Unter- 



W^, 

redungen ilim von grSsserem Nutzen gewege^ waren, als dreissig Jalire 
der Uebung nnd cles Stadiums seiner Eamst. ) Man muss gestehen , dass 
wir Caceini zum" "grSssten 'Theil die neue und anmuthvolle Singart 
verdanken, welche sick eben daraals fiber ganz Italien ausbreitete, in- 
dem er eine grosse Zahl von Arien componirte, deren Vortragsweise 
er unzahligen Schfilern beibrachte, nnter diesen auch seiner Tochter, 
welche eine berfihmte Sangerin wurcle, und noch jetzt rait diesem 
Talente glanzt. Im Kecitativ-Stil hatte Caceini einen furchtbaren 
Nebenbuhler an Jacopo Peri, einem Florentine!*, welcher nicht nur 
ein guter Coniponist, sondern auch ein berfihmter Sanger, zndein in der 
Ausfuhrung der Tasteninstrumente besonders gescMcbt war; derselbe 
verlegte sicli mit grossem Pleiss und Enthusiasinus auf jene neue Singart, 
worin er bewunderungswfirdigen Fortgang maclite und allgeineinen Beifall 
hatte. w Dies sind die Worte Doni's; sie enthalten das Wichtigste fiber 
die ersten Anfange cles neuen Stils, fiber die nachsten Schritte zur Oper. 
Es geht aus denselben liervor, welches der Grand und Boden war, aus 
dem das Neue hervorging; sie zeigen die Motive, welche zu der Auf- 
findung desselben Veranlassung gab en. 

Gelehrte, geistreiche Literaten, musikalische Dilettanten, Sanger, 
Dichter waren es, von denen die Erfindung ausging. Die eigentliclien 
Musiker waren* wie so oft, zu sehr befangen in clem, was gait, in der 
liergebracMen Weise, als dass sie auf etwas so ganz Abweicliencles 
Mtten eingelien konnen. Die Erfincler der Oper liessen dalier die eigent- 
liclien Musiker ganz aus dem Spiele. Die grosse Einseitigkeit der bis 
daMn vorhandenen Musik war ilinen deutlicli zum Bewusstsein gekom- 
men, der sicb aasbildende Einzelgesang hatte entscMeden auf die Mog- 
liclikeit einer nocli ganz anderen Kunst Mngedeutet. Die immer beliebter 
werdenden mit Musik verbundenen scenischen Darstellungen lenkten 
den Blick auf die Blilme. Das Studium der griechischen Literate end- 
licb erinnerte an die problematische Beschaffenlieit der griechischen 
Musik r veranlasste zu Untersuchungen fiber die Art, wie im griechischen 
Drama Tonkunst und Poesie verbunden gewesen sein mogen. Jetzt kam 
es darauf an, eine Musikart ausfindig zu maclien, in welcher ganze, 
zusammenhangende , poetisch wohlgeordnete Scliatispiele auch musika- 
liscli zusammenMngend bohandelt, und bei der theatralischen Darstel- 
lung auf solche Weise gesungen werden konnten; es kam darauf an, 
das Schauspiel vollig in eine hohere, ideale Welt zu erheben, in eine 
Welt, worin die auftretenden Personen fur das, was sie zu sagen hatten, 
keine andere Spraclie besassen, als die des Gesanges. Die Griechen, 
'-war die Ansicht jener Manner, liaben eine solche Musik besessen, aber 



fiA . 

leider ist sie vollig untergegangen, und die Nachrichten, welche wir be- 
sitzen, reichen nicht aus, urn uns eine Mare Anschauung zu gewahren. 
Diese Musik muss neu geschaffen werden. Jetzt gait es auch, den Dialog 
musikalisch zu behandeln, es handelte sicli um Erfindung des Eecitativs, 
um da^Ganze zum Absehluss zu bringen, nm alle Mttel, das Schau- 
spiel in Musik unazusetzen, in den Handen zu haben, und diese Erfin- 
dung ging urns Jahr 1600 von jener bliihenden Akademie aus; dies 
war der lange geahnte Stil, den die gelehrten Kunstliebhaber beabsichtig- 
ten, nacli ihrer Ansicht eke Erneuerung der musikalischen Eecitation 
in den Tragodien der alten Griechen. Dies war im eigentliclien Sinne 
eine in der modernen Musik noch nicht dagewesene Erfindung, wennschon 
die ersten Versuche nur erst selir unvollkommen gelungen waren; dies 
ist das grosse Verdienst, welches sicli jene Dilettanten erworben haben. 
"Wie grosses Gewicht man auf diese Neuerung legte, wie inachtig der 
Einfluss der Grieclien war, wie selir man sich bemtihte, diesera Ideal 
treu zu bleiben, erhellt namentlich aus dein Umstand, dass in den er- 
sten opernmassigen "Werken arioser Gesang, eigentliclie Cantilene, nur 
nocli ausserst selten yorkani, ja fast ganz ausgeschlossen war, dass jene 
Compositionen fast nur noch aus Eecitativen und Choren bestanden. 

""Als der Graf von Vernio von seinem Gonner Clemens VDI. als 
Maestro di camera nacli Eoni berufen wurcle, ubernahm ein gewisser 
Jacopo Corsi die Akademie und setzte in seinem Hauso die Versamnx- 
lungen und Besprechungen im Sinne des Griinders fort. Der aus Frank- 
reich zuruckgekehrte Dichter Ottavio Kinuccini, ein Preund Cor si's, 
trat der Gesellschaft bei. An Mchts fehlte es nach so vielfachen Be- 
miiliungen und Versuchen, um alles bisher Erfundene zusammenzufas- 
sen, um die Oper in das Leben einzufiiliren , als an einern passenden 
Gediclite. Einuccini war so gefallig, ein Hirtengedicht ^Dafne" zu 
liefern, dessen Composition Peri ubernalim. Das Werk kam im Jahre 
1594 oder 95 in dem Hause Cor si's zur Auffiihrung und erregte allge- 
meines Aufsehen. Auch nach Deutschland um dies sogleich Mer 
zu bemerken gelangte der Text desselben; der damals boriihmte 
Dicliter Martin Opitz von Boberfeld tibersetzte ikn, und der sach- 
sisclie Kapellmeister Heinrich Schiitz lieferte die Musik. Hatte indess 
die ?) Dafne u Aufsehen erregt, so konnte sich der Erfolg derselben doch 
nicht inessen mit dem Enthusiasmus , welchen ein anderes Werk von 
Einuccini hervorrief, die Oper ,,Euridice", die erste eigentliche grossere 
Oper, durch die fur ganz Europa die Bahn gebrochen wurde. Sie wurde 
von Peri in Musik gesetzt, bei der Auffiihrung aber waren mehrere 
Stiicke von Caccini's Composition eingelegt. Spater erganzte Peri 



72 

sein Werk, uncl auch Caccini schrieb dann die ganze Oper fur sich 
allein. Beide Bearbeitungen sind im Druek erschienen. Veranlassung 
zu der Auffiihrung gab eine bedeutende Feierlichkeit am florentinischen 
Hofe, die Vermahlung Heinrich's IV. yon Frankreich mit Maria yon 
Medici im Jahre 1600. Es war natlirlich, dass man ein solches Pest 
dureli die moglicbste Pracht zu yerherrlichen suchte, natiirlich, dass 
die zahlreiclien Gaste den Kulim des Gesehauten und Gehorten bald 
in alien Landern verbreiteten. Die Balin war jetzt gebrochen, die Oper 
in das Leben eingefuhrt, und es zeigt sich yon nun an ein stetiger 
Fortgang. Bald folgten andere italienisehe Stadte dem yon Plorenz 
gegebenen Beispiel, und bracMen dieses und ahnliche Stiicke zur Auf- 
fiihrung. In der 5 ,Euridice" zeigte sicli nun zuerst eine yollstandigere, 
schon etwas gelungenere Anwendung der neu gewonnenen Kunstmittel. 
Die gewolinliclie Recitation ist ganz yerdrangt, der Dialog von Anfang 
bis zu Ende recitativiscli behandelt, kleinere, bewegtere Chore finden 
sich dazwisclien. Das ist aber aucli das Hauptsachlichste , was dartiber 
zu sagen ist. Diese langgedelmten Eecitative ohne melodische Sclionlieiten, 
mit arraliclier harmonischer Begleitung, sind for uns langweilig. Das Inter- 
esse der Neuheit und die aussere scenische Pracbt nur konnten damals der 
Sacbe so grosse Erfolge verschaffen. Die Composition war lange Zeit 
Hndurch yerloren; Kiese wetter hat sie wieder aufgefundeu und einige 
Bruchstttcke mitgetlieilt*). 

Ich habe diese Vorgange etwas ausfuhrlicher behandelfc. Wie in 
der letzten Vorlesung, hatte icli Ihnen Mer einen der wichtigsten Ab- 
scbuitte der Gescliiclite der Musik darzustellen. Die Erfindung der Oper 
ist, wie schon beinerkt, der folgenreichste Wendepunct in dem gesarnm- 
ten Veiiauf der Begebenlieiten. Icli habe incless bis jetzt nur der Be- 
strebungen der Florentine!* gedacht, iim die Darstellung nicht zu unter- 
brechen, gleichzeitige yerwandte Leistnngen an anderen Orten nicht 
namhaft gemaclit. Dieser will icli jetzt noch in Eurze erwahnen. 
Gleichzeitig mit den Plorentinern , ja ihnen noch zuvorkommend , hatte 
ein gewisser Emilio del Caraliere, ein Eomer, bis zum Jahre 1596 
aber Intendant der grossherzoglichen Hofmusik zu Plorenz, und dem- 
nach mit den Bestrebungen der dasigen Eunstfreunde vertraut, einige 
Schaferspiele, gleichfalls in der neuen Weise, gleiclifalls in der Absieht, 



*) Man vergleiche iiber das Mer Dargestellte S oh e lie's Abhandlraig in der 
J5 Neuen Zeitschrift fur Musik", Jahrgang 1863, Bd. 59, Nr. 3, S. 21. Dort wird die 
Oper nach Seite ilirer musikalischen Pactur als ein Umschlag 1 der kirchlichen 
Musik in die weltHche bezeichnet. 



73 

die Musik der alten Griechen wieder aufleben. m machen, componirt, 
die der Ansiclit der gelelirten Hellenisten sclion ziemlicb. nahegekomxnen 
sein raussten, da dieselben sogar dem Jacopo Peri als naehahmungs- 
wtirdig bei der Composition der , ? Dafne" empfohlen werden konnten. 
Gleiehzeitig mit der ,,Euridice u hatte Emilio im Februar des Jahres 
1600 ein grosseres Werk, ein moraliseh-allegorisclies Drama: DelP 
anima e delf corpo", in Eom, in der Kirche della Vdicella, und zwar 
in der Betstiibe, welclie den Namen Oratorio fdlirt, auf einer Btiline mit 
Scenen nnd Decorationen , durch handelnde Personen, auch mit einge- 
webten Tanzen, zur Auffuhrung gebraclit, und damit fur das spatere 
Oratorium den ersten Anstoss gegeben 44 ). Der englische Geschicht- 
schreiber Burney Bat eine Beschreibung des wunderliclien Sticks ge- 
geben : als Einleitung soil ein Madrigal gesungen werden, mit verdoppel- 
ten Stimmen, und mit Instnonenten verstarkt, welclie die Singstimmen 
mitspielen. Wenn der Vorhang aufgezogen ist, erscheinen zwei Jiing- 
liuge, welclie den Prolog recitiren. Sobald diese abgetreten sind, er- 
sclieint, als handelnder Gharakter, die Zeit; ihr wird der Ton von den 
Instrumenten Mnter der Scene angegeben. Dann ersclieint das Ver- 
gntigen und seine Gefalirten, welclie Instrumente in der Hand haben, 
um ihren Gesang zu begleiten. Der Korper, welcher nun auftritt, mag 
bei Ausstossung besonders charakteristisclier "Worte etwas von seinem 
Eleiderputz oder Schmuck von sicli werfen, die goldene Halskette, die 
Eedern von dem Hut. Die Welt und das menschliclie Leben sollen 
insbesondere bunt und reich gekleidet sein; wenn sie aber nacther von 
ihren Hullen entblosst sind, sollen sie armselig und elend erscheinen, 



*) In Bezug auf diesen Vorgang bemerkt Sc lie lie, ,,Heue Zeitsclirift' fiir 
Musik", Jahrgang 1864, BcL 60, No. 10, S. 79: 

)5 In das Bereicii der bodenlosen Sagen gehort ferner die Ableitung des Aus- 
drucks Oratorium von dem Betsaale des heil. Neri, Santa Maria in Valicella, 
wo man die bekanntea geistlicli dramatischen Yorstellungen w'ahrend der Car- 
nevalswoche abhalten lasst. "Wer indess je das dortige Oratorio geselien hat, 
dem muss sclion die Eauomliclikeit als solche die Unmoglichkeit derartiger Auf- 
fuhrimgen an Ort und Stelle vor die Augen bringen. Dazu erwalmen weder die 
Acten der Congregation, noch die weitscMclitige und bis ins kleinste Detail ge- 
nende Biographie des neiligen Neri, in dem dortigen Archive befindlich, auch 
nur das Geringste, welches zu dieser Annahme berechtigte; vielmehr geht aus 
ihnen hervor, dass jene Y orstellungen , wie noch heutigen Tages, in eineni Saale 
des dritten Stockwerks vor sich gingen. J2um Ueberfluss ist noch darauf auf- 
merksam zu machen, dass der Name Oratorio fiir eine Compositionsgattung nie 
in der italienischen Sprache gebrauchlich gewesen ist. Man wird sich daher die 
Miihe nehmen miissen, diesen Ausdruck auf andere Weise abzuleiten." 



71 

i <>jk 

endlich gar wie todte Gerippe. Ich glaube, diese Notizen reichen 
ans, ura Ihnen eine Anschauung von dem unerquickliehen Cliarakter 
des Q-anzen zu geben. Was die Musik betrifft, so 1st das Wichtigste, 
class die neuen Kunstmittel darin zur Anwendung gekommen sind. 
Gleichzeitig waren diese Werke entstanden, und es ergiebt sicli daraus, 
wie die Ehre der Erfindung des neuen Stils den vorhin genannten Mannern 
nicht allein beigelegt werden kann. Der neue Musikstil war eine von 
der Zeifc, von den inneren Entwicklungsgesetzen der Kunst geforderte 
xiufgabe, und wir selien dalier, wie Versuche zur Losung derselben von 
Melireren zugleich unternommen warden. 

Hiermit sind nun diese grossen, far die Folgezeit so ausserordent- 
lich wiclitigen Erfindimgen ins Leben getreten, anfangs Mnsichtlich ihres 
kunstlerischen Werthes nicMssagend, in ihren lolgen von unermesslicher 
Bedeutung. Das lyrisehe Element gelangt jetzt zur Herrscliaffc, im Gegen- 
satz zu dem epischen der Vorzeit; sich auszusprechen, seine Besonder- 
lieit, seine besonderen Gemiithszustancle , wird jeijzt die Hauptaafgabe. 
Das freie Sicli-ergelien des Subjects, das Vereinzelte der Situation und der 
Gegenstande, die Art und Weise, wie das Indmduum in seiner subjec- 
tiven Freude , in seinem subjectiven Schmerz sicli aussert , kommt jetzt 
zur Herrschaft, und sonait ist das Eingangstlior fur die spateren Jabr- 
hunderte eroffnel 

Man hat zimi Theil die Beimiliungen jener Manner, die Musik des 
griecMsohen Trauerspiels wieder aufleben zu niacben, als eine seltsame 
Liebhaberei, als eine Grille, beinalie als eine Thorheit betraclitet, welche 
nur zufallig und ganz beilaufig jenes grosse Eesnltat, die 'Erfindung der 
Oper, zur Polge hatte; man bat damit die allem Christlichen tiefeinge- 
borene Sehnsueht nach Griecbenland , die iim innewohnende Ahnung, 
dass es dort seine Erganzung m suclien hat, man hat den Genieblitz 
des Jahres 1600 auf musikalischern Gebiet vollig verkannt. G. W. Fink 
in seiner ,,Geschichte der Oper" ist es insbesondere , der von dieser 
trivialen Anscbauung nicht loszukomnaen vermag, und somit, wie tiber- 
haupt in seiner Schriffc, aucli Her die wicbtigsten Gesichtspuncte , die 
Erfassung des Princips, sich entgehen lasst. Bin dunkler Instinct, eine 
Ahnung , dass der clristlichen bis dahin vorzugsweise auf die Kirche 
beschrankten Musik Etwas fehlte, was nur in Griechenland zu erlangen 
soi, trieb und leitete jene Manner, welche die Oper erfanden. Derselbe 
Geist, welclier alle Erscheinungen des modernen Lebens gestaltete, hat 
auf gleiche Weise in der Tonkunst welter bildend und schaffend gewirkt, 
und hier durch diese Wendung jenen Gebilden entsprechende GestalteE 
hervorgerufen. So wie das Alterthum einseitig seine Befriedigung vor- 



75 

zugsweise in der Sinnenwelt fand, so huldigte mngekehrt das Christen- 
thnm einem einseitigen Spiritualismus , einer Verfliichtigung des Sinn- 
lichen, nnd nur erst die Durchdringung beider Seiten zu einem hoheren 
Ganzen hat ein Yollkommen Befriedigendes, hat die hochsten Schopfungen 
heiTorgemfen. Das Princip der neueren Zeit ist die Ineinsbildnng der 
griechischen nnd der friiheren christlichen Weltanschauung. Diese Durch- 
dringung beider Seiten ist es, welche in Raphael's Werken bezaubert, 
diese Dnrchdringung war es, welche Goethe nach seiner italienischen 
Eeise auf den Hohepunct seines Schaffens fuhrte nnd eine vollige Um- 
wandlung seines Wesens bewirkte, so dass es ihm schien, als habe er 
erst mit dieser Epoche zu leben begonnen. Die politische und sociale 
Umgestaltung der Gegenwart ist ebenfalls zum Theil in diesem Sinne 
anfznfassen. Anch das moderne Leben strebt noch fortwahrend dahin, 
sich durch Elemente des griechischen zu erganz&j, nnd wir werden, be- 
vor diese Anfgabe erreieht ist, zn einem befriedigenden Abschlitss nicht 
gelangen. Griechenland nun hat genau denselben Einfluss, welchen es 
auf die allgemeine geistige Gestalfcmg des Abendlandes erlangt hat, 
auf nnsere Musik geaussert; auch unsere Tonkunst ist erst durch grie- 
chische Einfliisse, duich die Bemiihungen jener Manner, sich das Wesen 
der antiken Musik deutlich zu machen, zu hoherer Eeife gelangt. Wie 
in der Malerei durch die Einwirkung der griechischen Scnlptur jene 
frllhere Magerkeit der-Gestalten, jene spiritualistische Verfliichtigung 
des Leiblichen beseitigt wurde, so dass Eaphael nnd die spateren 
M 4er Madonnen und Busserinnen in bltihender Korperftille malen konnten, 
und diese tief geistigen Charaktere zngleich durch sinnliche Anniuth 
entzticken; wie in der deutschen Poesie, wie bei Goethe erst durch das 
Stndium Griechenlands jene Pormlosigkeit und versehwimmende Senti- 
mejalifcat in Gotz und Werther, das Wilde und Eegellosa, welches die 
Manner der Stiran- und Drang -Periode zeigen, tiberwunden wurcle, 
und Vollendung der ausseren Erscheinung, Pracht des Ausdrucks und 
Geschlossenheit der Form an deren Stelle trat: so hat auch die Musik 
erst durch die Ausbildung der weltlichen Pornien, dui*ch Erfindung des 
Eecitativs und der Arie , die jenen griechischen Studien wenigstens mit- 
telbar ihre Entstehung danken, Vollendung erlangt. Die Musik der 
papstlichen Kapelle im 16. Jahrhundert entspricht jenen vor-Eaphael'- 
schen Werken der Malerei, welche clas Leibliche noch nicht vollig zu 
seinem Eechte kommen lassen; der durch Erfindung der Oper hervorge- 
rufene Eunststil zeigt die bluhende Korperfiille Eaphael'scher Gestalten. 
Man hat das anfangs einseitige Atiftreten der grossen weltgeschichtlichen 
Principien, ihi*e spatere Yerkntipfung, ihre organische Einigung in ande- 



76 

ren Gebieten der Wissenschaft und Kunst erkannt. Die Tonkunst allein 
erscMen bisher immer als etwas Abgesondertes , welches, in seiner Enfc 
wicklung auf sicli beschraukt, nirgends Mn passte, und keinen Theil 
an der allgemeinen Bewegung zu haben schion. Ich habe angedeutet, 
wie das Princip, welches alien Gestalten abendlanclisclier Kunst zuni 
Grande liegt, auch in der Tonkunst sich wirksam erwiesen hat, und 
damit den Hauptwendepunct der Geschiclite der Mnsik Mneingelioben 
in das Eeicli des allgemeinen Geisteslebens, Bs kam in jener Bpoche 
darauf an, das rein Menschliche in seiner Bereclitigung geltend m ma- 
chen, dem tiberwiegend Geistigen der Kirchenmusik cine sclione Sinn- 
lichkeit gegenflberzustellen, diese im Altertlium zur Erscheinung gekom- 
mene Seite fflr die Tonkunst zu erwerben, und es goschah dies durch 
die Erfindung der Oper und alles das, was an diese sich knflpft. Der 
bis dahin tiberwiegend geistigen Tonkunst die sinnlichc xSeite Mnzuge- 
fugt m haben, ist hauptsiiclilich die Bedeutung clen orstou Auftretens 
der Oper in Italian. Hierdurdi gelangte zugleich der fortwalirondo Kampf 
des Grieehisclien und cles Cbristliclien ich machto sclion in dor er~ 
sten Vorlesung auf diesen Umsfcand und jawor mit der Bemorkung auf- 
merksam, dass derselbo spater nock cine ontsprochondo Wtirdiguug fin- 
den werde zu eiuem bofriodigondon AbscliluBRO. Die Autoritat 
Grieclienlands und die Beroclitigung , wcleUe soinom Woson iunewohnt, 
kam mi- Qeltnng, wcnn auch niclit auf dom vorkohrton Wego der 
Wiecleroinftikung seines Tonsystoms, don die Musiker dor ifltostcm 55eit 
zu betroten strebten. Friibor hatto Grieclienland das Kmporkohnon dor 
cliristliclien Musik nur goliemmt, jotzt war der Mtpuuct gokommen, 
wo nicht mehr cine Seito auf Kosten dor ancleron sioh geltend inaclien 
konnte, sondern beide, gloicliboroelitigt , in innigor Durclidringung cine 
neue Epoche bogriindeton. 



Fflnfte Vorlesung, 



Zustand der Instrumentalmusik, Fortgang der Oper: Giacobbi. Quagliati. 
llonteyerde. Marco de Gagliano. Tonsetzer im Stile Palestrina's: Benevoli 
und Bernabei. Spatere Meister: Viadana und Carlssimi; Cavalli und Cesti. 
Neapolitanische Scliule: A. Scarlatti. Durante. Leo. Greco. Astorga. Spatere 
Tonsetzer: Jomelli. Teradeglias, Pergolese. 

Geistreiche Kunstfreunde , Alterthumsforscher , Dilettanten, Sanger 
waren die Erflnder der Oper; die Musiker von Each, besassen in Folge 
ihrer gesammten Bildung und Richtung nocli keine Einpfanglichkeit fur 
die neuen Bestrebungen , welche, so grosses Interesse sie bei der Mebr- 
zahl erweckten, von jeneu belaeht wurden. Noch immer bestand die 
schon er^valinte Trennung von Kirclieiimusik und weltlicheni Gesang, 
die Kluffc zwischen Harmonie und Melodie, Dies hatte einen grossen 
Uebelstand zur Folge. Die Dilettanten, weniger eingeengt durch die 
Vorurfheile der Schule, vennochten zwar mit grosserer Leichtigkeifc eine 
neue Idee zu fassen, aber es fehlten ihnen die hoheren, ktinstlerischen 
Erfordernisse , es fehlte ilinen die Gewandtheit in der Handlaabung der 
kunstlerisclien Mittel, die naeMialtige Kraft, der Eeiclithum der Brfin- 
dung, urn grossere Schopfungen wagen zu konnen, und wir selien dalier 
in der nachsten Zeit nacli Erfindung der Oper verlialtnissmassig nur 
geringe Fortschritte. Jene Erfinder waren woH faHg gewesen, den ersten 
Anstoss zu geben, nicht aber, ilire Schopfung zu hsherer Vollendung 
und Gediegenheit fortzufuhren ; die Oper fuhrte im Ganzen ein kflmmer- 
liches Dasein und wurde mebx nur durch. aussere Pracht und Glanz 
getragen und gestfitzt. Erinnern Sie sicli, dass die ersten "Werke der 
neuen Gattung nur aus Eecitativen und Choren bestanden, so erhellt 
schon Heraus die Aermlichkeit ihrer Beschaffenheit. Wahrscheinlich, 
um dem Vorbilde der antiken Tragodie ganz treu zu bleiben, war darin 
arioser Gesang ? den man doch durch Caecini schon kannte, noch ganz 
ausgeschlosssen. Auch die Eimichtung des Orchestra entsprach. der 



. 78 -. 

gesammten musikalisehen Beschaffenheit jener Werke. Unsere heutigen 
Instrumente waren zum Tkeil schon erfunden und ausserdem mehrere, 
jetzt ausser Anwendung gekommene, nodi vorhanden, aber man wnsste 
davon noch keinen Gebraucli zu machen, und die Kunst, die Instru- 
mente zu spielen, stand auf der unterston Stufe der Ausbildung. Fur 
das in der letzten Yorlesung genannte Oratorimn des Emilio del 
Cavaliere wird statt einer Einleitung ein ,,Madrigal" empfohlen mit ver- 
doppelten Stiinnieii, und mit Instnunenten verstSrkt; die Instrumente 
sollen liinier der Scene aufgestellt warden, und zwar: eine Lira doppia 
(eine grosse Art Viola, Viola da gaviba), ein Clavicembalo , ein Cltitar- 
rone, zwei Flauti odor Tilie aW antica. ZaUreiclier waren die Instru- 
mente, welclie man in Florenz kannte und gebrauclite. Schon bei don 
Darstellungen im 16. Jahrhundert warden genannt: Gravkwnlalo, Orga- 
netti a varii registri, 3 Trawse, 1 Violone, 4 Trombone, Storte (Kruinm- 
Mrner?) und 4 Cornetti (Zinken). Ein oigonor Tart war inclcBS liir sie 
niclit geschrieben. Aus etwas spSterer Zeit warden aufgozablt: 2 Gra- 
vicembali, 4 Violini, 1 Leuto mezzcino, i Cornetto rnuto, 4 Trwriboni, 
2 Flauti diritti, 4 Traverse, 1 Leuto grosso, 1 Sotto Basso di Viola, 
i Sopran di Viola, 4 Leuti, i Viola d'awo, 1 Jjiwne, i Traverse 
Contralto, 1 Flauto grande Tenore, i Trombone JBasso, 5 Storte, i Stor- 
ima, 2 Cornetti or dinar ii, i Cornetto grosso , 1 Dolsaina, Lira, 
1 RileccJdno , 2 Tamburi u. s. w. Die Instrumonto liatton mohrere 
Tanze, Vor- und Isfaclispiele und Zwiscliensiltzo vorzutrageii ; die Com- 
positionen aber waren von den mehrstimmigen Gosangen jonor Zeit 
niclit verschieden, fast ganz so beschajffen wie die kleinen Chore, welche 
in den Opern vorkominen. Bei diesen Choren wurden die Instru- 
mente nur zur Yerstarkung des Tones benutzt, so dass vide derselben 
vereint eine Stimme zu spielen batten im Einklange mit den Sangern; 
bei den Solos war fitters die Begleitung nicht einmal in Noton vorgo- 
schrieben, sondern der eigenen Erfindung, dem Goscbnack und guton 
Gelior des Spielers uberlassen. An eine kmistvollore Vertheilung der 
Instrumente wurde auch noch niclit im Entfornteston gedacht ; im Gegen- 
theil, die Instrnmentalmusik befand sich noch auf der imtersten Stufe 
der Ausbildung, und es ist aus jener Zeit hochstons von grossem Unfug, 
der mit den Instrumenten getrieben wurde, m borichten. 

Bald nach Erfindung der Oper beeiferten sich nun zwar die gros- 
sen italienischen Stadte, die Hofe, die Keiclien, dersolbon eine Statfco zn 
bereiten und sie bei sich einzuffihren, aber man begniigte sicli, mit Wie- 
derholung der vorhandenen Werke, und neuen, iilmlichcn Schopfungen 
wurde nicht der Beifall zu Theil, der die fruheron gehoben und go- 



79 

tragen hatte. So wurde die J} Euridice" des Peri schon im Jahre 1601 zu 
Bologna zur Auffuhrung gebracht, die >,Dafae" desselben zu Parrna 1604. 
Der nachher noch zu besprecliende Cl audio Monteverde betrat 
zunachst die dramatische Laufbahn; er schrieb fur den Hof zu Mantua 
im Jahre 1607 die Tragodie ,,0rfeo", im. Jahre 1608 die ,,Arianna" und 
die Tanz-Oper ,,12 hallo delle ingrate". Der Bologneser Girolanio 
Giacobbi setzte im Jalire 1610 eine Oper Andromeda", und im Jahre 
1616 in Gemeinschaft mit dein Bomer Quagliati und dein Florentine!* 
Marco da Gagliano die 5 ,Euridice" des Kinuccini, der Letztere in dem- 
selben Jahre die ,,Dafne u desselben, sainintlich fur Bologna. Noch im 
Jahre 1640 aber wurde die ,,Arianna" des Monteverde in Venedig 
wieder auf die Buhne gebracht. Er&i urn die Mitte des Jahrhunderts, 
als das musikalische Drama, welches im Ganzen bis dahin doch nur 
als eine seltene Erscheinung bei besonders feierlichen Gelegenlieiten, 
auf Kosten der Hofe , Eepubliken und reicher Privatleute gehort worden 
war, die Lieblingsunterhaltung des grossen Publicums zu werden begann, 
durch dessen Beikage die Kosten der Aufflilirung bestritten wurden, 
und als nun eigene Gebaude, grosse offentliclae Theater entstanden waren, 
erst da wurde mit zunehmender Thatigkeit im lache der Oper gearbeitet, 
und von da an waren auch die Fortschritte , welche die di*amatisclie 
Musik machte, ausserordentlich schnell. Jetzt erst treffen wir auch den 
Namen ,,0per", der weit spater, meirere Jalirzehnte nach Erfindung 
derselben, aufgekommen ist, und sich, soviel man weiss, zuerst in einer 
1681 erschienenen Schrift vorfindet. Nur wenige bedeutencle Tonsetzer 
betraten, wie Sie schon aus den eben gernachten Angaben entnehmen, 
die dramatische Laufbahn. Ciaiadio MomteTerde, geb. 1568 zu Cre- 
mona, seit 1613 bis zu seinena 1643 erfolgten Tode Kapellmeister an 
der MarcusMrche in Venedig, ist zunaehst als Derjenige zu bezeielmen, 
der in der eingeschlagenen Eichtung welter fortschritt. Ausser den 
schon genannten Werken schiieb er spater noch. die Opera: Proser- 
pina rapita" (1630), l*Adone (1639), E ritorno cVUlisse in patria" 
(1641) und L'mcoronazione di Poppea" (1642)* Monteverde ver- 
guchte mehr Abwecislung , rhythmischen Schwung, Leidenschaft in den 
Ausdruck dramatischer Werke m bringen er selbst hat sich in 
der Vorrede zu einem 1638 zu Venedig gedruckten Madrigalwerk als 
den Erfinder des leidenschaftsvollen Stils in der musikalischen Com- 
position bezeichnet , er ordnete und erweiterte das Orchester, so 
dass es jetzt nothig war, for jedes Instrument die Noten genau vor- 
zuschi'eiben , und suchte es durch eigenthumliche Behandlung der ein- 
zelnen Instrurnente zu charakteristischen Wirkungen zu befahigen. Seiu 



80 

Orclestex bestand aus: 2 Gmvicembali, 2 Contrabassi da Viola 9 
10 Viole da Irazzo, 1 Arpa doppia, 2 Violini piccioli alia Francese, 

2 Ckitarroni, 2 Or yam di legno , 3 -Sam" da gram&a, 4 Tromloni, 
1 jR^aZ 3 2 CvrnM, I Flautino alia vigesima seconda, 1 Clarino und 

3 ZWm&e aordiwe. Am bemerkenswerthesten 1st er woM deshalb, well er 
neue , yor iim von Niemand gewagte Combinationen in Accorden, beson- 
ders ungewohnte Dissonanzen ohne Vorbereitung 211 gebrauchen ange- 
fangen , obsclion er deswegen von seinen gelehrfen Kunstgenossen lieftig 
angefocliten wurde ; er trug aber dadurch wesentlich dazn bei, die grosse 
Umbilrlung in den Mitteln der Tonkunst, welche jetzt begonnen hatte, 
dea erweiterfcen Gebraucli derselben, znr Geltung zu bringe%_,^ 
"^"So wenig ergiebig sich aber auch. die erste Halite des 17. Jahr- 
liunderts zeigt, so ist docli diese Zeit, wie aucli sclion ans dem bisher 
Gesagten erliellt, far die gesammte Tonkunst von grosster Bedeutung 
gewesen; nicht durch das, was wirldicli geleistet wurde, durch. wirkliclie 
Eunstschopfungen, wohl aber, indem Mer der Grund zu all den For- 
men und Kunstgattungen gelegt wurde, die nock jetzt das Wesen 
unserer Musik ausmachen. Ausser der Entstehung des Binzelgesangs, 
ausser der Aufnalime der Instiumente, die frulier, wie Sie wissen, von aller 
Mlieren, tunstvolleren Musik ganz ausgeschlossen waren, bemerken wir 
jetzt znerst eine Scheidung der gesammten Tonkunst in Eaichen-, Kam- 
mer- und Tlieatermusik und Ausbildung verscliiedener Stile dafiir. Eine 
Menge neuer Formen wurde gescliaffen: die Ausbildung der Instrumen- 
talvirtuositat, sowie der h5heren Gesangskunst , endlicb. aucli der naoder- 
nen Harmonisimng, der modernen Tonleitern, war eine nothwendige Folge 
der neuen. RicMung, und ieli darf Mer niclit unterlassen ausdrticklicli 
darauf auftnerksam. zu machen, wie dieser grosse Umschwung in der 
Musik der letzten beiden Jahrhunderte lecliglicb. von Italien ausgegangen 
ist, und Deutsehland deslialb sehr UnrecM thut, wenn es die Leistun- 
gen desselben vergisst und im Besitz aller ScMpferkraft zu sein wahnt. 
DentscHands Verdienst ist, das Gegebene weiter entwickelt, zu einer 
Holie und Vollendung gesteigert zu haben, wolclie Italien nicM alinte, 
Italiens Eulmi aber, erfindend vorangegangen zu sein. 

Icli deutete vorhin darauf Mn, wie der Fortgang ia der allmaMclien 
Ausbildung der Oper anfangs nur ein sehr langsamor war; Sie werden 
benaerkt haben, wie bei diesen fruliesten Versuclien ein Alles gestalten- 
der, schopferischer Mittelpunct fehlt. Es werden allerdings Fortscbritte 
gemacht, und ini Laufe der Zeit gewinnen die Tonsotzer an Gewandt- 
lieit, aber es fehlt docli imnier der tiefere musikalischo Geist, eine um- 
fassende Scliopferkraft. Dass dies der Fall, lag in den YerMltnissen, 



- 81 

hatte in clem dilettantischen Charakter cler ersten Yersuche seinen Grund. 
Wo siiul demnaeh, entsteht jetzt die Frage, die Krafte zu suchen, welcho 
die classisehe Zeit dieser * zweiten Periode der italienisehen Musik , das 
goldene Zeitalter der Oper, sowie die neue Bluthe der Kirchenmusik 
lierYorgemfen haben? In Eom bestand die alte strenge ScMe des 
Kirchenstils , und YOU den Tonsetzem dieser Kichtung war kerne Bin- 
wirkung auf die neuen Bestrebungen zu erwarten. Das war auch keines- 
wegs der Fall; im Gegentheil, diese Schule hat sich, unberiihrt von den 
Bewegungen der Zeit mid den Sttirmen derselben trotzend, bis lierab 
auf die Gegenwart in urspriinglieher Gestalt erhalten, so dass aus alien 
Epoelien hervorragende Tonsetzer jenes Stils zu nennen sind. leli gedenke 
Mar im YorQbergehen des Orazio Benevoli, der seit dem Jabre 1050 
das Eapellmeisteramt bei St. Peter im Yatikan inue hatte, und eines 
SehSIers desselben, des Giuseppe Bernabei, der 1672 seinem Lehrer 
in dieser Stellung folgte. Beide waren ausgezeichnet durcli ihre gros- 
sen, melirchorigen, oft 16- bis 24stinimigen Mrchlichen Wevke. Das 
Nene aber hatte nach und nach inuner grOssere Yerbreitung gefunden 
und sich zu der Anerkennung seiner Berechtigung durcligekampft. So 
manehe der schuImSssig gebildeten Musiker, welch e anfangs dem welt- 
lichen Treiben feme gestanden hatten, konnten sich den Einfllissen des- 
selben nicht mehr entziehen; die hoher Begabten unter ihnen mussten 
die grosse Zukunft, welche in jenen lonnen der weltlichen Musik lag, 
ahnen. Dort ist demnach der eigentliche schopferische Mittelpunct zu 
suchen, wo Altes und Neues in schonster Hannonie sich zu vereinigen 
begann; von dem Zeitpunct an, wo die griuidlich gebildeten Musiker 
die neuen Ponnen aufnahinen, durch ihre lumst adelten und yervoll- 
kommneten, datirt der hohere Aufschwung. Jetzt wurden die neuen 
Kimstmittel imtl Pormen auch in die Earche aufgenomnien und erhielten 
hier ihre Weihe; yon dort aus vermochten sie ruckwirkend die Oper zu 
hoherer Yollkommenheit zu bringen, so wie sie selbstrerstandlich auch 
auf die ESrehenmusik ihren Einfiuss ausserten, diese mngestalteten, ins- 
besondere die Tonsetzer nothigten, von den alten Tonarten abzugehen 
und Inskumentalbegleitung aufzunelnnen. 

Manner, welche nie eine Oper geschrieben haben, waren daher im 
weiteren Verlauf kraftigere Forderer derselben, als diejenigen, welche sich 
anfangs ausschliesslich dem neuen Kunstzweige gewidmet hatten. Hier 
ist eg Yorzliglich ein Name, der unsere Aufmerksamkeit fesselt, der des 
Gfiacomo Carissimi, Kapellmeisters an der Kirche S. Apollinare zu 
Eom. Zuvor gedenke ich noch des ludorico Yiadana, der ebenfalls 
hier eine Erwahnung verdient. Er war uin die Mitte der 90er Jahre des 



82 

16. Jahrhitnderts cler Erfinder cler Kirchenconcerte , teiner (Jonipositions- 
gattung T in welclier er, gegenfiber dem bisherigen haufigen, zu aller- 
lei Unzutraglichkeiten fohrenden Qebrauohe, ein-, zwei- oder dreistim- 
mige Gesangstiicke Bait Orgelbegleitung dutch Auswahl der betreffen- 
den Anzahl von Stimmen ans fiinf-, sechs-, sieben- oder mehrstimraigen 
Tonsatzen herzustellen, auf die Erfindung selbststandiger , melodisch frei 
gefuhi'ter Cantilenen ausging. Zur Yervollstandigung der Harmonie 
diente eiu durchgehender Instrumental- oder Orgelbass, der -Basso conti- 
nue } auch Bassus c/eneralis, Generalbass genannt. (Erfinder der Be- 
ziffernng war Via dan a keineswegs; dieselbe war schon vor ilnn 
gebrauclilicli ; eigentMimlicli ist ilim nur die Art und Weise der An- 
wendiing des Instrumentalbasses.) Das Bemerkenswertheste in Via- 
d ana's Bestrebungen , weslialb er Mer genannt zu werden verdient, 
ist, dass in seinen Werken zura ersten Male eigentliche Melodie 
wahrzunehmen ist. Yiadana's Melodien sind for sich frei und selbst- 
standig erfunden, niclit Eesultafc cler harmonisclion Combination. So 
gewakren Trir bald Iiier bald dorfc vereinzelt die Materialien, welche 

die spateren Meister zu einem Ganzen zusammenzufassen liatten. 

Yon noch -weit grosserer Bedeutung far die lioliere kunstlerisdie 
Ausbildung der neuen Formen war der vorliin genannte Carissimi, 
der es sich zur Hauptaufgabe seines Lebens gemaclit hatte, die neue, 
Tom Contrapunctischen and Strengen abgeliende, nacli Wort- und Situa- 
tionsausdruck strebende Sclreibart hclieren kfinstlerischen Anforderungen 
entsprecliend zu gestalten. Man bezeichnet ihn als den Erfinder der 
Eamnier-Cantate, einer Compositionsgattung , in welclier dramatiscliCL. 
Eecitation und dramatisclie Melodie wie in der Oper einMimiscli sind, 
von deren Fornien sie sich nur wenig untersclaeidet. Ebenso wird er 
als der erste Verbesserer des Recitativs betrachtet, wie man ilnn auch 
die erste Ausbildung der clraniatiscken Melodie, welche nacli dem Muster 
seiner Cantaten auf die Oper iibertragen werden konnte, zuschreibt. 
Die Inskurnente benutzte er, einer der Ersten, in seinen Cantaten beson- 
ders zu EitorneUen und Zwiscliensatzen. Hatte bis^auf ihn das Madrigal 
in hauslichen Kreisen fast uniunschrankt geherrscht und die einzige 
Unterhalttoig der Dilettanten gebUdet, so verdriingte Carissimi jetet 
durch seine Cantaten diese Qattung. Da er der ausgesprochenste Lieb- 
ling seiner Zeit war, so tiberbot man sich bald in seinem Lobe uud 
gewohnte sich daran, den yon ihm geschaffenen Kunststil auch ffir die 
Kii*che YortreffHch zu finden. So ist dieser Ktinstler eine hochst beclou- 
tende Erscheinung in der Geschichte, Derjenige, in welchem sic\ mm 
ersten Male Altes und Neues yortrefflich vereinigt findet, und der daram 



auch gleieh sehr auf Theater und Kirclie elnwirkte. Ir war geboren 
urn das Jalir 1600, stand voin Jahre 1635 ab auf dern Hohepunct seiner 
Wirksanikeit und 1st um 1680 in hohena Alter gestorben. Eochlitzin 
deni frulier erwalinten Geschichtswerke theilt Proben axis seineni Oratoriuin 
Jephtha" mit, welche in der That als sehr vorzuglich bezeichnet werden 
roussen, so dass man noch gegenwartig auf dieselben mit Interesse ein- 
gehen kann. In dieselbe Zeit fallt auch der neuerdings durch die Oper 
gleichen Namens wiecler bekannt gewordene Neapolitaner Alessandro 
Stradella, einer der tuchtigsten Meister dieser Zeit, dessen romanhafte 
LebensscHcksale Stoff zu jener Oper gaben. 

Am frtihesten gedieh die Oper in Yenedig, wo schon vona Jahre 
1637 an unausgesetzt Aufftihrungen stattfanden. Kiesewetter zahlt 
in der Zeit von da bis zum Jahre 1700, also in dera Zeitraum von 
64 Jahren, nicht weniger als 357 Opern/ welche yon ungefahr 40 Ton- 
setzern daselbst zur Auffiilirung kainen. Auch Bologna stand nicht sehr 
ztiruck, wenn daselbst seit 1641 bis 1700 30 Tonsetzer genannt werden. 
In den 1640 er bis 60 er Jahren sind insbesondere die Opern des Car alii 
und Cesti zu nennen; Kiesewetter bemerkt daruber: das Eeeitativ 
fangt an, sich clem naturlichen Accent der Declamation zu nahern, und 
erlaubt sich sehon einige Modulation in der begleitenden Harmonie. Die 
Arie, wenn man ihr diese Benennung schon beilegen will, da sie haufig 
noch mit dera Eeeitativ znsainmenfliesst, enthalt wirklich schon eine an- 
genehnie, ausdrucksvolle Cantilene, und es kommen sogar, und nicht 
selten, auch Coloraturen, in der Art jener spater entstandenen Bravour- 
Arie, zum Vorschein. Die Begleitung besteht in einem blossen Basso 
continuo; was wir Eitornell nennen, findet sich (mit Violinen) am 
Schlusse der Arie, oder in Zwischensatzen. Chore konmien selten, und 
dann am Schlusse der Aete vor. Yon dieser Beschaffenheit war die 
Oper und auch das Oratoriuin. Auch die Cantate ging mit der Oper 
gleichen Schritt ; sie war in Privatcirkeln sehr^jMiiv' Lm i-fifig, allmiih- 
lich an, das Madrigal zu verdrangen. /In der Erchenmusik trat dem 
Palestrina-Stil die neue Schreibart als eine zweite, berechtigte ent- 
gegen. Mit dieser fing man zugleich an, auch den Bogeninstrumenten 
in der Kirche Eingang zu gestatten, wahrencl man frtiher, wie erwahnt, 
nur Zinken und Posaunen zur Yerstarkung des Chores zugelassen hat^ 
Wie gross aber auch das Yerzeichniss der Operncomponisten des 17. 
Jahrhunderts sich darstellt, so sind doch von den rneisten nicht mehr 
als Namen und Titel auf uns gekommen, und nur wenige Bibliotheken, 
wie die Wiener, sind so glticldich, Sammlungen zu besiteen, da es sich 
die Tonsetzer zur Ehre rechneten, den kunstsinnigen Kaisern ihre "Werte 



84 

in piiehtigen Exemplaren zu iiberseiiden. Die Seltenlieit der friiheren 
Opern erklart sich, wenn rnan bedenkt, dass Bait Ansnalmie der ersten 
Schopftingen dieser Gattung, welehe durcli den Eeiz der Neuheit an- 
zogen, nur wenige gedruckt warden. Aehnliehes Schicksal hatten in 
Italien auch die Oratorien, deren Erseheinimg fast nodi mehr local und 
vorflbergeliend blieb. Zu grosserer Eeife aber, ich wiederliole es, ist die 
neue Kunst nun sclion gediehen, raid Kiesewetter bemerkt, dass 
Schunheiten sich vorfinden, die nocli jetzt den Beifall, oft die Bewunderung 
des Kenners gewinnen wiinlen. Die erste Halfte des 17. Jalirliunderts 
enthalt die Entstehung tmd allmaliliclie Ausbildung des nenen Stils, 
unserer heutigen Musit. Erst in der zweiten Halfte dcsselben zeigeu 
sicli befriedigendere Eesultate, und erst zu Ende und iin folgenden Jalir- 
hundert erstieg die italienische Musik tier sclionen Periode ihre grosste 
Holie, und crreicMe eine Stufe der Ausbildung und Vollendung, die im 
16. Jahrhundert nocli nicbt gealint wurcle. 

Nach solchen Leistongen, naeh so viel gegebenen Mitteln konnte 
es nicM fehlen, dass ein neuer grosser Aufscliwung erfolgte, dass jetzt 
ein zweiter grosser, alle bislierigeh Bestrebungen einonder Mittelpunct, 
eine Schule sicli bildete, weldae die Epoclie des sclionen Stils reprii- 
sentirt. Alle Anzeichen verktincleten nun jene grosse Zeit Italiens, in 
welcher die reiclistbegabten Manner so zahlreicli, wie nie vordem und 
nachher, neben einander wirkten, jene Zeit, in welcher sich Italien einer 
iinbesehrankten musikalischen Herrschaft fiber ganz Europa erfreute. 
Neap el wird der Mittelpunct ffir diese neue Ktmstrichtung, die neapo- 
litanisclie die zweite grosse Schule Ttaliens. 

Uier ist es zunachst der grosse, vielseitig gebildote, in alien musi- 
kalischen Gattungen thatige und bahnbrechende Alessandro Scar- 
latti, der uns entgegentritt, ein Ktinstler, gleich ausgozeiclinot in seiner 
Thatigkeit far die Kirche, wie fur das Theater, der Grander der nea- 
politanischen Schule, jener musikalischen Bildungsanstalt, aus der die 
vorzuglichsten Meister der naclifolgenden Zeit liervorgegangen sincl. 
Scarlatti war geboren zu Neapel, nach anderen Angaben in Sicilien, 
im Jahre 1650. Der ausserordentliche Euf, clessen sicli der Eomer 
Car is si mi erfreute, hatte den Jiingling, der vor Verlangen gluhte, 
sich unter diesexn Meister auszubilden, nach Eora gefuhrt. Er gewann 
bald die Gunst Carissimi's, so dass dieser ihm die sorgfaltigste 
Leitung angedeihen liess, und Scarlatti hier den Grund zu seiner nach- 
roaligen so herrlichen Eunstbildimg legen konnte. Spater begab er sich 
auf Eeisen, besuchte alle grosseren Theater Italiens, waadte sich nach 
Deutsehland, Melt sich l&ngere Zeit in Mtinchen und Wien auf, wo seine 



85 

ersten Opern und Kirchensachen ungemeinen Beifall fanden, und liess 
sicli endlich, mit Erfahrungen und Kenntnissen ausgerfistet, wie selten 
ein Kiinstler, in Neapel nieder, wo er als Oberkapellnieister angestellt 
wurde, und sich der Bildung der talentreichsten Schiller bis an seinen 
Tod im Jahre 1725 widmete. Dass Scarlatti auf der von Carissimi 
gebrochenen Balm weitergehen musste, ist sclion aus seinem Yerhaltniss 
zu diesem Meister zu entnehnien. Scarlatti liat in der That zuerst 
vollendet nnd auf das Theater (ibertragen, was Carissimi begonnen 
hatte. Beide Meister bezeichnen die Morgenrotlie des glanzenden Tages, 
den die naclifolgenden lierrliclien Kiinstler herauffuhrten. Gleich selir 
befahigt fur die alte, strenge Schreibart, wie fur das dramatische Eecitativ, 
die Erfindung von Melodien und die Instriimentalmusik, wendete er doch 
liauptsachlici. dein modernen Stil seine Tliatigkeit, seine scliopferisclien 
Krafte zu, in der Ueberzeugung, class auf der Ausbildung der neuen 
Fonnen hauptsaehlicli alles fernere Gedeihen und Emporbltilien der 
musikalisclien Eunst benihen werde. In kirchliclien Werken allein 
inaclite er, nainentlicli in spaterer Zeit, eine Ansnabne. Hier gebrauclite 
er die Instrumente, in frfiherer Zeit nur ausserst massig, in spaterer 
Zeit gar nicht. Hier naliert er sich in seinem Stil der friiheren grossen 
Ku'chemmisik, Her erscheint er zuweilen fast den Niederlandern ver- 
wandt. Abgesehen aber von diesein bestimmten Zweck, liuldigte er 
vollstanclig dem ISFeuen. Beinahe in jecler der musikalisclien Gattungen 
Reformator, gelang es ikn zunachst, das Eecitativ immer mehr auszu- 
bilden und Wahrheit des Ausdrucks darin zu enreichen, gelang es ilnn 
insbesondere, das Kecitativ und das Arioso zu scheiden, die Arie zu einer 
selbststandigen Kunstfonn zu erheben, und derselben eine Gestalt zu 
verleihen, die^sicli fast ein ganzes Jahrhimdert hindurch, bisauf Gluck, 
erhalten hat. ; Die Form der Arie, wonacli dieselbe aus zwei Theilen uud 
einem Dacapo des ersten besteht, pragte er entschiedener aus. Er war es, 
der die Instramentalbegleitung zu grosserer Eigenthiimliclikeit und Selbst- 
stanctigkeit emporhob, den Gebrauch der Bogeninstruniente erweiterte, 
wie er denn iiberhaupt als der Erfinder des jjegleiteten, des obligaten 
Eecitativs angesehen wird. ^Er^gab der- Opern-Ouverture eine bestiinmte 
Form, wonach dieselbe im Gegensatz zu der damaligen franzosischen, 
dm*ch Lully festgestellten Ouverture, bei welcher zwei langsame Theile 
ein Allegro umschliessen, aus zwei durch ein Grave unterbrochenen 
j4/%fo-Satzen besteht. Scarlatti ist bahnbrechendes Genie. 'Die 
geschichtliche Stdllung, in welche er eintrat, hat ihm nicht gestattet, 
das Hochste des neuen Stils zu erreichen; erst seine grossen Schuler 
haben die KriLnze errungen, zu deren Gewinnung er die Bahn eroffnet 



86 

hatte. Er 1st in cler gesehichtlichen Kette als dasjenige Glied zu be- 
zeichnen, welches die alte Zeit mit der neuen verbindet. Dass ein soldier 
Umschwung, wie ihn Scarlatti fast in alien musikalischen Gebieten 
bewirkte, den erstannliclisten Fleiss voraussetzte, ist kaum nothig zu 
bemerken. Er hat liber 100 Opera, 200 Messen, fast ebensoviel Mo- 
tetten, nielirere Oratories, gegen 500 Cantaten geschrieben. Von den 
letzteren besass der englische Gesehichtschreiber Burney 35, welclie 
Scarlatti wahrend eines Besuchs bei einem seiner Freunde zu Tivoli 
in der Zeit vom October 1704 bis zum Marz 1705 componirt hat. 
Ueber jeder Cantate ist Tag und Dauer cler Arbeit bemerkt, und es gelit 
daraus hervor, dass er nicht langer als einen Tag an einem solclien 
"Werke gearbeitet hat, Audi als Lehrer war er becleutend; mehrere der 
mm folgenden Meister waren umnittelbar seine Schuler, auch der Dresdner 
Kapellmeister Hasse, welcher in ihm seinen vaterlichen Freund und 
"Wohlthater yerehrte. Kochlitz rlihmt Scarlatti's Selbstbeherr- 
sdiung und Massigung seinen Schulern gegentiber. Weun (lessen un- 
geachtet MissTerhaltnisse mit einem der bedeutendsten derselben entstanden, 
so lag der Grund weniger in dem Benehmen beider Manner, als vielniehr 
in den Zeitverhaltnissen, in der Stimmung des Pubficiuns, welches die 
entschiedenen Vertreter des Neuen einem Manne des Ueberganges gegen- 
fiber bevorzugen mnsste. Der Mann, welcher Scarlatti's spatere 
lebensjakre trflbte, war Francesco Durante, derjenige, dem Scarlatti 
eine allzugrosse Hinneigung zmn Neuen Schuld gab, indein derselbe die 
Mrchliche Strenge milderte (lurch schone Weltlichlreit, und so gleichzeitig 
mit ihm verwandten Meistern den Sieg des neuen Stils auch ftir die 
Kirche entschied. Durante, nm Vieles jtinger, war bald der vergotterte 
liebling der Italiener. Das Publicum begrusste in spateren Jahren 
Scarlatti mit kaltem Eespect, Jenen mit ungeniessenem Jubel. Scar- 
latti zog sich jetzt vom Hofe und vom Publicuin moglichst zunick, 
und soil sich, nacli der Ansicht yon Kochlitz, zuletzt einer grtiblerisch- 
injstischen Eeligiositat und trfiben Ascetik hingegeben haben, wahrend 
er frulier ein heiterer, l^bensfroher, weltgebildeter Mann war. Durante 
ist geboren zu Fratta maggiore im Konigreich Neapel, nach der Angabe 
Schmid's in der Schrift: W 0hr. "W. von Gluck, dessen Leben u. s. w.", 
im Jahre 1684, und 1755 im 71. Jahre seines ruhnivollen Lobens gestorben. 
Schon als Knabe trat er in (las Conservatorium S. Onofrio, die Bildungs- 
anstalt ein, Welch er er spater als Director vorstand, und die er zur 
bertihintesten und einflussreichsten der Welt machte. Der neue Musik- 
stil war tier schon der herrschende, so dass er unter den Einfliissen 
desselben heranwuchs. Spater studirte er in Eom tmd machto sich hier 



87 

mit der fruheren kirchlichen Eunst vertraut. Er blieb indess dem, 
wozu friihe Gewohnung ilm gefuhrt hatte, treu, und Hess sich es ange- 
legen sein, sobald er nach Veiiauf einiger Jalire zuriickgekehrt war und 
in ISTeapel eine feste Stellung erworben hatte, seine Bichtung durch 
zahlreiche eigene "Werke und sorgsam angeleitete Schiller zu verbreiten. 
Merkwtirdig indess ist, dass er bei aller Hingebung an das Neue doch 
nicht for die Oper gearbeitet hat. N"eben Durante wirkte der 
zweite grosse luinstler dieser Scliule, Leonardo leo, geboren im 
Jalire 1694, gestorben im Jahre 1742, naji einer anderen Angabe 1746. 
Er war Director der soeben erwahnten niusikalischen Bildungsanstalt 
und yerwaltete dieses Amt bis an seinen Tod. ttm folgte Durante, 
der bis dahin neben ihm thatig gewesen war. Bin Schiller Scarlatti's, 
wurde auch er, wie Durante, diesem im. Mrdiliclien Stile untreu, und 
widmete sicli vollstandig der neuen Schreibart. An Eeichthunx ange- 
neliiner, gesangreiclier Melodien ist er von Keinem zu seiner Zeit fiber- 
troffen worden. Pliessender far alle Stimmen und einer jeden ange- 
messener, benierkt Eochlitz, vermag man gar nicht zu schreiben. 
Wer dies lernen will, kann es von Keinem besser, als von ihm. N au- 
ra a nn nainentlicli liat ilin sicli zuni Muster genommen und seinen 
sclionen Gesang durch diesen Meister gebildet. Keicliardt sagt: 
Keiner hat so allgemein auf sein Jahrhundert gewirkt, als Leo. In 
seinen Werkeu findet man alle Foraen, welclie unsere Tonkunstler 
bis jetzt bearbeitet haben. ""Piccini aber, derbekannte Operncomponist 
und Gegner G luck's in Paris, schreibt: Leo lib ertraf alle Meister, und 
kann, weil er alle Arten von Musik in sicli vereinigt, mit Eeclit fur den 
grossten tmter ihnen gelialten werden. Durante hat, wie bemerkfc, nie 
fur das Theater gearbeitet; Leo dagegen ist selir tliatig fur dasselbe 
gewesen und schrieb auch schon koniische Opern, obschon dieselben 
mehr Parodien der ernsten Oper, auch im Stil der Musik, genannt werden 
miissen. Durch die genannten Manner, sowie durch einen anderen 
Schiller Scarlatti's, Gaetano Greco (geb. 1680), der denselben noch 
beizuzahlen ist, erreichte die italienische Musik der zweiten Epoche ihre 
grosste Hohe. In alien harmonischen und contrapunctigchen Keimtnissen, 
in der Achtung der alten Kunst erzogen, vennochten diese Tonsetzer 
nicht nui" uber die gesanimten Errungenschaften der damaligen Tonkunst 
zu gebieten, sondern sie brachten nun noch jene neuen Hulfsmittel in 
Anwendung, welche sich ihnen in dem Kunstgesang und der allmahlich 
entwickelten Instrumentalvrrtuositat darboten. Sie stelien darum in der 
Mitte zwischen der alten Strenge und der spateren Sentimentalitat, Zer- 
fahrenheit, Haltungslosigkeit, Leidenschaftlichkeit, clen Gipfelpunct be- 



88 

zeichnend. Die fhihere Herblieit ist zu sckoner Milde verklart, der spatere 
Leichtsinn nocli durcli Ernst und Gediegenheit ferngehalten, iind wir sehen 
hier das Ideal italienischer Tonkunsfc verwirHicht. Plastische Schonheit, 
Ebemnaass, arcliltektonisclier Verstand in der Gruppirung, uberall ein 
feiner Sinn fur das reclite Maass, Grazie, der schonste, fliessendste, sicli 
einsckmeichelnde Gesang. Die wesentliche Verbesserung , welche aus 
der neapolitanischen Schule hervorging, sagt Kiesewetter, bestand in 
der Regelung des rhetorisclien Theiles der Melodie und der besseren 
Gestaltung der Arie. Die Biythinopoie insbesondere war bisher noch 
wenig geordnet, die musikalische Phrase, als Glied einer musikaKsclien 
Periode gedaclit, war gewohnlich zu kurz, claher die Cadenzen zu haufig 
und ausser dem Ebeninaasse; die Arie selbst war zu kurz, dalier zu 
scbnell rortibergeliencL Die neueren Neapolitaner, indem sie die Phrase 
sowolil als die Arie selbst verlangerten, sclieinen zugleich den Plan zu 
deren Eeforni von der Baukunst entnonunen zu haben, in welcher niclit 
bios Schonheit der Umrisse und der Formen jedes einzelnen Theiles, 
sondern auch Symnaetrie in der Stellung der auf einander beziiglichen 
einzelnen Theile nothwendig gefordert wircL Die schon vorhin erw;^ite 
Gestalt der Arie erlangte jetzt ihre eigentliche Ausbildung^^icbt %s_c!ie- 
welche nur noch ein kunsthistorisehes Interesse beafispruchen konnen, 
dili'fen Sie daher yon diesen Meistern erwarten, sie haben, wie Pale- 
strina in der ersten Epoche, so nun in der zweiten das Hochste und 
Herrlichste geleistet, was die gesamnite Tonkungt auf deni Gebiet der 
katholischen Eirchenmusik zu nennen weiss. Leicler sind tins nur wenige 
Werke zuganglich. Auf eine wenig kostspielige Ausgabe in sechs Heften 
(Halle, Kumrnel), welche Conipositionen von Leo, Durante, deni nach- 
her zu erwahnenden Astorga, im Clavierauszug enthalt, mache ich 
aufmerksam. Unter diesen Werken ist insbesondere die Litanei von 
Durante ausgezeichnet durch die eben genannten Eigenschaften. Von 
Leo besitzen wir ein grosses aclitstimmiges Miserere im alteren Stil; 
es gehort zu clem Vortrefflichsten , was die italienische Kirchenmusik 
besitzt. Heinse in seiner ,,Hildegard von Hohenthal" hat davon eine 
ausfiilirliche Beschreibung gegeben. 

Anders gestaltet sich freilich das TJrfcheil, wenn wir die Opern jener 
Manner, so z. B. Leo's,* betrachten. Bedarf es zwar nicht erst der 
Versicherung, dass hier die fruhere Kargheit, Steifheit vollstandig tiber- 
wunden ist, so bestatigt es sich doch zugleich, dass noch. damals immer 
nur die Elrchenmusik das Bleibende ; unwandelbar Feststeliende, Unsterb- 
liche entlialt. Dieselben Manner, welche gross auf kirchlichein Gebiet 
gewesen sind, erscheinen weniger bedeutend, erscheinen veraltet in welt- 



89 

lichen Schopfungen. Man traut semen Augen kaiim, wenn man cliese 
langen, diirftig begleiteten Eecitative und Sopranarien betrachtet, welclie 
selten von einem kleinen Chore unterbroclien werden. Grossere, ausge- 
breitetere Musikstucke, insbesondere Finales, fehlen noeh ganz. Von 
Anfang~bis zu Ende zeigt sich nur eine langweilige Folge von Alien 
und Eecitativen. Dass sicli im Einzelnen grosse Schonheiten finden, ist 
clamit niclit in Abrede gestellt. Im Ganzen aber ist die weltliche Musik, 
ist die Oper als Kunstschopfung noch ausserordentlicli weit von clem 
Ziele, welches sie spater, welches sie namentlieh in Deutschland er- 
reichte, entfernt. Schwach erscheint insbesondere die Instramentalnmsik, 
welche wir in der That hier noch auf der untersten Stufe der Entwick- 
lung erblicken, obschon im Orchester den Bogeninstriunenten, welche 
bis dahin fast allein geherrscht hatten, Hoboen nnd Horner, aueh wol 
Floten, Fagotte und Trompeten bleibend beigesellt sind. Ich kann 
nicht umhin, in diesem Zusammenhange noch eines Kunstlers zu ge- 
denken, dessen Andenken erst Fi\ Eochlitz wieder erneut hat: es ist 
dies Emanuele d'Astorga* Eochlitz hat mit besonderer Liebe ge- 
rade dieses vergessenen Ktinstlers sich angenommen und die interessante 
Biographie desselben ausfiihrlicher mitgetheilt, Uebersck*eite ich nun 
auch in der Wiederholung des Wichtigsten daraus das mir gesteckte 
Haass der Ausfiihrlichkeit, so glaube ich cloch darnit Hre Aufmerksam- 
keit zu fesseln, insbesondere da der Genannte als der Ersten Einer be- 
zeichnet werden muss. Em. d'Astorga war der Sohn eines der an- 
gesehensten sicilianischen Eeichsbarone , der abwechselnd in Palermo 
und auf seinen Besitzungen gelebt zu haben scheint. Hier wurde E m a- 
nuel im Jahre 1681 geboren. Der Tater, ein kiihner, rauher Eriegs- 
mann, stand auf bedeutendein Posten in Kriegsdiensten. In dem nach 
clem Aussterben des spanischen Konigshauses, dem Neapel und Sicilien 
als eine Nebenprovinz unterworfen war, ansgebrochenen spanischen Erb- 
folgekriege, und den mannigfachen Parteiungen des sicilianischen Adels 
in Folge dieses Krieges, trat er auf als Kampfer gegen die Monarchic, 
als Hauptling eines jener wiisten, in der alteren italienischen Geschichte 
oft vorkommenden Soldatenhaufen, welche den Erieg als ein Handwerk 
trieben und dem Meistbietenden folgten, Der Sohn Emanuel scheint 
der Erziehung cler Mutter tibeiiassen gewesen zu sein, und dies kann 
vorzuglich als Ursache betrachtet werden, dass sich in ihm, bei feurigem 
Geiste, ein ungemein zarter und frommer Sinn frith ausbildete. Der 
Vater Emanuel's war in die Verschworung des sicilianischen Adels 
verwickelt. Verwegen und trotzig alle Versohnungsmittel verschmahend, 
woUte er kampfend fallen. Aber er ward von seinen eigenen Soldaten 



90 

deren Forderungen er nicht mehr befriedigen konnte, verrathen, ausge- 
liefert, und, urn die Anderen durch Schreek niederzuhalten, zu Anfang 
des 18. Jahrhunderts in Neapel offentlich hingerichtet. Mutter und 
Sohn wurden verurtheilt, dabei gegenwartig zu sein. Die Mutter starb 
unter Zuckungen des Entsetzens, der Sohn verfiel in einen Zustand 
dumpfer Bewusstlosigkeit ; die Grfitei der Familie warden confiscirt, alle 
Glieder derselben verbannt. Nur Emanuel war nicht von deni Orte 
zu entfernen, wo er Vater und Mutter nnter so grasslichen VerMltnissen 
hatfce verscheiden sehen. Das Yolk erbannte sieh seiner, beschfitzte und 
versorgte ihn. Endlich wurde er auf Veranlassung einer Prinzessin 
Drsini, der Oberhofmeisterin der Eonigin der Gemahlin Philipp's V. 
entfernt und in ein spanisches Kloster zu Astorga, einer Mittelstadt 
des EMgreichs Leon, gebracht. Ton dieser Stadt hat Emanuel, statt 
des geachteten. den Narrten Astorga angenommen. Dort, in Idoster- 
licher Einsamkeit, war er so glitcklich, von seiner Geisteszerruttung, von 
dem dumpfen Braten, in das er versunken war, geheilt zu werden 
und einen Lehrer der Tonkunst zu finden, der die jedenfalls schon friili 
bedeutend ausgebildeten musikalischen Fahigfceiten des ScMlers weiter 
entwickelte und zur Meisterschaffc steigerte. So beruliigt, wieder ge- 
nesen, gelioben als Mensch und Ktinstler, trat Astorga nach einigen 
Jahren wieder in die Welt. Er begegnet uns zunaclist am Hofe des 
Herzogs Franz von Parma, wo er, jedoch nicht in fester Stellung, 
die Kaimnemiusik geleitefc zu haben sclieint, und sich hochst tliatig im 
Componiren zeigte. Eine Menge kleiner Cantaten und Duette fur Sopran 
und Tenor (der Katalog des bertihmten Sammlers Santini in Eom zeigt 
nicht weniger als 44 Cantaten fur eine Stimme und 44 Duette) 
danken diesem Aufenthalte ihre Bntstehung. Sie waren fur seine Scliu- 
lerin, die Herzogin, und ihn selbst gesehrieben. Der Herzog durchschaute 
bald das zarte Verhaltniss, das gemeinschaftliche Kunstiibung zwischen 
Beiden hervorgerufen hatte, entfernte ihn vom Hofe und sendete ihn, 
jedoch liebreich und forsorgend, mit Empfehlungen, der Eochlitz'schen 
Angabe nach, an den Kaiser Leopold L nach Wien. Es ist indess 
wahrscheinlicher, dass dieser Kaiser zu jener Zeit schon gestorben war 
und Astorga von Joseph I. (im Jahre 1705) empfangen wurde. Nur 
kiu^ze Zeit dauerte dieser Aufenthalt. Astorga verliess Wien, wenn 
auch nicht fur inrnier, da er es im Jahre 1720 wieder besuchte und zu 
Kaiser Carl VI. in Beziehungen stand. Im Laufe der naehsten Jahre 
erblicken wir ihn in den meisten Hauptstadten Europas und an mehreren 
Hofen, in Lissabon, Madrid, Paris, London, iiberall willkommen und aus 
gezeichnet, Auch Italien besuchte er wieder, ntir Neapel verrnied er 



lebenslang, Eine Pension, welclie man ihm auszahlen liess, setzte ihn 
in den Stand, cliese Eeisen zu unternehmen. Endlich ersclieint er in 
Prag, und jetzt verschwindet er fur iminer aus unseren Blieken. Wahr- 
sclieinlicli, bemerkt Eoclilitz, dass* er in Bohinen das fand, dessen er 
bedurfte: friedliche, in seiner Weise religiose, in seiner Kunst ausge- 
zeichnete Menschen, und class er darum hier in klosterlicher Zuruck- 
gezogenheit seine Tage beschloss. Er war gewohnt, in seinem Beneh- 
nien eine gewisse "Wltrde und ;Ziirfiekhaltung zu behattpten; man will 
nie ein unedles, unfeines Wort von ihm vernommen haben. Wie er 
seine Oornpositionen nur handschriftlich mittheilte, so sang er sie auch, 
sicli selbst auf clem Clavier begleitencl, nur ansgewahlten Cirkeln vor. 
Eoclilitz erinnert rnitEecht an Goethe's 5 ,Tasso". Astorga'sLebens- 
verhaltnisse haben Aehnlichkeit mit denen Tasso's, wie sie namlicli cler 
Dichter darstellt. Auch seine Compositionen tragen dieses Geprage, und 
sind vielleieht mit Goethe's Tasso zu vergleichen, was das Feine, Ge- 
messene, die aristobatische Farbung cles Ganzen bei grSsster Tiefe und 
Warme der Empfindung betrifft. Sein uns l)ekanntes Hauptwerk ist ein 
Stalat mater", welches ebenfalls, wie schon erwahnt, in cler vorliin ge- 
nannten, in Halle herausgegebenen Saninilung erschienen ist; Bnich- 
stucke claraus theilt auch Fr. Eochlitz mit; von tiefsteni Ansdruck 
clurchdrungen erscheint darin namentlich ein Terzett: ,,0 quam tristis" 
etc. Eine Oper 55 Dafne" hat Astorga 1709 fur Barcelona geschrieben. 
Es soil dieselbe noch im Jahre 1726 zu Breslau wiecler aufgefuhrt wor- 
clen sein. 

Frtiher hatte die moglichste Pracht der Decorationen und der Auf- 
ziige in der Oper den hauptsachlichsten Eeiz gebildet. Die Maschinisten 
waren die Ersten im Eeiche der Oper, die Tanzer folgten, die Poesie 
nrasste sich vorziiglich an die Mythe halten, well diese dem Mensch- 
lichen und cler naturgetreuen Schilderung desselben am weitesten entfernt 
stand und die grosste Buntheit erlaubte. Augenlust herrschte tiberwie- 
gend, die Musik war unbedeutencL Die hoheren Leistungen, welche 
spater hervorgetreten waren, inussten die Oper dem Ziele einer wahr- 
haften Kunstschopfung einigermaassen naher bringen. Hierzu kam, 
class cler ausserordentliche Aufwand, den die fruhere scenische Pracht 
verursacht hatte, wohl von Hofen und Eepubliken, nicht aber von 
Privatunternehmern, welche bald ziemlich zahlreich hervortraten , zu 
bestreiten war. Diesen musste vor alien Dingen daran liegen, die Oper 
von dem ungeheueren Pomp zu befreien, und sie naturgemasser zu ?er- 
edeln. Die Yerbessenmg der Operntexte wurcle Gegenstand vielfacher 
Ueberlegung. Man fand den Olymp, den Tartarus und die ubrigen 



92 

Zaubereien aus der alien Mythologie endlich kunstwidrig und ver- 
bannte sie. Die .Oper wurde in eine rein menscliliclie Spliare versetzt, 
and aucli das k*omische Element, das ja vorzugsweise auf dieses Gebiet 
angewiesen ist, fand melir Eingang. Alle diese Umstande znsammen 
hatten dem inusikalischen Drama eine wurdigo Gestalt verleilien konnen. 
Die Eerrschaft aber, welehe die allerdings vortrefflichen Sanger sehr 
bald zu erlangen wussten, war Ursache, dass die italienische Oper fur 
immer Ton diesem Ziele abgelenkt wurde iind sicli nie zu einem so ge- 
schlossenen, in alien Theilen gleichmassig durchgearbeiteten Ganzen hat 
erlieben konnen, wie in DentsclilancL Hieraus erldart sicli die Kichtimg, 
welche dieselbe genorarnen hat, das unverhaltnissmassige Uebergewicht 
der Arien, das Veraltete, Dngentigende und Unbefiriedigende dersolben; 
hlerans erMart sicli 7 dass immer nnr Hauptscenen rait vorzftglichem 
Pleiss behandelt, Chore und grSssere melirstimmige Musikstucke auf der 
Stufe der loclisten Bliitlie der italienisclien Oper ziemlicli selten sind. 
Was der Menge in Bezug auf scenisclie Pracht entzogen wurde, das 
ersetzte bald der Brayourgesang der Castraten. Italian gewolmte sicli, 
an ihnen yorzngsweise Interesse zu finden, tiefere psycliologische Ent- 
wicklung der Cliaraktere aber und dramatisehe Wahrlieit niclit zu ver- 
langen. Von elnem tieferen Kunstbewusstsein geleitet als Deutschland, 
wenn es foiderte, dass in der Oper Alles gesungen werden soEe, hat es 
die Seite, worin dieses das Hqcliste erreicMe, ganzlich vernachlassigt. 

Selien wir nun auch eine Fulle der herrlichsten Talente aus der 
neapolitanischen Schnle liervorgelien, in einor Anzahl, wie kaum jemals 
wieder neben einander wirken, so nalit clock bald sclion die Zeit, wo 
der gediegene, emste Hintergrund der Vorzeit den Tonsetzern zu ont- 
schwinden begann und moderne Sentimentalitat und Weichheit die Stelle 
desselben einnahin, wo einschmeiclielnde Lieblichkeit der heirschende 
Charakter wurde. Je mehr die Oper In der naclisten Zeit fortwahrencl 
grossere Geltimg, allgeineinere Verbreitung und holiere Ausbildung er- 
langte, um so mehr trat die Kirchenmusik zuriick. Bald seh en wir die 
letztere fur immer Yerschwinden, wahrend die siegreicho Oper allcs mu- 
sikalische Interesse fflr sieli allein in Anspruch nimmt Die bekanntesten 
Namen aus dieser, urigefalir die erste Halfte des vorigcn Jahrlmnderts 
umfassenden Epoche sincl : Porpora, Vinci, Porgolose, Duni, Tera- 
deglias, Feo; aus etwas spfiterer Zeit: Traetta, Jonaelli; aus der 
zweiten Halfte des yorigen Jahrhunderts : Sacehini, Piccini; ondlioh 
Cimarosa, Paesiello u. A. Der Schnle beizuzSJblen ist auch der 
Deutsche Hasse, welcher 1724 Scarlatti's vaterliche Leitung genoss. 
Alle diese Talente wendeten sich mehr oder weniger der Oper zu. Bald 



93 

karn es dahin, dass em Jeder Opein geschrieben und durcli sie lantei 
Beifall errungen haben musste, bevor er hoffen clurfte, man werde aucl 
dem, was er fur die Kirche oder Eammer lieferte, einige Beachtung 
schenien. Die ganze Nation, bemerkt Rochlitz, zeigt im weiterei 
Verlauf niclit mehr das , was sie fruher gewesen war. Scheu vor Ernsl 
und Beharrlichkeit, Hangen am Augenblick imd was ihm dient, Befrie- 
digung verfeinerter Sinne wird immer mehr dor herrscliende Charaktei 
Italiens. Tor alien Dingen augenblicklich ansprechende, hochst gefalligc 
Melodien, welche sogleich nachgesungen werden konnten, verlangte mail 
von den Componisten. Die Tone der ganger einzusangen, sicli eineni 
siissen Schwelgen und Selbstvergessen zu uberlassen, beginnt bald clei 
eigentliche musikalische Genuss zu werden und den friiheren Ernst zu 
verdrangen, so wie man sicli dichterische Werke vorlesen liess, nament- 
Kch die des Tasso, oline den Malt zu beachten, einzig sicli ergotzend 
an der Bilderpraclit und dem WoMlaut der Verse. Bei immer gestei- 
gerter Theilnalime an der Tonkunst war die Herrschaft des Dilettantis- 
nius eine unausbleibliclie Tolge. So sclion nun aber aueli der Entliusias- 
mus einer ganzen Nation fur einen wflrdigen Gegenstand ist, so liegt 
clocli darin zugleicli die nielit abzuwendeude Gefakr, dass die Menge ton- 
angebend wird und die Eiiustler, statt deni Kunstideale zu folgen, den 
Forderungen des Tages sicli beqtieinen. 

Es liegt ausser den Grenzen dieser Darstellung, die bezeichneten 
Zustande im Einzelnen weiter zu scMldern; ebenso wtirde es zu weit 
fiiliren, die grosse Zahl der jetzt auftretenden Kunstler in ibrem Wirken 
Ihnen specieller zu charakterisiren. Nur zwei Biographien erlaube 
icli mir zum ScHuss der lieutigen Vorlesung Ihnen nocli mitzutlieilen. 
Sie betreffen zwei der bekanntesten Namen, und sind bezeicluiend fur 
die Wendung, welclie jetzt in Italien eingetreten war. Sowolil Pergo- 
lese als aucli Jomelli dies sind die Mnstler, welche ich Ihnen 
vorfiihren will spiegeln in ihren LebensscMcksalen die Dmgestaltung 
der Verhaltnisse wieder. Mcolo Jomellij geb. 1714, machte den An- 
fang seiner hoheren Ausbildung in Neapel unter Durante, Feo und 
anderen dortigen Meistern. Zwei Opern von ihm, die er walirend der 
Zeit dieses Aufenthaltes schrieb, fanden grossen Beifall, und veranlassten 
seine Berufung nach Eom im Jahre 1740. Hier imponirte er deni Pu- 
blicum und feierte die gi-ossten Trinmphe. Er schrieb im Geschmack 
der Menge, iiberraschte aber durch einzelne originelle Ziige. Die Eomer 
waren so enthusiasmirt fur ihn, dass sie den Maestro einstmals auf 
seinein Sitze im Orchester auf die Buhne trugen, unter einem Jubel, 
welclier nicht enden wollte. Noch in demselben Jahre erHelt er einen 



94 

Euf nach Bologna, sehrieb dorfc eine Oper und benutzte bei dieser Ge- 
legenheit die Unterweisung des gelehrten Paters Martini. Nach Koin 
zuriickgekehrt, setzte er eine grosse AnzaH von Opera. Man fand seine 
Melodien so geistreich, edel und einsehmeichelnd, class man ihn niclit 
bios ; ,den Keizenden" nannte, sondern ihn tiberhaupt zum grossten mu- 
sikalischen Genie seiner Zeit erhob. Seine Instnnnentalbegleitung war 
fur jene Zeit reieh zu nennen. Besonders wirkte er durch das Piano 
und Forte des Orehesters, sowie durcli ein sorgfaltiges Crescendo und 
Diminuendo. Diese Vervollkommnung fiel so sehr auf, dass man Dun 
die Erfindung derselben zuschrieb. Yergotterte man ihn nun auch un- 
gemein, so bildete sich doch eine Gegenpartei, welche sich urn den 
22jaJirigen Portugiesen Teradeglias schaarte. Dieser, ernster und griind- 
licher. wusste bald die Eenner und besseren Dilettanten auf seine Seite 
zu bringeii. Teradeglias war ausgezeiclmet durch Tiefe harmonischer 
Kenntniss, sowie durch den Ernst und die Wahrheit seines Strebens, 
das er den Launen der S'anger nicht unterorclnete. Insbesondere wurde 
er im Kecitatiy und der Begleitung desselben bewundert. Diese beiden 
Gegner standen sich 1747 in der Carnevalszeit niit neuen Werken offent- 
licli gegenubei*. \JDeradeglias trug den Sieg davon und Joinelli's Oper 
wurde auggepfiffen^ Man pragte, wie erzahlt wird, eine Denkmtinze fur 
den Ersteren, auf welcher Jomelli den Sieger im Triumphwagen zieht. 
Bald darauf fand man Teradeglias' Korper erdolcht in der Tiber. 
Es ist indess mindestens zweifelhaft, ob Jo nielli die Mitschuld an dieser 
ruchlosen That trifft; clenn derselbe lebte noch sieben Jahre in ange- 
sehener Stellung als Yicekapelhneister an der St. Peterskirche in Bom. 
Im Jahre 1754 erhielt er vom Herzog Carl von Wurttemberg einen 
Euf nach Stuttgart, wo er als Ob'erkapellmeister angestellt wurclc, uncl 
eiuen jak'lichen Gehalt von 10,000 Gulden bezog. Der Preund uud 
Yertraute des Herzogs, war sein Einfluss hier ein sehr ausgedehnter. 
Die Aufflihrungen in Stuttgart werclen zu den glanzendsten der daniali- 
gen Zeit gezahlt Er vermochte dies, durch die Gunst des Herzogs 
geschlltzt, indem er vollkommene Gewalt liber seine Untergebenen besass ; 
als Director roll Geist und Leben soil er aber auch in jener Zeit kaum 
seines Gleichen gehabt haben. Man bewunderte die grosste Ptoctlich- 
keit-und Genauigkeit in den Schattirungen, so dass der Herzog dcm 
Kaiser, dem er auf Verlangen eine Partitur Jomelli's zum Geschenk 
gemacht hatte, auf die Anfrage: ob ihm der Herzog wirldich dieselbo 
Oper geschickt, die doch in Stuttgart anders geklungen habo, als in 
Wien? antworten konnte: der Herzog habe dem Kaiser zwar die Par- 
titur, nicht aber zugleich sein Orchester gegeben. Jomelli blieb bis 



95 

ziun Jahre 1765, so lange, als das Heine Land im Stande war, die 
grossen Summen fiir Sfinger, Instrunientisten und llnzer aufzubringen. 
Er ging sodann zuruek nach Neapel und brachte dort mehrere Opern 
auf die Buhne, die er auf dem Landsitz, welchen er sicli gekauft hatte, 
geschrieben oder umgearbeitet hatte. WShread seines langjshrigen Auf- 
enthaltes in Deutschland, die Einflusse desselben nicht von der Hand 
weisend, war aber sein Stil ein anderer geworden. Er hatte insbeson- 
diere eine grtindliehere Harmonie sich angeeignet. Diese sagte den Ita- 
lienern niclit zu, und so musste er es erleben, dass sein drittes Werk 
far Neapel bald yon der Bfihne yerschwand, und auch spater mir yon 
Zennern am Clavier theilweise zu Gehor gebraelit wurde. Einen sol- 
chen Gluckswechsel yermochte der ehrgeizige Mann niclit zu ertragen. 
Von einein Sclilagfluss, der ilin betroffen, erholte er sieh allniahlicli, 
und schrieb 1773 nocli eine Cantate zu einer festlichen Gelegenlieit 
Sein Scliwanengesang war ein Miserere fur 2 Soprane und SkeicMn- 
steumente. Er starb im Jalire 1774. Nan yeranstaltete man ihm eine 
glanzende Todtenfeier. Jomelli hatte aucli inehrere Mrcliliche Werke 
gesclirieben, Mozart aber uiilieilt: ,,Der Mann hat sein Fach, worin 
er glanzt, so dass wir es wohl bleiben lassen mussen, ilin bei dem , der 
es versteht, claraus zu yerdrangen. Nnr hatte er sich nicht aus diesem 
herausmachen, und z. B. Ejrchensaohen im alten Stil schreiben sollen". 
Er war jedenfalls ein grosses, reichbegabtes Talent, ausgezeichaet ins- 
besonclere durch schwungyolle Melodie. Im Ganzen aber zeigen seine 
Opern nur die damals ubliche Gestalt. Auch hier sind die Alien Hanpt- 
bestandtheile. In der musikalischen PriyatbibHothek des Eonigs yon 
Saclisen finden sich einige seiner bedeutendsten Werke. GriOTannl 
Battista Pergolese, der letzte Ktinstler, dessen ich heute gedenke, war 
geboren zu Jesi im Jahre 1710. Er inachte seine ersten Studien in 
Neapel, zuerst imter Greco, dann unter Durante, spater unter Feo. 
Als Tonsetzer trat er zuerst, im Jahre 1731, mit einein geistlichen 
Drama auf, bald darauf indess liess er inehrere Opern und Kirclien- 
stucte folgen. Wenig gliicklieh in der ernsten Oper, gewann er desto 
grosseren Beifall mit deni Intermezzo 3 ,La serva fadrona". Im Jahre 
1735 erhielt er einen Euf nach Kom. Neben ihm hatte unterdess sein 
Schulfreund Duni, geb. 1709, ein schnelles Gluck gemacht Beide wur- 
den beauftragt, ftir denselben Carneval zwei grosse Opern zu schreiben. 
Pergolese's Oper fiel entschieden durch, wahrend die yon Duni stflr- 
mischen Beifall errang. Der Letztere, ehrlich und wahrhaft, erklarte 
offentlich: er verdiene niclit diesen Beifall, er miisse sich desselben 
schamen, des Freundes Oper sei bei weitem vorzuglicher. Man laehte 



96 

iiber diese offene Erklarung, die nur das dem beabsichtigten entgegen- 
gesetzte Eesultat zur Folge hatte: dass Pergoleso's Werk gar nieht 
nielir geduldet wurde. Pergolese kehrte nach N"eapel zuruck und schrieb 
noeh die Cantate n Orfeo", ein ^Salve regina" imd sein beruhintes n Stalat 
mater", aber er vermochte das erlittene MissgescMck niclit zu verwinden. 
Seine olmedies angegriffene Gesundheit schwand, seine Krafte nahmen 
taglich melir ab. Auf BefeU der Aerzte begab er sicli nach Pozzuoli 
bei Neapel. Trotz der rasclien Fortschritfce seiner Ivranklieit setzte er 
die Arbeit an seinem n Stabat mater" fort; wenige Tage nacli Vollendung 
desselben starb er im Jalire 1736. Von dem Augeublicke seines Todes 
begann sein bis daliiri nnr auf kleine Kreise eingeschrankter Kulim sicli 
weiter imd welter zu verbreiten; alle Theater und Kirchen ertonten von 
seinen Werken. In Eoni gab man jene Oper, welche frulier Fiasco 
geniaclit hatte, niit der grossten Praeht. Ancli neuerdings ist seine 
^Serva padrona" in Paris wieder ziu^ Anffnlirnng gekoinmen. Per- 
golese's Stabat mater" geliort zu den bekanntesten "Werken der ita- 
lienisclien lurclieiunusik "aus der Epoche des sclionen Stils. Eine tiber- 
aus lierrliclie, Mnreissende Weicliheit und Zartheit ist dartiber ausge- 
gossen; ebenso selir aber mangelt Tiefe und Energie. Das Werk ist nur 
fur Frauenstimmen mit Quartettbegleitung gesclirieben, in seinem Cha- 
rakter bezeiclinend fur die Wendung der Kunst in Italien. Das Gefallige 
und Anmutliige siegt fiber das Grossartige, Ernste und Feierliche. Dnter 
diesem GesicMspunct verdient Pergolese's ^Stabat mater" kaurn die 
Auszeiclinung, welclie ilm zu Theil geworden. 

So yiel, iini Ihnen einige Andeutungen von dem weifceren Fortgang 
innerhalb dieser Scliule zu geben. Leider hat bis jetzt dieser Abschnitt 
der Gesehiclite der Musifc noch keinen Monograph en gef unden, wahrend 
andere Epochen und die hervorragenden Ersclieinungen in ihr inletzter 
Zeit, wie Ihnen aus der bisherigen Darstellung bereits bekannt, neuer- 
dings eine grundliclie und eingehende Darstellung erfahren haben. 



Sechste Vorles'ung. 



Die Gresangskunst in Italien : Perri. Farinelli. Porpora. Pistocchi. Bernacchi Erste 

Ausbildung der Kunst des Yiolinspiels : Corelli. Tartini. Locatelll. Pianoforte 

und Orgel : Dom. Scarlatti. Frescobaldi. Die venetianische Schule : A. u. Gr. Grabrieli. 

Lotti. Marcello. Caldara. Die bolognesische Schule: Colonna. Clari. 

NacMem wir in der letzten Vorlesung das Wichtigste, die Fort- 
schritte und Erweiterungen in der Composition, die durch Erfindung der 
Oper hervorgerufene grosse Urngestaltung des gesainmten Gebietes der 
Tonkunst kennen gelernt haben, bleibt uns jetzt noch tibrig, auch das 
ins Auge zu fassen, was sich an jene bedeutungsvolle Thatsache an- 
scliliesst, was unmittelbar als eine Folge derselben auftrat: die weitere 
Ausbildung der Technik sowol ini Gesang, wie im InstrunientenspieL 

Die Einfuhrung des Sologesangs maehte naturlicli das Bedurfniss 
sclioner Stinanaen und eines gebildeten Vortrags fuhlbar; in der Oper 
war der Erfolg ebenso sehr Yon den Sangern, wie von den Componis- 
ten aHiangig. FrtUier, vor dem Jalire 1600, konnte der "Werth des 
Sangers allein in seinen theoretiselien Kenntnissen und in seiner Fertig- 
keit, yom Blatte zu singen, bestehen; war er zugleicli ini Besitz einer 
sclionen Stimme, so ward dadurcli sein Wertli niclit in solclier Weise 
erholit, wie dies jetzt der Fall sein imisste. Icli habe erwalint, wie wir 
schon in der zweiten Halfte des 16. Jahrhunderts, seit man auf den 
Einfall gekommen war, die Oberstimme eines Madrigals von einer Stimme 
allein singen zu lassen, den Anfangen eines eigentliclien Kunstgesanges 
begegnen; icli babe der Verdienste Caccini's gedaclii Als die Oper ins 
Leben getreten war, gait es, auf der von ihm gebrochenen Balm vor- 
warts m sclireiten, und so entstanden nacli und nacli jene beriilunten 
Singseliulen, welche so viel zur Bluthe und iminer weiter verbreiteten 
HeiTSchaft der Tonkunst in Italien beigetragen haben. 

7 



Icli gebe Dmen in dein Nachfolgenden einige Andeutungen fiber die 
wichtigsten Thatsaclien auf diesem Gebiet, zu dem Zwecke Einiges aus 
der Schrift von H. F. Mannstein: Geschichte, Geist und Ausiibung 
des Gesanges n. s. w. entlehnend. Dieses Werk ist in seiner Zusam- 
xnenstellung des Thatsachlichen zu benutzen, wenn man auch die Grund- 
anschauung des Verfassers, some die Folgerungen, die er darans her- 
leitet, als durchaus nict stichhaltig von der Hand weisen muss. 
Mannstein, voizugsweise der Gesangskunst huldigend, erblickt dies 
beilaufig erwahut in dieser nicht nm* das Hochste der gesammten 
Musik, sondern ordnet aueh, wie eg die Italiener thun, den Tonsetzer 
dem Sanger unter. Er verkennt auf diese Weise die Stellung der Vir- 
tuositat zur scliaffenden Kunst im Allgemeinen, sowie im Besonderen 
die Bedeutung und den Wertli des Gcsanges. In der angefulirten Schrift 
heisst es: ,,Der Gesang konnte seine WesenLeit nur durcli das Zusain- 
inenivirken vieler tochbegabter Menschen erlangen, indem diese nacli 
und nach auf pliilosophischem und poetischem "Wege folgende Principe 
des reinen Geschmackes aus clem Innersten der Kunstnatur abzogen. 
Der Gesang so pMlosopliirte man darf die Poesie niclit verstfim- 
meln, well er sonst auf den erhabenen Vorzug VerzicM leistet, die 
vollkominenste Spraclie mit dem^ Tollkommensten Ton und der aus- 
drueksvollsten Declamation, folglicli die Eigenschaften des Dichtors, Ton- 
ktinstlers und Eedners in hocbster Potenz in sicb. zu vereinigen. Der natiir- 
liche Accent und Ausdruck der Leidenscliaften, nachdem man den 
sell on en Ton gefunden hatte, inusste also Hauptstudimn der San- 
ger sein, welches wieder in ein pliilosophisches und musikalisches zer- 
fallen musste. Bevor die Sanger an die Malerei der Leidenschaften 
gehen konnten, mussten sie erst cleren Natur und Wesen nach innen 
und aussen mnfassend studirt, und clas darstellcnde Material vollkSiumen 
georclnet, gesiehtet und geistig erfasst haben. So fanden sie denn mit 
dem Charakter der verschiedenen Leidenschaften auch den pathetischen, 
koinisehen, emsten und bravourmassigen Stil, und erkannten, dass vor 
alien Dingen eine vollkommene Intonation das erste Hauptstuck zum 
Vortrage der Melodie sei ; sie abstrahirten aus der Beobachtung der 
Leidenschaften ferner das Ziehen und Moduliren der Stimme, sowie die 
Abstufungsweise ihrer StSrke und ihrer Klangfarben; sie erfanden das 
An- und Abschwellen einzelncr Tone, sowie das sanfte Tragen, Binden 
und Sehwellea ganzer Tonreihen; andererseits abor auch ihren gostossenen 
und htipfenden Vortrag. Die Passagen, der meisterhafte Vortrag der- 
selben von Note zu Note, ihre Steigerung und Minderung nach den ver- 
schiedenen Schattirungen und Inflerionen der Leidenschaften und Era- 



99 

pfindungen, die psychologisclie Vertheilung des Naehdrueks und des 
leichteren Hinweggleitens der Stimme liber einzelne Noten und ganze 
Partien der Melodie warden erfunden; die Manieren oder freien Aus- 
schmuekungeiL des Gesanges wurden geordnet und stilisirt, die Gesetze 
der Cadenz gegeben, die Verzierungen des Trillers, des Lfiufers und 
Mordent gebildet, und die Regeln fur die Technik der Ausiibung be- 
stimmt, worauf iauptsacilieli eine gute Scliule mit beruht." Diese "Worte 
geben Ihnen ein Bild dessen, worauf es vor alien Dingen ankam, um 
der Kunst des Gesanges jene Vollkommenlieit zu erringen, welche das 
herrliche Italien befaMgte, auch in dieser SphSre bald ein Muster fur alle 
Lander zu sein. Dass dazu die umfassendsten Studien geliorten, bedarf 
kaum einer Bemerkung. Die Sanger jener Zeit waren durcliaus niclit 
eine Art woUeingerichteter Singmasciinen, nnwissend, ungebildet und 
aninaassend, wie es in der Gegenwart oftmals der Fall ist, sondern 
bei Talent, wol gar Genialitat, trefflicli unteniehtete, erfahrungsreiclie, 
ernstfleissige Eunstler, und mitunter sogar auch nach einer Bemer- 
kung von Rochlitz verniinftige Leute, was in der Gegenwart 
gleieMalls seltener der Fall sein soil. Sclaon in der ersfcen Halffce des 
17. Jahrhunderts waren ilire Studien grundlich, vielseitig, woHgeordnet. 
Der erwahnte Yerfasser tbeilt eine Stelle eines italienisclien Sclrift- 
stellers mit, die icli in dieser Bezieliung ebenfalls Her anfutre: ,,Die 
ScMilef der romischen Schule" heisst es ,,waren verbunden, sich 
taglich eine Stunde in schweren Intonationen zu ubeD, um Leiehtigkeit 
in der Ausfiilirung zu erlangen; eine andere Stunde wandten sie zur 
Uebung des Trillers an, eine andere zu geschwinden Passagen, eine 
andere zur Erlernung der Literatur und noch eine andere zur Bildung 
des Geschmacks und Ausdrucks, Alles in Gegenwart des Meisters, der 
sie anliielt, vor einem Spiegel zu singen, um jede Art von Grimasse 
ocler uascliickliclier Bewegung der Muskeln ? entweder im Kunzelziehen 
der Stirn, Blinzeln der Augenlider, oder im Verzerren des Mundes zu 
vermeiden. Alles dies war nur die Beschaftigung des Morgens. Nach- 
mittags wandten sie eine halbe Stunde auf die Theorie des Schalles, 
eine andere auf den einfaelien Contrapunct, eine Stunde auf Erlernung 
der Eegeln, welche ihnen der Meister von der Composition gab, und 
auf die Austibung derselben auf dem Papier; eine andere auf die Lite- 
ratnr, und die flbrige Zeit des Tages auf das Clavierspielen oder auf die 
Verfertigung einer Composition. Und dies waren die gewoMichen 
Uebungen an den Tagen, wo es den Studirenden niclit erlaubt war, 
die Sclmle zu verlassen. Wenn sie Mngegen Erlaubniss batten, auszu- 
gehen, so gingen sie oft vor die Pprtn angelica, unweit des Berges 

7* 



100 - 

Matins, um gegen das Echo zu singen nnd an den Antworten dessel- 
ben ihre eigenen Feller kennen zu lernen. Zu anderer Zeit wurden s sie 
entweder in den Kirchen zu Rom zrnn Singen bei den offentlichen 
Musiken gebraucht, oder es war ihnen wenigstens erlaubt, dahin zu 
gehen, um die Tielen grossen Meister zu horen, welche unter der papst- 
lichen Eegierung Urban's Yffl. (16241644) bluhten. Wenn sie 
zuriick in das Collegium kamen, wandten sie ihre Nebenstunden dazu an, 
nach diesem Muster zu arbeiten und dem Meister von dem, was sie 
machten, Keehensehaft zu geben." Nothigt uns diese naive Mittheilung 
vielleiclit ein LacMn ab, und miissen wir auch einige Zweifel hegen, ob 
wirHich derartige VorscMften punctlicli befolgt wurden, so gewinnen 
wir docli eine Anscliauung von dem Ernst und der Gewissenliaftigkeit, 
init der diese Studien sclion frulizeitig betrieben wurden. Die Kunst des 
Gesanges stieg, da ihr eine grosse Menge bedeutender Talente unauf- 
horlich zustromte, gelockt durch Aussicht auf Ehre und Gewinn, ini 
Laufe des 17. Jahrhunderts ausserordentlich schnell. Innerhalb eines 
Jahrhunderfcs , in der Zeit von 1590 bis 1700, erhielt dieselbe in der 
Hauptsache ihre voile AusMldung, so dass das 18. Jahrlundert als die 
Zeit der Bluthe zu bezeiclinen 1st, Voin Ausgange des vorigen und vom 
Anfang des gegenwartigen endlich datirt der VerfalL 

Bevor ich weitergehe, muss ich Mer nocli eine Bemerkung ein- 
sctalten. Ich erwalinte sclion in der vierten Yorlesung, dass in der 
ersten Epoclie der italienischen Musik Castraten noch nicht tiblich ge- 
weseu seien. Knaben, deren Brauchbarkeit auf wenige Jakre beschrankt 
ist, konnten nach dem damaligen Stande der praktischen Musik die 
Taugliclteit fiir Zapellengesang nicht erreichen; Frauen waren durch 
die Mrchliche Etiquette ausgeschlossen ; die Kapellen waren daher nur 
mit Mfinnern besetzt, und die Sopran- und Altpartien wurden von Pal- 
settisten ausgefiihrt, unter denen besonders die Spanicr in der pilpstlichen 
Kapelle beruhnit waren. L. Viadana sagt in der Vorrede zu seiuen 
Concerti (1602), dass diese seine Gesange bosser von Falsettiston als von 
Knaben auszufthren seien, weil diese zu scliwach, auch sehr'lassig und 
ohne Auedruck sangen. Jetzt, bei dem Aufschwunge der Gesangskunst, 
erscheinen zuerst die Castraten, mid wir wissen ausdrucklich, dass der 
erste derselben nieht friiher als 1625 in die papstliche Kapelle kam. 
Wie sich spater diese Sitte trainer mehr und in immor weiteren Kreisen 
verbreitete, so dass es erst der Gegenwart vorbehalten war, dieselbe 
wieder ganzlich-zu beseitigeii, ist bekannt. 

Unter den ersten grossen Eepr3sentanten des Gesanges in Italien 
begegnet uns sogleich ein Sopranist, der Bitter Baldassare Ferri aus 



A r\A 

1U1 

Perugia, geb. 1610, gest. 1680. Die Ausbildung seiner Stimme war 
die ausserordentlichste ; in einem Atliem lief er mit Kettentrillern durch 
zwei voile Octaven atif und ab, und traf alle ehromatischen Stufen auch 
ohne Begleitung vollkoimnen richtig. Wenn er aus deni Theater kam, 
wo er gesungen hatte, wurde sein Wagen bisweilen mit Eosen bestreut. 
Als er nach Florenz berufen wurde, ging ihm eine grosse Menge von 
Cavalieren nnd Danien wol drei Meilen weit entgegen und empfing ilin 
ebenso, wie man bislier Ftirsten zu empfangen pflegte. Als der grosste 
Sanger Italiens wird in der Eegel Carlo Broschi, genannt Farinelli, 
bezeichnet. Seine korperlichen Mittel waren so gross, wie sie die Natur 
selteu an einen Menschen verscliwendet, denn er sang ohne die mindeste 
Anstrengung und mit gleichem Wohlklange yon dem ungestrichenen a 
bis zum dreigestrichenen d. Farinelli war geb. im Jahre 1705 zu 
Neapel, und studirte unter Porpora. Spater wandte er sich nach Rom. 
Hier war in der Oper ein Wettstreit zwischen ihm und einem Trompeter, 
der eine Arie mit seinein Instrumente zn begleiten hatte. Dieser Streit 
schien anfangs freundschaftlich und bios scherzhaft, bis die Zuhorer 
anfingen Theil daran und Partei zu nehrnen. Nachdem Beide verschie- 
dene Male Noten angehalten hatten, worin Jeder die Kraft seiner Lunge 
zeigte, und sich vor clem. Anderen an glanzender Fertigkeit und Starke 
hervorzuthun suchte, bekainen Beide zusammen eine ausgelialtene Note 
und einen Doppeltriller in der Terz, welchen sie so lange fortschlugen, 
bis Beide erschopft zu sein schienen. Eer Trompeter, der gam athem- 
los war, gab ihn in der That auch ganz auf und daclite, dass seiu Neben- 
buhler ebenso ermuclet sein wurde, wie er selbst war, dass somit der 
Sieg unentschieden ware. Earinelli aber, mit einer lachelnden Miene, 
um dem Trompeter zu zeigen, dass er bisher nur mit ihm gespasst habe, 
brach auf einmal in demsdben Athemzuge mit neuer Starke los, hielt 
nicht nur die Note schwellend aus und trillerte, sondern liess sich aucli 
in die schnellsten und schwierigsten Laufe ein, worin er nur durch. das 
Zujauchzen der Zuhorer unterbrochen wurde. Yon Kom ging er nach 
Bologna; hier hatte er das Gluck, den Bernacchi, einen Schuler des 
berlihmten, in dieser Stadt geborenen Pistoecki, zu horen, von da nach 
Venedig, endlich nach Wien, wo ihm vom Kaiser Carl YL die grosste 
Aufinerksamkeit erwiesen wurde. Das TJrtheil dieses Monarchen war es 
sogar, welches eine grosse Yeranderung in seiner Singart hervorbracMe, 
und ihn jetzt erst der hochsten Stufe der Yollendung zuftihrte, indem er 
dem Kuhnen und Blendenden das Ausdrucksvolle Mnzufugen lernte. Im 
Jahre 173-i kam er nach England, und auch hier begleiteten ihn die 
ausserordentlichsten Erfolge. Zugleich daselbst mit dem grossen Sanger 



Senesino engagirt, hatte doch noch Keiner den Anderen gehort, weil 
Beide auf verschiedenen Theatern zufallig immer gleichzeitig zu singen 
batten, Eine Theaterrevolution fuhrte Beide auf einem Theater zusammen. 
Senesino hatte die Eolle eines wuthenden Tyrannen, und Farinelli 
einen ungliicklichen Helden in Ketten darzustellen. Allein gleich bei 
der ersten Arie erweichte er das harte Herz des ztirnenden Wuthrichs 
so sehr, dass Senesino seine Theaterrolle Yergass, Farinelli entgegen- 
sturzte und ihn umarinte. ,,Er hatte Vorzuge", sagt sein Biograph 
Burney, jjdergleichen man weder vor noch nach ihni bei irgend einem 
Menschen zusammen antraf, Vorzuge, cleren Kraft man nicht wider- 
stehen konnte, und die jeden Zuhorer, Kenner und Nichtkenner, Freuncle 
und Feinde besiegen mussten." Spater finden wir ihn in Madrid mit 
den hochsten "Wurden bekleidet. Er war Grand von Spanien, Bitter 
cles grossen Ordens von Calatrava, General-Intendant aller Opern, und 
hatte als solcher nicht bios auf die Kunstangelegenheiten, sonclern zu- 
gleich als allniachtiger Giinstling auch auf die politischen Verhaltnisse 
den grossten Einfluss. An ihn wandten sich die Gesandten der frernden 
Hofe ebenso sehr wie die Eegenten selbst, und Maria Theresia 
trostete sich, als sie der Fran von Pompadour freundliche Briefe schreiben 
musste, damit, dass sie dasselbe bei Farinelli habe thun mtissen. 
Als Director der Oper machte er sie zur glanzendsten Anstalt in Europa. 
Er bezog in den Jahren 1737 bis 1761 in Madrid als Jahrgehalt eine 
Summe von 2000 Pfund Sterling. Geruhmt aber wird, und dies cltirfen 
wir nicht vergessen zu erwahnen, seine atisserordentliche Miissigung 
und Pflichttreue, so dass er nicht cin einziges Mai seine Gewalt miss- 
brauchte, und selbst von den Spaniern allgemein geliebt wimle. Schlosser 
in seiner , 5 GescHchte des 18. Jahrhunderts" tadelt daher aucli Maria 
Theresia, dass sie Farinelli mit Frau von Pompadour in eine 
Kategorie gestellt habe. 

Ich bemerkte bei dem zuletzt erwahnten Sanger schon, dass er 
in Neapel seine Bildung erhalten hatte. Nicht allein in der Compo- 
sition war jene Schule ausgezeichnet, sie besitzt zugleich den Buhm, 
grosse Gesanglehrer besessen ich nenne hier nur Nicolo Porpora, 
geb. um das Jahr 1685, gest. 1767 und die grossten Sanger Italiens 
gebildet zu haben. Bald aber entstanden auch an anderen Orten Schulen 
ftir Gesang, und endlich gab es fast keine grossere Stadt Ttaliens, die 
nicht Ausgezeichnetes hierin geleistet hatte. Besondere Bedeutung or- 
langte Bologna durch die beiden schon vorhin genannten Meister Fran- 
cesco Antonio PistoccM (geb. 1659) und Antonio BcrnaccM (geb. urn 
1700). Pistocchi, gleichfalls ein Castrat, war urn 1700 der Grtincler 



103 

der bolognesischen Schule, von welcher der vorliin genannte Yerfasser 
sagt, dass sie es gewesen sei, welclie alle Kunste des ansubenden Ge- 
sanges zuerst in ein wissenphaftliebes System, zu bringen suchte, be- 
sonders die Schonheit cles Tones veiiangte, und die Mannigfaltigkeit der 
Stile als eine wesentliehe Bedingung der Kunst des Vortrags geltend 
machte. Bernacclii folgte dem eben Genannten in der Leitung dieser 
Sehule, und war so gliieklich, der Welt (lurch seinen TJnterricht eine be- 
deutende Anzalil von Sangern ersten Eanges zu sclienken. Er selbst 
hatte yon der Katur keine glucklichen Gesangsorgane erlialten, bildete 
dieselben aber durch Studium dessenungeachtet so aus, dass er, einer der 
berohmtesten Sanger seiner Zeit, von Handel und Graun der Konig 
der Sanger genannt wurde. Neben dem Systematischen seines Unterrichfe 
soil er die Bande der Scliule erleichtert haben, indem er eine freiere 
Singweise einfuhrte. Seine Metliode ist diejenige, welclie sich bis in die 
Gegenwart fortgeerbt hat und noch jetzt als die Grundlage des Unter- 
richts im italienischen Gesange betrachtet wircl. Es kann natlirlich 
Mer nicht der Zweck sein, so wenig als in deni Naclifolgenden hinsichtlich 
der Instnunentalvirtuosen, diesen Gegenstand zu erschSpfen; ich beriihre 
deuselben fliichtig, urn das Gesammtbild dieser Epoclie zu vervollstandigen. 
Nur eine Stelle aus der angefuhrten Schrift erlaube ich mir noch mit- 
zutheilen: }5 Allein die Zeit der grossen italienischen Malerschule lasst 
sich mit der Glanzperiode italienischer Musik vergleichen, denn wie 
einst fast jede kleine Stadt Italians grosse Maler aufzuweisen hatte, so 
jetzt fast jedes Oertchen heniiche Musiker aller Branchen, und so allein 
konnte Italien fast alle grosseren Stadte Europas rait trefflichen Opern 
versorgen, wahrend das Mutterland dessenungeachtet noch mit Sehaaren 
Yon musikalischen Talenten bedeckt war. Mit tiefem Staunen liest man 
in den Keiseberichten jener Zeit, dass auf den Strassen, in den Wirths- 
hausern und an Orten, wo wir nur die Hefe der Musiker suchen, da- 
mals in Italien die lieblichste Musik ertonte, und alle Theater, Kirchen 
und Concertsale mit den trefflichsten Sangern, Componisten und Instru- 
mentisten besetzt waren. Die Kloster hatten diese in ihren Monchen 
und Nonnen, jede grossere Kirche ihren Kapellmeister, ihre Sanger, 
Organisten und Spieler, und die "Waisenhauser inancher grossen Stadte 
stellten aus ihren Zoglingen, deren die grossten tausend und mek* er- 
nahrten, Orchester Yon 50 60 trefflichen Sangern und Musikern, oft- 
mals Madchen, welche in den Anstalten bis zu ihrer Verheirathung unter- 
halten wurclen, oder bis sie als Sangerinnen zu den Theatern gingen." 
Es liegt in der Natur der Sache, dass die an den Moment gefesselte, 
schnell voruberrauschende Kunst des Darstellers dem Geschichtsschreiber 



104 

noct bei weitern grossere Scliwierigkeiten fur seine Aufzeicknungen 
darbietet, als die Darlegung des inneren Ganges cler Kunstentwicklung 
und der damit verbundenen Thatsacien, die Werke selbst das 

sprecliendste Zeugniss fort und fort ablegen. Wir diirfen uns daher 
nicM wundern, wenn jene Ersclieinungen bis jetzt nur erst eine wenig 
eingehende Darstellung geftmden haben, und die Ansicliten daniber nocli 
ganz ausserordentlich. differiren. Ckrysander in seinem Leben Han- 
del's im 2. Bande, S. 28, inaclit deshalb initEecht darauf aufmerksam, 
dass es das Sicherste sei, sicli ztun Zwecke tieferer Brfassung jener 
vorubergegangenen Kunst an die- Schreibart der Tonsetzer zu halten, 
weil die Kunst der Aiisffilirung dieser annaliernd entsprochen haben 
muss. Er gelangt allerdings auf diesem Wege zu einer cler oben dar- 
gestellten wenig confornien ScMlderung. Hierauf naher eiuzugelien, 
wurde tins indess zu weit fiihren. Nur mochte icli niclit unteiiassen, Sie 
darauf aufinerksam zu maclien, und Bmen das genannte Werk zum Nacli- 
lesen zu empfehlen. Dasselbe entlialt niclit nur in der angefulirten Stelle, 
sondern auch im weiteren Veiiauf viele bemerkenswertlie und interessante 
Angaben aucli nacli der hier bezeiclineten Seite Hn. 

Bei so grosser Anregung, bei solclien Yorbildern des Gesanges, konnte 
die Kunst der Instrmnentisten niclit zuruckbleiben. Bald begegnen wir 
auch. auf diesem Gebiet ausgezeichneten Leistungen. Die Eanst des 
Instrumentenspiels liat sicli aus der des Gesanges entwickelt, wenigstens 
aufaugs und so lange, als der Instrumentalmusik nocli niclit ein selbst- 
standiges Ideal aufgegangen war. Es sincl Mer namentlicli die ersten 
grossen Violinspieler, deren icli gedenkeu muss. 

In der Mitte des 17. Jalirliunderts waren die Bogeninstrumente in 
ihreni Bau bis zu jener Vollkommenlieit gediehen, die als untibertrefflicli 
anerkannt ist. Stimmtmg wie Structur waren bis dahin geregelt, und 
Cremona, Brescia und Innsbruck lieferten Instrumente, welclie nocli jetzt 
die gesuchtesten sind. Unter solclien Verlialtnissen war es nattniicli, 
wenn ausgezeichnete Virtuosen niclit lange auf sicli warten liessen. 

Als der Grtinder der Mieren Kunst des Violinspiels in Italien wird 
gewohnlieli Afctangelo Corelli bezeichnet, geb. im Jalu'e 1653 in 
einer kleinen Stadt auf bolognesiscliem Gebiet, gest. 1713. Erst in 
spateren Jaliren verbreitete sicli sein Ruf als Violinvirtuos. Corelli geliort 
niclit unter die friilireifen Kiinstler. Noct wenig gekannt, trat er eine Eeise 
nacli Deutschland an, liess sicli an mehreren Hofen mit Beifall lioren, 
und nabm zuletzt Dienste in der Kapelle cles Herzogs von Bayern, wo 
er zwei Jahre verweilte. Naclilier kelirte er nach "Rom ztiriick und gab 
dort zwolf Sonaten ftir die Violine lieraus. Noch immer aber wurden 



seine Leistungen nur wenig beaehtet. Erst als im Jahre 1686 die da- 
mals in Kora sicli auflialtende Konigin Christine von Schweden zu 
Ehren des englischen Gesandten ein grosses Concert veranstaltete, 
welches Corelli an der Spitze yon 150 Musikern dirigirte, begann sein 
Euf sicli schnell zu erhohen, so dass YOU diesem Zeitpunct an seine 
einflussreicliere Thatigkeit daiirt werclen kann. Der Cardinal Ottoboni 
ernannte ilin jetzt zum ersten Violinisten und Director seiner Haus- 
kapelle, und Corelli blieb in dieser Stellung, wo er vorzuglich. forderlich 
fur die Ausbildung der Instrumentalmusik sein konnte, bis an semen 
Tod. Er brachte hier die Instrumentalmusik"" zu einer Hohe, wie man 
sie bis auf ihn in Eoni nichfc gekannt hatte, und wird als der Erste be- 
zeichnet, der clort ein regehnassiges Orcliester eingericlitet babe. Das 
Gesangreiche seines Spiels gefiel so, dass man ihn sogar in den Kirehen 
horen wollte, und class Yon ihm an sicli aucli die Ztilassung der Saiten- 
instrumente bei der Kirehenmnsik in Rom datirt. Die clankbaren Roiner 
erkannten seine Verdienste, und ihr Entliusiasmus zierte Corelli init 
der Bezeiclinung : Virtuosixsimo Ji Yiolino e rero Orfeo de" nostri teitipi^ 
Nach seinem Tode wurde Yon dem Cardinal Ottoboni seine Biiste mit 
einer ausserordentlich riilinienden Untersclirift aufgestellt. Corelli war 
ausgezeichnet durcli tonreiches, gefttlvolles Spiel, weniger durch Fer- 
tigkeit, die ilini in keinera hohen Grade zu Gebote stand. Das Gebiet, 
auf welchem er sicli bewegte, war uberlmupt noch ein bescliranktes. 
In einem Concert beim Cardinal Ottoboni machte er Handel's Be- 
kanntschaft. Eine der Handel'sclien Opernouverturen wurde aufge- 
fiilirt. Corelli hatte die Composition sanft und gefuMvoll aufgefasst, 
wie es seine "Weise war, oline auf Handel's Feuer und Lebendigkeit 
einzugelien. Heftig riss ilini dieser die Violine aus der Hand und sjjielte 
die Stelle auf seine Weise. Corelli entgegnete ilim: ,,Aber, lieber Sachse, 
^g^jj^gjg-^^gj "Ifanzosischen Stile, auf den verstehe icli micli nicM^. 
AeLnliche Anekdoten werden niehrere erzablt, so YOU seinem Aufent- 
halte in NeapeL Ton- und gesangreicher Yortrag war, wie gesagt, seine 
Eigentlimnliclikeit. BraYOur besass er noch nieht, und die Benufczung 
der holieren Lagen des Instruments war itai unbekannt. An seinen 
Compositionen ist das Melodios-Fliessende, Verstandliche , UngesueMe 
und Einfache zu rahmen. Er hat Yiele Sainmlungen von Sonaten und 
Concerten herausgegeben. Am Hochsten werden die Sachen geschatzt, 
welclie er Yon 1690 bis 1700 componirte. Wie weit er aber im Ver- 
gleich zu anderen Landern immerhin voraus war, erhellt aus der An- 
gabe, dass in Pranla-eich ini Jahre 1715 die Kunst des Violinspiels noch 
so tief stand, dass sich in Paris Keiner fand, cler Corelli's Sonaten 



106 

zu spielen verstanden hatte. Gleichzeitig mit Corelli werden nocli die 
Violinisten Geminiani, ein Luccheser, und Vivaldi, ein Venetianer, 
genanni Grosseres aber nacli Aller Urtheil leistete Giuseppe Tar- 
tini, dor erste Meister Ifcaliens zu seiner Zeit, geb. zu Pirano, einem 
Lanilgute in Istrien, im Jahre 1692, gest. 1770. Ich theile Ihnen einige 
Hauptpuncte aus der ziemlich romanhaften Biographic dieses Zunstlers 
mit. Seine ELtern wiinseliten, dass er sich. dera geistlichen Stande widmen 
xnoehte, nnd iibergaben ihn, da er grosse Fahigkeiten zeigte, einer Unter- 
richtsanstalt, wo er die Humaniora absolvirte, und nebenbei ein wenig 
Musik und Violinspiel erlemte. Sie liessen ihm, da sie verlangten, er 
solle in den Franciscanerorden der Minoriten treten, ein paar Zellen in 
einem Kloster gesclimackvoll auf eigene Kosten einricliten. Aber Tar - 
tini, selir weltlich gesinnt, war nicht zu bereden. Er bezog 1710 die 
Universitat zu Padua, urn Jurisprudenz zu studiren. Mehr als diese 
Wissenschaffc aber und als die Violine interessirte ihn damals die FecM- 
kunst, in der er es schon fruh zu einer bedeutenden Fertigkeit gebracht 
hatte.^Unaufhorliche Duelle mit Studenten waren die Folge. Es war 
sein vorsatz, als Fecbtmeister nacb Frankreicli zu geben. lEine junge 
Dame jedoch, aus der Familie des Cardinals Cornaro, liatte sein Inter- 
esse gefesselt. Er unterriclitete dieselbe und yeiiiebte sicb in sie so 
leidensclaftlicli, dass er sie schneH heirathete, oline dass die beidersei- 
tigen Eltern ein Wort erfuliren. Die seinigen waren so erziirnt, dass 
sie ihm fur immer litre Unterstiitzung versagten ; nocli mehr der Cardinal, 
der ihna naclistellen Hess, so dass Tar tini sich genotliigt sail, seine 
Gattin in Padua zurucfczulassen und als Pilger verkleidet zu flieben. 
Unstat und fliieMig irrte er nun von Ort zu Ort, bis er in das Minoriten- 
kloster zu Assisi kam, wo er in clem Ktlster desselben einen Verwandten 
fand, der ihn aufaahm und verbarg. Hier nun mehrere Jabre ge-, 
notliigt zu verweilen, liatte er Zeit und Gelegenlieit, liber den Leiclit- 
sinn seines Lebens nachzudenken ; ganzlich umgebildet in seinem Clia- 
rakter, ging er spater wiecler aus clemselben hervor. Urn die Langeweile 
des Elosters zu zerstreuen, nalim er die Violine zur Hand. Er liatte 
einen tticMigen Lehror gefunden und machte, da er fleissig zu werden 
anfing,' bald grosse Fortsehritte. Ziemlich bekannt ist die Anekdote, 
welche sich. an die Entstehung seiner Teufelssonate, deren Composition 
in diese Zeit fallt, kniipft. Mit der Ausarbeitung dieses Werkes be- 
scliaftigt, erschien ibm einstinals im Traum der Teufel und bielt ihm, 
seiae Leistungen als Violinist herabsetzend, eine Strafpredigt. Gewissens- 
bisse, die ilin wachend und sclilafend beunruMgen mochten, batten sich 
in die concrete Gestalt des Teufels geldeideL Tar tini war im Traum 



107 

mit seiner Sonate beschaftigt. Der Teufel verspottete ihn, nahm die 
Violine zur Hand und zeigte ihra neckend Schwierigkeiten, welclie er 
nicht tiberwinden tonne, erinnere ich micli recht, so war es nament- 
licli ein Triller, mit deni zugleich eine selbststiindig sicli bewegende 
Stimme verbunden ist. Der Traum war lebhaft gewesen, nnd Tartini 
erinnerte sich beim Erwaclien genau des Hergangs, entziiekt fiber das 
Kunststuck, das ihm der Teufel gezeigt hatte. Er nahm es in sein "Werk 
auf und ubte sicli rastlos, bis ilun die yollkommene Ausfiihrung desselben 
gelang. Noch immer war sein Aufenthalt der "Welt unbekannt. Einst, 
bei einem Feste, spielte Tartini in der Kirche Violine. Bin heftiger 
Windstoss liob den Vorhang, Mnter deni er verborgen war, auf. Er 
wurde sogleich yon einem anwesenden Paduaner erkannt, der nichts 
Eiligeres zu thun hatte, als die gemaclite Entdeckung zu verrathen. Tar- 
tini's Gattin meldete ilini sogleich die Aussohnung des Cardinals und die 
so ftr ilin yorhandene Moglichkeit der Kuckkehr. Jetzt wieder in die Welt 
eintretend, wurde er bald der Gegenstand allgemeiner Bewunderung. 
Im Jahre 1721 erhielt er die Stellung als erster Violinist an der Kirche 
des heiligen Antonius zu Padua, an einer der besten Kapellen Italians. 
1723 erging an ihn ein Euf nach Prag zur Kronung Kaiser Carl's VL 
Dort weilte er drei Jahre bei einem Grafen Kin ski* Hier horte ihn 
der deutsche Flotist Quanz. Dieser schreibt fiber sek Spiel: 55 Er war 
in der That einer der grossten Violinspieler. Ei brachte einen schonen 
Ton aus dem Instrumente; Finger und Bogen hatte er in gleicher Ge- 
walt. Die grossten Schwierigkeiten flihrte er ohne sonderliche Mtihe 
sehr rein aus. Triller, sogar Doppdtriller schlug er mit alien Fingern 
gleich gut. Er mischte sowohl in geschwinden als langsamen Satzen 
viele Doppelgriffe mit unter und spielte gern in der aussersten Hohe. 
Allein sein Vorfaag war nicht roll-end und sein Gesebmack nicht edel, 
yielmehr der guten Singart ganz entgegen". Spater hat er ohne Zweifel 
auch diese Vorzuge sich noch anzueignen gewusst, er wurde sonst nicht, 
wenn ein Violinist sich ntir durch Fertigkeit der Finger und cles Bogens 
yor ihm gezeigt hatte, gewohnlich gesagt haben: ,,Das ist schon, das 
ist schwierig, aber hier (wobei er die Hand auf die Brust legte) hat 
es mir Nichts gesagt". Nach Verlauf jener drei Jahre ging er nach 
Padua zuriick, schlug die glanzendsten Einladungen aus und errichtete 
1728 seine grosse, hochst einflussreiche Musikschule, welche ihm den 
Namen des Lehimeisters der Nationen il maestro delle nazloni , 
verschaffte und aus der jetzt die vorzuglichsten Violinisten aller Lander 
heryorgingen. "Was ihm in eigener Person durch Eeisen allein zu 
erreichen unmoglich war, Verbreitung seiner Kunst, das eiiangte er 



108 

jetzfc in ausgedehnter Weise clutch seine Schiller. Als die vomiglich- 
sten derselben werden genannt: Pietro Nardini uncl Gaetano Pug- 
nani; zu Naumann's, des Dresdner Kapellmeisters, Bildung trag er 
wesentlich bei, wie dies spater an seinem Orte noeh erwahnt werden 
wird. Aucli in andeier Hinsicht erwarb er sich urn Padua Verdienste. 
Er unterstutzte vielfach arme "Wittwen und Waisen und liess Kinder 
aimer Eltern auf seine Kosten in der Scliule unterricliten. Tartini 
hat mehrere theoretische Werke, insbesondere eines von der Theorie 
des Elanges, herausgegeben und sich darin als Entdecker bewiesen. 
Dass er seine Satze in mathematische und algebraische Dunkelheiten 
eingebullt hat, soil nach dem Urtheil eines Freundes von ihm daher 
konmaen,, dass er ein schlechter Bechner und noch schlechterer Mathe- 
matiker gewesen ist; er hatte sich bei seinen niusikalischen Rechnun- 
gen eine ganz eigene, sonderbare Yerfahrungsweise ausgedacht, welche 
ihm durch Uebung ganz leicht geworden war, wahrend sie Anderen 
unverstandlich blieb. Burney, bei Beurtheilung derselben, bediente 
sich der "Worte desSokrates, welche dieser von Heraklit gebraucht 
hatte: ^Was ich verstanden habe, ist vortrefflich; ich schliesse daraus, 
dass auch das von gleicher Yortrefflichkeit ist, was ich nicht verstan- 
den habe". Die Kunst der Bogenffihrung , sagt Kiesewetter, ward 
durch ihn zu einer fruher nicht geahnten Vollkommenheit gebracht. 
Ich nenne zum Schluss dieser Darstellung noch einen Schiller des Corelli, 
Pietro Locatelli, geb. 1693 zu Bergamo, und gegen die Mitte des 
vorigen als einer der grossten Yiolinvirtuosen allgeinein bekannt. Er 
durchreiste ganz Europa und wahlte endlich Amsterdam zu seinem blei- 
benden Wohnsitz. Dort errichtete er ein stehendes Concert und starb da- 
selbst 1764. Die Werke dieses Maunes haben mich bei der Durchsicht 
lebhaft interessirt, Man findet hier schon eine hochgesteigerte Bravour, 
in der That, wie es mir scheinen wollte, Elemente des ein Jahrhundert 
spater kommenden Paganini. 

Dasselbe, diese hochgesteigerte Bravour uncl vielfache Elemente der 
spateren Yirtuositat, erblicken wir auch bei dem ersten grossen Piano- 
fortespieler und -Componisten Italiens, Domenico Scarlatti. Es ist hier 
der Ort, auch dieser Leistungen noch im Yorubergehen zu gedenken. 
Domenico Scarlatti war der Sohn des Alcssandro Scarlatti, 
geb. zu Neapel im Jahre 1683. Ein Schiller desselben in seiner musi- 
kalischen Bildung tiberhaupt, erhielt er die Yorbereitung fSr seinen 
spateren Beruf in Kom. Durch ihn setzte der Yater die begonnene 
Yerselbststandigung der Instrumentalinusik durch, urn so leichter, als 
der Sohn zur Yerbreitung dessen, was er schuf, durch seine grossen 



1U9 

Keisen wesentlieh beitrug. England, Frankreich, Spanien, Portugal batten 
Gelegenheit, die Kunst dieses Mannes zu bewundern. Im Jabre 1719 
trat derselbe unter anderen auch in London als Componist anf , doch 
nicht mit gleichem Erfolg wie als Virtues. Nur nach Deutscbland ist 
er nicht gekonrmen. Erst ein Enkel des alt en Scarlatti naclt an- 
deren Angaben ein Sohn des Francesco Scarlatti, eines Binders 
oder nahen Verwandten des eben Genannten Giuseppe Scarlatti, 
welcber die grosste Zeit seines ^Lebens Mndurch in "Wien lebte, und 
daselbst im Jahre 1771 gestorben ist, verpflanzte die Bestrebungen die- 
ser Faniilie nach Deutschland, einer Familie, die in ibrer Stellung zur 
italienischen Kunst vielfach Analoges zeigt mit der Sebastian Bach's 
in DeutscHand. Wie Seb. Bacb bezeichnet A. Scarlatti in Italien 
den "Wendepunet zwischen alter und neuer Zeit; wie Do in. Scarlatti 
bezeichnet Eonannel Bach die entschiedenere Wendung zum Neuen, 
die Verselbststandigung der Instrumental-, insbesondere der Pianoforte- 
musik. Dom. Scarlatti war zuletzt Pianist des Konigs von Spanien, 
und starb daselbst im Jahre 1757. Die Werke dieses Mannes baben 
neuerdings wieder grosseren Eingang gefunden, und sincl nach. dera Vor- 
gange yon Liszt und Clara Schumann vielfacli offentlich ziun Vor- 
trag gebracht worden. C. Czerny bat eine Gesamnitausgabe derselben 
veranstaltet und durch eine sehr ruhmende Vorrede dieselbe eingeleitet. 
Aucli H. v. Btilow hat mehrere herausgegeben. Unter der grossen 
Menge dieser Sonaten ist allerdings aucb inanches Veraltete; viele je- 
docli behaupten far alle Zeiten iliren Wertli. Fur die Kenntniss der 
GescMchte des Instruments, sowie zur Vervollstandigung des Bildes 
von den damaligen grossen Eunstleistungen Italiens sind sie von ausser- 
ordentlicher Bedeutung. Mit Erstaunen erblickt man diese liocbge- 
steigerte Bravour, wennscbon die Ausfuhrung bei der Beschaffenheit 
der damaligen Instrumente niclit die Scliwierigkeiten darbieten konnte, 
wie gegenwartig. 

Aucli das Orgelspiel bliihte in deni ganzen gegexrwartig besprocbenen 
Zeitraum. In der ersten Halfte des 17. Jalrrhunderts hatte Italien den 
hoch.beruh.mten Frescobaldi (1588 1653), zu welchem auch deutsche 
Organisten kamen, um ihre Studien zu machen. Er war der Lehrer des 
kaiserlichen Hoforganisten Froberger (geb. um 1605, gest. 1667). 
Die Organisten waren von jeher die Vertreter der strengeren Kunst, 
und so erblicken wir noch langere Zeit hindureh in Italien tuchtige 
Ktinstler dieses Faches. Seit dem 17. Jahrhundert bildeten sich der 
doppelte Contrapunct und die Fuge rnehr und mehr aus. Die letztere 
erhielt indess erst in der Zeit A, Scarlatti's Ihre" Vollendung. Bald 



110 

traten in Italian und Deutschland Theoretiker auf , welche die Lehrsatze 
entwickelten und feststellten , und so selien wii endlich auch dieses Ge- 
biet zum ersten befriedigenden Absclluss gelangen. Zuletzt muss icli 
Her noch der ersten virtuosenm&ssigen Leistungen auf den Blasinstru- 
nienten gedenken. Das Hervortreten derselben nach dem Vorgange 
der Saiteninstrumente fallt in die erste Halfte des vorigen Jahr- 
hunderts. Blieb aueh in Italian die Oreliesternrasik innner nur eine 
SaoTie von untergeordneter Bedeutung, so erscheint dieselbe doch nun 
sehon bis zu einer Sttife ausgebildet, welche Deutschland in den Stand 
setzte, darauf fortzubauen und spater das Hochste dieser Gattung zu 
erreichen. 

Das heitere, prachtige, farbengliiliende Venedig zieht jetzt nocli 
unsere Blicke auf sicli. Eine dritte italienische Musikscliule ausser 
anderen, indess weniger umfassenden und erfolgreiclien ist nocli zu 
nennen, mit der roniischen und neapolitanisclten von der grossten Be- 
deutung: die venetianisclie. In Venedig bestand eine eigene Scbule 
der Tonkunst in dein gesammtan, bis jetzt besproclienen Zeitramn. Ich. 
gedenke derselben erst an diesena Orte, weil es die Uebersiclit wesent- 
licli erleiclitert, das Zusammengehorige in grosseren Gruppen zusainmen- 
gestellt zu finden , walirend die blosse, Gegentiberstellung gleichzeitiger 
Vorkonunnisse nur die untergeordnete Orientirung uber die Zeitfolge 
gewShrt. 

Die ersten Anregungen gingen auch Mer von den Niederlandern 
aus; ich. bemerkte sclion, dass es Hadrian Willaert gewesen sei, 
welder als der Grander der Schnle zu bezeichnen ist. Seine umnittel- 
baren Amtsnaclifolger am Dome des lieiligen Marcus waren die Scliuler 
dasselben, Cyprian de Bore (1516 1565), welcliem die entliusiastisclie 
Verelirung der Italiener den Namen n il dimno u beilegte, und Zarlino 
(1519 1590), der grosste Tlieoretiker cles Jahrhunderts. Ausser diesen 
warden nocli mehrere andere Namen als seiner Schnle angehorig genannt, 
der sclion einnial erwalinte Alfonso della Viola, Costan zo Porta 
u. A. Die Yenetianer liaben einen eigentMimliclien Stil ausgebildet, ob- 
sclion man sich ilire Schnle natfrrlieh niclit vollig getrennt und streng 
gescMeden von den sclion erwahnten vorstellen clarf. YieEeicM sind 
in itrer Musik verwandte Elemente mit denen der venetianischen Maler- 
schule. Wenn wir bei den Eomern, beiKapliael, die sclione, classisclie 
Form, die Strenge der Zeiclmung, den idealen Scliwung bewundern, 
so ist dagegen bei den Venetianern die Farbe dasjenige Element, durcli 
welches vorzugsweise ihre kunstlerisclien Bestrebungen Yollendung er- 
langt liaben. Mit bewundernswertlier Meisterscbaft, sagtKugler, wissen 



Ill 

sie das warme Leben des Nackten, die Praclit und den Schimmer der 
mannigfaltlgsten Stoffe nachzuahmen. Es 1st die Freude am Leben 
und am Glanze des Lebens, was sicli in alien edleren Leistungen die- 
ser Schule ausspricht so namentlich bei Tizian , das Leben in 
seiner vollsten Potenz, es ist die Verklarung des irdisehen Daseins 
oline Nimbus und cine Opferblut, die Befreiung der Knnst aus den 
Banden Mrchlicher Dogmen. Venedig, ausgezeichnet durch Eeichthum, 
politisclie und kriegerische Macht, genussliebend und genussbietend, 
zeigte weniger Interesse far Eeligion, und es kam ihm weniger darauf 
an , die kirchliche Strenge aufrecht zu erhalten. Die Oper fand, wie Sie 
wissen, Mer sehr fruh Eingang, und auch dies trug dazu bei, der Mu- 
sik der Eepublik einen abweichenden Character zu geben. "Wie nun 
bei den Malern die Farbe das vorwaltende Element ist, so scheinen 
die Musiker mehr Eucksiclit zu nelunen auf den Glanz der ausseren 
Ersclieinung , mehr die Wirkung ins Auge zu fassen. Die Werke der 
sogleich zu erwahnenden Meister, die Neigung derselben far Vollstimmig- 
keit, diebeliebte Zusamrnenstellung melirerer Cliore nach. Willaert's 
Yorgang spricht dafiir. 

Zu den ausgezeichnetsten Meistern in der zweiten Halfte des 16. 
Jahrkunderts gehoren Andreas Gabriel! und dessen Neffe Giovanni 
Galbrieli, insbesondere der Letztere, Beide nach einander Organisten 
am Dome des heiligen Marcus* GioTanni Gabrieli, aus der Pamilie 
der Galilei, der aucli der Pliysiker angeh5rt, war ini Jahre 1557 ge- 
boren. Yon dem gelehrten, zugleieh aber auch die Tonkunst liebenden 
Vater fur die Wissenscliaften wie ffir Musik lierangebildet , wurde er, 
da sein grosses Talent fruli sicli entwickelte, fiir die letztere bestimnit. 
Er macMe die umfassendsten Studien und wurde einer der grossten 
Orgelyirtuosen seiner Zeit. Im hohen Alter eiiebte er nock - er starb 
im Jahre 1612 den Glanz und die Pracht der neu in die Welt ein- 
ketenden Oper. Er selbst aber ist nicht eingegangen auf dieses Neue. 
Seine Eichtung ist die des erlabenen Stils der Ejrcheninusik im 16. 
Jahrliunderk Ausfohrliclieres JBndet man in der sohon fruher genann- 
ten Schrift von Winter f eld. Eoclilitz in seinem Sammelwerk tlieilt 
zwei Werke von Gabrieli mit; Mer ist es insbesondere eu n Benedictus u 
fur drei Chore der erste far 3 Soprane und 1 Tenor, der zweite fur 
die gewohnlichen 4 Stimmen, der dritte fur 1 Tenor und 3 Basse , 
welches die Aufinerksamkeit fesselt. Es ist, wie Sie schon aus dieser 
Anordnung der Stimmen entnehinen konnen, ein uberaus glanzendes 
Musikstuck. Pur uns ist Gabrieli, sowie uberliaupt die venetianische 
Schule, interessant, da sie nicht oline Einfluss auf Deutschland geblieben 



1J2 

1st. Die geographische Nahe, die vielfachen engen Handelsverbindungen, 
sowie aucli der weltlicliere Sinn Venedigs, der an Glaubensstreitigkeiten 
weniger Interesse fand, waren jedenfalls Mervon die Ursache, wahrend 
das strengere Eom gar nicht auf Deutschland einwirkte. Auch 
deutsche Maler, so Albrecht Durer, besucMen Venedig, wennsclion 
vielleiclit mit geringerem Erfolg fur ilire Ausbildung als die Musiker. 
Die Letzteren erhielten sehr erfolgreiche Anregung durch Gabrieli und 
dessen Schule, und wir werden nn weiteren Verlauf der DarsteUung 
mehrere der vorzuglichsten deutschen Meister zu nennen haben, welche 
dort ilire Ausbildung erHelten. Venedig liat dadureli wesentlicli einge- 
wirkt auf die Gestalt der Kunst in unsereni Vaterlande und dazu beige- 
tragen, dieselbe von der ihr innewohnenden Starrheit und Schwerfallig- 
keit zu befreien. Ein zweiter grosser Tonsetzer dieser Scliule ist 
Antonio Lotti, geboren im Jahre 1667. Dieser gehort vollstandig der 
neuen Eichtung an, der durcli die Oper bewirkten Umgestaltung der 
gesamniten Tonfainst, obsclion er derselben durcliaus noch niclit ein 
tadelnswertlies UebergewicM gestattete; ini Gegentlieil: es ist die alte 
Strenge und Gediegenheit bei ihm vorwaltend, aber verscliont durcli die 
Grazie der Epoclie des sclionen Stils. Kiesewetter bezeicknet ilin als 
einen Meister, welcher im sublimsten Contrapunct, wie im concertiren- 
den oder solennen Kirclienstile , im geistlielien Drama, wie im Madri- 
gal Keinern naclistand, und den kulinsten und zugleich regelmassigsten 
Harmonisten aller Zeiten sicli anreilit. Seine Studien fallen in die Zeit 
um das Jahr 1684. Spater wurcle er Organist an der Marcuskirclie. 
Um das Jahr 1712 horte ihn und einige seiner Werke der danialige 
Kuiprinz von Saclisen. In Polge des grossen Eindrucks, clen er auf 
diesen gemacht hatte, ward er 1718 an den Hof zu Dresden berufeu, 
wo seine Gattin als Sangerin auftrat. Er kehrte aber schon 1719 nacli 
Venedig in sein voriges Amt zuriick und wurde J736 zum Kapellmei- 
ster daselbst ernannt. Er starb im Jalire 1740. Audi Opera hat Lotti 
in der Zeit von 1683 bis 1718 in grosser Zahl geschrieben, die in ganz 
Italien gegeben wurclen. Hier accommodirte er sich der Menge. Was 
semen Werth fur uns bezeichnet, sind, wie es nach allem Vorausge- 
gangenen kauni erst eiuer Bemerkung bedarf, seine kirchlichen Werke. 
Leider sind uns davon nicht viele bekannt. Rochlitz tlieilt einige Brucli- 
stucke mit, unter diesen das zuorst in No. 50, Bd. XXI der Allgem. musik. 
Zeitung veroffentlichte Cnidfixw , eines der lierrlichsten Werke der 
itaHenischen Kirchenmusik tiberhaupt. Selbst Hasse, der als ein Scliuler 
Scarlatti's sonst nicht gern einem anderen Meister Gercchtigkeit wider- 
fahren liess uud nameutlich Durante, wo or konnto, herabsetzte, hat to 



113 

ihn, als er im Jahre 1727 ihn kennen lernte, hochschatzen gelernt: 
aWelcher Ausclruck", rief er aus, als er erne Lotti'sche Composition horte, 
,,welche Mannigfaltigkeit und doch welche Richfcigkeit und Wahrheit der 
Ideen!" lot nenne endlicli einen der letzten bedeutenden ESnstler die- 
ser Sehule, welcher zugleich der neuesten Zeit am nachsten steht : Bene- 
detto Mareello, ein venetianischer Patricier und eigentlich Dilettant, 
geb. 1686, gest. 1739. Er war Staatsmann , anfangs Eiehter in Vene- 
dig unter den sogenannten Vierzigern der Kepublik, zuletzt Schatzrnei- " 
ster in Brescia. Seine Neider und auch spatere Schriftsteller benutzten 
diesen Unistand, wiewolil sehr mit Unrecht, urn seine musikalischen Lei- 
stungen zu verdacMigen, sagend, dass das, was dem Musiker nieht ge- 
lungen, die AuflEBhrung seiner Werke in vielen Hanptstadten Eiiropas, 
durch den Einfluss des hoehstehenden Staatsbeainten bewirkt worden 
sei. Dem Character seiner Werke nach steht Mar cello der neuesten 
Zeit am naehsten, obschon er nie fur die Oper gearbeitet hat, Charakte- 
ristiseh fur ihn 1st, dass er statt der bis daMn ublichen lateinischen Texte 
ein ietalienische L T ebersetzung der Psalmen fur seine rausikalische Bear- 
beitung wahlte, charakteristisch ferner, dass er sich den Textesworten | 
weit mehr , als bis dahin ublich, im Binzelnen anbequemte, dass er nach J 
dem Ausdi-uck der Einzelheiten des Textes strebte , wahrend es frflher 1 
mehr auf den Ausdruck der Gesammtstimmung angekommen war ; eine i 
nothwendige Folge dieses Strebens musste der haufige Weehsel des 
Tempos und der-Tactart in demselben Stuck sein. Sein Hauptwerk 
sind 50 David'sche Psalmen, welches in vielen Ausgaben erschienen 
ist, so zu Anfang dieses Jahrhunderts in Venedig. In neuester Zeit sind 
einzelne daraus in mehreren Ausgaben wieder gedruckt. Namhaft zu 
machen.ist schliesslieh auch noch der Yenetianer Antonio Caldara 
(1670 1736), wiewol derselbe ebenso sehr auch unter dem EMuss der 
Heapolitaner gestanden hat und die Hauptzeit seines Lebens als Hofvice- 
kapellmeister und Lehrer Carl's TL in Wien lebte. Er geh5rt zu den 
besten Meistern jener Zeit. 

Naehst der eben besprochenen venetianischen will ich im Voruber- 
gehen noch der bolognesischen Schule gedenken. Paolo Colonna 
(gegen 164095) war der Grander derselben, Giovanni Maria Clari, geb. 
1669, ein ausgezeichneter Schuler desselben. In der schon ofters erwahnten 
in Halle veroffenfclichten Sammlung ist uns nur ein trefflicher Psalm des- 
selben: ^De profwidis", zuganglich. Im Archiv des Doms zu Pisa da- 
gegen und in der Scuola daselbst befinden sich mehr als anderthalb hun- 
dert Werke Clari's. Ueberhaupt gilt, was hier nur beilaufig und bei 
einer besonders au^lligen Veranlassung erwahnt wurde, von der Mehr- 

8 



114 

zahl der bis jetzt besprochenen Erscheinnngen. So viel auch in neuerer 
Zeit gethan wurde, urn die Quellen zu eroffiien, uns die altere Kunst 
wieder zuganglich zu machen, so 1st veiitaltnissiiiassig doch immer nur 
erst seta wenig geschehen , und die Vorarbeiten ftir den jetzt behandel- 
ten Abschnitt sind deninacli im Ganzen nooh ziemlicli gering. In den 
Bibliotheken Italiens liegt die MehrzaH dieser Schatze aufgespeichert, 
ohne noch den Kunstfreuntlen wieder zuganglich gemacht worden zu sein. 
Wir slnd deshalb zur Zeit aucli ausser Stande, die EntwickMng der 
einzelnen Meister durch eine ins Specielle zugespitzte Oharakteristik der- 
selben zu geben. Es muss gentigen, wenn es uns gelingt, die Bedeutung 
der YerscMedenen Epoclien und Kunstschulen im AUgemeinen festzustellen. 
let beschliesse hiermit fur langere Zeit die Darstellung der Ge- 
schiclite der italienischen Musik. Italien hat bis lierab in die Mitte des 
vorigen Jaliiinmderts das Grosste geleistet; yon da an datirt der Ver- 
fall seiner Kunst; nur auf dem Gebiete der Oper, insbosondere der 
komisclien, ist spater noch Hervorragcndes gescliaffen worden. Wir 
erblicken in den durcMattfenen Jahrhunderten die Bewegung von einem 
Endpunet zum anderen, Yon der ausscHiesslichen Herrschaft der Kirclien- 
inusik im 16. Jalirliundert bis zum Verschwinden derselben im IS. und 19. 
Die Tonsetzer sclmeben zwar auch weiterhin noch kirchliche Werke, 
doch liegt der Schwerpunet in dem, was sie ftir die Oper leisteten. So 
sehen wir, wie die letztere, welche im 17. und 18. Jahrhundert der Eircheu- 
musik nur gleichberechtigt gegeniiberstand , endlich alle Krafte an sicli 
zieht; wir gewahren, wie dieselbe der sfcrengeren Kunst Verniclxtung 
bringt, uin endlich, selbst des gediegeneren Haltes entbehrend, in Tri- 
Yialitat unterzugehen. Auch yon der Kunst der Ausffihrung gilt Aehn- 
liches- Aueh sie, sowol im Gesang als Instrumentenspiel, ist im weite- 
ren Yerlauf dort zuruckgetreten, und Deutschland war es vorbehalten, die 
von Italien gegebenen Anregungen aJlseitig weiter zu bilden. Nur die 
Kunst des Gesanges macht in gewissem Sinne eine Ausnahme. Hier- 
uber, sowie fiber die Bedeutung der Virtuositat und ilir Verhaltniss zur 
freisehaffenden Kunst, ist weiterhin noch ausftihrlicher zu sprechen, 
wenn -uns erst ein reicheres thatsachliches Material vorliegt. Genug, 
dass wir bier das erste Auftreten der Virtuositat, die erste becleutsame 
Entwicklung derselben bezeichnet haben. Was ihr Verhaltniss zur frei- 
sehaffenden Kunst betrifft, so wircl dasselbe selten richtig erkannt, bald 
wird sie tiber-, bald unterschatzt. Bald soil sie bahnbrechend voran- 
schreiten, bald als dienende SclaYin in der Yollsten Abliangigkeit sich 
befinden, wahrend das Eichtige allein in der Erfassung gegenseitiger 
lebendiger Wechselbeziehung enthalten ist. 



115 

Bevor ich jedoch weitergehe, 1st es nothwendig , die zurtickgelegte 
Balin nocii einmal unter allgemeinen, kimstgescMchtlielien GesicMspuncten 
zu betracliten. "Wie ich am Sehlusse der ersten, elnleitenden Periode 
bestrebt war , Ilinen die culturgescMeMKGhe Bedeutung des Aufschwungs 
der Tonkunst zu classischer Holie tiberliaupt darzulegen und den Moment 
zu bezeiclinen , wo dieselbe Tragerin des fortsclireitenden Geistes wird, 
so kommt es jetzt, uachdem wir schon einen grosseren EeicMlium des 
Stoffes vpr uns haben , darauf an , die innere Entwicklung , die Gesetze, 
welclie diese bestinunen, naher zu erortern und festzusteUen , urn auf 
diese "Weise, mit den Tliatsaclaen Schritt haltend, zugleicli zu tieferer 
Erkenntniss clerselben, nacli und nacli aber zu einer mnfassenden Orien- 
tirung uber das grosse Gauze der Tonkunst mid die Gestaltung desselben 
bis lierab auf die Gegenwart zu gelangen. Dies wird die Aufgabe der 
nacbsten Vorlesung sein. 



Siebente Vorlesung, 



Die Hauptepochen der Kunst. Charakteristik der italienisclien und deutschen 
Husik. Blick auf die Hauptentwicklungsstufcn der letzteren. 

Alle Kiinste entspringen aus der Religion; Baukunst, Sciilptur, 
Malerei, Musik, Poesie danken dem Eintritt des Gottlichen in die Welt, 
der Hinwendung der Yolker zu demselben ihre Entstehung und Ent- 
faltung bis fast zu dem hochsten Grad der Vollendung hin. Wir finden, 
wenn wir den Ursprung und Fortgang der Kunst aucli nur fluchtig ins 
Auge fassen, tiberall diese Wahrnelnnung bestatigt. In der ersten 
Periode ihres Daseins namentlich weilen die Ktinste fast ausscliliesslicli 
in den Hallen der Kirche als Dienerinnen des Gottlichen und Vermitt- 
lerirmen seiner Herrlichkeit. Die Eunste erhalten die erste Pflege und 
Nahrung Ton der Eeligion und haben dalier zunaclist auch einen ge- 
meinscliaftliclien Inhalt mit dieser; die cliristliehe Kunst hat das Chri- 
stentlium zuin Inhalt. Dies ist die Witrde und Grosse der Kunst, dies 
ist es, was dieselbe mit Wissenscliaft und Eeligion auf den Gipfel 
menschliclier Geistesthatigkeit stellt und die liocliste Weihe uber sie 
ausstromt. 

Zwar scheint die Kunst nur fur kfirzere Zeit die Eeligion sich zum 
Inhalt zu wahlen, dieselbe nur kluger Weise zu benutzen, um an iln* und 
durch. sie zu erstarken. Denn kaum gereift, kaum zu liolierein, selbst- 
standigem Dasein entfaltet, verliisst sie die Hallen 'des Tempels und 
eilt hiiiaus in die Welt, um sich der irdischen Ereude und dem irdischen 
Schmerze des Menschen zuzugesellen , um Ersatz zu suchen in dem 
bunten Wechsel des Weltlebens fur den Ernst und die Strenge ihrer 
Jugend. Fast scheint es, als ob sie nur ihre eigene Erstarkung ab- 
warte, um dann der Mutter, derKirche, fur immer untreu zu werden. 
Aber auch jetzt, eingetreten in die Welt, bleibt sie die schonste Zeit 



A 4*7 

11 < 

ihres Daseins Mndurch ihrem gottlichen Ursprung getreu und bewahrt 
den eingeborenen Geist Die Kunst 1st keine Heuchlerin, keine Be- 
trfigerin. Ihr0-dienende Stellung giebt sie zwar jetzt auf; sie wahlt' 
nicht mehr ausschliesslich oder uberwiegend Gegenstande des kirch- 
lichen Glaubens zum Object ; sie wircl sich selbst Zweck , und das 
Schone ihr einziger Inhalt. Aber jetzt lernt der Menscli in ihr die ur- 
sprfingliche Holieit seines Wesens empfinden; er gelangt zum Bewusst- 
sein seiner eigenen UnendHchkeit , zu jenem Bewnsstsein, welches 
Goethe schon in den einem alten Mystiker nachgebildeten Worten 
ausspriclit : 

War' niclit das Auge sonnenliaft, 
Wie kormten wir das Liclat erbllckenl 
"West 7 nicht in uns des Gottes eigne Kraft, 
Wle konnt' uns Grottliches entziicken! 

Der Unterschied 1st, dass das Gottliclie niclit mehr in der iton eigenen 
Form der Religion Inhalt der Kunst ist, sondern dasselbe als einge- 
gangen in die inenschliche Natur erscheint. Wenn die Kunst friiher 
im Dienst der Kirche das Irdisclie durch das Himmlische verHarte, die 
Weltlichkeit hinaufhob in jene hohere Sphare, und vom Ueberirdischen 
ihren Ausgangspunct nahm, so geht sie jetzt ein in die Welt, nimmt 
Wohnung in ihr, durchdringt dieselbe aber mit ihrem gottlichen Inhalt. 
Fruher stand sie auf der Seite des Ueberirdischen und zog das "Weltliche 
in dieses herein; jetzt steht sie auf der Seite des Irdischen, erfullt dies 
aber mit flem UnendHchen, und eint so von der entgegengesetzten Seite 
beide Spharen. 

Nur erst spat, zur Zeit ihi % es beginnenden Verfalls, vei^gisst die 
Kunst ihren hoheren Ursprung, verHert ihre iiberirdisehe Basis, und 
giebt sich hin an die Welt. Das schone Gleichgewieht beider Seiten 
verschwindet, das Irdische ist nicht mehr von clem Gottlichen durch- 
drungen und verklart, sondern nur noch all ein vorhanden. Jetzt ent- 
faltet zwar die Kunst ihre ganze weltliche Pracht; jetzt erst wird sie 
hauptsachlich die massenbezwingende, die hinreissende, aber sie vermag 
dies nur, indem ^ie den Leidenschaften der Menge schmeichelt, und 
diese in ihrer ganzen naturlichen Nacktheit ohne Verklarung und hohere 
Weihe clarstellt. Ihren Beruf, das Himmlische und Irdische zu ver- 
mitteln, die Erhabenheit des Gottlichen zu mildern durch ihre mensch- 
liche Natur, hat sie vergessen ; sie ist nntergegangen in der Welt. Jetzt 
endlich wird sie fahig, aueh den schlechtesten Inhalt in sich aufzuneh- 
men, und, statt der Veredlung, der Frivolitat, Eitelkeit und Unsittliehkeit 
zu dienen. Nicht allein Poesie und Malerei, nicht allein die mit Worten 



118 

verbundene Musik, auch die reine Instrumentalmusik kann diesem 
ScMeksal unterliegen, und es bedarf nur einer Erinnerung an die Mode- 
producte des Tages, urn die Wahrheit dieser Ansicht besitlfcigt zu finden. 
Aber solche Leistungen gehoren allein der Stufe des Yerfalls an. Wesent- 
lich ist der Irihalt der Kunst die Unendlichkeit des Geistes, und 1 clas 
Hochste, was die Brust des Menschen zu bewegen vermag, ist ihr zur 
Offenbarung fibergeben. Die Eeligion enthalt Mchts, was der Kunst in 
ihrer Weise unerreichbar ware, und so wie jene feiert auch sie den 
Triumph des menschgewordenen , in die irdische Welt eingetretenen 
Gottlichen. 

Betrachten Sie unter den eben aufgestellten Gesichtspuncten den 
bis jetzt zurttckgelegten Weg, so ergiebt sich die Anwendung leicht. 
Es sind die beiden ersten grossen Epochen, welche icli Tnnen dargestellt 
und auch schon als die des erhabenen und schonen Stils bezeichnet liabe. 
Das 16. Jahrhundert, die Schule Palestrina's, umfasst die ausschliess- 
Hch Mrchliche Richtimg der itaKenischen Tonkunst; das 17. und 18. 
Jahrhundert ist die Epoclie des scliQnen Stils; die Zeit des Verfalls be 
ginnt in dein gegenwartigen Jahrhundert. 

Noch unter anderen, obschon verwandten Kategorien lasst sich die 
bezeiclinete Entwicklung begreifen. Alle Kunst nanalicli besteht in der 
gegenseitigen Dmchdringung eines Geistigen und Stofflichen, eines Inne- 
ren und Aeusseren, und das Uebergewicht einer dieser Seiten liber die 
andere, some die Vereinigung zu volllcommenster Harmonie bezeichnet 
die Hauptwendepuncte in der Qeschichte der Kunst. Alle Ktinste be- 
ginnen mit dem Geist, mit dein Uebergewicht, mit dena Uebergreifen 
desselben liber das sinnliche Material, und enden auf der ontgegcnge- 
setzten Seite mit dem Uebergewicht des Materiellen. In der Mitte 
zwischen diesen beiden Hauptpuncten , zwischen der Herrscliaft des 
Geistes iin Anfang und dem Uebergewicht cles Materiellen am Encle, 
ersoheint clas schonste Gleicligewicht beider Seiten, die vollkonimenste 
Durclidrmgung von Geist und Materie in der sehonen, der eigentlich 
classisolien Knnstepoche. 

Handelt es sicli urn naliere Vcranschanlichung * dieser Entwicklung, 
so glaube ich kein scklagenderes Beispiel wahlcn zu konnen, als die 
bildende Kunst der Griechen und Eoiner, und urn dieser grossen An- 
sehaulichkeit willen mogen Sie die Abscliweifung auf ein zwar vor- 
wandtes, doch nicht unmittelbar liierlier gehSriges Gebiet entschuldigen. 
Es ist uberhaupt von beiden Volkern, namentlicli dem erstgenannten, 
in Bezug auf Kunst ausserordentlicb viel zu lornon. Urn wic viel tiefer 
auch der Geist in der christlichen Zeit in den Schacht seines Inneron 



Mnabgestiegen 1st, wir stehen zurfick an ungehemmter, naturgemasser, 
rein und klar sich darstellender Entwicklung hinsichtlich des Grossen 
uncl Ganzen sowol, als aucli der Individuen; wir stehen zurfick an 
Gesundheit und Frische des Geistes, viel zu sehr beschwert nnd in 
unserem Bewusstsein zersplittert clureli die Masse der Bildungsgegen- 
stande und durch das complicate moderne Leben. Jene alien Volker 
liaben ausserdem fur fast Alles, was in den nachfolgenclen Zeiten gross 
und bedeutend werden sollte, die Balin gebrochen, und die spateren 
Vervollkommnungen sind inehr nnr Eesultat des in sich vertieften Stand- 
punctes, oline wahrhaften Fortschiitk Nur die Tonkunst, ganz allein 
eift Resultat der modernen Zeit, macht eine Ausnahnie, ein Urastand, 
von dem unsere Literattir- und CulturMstoriker bis jetzt fast kerne Ah- 
nung batten, obsehon er geeignet 1st, nicht allein die grosse Bedeutung 
der Musik uberhaupt zu beweisen, sondern aucli insbesondere das deut- 
sche Leben recht in seinem Mttelpunct zu erfassen; die Tonkunst 
ist das Eigenthuraliehste der modernen Zeit, die Grosse und der Stolz 
derselben und in ihrer Stellung zu der allgemeinen geistigen Entwicklung 
nocli lange niclit ausreicliend erkannt. * 

Mit den griecMscben Gottern beginnen die gebildeten Kunstdar- 
stellungen jenes Landes, wo sie verehrt wurden, und zwar mit dem 
Kreise der obersten Gotter. In scliroffer Hoheit und Erliabenheit toeten 
sie in die Welt ein. Die Gestalten baben einc rubige, wurdevolle Hal- 
tang, die Ai'me und Fiisse sincl unbescbafbigt, von Kuhnlieit der Stel- 
lungen und Bewegliclikeit des Korpers ist noch keine Eede. Der ge- 
sammte Korper stellt sich uns meist bekleidet dar, und der Ausdraek 
concentrirt sicli im geistigen Theile, dem Gesiclit. Man sieM, wie der 
Geist mit Millie noch in die irdisclie Ersclieinuug eingeht, wie er noch 
viel zu sehr fur sicli ist, urn sich des ganzen stoffliclien Eeichthums zu 
beinachtigen, wie er in seiner Hoheit und Erhabenlieit die menschliche 
Gestalt noch nicht vollig zum Ausdrucksniittel fur sich gebrauchen kann, 
wie er noch fiber die sinnliche Erscheinung hinausragt. Ich erinnere 
an die im Alterthmne so hochberiilimte Statue des Zeus von Phidias, 
die durch Ab- uncl Nachbildung aucli auf uns gekommen ist. Der 
Gott thront in wtirdevoller Erhabenheit, in Gewander gehtillt, auf einem 
reichverzierten Sessel, inajestiitisch in der Linken das Scepter mit dem 
Adler haltend. Diese Hoheit des olymperschutternden Zeus zur Erschei- 
nung zu bringen, war das Ziel des Kunstlers, und die gesammte Dar- 
stellungsweiBe inusste daher, mit Ausschliessung aller rnehr irdischen 
Beziehungen , diesem Zweck dienen. PortraitahnMchkeit , und noch 
dazu diese Aufgabe in ziemlich ftusserlicher Weise erfasst, schliesst die 



120 

Geschiehte der bildenden Kunst bei den Griechen und Romern. Die 
ganz individuelle Wahrheit und Richtigkeit, Virtuositat in der Darstel- 
lung ist es, worauf der Kunstler sein Hauptaugenmerk riehtet. Der 
deni vorigen entgegengesetzte Standpunct, Uebergewicht des Materiellen 
anf Kosten des hoheren Geistes, Versenkung in die Aeusserlichkeit, 
sind das Charakteristische. Alle kunstlerischen Mittel sincl erkannt 
und zur Virtuositat gesteigerfc; Eeflexion anf die Wirkung kommt Mnzu 
und hat jene Mhere, nnr in der Saclie lebende Naivitat, jene weihevolle 
Versenkung ganz vernichtet. So erblicken wir in der bernhmten Gruppe 
des Laokoon bei aller Vortrefflichkeit des Werkes ein Znrschantragen 
der Technik. und der Kunstler breitet seine Kenntniss des mensfeh- 
lichen Korpers vor uns aus; so tritt der gleich hochberuhmte vati- 
canische Apollo mit theatraEschem Anstand vor uns hin, coquettirend 
mochte ich sagen, und lasst ein dem Modernen etwas yerwandtes Effect- 
streben seines Schopfers dnrchblicken. Das ist die Stufe sinkender 
Kunst, die an die Stelle der alien einfaclien Grosse und Weihe Aeusser- 
lictkeiten treten lasst. In der Mitte zwisclien diesen jetzt gezeichneten 
Endpuncten, in der sclionen, im engeren Sinne dassischen Epoche ist 
es, wo das lierrlichste Gleichgewieht beider Seiten, des geistigen und 
materiellen Elements, sich zeigt. Der Geist ist yoUstandig eingegangen 
in die sinnliclie Erscheinung und durchdringt diese nach alien Seiten; 
jder ganze Korper ist belebt, und die minder geistvollen Organe sind 
Janfgenommen in die Idee des Ganzen und verldart von dieser. Wenn 
fionst das Antlitz in Brhabenheit strahlte und die abrigen, nur dem 
Gesammtausdruck dienenden, verhiillten Korpertlieile in den Hintergrund 
traten, so ist jetzt der Geist eingegangen in die Gesammtheit des Kor- 
pers. Das Nackte wird zum wiclitigsten Gegenstand der Kunst, und die 
sinnliche, aber nocli niclit bis zu individnellen Zufalligkeiten der Ge- 
stalt heransgearbeitete Seite in ihrem Reclit anerkannt. Der Geist der 
Kunst ist aus jener frnheren Naivitat herausge treten, fortgeschritten zu 
erweitertem Bewusstsein, ohne jeclocli in der Eticksicht anf das Aeussere 
ganz sicli von der ursprflnglichen Basis zu verlieron. Beide Seiten 
durchdringen sich zu einem untlieilbaren Ganzen, beido sincl im Gleich- 
gewieht, beide decken sick Wenn frulier vorzngsweise die Gotter in 
der Kunst zur Darstellimg kamen, clenen Hoheit tiberwiegend bei- 
zulegen ist, Zeus, oder irgend Schroffheit und Hfirto der Eigenscliaften, 
wie bei der Pallas, der en Standbild Phidias schuf, so sind jetzt 
die Gotter der Grazie und Anmutli bevorzngt. Apollo und Venus wer- 
den Mittelpunct der Darstellungen, und an dem an sich Gleichglilti- 
gen der Beschaftigungen derselben, an den Situationcn des gewohn- 



/IO/J 

I/ol 

lichen Lebens gilt es, die Herrlichkeit des menschlichen Korpers, und 
seine Fahigkeit fur die Offenbarung der Dnenclliehkeit des Geistes dar- 
zustellen. 

Wie nun bei der bildenden Kunst in der ersten Epoche die sinn- 
liclie Seite noch nicht vollstandig zu ihrem EecM gekommen war, so 
tritt auch in derselben Bpoche der Tonkunst, bei Palestrina und 
seinen Eachfolgern im 16. Jahrhundert, der Geist noch ubermachtig, in 
schroffer Erhabenheit hervor, wahrend die sinnliclie, teehnische Seite 
zu einer gleiclien Bereclitigung noch nicht durchzudringen vermoclite; 
wie Zeus in jenei Statue noch fiber die mensehliche Erscheinung hinaus- 
ragt! Die Schopfungen der Tonkunst besehranken sicli auf das ein- 
facliste Material, die mensehliche Stirmne, und die Instrumente sind in 
ihrer umfassenden Bedeutung nocli nicht erkannt. Die Beziehung auf 
den Einzelnen im einstimmigen Gesang ist nocli gar niclit vorhanden, 
denn der Sologesang musste erst spater erfunden werden. In grossen 
breiten Massen erbauen sicli jene ausschliesslich kerrschenden Chorge- 
sange vor unserer Anschauung. Endlich fehlt noch der umfassende 
Gebrauci der Accorde, der Dissonanzen, fur welehe die spatere Zeit 
eine immer grossere Geltung zu erringen wusste. Wie clort in der 
zweiten Epoche die nackte menscbliche Gestalt in ihrer Totalitat Aus- 
drucksmittel des Geistes wurcle. wie Sitnationen des gewobnliclien Lebens 
an die Stelle der friilieren religiosen Hoheit traten, so ist aucli jetzt in 
der Tonkunst das ganze Material in den Geist aufgenommen nnd von 
ikm durcbdrungen, so verandert sicli jetzt im 17. unci in dem nacli- 
folgenden Jahrhundert der Schauplatz, und die Oper beginnt alle 
schopferisclien Xrafte auf ikrem Gebiet zu concentriren, die Kirchen- 
musik dem Neu-Eingetretenen gemass umgestaltend und verweltlicliend. 
Der Sologesang erlangt das Uebergewicht und die Instrumente eman- 
cipiren sich. Wie dort in der dritten Epoche das Portrait, die Nachah- 
mung der Natur, zur Herrschaft gelangte, so endet auch Her, in neuerer 
und neuester Zeit, die Tonkunst niit der Hingebung an das Haterielle, 
das Teclinische der Knnst und dessen Zuffllligkeiten, mit der Anbe- 
quemung an die Natur der Instrumente durch Ausbildung der Gesangs- 
und Instaumentalvirtuositat. Der im Inneren wirkende Geist jerschwindet 
mehr tmcl mehr, und die Erfindnng zeigt sich vorzugsweise von Aeusser- 
lichkeiten bestimmt; die Instrumentalbegleitung, die anfangs fast gar 
nicht vorhandene, erlangt das Uebergewicht und erdruckt das Innere; 
hinsichtlich des geistigen Inhalts aber kommen nnr noch die gewohn- 
lichsten Alltagsstimmungen rnn nicht zu sagen krankhafte und gei- 
stig unwiirdige zur Darstellung. 



122 

Bezeictoien wir dem entspreclend die wesentlichen Eigenschaften 
der verschiedenen Epochen, so sind e auf der ersten Stufe Grosse und 
Erhabenheit, Tiefe und Ernst, verbunden noit einer gewissen Harte und 
Sciroffheit, welche Mer uberwiegend in ilirer vollendetsten Gestalt her- 
vortreteii. - Der kiinstlerisclie Geist yersenkt sich ganz in den ihm ge- 
gebenen hoheren Inlialt, und die tirchliche Kunst steht demzufolge auf 
dem Holiepunct ilirer AusMdung. Die zweite Epoche besitzt jene 
Erliabenheit nur noch als Eintergrund, und hat darum an strenger 
Kfrcblicbkeit, an Grosse und Holieit verloren; sie findet iliren Mittel- 
punct im Weltliclien, und ilire Grosse, wodurch sie a lies Vorausge- 
gangene weit ubertrifft, ist die Darstellung des rein Mensclilichen 
und der unendliclien Mannigfaltigkeit des Lebens. Aucb die dritte 
Epoclie, die des Verfalls, besitzt noeli EigentMmliches. Jetzt gelangt 
die sinaliclie Seite der Kunst, die Seite der Erscheinung, zu ihrem 
EeeMe und zu ilirer Vollendung, und wenn aucli an geistiger Bedeutung 
weit zorfickstehend und in Triyialitat versinkend, ware es docli durchaus 
ungerecht, diesen Erweiterungen der Teclinik alien Wertli abzuspreclien. 
Jede neue Kunststufe, indem sie Vorzlige der frtilieren einbusst, bringt 
neue Steigerungcn hinzu; alle Stufen aber sind Momento eines einigen 
Ganzen, welches nur in seinem Zusammenliange begriffen und wahrliaft 
gewurdigt werden kann. 

Die Feststellung dioser Sittze, die Hare Erfassung derselben ist von 
der grossten Wichtigkeit fiir eine objective Wiirdigung der Hauptmo- 
mente tier Zunstgescliichte. Noch bis auf den lieutigen Tag sind die 
besten Kenner uneinig und schwanken in Bxtremen der Atiffassung, weil 
diese Siitze zu wenig als die Grundlage einer jeden Beurthcilung der 
Gcschiclito angeselien werden. Dies naraentlich ist ins Auge zu fassen 
und ich bebe diesen Umstand bosondors horvor, weil er zu Imufig 
ubersehen wird , dass, wie iin Leben der Natur und cles Geistes 
uberhaupt jede Stufe, jedes Keicb, so bier jede Epoclie ilire besondere 
Grosse, aber aucli lire bosonderen Mangel besitzt, dass niclit eine auf 
Kosten tier anderen bevorzugt werden darf, im Gegentlieil jede in ilirer 
Eigenthfimliebkeit erkannt Bein will So ist nicht Palestrina auf 
Kosten der Spiiteren liervorzuheben, weil er dieselbeu an Hoheit fiber- 
ragt, ebensowenig wie er, gegen diese zurftckstehend an melodiBcliem 
Keiz, an sinnliclier Schonlieit, als den Vorstulen der Kunst angeliOrig 
zurtickgesetzt werden darf. 

Audi auf die Beurtlieilung der d outsell en Musik findet das Ge- 
sagte seine voile Anwentlmig, und entsclieiclet Fragen, die nocli jetzt 
iimner im entgegengesetzten Sinne beantwortet werden. Deutscbland 



bat in seiner gesehichtlichen Entwicklung dieselben Stadien durchlaufen, 
obschon, wie wir alsbald selien werdeu, Her nocli Anderes von ent- 
scheidender Wiclitigkeit geworden ist auch in Deutschland miissen 
wir zunachst Epoehen des erhabenen uncl des schonen Stils unterscheiden, 
und demznfolge Bacli und Handel als die letzten Reprasentanten 
jener ersteren, Gluck, Haydn und Mozart und' andere gleiehzeitige 
uncl spatere Meister als die Manner der zweiten, in der Mitte des vo- 
rigen Jahrhunderts beginnenden, bezeichnen. Mehr noch als dort aber 
begegnen wir hier einer unaufhorlichen TJeberscMtzung Bach's und 
Handel's im Hinblick aiif die grossen Naehfolger derselben, wir be- 
gegnen Ansichten, welche, alien musikalischen Buhni auf den Sclieitel 
jener Manner haufend. den Naehfolgern kaum die Ehre einer Steige- 
rnng und Erweiterung lassen rnoehten, wahrend umgekelirt die aus- 
schliesslichen Vertreter des Fortschritts, ebenso ungereeht, jene Heroen 
der Vorzeit in die Vorstufen der Kimst znriickversetzen, nncl denselben 
ofters keine liohere Bereclitignng einramnen wollen, als der syinbolischen 
Kunst der Aeg}-pter im Vergleicli nait der classiscien Holie der Sculp- 
tur in Griechenland. Auch. Her ist das Walire, die Eeprasentanten der 
Epochen aus den Stufen der Entwicklung, welche sie bezeiehnen,. zu 
begreifen, und ihre Vorzuge uncl Mangel nach den Principien, welelie 
aller Kunstentfaltung zu Grande liegen. abzuinessen. 

Inclem icli micli jetzt* zur Betrachtting der deutsclien Mus-ik 
wende, sincl diese Bemerkungen geeignet, dieselbe einzuleiten und bei 
diesern Wendepunct sowol ruckwarts wie vorwarts die Orientirung zu 
erleiclitern. 

Der erste Aufscliwung der deutschen Musik fallt in dieselbe Zeit 
(nur ein weniges friiher) als in Italien* Wie dort Palest rina den 
ersten grossen Mittelpunct bildete, so ward in Deutschland, wenn aucli 
kein Musiker, so doch der ausgesprochenste Musikfreund Luther 
Derjenige, von welchem unmittelbar die ersten Anregungeu zu einer 
weitausgreifenden Kunstentwicklung ausgingen. Die erste grosse Epoche 
der deutsehen Musik datirt von ihm an. Abweichend indess von Italien 
ist hier die Epoche des erhabenen Stils eine weit unifassenclere, nicht 
bios, was die zeitliche Ausdehnting betrifft, sondern auch Hnsichtlich 
der inneren Gestaltung, und wir sind genothigt, diesen . Abschnitt in 
Deutschland bit auf Bach und Handel anszudehnen. In Italien stellt 
sich die erste Entwicklungsstufe fast rm Laufe eines Jahrhunderts als 
abgescHossen dar, und ebensowenig haben innere wesentliche Umbil- 
dungen in derselben stattgefunden ; Deutschland wurde zurtickgehalten 
in seiner schnellen Entfaltung durch aussere Henimnisse, fand dafiir aber 



124 

GelegenMt, die in Italien unterdess neuentstandenen weltlichen Tormen 
aufzunehmen, und so den eben geltenden Standpunct mannigfach zu 
erweitern und umzug%stalten, weshalb wir innerhalb der ersten Stufe 
wieder kleinere, durch v. "Winter fold vortrefflich dargestellte Ent- 
wicklungskreise unterscheiden mfissen. Back und Handel haben 
diese Epoche abgesdilossen, indem sie das TJeberkomnaene mit Eiesen- 
kraft znsammenfassten und die Gesanunt-Vorzeit, den Gelialt der- 
selben in sich aufhahmen ; sie haben das Alte abgesclilossen, das Neue 
eroffhet, und sind deshalb als die grossen Wendepuncte in unserer 
Gesehiehte zti bezeichnen. Die vorausgegangenen grossen Leistungen 
auf dern Gebiet des evangelisclien Kircbengesanges nnd Bach und 
Handel sind die Spitzen eines Gebirges, durch Abgrunde und Zeit- 
kluffce getrennt, aber in der Wurzel eins. In beiden Musikern ist noch. 
jener alte Lutlier'scbe Geist, jene weltbezwingende Zuversioht des 
Gkubens; beide sind die letzfcen Denlcmale der maclitigen Glaubenshaft 
der Vorfahren* Jetzt trat bei uns die Tonkunst in ihre zweite Bpoclie 
ein, und die Oper gelangte zur Herrschaft. Kunstbegeisterung ver- 
drangte den friiheren religiosen Aufscliwung, und wir erblicken die 
Etiiistler erffillt yon einem rein weltlichen Inlialt. Die Fesseln wurden 
zersprengt, und immer raelir zeigt sich uns statt jener alten dogmati- 
sclien Gebundenlieit ein freies Waltenlassen des Genius, so dass jetzt in 
Deutschland, nach dem Tiefsinn und der Erbabenheit, die hochste xnusi- 
kalische Sclionheit zur Erselieinung koxnmen konnte. Wir liaben classelbe 
Schauspiel wie in Italien im 17. Jahrhundert Bei uns aber Mer 
der umgekelirte Fall wie in der letzten Epoclie mehr zusammenge- 
drangt und concentrirt, weil Deutschland die Vorarbeiten Italiens jetzt 
benutzen konnte. Wenn fralier Norddeutscliland vorzugsweise der Sitz 
unserer Tonkunst gewesen war, so sehen wir sehr bedeutsam , wie 
dieselbe jetzt 1m Stiden ihre Heimath findet. Der Boden fur jene tief- 
geistigen Schopfnngen konnte nur Norddeutschland sein. Als jedoch, 
im Gegensatz zu der frfiher tiberwiegenden Verstandesgewalt, das Herz, 
das Gemflth sich emancipate, und die Kunst im Weltlichen ihren Mittel- 
punct fand, als Phantasie und Empfindung inehr uncl mehr nach Ent- 
fesselung rangcn, war Oesterreich der geeignete Boden. Gluck, Haydn 
und Mozart wurden die Eeprasentanten dieses zweiten Zeitrauins, und 
zugleich trat die Instrunaentahnusik, cliese modernste Ktnstgattuug, ins 
Leben. 

Es kam mir, wie sclion bemerkt, bier beini Beginn der Betrachtung 
der deutschen Musik darauf an, voraus schon einen orientirenden Blick 
zu richten auf die Bahn, welche wir zu durehlaufen haben, und die 



125 

Hauptwendepuncte, die Hauptepochen festzustellen, dies zunaehst, in- 
dena ich das Analoge in der Eunstentwicklung beider Lander nachwies, 
dieselben Gesiehtspuncte aueh fur Erfassung der deutsclien Musik gel- 
tend machte. Aber in Deutschland ruhen noeh ganz andere Machte in 
der Tiefe des Geistes, und der bis jetzt bezeichnete Weg kann daher 
nur als die Grundrichtung, als die Basis bezeichnet werden, als der 
erste Schritt, den vielfach verzweigten Wendungen deutscher Tonkunst 
nachzugehen. 

Treten wir daher in einer vergleichenden Charakteristik der Kunst 
beider Lander auch der Verschiedenheit derselben naher, um so die ab- 
weichenden, for Erfassung der deutschen Musik besonders festzuhaltenden 
Gesichtspuncte zu gewinnen. 

Die BMtlie Italiens war das Eesultat frulierer Zeit, die damit ihre 
Vollendung erreielile und sich abschloss, das Kesultat der Jahrhunderte 
des Mittelalters. Als Palest rina auftrat, war eine Eestauration in der 
katholisclien Kirclie eingetreten. Die Mheren pracMiebenden, weltlichen 
Papste liatteu es gesclielien lassen, dass Koni der Scliauplatz des seMnd- 
licbsten, lascivsten Lebens, der Scliauplatz der grossten Verbrecten wurde. 
Jetzt wirkte die fiefonnation zuriick auf die katliolisclie Kirclie, und die 
Papste, sich besinnend, sucliten mit einem Male der alten Strenge und 
dem alten Lebensernst Eingang zu verscliaffen. Palest rina's Schopf- 
ungen fallen in diese Zeit; jene Kestauration war der Boden seiner 
Wirksamkeil 

DeutscHand eroffnet eine neue Zeit, und wird ZUDGL Trager des fort- 
schreitenden Geistes ; es zeigt darum eine werdende, in die Zukunft liin- 
ausgreifende, maclitig aus den Tiefen des Geistes kervordrangende Welt, 
und darum, wie wir spater sehen werden, zu einer Zeit, wo Italien 
in ErseHaffung sank, den macMigsten Aufscltwung. In Italien er- 
blicken wir eine fertige Welt, auch. in der Tonkunst, eine gewisse 
Sattigung und BeMedigung, eine Euhe der Vollendung, welche aUem 
Kampf und Streben entsagt hat. Der alte katholische Bau war aus- 
gezeichnet durch seine Ganzheit und Geschlossenheit, trotz aller Wider- 
spruche im Inneren, die durch aussere Autoritat niedergedruckt wurden. 
Die Kirche beherrsehte die Geister und betrachtete die Wahrheit als 
ein Monopol; dem Einzelnen war nicht gestattet, eine abweichende Mei- 
nung zu haben; ex trat ohne Selbststandigkeit ein in diese ausserlich 
vollendete Weli 

Im Protestantismus tritt der Einzelne aus dieser fertigen Welt her- 
aus und stellt sich auf sich selbst; das Indiyiduum wird fiir sich ein 



126 

abgesehlossenes Gauzes, eine "Welt allein. Damit ist das zunachst aller- 
dings ebenfalls einseitige Princip aufgestellt, welclies jener alten Welt 
als das holier berechtigte entgegentritt. An die Stelle der Einlieit tritt 
die Vielheit der Individuen imd Charaktere ; Manner, die in ilirem Inne- 
ren allein die Welt tragen und unifassen, sind in Deutsehland hervorge- 
treten, imd demzufolge ist em weit grosserer Beichthum an Stimmun- 
gen, eine weit reichere, in sich vertiefte Gefiililswelt, eine weit grossere 
Mannigfaltigkeit einzelner kiinstlerischer Individualitaten mi Erscheinung 
gekomnien. - DentscHands Eeieli ist die Zukunft, und mit seinem ersten 
selbststandigen Auftreten sclion erblicken wir die Perspective in eine un- 
endliclie Geisteswelt. So ist, wahrend der Katholicismus nocli die ilusser- 
lieliste, siniilicliste Erscheinung des Christenthunis ist, wahrend in Italien, 
als dem Sitz desselben, ausserdem antiker Geist vielfiiltig nacliwirkt, und 
darum dort das sinnliche Element als gleichmachtiges liervortritt, in 
Deutschland der Schauplatz alles Thims und Handelns, wie alles Schaffens, 
der Geist, und wir nitissen diesen Standpunct betreton, diese Erkenntniss 
geworyien liaben, wenn Wir jetzt die eigenthumliche Entwicklung des 
letzteren naher erfassen wollen. 

In Italien erblicken wir bei der Gleichheit des Inhalts, von welcliem 
Alle beseelt sind, bei der Unterordnung des Individuums unter das Be- 
stehende, die Autoritat der Kirche, etwas Gemeinsames auch. in der 
Kunst, einen grossen, a%erneinen Kunststil; Deutschland dagegen zeigt 
uns einen weit grosseren Eeichthum von Individualitaten, und die deut- 
sche Kunst bietet deni entsprechend bei aller Einheit itii Grossen und 
Ganzen das Bild einer uneudlicli grosseren Mannigfaltigkeit. Der Katlio- 
licismus zeigt uns Stufen, Grade und Unterschiede. Es sind nicht 
Alle in gleicher Weise der Walirheit theilhaftig. Wesentlich insbeson- 
dere ist der UnterscMed der Priester und Laien. Dies giebt der katho- 
lisclien Kircheninusik etwas Esoterisches. Im protestantischen Glaubens- 
bekenntniss sind Alle in gleicher Weise der Wahrheit theilhaftig, Alle 
sind aufgenommen in die Gemeinschaft. Die Tilgung jener Unter- 
schiede, welche der Katholicismus macht, verleiht unserer Kunst etwas 
Populares. Dort klingt die Musik voni Himmel herab, hier steigt sie 
als Gesang der Volker von der Erde zum Himmel empor. Dort ist 
der religiose Inhalt dargestellt als ein ausserzeitlicher, ewig sich gleich- 
bleibenoler, unberfihrt von dem Wechsel des Menschlichen, hier ist er 
eingegangen in das Leben des Individuums; hier erscheint er darum 
vorzugsweise subjectiv, dort objectiv. In Italien wirkte ausserdem, 
wie schon bemerkt, antiker Geist vielfaltig nach. Die Sculptur war die 
wesentliche Kunst des Alterthums, das Plastische das iiberwiegend Her- 



127 

vortretende. Anch die Musik der Italiener 1st plastisch; der Ausdruck 
1st bestimmt imd Mar, wahrend die deutsche Kunst etwas Verschwbn- 
mendes, eine die Hare Gestaltung iiberwaltigende romantisehe Sehn- 
sucht zeigt. So ernst die katholischen Texte sind, nirgends konnen 
die Italiener den Glanz und die Farbenpraeht ihres Vaterlandes, den 
ewig blauen Hrmxnel Italians, die Lust und Heiterkeit des Daseins ver- 
leugnen: aucli der Schmerz ist schon. Die deutsche Kunst vermag sel- 
tener zu ungetriibter Heiterkeit, zur Verklarang des Schmerzes, sich zu 
erheben. Correggio's heiliger Sebastian ist von Pfeilen durchbohrt, 
und doch. spriclit sicli hocliste Freudigkeit in seinem Gesiclit aus; in 
Deutschland vermag niclit einmal das Bewusstsein, den Heiland der 
"Welt geboren zu haben, die Maria aus ihrer demuthigen Haltung em- 
porzurichten. 

Indem icli DeutscUand mit dem Protestantismus identificire, ist da- 
mit niclit gesagt, class es nicM aucli bei uns eine katliolisehe Kunst ge- 
geben hatte; nur die des ersteren aber war die Tragerin des fortschrei- 
tenden Geistes, und die deutsche Kunst hat stets, namentlicli in der 
ersten Periode, einen vorwiegend protestantischen Charakter gezeigt. 
Ueberliaupt wurzelt alles hohere Geistesleben der letzten Jahrhunderte 
in der Hauptsache im protestantischen Princip, denn der Katholicismus 
hatte seit dem Auftreten des letzteren seine geschiehtliche Mission be- 
endet. Es ist eine traurige Verirrung moclerner Umsturztheorien, dem 
Katholicismus (oder wol gar der Kirche iiberhaupt) die Mhere Bereeh- 
tigung zu bestreiten, und das gewaltige Gebaude desselben als nur auf 
Betrag und Heuchelei gegrundet zu betrachten. Ein Blick auf das 
Grosse und Herrliche, was der Katholicismus in alien Kunsten her- 
vorgerufen hat, genugt, um die Unhaltbarkeit solcher Vorstellungen zu 
zeigen; aber eben so sehr ist zu sagen, dass mit clem Auftreten des 
protestantischen Princips das katholische in der Hauptsache seine Be- 
rechtigung verloren hatte, so wie gegenwartig schon das erstere in seiner 
unmittelbaren Gestalt nicht mehr die Spitze des Bewusstseins bildet, 
sondern durch die Wissenschaft, die Philosophic, zur geschichtlichen Ent- 
wicklungsstufe herabgesetzt erscheint. 

Zu diesen confessionellen Unterschieden kommen die der gesammten 
Bildung und Nationapat noch Mnzu. Das germanische und romanische 
Element ist das in der europaischen Bildung am meisten hervortretende, 
welches sieh aueh in den germanischen und romanischen Sprachen offen- 
bart. Das germanische Element ist das subjective, in sich gekehrte, 
beschauliche, das romanische das nach aussen strebende, sinnliche. Jenes 
^st traumerischer, phantasiereicher, gestaltloser, dieses anschaubarer, in 



fest begrenzten Umrissen zur Erscheinung kommend, plastischer. Jenes 
ist das Charakteristische der deutschen, dieses das der italienischen Ton- 
kunst Wie der Italiener in alien Lebensbeziehungen im engeren Zu 
sammenhange mit der Natur lebt, der Deutsche sich mehr dem Ge- 
danken Mngiebt, so ist dies auch in der Tonkunst zu bemerken. Im 
Grefahl des Deutsclien behauptet die geistige, in dem des Italieners die 
sinnliclie Gewalt die Herrscliaft. Jenes melir geistige Geftilil aussert 
sich in den Kiinsten als Streben nacli Charakteristik, dieses mehr 
sinnliclie als Streben nach ausserer Schonheit nnd Formvollen- 
dnng. Die protestantische Andacht um noch einmal diese Unter- 
schiede zu erwahnen ist eine geistigere, von der Intelligenz aus- 
gehende, die katholische eine unmittelbarere, sinnlichere, vom Gefiilil 
ausgehende. 

Es kana mir bei dieser vergleichenden Charakteristik darauf an, 
Ihre Blicke auf die unterscheidende EigentMmlichkeit beider Lander zu 
lenken, mn so durch den Gegensatz die Erkenntniss deutscher Kunst 
anzubahnen. Schon vorhin sprach ich aus, dass in der Tiefe des deut- 
schen Geistes noch ganz andere Machte ruhen, und die vorhin bezeich- 
nete, Italien analoge Entwicklung nur als der erste Schritt fur eine 
tiefere Erfassung betrachtet werden konne. Die uberwiegend geistige 
Eichtung Deutschlands ist die Ursache, dass seine Tonkunst nicht aus- 
schliesslich jene vorhin bezeichneten Stadien des erhabenen und schonen 
Stils, endlich die Epoche des Verfalls durehlaufen hat, nicht wie Italien 
in der Gegenwart in Sinnlichkeit untergegangen ist, im Gegentheil 
durch Beethoven einen neuen grossen Aufschwung genommen, fur 
die Kunst der Zukunft eine neue grosse Perspective eroffnet hat. Diese 
Uberwiegend geistige Natur hat Deutschlands Kunst stets emporgerissen 
aus einem zeitweiligen Versinken in Trivialitat; sie ist es, welche uns 
auch gegenwartig die Btirgschaft gewahrt fur fortgesetzte lebendige Pro- 
ductivitat. Diese Unbegrenztheit der Entwicklung, begrundet in der Un- 
endlichkeit des Geistes, hat Deutschland vor Italien, welches nur einen 
bestimmten, streng abgemessenen Kreislauf zurtickgelegt hat, und dann 
zurticksank, voraus. Sie ist es, welche uns als das erste unterscheidende 
Merkmal deutscher Tonkunst entgegentritt. 

Bin zweiter Umstand, von entscheidender Wichtigkeit fur die Auf- 
fassung nnserer Musik, ist folgender. 

Es ist bis jetzt die weltgeschichtliche Aufgabe Deutschlands gewe- 
sen, alle anderen Volksgeister um den Thron seiner Universalmonarchie 
zu versammeln. Wahrend die ubrigen Nationen allein ihre gesonderte 



. 12 g 

Individuality ausbildeten und in dieser verharrten, war es der Beruf 
Deutschlancls, auf clem Grande seiner EigentMnilichkeit sich m einer 
weithin scliauenclen Universalitat zu erheben, die Individuality der 
anderen Volker in sicli aufzunehmen und zu einem grossen Ganzen zu- 
sainmenzufassen. Beispiele bietet Ihnen unser gesanimtes Geistesleben, 
unsere PhilosopMe, unsere Poesie, und ich brauche nur an Manner wie 
Schelling, Hegel, Goethe, 'Ruckert zu erinnern, um Sie sogleich 
von der Wahrheit des Gesagten zu uberzeugen. Unsere PMlosopMe hat 
die ganze bislierige WeltentwicMung zu einem grossen Ganzen zusain- 
mengefasst. Goetlie liat die griecMsche Welt nach Deutsehland ver- 
pfianzt ich erwahnte diesen Umstand scion einmal bei anderer Ge- 
legenheit , Ruckert deni deutschen Geiste die ganze orientalisehe 
Welt angeeignet. Diese Bestiinmung Deutschlands giebt auch seiner 
Tonkunst noch eine zweite Wendung. Deutselland besitzt nicht bios 
eine nationale Tonkunst im engeren Sinne; es hat, die Stile Frankreiclis, 
Italians mit seiner Eigenthtodichkeit verscliinelzend, eine Weltmusik 
geschaffen, und zunachst dadurch schon den Gipfel der gesammten 
musikalischen Entwicklung erstiegen. Es war zuerst die italienische 
Richtung, welche wesentliclien Einfluss in Deutschland erlangte, und das 
stets wiederholte, bis auf die neueste Zeit fortgehende, abweehselnde 
Sich-anzielien und -abstossen des italienischen und deutschen Princips, 
die stets wiederliolten Versuche naeh universeller Durchdiingung und 
Einigung bilden eines der Haiiptentwicklungsgesetze unserer Tonkunst. 
In der alteren Zeit erlangte die venetianische ScEule einen nicht unbe- 
deutenden Einfluss auf Deutscbland, mehrere der grossten Meister stan- 
den unter der Einwirkung derselben und waren in Yenedig gebildet. 
Spater folgte Handel bis in sein hohes Manaesalter den Bahnen der 
ItaHener, und vollbrachte damit die Einigtmg beider Principe schon auf 
einer hoheren Stufe. Diese italienischen Einfltisse sind es, welche ihn 
wesentHch von deni rein deutschen Bach unterscheiden. Gleichzeitig 
herrschte die italienische Oper in Deutschland, und noch aus der zwei- 
ten Halfte des vorigen Jahrhunderts sind mehrere Manner zu nennen, 
welche dieser Richtung ausschliessHch huldigten, so namentlich der 
Dresdener Kapellmeister Hasse. Weiter trat das Princip der franzosi- 
schen grossen Oper, durch Gluck reprasentirt, in die Entwicklung ein. 
Endlich, nachdem auch diese Seite angeeignet, auf deutschem Boden 
zur Ausbildung gediehen, war die Moglichkeit einer umfassenden Eini- 
gung aller Richtungen gegeben, konnte das bis dahin Yereinzelte zu 
einem grossen Ganzen zusammengefasst werden. Dies war die That 
Mozart's, welcher den universellen Beruf Deutschlands auf dem Ge- 

9 



130 

blet der Tonkunst erfullte und in Polge dieser Stellung auf dieser Stufe 
den Hohepunct der musikalischen Entwicklung bildet. Die deutsche 
und italienisclie Musik sind Gegensatze, auf der abstracteren Natur des 
Deutsclien und der mehr sinnlichen des Italieners beruhend, Gegensatze, 
sici zu erganzen berufen. In Italien sehen wir deslialb iiberwiegend 
das melodische Princip vertreten, wahrend Deutschland das Land der 
Harmonie, der Polyphonie, des Mheren Contrapuncts 1st. Aucli Frank- 
reich vertritt ein eigenthumliches Princip, obschon es zunachst nur die 
Stellung zwischen diesen Gegensatzen einzunehmen scheint. Das Wesen 
des Eranzosen ist auf der einen Seite niehr sinnliche Lebendigkeit, auf 
der anderen eine abstracte Verstandigkeit, ohne dass diese Gegensatze 
ihre liohere Einigung und Verschmelzung iinden. So sehen wir bei ilnn 
niclit jenes Gleichgewiclit von Phantasie, Gefiilil und Verstand, wie in 
Deutschland, wir Iiaben niclit jene plastisclie Schonlieit, wie in Italien. 
Die franzosisclie Musik neigt aus diesem Grunde bald melir zur italie- 
nisohen, bald zur deutschen Eichtung Mn; eigentliumlicli aber ist 
derselben in Folge jener sinnliclien Lebendigkeit und abstracten Verstan- 
digkeit das Vorwalten des rhytlimischen Elements. Die franzosische, 
deutsche und italienisclie Musik sind als ein wesentlieli Zusammenge- 
horiges zu betrachten. Jedes dieser Lander liat eine bestimmte Seite 
der Tonkunst zur Darstellung gebracht, jedem ist eine bestimmte Auf- 
gabe iibergeben, und wir Iiaben die Anschauung von sicli wechselseitig 
erganzenden, zusammen ein grosses Ganzes bildenden Kunststilen in 
der europaisclien Musik. Deutscliland aber, in Polge seiner Universalitat, 
bietet uns dasselbe Bild im Besonderen, welches uns die BetracMung der 
europaisclien Musik im Allgemeinen gewabrt. 

Neben den im Eingang der heutigen Vorlesung charakterisirten 
Hauptstadien der Entwicklung sind es daher bei uns zwei Momente 
die tiberwiegencl geistige Natur Deutsclilands und die universelle Be- 
stimmung desselben, die ihm vorschreibt, nacli Durchdringung und Er- 
ffikmg durch andere Volksgeister zu streben ? welche unserer Kunst 
einen wesentlich verscMedenen Cliarakter verleihen. Durcli die Ein- 
wtrkimg Italiens liauptsachlicli wird bei uns der Schritt zur schonen 
Periode vollbracht. Die deutsche Musik nimmt die Sinnliclikeit Italiens 
in sick auf, sattigt sich an derselben, und es giebt Epochen, wo sie 
scheinbar darin untergelit. Aber dap, stets sich. wieder geltend machende 
geistige Element hebt dieselbe wieder aus dieser Versunkenheit hervor, 
und jene Verschmelzung hat nur dazu gedient, das Hochste der Kunst 
zu erreichen: Tiefe deutscher Charakteristik verbunden mit dem Zauber 
italienischer Schonheit. 



A 04 

1O.L 

Icli habe hente Ihre Aufmerksamkeit nur fur Betraehtungen in An- 
spruch genonunen ; wollte icli dieselben nocli welter ausdehnen, so nxusste 
ich furchten, Sie m ermuden. Icli breche daLer Mer ab. Im Yerlauf 
cler Darstellung warden wir auf das Her Gesagte nocli ofters zuract- 
kommen mussen, und es reiclit dalier aus, um, was icli bezweckte, beim 
Eiugang Ihnen die witihtigsten Qesichtspuncte zu bezeiclinen. In der 
nachsten Vorlesung konnen wir uns sogleich zur Betraclitung der deut- 
sclien Musik wenden. 



Achte Vorlesung, 



Erste Anfange der deutschen ilusik. Luther. Der evangelische Gemeindegesang. 
Quellen desselben. "Walther. Senfl. Allgemeine Eintlieiltmg. 

Nachdem wir die vorige Vorlesung allein der Orientirung liber den 
zurflckgelegten Weg sowol, wie iibor den noch bevorstehenden gewidmet 
laben, konnen wir uns heute sogleich mi Betrachtung der deutschen 
Musik wenden. Icli beginne die Darstellung derselben mit dem 16, 
Jahrlmndert, mit demselben Zeitabschnitt demnacli, welder auch in 
Italien nnseren Ausgangspnnct bildete. AUes, was Bedeutendes auf 
deni Gebiet der Tonkunst in Deutscliland geleistet worden 1st, datirt 
von diesem Zeitpunct an. AHerdings konnen in Deutscliland sclion 
aus fruheren Jalirliunderten musikalisclie Bestrebungen namhaft gemacht 
werden, aber es waren dies Alles nur zerstreute Anfange; der erste 
grosse Aufscliwung fallt, wie in Italien, ins 16. Jalirhimderi Die 
protestantische Kirclie war es, wie schon in der vorigen Stunde und 
frulier bemerkt wurde, welche die Grundlage bildet fiir die Entwicklung 
der deutschen Musik. Die Musik war die Kunst der Zeit, sie bot den 
enfcspreclienden Ausdrucfc fur das erwachende hohere Bewusstsein, und 
wir sehen sie daher mit der Kirche selbst sich gemeinschaftlich ent- 
wickeln. IVie sehr das Erstere der Fall, wie sehr sie die entsprechende 
Ktinsfc jener Zeit gewesen, besonders unter den Evangelischen,' erkennen 
wir nicht allein aus ihr selbst, sondern aus vielen begeisterten Lob- 
spruchen, welche ihr nach Luther's Vorgang gespendet wurden. In 
einer Ton innen heraus gewaltig aufgeregten Zeit, sagt v. Winter- 
feld, wie keine wol wieder gewesen, einer Zeit voll des lebendigsten 
Dranges nach innerer und ausserer Erneuung, und deshalb auch der 
hartnackigsten Karnpfe, der heftigsten Zerwiirfnisse und neben gesunder 
und hoffnungsreicher Entfaltung eines neuen Lebens auch der wahn-< 



133 

sinnigsten Zerrbilder, wodurch dieses getrubt wurde; in einer solchen 
Zeit war die Tonkunst, in der das VerscMedenartigste, scheinbar Wider- 
strebendste in Wohllaut sich aufloste, imd je langer je mehr die tiefste 
Seele des vereint Zusammenklingenden offenbarte, eine wahrhafte Er- 
quickung und Starkung auf dem Lebenswege, ihrem innersten Wesen 
nach die Verheissung einer schoneren, friedevollen, das Getrennte, ohne 
des Einzelnen Eigentlitimliclikeit aufzuheben, vereinenden Znkunft. "Was 
in Italien Palest rina und dessen Schule far die gesanmite Tonkunst 
dieses Landes wurde, das ist in Deutschland Luther und die prote- 
stantische Kirche, nattirlicli mit dem grossen Unterschiedj dass dort von 
einem unmittelbaren, Mer nur von einem uaittelbaren Kunstwirken die 
Eede sein kann ; sodann t auch weiter mit dem, class bei uns das Meiste 
vom Volke ausging, wahrend es dort von den Eegierungen hervor- 
genifen wurde. Die protestantisclie Kunst hat etwas entscMeden Po- 
pulares, Volksmassiges, wie ich schon in der vorigen Stunde bernerkte, 
und dies niclit bios in ilirem inneren Charakfcer, soadern auch nach 
aussen bin. In Italien erblicken wir uberliaupt von Haus aus sogleicli 
das kunstlerisclie Interesse mit dem religiosen gleich entscMeden lier- 
vortretend, wahrend bei uns in der That das erstere gegen das letztere 
zurackstand. So gross und reich auch die Entwicklung der Tonkunst 
innerhalb des protestantischen Glaubensbekenntnisses sich darstellt, so 
hat doch Eoclilitz durchaus nicht Unrecht, \venn er im engeren, 
ktinstlerischen Sinne die Bedingungen in Deutschland als weit ungtin- 
stiger bezeichnet. Italien bluhte zu Palest rina's Zeit im Qlanze 
hoclister Cultur und feinsten geselligen Lebens. In alien Gebieten 
geistiger Thatigkeit batten Manner von reicher schopferischer Kraft die 
Nation verherrlieht. Das Geistreiche wurde von den Grossen bemerkt, 
geschatzt, sie selbst rechneten es sich zur hochsten Ehre, Mitgenossen 
desselben sein zu konnen. *Die Kiinstler lebten tiberwiegend in welt- 
lichem Glanz und warden ausgezeichnet auf jede Weise. Was Musik 
betrifft, so wendeten die Papste die eifrigste Sorgfalt an, urn die Aus- 
bildung dieser Kunst zu befordern. Blfihende Musikschulen versam- 
melten bald die Talente der Nation, und gemeinschaftliehes Streben 
begeisterte die Einzelnen und steigerte die Kraft der Gesaxnnitheit. 
Von Alledem war in Deutschland nicht die Eede; fast das Umgekehrte 
flnden wir, wenn wir jene Zeit betrachten: eine niedergedriickte, storrige, 
zum Theil noch. in Dumpfheit versunkene, durch aussere und imiere 
Drangsale und rohe Bedruckungen zerruttete Nation; statt der italie- 
nischen Eeinheit Starrheit, Unbeholfenheit, Rohheit; Ftirsten, welche 
ihre Aufgabe nicht erkannten; Kunst und Wissenschaft nur als Eigen- 



A Q 

JOrfc 

thum weniger durch das Gesehick Begunstigter. Bildungsanstalten fiir 
Musik im Sinne Italiens gab es nicht, noch viel weniger waren die 
Ktinstler der Melirzahl nacli in den Stand gesetzt, an wissenschaftlicher 
Ausbildung theilzunehmen. Jeder arbeitet auf eigene Hand und erreieht, 
was sich anf solche Weise erreichen lasst. Italien ist reicli, besitzt 
die Mittel zu grSsseren Unternehinungen for die Kunst, Deutschland 
ist arm, und die Ktinstler sind genothigt, mit den Muhseligkeiten des 
Lebens zu kampfen; dort ruffc "wirksame Unterstutzung von oben die 
Bluthe der Kunst ins Leben, in Deiitschland gelit das Neue aus den 
untersten Classen des Volkes hervor. 

Eragen Sie, welcbes die Zeit ist, in welcher wir den ersten An- 
fangen der Tonktmst begegnen, so sind wir genothigt, wol zwei 
Jahrhunderte zurltckzngelien. Die Niederlande , DeutscMand spracb,-, 
stanrm- und geistesverwandt , ausserten bald ilire Einwirkung auf das 
letztere, so dass auch Mer die neue Kunst scbon friibzeitig Pflege und Aus- 
biJdung fand. Aus den letzten Jalirzehnten des 15. und dein Anfang des 16. 
Jahriranderts aber sind schon mehrere trefflicbe Contrapunctisten zu nennen, 
u. A. Adam de Fulda, Stephan Mab.u, Heinricl Finck undganz 
besonders He in rich Isaac. Docb dies bezeicbnet alleiu die TMtigkeit 
der Schule, dies begreiffc allein die steigende Ausbildung des Contrapuncts 
in sick ISTeben dieser schulinassigen Tbatigkeit erblicken wir jeclocb 
scion eine lebendige Kunsttibung. Der alte lateiniscbe, der gregori- 
anisclie Kircbengesang war natiirlicb aucb in Deutscbland heimisch. 
War derselbe auch zu Luther's Zeit tief gesunken (Luther stelltmit 
Bezug Merauf eine schone, feine, lieblicbe Musica deni wiisten, wilden 
Eselsgeschrei des Chorals unter welch em Worte man zu jener Zeit 
nur " den eigentlich liturgischen, yon dem Priester- oder Sangerchor 
Yorzutragenden, altkirchlichen, einstimmigen Gesang verstand enfr- 
gegen), so war derselbe doch in seiner frSieren Eeinheit eine wtirdige 
Grundlage fur jede spatere Entwicklung. Aber auch einen deutschen 
religiSsen Gesang finden wir, wenn auch vereinzelt, schon seit mehreren 
Jahrhunderten , und endlich war es das weltliche Lied, clas Volks- 
liecl, dieses Erzeugniss eines unbewussten, instinctartigen Kunsttriebes, 
welches den Beruf des deutschen Volkes ftir Tondichtung kundgab. 

Ich habe nun auf die Sache selbst naher einzugehen, und folg^ 
hier der schon genannten ausgezeichneten Schrift v. Win t erf eld's 
fiber den evangelischen Kirchengesang. Es ist durch diesen Forscher 
das GrBsste und Herrlichste geleistet worden, und ich habe nur zu 
bedauern, dass ieh mich in dieser Darstellung auf die Angabe eimger 
Hauptpuncte beschranken muss. 



A QX 

JLOO ~ 

Wenngleich die Eeformation zunachst nicht von der Verbesserung 
der gottesdienstlichen Uebungen und Gebrauche ausging, so standen 
doch schon die beim Beginn festgestellten religiosen Grundsatze zu 
selir in "Widerspruch mit dera Bestehefiden, und cles Mangelhaften und 
Unzwechnassigen war ausserdein in dem bisher Geltenden zu viel, als 
dass nicht alsbald Luther genothigt gewesen ware, seine Thatigkeit aucli 
nach dieser Seite Mn zu wenden. Dass bei dieser Gelegenlieit aueh die Musik 
und die Stellung derselben zran Gottesdienst zur Sprache kam, lag nake. 
Einsicht und GefuH, ein reiches Talent for Poesie und Gesang, Selbst- 
standigkeit des Drtheils und Achtung vor dem Yolks- und Alterthiirn- 
lichen, Liebe zum Gesang und frtih schon erworbene Kenntniss des 
Praktisclien Eigenschaften, welche sicli selten beisammen finden 
zeichneten den grossen, weltbewegenden Mann aus, und setzten ilin in 
den Stand, auch Refonnator des Erchengesanges zu werden. Eine 
Menge der begeistertsten Lobspruche, welche er der Musik spendete, 
findet sicli in seinen Werken: Musica habe ich aEzeit lieb gehabt; ich 
wollte meine geringe Musica nicht um was Grosses dahin geben; 
wer die Musicam verachtet, wie die meisten Schwarmer thun, mit deni 
bin ich nicht zufrieden. Musica ist eine halbe Disciplin und Zucht- 
meisterin, so die Leute gelinder und sanftmuthiger, sittsamer und ver- 
ntinftiger inach^ Singen ist die beste Kunst und Uebung. Wer diese 
Kimst kann, der ist guter Art, zu Alleni geschickt. Sanger sincl auch 
nicht sorgfaltig, sondern sind frohlich und schlagen die Sorgen init 
Singen aus und hinweg; es ist kein Zweifel, es steckt der Saame 
vieler guten Tugenden in solchen Gemuthern, die der Musik ergeben 
sind. Die aber nicht davon geruhrt werden, die halte ich den Stocken 
und Steinefi. gleich; ich halte ganzlich dafiir, und schaine mich auch 
nicht zu bejahen, dass nach der Theologie keine Kunst sei, welche mit 
der Musik zu vergleichen ist, u. s. w. Eine wie grosse, einer solchen 
Begeisterung entsprechende Empfanglichkeit for die Einwirkungen der 
Musik Luther besessen haben mag, zeigt eine Aaekdote, welche ein 
gewisser MatthausEatzebergerin seiner auf der Gothaischen Biblio- 
thek befindlichen handschriffclichen Lebensbeschreibung des Eeformators 
erzahlt und die hier im Vorubergehen eine Stelle finden mag: Nachdem 
Luther im Anfange seines Kampfes wider die papstliehen Missbrauche 
offentlich die vornehmsten Potentaten durchs ganze Keich zu befehclen 
hatte, und auch sonst privatim yom Satanas grosse Anfechtungen aus- 
stehen musste, begab sich's oftmals, dass ilin derselbe, wenn er sich 
auf seine Schreibstube zuruckgezogen, auf mancherlei Weise und Wege 
tobirte. Einst kam Lucas Edemberger, Praceptor Herzogs Ernst 



136 

m Saclisen, mit Mehreren, ran einen Besuch zu machen. Er erfuhr, 
dass Luther sicli in seiner Sttibe verschlossen, langere Zeit hindureh 
nicht geoffnet, auch Nahrangsniittel nicht verlangt babe. Die Tlifir 
wnrde nach wiederholtem Klopfen nicht geoffnet;. endlicli schante 
Edemberger durchs SchMsselloch, und erblickte Mer Luther ohn~ 
maclitig mit ausgebreiteten Arraen am Boden liegend. Er offnete die 
TMr mit Gewalt, richtete Luther auf und fing mit seinen Begleitern 
alsbald zu musiciren an. Da solelies geschah, kam Luther alsbald zu 
sick, eg verging ihm sein Schwennuth und Traurigkeit, so dass er 
anfing, alsbald selbst mit zu singen, gedachten Luc am und seine Ge- 
sellen bat, sie wollten ilm ja oft besuchen, insonderheit wenn sie Lust 
zu singen batten, und sich nicht irren und abweisen lassen, hatte er 
auch zu schaffen, was er wolle. Tiefere Kenntniss der Musik in- 
dess, welche roan ihm bisher beizulegen gewohnt^war, hat Luther, 
nach Win t erf eld's Forschungen, nicht besessen, Seine eigene Thatig- 
keit war im Ganzen eine mehr dilettantische, und nur das eine Lied: 
Ein' feste Burg u. s. w. macht eine gewaltige Ansnahme, zum Zeug- 
niss dafor, wie ein Genius wie Luther wol auch eimnal in einem 
ihm nicht eigentlicli zugehorigen Gebiet .Etwas schaffen kann, was dann 
auch sogleich die Leistungen des speciell dafttr befahigten Talents 
weit iiberragt. 

Zwei kleine Schriften aus den 20er Jahren cles 16. Jahrhundorts 
sind es: )5 Von der Ordnung des Gottesdienst in der Gemeine", und: ,,Die 
weyse der Mess, und die genyessung des Hochwirdigen Sacraments", 
welche Luther's Willen enthalten in Bezug auf das Aeussere, tiber- 
haupt afles das, was der gereinigten Kii'che Noth that in ihrem Gottes- 
dienst, Die kirchliche Feier soil sich knupfen an die dor alten Kirche, 
unter Abthuung der Heiligenfeste, mit Ausnahme der Eeinigung uud 
Verkundigimg Maria, selbst ihrer Geburt und Aufnahme in den Himmel, 
die eine Zeit lang noch bleiben durffcen u. s. w. ; aber die Summa sei, 
dass es ja Alles geschehe, ,,dass das Wort in Schwang gelie und nicht 
wieder ein Plarren und Tonen claraus werde, wie bisher gewesen 1st" 
u. s. w, Luther geht mit grosser Schonung des Alten zu Werke. 
Hauptbestimmung war, dass aller Gesang beim Gottesdienst deutsch 
sein solle; nur fur die hohen Peste wurden die lateinischen Gesange 
noch beibehalten, ,,bis man teutsch Gesang geimg dazu hat", Nur 
das Morsche und Unhaltbare, das Schadliche und Seelenverderbliche ' 
sollte abgethan, dem Aergemisse gewehrt, dem Bossoren ttberall der 
Veg gebahnt, nirgends abor gewaltsam eingerisson word en. ,,Es sind 
unsere Kirehen" sagt er selbst im Jahre 1541 ,,Gottlob! so 



137 

zugeriehtet, dass ein Laye, oder Wallon, oder Spanier, der unsere Predigt 
nicM verstehen konnte. wenn er sahe unsere Messe, Chor, Orgeln, 
Glocken, Casein und dergleiehen, wiirde er mtissen sagen, es ware 
eine rechte papstliche Kirche und kein Untersehied, oder gar wenig, 
gegen die, so sie selbst unter einander haben", Eine natuiiiche Folge 
dieser Schonung war, class er jetzt bei Erscliaffung des den protestan- 
tisehen Kirchen eigenthtimlichen geistliclien Volksgesanges aus der 
alten Kirclie aufnahni, was ihm nur irgend zweckmassig sehien. Er 
trug kein Bedenken, dies zu thun. und liess es sicli nur angelegen 
sein, der neuen Anscliauungsweise anstossige Texte zu entfernen: ,.Zu 
dem haben wir auch", heisst es unter Anderem in einer Vorrede zu 
einem Gesangbuch, ,.zum guten Exempel, die sclionen Musica oder Ge- 
sange, so im Papstthuin, in Vigilien, Seelmessen und Begrabniss 
gebraucht sind, genomnien. der etliche in dies BiicMein drucken lassen 
und wollen mit der Zeit derselben meki* nehmen, oder wer es besser 
verrnag denn wii* 3 nocli andere Texte darunter gesetzt, daxoit unseren 
Artikel der Auferstehimg zu sckoiticken, niclit das Pegfeuer mit seiner 
Pein und Genugfchuung, daffir ilire Verstorbene niclit schlafen noch 
mhen konnen. Der Gesang und die Noten sind kostlicli. Schade 
ware es, dass sie sollten untergehen, aber unchristlicb. und ungereimt 
sind die Text und Wort, die sollten untergehen". Fassen wir die Ge- 
sange znsammen, welclie im Laufe des 16. Jalirliunderts der romiscli- 
katliolisclien Kirche auf diese "Weise entlehnt und der neuen evan- 
gelischen Eoi-clie zngefthrt wurden, so bemerken wir unter diesen 
besonders diejerdgen, welclie dem otne Zweifel altesten Scliatze der 
fruheren Ejrche, den Hymnen, entnominen sind. Der erste Hymnus 
dieser Art ist der weniger verbreitete: Pange lingua yloriosi corporis 
mysterium, Mein' Zung' erkling' und frohHeh. sing*; der zweite: Veni 
redemptor gentium^ Nun konim der Heiden Heiland, gewShnlicli dem 
heil. Ambrosius zugeschrieben ; der dritte: -4 soils ortus cardine, 
Christina, wir sollen loben schon, aus dem 5. Jahrhundert; der vierte: 
Veni creator spiritus, Koimn Gott SchOpfer, heiliger Geist, aus dem 
Encle des 8. Jahrlranderts ; der funfte: Christe qui IILS, Cbriste, der du 
bist Tag und Licht; der sechste> Te Deum laudamm. Hen* Gott, dich 
loben wir; endlicli der siebente und letzte: lux leata Trinitas, Der 
Du bist Drei in Einigkeii Allein nicht bios dieser alteste Schate der 
romisch-katholischen Kirche wurde zum erneuten Gebrauch in Anwen- 
dung gebraclit, auch eine andere etwas spatere Hymnengattung, die 
sogenannten Sequenzen oder Prosen, wurden benutzt und entspreehend 
unigestaltet. Diese Sequenzen, welche ihren Ursprung von Notker 



138 

dem Stammler, einem Benedictinennoncli zu St. Gallen, gesi 912, 
herleiten, wurden unmittelbar nach clem Alleluja, kurz vor der Ver- 
kilndigung des Evangeliums eingeschaltet. Schon iin 9. Jahrhundert 
erlaubte der Papst Nicola us, dieselben in der Kirche einzufuhren, und 
sie verbreiteten sich in Folge des allgemeinen Beifalls, der ihnen zu 
Iheil wurde, auch ausserhalb der Schweiz. Von dieser Gattung, deren 
ziemlich. bedeutende Anzahl die romische Kirclie im Laufe der Zeit auf 
ffiraf reducirte (darunter auch das Stabat mater) nalim die evangelisclie 
Kirche drei in ilire Saininlungen auf: Salve festa dies, Also heilig ist 
der Tag; Grates nunc ovmes reddamus Domino Deo, Lobt Gott, o 
lieben Christen; Mittit ad rirpinem, Als der gtitige Gott vollenclen 
wollt sein Wort. Dass der evangelisehe Gesang so an das schon in 
der Yorzeit Gegebene ankniipfte, erhellt aus der bislierigen Darstellung. 
Allein er nahm durch. das, was er schuf, nicht ein vollig neues, vor 
ikm noch nichfc angebautes Gebiet in Besitz; schon vor der Kirehen- 
verbesserung gab es deutschen geistlichen Gesang. Dieser war zugleich 
fur den evangelisclien eine zweite Quelle. Es waren zuniichst nament- 
licli Marienliecler, funf an der Zahl, welche aufgenoromen wiu*den; doch 
diese versehwanden schon mit Anfang des 17. Jahrhunderts wieder. 
Doppelt so viel sind jedoch zu nennen, welche .bis auf unsere Tage 
geHieben sind. HierMn gehoren die bekannten: Christ ist erstanden, 
aus der Mitfce des J2. Jahrhunderts, das Pfingstlied: Nun bitten wir 
clen heil'gen Geist u. m, a. Alle diese trefflichen Gesange nahm 
Luther mit weiser Miissigung getreu seinem Worte und seiner Ueber- 
zeugimg. dass dieselben ,,kostlich" seien, in die evangelisehe Kirche 
auf und gestaltete nur diejenigen auf zarte, oft nur wenige "Worte ver- 
andernde Weise urn, deren Inhalt der neuon Lehi'e widersprechend sein 
musste. Allein der Drang nach neuen Melodien, die Begeisterung 
fitr den Mrchlichen Volksgesang konnte sich bei dem raschen Wachs- 
thum der neuen Lehre nicht mit dem begniigen, was aus den schon 
erwahnten Quellen floss, und man war daher, um dem rmmer ge- 
steigerten Bedurfoiss nachzukommeu, genothigt, die Blicke noch auf 
andere Gebiete zu richten, um auch Her Brauchbares for die Zwecke 
der neuen Kirclie zu benufaen: es war dies der weltliche, der Volks- 
gesang. Der Kirchengesang der Evangelischen war seiner Natur und 
Bestiminung zufolge ein volksmiissigor ; er sollte Genang der ganzen 
Gemeincle sein. Hier aber, bei der Benutzung des Volkslieds, gait es, 
nicht clem woltlichen. Sinn zu schmeicheln, sondern das ursprtinglich 
Weltliche hinwegzuthun, und was ihm bisher als Schmuck gedient und 
aussere Zierde, fur einen hoheren Zweck zu weihon, zu heiligen. Da 



139 

tins Sammlungen von Volksliedern jener Zeit erhalten sind, so setzen 
uns diese in den Stand, Yergleiehe anzustellen, und eine namhafte 
AnzaH von Melodien zu entdeeken, welclie aufgenommen wurden. Ini 
Allgemeinen sei bemerkt, dass dieses Verfahren, so befremdend es uns 
im ersten Augenblick erscheinen mag, so wundeiiich die Contraste 
zwischen den urspriinglichen Texten und den spfiteren, Mrchlichen sind, 
doch nicht als ein anstossiges erscheinen darf. Yon den MederlSndern 
her, wo ansser gregorianischen Melodien ebenfalls weltliche Weisen zur 
Grundlage kirchlicher Conapositionen gemacht warden, kennen Sie schon 
dieses Verfahren. Aber dieser Umstand for sich allein wiirde werdg 
entscheiden, obschon es nalie lag, dass man, inn den Vorratli kirchlicher 
Gesange zn bereichern, zu einem Mittel griff, welclies in clem verwandten 
Kiinstgesange nicht nur schon weit und breit gebrauchlicli war, sondern 
aucb den Vorzug liatte, dass die aus Volksliedern auf diese "Weise ent- 
standenen Eirchengesange dein Volke leichter nahe gebracht werden 
konnten. In jener Zeit aber war Geistliches und Weltliclies uberhaupt 
weniger streng gescMeden, das Weltlicbe noch nicht ein far sich Be- 
stehendes, getrennt von dem Kirehlichen, ira Gegentlieil das Letztere das 
Alles Umfassende. Die YerseMedenheit zwisclien geistlichen imd welt- 
lichen Weisen jener Zeit ist daher gar nicht so gross, und indem es 
clarauf ankam, einen kii-chlichen Yolksgesang zn schaffen, konnte es kaura 
etwas Forderliclieres geben, als gerade dieses Verfahi-en. Der Yolks- 
gesang, von storenden Elementen befreit, wuchs in die Eirche hinein, 
Mer immer festere Wnrzeln schlagend und zugleich diese auf popularer 
Basis begrfindend. Finden wir daher auch Zusanimenstelliingen wie 
folgende: Ach mein Gott, sprich mir freundlich zu Ein Magdlein 
sprach mir freundlich zu; Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst 
und Noth Venus, du und dein Kind, sind alle beide blind; Ich 
anner Sunder klag mich selir Ich arro.es Magdlein klag mich sehrj 
Jesu, der du rneine Seele Lachet nicht ihr Schaferinnen; Gott im 
hochsten Throne, schau auf der Menschen Kind Schfrrz dich, Gretlein, 
schtirz dich u. s, , so wissen wir, wie Derartiges zu nehmen, 
und sind weit entfernt, eine Profanation darin zu erblicken. Der 
eigenen Thatigkeit Luther's endlich fur Mehrung der Gesange seiner 
Kirche wurde schon gedacht, und bemerkt, dass clieselbe nicht eine so 
grosse gewesen ist, wie man friihef glaubte. Manches Lied fur den 
Gesang der Gemeinde, bemerkt v. Winter fe Id, entstand ihm wolil 
mit seiner Singweise zugleich, andere dichtete er auf sclione geistliche 
Weisen der Yorzeit, damit der Schatz, den die alte Kirche an ihnen 
besessen, nicht verloren gehe, sondern bedeutungsvoller, reiner aufe 



140 

Neue ins Leben trete. Ein Mai jedocli nur, soviel wir wissen, aus 
tiefer, heiliger Begeisterung, sein eigenstes Wesen in das Wort, in den 
Ton ergiessend, es in seiner ganzen Ffille ausstrahlend, gelang ihm, 
wie sclion vorhin erwahnt, Lied und Weise yon der friscliesten, nicM 
wieder erreicliten Kraft, und Beides wird unter uns nur mit seinem 
Namen aufhoren konnen, fortzuleben. 'Aber es war aucli nur ein ein- 
zebier Lichtpunct seines geistigen Sehaffens in einer einzelnen bestimmt 
abgegrenzten Eichtiing. Denn dieses sein Scliaffen war nicht gleich 
dem eines Tqumeisters im echten Sinne, dessen innerstes Leben sicli 
eben niir in den Tonen erschliesst, eine fortgehende Tonschopfung. 
Gott hatte ihm einen anderen, weiteren Kreis der Thatigkeit vorge- 
zeiclinet, und gewiss war auf dem enger begrenzten Gebiet des geist- 
liclien Sangers eine einzige hervorragende Leistung eines so hochge- 
stellten, mit seinein Wirken so tief eingreifenden Mannes, wie er, Mn- 
reichend, ein heiliges Peuer in Begabten anzuziinden, clenen jenes Ge- 
biet als das ilire angewiesen war. Dies war in der That der Fall, 
und Luther diente aucli Merin der nachfolgenden Zeit als Muster und 
Vorbild ? zu eifriger Nachahmung anregend. Insbesondere im 16. Jahr- 
liundert traten treffliche Ktinstler in seine Fusstapfen. Endlich ist 
nocli zu erwahnen, dass die protestantische Kirche auch zu der der 
bohmisch-mahrischen Bnider, cleren Lieder, soweit sie nicht Friiheres 
aufaahmen, aus der 2. Halfte des 15. Jahrhunderts sich herschreiben, 
in Bezieliungen getreten ist, dass beide von einander geborgt haben. 
In der That hat die protestantische Kirche von dort viel entlehnt, aber 
die Einwirkung jener Gemeinden war eine minder lebendige, schopfe- 
risch-i-fictwiitende , neugestaltende , als bei den fruher bezeichneten 
Quellen, da wir hier nur die Beruhrung von zwei benachbarten Ge- 
bieten vor uns haben, die wol in anerkennender Neigung und Liebe, 
aber okne innige Wechselwirlmng geschah. Auch was die harmonische 
Bearbeitung, von der wir nachher noch zu sprechen haben, betrifft, so 
konnte Her von fruchtbringender Anregung nicht die Eede sein, da es 
melir als zweifelhaft ist, ob die Brflder tiberhaupt eine seiche gekannt 
haben. Nur erst spatere Tonsetzer haben bolnnische Melodien har- 
monisirt. 

Sind nun in dem Bisherigen die Elemente des ovangelischen Kirchen- 
gesanges bezeichnet worden, so liaben wir jetzt das inn ere Wesen 
des neu Entstandenen, die besondere Eigenthtimlichkeit desselben naher 
zu betrachten, die Art und Weise, wie aus jenen Elementen etwas 
Neues geschaffen wurde. 

Die liturgischen Gesange der romisch-katholischen Kirche liessen 



_____ 4 A4 _ 

*""""'"" JL*rJL 

zwar weder Kkytkmus nocli Metrum wakrnekmen wenlgstens zu der 
Zeit niclit, als sie von der protestantischen Kirckd atifgenommen 
wurden, aber sie trugen dock ein Element in sich, welches auck in 
die neue Gestalt tiberging, und auf dessen vollstandiger Entfaltung die 
nachkerige Blutke des deutscken Chorals beruhte. Es waren dies die 
aLten, sckon fruker erwaknten*Kirckentonarten. Es ist nattirlick Her 
nickt der Ort zu ausfiihrlickerer Erorterung ^dieses verwickelten Gegen- 
standes. Ick entlehne eine Stelle aus v. Winter fold's Werk, um 
Iknen einigermaassen eine Ansckanung yon dem Wesen desselben zu 
geben. Alle Kirckentone, keisst es dort, sind von einander eigentkim- 
lick verscMeden. Sie sind es als Octavengattungen in ikrer melodiseken 
Gliederung, sie sind es in den Gegenstanden ihrer karmoniscken Be- 
ziekungen, und durck ikr Verkaltniss zu denselben; ja selbst aus jeder 
sckeinbaren Uebereinstimmung einerseits tritt von der anderen Seite der 
entsckiedenste Gegensatz keraus. Seken wir sie als Werfczeuge an, 
mit denen, oder ricktiger vielleickt als Eeicke, Gebiete, in denen der 
Tonmeister sckafft, so stekt er iknen nickt unbedingt als bestimmend, 
kerrsckend gegenuber, er wird vidmehr vorzugsweise durck sie be- 
stimmt, sobald er in das eine oder andere sick begiebt, das eine 
oder andere, dem "Wesen seiner Aufgabe zufolge, ergreift. Gegenstand- 
lickkeit (Objectivitat) also konnen wir als ihren Charakter im Verkalt- 
niss gegen unsere modernen Tonarten bezeicknen. Denn unsere neue 
Tonkunst hat, bis auf die weicke und karte Tonreike, weleke sie auf 
kokeren und tieferen Klangstufen ubereinstimmend wiederkolt, alle 
alteren Tonreiken ganzlick ausgeglicken, und einer jeden die Moglick- 
keit gleicker Beziekungen zu alien anderen gewakrt. Durck Kunst- 
tibung und Lekre kat sie allgemack gezeigt, wie auck das Entfernteste 
auf leickteste Weise in Yerbindung gebrackt werden konne, wie auf 
jeder gewaklten Tonkoke man dieselben Beziekungen wiederfinde. Die 
altere Tonkunst brackte dem Tonmeister eigentkiimlick geordnete Ge- 
biete mannigfack weckselnder Beziekungen entgegen, unter denen er 
nack seiner Aufgabe zu waklen kaftte, dann aber durck die getroffene 
Wakl sick auck bestimmt fand und begrenzt; die moderne bietet ikm 
den gesckmeidigsten Stoff far seine Bildungen, und ikr gegenuber ist 
er bei freiester Wakl auck allein der Bestimmende und der Be- 
^renzende. Objectiv, typisck ist kiernack das Geprage der alteren, sub- 
jectiv, sentimental das der neueren Tonkunst, Sckon im Laufe der 
keutigen Darstellung wurde erwaknt, dass die Kunst des Tonsatzes 
bereits seit beinake zwei Jakrkunderten in Deutsckland einkeimisck 
war, wenn auck okne kokere kunstleriscke Bedeutung und vorzugsweise. 



142 

wie in anderen Landern, auf den Kreis der Scliiile besclrrankt. Die 
Ausubimg der harmonisehen Kunst war, wie iiberall, zur Zeit der Ent- 
steliung derselben mehr eine wissenseliaftliche Thatigkeit, eine Arbeit 
des Yerstandes. Dies hatte eine uns jetzt sehr auffallende Erscheinung, 
die Tremmng des Sangers mid Setzers, des Erfinders der Melodie und 
des Bearbeiters derselben, zur Folge,* Die Erzeugnisse des Sangers, 
die Hervorbringungen des unbewussten Kunsttriebes , waren fur den 
Setzer, den mit "Wahl und Absicht Zusaimnenftigeuden, anfangs nur 
eine Veranlassung, seine neue Kunst daran zu tiben, und er suchte 
und schatzte an ilmen zumeist nur die Gelegenheit sinnreiclier Dar- 
legiing derselben. Jetzt, im protestantischen Choral, gelangte flie hanno- 
nisehe Kunst zum ersten Male in Deutschland zu frischerer kunstlerischer 
Entfaltung und trat in das Leben heraus, der darin webende Geist kam 
zum Bewusstsein. Jetzt gait es, die Setzkunst dexn allgemeinen Ter- 
standnisse naher zu bringen, den Geist, der in den aufgenommenen 
Melodien scHuminerte, durch diese Ivunst zu erwecken, jeden ilurer 
Schritte seiner vollen Bedeutung nach zur Anschauung zu bringen, 
ilinen und dadurch clem Sanger wahrhaft nalier zu treten, die ursprung- 
liche Emlieit der Kunst desselben und des Tonsetzers lebendig zu 
enipfinden, zu erkennen, und beide endlicli scliopferiscli zu vereinigen. 
Jetzt gelangten die Kirclientone in der gedrungenen, volksmassigen 
Gestalt des neuen heiligen Liecles erst zu lebendiger Anschauung. Jene 
Zeit frommer Begeisterung, einpfanglicli wie sie war, und genugsam 
vorbereitet for neue Scliopfungen der Tonkunst, bedurfte vor Allem 
auf dern Gipfel der heiligen nur eines belebenden Hauclies, uin frische 
Blutlien des Geistes zu zeitigen. Wie in Italien durch Palest rina's 
MeisterschSpfungen, so erscliloss sich nun in Deutscliland das liobere 
Wesen der Tonkunst; Keiner aber hat dieses neu gewonnene Bewusst- 
sein besser ausgesprochen, als Luther, -wean er in seiner Lobrede 
auf die Musik sagt: ,,Wo aber die naturliche Musica durch die Kunst 

geseharft und polirt wird, da sieht und erkennt man erst zum Theil 

denn giinzlich kanns nicht begriflbn noch verstanden werden mit 
grosser Verwunderung die grosse und vollkommene Weisheit Gottes in 
seinera wunderbarlichen Werke der Musica, in welcher vor Allem das 
seltsarn und zu verwundera 1st, dass einer eine gchlechte Weise oder 
Tenor (wie es die Musici heissen) hersinget, neben welcher drei, vier 
oder funf andere Stimmen auch gesungen werdon, die um solche 
schlechte, einfaltige Weise oder Tenor gleich als mit Jauchzen rings 
herom spielen und springen, und mit mancherlei Art und Klang die- 
selbige Weise wunderlich zieren und schmticken, und gleich wie einen 



143 

hiimnlischen Tanzreihen fahren, freundlieh einander begegnen, nncl slch 
gleich herzen und lieblicli umfangen, also dass Diejenigen, so solches 
ein wenig verstehen und dadurch bewegt werden, sich des heftig ver- 
wiindern miissen, und nieinen, dass nicMs Seltsameres in der Welt sei ? 
denn ein soldier Gesang mit viel Stimmen geschmuekt. Wer aber 
clazu keine Lust und Liebe hat, und durcli solch lieblicli Wunderwerk 
nicht bewegt wircl, das muss wahrlich ein grober Klotz sein, der nicht 
werth ist, class er solch liebliche Musica, sondern das wilde, waste 
Eselsgescbrei des Chorals, oder der Hunde oder Saue Gesang und 
Musica hore." Diese eigenthiimliche Beschaffenheit der melodisclien 
und harmonischen Verhaltnisse ist es zunachst, welclie dem alien Choral 
die ganzlich von der spateren abweichencle Beschaffenheit yerleiht: die 
Originalitat, das Sehwunghafte, Tiefergreifende, die Kraft und Fulle, 
das Alttestamentarische mochte man wol sagen. Weiter sodann 
trug die zweite Hauptquelle desselben, der Yolksgesang, dazu bei, das 
zu vervollstandigen, was dem alten Kirchengesauge ganz abging, die 
rhythmische Mannigfaltigkeit. Hier tritt uns der rhythmische Weehsel 
auf eigenthiimliche Art ausgebEdet entgegen. Den graden und un- 
graden Tact als Grundform der Melodie, das Nebeneinanderbestelien 
beider Fonnen, den rhythmischen Wechsel sonacli, der, ohne das Haass 
zu andern, dennoch einen symmetrischen Gegensatz beider Fonnen er- 
zeugt, das finden wir in der Volksweise in hoheni Grade vorhanden und 
auf den evangelischen Gemeindegesang ubertragen. Durch die innige 
Verschmelzung dieser beiden Bestandtheile, des melodisch-harinonischen 
Elements des alten Kirchengesanges, sowie der rhytlunischen Mannig- 
faltigkeit des Voltsliedes, sehen wir so die neuen Tonscliopfungen 
entstehen, in ihrem "Wesen ganzlich Yerschieden von dem ? was eine 
spatere Zeit umbildend daraus gestaltet hat. Denn die wiehtigsten 
Bestandtheile sind in dem, 'was gegenwartig far Choralgesang ' aus- 
gegeben wird, nicht wahrzunehmen. Ein zwar wohlgesinnter T aber be- 
schrankter Eifer hat die meisten Spuren des Alten fast ganzlich ver- 
tilgt, indem er Yeraltetes zu beseitigen, Unzienslches zu entfernen 
trachtete. Zu jenem gehorten ikn die Kirchentone, eine, wie er sie zu 
verstehen glaubte, auf Yerlebtem Herkommen beruhende, willklirliche 
Beschrankung nielodischer Ausgestaltung, harmonischer Entfaltung; zu 
diesem die einem skengen Gleichmaass nicht unterzuordnende, dem 
Mrchlichen Ernst angeblich widerskebende rhythmische Mannigfaltigkeit. 
Der alte Choral war begeisterter Yolksgesang, der mit Kraft und Each- 
druck Yorgetragen wurde ; jenes kraftlose, langausgedehnte Hinschleppen, 
welches im letzten Jahrhundert beliebt wurde, war ihm fremd; der 



144 

alte Choral war ein in sich abgeschlossenes Musikstflck, wie jedes andere. 
Die unschonen, nur mit dem Wechsel zwischen gewohnlicher Kecitation 
und Gesang in der Oper an Widerwartigkeit zu vergleichenden Buhe- 
puncte, jene das Q-anze zerstuckelnden Fermaten, welclie wir inachen, 
waren ihm meist fraud. Vollgiiltige Zeugnisse von Schriftstellern 
sincl vorhanden, welclie beweisen, dass der alte Choral in dieser kunst- 
reichen Gestalt wirklich von den Gemeinden gesungen wurde. Das 
Interesse der letzteren war damals grosser. In der Schule wurden den" 
Kindern diese Gesiinge eingeiibt, so wie auch der Hansvater taglich mit 
seinen Kindern sang. Diese Umstande konnen zum Theil erklaren, 
wie es moglich war, dass man clas damals durchfuhren konnte, wozu 
man gegenwartig kaum einen Versuch zn machen wagt. Auf die 
Frage der Wiedereinfuhrung des alten Chorals in der Gegenwart werde 
ich spater noch zu sprechen konimen. Nur so viel sei hier bemerkt, 
dass sich in der Gegenwart Fur und Wider lebhafte Parteistreitig- 
keiten erhoben haben. Die entschiedene Tendenz des grossen Winter- 
feld'schen Werkes ist, auf eine solche erneute Belebung hinzuwirken. 
So viel ist richtig und zweifellos, dass an wirklichem Kunstwerth der 
gegenwartige Choral mit dem alten sich auch nicht entfernt messen 
kann, dass das, was die Neuzeit als ein Besseres glaubte bieten zu 
konnen, wirklich nur Verballhornisirtingen des Alten und Echten, sind, 
obschon auch das Letztere nicht frei ist von modischen Bestandtheilen 
jener Zeit. 

Treten wir jetzt, nachdem wir die Beschaffenheit des damals neu- 
entstandenen evangelischen Gemeindegesanges naher kennen gelernt haben, 
dem historischen Verlauf, wenn auch nur andeutend, naher. 

Als Luther seine ,,deutsche Messe anrichten wollte", erbat er 
sich von dem Eurftirsten von Sachsen dessen alten Sangmeister, EJhrn 
Conrad Bupff , sowie den UDI die Forderung des protestantischen Chorals 
besonders verdienten Jolianises Waltlier, gleichfalls cluuf. siichs. Sanger- 
meister, und Hess dieselben nach Wittenberg koramen. Wir bositzen 
einen eigenen Bericht des Letztgenannten fiber diesen Vorgang. 
Luther arbeitete gemeinschaftlich "mit diesen Mannern, namentlich 
mit Walther. Dieser hatte die gewahl-ten Melodion zu harmonisiren, 
und das Resultat war die Herausgabe des ersten lutherischen Gesaiig- 
buches, welchem dann noch bei Lebzeiten Luther's mehrere audere 
Ausgaben folgten, die dieser mit Vorreden begleitete; er habe, sagt 
er bei Gelegenheit der ersten Ausgabe, mit einigen Anderen, zum 
guten Anfang und Ursach zu geben, die es besser vermcjgen, etliche 
geistliche Lieder zusammengebracht, da$ heilige Evangelium zu treiberi 



145 

und in Schwang zu bringen. 5 ,Und sind dazu auch in vier Stimmen 
bracht, niclit aus anderer Ursache, denn dass ich gern wollte, die *Ju~ 
gend, die doch sonst soil und muss in der Musica und anderen rechten 
Ktasten erzogen werden, etwas hatte, damit sie der Buhllieder und 
fleischlichen Gesange los wurde, und an denselben etwas heilsames 
lerae". Wie gross der Beifall war, welchen diese Gesange fanden, 
wie bald Nachahmer hervortraten, erhellt aus einer Stelle einer spateren 
Ausgabe: ,,Und haben sieh etliche wohl beweiset, und die Lieder ge- 
mehret, also, dass sie mich weit ubertreffen, und in deni wohl meine 
Meister sind. Aber daneben auch die Anderen wenig Gutes dazu ge~ 
than, Und weil ich sehe, dass des tagliclien Zuthuns ohne alien Unter- 
scHed, wie es einem Jeglichen gut dunkt, will kein Maass werden, 
auch die ersten tmserer Lieder, je langer, je falscher gedruckt werden, 
hab ich Sorge, es werde diesem Buchlein die Lange gehen, wie es 
alle Zeit guten Buchern ergangen ist, dass sie durch ttogeschickter 
Kopfe Zusetzen so gar tiberschtittet und yerwustet sind, dass man das 
Gute darunter verloren und allein das Unnutze im Branch behalten 
hat". An anderen Stellen spricht er sich tiber die Aufnahme der 
Melodien der katholischen Kirche aus, was ich iibergehe, da dies schon 
ausreichend besprochen wurde. Endlich heisst es in der letzten, von 
Valentin Bapst in Leipzig besorgten Ausgabe: ,,Gott hat unser Herz 
und Muth firohlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er fur 
uns gegeben hat zur Erlosung von Siinden, Tod und TeitfeL "Wer sol- 
ches mit Ernst glaubet, der kanns nicht lassen, er muss firohlich und 
mit Lust davon singen und sagen. Darum thun die Dracker sehr wohl 
daran, dass sie gute Lieder fleissig drucken, und mit allerlei Zierde den 
Leuten angenehm machen, datoit sie zu solcher Freude des G-laubens 
gereizt werden und gerne singen, wie denn dieser Drucfc Valentin 
Bapst's sehr lustig zugerichtet ist* Gott gebe, dass damit dem romi- 
schen Papst, der nichts denn Heulen, Trauern und Leid in aller "Welt 
hat angericht durch seine verdammte, unertragliche und leidige Gesetze, 
grosser Abbruch und Schaden geschehe. Amen". Ueber *Walther"s 
Lebensumstande ist uns nur wenig bekannt. Er war Magister der 
Philosophie. Die erste Ausgabe seines Gesangbuches rom Jalore 1524 
nennt ihn am Schlusse der Altstimme nur als Verfasser, olme sein Amt 
zu bezeichnen. Erst in einer spateren Ausgabe (von 1537) bezeichnet 
er sich als cjiurf. Sangermeister, Er stand also damals in den Diensten. 
des Kurfursten^Johann Friedrich des Grossmuthigen. Alsnach 
der Schlaeht bei Muhlberg die Landesherrschaft auf Moritz fiberging, 

10 



146 

scheint er nicht wie Lucas Or ana ch bei seinem alten Herrn geblieben, 
sondern in die Dienste des neuen getreten zu sein. 

Bemerkte IcTi vorhin, dass im protesfcantischen Choral das tiefere 
Wesen der Tonkunst namentlich nach Seite der harmonischen Entfaltung 
hin zum ersten Mai zum Bewusstsein gekonimen sei, so sind nun aber 
diese Worte nieht daMn zu verstehen, dass sogleicli beim Entstehen, 
unter Walther's Handen demnach und bei Luther's Lebzeiten, das 
Hoehste und Vollendetste geleistet worden ware; im Gegentheil, wir be- 
gegnen hier nur den Anfangen, und Luther's herrliche Worte fiber 
den Werth und die Bedeutung des vielstimmigen Tonsatzes konnen in 
der That nur als propheiasche gelten. Bine langere Entwicldung war 
noch m durcMaufen, bevor man zu der auf dieser Stufe m5gliclien 
Classicltat gelangte, und ebenso konnen wir dann einen Etickgang und 
ein Sinken walirnekmen. Ein Uebelstand namentlicli war es, welcher 
damals noch eine freiere Gestaltung hemmte. Es war namlich die 
Melodie in den Kirclienliedern in der Zeit von Beginn der Reformation 
bis gegen Ende des Jahrhunderts nicht wie bei uns der hochsten Stimme, 
sondera einer Mittelstunme, am haufigsten dem Tenor, zugetheilt. Dies 
aus dem Kunstgesang entnommene Verfahren, dem wir schon bei den 
Niederlandern begegnen, finden wir in alien Gesangbuchern jener Zeit, 
und nur Ausnahnien zufalliger Art treten uns abweichend entgegen. 
"Wie Mnderlich dies der Gemeinde in ihrem Gesange beim Gottesdienst 
sein musste, wie sehr durcli die liber der Melodie angebrachten Stimmen, 
die sick oft in selbststandigen inelodisclien Figuren ergingen, diese yer- 
dunkelt und unkenntlicli gemacht werden musste, leuchtet ein, und viele 
klagende Stimmen der damaligen Zeit bestatigen dies zur Genuge, In 
den altesten Bearbeitungen von ,,Ein ? feste Burg" vom Jahre 1540 und 
1544 findet man die Melodie im Basse, als Grundlage des Ganzen, eine 
in jener Zeit seltene Stellung der Hauptinelodie, durcli die wol, wie 
v. Winter feld bemerkt, im Sinne der damaligen Tonmeister bezeichnet 
werden soil, dass ein fester Glaube, wie der in dem Liede webende, 
walirhaft auf den Felsen bane, auf welchen die Kirche gegrtindet sei; 
dass auf den Tonen, worin er so lebendig ausgesprochen sei, am Wur- 
digsten ein Verein von Stimmen ruhe, der, von ilinen sicher getragen, 
auch ihre Bedeutung wiederum auf das Treffendste kunde. Erst spater, 
wie ich noch besonders erwahnen werde, wurde die Melodie nait Be- 
wusstsein in die Oberstimxne verlegt, erst dann findet sich auch, was wir 
uns als untrennbar vorzustellen gewohnt sind, die Thatigkeit des Sangers 
und Setzers wirklich vereinigt, wahrend bis dahin die Art, wie Luther 
mit Walther-arbeitete, lasst dies schon erkennen die Functionen 



Beider immer noch geschieden waren. Als einem der firuliesten Ton- 
meister der eyangelisclien Erehe, als Mitarbeiter Lu tier's, gebflhrt 
Wai tier eine ehrenvolle Stellung in der Geschichte. Seltene Gaben, 
hotter Geistesschwung konnen ihm jedoch niclit nachgeruhmt werden, 
karan eine sinnreiclie Anordnung seiner Tonsatze. Er ist hochzuschatzen 
als ein Solcher, welder Begabteren die Balm ebnete ; sein Strebert aber 
war ein beschranktes, ein seiches, wozu Verstand, Fleiss, Kenntniss 
den erfalirenen Ktostler befahigen. Walt her hat im Lanfe seiner 
Thatigkeit von 26 Jahren Fortschritte gemacht, wie verschiedene Aus- 
gaben der Gesangbticher beweisen; zn einer wirklichen Erfassung aber 
des Hoheren ist er nicht gelangt. Bemerkenswerth ist, dass in den 
spateren Ausgaben bei ihm mehr und mehr scion die Melodie ihr 
Eecht in der Oberstimme erlangt, und es ist zu sagen, dass er aller- 
dings schon eine Ahnung YOU einer solchen Entfaltung getabt hat, zu 
wirklich klarer Gestaltung aber ist er trotz alledem nicht gelangt. 

Ich gedenke jetzt eines anderen Tonsetzers, den man gewohnlich 
ebenfalls unter Luther's Hitarbeitern auf dem Gebiete des Kirchen- 
gesanges nennt, obschon bezwerfelt werden inuss, dass er direct fur die 
protestantische Borche thatig gewesen ist. Ludwig Senfl^ dieser bei 
weitem bedeutendere Meister, war aus Zurich, nacli Anderen aus Basel 
geburtig. Seine erste Ausbildiing erhielt er in der letztgenannten Stadt, 
trat von da in die Kapelle Kaiser Maximilian's I. zu Innsbruck 
und fand dort an dem beruhmten Heinrich Isaac einen trefflichen 
Lehrmeister. Spater kam er in die Dienste der Herzoge ?on Bayern, 
wo wir ihn um das Jahr 1530 finden; um die Mitte des Jahrhunderts 
scheint sein Tod erfolgt zu sein. Ueber sein Verhaltniss zn Luther 
geben uns einzelne Aeusserungen desselben in seinen Tischreden Nach- 
richt, sowie ein freundliehes Schreiben Luther's ac ihn, datirt Coburg, 
den 4. October J530. In dessen Tischreden wird erzahlt, wie er, am 
17. December 1539, da er die Stager zu Gast hatte, nachdem etliehe 
Motetten Senfl's gesungen worden waren, sich sehr Yerwundert, diese 
gelobt und geaussert habe: ,,Eine solche Mutetten Yermocht ich nicht 
zu machen, wenn ich mich auch zureissen sollt, wie er denn wiederum 
nicht einen Psalin predigen konnte, als ich. Darum sind die Gaben des 
Geistes mancherlei, gleichwie auch in einem Leibe mancherlei Glieder 
sind. Aber Memand ist zufrieden mit seiner Gabe, und lasst sich nicht 
geniigen an dem, das ihm Gott gegeben hat; aHe wollen sie der ganze 
Leib sein, nicht GliedmaassenP Senfl ist nach zwei Seiten hin Yon 
Bedeutung. Er theilte die im 16. Jahrhundeit uberhaupt verbreitete 
Neigung, die neue Ernst auch mit dem classischen Alteiihum in Ver- 

10* 



148 

bindung m bringen, indem er Oden des Horaz in Musik setzte, sodann 
durch das, was uns Mer zunachst interessirt: seine geistliclien Gesange. 
Bestand doit die Hauptaufgabe mehr in dem engen Anschmiegen an den 
Dichter, iind mussfce daher die Melodie einen iiberwiegend declamatori- 
sehen Character zeigen, so war auf dem letztgenannten Gebiete dagegen 
der fieieste Spiekaum fur die Entfaltung der neu gewonnenen Kunst- 
mittel, und Mer konnte sieh daher Senfl insbesondere als Tonsetzer 
zeigen, so dass ihn v. Winter f eld als den bedeutendsten Meister jener 
Zeit bezeiehnet, seine Arbeiten als Muster, wenn auch nur for jene 
Zeit: n genfl hat in den beiden EicMungen, in denen er schuf, die 
Eigenthtunliehkeit seines Geistes bedeutsam ausgepragt, er hat in seinen 
Werken Krafte entwickelt, Geheioinisse der Tonkunst offenbart, die bei 
Nachfolgern und Schitlern in harmonischem Zusammenwirken, in stets 
mekr atifgeschlossenem Verstandnisse, cine schonere Entfaltung der Me- 
lodie anbahnten". Winterfeld ffigt hinzu: ,,Doch aller dieser 
grossen Vorzuge ungeachtet,* die ihn auf die Hohe seiner Zeit stellen 
in seiner Kunst, war er doch nur ein Vorlaufer, eine Weissagung dessen, 
was erst spater sich erfullen sollte in echter harmonischer Entfaltung, 
die auch deni sinnreichsten Baue eines Tonsatzes erst seine voile Be- 
deutung gewahrt. Der grossartigen Anlage, des tiefen Geftihls der 
jedesmaligen Aufgabe wegen konnen wir seine Werke als Muster nennen, 
aber nur far seine Zeit, weil jene Entfaltung eben nur erst in ihnen 
zu dammern und hervorzubrechen beginnt; die Vollendung der Kunst 
war, bei aller Herrschaft fiber die Mittel, so w^nig in ihnen, als in 
jenen alten Bildern, an denen die Tiefe und Wahrheit der Empfindung, 
der fronone Ernst, die Eeinheit der Motive uns entztickt, wahrend die 
Durftigkeit der Formen, die Unfreiheit der Bewegungen uns doch er- 
innern, dass Geist und Form Mer einander noch nicht vollig durch- 
drungen haben". 

Es kann naturlich, wie auch schon im Eingange bemerkt, Mer nicht 
der Zweck sein, nachdero. ich Ihnen diese wichtigsten Thatsachen vor- 
geftilirt habe, noch welter in das Einzelne herabzusteigen, Ich ilber- 
gehe darum die Namen aller der Tonsetzer zweiten und dritten Ranges, 
welehe, dieser Stufe der Kunstentwicklung angehorend, in v. Winter- 
f eld's Werk eine ausfuhrliche Darstellung gefunden haben. Mit dem 
Mer Erwahnten ist die erste Epoche des evangelischen Gesanges, die 
sich bis zum Tode Luther's erstreckt, abgescMossen. Das Streben 
des zweiten Zeitraums ging jetzt dahin, die verworrenen Ahnungen des 
ersten zu erfullen. Die kunstliche Stimmenverwebung soUte der ein- 
fachen Fassliehkeit weichen, der im Tenor ruhende von anderen Stimmen 



149 

verdeckte Gesang in die Hangreichere, Allen vernehmliehe Qberstimme 
verlegt, der Rhythmus entschiedener , die Entfaltung der Harmonie 
lebendiger werden, inn das Ziel zu erreichen, welches in dem grossten 
Tonktinstler dieser Zeit, Johannes Eccard, verkorpert erscheini 
Eccard ist der Beprasentant der zweiten Epoche, welche die hochste 
Blutlie und Vollendimg des evangelisehen Gesanges umfasst. Die dritte 
Epoche wird sodann eroffnet durch die neuen Foraen der welffichen 
Musik. Der grosse, durch Erfindnng der Oper hervorgerufene Umschwung 
in der itaJienischen Musik beginnt allmahlich seine EMtisse auct auf 
DeutscHand zu aussern, und die alte Mrchliche Eunst in ihrer Keinheit 
zu zerstoren. Diese Epoche dauert bis zum Ende des 17. Jahrhunderts 
und findet ihr Ziel und ihre Vollendung in der vierten, die, am Ende 
des 17. Jahrhunderts beginnend, bis auf Handel und Bach sich aus- 
dehnt. Mit Seb. Bach ist diese gesammte Zeit vollig abgeschlossen ; 
er bezeichnet den Endpunct dieser schon in der vorigen Vorlesung cha- 
rakterisirten ersten grossen Hauptepoche der deutschen Musik, deren be- 
sondere Stufen ich Dinen hier in einem Ueberblick gezeigt habe. 

Die nahere Betraclitung derselben wird die Aufgabe der folgenden 
Vorlesung sein. 



Neunte Vorlesung, 



Fortgang nacli Luther's Tocle. Osiander, Johannes Eccard. M. Pratorius. H. Schiitz. 

Orgel- uncl Claviermusik: M. Pratorius. Scheldt. Pachelbel. Ammerbach. Die 

Suite und die Senate. Kuhnau. Die Laute. 

Eke gesehichtliche Entfaltung im eigentliclien Sinne, c! li. ein An- 
wachsen, ein MeLren (lurch Benutzung des bereits Gewonnenen und 
Hinzufiigung von neuen Erfindungen im Laufe der Zeiten konnen wir 
nur dem lutlierisclien Ivirchengesange beimessen; nur ilm konnen wir 
einen lebendigen Spiegel fortgeliender Entfaltung fronimen, evangelisclien 
Sinnes nennen. Der calvinisclie Kirchengesang uni dies hier bei- 
laufig zu erwahnen , einmal festgestellt, war niclit sowol eine Bluthe 
des inueren, froinnien Lebens seiner Kirclie, als yielmehr ein zu deren 
Ordnung ein ftir alle Mai Vorgescliriebenes, der Kunst, welche dort keine 
Stelle fand, fortan Unzugangliches. Er bildet, wenn auch evangelisch, 
clennoch iin Gegensatz zu der fiischen Entwicldungsfaliigkeit des luthe- 
risclen, ein getrenntes, fremdes, hoeltstens ein bonachbartes Gebiet. 

Die Hauptentwicldungsstufen des eben genannten, des lutherisclien 
Kirchengesanges haben Sie schon in der letzten Vorlesung kennen ge- 
lernt. Es 1st heute unsero Aufgabe, nacli Anleitung des v. Winter- 
feld'schen Werkes, diese noch etwas naher zu betracMen. 

Nach Luther's Tode, in der zweiten Halfte des .16. Jahrhunderts, 
war eine Wendung von grosser Wichtigkeit in der protestantisclien 
Kirche eingetreten. Der Katholicismus hafcte sich von den ersten ihin 
beigebrachten Medeiiagen erholt und erhob sich wieder mit erneuter 
Kraft. Auf dem ihm gegenuberstelienden Gebiet tlagegen waren innere 
Spaltungen eingetreten, die neue Kirche war fur solcbe Angriffe durcli- 
aus nicht gertistet, und viol des schon gewonnenen Terrains ging ilir 
wieder verloren. Kampfte man aber frflher fiir das nacli langer Ver- 
dunklung wieder klar liervorstralilende gofctliche Wort mit jugendliclier 



151 

Begeisterung , so yersehwand spater diese Glaubensfreudigkeit und 
Kampfesrastigkeit immer mehr; man fuhlte sich bedrangt, gereizt, yer- 
wirrt, zerstort, und Bitterkeit, Argwohn, Misstrauen, Hass verseheuchte 
die Begeisterung* Unter den Glaubensgenossen selbst war die alte Zu- 
yersieht, das feste Veiiassen auf einander gewichen; alle gehassigen Ee- 
gungen der Leidenschaft hatten den Gegenstand des Kampfes, das hei- 
lige "Wort selbst, den Streitenden immer mehr in die Feme gerueki 
In der Verwirrung der Gemuther musste der Starrsinn far Glaubenskraft 
gelten, der geistliche Hoehmuth for priesterliclie Wiirde. Was in frischer 
Kraft begonnen, konnte unter solchen Umstanden, in einem solchen 
Boden nicht weiter gedeihen. Das rege, empfindungsreiche leben ging 
yerloren, und mit dem Lehi-streit nahm ein trockenes, lehrhaftes Geprage 
iibeiiiand. In dem Erehenliede, demjenigen, worauf es uns tier ^umeist 
ankommt, sehen wi^ wol noeli den ursprunglielien evangelischen Geist, 
aber seine voile Offenbarung webt nicht mehr in ilirn, sie 1st uberge- 
gangen auf eine andere, verwandte Kunst, die Tonkunst. Diese war 
den hemmenden EInfltissen der Zeit entruckt, der Stoff, in welcliem sie 
bildete, war dayon unberfihrt geblieben, in ihr strahlte daher jener Geist 
zu Ende des Jahrhunderts am lebendigsten aus. Die Tonkunst ist daher 
im yollsten Sinne die Eunst jener Zeit; die getrennten Geister finden 
in ihr ein Band, das sie yerknupft; in ibr lebte jener Friede, in wel- 
chem fur die begabtesten, edelsten Geister jeder Streit geschlichtet war* 
Sie ist die Mscheste Bliithe jener Tage. So wurde dieselbe im Laufe 
des Jahrhunderts eine immer freiere, selbststandigere Kunst, und am 
Ende desselben erblicken wir sie uber die Dichtung herrschend auf der 
hochsten Stufe ihrer Entwicklung, 

Das Bezeichnende des Tonsatzes geistlicher Liedweisen uin die erste 
Halfte des 16* Jahrhunderts war die kiinstliche Stiromenyerwebung, 
welche anfangs die in der Tenorstimme erscheinende Kirchenmelodie 
umgab, ini Fortgange der Zeit aber, je linger je niehr. von ihr in der 
hochsten Strmme behen*scht wurde. Mit diesem Uebergange der Melodie 
dahin, wo sie in den hellsten und klangreichsten Tonen am meisten 
sich geltend maehen konnte, bahnte sich nach und nach eine neue Art 
des Tonsatzes an, durch den spater jener altere kunstreiche erst seine 
rechte Bedeutung gewann, Es war der einfache, auf harmonische Ent- 
faltung der Singweise gerichtete. Nur dadurch, dass man den einfachen 
harmonischen Tonsatz der kunstlichen Stimmenyerwebung yorzog, und 
der Melodie die dauernde Stellung in der Oberstirnme anwies, konnte 
die Tonkunst in ein wahrhaft forderliches Verhaltniss zu der Gesammt- 
heit des Volkes treten. 



152 

Der Erste, der den entsclieidenden Schritt mit vollem Bewusstsein 
that, war der wurttembergische Oberhofprediger Lucas Osiander in 
seinem Werke: ,,Funfzig Geistliche Lieder und Psalmen mit vier Stim- 
raen auf contrapunctsweise also gesetzet, dass ein' ganze Cliristliclie Ge- 
meine durchaus mitsingen kann". In seiner ftir die nahere Kenntniss 
des Zustandes des evangelischen Ghoralgesanges uberhaupt wichtigen 
Znschrift an die Schulmeister Wurttembergs voni 1. Januar 1586 er- 
Hart er ausdriickHch:] ,Jch zweifle aber nicht, es werden etliclie Compo- 
nisten und Musici, ihnen diese ineine ringftige Arbeit Anfangs niclit aller- 
dings gefallen lassen. Derowegen icli Heriiber kurzen Bericlit thun will, 
wanonb ich diese Compositiones eben so, und nicht anderst, gemaclit 
hab. Ich weiss wolil, dass die Coniponisten sonsten gewolinlicli den 
Choral im Tenor fiihren. Wenn man aber das thut, so ist der Choral 
unter anderen Stnnmen unkenntlich, der genaeine Mann verstehet nicht, 
was es fur ein Psalm ist, und kann nicht mitsingen. Darum habe ich 
den Choral in den Discant genommen, damit er ja kenntlich, und ein 
jeder Laye mitsingen konne", Mit der Erfullung und Erreichung dieses 
Hauptzweckes, dass ein jeder Christ mit einstimmen konne, war der 
evangelische Kirchengesang unmittelbar dem hochsten Ziele seiner Aus- 
bildung zugefuhrt* Osiander bestrebte sich, den einstimmigen Gesang 
der Gemeinde mit dem kunstmassigea mehrstimmigen des Sangerchors 
in lebendige Verbindung zu bringen, damit beide, der einstimmlge Ge- 
sang der Gemeinde mit der Musica figuralis, wie man den Eunstgesang 
(auch in der einfachen Gestalt, in welcher er in Osiancler's Choral- 
bearbeitungen erscheint) nannte, ,,fein bei einander bleiben und beides 
einen lieblichen Concentus (Harmonie) gebe", was zu der Annahme be- 
rechtigt, dass eine derartige Verbindung beider Gattungen bis dahin 
noch nicht gebrauchlich gewesen ist. Auch nicht einmpl der Gebrauch 
der Orgel zur Begleitimg des Gemeindegesanges ist als wahrscheinlich 
vorauszusetzen. Es seheint, den Andeutungen nach, ein zwischen San- 
gerchor und Gemeinde mehr abwechselndes Singen stattgefunden zu 
haben, so dass der Chor das kunstmassig gesetzte Lied zuerst vortrug 
und die Gemeinde, von dem Cantor ader Vorsanger geleitet, die Melodie 
nachsang. Dass aber in der That der alte Choral trotz seiner rbythmi- 
sehen Mannigfaltigkeit von der Gemeinde gesungen worden, und nicht 
dem Vortrage eines geschulten Sangerchors allein iiberlassen war, dar- 
uber haben wir bestiminte Zeugnisse. Einer der bedeutondsten, nachher 
noch zu erwahnenden Tonktinstler, Hans leo Hasler, sagt ausdriicklich 
in der Vorrede zu seiner Sammlung von geistlichen Liedern, ,,dass er ge- 
sucht habe, die in der Kirche gebrauchlichen Lieder in solche Harmonie 



153 

zu bringen, dass ? ,der Choral in Discantu, wie er an ihm selbst gehe, 
deutlich gehort werden mochte itnd die Gerneine zugleich mit einsiammen 
iind mitsingen konne". 

Winter feld nennt nun in seiner Schrifl eine Anzahl von Mannern, 
welche auf deni betretenen Wege fortgingen; zunachst Samuel M ar- 
se hall zu Basel, sodann den wichtigeren Setli Calvisius, seit dern 
Jahre 1594 Cantor an der Thomassehule m Leipzig. Das Choralwerk 
desselben wurde zu seiner Zeit hochgeschatzt, und erlebte in 25 Jahren 
funf Auflagen; ferner Bartholomaus Gesius, Hieronymus Prato- 
rius, David Scheidemann, Hans Leo Easier, Gotthard Ery- 
thraus und m. A. Ueber Easier will icli noch einige Worte beifugen, 
da er zu den grossten Tonktinstlern seiner Zeit gehort. Er war zu 
Nuraberg im Jahre 1564 geboren. Sein Vater Lucas Easier, ein 
von JoacMmsthal in BOhmen nacli Nfirnberg eingewanderter Tonkfinsfler, 
sandte den Solin in seinem zwanzigsten Jahre nach Venedig, urn dort 
von dem beruhmten Andreas Gabrieliin der Setzkunst unterrichtet 
zu werden, wo er clann mit dessen Neffen, Joliannes Gabrieli, sei- 
nem Mitschfiler, eine enge Preundscliaft schloas, so dass er auch spater 
mit ibn in stetem Verkehr bHeb. Ln Jahre 1585 stand er bereits als : 
Organist im Dienst des Qrafen eta via n Fugger zu Augsburg.' 
16021608 finden wir ihn in Prag, am Hofe des kunstliebenden Kai- 
sers Eudolf E.; er trat dann wahrscheinlieh in die Dienste des Kur- 
forsten Johann Georg von Saclisen und starb im Jahre 1612. Seine 
Thatigkeit gehort uberwiegend noch dem 16. Jahrhundert an, derm im 
Laufe desselben erschienen die meisten seiner Werke. Yon vorztiglicher 
Wichtigkeit sind seine J5 E3rchengesang 9 Psalmen und geistliche Lieder, 
auf die gemeinen Melodeyen mit vier Stimmen simpliciter gesetzt". (1608.) 
In der Vorrede sagt er, nachdem er schon vor wenigen Jahren ?5 nur 
etliche teutsche G-esang auf den eontrapumtum shnplicem mit vier Stim- 
men solcher Art und Maassen gesetzet, dass dieselbigen auch in den 
christliehen Versammlungen von dem gemeinen Manne neben dem Pigural 
mitgesungen werden konnten", so habe er jetzt auch die anderen Ge- 
sange und Psalmen nachfolgen lassen wollen, u. s. w. Ein anderes 
Work desselben Tonsetzers: ? ,Psatoie und ehristliche Gesange mit vier 
Stimmen, auf die Melodeyen fugweiss componirt" (1607), gab Kirnberger 
170 Jahre spater auf Veranlassung der Prinzessin Amalie von Preussen 
meder in Brack. Dieser sagt von demselben, ?5 es sei durchgangig be- 
sonders schon, der Kunst gemass, erhaben und mit vielein Geschmack 
behandelt", und spricht die Eoffimng aus, es werde dahin mitwirken 
helfen, dass 7J die Kunst der Musik, welche heutzutage durch ungelehrte 



154 

Componisten so jammerlich misshandelt werde, vieUeicht wieder empor 
komme mid aiis den "Wolken der IJnwissenheit und Geschmacklosigkeit 
sich hervorthue". 

Der bedeutendste Meister dieser Epoche, welche durch ilin zum Ab- 
schluss und zur Vollendung kam, 1st Johannes Eceard, Er 1st wichtig 
als Stager in doppelter Beziehung, indem er neben deinjenigen, was 
er dadiirch fur den Gemeindegesang war, auch einen lebendigeren Zu- 
sammenliang desselben begrfindete mit dern Kunstgesange ; als Setzer 
zeigt er sich in ganz neuem Sinne, von der hervorstechendsten Bedeu- 
tung; die Gabe des Sangers und Setzers 1st in damals hochster Weise 
bei ihm vereinigt. EC card wnrde im Jahre 1553 in der thtiringischen 
Eeiclisstadt Milhlhausen an der Unstrut geboren. Seine Eltern sendeten 
ihn zu seiner Ausbildung nach Mttnclien, ihn der Leitung des bertihinten 
Orlandus Lassus fibergebend, Dieser Aufenthalt fallt wahrscheinlicli 
in die Zeit von 1571 bis 1574, in dieselbe Zeit, wo Lassus (im Jabre 
1571) eine Eeise nacli Paris unternalim. Es ist wahrsclieinlicli, dass 
der damals achtzehnjalirige EC card ilin auf dieser Reise begleitete, wo 
ein GeMlfe, znmal ein tliatiger, lebensvoller, aufgeweckter, wie dieser 
von Zeitgenossen gescliildert wird, ihm besonders erwlinscht sein musste. 
Ein fimfstinimiges franzosisclies Lied Bccard's sclieint eine Prucht 
dieser Reise, oder doch eine Erinnerung an dieselbe zu sein. Im Jalire 
'J574 wiirde von Carl IX. des Lassus Gegenwart in Paris, ja sein 
fortwahrender Dienst an seinem Hofe verlangt. Der Herzog von Bayem 
willigte nicht allein in diese Reise ? er forderte jenen dazu auf. Lassus 
unternalim dieselbe, kekrte aber, da er unterwegs den Tod des ESnigs 
erfubr, wie icli sclion fruher bei der Besprecliung dieses Meisters er- 
wahnte, sclinell wieder urn. Dies wurde jedenfalls fur Eccard eine 
Veranlassung, sclion vor der Abreise von seinem Lehrer zu sclieiden, da 
er dauernd ihm in die Fremde nicht zu folgen wlinschte. Sein erstes 
Tonwerk veroffentliclite er 1574 zu MtiUliausen. Moglicli, dass er um 
diese Zeit dort anwesencl war; wahrscheinlicli indess, dass er erst auf 
Umwegen in seine Vaterstadt gelangte, fiber Augsburg nach Venedig 
ging, dort die Bekanntschaft des Andreas Gabrieli inacbte, und erst 
eiuige Monate nach seiner Abreise von Mtinchen in seiner Heimath, ein- 
traf. Spafcer erblicken wir ihn in den Diensten des Grafen Fugger, 
jeclonfalls durch. Lassus' Empfehlung. Von langer Dauer war indess 
dieses Verhaltniss nicht. Der Ruf eines kunstliebenclen Fiirsten ent- 
fernte ihn weit von seinem damaligen Aufenthalte und seiner Vater- 
stadt, an einen Ort, wo er die frischeste, erfolgreichste Thatigkeit seines 
Lebens entfalten sollte. Er ging in Polge erhaltener Binladung in den 



155 

SOer Jaliren nach EMgsberg, anfangs als Yicekapellmeister, und wurde 
im Jahre 1599 zuro wirklichen Kapellmeister ernannt. Dorfe blieb er 
bis zum Jahre 1608, wo er eiaem Eufe nacli Berlin als Kapellmeister 
folgte. Sein Todesjahr ist das Jahr 1611. Schon im Jahre 1574 ist 
Eccard, wie ich soeben erwahnt habe, mit einem Werke hervorge- 
treten; es enthalt unter dem Titel: Odae sacrae, zwanzig desange zu 
ffinf und melir Stimmen. Bin zweites erschien im Jahre J577, woran 
jedoch noch ein anderer Tonsetzer sich betheiligt hatte. Ein anderes, 
-der Familie Fugger gewidmet, entstand 1578, als er sich im Dienste 
derselben befand. Im Jahre 1589 erschienen zu Konigsberg 25 theils 
funf-, theils vierstimmige geistliche und weltliche Lieder EC card's. 
Es folgten hierauf 20 lateinische Oden Ludwig Helmb old's, Muhl- 
hausen 1596. Sein Fiirst hatte ihm im Jahre 1586 den Auftrag gege- 
ben, iiber die Weisen der in Preussen gebrauchlichsten Kirchengesange 
funfstimmige Tonsatze anzufertigen. Dies hatte er nach und nach ge- 
than, und sie in zwei TheUe gebracht, deren erster 24 Tonsatze enthielt 
fiber Zeit- und Festlieder, der zweite aber 31 uber Katechismuslieder, 
Psalmlieder, Lehr-, Bet- und Lobgesange, so dass in beiden 55 Melo- 
dien behanclelt waren. Beide erschienen zu Konigsberg im Jahi^e 1597. 
In der Vorrede sagt er: Einige hatten wohl fruiter schon die Melodien 
der gebrauchlichsten Kirch enlieder in eine solche Hannonie gebracht, 
dass der Choral, wie er an sich selbst gehe, in der Oberstinmie deutlich 
gehort werde. und die Gemeinde denselben zugleich mit einstinimen 
und singen konne. Dies sei nur zu loben. Dennoch w ist doch noch 
zur Zeit kein Cantional, darin nach musikalischer Art was anmuthiges 
und der Kunst gemasses enthalten ware, zu uns anhero in Preussen ge- 
langet". Er hoffe demnach mit der gegenwartigen Arbeit der christ- 
lichen Gemeinde gedient zu haben, } ,welche die gewohnliche Kirchen- 
Melodey aus dem Discantu wohl und verstandlich horen, und bei sich 
selbst nach ihrer Andacht singende, iinitiren konne" ; aber auch erfahrene 
Kunstler wiirden ,,ihnen solche Arbeit, angewendete Muhe und Fleiss 
gunstig gefallen lassen", und sehliesst mit der Bemerkung, dass er sich 
in Ftihrung des Chorals nach den preussischen Kirehen in Konigsberg, 
wie derselbe darin gesungen werde, gerichtet habe. Ist nun in den 
frfiheren "Werken Ee card's die Eigenthtimlichkeit desselben noch un- 
entwickelt, erscheint daiin der Einfluss fremder Individualitaten iiber- 
wiegend, deutet AJles nur auf einen Kunstler, der das Erlernte fortfibt, 
so bezeichnen die zuletzt genannten funfstiminigen Choralsatze fiber 55 
Kirchenmelodien, sowie ein zweites, ein Jahr spater (1598) erschienenes 
Hauptwerk: 5J Preussische Festlieder durch's ganze Jahr, mit funf, sechs 



156 

bis aeht Stlmmen" die Stnfe seiner Meisterschaft, At>durch er bis 
die Mitte des 17. Jahrhunderts Mnaus in der durcli ilin und durcla die 
beiden genannten Werke gegrundeten preussischen Tonsclmle HShepunet 
und Muster wurde. Durcli die Vereinigung der Gaben des Sangers und 
Setzers war die Aufgabe allmahlich eine andere geworden; die Melodie 
war nicht mehr ein von aussen her Bedingendes und Beschrankendes ; 
durcli sie empfing die TMtigkeit des Setzers erst Gestalt, Bedeutung 
und Lebeu. Die nothwendigen Eolgen dieser neuen Stellung des Ton- 
ktinstlers waren namentlicL. zweierlei : der Uebergang des Hauptgesanges 
in die Oberstimme, damit, was nun wahrliaft Gegenstand der Aufgabe 
geworden war, vernelimbarer werde; sodann die grossere Vereinfacliung 
des Satzes, die vermehrte Sorgfalt fur bedeutsames Verhaltniss der ein- 
zelnen Zusamiaenldange, welclje in die Glieder der Melodie, als ihre 
hochste Spitze, ausliefen; nur so konnte dern Sinne, in welchem der 
Iliinstler jetzt zu scliaffen hatte, genttgt werden. Damit hatte sogleich 
die Aufgabe mehrstimmiger Betonung aucb einer gegebenen, fremden 
Melodie eine wesentlich veranderte Gestalt empfangen, es zeigte sicli 
die Nothwendigkeit, dass aucli diese iiberall in die Oberstimme tiber- 
geke, Sollte es aber bei jener Vereinfachung des Tonsatzes, die damit 
so nahe zusammenMng, verbleiben, so stand zu beffirchten, dass die 
Setzlomst in dem bisherigen Sinne daiiiber zu Grunde gelie. Denn das 
blosse Ordnen und Erfinden angemessener Zusainmenklange fflr die ein- 
zelnen Schritte der Melodie, oline eigenthfimliche melodische Aiisg^- 
staltung der verbundenen Stinnnen, in denen jene dargestellfr-wurlen, 
oline sinnreiclie Bezieliungen derselben zu einander, schieBr cliesen Nanien 
nicht m yerdienen. Manclierlei Zweifel mussten die Tonsetzer beun- 
ruhigen, auch Eccard konnten sie nicht fremd bleiben, und es ist 
Nichts nattirliclier, als dass wir bei ihua neben dem Bilden auf dem 
bisher betretenen Wege Versuche gewahr werden, eine neue Bahn zu 
finlen, wo dem Sanger, wie dem Setzer, die in unserem Meister sich 
verbanden, in gleicher Art Gentige geschehe. Derartige Bestrebungen 
findet v. Winterfeld in dem 1589 erscbienenen Werke, und es wtirde 
dies demnach als eine Vorstufe far die spateren Hauptwerke zu bezeich- 
nen sein. Dies namentlich ist darin bemerkenswerth, dass Eccard hier 
in gleicher Weise als Erfinder auftritt ; nur mit der schopferisch bilden- 
dea Kraft konnte die in gleichem Sinne ausgestaltende erwachen und der 
Ettnstler.befahigt werden, dann auch in das Gegebene, gleich einer 
eigenen Sehopfung, sich belebend zu vertiefen. Jetzt erhielt er durcli 
die Aufforderung seines Ftirsten, des Markgrafen Friedrich Georg, 
eine aussere Veranlassung ; eine innere war ihm gegeben durch die Ver- 



157 

einigung des Sangers nnd Setzers in ihm, und die neuen Anforderungen 
an seine Kunst T die ihm dafaus umnittelbar erwuchsen. Endlich kamen 
aucli noch Anregungen durch Osiander, nnd diesena verwandte Be- 
strebnngen. Osiander hatte die Ausgestaltung der einzelnen Stimm.en 
der Tonfulle ihres ZusammenHingens nachgesetzt. EC card lobte die 
fronune Absicht des Tonsetzers, die yerstandige Ausfiihrung, allein er 
vermisste die Knnst im hoheren Sinne, die lebendige Gliederung des 
Einzelnen zn einem Ganzen. Auf diesem "Wege des Forschens nnd Ver- 
gleichens bildete sicli ihm, was bei Osiander als Ziel des Strebens er- 
.scHenen war, zur Grnndlage des seinigen aus; ans Zweifeln, Erwagen, 
Snclien der rechten Mittel, tun das Bild des mehrstinrmigen Kirchen- 
liedes, wie es in seinein Inneren lebte, zu Marer Ansehauung zu bringen, 
erwuchs endlieh schopferisches Gestalten. Die vornehmste Schwierigkeit 
beruhte darin, dass in engera Kamn zusammengediangt werden musste, 
was da, wo die Leitnng der Qemeinde, der Mrchliclie Gebraucli niclit 
in der Aufgabe lag, nach Gefallen breiter ausgedehnt werden durfte. 
Diese Gedrangtheit der Stiminenverwebnng musste erreichi werden, oline 
dass sie Spnren irgend qines Zwanges an sicli trag. So dient nun bei 
Eccard die knnstvolle Begleitnng stets nur der Hauptstinnne ; sie ist 
ihr, was einem wolilgebauten Leibe seine innere Gliederung, in der 
seine Sclionlieit yollkonnnen zur Ansclianung gelangt. Das Ganze er- 
scheint nur als ein gewaltiger, doch Marer Strom einfaclier Hannonie, 
in der Polyphonie die Homophonie, nnd auf diese "Weise wurde eine 
neue Art in der Behandlung des Chorals gescliaffen. Auch auf das 
Orgelspiel als Begleitung des Gemeindegesanges hat Eccard eine sehr 
erhebliche Einwirkung geubt. Zur Zeit desselben fand noch nicht ein 
solches Verhaltniss zum Eirchengesange statt, wie es gegenw^rtig be- 
steht. Die Orgel diente frfiher nur zur Begleitung des Kunstgesanges, 
sowie for selbststandige Leistungen des Organisten. Durch die Anre- 
gung Eccard^s konnte die Anwendung der Orgel in spater iiblicher 
Weise nicht lange melir ausbleiben. War es bisher die Absicht unse- 
res Meisters, dem Gemeindegesange die Kunst zuzugeselleo, so wollte 
er auch noch auf einem anderen Wege Aehnliches erreichen, damit die 
Kunst, dem Eorchengesange sich naher anschliessend, als dessen hohere 
Bluthe ersclieine und auch in ihren tiefsinnigsten, reichsten Erzeugnissen 
Geist und Gemuth der Gemeinde in Ansprach nehme, nicht allein nach 
dem Beifall der Kunstgelehrten ringe. Dies zu leisten, eine Mrcbliche 
Kunst in echt eyangelischem Sinne zu schaffen, hat Eccard in seinen 
preussischen Festliedern gestrebt. Die hohere Kunst sollte auch nicht 
schroff dem Gemeindegesang gegenuberstehen, wie in dem alten kunst- 



158 

reiclien Motett, sie sollte aber auf der Grundlage beruten, die far evan- 
gelischen Kirchengesang die allgemeine war, der des Liedes dalier 
der Name , ? Festlieder" , also eine Vereinigung des Motetts und des 
Liedes anstreben. Die Hauptaufgabe Ton EC card's kunstlerischein 
Bilden war demnaeh die Liedform. Als Setzer hat er die MrcHiche, 
dem Gemeindegesang angehorende Melodie des geistlichen Liedes, wie 
er sie vorfand als ein Gegebenes, nach ihrem inneren BeicMtann, ihrer 
harmordscben Bedeutsamkeit zur Anschauung gebracht, ohne deshalb auf 
die Kunst der Stimmenverwebung- verzichten zu mussen, die er, wenn 
iir aucb die Natur seiner Aufgabe nur beschrankten Eaum zu ge- 
wahren scbien, dennoch mit Meisterschaft dabei entfaltete. Als Sanger 
bat er den Schatz an Singweisen zwar um einige bereicbert, aber mit 
viel grBsserem Erfolg fiir den Kimstgesang erfunden. Dies gescbab 
in den Pestliedern, einer Form, in der Mannigfaltiges imd Einfacbes, 
FSIle und Klarbeifc verscbraolz. So steht er auf der Hobe der Kunst, 
nicbt allein seiner Zeit. Er bat Nacbfolger gefunden, aber keinen, von 
dem er in seinem Sinne ubertroffen worden ware. Deshalb ist er von 
grdsster Bedeutung far die Gescbicbte der evangeliscben Kircbe. 

Ich babe versucbt, durcb Auszuge aus der Scbrift v. Wint erf eld's, 
meist mit des Verfassers eigenen Worten, Ibnen die Hauptpttncte der 
ersten beiden sicb bis in das 17. Jahrhundert erstreckenden Epocben 
anzudeuten. Icb wende roicb jetzt der nun beginnenden Umbildung des 
Kunststiles zu, muss micb aber, da icb in der eben beendeten Darstel- 
lung sebon die mir gesteckten Grenzen der Aasfthrlicbkeit etwas tiber- 
scbritten babe, hier um so kurzer fassen. 

Jetzt ist es nicbt niehr eine stetig sicb entwickelnde Kicbitung, die 
wir verfolgen konnen, es steben deren nun zwei nebeneinander. Lange 
noch und krSftig waltet im 17. Jabrhundert die eben besprochene fort, 
die wir bis dabin. zur bocbsten Blutbe entfaltet sahen; von Italien her 
aber bahnt sicb eine neue an, wesentlicb yerschieden von der alteren da- 
durcb, dass sie auf dem Kunstgesange, bewusster kunstlerisclier Absicbt 
beruht, die Tonkunst zu einem lebendigen Werkzeug fur den Ausdruck 
mannigfacher, wechselnder Bewegungen des Gemiitlis umbilclet, und die 
zu grosser Hobe gesteigerte Ausbildung der Kunstmittel nach alien 
Seiten bin fur die Ergotzung des Obres in Anspruch nimmt. Es enfc- 
steht eine neue Art des kircblicben Kunstgesanges, ein neues Verbalfcniss 
desselben zu dem der Gemeinde. Es ist nun aucb jene Zeit der erston 
Begeisterung voruber, in der aus der Gemeinde selbst die Weisen ibrer 
geistlicben Lieder hervorgingen ; die Erfindung derselben rubt jetzt in 
der Hand begabter Kunstmeister. Winter feld im zweiten Bande 



159 

seines Werkes widmet beiden Richtungen einB ausffihrliche Betrachtnng. 
Er macht, was die altere betrifft, noch versehiedene beachtenswerthe 
Tonsetzer namhaffc, u. A. "Walliser, Bodenschatz, Moritz, Land- 
graf yon Hessen, Melchior Prank, er bezeichnet eine preussische 
Tonschiile unter den unoiittelbaren NacliwkkTingeii EC card's, bespricht, 
unter anderen dieser zugehorigen Marmern, Johann Stobaus, He in- 
rich Albert, auf den ich demnachst noch eimnal zuruckkommen 
werde, und bezeichnet endlich auch noch mehrere Tonsetzer nnter der 
allgemeinen Ueberschrift : die Berliner geistlichen Sanger. Hier jedocli 
kommt es uns nicht mehr darauf, sondern ansscbliesslich auf die neu 
hervortretenden Eiehtungen und deren Reprasentanten an. 

Die neue Richtnng in Italian ausserte sieh dort zunachst dureli An- 
kampfen gegen die Kunst simrreicher Stinnaenverwebung, gegen den 
Contrapunct. Es gait, me Ibmen ans der fruheren Darstellung schon 
bekannt, dem Worfce wie der Form des Dichters mehr Balm zu breehen. 
Es entstand der Einzelgesang, das Reeitativ. In gleicher Weise trachtete 
man, in den Tonen und ibren gegenseitigen Verhaltnissen nene Mittel 
zu entdecken, um eine lebhafbere, tiefere Bewegung der Qemuther zu 
erreiehen. So entstand die Chroinatik, nnd das allmahlicb.e Erloschen 
der alten, auf Entwicklung des diatonisclien Systems in sich selbst be- 
ruhenden Grundfonn des geistlichen Gesanges ergab sieh als Folge. 
Endlich bemuMe man sich, die der Form des kunstgerechten mehrstim- 
migen Satzes vorgeschriebenen Schranken zu lockern, ja sie aufzuheben. 
So entstand, wie anch schon friiher erwahnt, der Generalbass, eine die 
freiere Bewegung der iibrigen Stimmen sichernde Qrundstrmme, und mit 
ihr die Form des Concerts; im Zusammenhange aber mit dieser Form 
die Verbindung selbst^ndigen Inskumentspiels mit dem Gesange. 

Der Erste, welcMr diesen "Weg betrat, war Meliael Prltorlns, 
geb. in Thuringen im Jahre 1571, gesl 1621, Kapellmeister nnd Kam- 
merorganist am Brannschweig-Wolfenbuttel'schen Hofe. Pratorius, einer 
der thatigsten und strebsamsten Manner seiner Zeit, steht an der Grenz- 
scheide des 16. und 17. Jahrhunderts, und wenn auch nicht von ihm 
gesagt werden kann, dass er in der Kunstrichtung des einen oder des 
anderen schaffend yorangegangen, so haben doch beide Richtungen in 
ihm ein sinniges Verstandniss und eine kunstgeubte Hand gefunden. 
Yon ungleich gr^sserer Wichtigkeit war der bedeutendste Tonmeister 
dieser Zeit, Heinricli SeMtz 5 derselbe, von dem ich schon fruher er- 
wahnte, dass er der Erste gewesen sei, welcher die Oper nach Deutsch- 
land verpflanzte. Schutz war zu Kostritz im Voigtlande im* Jahre 
1585 geboren. Dreizehn Jahr alt, kam er als Singknabe in die Hof- 



160 

kapelle des Landgrafen Horitz von Hessen-Cassel. Nach einigen 
Jahren bezog er mit seinem Bruder auch fiir wissenschaftliche Aus- 
bildung war in seiner Stellung gesorgt worden die Universitat Mar- 
burg, sieli der Jurisprudent zu widmen. Der Landgraf indess, dem seine 
xnusikalisehen Talente sehon bekannt waren, liess ihm den Vorschlag 
machen, sidi nach Tenedig zu dem hochberiihmten, aber scion betagten 
Johannes Gabrieli zn begeben, nm dnrch diesen in die hoheren 
Geheimnisse der Tonkunst eingeweiht m werden. Dazu wurde ihm 
ein Reisegelcl yon 200 Thalera jShrlich angeboten. Schiitz nahm den 
Vorschlag an, ging im Jahre 1609 nach Venedig und widmete sich 
dort mit grossem Meisse seinen musikalisclien Studien, wenn auch bis- 
weilen schwankend, ob er diesen Weg welter verfolgen solle. Eine 
Prucht dieser Studien war ein zn Venedig im Jahre 1611 herausgege- 
benes funfstinimiges Madrigalenwerk, Nach dem Tode Gabrieli 's kehrte 
er/iin Jak-e 1613, nach Gassel znrack. Bald darauf nach Dresden zu 
einer Festliehkeit des Hofes berufen, wurde ihm dort der Antrag ge- 
macht, das Directorimn der Kapelle des Kurftirsten Johann Georg I. 
zn tbernehmen. In Folge vielfacher Verhandlungen des Letzteren und 
des Landgrafen Moritz ertheilte ihm dieser fur einige Jahre die Er- 
laubniss hierzu, die im Jahre 1616 zurtickgenoAiinen, endlich jedoch in 
unbeschrankter Weise gegeben ward, so dass yon jetzt an Schtitz 
ganzlich dem sachsischen Hofe angehorte. Hier entfaltete er nun eine 
ausserst umfassende Thatigkeit. Er zog italienische Instrumentisten nach 
Dresden, sorgte fiir gate italienische Instrumente, sowie fiir di^ Sendung 
fahiger Inlander nach Italien, richtete iHjerhaupt die Kapelle Tiach dem 
Muster derjenigen ein, welche er in Italien kennen gelernt hatte. Allein 
nun trat fur Sachsen mit dem schwedischen Kriflge eine Zeit der Be- 
drangniss ein. Sehiitz unternahm in Folge de*en mehrfache Eeisen; 
im Jahre 1628 ging er zum zweiten Male nach Italien, um ,,nach der 
inzwischen aufgebrachten neuen Manier der Musik sich zu erkundigen" ; 
um 1634 linden wir ihn in Kopenhagen. Nach seiner Elickkehr die da- 
maligen trostlosen Zustande noch unYerandert findend, verliess er Dres- 
den auf s Neue und wandte sich 1638 nach Braunschweig und Luneburg, 
1642 wieder nach Danemark ; erst seifc dem Jahre 1645 konnte eine er- 
folgreichere Thatigkeit fur ihn wieder beginnen. Von da an blieb er 
bis an seinen Tod im Jahre 1672 in der Stellung als sachs. Kapell- 
.meister, Schtitz wurde schon vorhin als der bedeutendste Vermittler 
des italienischen Einflusses in Deutschland bezeichnet. Namentlich waren 
es die italienischen Concerto, welche er in der Hofkirche zu Dresden 
zum grossen Beifall des Ffirstea und aller Horer einftihrte. Dnter seiaen 



161 

sa 

Werken treten tins zuerst seine 1619 m Dresden gedruekten ,,Psaboaen 
David's sammt etlichen Motetten und Concerten mit acht und melir 
Stimmen" mit Begleitung eines Orgelbasses und yerstarkender Instni- 
mente entgegen, ein Yersuch, die in Italian beliebt gewordene musi- 
kalisch-declanaatorische Beliandlung auch auf grosse Choimassen anzu- 
wenden. Ein anderes Werk, vierstimmige Ccmtiones sacrae, rait Qrgel- 
bass, Freiberg 1625, zeigt den Versuch einer Yerschmelzung der alien, 
in sich selbststandigen Form deg Motettensatzes mit der modernen des 
Concerts, ebenso "me der rein diatonisclien Kirchentonarten mit den in 
der Chromatik die Scliranken jener durchbrechenden, damals sclion Balin 
gewinnenden neueren. Dem Aelteren ist fur das feierlicli Ernste, dem 
Neueren fur das lebhaffcer Bewegte Eanm gegeben. Unser Tonsetzer 
strebt, Jenes nnd Dieses, Deutscliland und Italien, Bines mit clem An- 
deren 211 vermalilen. In Yenedig erscMen im Jahre 1629 der erste 
Theil eines seiner Hauptwerke: Symphoniae mcrae. Er entMlt Gesange 
fur erne, zwei odei drei Solostimmen, yon der Orgel und einem, zwei 
oder drei obligaten Instrumenten begleitet. Hier treten die Kirchen- 
tonarten irnrner rnelrr zuruck; wir begegnen einem sorgsainen Ausbilden 
des Einzelnen, einer an wenige "Worte oder einzelne Zeilen gekntipften 
breiteren musikalisclien Ausfiihritng. Jede Zeile einer langeren Sclnift- 
stelle bietet ein besonders abgegrenztes, durcli eine gemeinsame melo- 
disclie Gnmdwendung (Motiv), auch wol einen ilir yerkniipften Gegeu- 
satz gestaltetes Bild; einen Gegensatz, der bald neb en sie gestellt, bald 
mit ihr verflocliten ist. So bildet sich. nach und nach die concertirende 
Arie, das begleitete Duett aus. Symphoniae lieissen die Satze, weil 
weder die alte Benennung der Motetten, noch. die neuere der Concerts 
auf sie passt, die gewahlte aber, als eine allgemeine, auch fur neuere 
Formeu schicHicli erscheinen konnte. In den Jahren 163G und 1639 
trat Schutz mit zwei Tlieilen geistlicher Concerte hervor. Es sind zwei- 
bis ftinfstimmige Satze. Auch Gesange fur einzelne Stimmen finden wir, 
nicht sowohl arienhaft als reeitativiscli ; nur Einzelnes in ihnen ge- 
staltet sich. mehr nielodisch. Jeder auch mehrstimmige Tonsatz erlialt 
erst durcli den beigeffigten Generalbass seine vollsklndige Harrnoiiie, 
wie es die Art der italienischen Concerte mit sich bringt^ In diesen 
beiden Theilen seines Werkes, dessen Titel den Namen einer in Italien 
erfondenen Form des Satzes tragt, namentlich im zweiten Theil, sehen 
wir Schutz, der sich zuvor fast allein an italienischen und lateinischen 
Texten versucht hatte, fiir deutschen Gottesdienst der evangelischen 
Kirche thatig, bemuht, die italienischen Formen des Eecitativs^ des 
Concerts ihm anzueignen. Im Jahre 16-47 endlich folgte der zweite ? 

11 



162 

1650 der diitte Theil der Symphoniae sacrae. Von besonderer Wich- 
tigkeit, nanientlich durch ihren Eiufluss auf die MusikenfrwicHung, siad 
die oratorischen Compositumen YOU Schfitz, die ,,Auferstehung des 
Eerm'S die ,,Sieben Worte" und die vier Passionen. Das erstgenannte 
Werk, welches im Jaire 1623 211 Dresden erschien, lehnt sich an das 
urn die Zeit seines ersten Aufenthaltes in Venedig schon ia voller Bliithe 
stehende musikalische Drama und die damals so vorziiglichen Beifall ge~ 
niessenden Concerte, andererseits aber aucli an den altkirchlichen Vor- 
trag der Leidensgeschiehte Christi in der Charwoche an. "Wir h5ren, 
referirt v. Win t erf eld, den Evangelisten seinen Bericht nacli Art 
einer kirclilicken Intonation absingcn, durchgangig in langgezogenen 
Tonen, entweder durcli ein Orgelwerk, oder eine Laute, oder aucli Ton 
vier Yiolinen begleitet; die ScMussfalle seines Gesanges sind stets rhyth- 
raiscli gebildet, in gleicher Art schliesst sich ilinen die Begleitung an, 
bedentende Stellen heben sicli durch declamatorischen Vortrag liervor, 
der sici, bis m vollig ausgebildeter, selbst durch Sylbendehnungen ge- 
schmSckter Melodie steigert. Die Eeden Christi, der Bngel, der Mag- 
dalena, einzelner Junger, der Hohenpriester, wie sie aus dem Bericht des 
Evangelisten hervortreteu, finden wir naeh Art kleinea- Concerte behandelt ; 
es sind nach Anzahl der redend eingefuhrten "Personen Gesange fur zwei 
oder mehrere Sfchamen, die einander bald nachalimen, bald gleichen 
Sclirittes mit einander fortgelien, durch einen Generalbass gestutzt 
zweistiinrnig auch da, wo Einer alleiu reclet, wobei aber Schtitz den 
Vortrag der einen dieser Stiinmen einem Instruniente zuzutheilen erlaubt 
hat. Ein sechsstimmiger, ein achtstiinniiger Doppelchor stehen, jener 
am Anfange, dieser am Schlusse des Ganzeu; in der Mitte befindet sich 
ein einziger sechsstinimiger Chor, declamatorisch gehalten. Der im 
psalniodirenden Tone gehalteue Vortrag des Evangelisten bildet die 
Grundlage des Gaiizen. Wo er sich langer auf einem Tone bewegt, 
soil, damit die Einformigkeit verrnieden und der angemessene Effect er- 
reiclit werde, entweder der Organist ,,mit der Hand immer zierliche und 
appropriate Liiufe oder passaggi darunter niachen", oder, wenn die 
Violen statt der Orgel begleiteu, ,,eine Viola unter dem Haufen pas- 
seggiren". Dieser Vortrag wird aber auch zn einem recitativischen, ja 
arienliaften, dem die Begleitung ausdriicklich yorgescluieben ist, es treten 
dann modern concertirende Stellen aus ihm liervor; so unterscheidet er 
sich von dem alterer, mehrstimmiger Passionen, denen eine Art dar- 
stellenclen Vortrags in der friiheren Kirche eigen war. Endlich lasst 
eine liber die Grenzen des Strengkirchlichen hinausgeliende Steigerung, 
die Gelegenheit giebt, neue in Italieu entstandene Darstellungsformen 



183 

und iiblich gewordene Zierliehkeiten einzufuhren. uns deutlicli erkennen, 
welelier Sehule der Melster angehorte, und dass er forfcgehend in deren 
Sinne gewirkt habe. Einen wichtigen Fortschritt gegen die ,,Aufer- 
stehung" zeigen die w Sieben Worte" (welehe urn das Jahr 1645 ent- 
standen sein mogen), insofern in diesem TFerke an die SteUe des psal- 
modirenden Yortrags des Evangelisten das ariose Eecitativ getreten 
ist, die Einzelpersonen der Seh&cher aucli nur durch Einzelstimnieii aus- 
gedruckt sincl und die Partie des Jesus ausdrueklieh vorgesclniebene 
dreistimirdge Insthunentalbegleitung hat. Audi hier ist das Ganze durch 
Chore eingerahmt, welehe von der eigentlichen Handlung durch Instru- 
mentalsatze getrennt sind. In seinen in das Jahr 1665 fallenden vier 
Passionen kehrt Sehfitz, was die Behandlung der Partie des Evange- 
listen, sowie der redend eingeffthrten einzelnen Personen betrifft, zu dem 
psahnodirenden Yortrage zurfiek, auch fehlt die Instramentalbegleitung ; 
dagegen sind diese Werke bedeutungsvoll dadurch, dass sie zuni ersten 
Mai in die Handlung eingreifende Chore in wahrem Oratorienstil ent- 
halten, Chore von uberraschender Schlagkraft der dramatischen Cliarak- 
teristik. Ich erwuhne beilaufig, dass von den zuletzt besprochenen, 
kunstgeschichtlich so bedeutsamen Werken die r Sieben Worte" sowie 
die Passionen (letztere, mit den erforderlichen Einweglassungen, in ein 
Qanzes zusammengezogen) neuerdings durch Carl Eieclel herausgegeben 
worden sind (Leipzig, E. W. Fritzseh). Fur den Eunstgesang in der 
evangelischen Kirclie hat Schutz wahrhaft furdernd gewirkfc, wir durfen 
ihn den Erfinder einer netien Art geistlicher Musik fur deren Gottes- 
dienst nennen. Was vor ihm geschaffen wurde, erscheint vorzugsweise 
an die Liedform geknupft; Schiltz dagegen, der sein Yorbild aus Italien 
entnahm, blieb die Eticksicht auf den Gemeindegesang fremd, und so 
strebte er, auf anderen Bahnen das, was ihm als das Hochste erschien, 
zu erreichen. Der Einfluss Italiens war fur den Kunstgesang in der 
evangelischen Kirche ein lebendiger, fur den Gemeindegesang ein storen- 
der. Mannigfache Lebenskeime fur jene wunlen durch ihn geweckt, die 
erst spilter Hire voile Entfaltung erfuhren, aber die thatige Theilnahnie 
der Gemeinde an dem Gottesdienste litt darunter, der Zusamnienhang 
zwischen ihrem Gesange und dem des Sangerchors wurde dadurch ge- 
lockert. Es ist ein aus einem frischen Keime machtig aufsprossender 
"Wuchs, der sich uns hier zeigt; schon ist seine Bluthe gezeitigt, aber 
noch nicht vollstandig entfaltet. Diese vollstandige Entfaltung sollte erst 
am Qchlusse dieser ersten grossen Periode kommen. 

Ich habe bis jetzt, heute sowol wie in der letzten Yorlesung, Ihre 
Blicke allein auf die hervorragenclsten Spitzen aus der Zeit jener grossen 

11* 



164 

KunstentwieHung innerhalb der evangelisehen Kirche gelenkt; noch 
Handles ware zu sagen, tun das Bild zu vervollstandigen, doch 1st an- 
derer, wena aucli untergeordneter Gebiete noch gar nicht gedacht, und so 
breehe icli Mer ab, zum Tlieil auch, um clem EnnMenclen der fortge- 
setzten Betraclitting eines und desselben Gegenstandes auszuweichen, zu- 
naclist Einiges fiber den Zustand des Orgelspiels in jener Zeit bernerkend 
und die bedentendsten Manner uamliaft machend. Icli lasse^sodann, wie 
icli e$ sclion bei der Darstellung der GeseMclite der italienisclien Kirchen- 
musik that, eine kurze Uebersiclit der Leistungen aaf dem Gebiet der 
weltliehen Musik folgen und 'kehre imcli Beendigung dieser Einsclialtung 
zu clem Hauptgegenstancl der gegenwiirtigen Betraclitung zuruck, urn damit 
diesen Zeitranm abzusehliessen. 

Was wir von Orgelsaclien aus clem 10. Jahrhundert kennen, zeigt 
uns das gesammte Orgelwesen noch auf einer untergeordneten Stufe, als 
eine noch niclit selbststSndig entwickelte Kunst. Das Orgelspiel war da- 
mals, wie das Instrumentspiel tiberhaupt, nur ein Nachhall cleg Gesanges. 
Der Organist setzte aus den einzelnen Stiminl)ucliern clamals erscliienener 
geistlicher Gesunge die beliebtesten sicb. ab und fiilirto sie dann als 
Tor- oder Zwischenspiele, ocler am Schlusse bei dem Gottesdienste aus. 
Die erste Hinneigung zu eincm von der Gesangsart sich losenden und 
selbststaudig ausbildenden Orgelspiel war das sogenannte Diminuiren 
oder Goloriren: die Ueberkleidung der einzelnon Schritte einer Melodie 
durcli eine Ftille rasch daliineilender Tone, jedoch so, daws die von ihnen 
wenn aucli verhullte Wendung des mclodischen Fortbewcgons doch er- 
kennbar bleibe, indem innerhalb jener ausyehinuckenden Kguren immer 
diejenigen Tone durch ihre Stellung als der rechte Kern bczeichnet wurden, 
auf denen dieser Fortschritt berulite. Wir flnden dies z. B. in einem 
Werke des spater nodi zu erwahnenden Ammerbach vom Jalire J571. 
Aehnlichenx begegnen wir in einem Werke von Bernhard Schmid 
vom Jalire 1577.) Einen Fortschritt zeigt uns Michael PrStorins. Er 
ist jedenfalls der erste doutscho Organist, welch or Heine Kunstfertigkeit 
nicht in handgerechtein Absetzen und mannigfachom Ooloriron eines schon 
fertig gegebenen Tonstficks bewahrtc, sondorn eine cinfacLe Melodie als 
Aufgabe fiir neue, selbststandige,' scbon ursprunglich orgelrechte SiLtze 
benutzte, Zu grosserer EigentlnimlieMeit ontfaltet findon wir cliese Kunst 
in der ersten HSlfte des J7. Jahrliunderts durcli Samuel Scheldt, geb. 
m Halle imi das Jahr 1587, gest. I (154. Seit ungefalir 1620 stand er 
als Organist und Kapellmeister im Dienst Christian "Wilhel^m's, 
Markgrafen von Brandenburg. Sein Wolmort blieb indoss seine Vater- 
stadt Halle. In seinem Hauptwerk, der Talulatum nova, welche im 



165 

Jahre 1624 in drei Theilen erscMen, sehen wir das Orgelspiel bereits zu 
einer selbststandigen Kunst erhoben; es ging nicht clem Tonsatze fur Ge- 
sang mehr nach; ini Gegentheil war jetzt die Hauptaufgabe das Sehaf- 
fen neuer, iin Geiste der Orgel erfundener Satze. "Wir erblicken ein 
unmittelbares Eingreifen der Orgel bei dem Gottesdienst, so z. B., wenn 
dem Gesange des Geistliclien am Altar die Orgel antwortet, und nun 
Vers urn Vers der Geistiiehe oder auch die Qemeinde rait der 
Orgel weehseln, bis zuletzt Orgel und Gesang zusammentOnen. Den Ge- 
brauch der unmittelbaren Begleifciing des Qemeindegesanges durcli den 
Organisten konnen wir, als allgeniein verbreitet, seit dem Jahre 1637 
annelunen. Von Scheidt erschien imi 1650 zuerst ein Werfc, welches 
zu diesem Zweck gearbeitet war. Ein zweifcer bedeutender Orgelmeister 
aus der zweiten Halfte des Jahrhunderts ist Johami Pachelbel^ geb. 
zu Nurnberg im Jahre 16,53, gest. 1706. Sclion friih zeigte derselbe 
Sinn iind Anlage, wie fur afles Wissenswiirdige tiberlianpt, so insbeson- 
dere fin- die Tonkunst. Er be^uchte die Universitat Altdorf, dort zugleicli 
den Organistendienst verseliend, begab sicb dann nach Eegensburg, wo 
er wegen seiner vorzfiglichen Gaben und ties hohen Grades ilirer Aus- 
biklung als Mitglied des poetisehen Gymnasiums fiber die gewohnte ZaH 
der Alumnen aufgenommeu wurde, und verweilte daselbst drei Jahre, den 
Wissenschaften sowie der Tonkunst mit gewohntem Fleisse obliegend. 
Nach dieser Zeifc widmete er sicli der Tonkunst, als seinem Lebensberuf. 
Er bekleidete zu Wien drei Jake lang, bis 1075, das Ami eines Ge- 
liiilfen und Stellvertreters des berfihmten Organisten zu St. Stephan, 
Johann Caspar Kerl, wurde dann als Hoforganist nacli Eisenach be- 
rufen, 1678 als Organist nach Erfurt, wo er zwiilf Jahre blieb, bis er 
auf vortheilhafte Anerbietungen 7,11 einem gleichen Dienst in Stuttgart 
eingiug. Von dorfc wurde er durch die Pranzosen yertrieben, man uber- 
trug ikn jedoch bald wieder, im Jahre J692, das Organistenamt an der 
Hauptkirclie zu Gotha, dein er bis 1695 vorstand. Endlich erhielt er 
eine Einladung nach Nurnberg als Organist an die Sebalcluskirche, wo- 
selbst er Ms zum Ende seines Lebens blieb. Pachelbel ist einer der 
yorziiglichsten Organisten seiner Zeit, er war aber auch ein im Pache 
des geistliclien Gesanges hochgeschatzter Tonsetzer und gehort, nach 
v. "Wi nt erf eld's Bemerkung, zu den Eunstlern, deren Spiel mehr durch 
ihi*e gluckliche Begabung fur den Gesang geregelfc wird, als zu den aller- 
dings viel haufigeren, bei welchen der Sangnieister unter der Obmacht 
des Orgelfcunstlers steht. Er hat Toccaten, Fantasien, Pngen, Eicercari 
geschrieben. Jene erstgenannten Stiicke zeigen meist die Eichtung auf 
Pingerfertigkeit, die Pantasien ftihren die Benennung, weil in ihnen ketne 



166 

Form des Satzes strong festgehalten wird, die letztgenannten sind fugirte 
Satze YOU besoiulerer Ktinstlichkeit. Wichtiger nodi sind seine Arbeiten 
fiber Choralmelodien, als Vorspiele beim Gottesdienst dienend. Ebenso 
sind von ihm, wie YOU Sclieidt, Arbeiten zum Zweck der Begleitung 
des Gemeindegesanges vorhanden. Betrachten wir das Verlialtniss beider 
Meister zu einander, so ersclieint der Erstgenannte als der bahnbrechende, 
der Zweite als der auf der Grandlage des sclion Geleisteten gliicklich 
gestaltende. 

Die BetracMung des Orgelspiels fulirt micli sofort zur Betraclitung 
der Klaviere, der Klavieianusik. Orgel- und Elaviermusik war iiberhaupt 
damals nocli wenig getrennt, und immer finden wir in einem und dem- 
selben Werke beide Zwecke berucksichtigt. Tcli folge Mer der sclion 
genannten Schrift YOU C. F. Becker: Die Hausmusik in Deutschland 
im 16., 17. und 18. Jalirhundert. 

Selir frtih sclion sind Tasteninstrmnente im Gebrauch gewesen, uncl 
der Ursprung derselben kCinnte fast bis in die Yorchristliclie Zeit ver- 
folgt werden. Aber die Eimlchtung derselben war hochst unYollkommen, 
so dass nur die einfachste Melodie auf denselben vorgetragen werden 
konnte. Erst als die Hannonie melir und mehr zur Ausbildung gelangte, 
erkannte man, wie nniraiganglich nothwendig ein Instrument sei f wel- 
ches allein eine vollstandige Harmonie zur Darstellung bringen konne. 
Die Orgeln gelangten, wie sclion fruher erwShnt, in Folge davon zuerst 
zu einer toheren Stufe der Ausbildung, und auch was die Klaviere be- 
trifft, wurden jetzt vielf&lttge Versuche angestellt, da man natftrlicli das, 
was man in der Earche besass, im Hause ebenfalls, lyid dies niclit allein 
in Orgelinstrmnenten kleineren Umfangs , Eegalen , Positiven , haben 
wollte. Jetzt wurden die yielfachsten Versuche gemaclit; bald wendete 
man Pfeifen, bald Saiten, bald Bogen von Pfordehaaren an. Elaviere 
mit zwei und drei Tastaturen wurden verfertigt Einige bauten Instru- 
mente von grossem Umfang, Andere seiche, welclie auf clem kleinsten Tische 
Eaum fanden. Bald wurcle die Schrankform, bald aucli die Pliigelfoim 
gewahlfc. Noch vorhandene Schriften lassen uns mit Sichorheit fiber die 
Art der Behandlung iu;theilen. So ist ein Klavierwerk vona Jahre -J571 
vorhanden, welches uns volktandig fiber das, was damals erreicht war, 
in Kenntniss setzt. Es ffihrt don Titol : Orgel o der Instrument Tabulate. 
Ein nfitzlichs Biiehlein, in welchem notwendige erklerung der Orgel oder 
Instrument Tabulator, sampt der Application, Aucli froliche deutsche 
Stticldein vnnd Muteten, etliche mit Coloraturon abgesatzt, Desgleichen 
schone deutsche Tentze, Galliarden vnnd "Welsche Passometzen zu befin- 
den etc. durch Eli am Nicola um, sonst Antnuerlbacli genandt, 



167 

Organisten zu Leipzig in S. Thomas Erchen". Das erste Capitel handelt 
YOU den Namen, der Bezeichmmg nnd Lage der Tasten. Zwei Um- 
stande sind Mer bemerkenswertli, zunaehst der dainalige nocli sehr geringe 
Umfang der Tastatux. Der Tonumfang eines Klaviers war damals noch 
nicht vier voile Octaven; fur die Orgeln war derselbe nocli beschrankter. 
Bekannt 1st, dass unsere Pianofortes auch erst in neuester Zeit die jetzt 
ubl&he grosse Ausdehnung erhalten haben, und dass vor nicht allzu 
langen Jahren nocli erne ganze Octave fehlte. Sodann ist cine sonder- 
bare Grille zu erwahnen, die narnlieh, class in der untersten Octave bei 
den Orgeln die Tone nicht in der riatftrlichen Eeilienfolge sich befanden, 
sondern versetzt erscheinen, aueh einige g'anz ausgelassen waren, z. B. 
in dieser Weise: C, Pis, D, G, E, Gis, A. Man nannte eine solclie 
Octave die kurze, und nocli jetzt soil sich an den meisten Orgeln Bohmens 
und Oesterreichs diese sinnlose Einrichtung vorfinden. In einem der fol- 
genden Capitel hanclelt unser Autor von der Fingersetzung. Die Sache 
ist sehr drollig, und ich will Einiges davon erwahnen. Die Finger- 
setzung ist bei den meisten Inskumenten durdi die natuiiiche Beschaffen- 
heit derselben bestimmt, bei den Tasteninstrumenten am wenigsten, da 
die Lage der Tasten so beschaffen ist, dass sie von jedem Finger nie- 
dergediiickt werden kormen. Die Kunst des Fingersatzes ist claher far 
den gegenwartigen Havierspieler Gegenstand eines besonderen Stadiums. 
Wenn nun jetzt als oberster Grundsatz far alle Fingersetzung gilt, dass 
die moglicbst bequeme Applicatur, diejenige, welclie die geringste Be- 
wegung und Eiickung dei Hande verarsacM, die beste, -wenn es ins- 
besondere Hauptbestreben bei dem gegenwartigen Pianofortespiel ist, die 
Finger so zu walilen, dass alle Tone gebnnden werden tonnen, und ge- 
sund und ki*aftig zur Darsteilung kommen, so scbeinen unsere Vorfahren 
von der entgegengesetzten Ansicht ausgegangen zu sein, indem man 
sicb nichts Verkelirteres und Unpraktischeres, als die Fingersetzung der- 
selben vorstellen iann. Was spatere Zeiten in Bezug auf Applicatur 
festgesetzt haben, und was ? wie es scheint, nicht einfaclier sein kann, 
blieb ibnen vollig fremd und unzuganglich, und das Naturwidrige war 
bei ibnen das Gewolinliclie. Die dur-Tonleiter wurde in der rechten 
Hand aufsteigend mit dem zweiten und dritten Finger, absteigend gleicli- 
falls allein mit dem zweiten und dritten Finger gespielt, nur dass Her bei 
der Taste, wo man umkelirte, einmal der vierte Finger gebrauclit wurde. 
In der linken Hand ^nirde die Gdur-Tonleiter aufsteigend mit den Fingern 
4, 3, 2, 1, absteigend aber wieder allein mit dem zweiten und dritten 
gespielt. Der ffinfte Finger und der Daumen, gerade die wichtigsten, 
wurden fast gar nicht benutzt Terzen wurden in beiden Handen mit 



168 

den Fingern 2 und 4 gegriffen, Quarten, Quinten und Sexten mit 2 und 
5, Septimen, Getaven, Nonen, Decimen mit i und 5. Vollige 150 Jahre 
hat sich, wie man for gewiss annelimen kann, diese abscheuliche Finger- 
setzung erhalten, denn bis zum Jahre 1730 wd man keinen Dnterschied 
gewahr, Der Qegenstand wurcle mit grosser Nachlassigkeit behandeli 
Michael Pratorius aussert sich clamber: ,,Ihrer Viele lassen sich 
etwas sonderliches bediinken und wollen daher etliche Organisteu ver- 
achten, wegen dessen, class sie nicht dieser oder jener Application mit 
den Fingern sich gebrauehen. Welches aber meines eraclitens der Eede 
nicht werth isfc: denn es lauffe einer mit den foddern, mitlern ocler 
Hinderfingern hinab oder herauff, ja, wenn er auch mit der Nasen darzu 
helffen kondte, und maclite uncl brechte alles fein, just und anmuthig 
ins Gefaor; so ist nicht gross daran gelegen, wie oder auf was Maass 
und Weise er solches zu Wege bringe". Diese Ansicht fallt in das Jahr 
1619. Noch zu Anfang des 18. Jahrlmnclerts wircl die C clur-Tonleiter 
in der rechten Hand aufsteigend rait den Fingern 2, 3, 4, 3, 4, 3, 4 
u. s. 1, absteigend mit 4, 3, 2, 3, 2, 3, 2 u. s. f. gelehrt, in der linken 
Hand aufsteigend mit 4, 3, 2, 4, 3, 2, 1, 2, 1, 2 u. s. f., absteigend 
mit 1, 2, 3, 4, 3, 4, 3, 4 u. s. f. Um diese Zeit traten zwar die ersten 
bedeutenden Elavierspieler hervor, D* Scarlatti, Franjois Couperin, 
Gottlieb Muffat, Handel, Joh. Mattheson, allein der Letztere, 
der selbst von Handel als Ivlavierspieler riibmlich anerkannt wurcle, 
lehrt 1735 die C dur-Tonlcitor in der rechten Hand aufsteigend 3, 4, 3, 
4 lu s. w. 3, 4, 5, absteigend 5, 4, 3, 2, 3, 2 u. s. f. 3, 2, J ; in cler 
linken Hand aufsteigend 3, 2, 1, 2, 1, 2, 1 u. s. f., absteigend 2, 3, 2, 
3 u. s. f., 2 ? 3, 4. Bin gewisser Mizler besclireibt im Jahre 1740 
den Fingersatz niehr unseren Ansichten ontspreehend, cloch kommen bei 
ilim auch noch wunclerliche Sachen vor, z. B. sollen in der rechten Hand 
die Tone d, c, b, a niit clen Fingern 3, 2, 4, 3 gespielt werden, und 
erst Sebastian Bach verdanken wir die Begrflndung des spater TJeb- 
lichen, insbesondere atich den Gebrauch des ersten uncl ftinften Fingers. 
Der praktische Theil des Aanmerbacli'scheii Workes enthalt in seinem 
ersten Abschnitt 44 vierstimmige Chorale und heitere Lieder, der zweite 
Abschnitt ,,gemeine gute deutsche Dentze". Zu einern jeden dieser Tanze 
finclet sich ein Anhang in ungeradem Tact, wfthrend sie selbst in geradem 
Tact gesetzt sind, Proportio genannt, unserem Trio iihnlich. Der dritte 
Abschnitt bringt auslandische Tiinze, der vierte w colorirto Stticldein", der 
letzte endlich mehrstimniige, grossere Tonstucko. 

Dies ist eine Andeutung fiber den Zustand der Klaviermusik, zu- 
nachst im 16. Jahrhunderi In cler unmittelbar folgenclen Zeit scheinen 



169 

wesentliche FortscMtte nicht gemacht worden m Bern. Erst in der 
zweiten Halfte des folgenden Jahrhunderts erscheint eine Compositions- 
form in der Klaviermusik, welche allgemeine Yerbreitung und Beliebt- 
heit erlangte, die Suite, wqrtlich: eine Folge, eine Keihe, da sie aus 
einer Anzahl, einer Aufeinanderfolge grosserer und kleinerer Tonstucke, 
meistentheils Tanze, bestand, die fruher sehr genau beobachtet wnrde. 
Sie entnehmen Meraus, wie in der Suite das Aneinanderreihen, Gegen- 
fiberstellen vereinzelter und in dieser Yereinzelung theilweise abgeschlos- 
sener Musitstflcke vorwaltend ist. Sclion der Name Suite deutet auf die 
Entstehung dieser Kunstform in Frankreich, obschon dieser, der Name, 
sich anfangs dort nicht vorfindet, sondern das, was spater Suite genannt 
wurde, unter der Bezeiclmung Sonate vorkommt. Man unterscMed da- 
selbst^ zwei Arten, Kirchen- und Kammersonaten. Die letztere bestand 
aus einem Vorspiel, einer Mlemande, einer Pavane, Courante, Gigw, Pas- 
sacaille, Gavotte, Menuet, Ghaeomie. Die Kirchensonate unterscMed sich 
dadurch, dass die SStze derselben mit Fugen gemischt waren, wSJirend 
die erstere Art eine festbesfdmmte Eeihenfolge liatte. Wer zuerst in 
Deutschland sich in dieser Form versucht und Suiten herausgegeben hat, 
lasst C. P. Becker unentschieden. Die frfihesten, welclie aufgefunden 
wurden, datiren aiis den Jahren 16701680, docli ist anzunehmen, class 
solche schon vor der zweiten Halfte des IT. Jalirliunderts, wenn auch 
nicht unter dem Namen, doch in der angenoinmenen Form geliefert 
wurden. Die Suite ist von grosser Bedeutung ffir jene Zeit gewesen; 
sie hat sich fiber hundert Jalrre auf ihrem Gebiet als die bedeutendste 
Kunstform bewithrfc, und die besten Tonseteer beeiferten sich, darin Vor- 
ziigliches zu leisten. ^ooh 8 e b a s t i a n B a eh und H a n cl e 1 haben Beide 
elerartige Werfce geKefert, welche als ansgezeichnet und von bleibendem 
Eunstwerth anerkannt sind. Die Suite war das einzige KlaYierstuck 
jener Zeit, welches dem Musikfreund eine interessante Unterhaltung bot 
und die Ausbildung der technischen Fertigkeit beforderte. Der fest aus- 
gepragte Charakter der einzelnen Satze derselben war der erste Sehritt 
zu einer bedeuteameren, inhaltsvolleren Ihstrumentalmusik auf weltlichem 
Gebiet. Denn unsere moderno Sonate ist eine spatere Erfindung. Dei- 
Name derselben zwar ist alt und komrnt schon im 16. Jahrhunclert vor, 
ohne dass ein bestimmter Begriff damit verbunden gewesen ware; or 
wurde zu verschiedenen Zweeken gebraucht, wie u. A. auch aus dem 
voi^rin Gesagten hervorgeht; die FeststeUung des Begriffs gehort einer 
spateren Zeit an. Nach C. F. Becker's Untersuchungen ist die Sona- 
tenfonn eine deutsche Erfindung, was urn so mehr hervorzuheben ist, 
da aus dieser Form fast die ganze Insteumentaimusik sich herausbildebe. 



__ 170 

Joliaim Krahnan, Cantor an der Thomasschule zu Leipzig, Dienstvorfahr 
Sebastian Bach's, geb. zu Geising 1667, gest. zu Leipzig 1722, 
hat aller Wahrscheinlichkeit nach die ersten Sonaten geschrieben, seine 
erste ersehien in Leipzig im Jahre 1695, und bald darauf folgten noch 
mehrere. Audi Dom. Scarlatti nannte, wie Sie sich erinnern, seine 
Klavierstiicke Sonaten; aber es war dies eben nur ein willkiirlicher 
Gebrauch des Namens, ck bei ihm jedes Sttick nur aus ein em Satze 
besteht und nur etwa init deni ersten unserer Sonatensatze verglichen 
werden kann. 

Zuni Schluss der heutigen Voiiesung gedenke ich noch eines Instru- 
mentes, welches mehrere Jahrhimderte hindurch, bis auf Sebastian 
Bach, der selbst noch dafur componirt hat, das beliebteste und fast all- 
geniein verbreitete bei den Dilettanten gewesen ist; es war dies die Laute. 
Nach der Angabe des M. Pratorius war sie das 5 ,Fundament und 
Initiurn, von der man hernach auf alien dergleichen besaiteten Instru- 
menten, als Pandoren, Theorben, Mandoren, Cithern, Harfen, auch Gei~ 
gen und Violen schlagen und gar leicht das seinige prasentiren kann, 
wenn man zuvor etwas rechtschaffenes darauf gelernt und begriffen hat". 
Jahrhimderte Mndurch war die Laute in Deutschland ein Lieblingsinstru- 
ment der vornehmen Welt, auch der Damen, alle Gesange der Liebe 
und Preude warden damit begleitet. In der ausseren Einrichtung der 
Guitan*e ahnlich, imterschied sie sich u. A. dadurch, dass sie 24 Saiten 
hatte, yon denen 10 nicht durch das Aufsetzen der Finger auf das Griff- 
bret gegriffen, sondera nur gerissen warden. Die Grunde, dass sie all- 
mahlich ausser Gebrauch gekommen ist, lagen theils in der Unvollkom- 
menlieit des Baues, namentlich in der Schwierigkeit des Keinstimmens, 
in der besonderen Art der Notirungsweise fur die Laute, theils in ausse- 
ren Umstanden, in der immer grosseren Ausbildung der Tasteninstrumente 
und dem Emporkommen der bequemer und leichter zu spielenden Guitarre. 
Seit der Erfindung des Notendrucks ist eine Unzahl von Compositionen 
dafiir veroffentlicht worden; im 16. Jahrhundert zunachst reine Instru- 
mentalsatze ; dann wurde sie zur Begleitung des Gesanges in Anwendung 
gebracht, und fand auch in den fruhesten Opernorchestern bald Eingang, 
endlich begegnen wir ilir noch in der zweiten Halfte des vorigen Jahr- 
hunderts. Hiller*s Operetton, ohne Worte fiir die Laute allein einge- 
richtet, sind vielleichfc das Letzte gewesen, was fur sie bearbeitet wurde. 

Beilaufig erwaline ich noch, dass fiber die Geschichte der Instrumen- 
talmusik irn 16. Jahrhundert neuerdings eine verdienstliche Schrift gleichen 
Titels von W. J. v. Wasielewski (Berlin, 1878) erschienen ist. 



Zehnte Vorlesung, 



Der weltliche Gresang. Albert. Yerpflanzung der Oper nach DeutscMand. H. ScMtz. 

Die Oper in Hamburg. Heiser. Hattheson. Handel Telemann. Handel und 

Sebastian Bach. GharaMeristik Beider von Bochlitz. 

Sie entnehmen aus den Andeutungen am Sehlusse der letzten Vor- 
lesung, dass die InstrnmentaJmusife, wenn aucli noeh auf selir unterge- 
ordneter Stufe der Ausbildung, sehon Mh Eingang und Beliebtheit In 
Deutscliland erlangt hatte. Sehon Mh gewahren wii* bei uns eine ftber- 
wiegende Neigung for Instrumentalmusik, im Gegensatz zu Italien, wo 
der Gesang stets vorzugsweise gegolten hat. Zu Anfang des 16. Jahr- 
hunderts kannte man sehon gegen 50 Instriunente in Deutscliland, und 
ein ,Jahrliundert spater beschreibt ST. Pratorius fiber 100 der ver- 
scMedensten Art, welche alle im Gebrauch waren. Auch die in Stein 
ausgefohrten Abbildungen an den Domen der Vorzeit gewahren uns eine 
Anschauung YOU der Beschaffenieit der damals gebrauchliclien Instru- 
mente und dem vorhandenen Eeiehthum. 

Zeigt sich auf diese Weise in Deutschland eine uberwiegende Nei- 
gung ffir Instrumentalmusik, so dtirfen wir uns trotzdem den weltlichen 
Gesang durchaus nicht als vernachlassigt vorstellen. Schon mehrfaeh 
habe ich. friiher der Schicksale der Melodie gedacht. In den Jahr- 
hunderten des Mittelalters war der einstiminige Gesang allgemein ver- 
breitet und beliebt gewesen. Wie in Italien Gesange Petrarca's zur 
Laute gesiuigen wurden, so besass auch Deutschland seinen Minne- 
und Meistergesang, seine Voltslieder. Die -"Wichtigkeit der letzteren 
geht u. A. aus der Aufnahme derselben in den eyangelischen Gerneinde- 
gesang hervor. Mt der steigenden Ausbildung der Harmonie jedoeli 
trat auch in Deutschland der einstiminige Gesang zuriick. Einstimmige 
Gesange der vorangegangenen Zeiten wurden jetzt harmonisirt, und 
bildeten in dieser Gestalt den Gegenstand der geselligen Unterhaltung, 



Aus diesen mehrsMmmigen Gesangen erst hat sich in Deutschland das 
einstunmige Lied wieder herausgebildet, und es zeigt sich hier etwas 
ganz Aehnliches, wie in Italien, indem man hier anfing, eine Stimme 
allein singen, die anderen von Instrumenten ausfiihren zu lassen. 
C. P. Beaker in dem schon genannten Werke hat eine grosse Zahl 
deraridger Saninilungen namhaft gemacht, bemerkt aber dabei: ,,Der, 
welch er hofft, dass die Harmonic mir als Tragerin der sanften Melodie 
erscheine und so in Eins rait dieser verschmelze , als sei die erstere 
gar nicht vorhanden, kann hier nur das Widerspiel erkennen. Fast 
sammtlich tragen diese Tonstucke, auch die heifcersten, etwas Schwer- 
falliges an sich, und sfcehen darin selbst den Gedichten nach. 1st auch 
die Anlage ofters treffend and gut, so wird doch durck die fremdartigen 
Harmonienschritte, die verwickelte Stimmenfuhrung, und das Ausclelinen 
der Worte der Bindruck des Ganzen geschwacht, haufig sogar ganzlich 
verwischt". Wir haben sonach, wie zu erwarten, dieselbe Erscheinung, 
wie auf dem Gebiet des Kirchengesanges. Endlich begann man diese 
unbequeme Vielstimmigkeit zu "vermeiden und setzte eine einfache Me- 
lodie mit ehiem bezifterfcen Bass; so entstand allmahlich unser heutiges 
Lied. Dnter den Liedercomponisten des 17. Jahrhunderts ist vorzugs- 
weise der vor Kurzem schon einmal erwahnte Heinrich. Albert zu 
nennen. Dieser Mann ist es, an den sich die bezeichnete Umbildung 
knupft, und den vrir als den Schopfer des spateren Liedes betrachten 
nifissen. Er war geboren zu Lobenstein im Voigtlande 1m Jahre 1604 
am 28. Juni, studirte zu Leipzig Jurisprudent, spater die Musik zu 
Dresden unter der Leitung seines Oheims Eeinrich Scliiitz, wandte 
sich 1626 nach Konigsberg, erlielt flinf Jahre darauf die Organisten- 
steUe an der Domkirche und starb daselbst am 6. October 1651. In 
seinen Liedersammlungen finden wir zwar noch viele mehrstimmige 
Sachen, aber sie sind so eingerichtet, dass z. B. bei den flinfstimmigen nur 
eine Singstimine, dagegen Tier Instrumente erforderlich sind, obschon es 
unbenommen bleibt, auch sarnnatliche Stimmen allein von menschlichen 
Kehlen ausfuhren zu lassen. "Wichtiger in kunstgeschichtlicher Hinsicht 
sind jene allein mit einer Generalbassbezifferung versehenen einstimmigen 
Lieder. Auch das ist bemerkenswerth, dass sich bei Albert schon in 
weltlichen, nicht eigentlich openimassigen Gesangen das aus Italien nach 
Deutschland verpflanzte Eecitativ angewendet findet. Das 17. Jahr- 
hundert war uberhaupt reich an weltlichen Liedern; selir viele Samm- 
lungen sind noch vorhanden. Dass von diesen Compositionen indess nur 
ausserst wenige sich langere Zeit wirldich lebendig erhalten haben, 
besonders aus der zweiten Halfte cleg 17. und der ersten Halfte des 



173 

18. Jahrhunclerts, 1st der Unbedeutendheit der Texte, der Gesunkenheit 
der deutschen Literator in jener Zeit zuzusehreiben. Die mit der Poesie 
eng Yerbundene Tonkunst, hier speciell das Lied, tonnte erst dann 
einen hoheren Aufschwung nehmen, als die classisehe Zeit der deutschen 
Dichter herannahte. 

Bevor icli niich nun dem Hauptgegenstand unserer Betraehtung 
, innerhalb des gegenwartigen Absclinitts wieder zuwende, gedenke icli 
-noch der bedeutendsten und machtigsten, auch an Folgen reichsten, 
eingreifendsten, fur den erwahnten Hauptgegenstand selbst sehr wich- 
tigen Kunstgattung: der Oper, und der ersten Versuche, diese in 
Deutschland heimisch zu maehen. Dass es Sell fit 2 war, durch den 
zuerst bei uns das musikaliscle Drama eingefnlirt wurde, und zwar 
durch die ,,Dafne u des Einuccini, welclie im Jalire 1627 (der An- 
gabe Chrygander's zufolge ini Jaln-e 1628) nacli der Uebersetzung 
von Opitz in Torgau zur DarsteHung kam, ist sclion wiederliolt be- 
inerkt worden. Mclit als ob Deutscliland fruher nicht anch schon 
dramatisclie, mit Musik verljundene Darstellungen gehabt liatte; aber 
es waren dies nur scenisclie Aiiffiiln-ungen, wie sie auch Italien yor Er- 
findung der Oper besessen hatte. Nur einen einzlgea Titel eines solchen 
in Deutscliland iibliclien Singspiels will icli Einen nennen: 5? Ein sehSnes 
Singspiel von dreien bosen Weibern, denen weder Gott nodi ihre Manner 
recht konnen tliun. Mit sechs Personen personlicli 211 agiren. Durch 
weiland den ehrbaren und wohlgelalirten Hen*n Jacob uia Ayrer, 
Notar publ. und Gerichtsprocuratoren zu Nurnberg seel NtSrnberg 1618". 
Dergleiclien war fur das Volk. Glanzenderes, mit Gesangen und Tanzen ? 
war auch gelegentlich an unseren Hofen dagewesen. Jetzt aber drang 
die Kunde yon den prachtlgen VorsteUungen in Italien uber die Alpen, 
und man war begierig, Aehnliches bei uns kennen zu lernen. Schiitz 
unternahm es. Leider ist uns die Musik dessdben nicht erhalten wor- 
den. Der Text befindet sich in den Werken des Dichters Opitz und 
gewalni uns wenigstens von dieser Seite her eine Anschauung der Be- 
schaffenheit und Einrichtung des Ganzen, leh gebe Ihnen eine Beschrei- 
bung naeh der Schilderung, welclie Fink in seiner GescMchte der Oper 
mitgetbeilt hat: Zuerst tritt 0?id auf, als Vorredner, und spricht den 
Prolog. Dann koinmen drei Hirten, klagend, dass der Draehe irn schonen 
Walde blutgetrankt sehnaubt. Echo, womit man damals haufig in der 
Musik zu spielen pflegte, macht die Trosterin. Apollo singt sichern 
Trost, da er den Drachen umgebracht habe. Der Chor der Hirten dankt 
in vier achtzeiligen Strophen, Das ist der erste Act. Im zweiten singen 
Amor und Venus und Apollo im Wechselgesprach. Apollo verspottet 



174 

Amor seines Bogens wegen, der keinen Drachen zu erlegen vermoge. 
Amor verspricht Rache. Der Ghor der Hirten singt einen Preis Ainor's 
in sechs Stroplien. Dies ist der zweite Act. Im dritten treten Daphne 
und Apollo auf. Daphne ist auf der Jagd. Amor liat Eache genonimen, 
denn ApoEo hat sich in Daphne yerliebt, mid macht ihr sein Gestand- 
niss. Sie weist al)er seine Zartliehkeit ab und eilt fort. Apollo singt 
ihr nach 5 dass sie warten soil, dass er ein Gott ist, ihr folgen werde 
u. s. w. Der Chor der Hirten singt wieder ein Lied von sechs Stroplien 
zujna Preis der Lielbe. Im vierten Act halten Amor und Venus "Wechsel- 
gespraehe. Der Chor der Hirten preist aufs Neue die Liebe und be- 
schreibt in mehreren Strophen, dass nicht einmal ein Fisch unverliebt 
bleibe, und sogar die Xrauter und Elenieute unter Amor stehen. Im 
funften Act selien wir nochmals Apollo und Daphne. Die Unerbittliche 
raft ihren Vater Peneus, den Flussgott, an. Sie wird in einen Lorbeer- 
baum verwandelt, was Apollo in langer Kede beldagt; er singt von der 
Ehre, die er dem Lorbeerbaum gewahren will. Jetzt tanzen Nymphen 
und Hirten inn den Baum und singen ein Lied in zehn sechszeiligen 
Strophen. In der sechsten Strophe wendet Opitz die Fabel auf Sach- 
sens Preis an, woraus sich, sowie aus dem Titel ,,an die hochfurstliche 
Braut uud Brautigam, bei deren Beilager ,,Daphne" durch Heinrich 
Schutzen musikalisch auf den Schauplatz gebracht ist worden" er- 
giebt, dass das Ganze zur Feier der Vermahlung der Tochter des Kur- 
fliisten von Sachsen, Johann Georg's L, mit dem Landgrafen von 
Hessen- Darmstadt Georg II. bearbeitet worden ist. Jedenfalls war 
auch in diesem Werke, wie in deii italienischen, von eigentlichen Alien, 
Duetten, grosseren Musikstiicken nicht die Eede, sondern es kamen nur 
recitativische Wecliselgesange und Heine liedmassige Schlusschore vor. 
Hatten nun auch Opitz und Schtitz, dem bis jetzt Dargestellten 
zufolge, w&hrend des dreissigjahrigen Krieges die Oper nach Deutschland 
verpflanzt und Her eingefiihrt, so konnte doch innerhalb dieses Zeit- 
ramns unmoglich etwas Namhaftes, "Weiterforderndes fur dieselbe ge- 
schehen. Der erste Versuch, den Schutz rnachte, steht ziemlich ver- 
einzelt; nur hier und da folgten ahnliche Werke; dem Volte war die 
Sadie frenid geblieben. Die Oper .erschien allein an den Ftirstenhofen 
zur Unterhaltung holier Gaste und bei besonderen Festlichkeiten. Er- 
liolte sich nun auch Deutschland wunderbar schnell von jenen furcht- 
baren Beditognissen, so waxen doch nach dem westphalischen Frieden 
langere Zeit ganz andere Interessen vorherrschend, und eine stetige Ent- 
wicklimg hatte darum keine entsprechenden ausseren Bedingungen ge- 
fonden. Als aber die deutschen Hofe dem Theater ihre Aufmerksamkeit 



entscMedener zuwendeten, waren ihre Blicke so sehr nach Italien ge~ 
richtet, dass sie mir yon dort her Componisten und Sanger verschrieben, 
und die deutschen Kilnstler ganz vernaehlassigten. Je grosser uad 
reicher die Furstenhauser waren ? desto grosseren Kuhm setzten sie darein, 
italienische Kunstler zu besolden. Bald kam es dahin, dass man nieht 
allein die italienischen Auffulmmgen an Pracht m erreichen, sondern 
sogar zu uberbieten suchte. Wien, Dresden, Stuttgart u. a. Orte thaten 
sich zu verscMedenen Zeiten hierin besonders liervor. Tor alien waren 
es die deutsclien Kaiser Leopold I. von 1658 J 705 und die Naeli- 
folger desselben, Joseph I. und Carl YL, welche, im hohen Grade 
musikliebend, den Italienern ausserordentlicie Sunimen zukommen liessen. 
Leopold erHarte, ani liebsten walirend eines Concerts seiner meist 
italienisclien Musiker sterben zu wollen. Italien erkannte den Yortheil, 
der aus dieser deutschen Auslanderei erwuehs, setr wohl, so dass man 
eingestand, Italien sei den Deutschea viel schuldig, weil diese durcli 
Unterstetzung italienische Talente in den Stand gesetzt Mtten, sich aus- 
zubilden. Diese Mode ging auf die kleinsten Hofe fiber ; es wnrcle eke 
Ehrensache, italienische Sanger und Kapellmeister zu besitzen, und 
deutsche Tonkunstler, wollten sie irgend zur Geltung gelangen, mussfcen 
sich nach ItaEen begebeH und dort ihre Studien inachen. Die Gesehichte 
der Yerbreitung der Oper in Deutschland ist daher, weuigstens nach 
einer Seite Mn, langere Zeit hindurch nur eine Forteetzmg der Geschichte 
der italienischen Oper. Jene Bevorzugung Italiens war wenigstens das 
beste Mittel, eine nationale deutsche Entwicklung auf diesem Gebiete 
sogleich im Keime zu erstiekeu* Wie so oft aber in Deutschland Grosses 
aus mehr zuMigen Yeranlassungen und, wie man zu sagen pflegt, unter 
der Hand, wenigstens ohne Aufinunterung und Unterstutzung diirch die 
Fursten, sich entwiekelt, so geschah es auch hier. Mehrere durch Han- 
del yermogend gewordene Stadte begannen das Beispiel der Hofe naeh- 
zuahnien, Theater zu erbauen, und musikalisclie Darstellungen zu ver- 
anstalten. Hamburg insbesondeie ging hier mit seinem Beispiel voran 
und steht unter diesen Stadten obenan. Dort bildete sich geraume Zeit 
hindurch ein Mittelpunct far die yaterlandische Oper. 

Diese fur die Geschichte der deutschen Musik sehr wiehtigen Vor- 
gange, deren ich sogleich noch etwas speeieller gedenken werde, habeu 
zum ersten Male eine ausfohrliche Darstellung erfahren in einer Schrift 
von E. 0. Lindner unter dem Titel: Die erste stehende deutsche 
Oper, Berlin, Schlesinger, 1855. Ich rnache bei dieser Gelegenheit 
auf dieselbe aufmerksam , dort moge man auch des Geuauferen sich 
unterrichten. 



176 

Es war zu Hamburg im Jahre 1678, dass zwei angesehene dortige 
Gelehrte iind ein im geistlicben Amt stehender Tonktinstler daselbs-t eiae 
stehende Opernbfihne grfindeten: die Licentiaten Gerhard Scliott 
und Liitjens und der Organist Johann Adam Keinken oder Eei- 
nike, wie er ebenfalls geschrieben wird. ,,Sie bauten (erzahlt der 
spater noch zu erwahnende Mat the son) ein auf Grund-Hauer liegen- 
des Haus dazu, und bracMen die musikalischen Schauspiele, deren 
zwar scton vorhin eines und anderes bei gewissen Gelegenlieiten auf- 
geMhrt worden, in einen ordentliehen Gang; da sie denn das Theatrum 
zum Anfange niit einer geistliclien Materie offnen liessen, nanalich mit 
der Opera, genannt !? Adam und Eva", in die Musik gebracht von 
Herrn Kapellmeister Theile. Die Poesie war von dem Herrn Eicliter, 
einem kaiserlich gekronten Poeten." Von Tlieile wissen wir, dass er 
ein Schiller Schtitz's war nnd" im liolien Alter urns Jahr 1724 in 
Xaumburg gestorben ist. Das Gedicht beginnt mit einem allegorisclien 
Yorspiele, In welchem die vier Eleinente auftreten, ilire Macht und Be- 
deutung gegen einander rfflimend, zuletzt den Hamburgern ilir Compli- 
ment machend. Das nun folgende Spiel entfaltet sicli im Hinxmel, auf 
der Erde, im Paradiese und im Abgrund der Holle. Seine erste Hand- 
lung beginnt mit dem Sturze Lucifer's und seiner Genossen, dem 
sodann die Sehopftmg Adam's und der Eva (lurch Jehovah, welchem 
der Chor der Himmlischen allezeit zur Seite ist, folgt. Die zweite 
fuhrt uns in die Holle, wo die Geister der Finsterniss, voll Neicles iiber 
die dem Menschen eingeraumte hohe Stelle, seinen Fall bescliliessen, 
der durch Sodi ? den listigsten unter ihnen, bewirkt werden soil. Diesen, 
als Schlange verlarvt, schauen wir im dritten Acte, wie er Adam und 
Eva beruckt. FroHockend fahrt er dann aus dem Garten Edens in 
Teufelsgestalt herab zur Holle, wo er mit Lucifer und den Geistern 
des Abgrunds Triuniphlieder - anstimmt. Jehovah erscheint nun in dem 
vierten Acte. Gereehtigkeit und Gnade flihren vor seinem Gerichte die 
Sadie der gefallenen Menschen. Der Scliluss ist, dass die Gereehtig- 
keit ein Stihnopfer heische, ohne das der Mensch nieht zu Gnaden 
konne angenommen werden. Die Engel trauern, weil NieBiand unter 
ihnen dazu genuge. Jehovah deutet das Geheimniss dor Erlosung an. 
Im ffinften Acte erfolgt das Gericht iiber Adam und Eva, sowie tiber 
die Schlange, Jene werden aus Eden verstossen, und wir sehen sie 
dann in ihrern Elend auf rauhem und dornigem Felde, Hagend, urn 
Erlosung betend. Hier erscheint ihuen Christus und verkiindet Jehovahs 
Rathschluss, den Gereehtigkeit und Gnade und die Heerschaaren des 
Hinroaels mit jenen vereint preisen. Die Musik dieses Stuckes ist 



177 

uns ebenfalls niefat mehr erhalten; nur das zu Hamburg gedruckte Text- 
bucli. Aus dem gereimten Dialog, den wir uns jeclenfalls recitativisck 
beliandelt denken mussen, treten Chor, Duett, Arie in stropHsclier Lied- 
forra heraus. 

Nachdem soldier Gestalt ein Anfang geinaclit worden war, begeg- 
nen wir im Laufe der naclifolgenden Jalire vielen ahuliehen Werken: 
1679 ,.MicM und David" und ,,Die maceabaische Mutter"; 1680 ^Esther"; 
1681 ,,Die Qeburt Christi"; 1688 55 Die heilige Eugenia oder die Bekeh- 
rung der Stadt Alexandria zum CMstentlimn"; 1689 ,,Kain und Abel 
oder der verzweifelnde Brudermorder"; 1692 Die Zerstorung Jerusalems' : 
u. s. w. Aucli Opern weltliohen Inhalts treflfen wir sogleich nach Er- 
offhung des Theaters in fortgehender Polge, abwecliselnd mit den geist- 
liclien Stucken, AJlerdings fehlte es nicht an Hindernissen, die zu be- 
seitigen, an Scliwierigkeiten, die zu fiberwinden waren. So hatte nament- 
licli ein Tieil der Geistlichkeit Aergerniss genoniDien an diesen Opern- 
bestrebungen und eine Polemik dagegen eroflhet, obschon zu Anfang 
die Erlaubniss des geistlicben Ministeriums dafar erlangt worden war: 
der Pastor an einer Birdie Hamburgs, ein Dr. Reiser, schrieb 1681 
ein Buch: n TIieatromania oder die Werke der Pinsterniss in den offent- 
liclien Schauspielen, von den alten Eorchenlehrern und etliehen heid- 
nisclien Scribenten yerdammt- 2 ; ein Cantor Pulirmann lieferte eine 
Schrift: J5 Die an der Kirclie Gottes gebauete Satanskapelle", wogegen 
sich die Textyerfasser mit spassliaften Versichernngen vertheidigten, der 
Eine: er schreibe als Poet und glaube als Christ, ein Anderer: dass er 
ein christliches Geinuth babe u. s. f. 

Als indess die Uniyersitaten Wittenberg und Bost&gk um Gutachten 
angegangen worden waren, und diese gilnstig ausfieleyauch den Mit- 
gliedern der Oper dies beilaufig erwalmt der Zutritt zum Abend- 
malil gestattet worden war, wurde dieser Opposition ein kraftiger Damm 
entgegengestellt. 

Im Jalire 1693 fibernahm ein Kapellmeister Joliaim Siegmund 
Knsser die Operndirection. Dieser war bestrebt, der franzosischen und 
italienischen Oper in Hamburg Eingang zu verschaffen, Letzteres ins- 
besondere durcli Auffuhrung von Werken des Kapellmeisters Steffani 
zu Hannover, eines der vorzuglielisten Meister jener Zeit. Die italienisclie 
Manier war fur die Hamburger Operisten damals nocli etwas Unbekanntes, 
und Kusser erwarb sich. auf diese Weise, sowie dnrch die hiermit ge- 
botene praktische Befonn der Sanger und des Orchesters, grosse Ver- 
dienste. Die Werke Steffani's, die liauptsachlich in die letzten 

12 



178 

20 Jahre des 17. Jahrhunderts fallen, sind von unverkennbarem Bin- 
fluss aiif die Bntwieklung der Hamburger Oper gewesen. 

So Yorbereitet, konnte endlich der Mann heiTortreten, welcker jenen 
Bestrebungen ihr bestimmtes Geprage verlieh, Eeinhard Reiser, der 
Mozart der ersten Epoch e der deutschen Musik, wle ihn Lindner nennt. 
Keiser war inn das Jalir 1673 in der Nalie von Leipzig geboren und 
wnrde auf der dasigen Thomasscliule und Universitat gebildet. Er folgte 
einem Kufe als Opemtonsetzer naeh. Wolfenbuttel, da er sckon in Leip- 
zig durch seine niusikalischen Talente Aufselien erregt katte. Dort trat 
er 1692 und 1693 mit zwei Opern auf, fand ungetlieilten Beifall, und 
fasste deshalb den Beschluss, auf der Hamburger Biihne, deren Ruhra 
scion sick zu verbreiten begann, mit alinliclien "Werken sich eine Lauf- 
baha m eroffnen. Ums Jalir 1694 erscHen er dort rnit seinem ,,Basi- 
lius", 1697 mit den Opern w lrene" und ,,Adonis u , und fesselte nun auf 
lange Zeit durch den Zauber seiner Tone die Kundigen und die Menge, 
sowol durcli geistliche wie dramatisclie Werke. 1703 tibernahm er die 
Pacbt und die obere Leitung des Opernwesens. Er componirte in dieser 
Stellung gegen 116 Opern, neben seinen Werken fur die Kirche und 
anderen Arbeiten. Bin mekrjaliriger Aufentbalt in Eopenliagen. erwarb 
ihm den Titel eines koniglich danisclien Eapellmeisters. Nach. seiner 
Euckkunft nach Hamburg im Jahre 1728 beelirte man ihn mit der 
Stelle eines Cantor cathedmlis und Canonicus minor am Dome daselbst. 
Sein letztes thieatralisches TTerk fallt'in das Jalir 1734, sein letztes 
geistliehes drei Jahre spater. Er starb 1739. Keiser hat auch nocli 
ein paar geistliche Opern in der Slteren Weise geschrieben, doch macht 
sich in diesen schon iiberwiegend Weltliches, zum Theil Frivoles geltend. 
Sclion seit der^Jahre 1688 begannen die geistlichen Stticke dem Ge- 
prage der weltlichen sich m nfihern, und in den ersten Jahren des 
folgenden Jahrhunderts liatten sie aJles Unterscheidende vollig eingebtisst. 
Keiser war ein reichbegabtes musikalisclies Talent, insbesondere, was 
unter den Deutschen seltener 1st, nach der melodischen Seite bin, eine 
eclite Kunstlernatur ; er entwickelte zuerst eine nattirlicbe Darstellung 
der verschiedenen Gemflthsbewegungen , und war bemerkenswerth ins- 
besondere auch dadurch, dass bei ihm der Schwerpunct des Schaffens in 
seiner Thatigkeit fur die Oper liegt, wahrend gleichzeitige Tonsetzer 
die Arbeiten weltlichen Stils immer noch mit einer gewissen Nachla 
fceit behandelten. Gleichzeitige Schriftsteller schreiben ihm die 
lidisten und lieblichsten Melodien zu, worin ihn Keiner ubertroffen ha 
eine walire Unerschopflichkeit in Erfindungen, sie nennen ihn den grosstl 
Geist seiner Zeit, eineu Setzer vou Geburt, bei dem nur Lust sei, kel 



179 

saurer Schweiss, der den Welschen manchen Ehrenkranz abgewonnen 
iind den Gesang zum vollen Sehmuck gebraclit habe, nur dass ihm zu- 
weilen Liebe und Wein in den Weg kamen w und die Lust, sich mehr 
als ein Cavalier, denn als em Musicus aufzuffihren-, und ilim damm 
auch die Fahigkeit abging, ,,mit der Kechnung fertig zu wertlen". 
Keiser iibte seine Kunst als einen reichen Quell cles Genusses und Er- 
werbes: sie gab ihm die Mittel, durcli leiclite Anstrengungen seinem 
Fange m Prunk und WoHleben nachzugehen. Es that ihm wohl, sich 
Je premier homme du monde" nennen zu horen, ,,mit verbramten 
Eleidern, mit zwei Dienern in Aui'ora-Liberey u einherzugehen. 

So dauerten die Verhaltnisse fort bis ungefalir zum Jahre 1728. 
Endlich aber hatte sich diese erste Glanzepoche der dentschen Oper 
uberlebt, so dass in den 40er Jahren des vorigen Jahi'hunderts in Ham- 
burg davon nicht mehr die Rede sein konnte. Die ItaHener waren scion 
langst tiberaH in Deutschland zur AUeinherrschaft gelangt, und jetzt 
nahmen sie auch Besitz von dieser fruher ihnen so gefahrlich erseheinen- 
den Statte. Nachtoaglich sei noch bemerkt, dass die oben angefuhrte 
ScMft von Lindner in einer Beilage auch 9 faisher ungedruckte Com- 
positionen von Keiser enthali Sie sind die einzigen neuerdings ge- 
clruckten, mit Ausnahme zweier, die ich vor einer Eeihe von Jahren als 
Beilage zur ,,Neuen Zeitsclrdft for Musik" veroffentlichte. 

Es Bind jedoch aus der Zeit dieser Hamburger Opernbltithe noch 
mehrere andere bedeutende Manner namhaft zu machen; diese kann 
ich, ohne zwar der Entwicklung speciell zu folgei, Her nicht tiberge- 
hen, theils weil die Thatigkeit dieser Tonsetzer an sich selbst wiehtig 
und ein so reges, vereintes Steeben in Deutschland selten ist, theHs 
auch weil diese OpernWerke den entschiedensten Einfluss auf den Mrch- 
lichen Kunstgesang gehabt haben. Neben Keiser war es zunachst 
der 1681 zu Hamburg geborene, also um 8 Jahre jungere Jthanp. 
Mattlieson, welcher die Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Matt he- 
son war ein friihreifes Talent und liess sich schon im neunten 
in den Kirchen auf der Orgel, in Concerten mit eigenen Gesangen 
die er auf dem Pltigel selbst begleitete. Seine SMmme gefiel dem 
genannten Mtbegriinder der Oper, Gerhard Schott, so sehr, dasTer 
ilm auf die Buhne brachte, wo er bis 1705, funfzehn Jahre lang, b^eb. 
Im Jahre 1699 betrat er mit der Oper ,,Die Plejades" die Biihne als 
Tonsetzer, nachdem er zuvor schon gelehrte Eirchenstucke gesetzt hatte. 
ch wahrend seines Buhnenlebens ubertrug ihm der britische Gesandte 

Untemcht seines ;Sohnes, md dies wurde die Veranlassung, dass 
endlich jenes ganz \aufgab. \>eine Fertigkeit in neueren Sprachen, 

12* 



180 

sowie seine Rechtskenntnisse, seine Gewandtlieit irnd iinermtldliclie Tha- 
tigkeit erwarben ih.ni 170G die Stelle eines Legationssecretars, die ihm 
nacli dem Tode des Gesandten ,die Pflicht auferlegte, die Stelle des 
Besidenten selbststandig zu vertreten, was spater nocli sehr oft vorge- 
kommen 1st. Daneben setzte er aber seine Thatigkeit als Tonsetzer 
fort, trat als musikaliseher Scbriffcsteller und Eaitiker auf, and erMelt| 
im Jabre 1715 das Dinctonum musieum 'und das damit verbundene 
Canonicat am Dom. Dreizelin Jahre lang stand er in diesem Amte, 
Welches ihm die Yerbindlichkeit auferlegte, mit einer ganzen Reihe kirch- 
licber Werke. namentlich Oratorien, aufzutreten, vor, bis er endlicb das- 
selbe wegen hartnackiger Scbwerborigkeit anfzugeben gezwungen ward. 
Er starb, 83 Jahre alt, 1764, sein Andenken in seiner Yaterstadt ancli 
dadnrdi lebendig erbaltend, dass er der Micbaelisldrcbe daselbst 44000 
, Mark Hamb. C. zur Erbauung einer Orgel scbenkte. Ein dritter Mann 
dieses Kreises 1st der bald naber zu besprecbende (Jeorg Friedricli 
Handel, der jungste unter den Genannten, der 1703 nacb Hamburg 
karn, 55 reicb an FaMgkeit und gntem "Willen", nur dass er ,,sehr lange, 
knge Alien und schier unendlicbe Cantaten setzte, die docb nicbt das 
recite GescMck oder den retMen Geschmack, obwol eine vollkommene 
Harmanle batten", so dass Mattbeson, sicb seiner annehmend, Ver- 
anlassung fand, ihn r durch die bohe Scbnle der Oper ganz anders zuzu- 
statzen, gegen Eroffnnng einiger Contrapunctgriffe". Handel verweilte 
in Hamburg drei Jabre, bis 1706, und neben vielen anderen Werken 
ftlr Gesang und Elavier, welche er dort berausgab, bracbte er yier deut- 
scbe Opern: w Almira-*, ?: Nero", ,,Florindo" und ,,Dapline" auf die 
Buhae. Eine Eeibe von Jahren standen diese Meister in Hamburg 
neben einander, in der That eine Zusannnenstellung voll der seltsamsten 
Contrasts. Keiser, lebenslustig, leicbtbliitig und sinnlich; Mattheson 
e|n Universalgenie, von Win t erf eld treffend verglichen mit Glaus 
Zettel dem Weber in Shakespeare's 5 ,Somrnernachtstraum", welcher am 
liebsten jede Kolle gespielt, geseufzt und als Lowe gebriillt liatte; Han- 
del, seiner Kraft bewusst, nacb innen gekehrt, eine. Welt in sich tra- 
gend, das Treiben der Anderen gutmiithig verspottend, bei der zweiten 
Yioline im Orchester angestellt,^ 55 mit dfirrem Scherz sich stellend, als 
ob er nicht auf fiinf zablen konue", aber auf einmal hervortretend mit 
aUer Kraft, 55 ohne dass es Jemand veimuthet hatte", mit Ausnahme 
natorEct des aUwissenden Mattheson, der dies schreibt, nicht eitel, 
aber stok, voll enfcschiedener Haltung herabblickend auf das Treiben 
Derer, denen es nur darum zu thun ist, ihre aussere Erscheinung in 
der Welt geltend zu niachen; entschieden, rauh, zufabrend, wenn es gilt, 



181 

das Eoliere der Kunst m vertreien, mit treffendern Wife selbstgefellige 
Eitelkeit strafencL Endlicli 1st noch, als diesem Kreise angehorig, ein 
ylerter Genosse, Georg Pliilipp Telemann, m nennen. Dleser war zu 
Magdeburg im Jalire 1681 geboren, wo sein Yater Prediger war. Er 
verier diesen aber in zarter Jugend, und sein frfih sicli kundgebendes 
musikalisches Talent mirde Yon cler Mutter bekSmpft und unterdrflekt, 
ja diese sendete den Sohn, um ihn jeder kunstlerischen Verlockung zu 
entziehen, auf die Sehule naeh Zellerfeld, in dem Giauben, w hinter dem 
Blocksberge wehe kein musikalisclies Luftehea". TJnerwartet fand er 
dort GSnner, welche seine Anlagen zu wurdigen wussten und die Aus- 
Mldung derselben forderten. Endlicli bezog er die Tniversitat zu Leipzig. 
In Halle Mtte er durcli ? 3ekanntscliaft mit dem sclion damals wichtigen 
Herrn Georg Friedrich Handel beinalie wieder Notengift eingesogen" ; 
er widmete sieh aber, dem \Vunsclie der Mutter gemass, beim Beginne 
seiner Studien mit allem Fleisse der Jurisprudenz, bis endlich se musi- 
kaJischenBestrebungen, welelie er sorgfaltig verlieimliclite, entdeckSrurden 
und lebliafte Aufinuntenmg fanden. Durcli den Beifall, welclien er erntete, 
wnrde seine Mutter versohnt; er versuohte sioh nun in dramatischen 
Compositionen ftir die Buline von "\Veissenfels, uberliess sich uberhaupt 
seiner Kunst und den Arbeiten in derselben mit durcli die lange Ent- 
sagung yerdoppeltem Eifer, und die Folge dayan war, dass er spater 
QES n l st an der NeuMrclie zu Leipzig wurde. 1708 nahm er einen Euf 
nacli ESsenach an, nachdeni er sicli zuvor im Dienst des Grafen von 
Promnitz in Sorau befunden hatte, und zeigte sich dort sehr thatig in 
Compositionen far die Kirdie. Tier Jahre spater ging er als Kapellmeister 
nach Frankfurt a. M., und lebte Mer langere Zeit in selir erwfinschter 
Wirksamkeit, die Arbeiten ffir die Kirche fortsetzend, neue beginnend, 
so die Compositionen eines damals beruknten Textes, der Passion des 
Hamburger Eattsherrn Brock es, welelie unter ungelieurem Andrang 
der Zuhorer in einer Eii*cbe aufgeftbrt mirde. Endlicb, im Jalire 1721, 
rief ilin eine Einladung als Director des musikalischen Chores und Cantor 
des Johanneums nach Hamburg in eine Stellung, die er bis an seinen 
Tod bekleidete, obsehon aucli spater noch wiederholte Einladungen 
von ?erscHedenen Orten aus an ihn ergingen. Er starb im Jatre 1767. 
Telemann war einer der fruchtbarsten Tonsetzer. 44 Passionsrausikeij^ 
12 vollstandige Jakrgange von Erchemnusiken, 40 Opern, an 700 Arien, 
600 Ouverturen und andere Instrnmentalwerke werden von ihm neben 
yielen anderen Compositionen aufgezahlt. Aucli auf dem Sebiet der 
Kunstlehre finden w ihn thatig, doch nicht mit gleicheni Erfolg wie 
Mattheson. 



So sehr mm auch jeder von den bis jetzt besprochenen Mannern 
ein Anderer war, so verschieden das Ziel, welches sie verfolgten: die 
Neigung fur das musikalische Drama und seine Forrnen verband die- 
selben. Daruber war man einig, dass in der Opera, ,,dein galantesten 
Stucke der Poesie, die gottlielie Musik ihre Vortrefflichkeit am besten 
sehen lasse", und aus diesem Grunde sollte die Tonkunst in der Eirch 
dureh Uebertragung der Opemforrnen auf den geistlichen Eunstgesangj* 
einer gleichen Yortrefflichkeit, so viel als moglich, theilhaftig werden. 
Aus diesem Yerfahren ging eine neue Gestalfc des Mrchliehen Eunstge- 
sanges hervor, ran so erklarlicher, als die Oper in imxner weiteren Ereisen 
sich zu yerbreiten begann, nicht allein auf Hamburg sich beschrankte, 
und in Polge davon der Einfluss derselben sich mehr und mehr er- 
weiterte. So finden wir z, B., abgesehen von einzelnen Yorstellungen, 
die zu Halle selbst schon 1679, zu Merseburg 1681 vorkommen, am 
Hofe ^u Weissenfels seifc 16S2 dieselbe in einer fortlaufenden Reihe. 
* _w^xen^Jie^pj^:n_,zu ..jLeipzig^. nSior wurde nach 



einzelnen Yorstellungen tin Jahre 1685, und spater, im Jahre 1693 bei 
dem Zimmer|ofe. im Brahl aig. der Stadtmaiier ejn Qpernhaus in kurzer 
Zeit erbaut und eine grosse Anzahl Opern, u. A. Werke von Keiser, 
wabrend der dm Messen anfgefiihi'C^ Bis zuni Jahre 1720 laufen die 
Nachriehien hieruber fort. Selbst auf den Gemeinclegesang blieb die 
Oper, diese immer beliebter werdende Eunstgattung, in der man alle 
Yortrefflichkeit vereinigt zu erblicken meinte, nicht ohne Einfluss, ge- 
schweige denn auf die huhere, kunstreichere Eirchenmusik. Die Ein- 
wirkuiig auf den Gemeindegesang war eine bedeutende, aber nur kurze 
Zeit dauernde; bei weiteier Ausgestaltung der Oper gingen beide Ge- 
biete zu sehr aus einander, um sich noch irgend berilhren zu konnen; 
die Einwrriung auf den Kunstgesang dagegen war eine grosse, nach- 
haltige. umgestaltende. Es wurde eine neue Bluthe dieser Kimst, wenn 
auch in anderer Gestalfc und unter veranderten Verhaltnissen, hervorge- 
rnfen, eine Bluthe, welche, dureh Manner wie Schfltz zuerst vorbereitet, 
in den beiden diese Epoche beschliessenden Heroen ihre* Yollendung 
erreichte. Eccard hatte Gebilde in wahrhaft evangelischem Sinne ge- 
schaffen, Gebilde, hervorgerufen dureh die Entwicklung des Gemeinde- 
gesanges. Dagegen erscheinen die Arbeiten von Schiitz als Eesultat 
einer neuen Eichtung. Schiitz bedient sich nicht mehr der Form, 
welche die Gemeinde dem allgemeinen Kunstgesange zugebracht hatte, 
der Melodie des Volksliedes, die der Kunstgesang sodann als willkommene 
Aufgabe ergriff;.es ist eine in ihrer concerthaften Ausbildung rein ton- 
ktmstlerische, einem fremden Volke entlehnte, aus der lebendigen Ent- 



183 

wicklung der Tonkimst innerhalb der eyangelisehen Kirclie nicht Iier- 
vorgegangene, wenn aueh jener Meister im eYangelisehen Sinne sicli 
derselben bedient. Der Kunstgesang, um die Formen des musikalisehen 
Dramas sich anzueignen, begann in den allgemeinen Umrissen seiner 
Gestalt um den Beginn des 18. Jahrhunderts die Predigfc zuni Yorbilde 
zu wahlen. Das Schriftwort, motetten- oder concerthaft gefasst, bildete 
den Text, Kecitative, Arien, Duetten predigfcen daruber; als Vertreter 
der Genieinde blieb das Kirchenlied stehen, im Verianfe der Zeit iimner 
weniger lebendig eingreifend, im Satze auch bald vernaehlassigtf je 
mebr die theatralischen Forrnen die Hauptsaehe wurden, und das Be- 
streben daMn ging, durch Mannigfaltigkeit ihrer Ausbildung die HSrer 
zu ergotzen und die eigene Erfindimgsgabe nud Eunstfertigkeit an den 
Tag zu legen. Die genannten Hamburger Tonsetzer Lrachten das in 
dieser Gestalt Begonnene zu weiterer Entfaltung ; man naherte sich immer 
entschiedener der clramatischen Form, die mit dem Anfang des 18. 
Jahrhunderts zu siegreicher Geltung gelangte. Der Name Oratoriuni 
fur diese Werke begegnet mis schon, obgleieli man eine derartige Be- 
zeiclinung in sehr allgemeiner und scliwankender Bedeutung gebrauchte. 
Handel war in den Jahren seiner Anwesenheit in Hamburg in dieser 
Weise thatig. Keiser machte zuerst den kuhnen TersueL, den eraali- 
lenden Evangelisten wegzulassen und die Form so zu gestalten, r dass 
alles auf einander "aus sicli setter fliesset, wie in den italienisclien so- 
genannten Oratorien", also rein drarnatiseli ; ,,es ist ja verhoffefctEch keine^ 
Sunde, wenn einer im Nainen des Evangelisten nicht mitsinget, sondernl 
statt dass dieser suget: die Junger spraclien den Lobgesang nach dem 
Abendmahle, solclies die Junger selber tliun". Ein anderer wichtigei^ 
Fortschritt wurde durch Mattheson vollbracht. Er war es, der Frauen 
zuerst bei den Aufffilirungen in der Kirehe beschaftigte, denn die damalige 
Sitte hatte diese noch bei der Ausfuhrung gi*osser Musikwerke ausge- 
schlossen, Friilier waren geschulte Sangerinnen nicht erforderlich, selbst 
bis daliin, wo die Aide der Liedform nocli nahe stand. Ein Anderes 
war es bei Aufgaben, wie sie diese Tonsetzer sich stellten; die Lei- 
stungen von Knaben mussten als gandieh unzureichend erscheinen. 
Datirt docla uberhaupt von der Hamburger Epoclie her ein Aufschwung 
des deutschen Kunstgesanges. Mehrere Yorzugliehe Theatersanger und 
Sangerinnen werden aus dieser Zeit schon genannt, so namentlich eine 
Demoiselle Conradi aus Dresden, die spater einen Grafen Gruczewski 
heirathete. Kein "Wunder, dass unter solchen Yerhaltnissen der Ge- 
meindegesang immer mehr zurucktarat, dass der ilm gegenuberstehende 
Kunstgesang ein sehr bedeutendes TJebergewicht erlangte, dass das Band, 



184 

welches beicle vorher verknupft hatte, mehr und mehr gelockert und ge- 
lost mircle. Sprach doch Mattheson es offen aug, class der Gemeincte- 
gesang nur efewas Eiiaubtes, ran der Schwachen und Unwissenden 
willen GeMcletes sei. 

Es bedarf wol kaum einer Erinnerung, was den Kunstwerth der 
Werte jener vier Hamburger Qenosseu hetrifft. Ueber drei derselben 
hat die Zeit schon* gerichtefc, nur Handel steht unsterblicli da, obschon 
nattiiieh ebenfalls niclit diirch jene seiner ersten EntwicHung ange- 
horenden Werke. Keiser zeigt sicli in semen Oratorien niclit anders, 
wie in seinen Opera. Gleiclie Darstellungsformen, aticli eine ziemlicli 
gleiche Instrumentation. Eeiclie ErfinJungsgahe, sinnige, melodiscke 
Entfaltung, aber geringes Qescliiek, wo es gilt, glucHicli Ersonnenes 
kunstgeinass zu verflectten. Meister in der Darstellung cles Liebliclien, 
Aumuthigen, Qefalligen, in seinen kircliliclien "Werken fronime Gefiihle, 
wie sie die Seele eines gebildeten, geistreichen, aber sinnliclien und 
genussBticMigen Weltniannes bewegen, doch. durchaus keine Kirchen- 
musik imalten, holien Sinne. Keiser erscheint also, nach dieser Seite 
hin, als ein Mann von leiclit erregbareni Gefiihl, lebendigem Naturell, 
aber ohne V iTiefe, ahnlicli Mehreren, welche die neueste Zeit anf deni 
GeHet der .feirclieniniisik zu nennen hat. Mattheson's tonkunst- 
lerische Beftabimg war eine geringe; er besass GescMck und die Ge- 
wandtheib, Jclas, was er unteraalim, so auszuftihren, class es den Schein 
deg Bedeiilenclen gewann. Die Znversicht, mit der er dies, sowic iiber- 
liaupt seine Bestrebungen geltenil zu maclien wusste, tausclite seine 
Seitgenossen, insbesondere auch, da er seine Werke als Schriftsteller 
vertreten konnfce. Seine Werke sind dtirftig, und nur die Mode gewShrte 
ibnen ein kiirzes Scheinleben. Bedentender wol 1st Tele maun. Er 
besass Empfanglichfceit fur alle Eindrucke und ein seltenes Geschick, 
des Empfangenen sicli zu bemeistern; im Wesentlichen war er ent- 
scBieden der neuen Eichtung zngethan und verkannte die Vorzeit ; nur hin 
und wieder zeigen sich, wie unbewusst, lichte, durchdringende Blicke in 
diese Vorzeit, welche seinen Schopfungen eine eigentliflmliche Weihe 
verleihen. Er besass grosse, in seiner Zeit ausserordentliche Macht fiber 
die Kunstroittel, ungemeine Erfindungs- und Verknfipflingsgabe, beides 
aber, bei entschiedenem Uebergewicht der Phantasie fiber das GefBOhl, 
fur ihn oft missleitend, seinen sonst scharfen Blick fiber die Grenzen 
seiner Eunst tausehend. Endlich, bei erklarter Vorliebe fur die Mrchliche 
Tonkunst, finden wir doch kanm irgend ein Werk durchaus kirch- 
lichen Sinnes. Es war die Aufgabe dieser Manner, die Vollendung 
der neuen Kunstbliithe vorzubereiten ; durch die Aneignung der welt- 



lichen Formen fur den geistlichen Kunstgesang aber wurclen sie tiefer 
in das "Weltliche verstrickt, als dem Kirehlichen heilsarn war; erst Se- 
bastian Bach und Handel, zu deren Betraclitimg ich mich nun wende, 
wussten yon dieser Vertiefung in das Weltliche sich zu befreien und 
die Holien fruiterer Kircblielilveit noch eimnal zu erHinmien. 

leh gebe Ihnen zuerst eine Uebersicht des ausseren Lebens beider 
Manner. Fur die Betraclitung des Letztgenannten ist nenerdings durch 
das erst vor Kurzem Ihnen wieder genannte "Werk: G. F. Hand el von 
Fr. CIi ry sander, von dem bis jetzt zwei Bande erscliienen sind, nieht 
bios ein weit reicheres Material, als vorher zu Gebote stand, lierbei- 
gescliaffi worden; es ist zugleich durch die in der Hauptsache lobens- 
werthe Verarbeitung desselben ein Fortschritt in dem Yerstandniss und 
der kritischon Wiirdigmig des Meisters geschehen. Als bokannt darf ich 
Yoraussetzen, dass auch nach praktisclier Seite hin durch eine von der 
deutschen Haadel-Gesellschaft veranstaltete Gesammtausgabe der Werke 
desselben ein grossartiges Unternehmen begiiindet wurde (wie fruher 
bereits durch die Bach-Gesellschaft bezuglich Bach's), geeignet, der 
nachfolgenden Zeit das umfassendste Material zu tiefer oingelienden 
Studien an die Hand zu geben. In nieiuen Angaben folge ich nafcur- 
lich dem genannten Biographen, soweit derselbe bis jetzt seine For- 
schungen veroffentlicht hat. Was das "Weitere betriflft, muss ich zur Zeit 
noch die fruheren Daten beibehalten. Heine Saete ist es nicht, liier- 
iiber Untersuchungen anzustellen, Ich habe das Material aufzunelnnen, 
wie es vorliegt, und in kurzem Ueberblick Binen vorzulegen. Cliry- 
s an der aber hat u. A/ auch das Verdienst, die verwirrte Chronologie 
im Leben Handel's in Ordnung gebracht zu haben, ein Yerdienst TOE 
Bedeutimg, wenn man weiss,* wie storend die Unsicherheit in den 
Jahreszahleu auf dem Gebiete der MusikgescMchte clem Darsteller der- 
selben ist. Denn wenn auch durch die neueren Forschungen bereits 
Manches gethan ist, so bleibt cloch noch immer des Widersprechenden 
yiel zurfick. Auch liber Sob. Bach haben wir nenerdings in den 
Werken von C. H. Bitter und Ph. Spitta neue und unifangreiehe 
Mittheilungen erhalten. Zum Schluss der heutigen Yorlesung mag dann 
noch, nachdem ich Ihnen die Hauptumrisse des Lebens beider Manner 
dargestellt habe, die vergleichende Cliarakteristik folgen, welche Fr. Eoch- 
litz im 4. Bande seiner Schrift: w Fur Frennde der Tonkunst" aufgestellt 
hat; ich will mir nicbt yersagen, diese Ihnea initzutheilen, da sie in 
lebendiger, trefiender Sebilderung sowol das Verschiedenartige wie das 
Yerwandte Beider sehr gut zeiehnet. 

Friedricli Handel wurde geboren zu Halle am 23. Fe- 



186 

bruar d685. Er war der Sohn ekes fiirstliehen Kammerdieners und 
Amtschinirgus. Seine grosse Begabung und sein reger Eifer fur die 
Tonkimst hatten sclion frflh sick Bahn gebrochen, oline jedoeh zu- 
naeist AufmunteniBg zu finden. Es war des Vaters Lieblingswunsch, 
der Sohn solle Jurist werden, und bereits hochbejahrt, als Dim derselbe 
geboren wurde, Melt er eigenslnnig an dieser Grille fest. Erst die Vor- 
stellungen des Herzogs von Sachsen-Weissenfels braehen diesen Starr- 
sinn insoweit, als nun musikaliseher Unterricht erlaubt wurde, wala- 
rend frfiher alle Uebungen geheinagehalten werden mussten. Der Vater 
hatte erne Beise dahin unternoinnien, und war genotMgt gewesen, den 
Solm, dei damals das 7. Jalir sclion zuruckgelegt hatte, wider seinen 
Willen mitziinehmen, da dieser, auf seine Mheren Bitten abschlaglich 
bescMeden, dem Wagen, worm der alte Handel sass, nachgelaufen war, 
so dass dieser aim woM oder flbel aufnehinen niusste. In Weissenfels 
liorte ihn der Herzog, und setete es durch, dass er jetzt bei deni Orga- 
nisten Zaehau in Halle Unterricht erMelt. Chrysander giebt bei 
dieser Gelegenlieit einige Details uber den Zustand der Weissenfelser 
Musik. Der kunstsinnige Fiirst liess derselben eifrige Pflege augedeilien. 
Die ETapefle nalnn den Enaben eines Sonntags mit auf das Orgelchor, 
und hier fai^d der Furst Gelegenheit, ihn zu horen. Bald naeh seiner 
Zurficfctunffc Jiaeli Halle ging der Vater zu Zachau, und jetzt begann 
demziifolg^ein geregeltes Stadium. Im Jahre 169G sehen wir den jungen 
Ha a del am kurftirstliclien Hofe in Berlin. Bin Freund des Vaters 
ftlirte ilin daselbst ein. Man fand sein Klavierspiel bewundernswerth 
iincl dies aicht bios in Betraclit seiner Jahre. Dort war es auch, wo er 
file erste Betanntsclaffc mit italienischer Musik und mit Italienern machte. 
Es waren dies Gi or. Bononcini, derbeste Coinponist, uiicl Pater Attilio 
Ariosti, der beste Klavierspieler der musikalischen Eapelle. Der 
Letztere protegirte ihn, der Erstere dagegeu, als er Handel's Begabung 
erkanat hatte, zeigte Keid uud kalte Hoflichkeit, und es wurde sonaeh 
hier sclion der Grand zu jener Feindschaft gelegt, die spater in London 
zurischen beiden Mannern bestancl. Handel nahm eine Einladung, am 
kiufurstlichen Hofe m bleiben, nicht an, und ging zuriick nach Halle. 
Bald darauf, irn Jahre 1697, starb auch sein Vater, Die folgenden 
Jahre vergingen unter Studien mancherlei Art. Getreu den Wimschen 
des Vaters, bezog er im Jahre 1702 die Universitat, in der Absicht, 
dem Stadium der Jurisprudenz sich zu widmen. Natiirlich war dabei 
die Musik niemals vernachlassigt worden. Handel componirte fleissig 
imd bekleidete demzufolge auch eine Zeit lang eine Stellung als Organist 
in Halle, obsehon nur provisorisch, da es keineswegs seine Absicht war, 



187 

in Halle sich festzusetzen. Seine Wunsche und Neigungen waren zunachst 
darauf gerichtet, in der "Welt sich umzusehen. So verliess er Halle, die 
juristische Perlode war zu Ende ? und er begab sich nacli Hamburg. Dies 
geschah im Jahre 1703, im 19. Jahre seines Alters. Die Hamburger 
Bfflme erfreute sich eines weitverbreiteten Eufes, und hier war es daher, 
wo Handel zunachst seine weitere Ausbildung suchte. Drei Jahre 
dauerte der Aufenthalt daselbst, bis zum Jahre J706. Es wurcle dies 
bereits erwahnt, als ich vor Eurzem diesen Gegenstand belaandelte. Dort 
auch machte ich bereits seine wichtigsten Werke, welche in diese Zeit 
fallen, im Vorubergehen nanihaft Der Dichter Post el schrieb eine 
Passion fur ihn im Jahre 1704. In das Jahr 1705 fallen seine Opern 
,,Akoira" bei welcher Postel und Mattheson ilnn berathend 
zur Seite standen und ,,Nero". Die zweitheilige Oper ,,FIorindo und 
Daphne", gegen Ende des Jahres 1706 geschrieben, kani erst zur Auf- 
fiihrang, als er Hamburg wieder verlassen hatte, und sich bereits ein 
Jahr in Italien befand. Handel kam nach Hamburg, als eine Fiille 
von Talenten daselbst thatig war; die Zeit der ersten frischen Bluthe 
war indess schon vorflber. Seine ausgezeichnete Begabung als Com- 
ponist, sowie seine Leistungen als Virtues gewannen ihm viele Freunde 
und Gonner. Wurden doch die Musiker iiberhaupt dort in Ehren gehal- 
ten, mehr als an den meisten anderen Orten in Deutsehland, mehr auch 
als grosstentheils an den Hofen. Die Pflege der Kunsfc war dort in 
die Hande des Bfirgersfcandes iibergegangen, und auch das niochfce^bei 
Handel's Sinn nach Unabhangigkeit , ein Grund mehr gewesen seiii, 
Hamburg zu wahlen. Indess musste er doch auch, wie dies bei dem 
dortigen Kunstleben und dem Charakter desselben entsprechend nicht aus- 
bleiben konnte, allerlei Widerwartigkeiten erfahren, so dass er sich spSter 
zuruckzog, und sich hauptsachlich mit Lectionen beschaftigte. So reifte 
allerdings in ihm der Entschluss, Hamburg wieder zu verlassen. TJnter 
seinen Gonnern befand sich auch der Prinz von Toscana, Bruder des 
Grossherzogs von Florenz, GiovanniGaston da Medici, ein grosser 
Musikfreund und Einer von den Vielen, die damals auf Grand dieser 
Neigung Hamburg besuchten. Dieser lud ihn dringend ein, Italien zu 
besuchen, und bot ihm sogar die Mittel zur Eeise an. Handel indess 
wartete, bis er selbst im Stande war, dieselben zu bestreiten, und fuhrte 
erst dann, als dies der Fall, den angeregten Plan aus. Hamburg trat 
dainit fur ihn auf immer in den Hintergrund. Er hatte gelernt, was 
m lernen, und die dort zur Ausbildung gelangte Stufe heimischen Kunst- 
lebens iiberwunclen. Im Marz des Jahres 1707 sehen wir ihn bereitp in 
Florenz. Hier wie tiberall diente der Yirtuos dem Componisten zur Ein- 



188 - 

Mining, docli war er sofort auch als soldier thatig. In den Anfang 
seines Aufenthaltes fiillt eine ZaU Yon Solocantaten. Zu Ostern wollte 
er auf alle Falle in Bom sein, und er bereitete sich dafur dnrcli die 
Composition des Psalms ^Dixit domimts" yor, die er in Koin vollendete. 
Sein Aufenthalt daselbst dauerte be! seiner ersten Anwesenlieit melirere 
Monate, und nocli eine Eeilie von ahnlichen Werken fand Her ihre Ent- 
stehung oder wurd.e wenigstens umgearbeitet. Die erste Oper, welche 
er im Herbst des Jahres 1707 'fur Florenz setzte, war ,,Eodrigo". Die 
Aufnahrne war eine aussernt gunstige nnd fur Handel gewinnbringende. 
In Yenedig weilte er zu Anfang des Jalires 1708 nnd setzte dort die 
Oper r Agrlppina :4 . Er gewann mit dieseni Werke den anderen Com- 
ponisten einen bedeutcnden Yorsprung ab, sclion mit der Ouverture. Eine 
solche Eingangsmusik inusste den Zuliorern ganz nen sein, da sie dnrcli 
die einheimiselien Tonsetzer an eine minder gewiclitige Art gewolmt 
waren; H an del uberrasclite durcli die Macht nnd Qrossheit des Ans- 
dracks m iliesera Falle wie uberhaupfc. Spater ging er wieder nacli Rora. 
Weil Ostera lierannalite, arbeitete er ein grosseres Werk fiir dieses Pest, 
ein Oratoiinm vRe&urredone", das, als ein Muster der italienisclien Ora- 
torienfonn in jener Zeit, gescliiclitlidi wiclitig, kltnstleriscla von geringerer 
BeJeutung ist- "Wie selir man aber seine Fahigkeit fur oratorische Com- 
position zu pi-Mtzen wusste, zeigt die Aufforderung zu einem anderen 
Werte Slnilcher Arfe, r ll trionfo del tempo e del disinganno*, grosser 
imd^io^nftiifi^iieiier als das vorhergehende, obsclon ebenfalls kein blei- 
b^ades lumstwerk, weslialb er auch in viel spateren Jahren zu melireren 
Ijtalen mnarbeitend auf dasselbe zuriickkam. Der Aufenthalt in Italien 
4finte Handel zugleicli dazu, ihn mit den vorzfiglicbsten Kunstlern 
jSes Landes in Bertilirung zu bringen. In Yenedig verkehrte er mit 
Lotti, in Rom machte er die Bekanntscliaft der beiden Scarlatti, 
und bestand mit dem Sohne Domenico einen musikalischen Wettstreit 
als Yirtaos. Mit Core Hi kani er, wie bereits erwalint, ebenfalls in Be- 
riiliiTmg, und so mit Tielen anderen. Spater, im Juli des Jalires 1708, 
begab er sich nach Neapel, wie zu vermiitlien stelit, in Gesellschaft der 
jzuletzt genannten Ktinstler, yon denen Alessandro Scarlatti sich 
bleibend jetzt dort niederliess, und daselbst bis an seinen Tod im Jalire 
1725 seine Hauptwirksamkeit entfaltete, wie ebenfalls bereits erwalint 
wurde. Handel war inuner sehr fleissig; auch Cantaten fur ZWBI und 
melir Singstimmen, sowie Chansons, franzosische Gesange, welche, durch 
einen damals heftig gefuhrteu Streit iiber die Yorziige der italienisclien 
untUder franzosischen Musik veranlasst, fur ihn die Bedeutung von Studien 
batten, arbeitete er in Italien* In Yenedig zur Carnevalszeit 1710 er- 



189 

neuerte er die alien Bekanntschaften nncl machte neue mit mehreren auge- 
selienen Hofleuten, Eiinstlern und Kunstfreunden aus London und Han- 
nover. Seine Absieht war, nach London zu gelien. Der Baron Kiel- 
mannsegge und der Kapellmeister Steffani aber nalimen ilia mit 
nacli Hannover. Hannoveraner und Englander betraehteten sich bei der 
bevorstehenden Erhebmig des Kurfursten anf den englisclien Thron alB 
ein Volk, nncl man machte ilroi bemerklich, dass es vorfheilhaft sein 
wiirde, vor einer Uebersiedelung naeb England Verbindiingen in Han- 
nover anzuknupfen. So verliess Handel, 25 Jahre alt. Italien, wo er 
seine zweite, lioliere, kfmstleriscli bedeutsame Jugend verlebt und den 
Grund zu der spateren Eeife gelegt hatte, und begab sich naeh Han- 
nover, nacMem er den genannten Freunden das Wort gegeben hatte, 
nocli ehe das Jabr vergangen sei, in London einzutreffen. In Hannover 
crHelt er die Stellnng als Kapellmeister. Ini Spfttherbst cles Jahres 
1710 langte er in London an, wo er eine ennunternde Aufnahme fand. 
Was die musikaliselien Zustande betrifft, so waren diese im Clanzen nocb. 
ziemlich unentwickeli Er fand weder Yirtuosen, mit denen er sicli wie 
in Deutscbland und Italien in einen Wettstreit liatte einlassen T nock 
Gomponisten, die ihni den Eang batten streitig machen konnen, obschon 
achtongswfirdige Talente nnter ibnen sicb. beianden. England, bemerkt 
Chrysander, batte eine selbststandige, zum Theil grosse musikalische 
Vergangenheit, aber keine Gegenwart. Die Anfange des musikaliselien 
Theaters waren bier denen in Deutschland ziemlich gleieli, liatten aber 
einen scbnelleren Fortscbritt und gingen tiefer ins Volksthnm ein. Zu- 
erst holte man aus Italien und fiibrte auf, was moglich war, blieb aber 
weit hinter den Yorbildern zuruck. Sehon" im Jabre 1656 kam eine 
derartige Auffuk-ung vor. Aucb die franzosische Oper liatte Eingang 
gewonnen und fand an Carl EL einen eifrigen ScMtzer. Der bedeu- . 
tendste engliscte Tonsetzer, der als Vorlaufer HanflePs betrachtet 
werden muss, war Henry Pur cell, der von 1658 bis 1695 lebte. 
Der italienisclien und der sie verdrangenden franzosiscben Musik gegen- 
tiber verkat dieser den Qeschmack seines Volkes. Man ging auf Shake- 
speare zuriiek und holte sieb dort die Stoffe, wie bei tins aus der BibeL 
Pur cell setzte eine Beibe solcher Stucke in Musik. Freilicb waren 
es keine eigentlieben Opern, was er gab, sondern gesproeliene Drarnen 
mit musikaliseben Scenen. (Die erste Oper ? welcbe dui'cbweg gesiingen 
wurde, kam erst im lafare 1705 in London zum Vorschein.) Chry- 
sander nenntPureell eiuen selbststandigen Geist, wieunseren Scliutz, 
wiewol er ebenfalls auf daB Vorbild der Italiener binwies. Obscton in 
den einzelnen Formen der Oper niclit so geschult wie diese, war er 



190 

ihnen doch uberlegen durch den tiefdramatisehen Geist und die einheit- 
liche Gesainmtwirkung seiner Werke. Frtiher hatte England sich tiber- 
wiegend nocli mit eigenen Mitteln versorgt, aueh was Spieler und Sanger 
betrifft Seit 1690 kamen die Italiener in grosserer Zahl, und wie bei 
uns wnrde jefczt das Rationale und das Fremde durcli einander gemengt, 
so dass in denselben Werken engliscli und zugleich italienisch gesungen 
wurde. Endlieh im Jahre 1710 liatten sieh so viele Italiener in London 
angesammelt und so viele Englander sich die italienisehe Spraehe ange- 
eignet, dass man es wagen konnte, Opern ganz in italienischer Sprache 
zu singen. Jetzt nun, wo das Interesse an der Oper ein so allgemeines, 
lioch gesteigertes war, trat Handel auf den Schauplatz, und man 
empfing ihn, dessen Ruf bereits nach England gedrungen war, bei der 
Oper mit offenen Annen. Sein erstes Werk fur die englisclie Bitline 
war die Oper 5 ,Einaldo" im Jahre 1711. Die ganze Arbeit wurde in 
14 Tagen Ibeendet, maclite aber einen ausserordentlichen Eindruck. Trotz 
der italienischen Oper Hng die Menge doch an Pur cell. Erst Han- 
del war im Stande, sie diesem abwendig zu naachen, und wir haben tier 
ein flmliches Schanspiel, wie wir es spater in Prankreich sidi wieder- 
liolen sehen warden. Aucli in JTeapel wurde die Oper im Jahre 1718 
i irater Hitwirkong L e o *s aufgefohrt. Naeh Beendigung der Saison reiste 
'Handel ab raid begab sich zuruck nach HannoTer. Auch seine Vater- 
siadt besiiefate er 5 und tibernahm dort in seiner Pamilie eine Pathen- 
sfcelle. J&. Hannover war es der schon einigemal genannte Kapellmeister 
iSteffani gewesen, der dort fflr die Kunst eine erfolgreiche Thatigkeit 
entwickelt hatte. Chrysander hat demselben eine atisfiihrliche Be- 
trachtung gewidmet, und auf cliesen beinahe vergessenen Ktinstler uncl 
Staatsmann die Blieke von Neuem hingelenkt. Seine Kunst, bemerkt 
er bilde das Mttelglied, durch welches die italienische der des grossen 
Deutschen die Hand reicht. Steffani war im Venetianischen im Jahre 
1655 geboren und starb auf einer Eeise im Jahre 1730. Ein Stalat 
mater und eine grosse Zahl von Kammerduetten, welche Kunstgattung 
durch Ihn zu holier AusbMung gebracht wnrde, werden unter seinen 
Werken vorzugsweise genannt. Handel schrieb in Hannover mehrere 
derartige Compositionen und auch eine Anzahl deutscher Lieder. Seine 
Kapellmeister-Thatigkeit war auf Kammermusik beschrankt, da Opern- 
auffuhrungen nur zeitweilig stattfanden* Was Instrumentalmusik betrifft, 
so kamen fast ausschliesslich Werke von Lully ^ur Aufflihrung. Ausser 
der Yioline war im Orchester zu Hannover auch die Oboe gut besetzt. 
Beide Instramente waren damals unter denen des Orchesters die am 
weitesten in ihrer Behandlungsweise vorgeschrittenen, und Handel fand 



191 

deshalb Veranlassiing, seine ersten Oboenconcerte zu componiren. 
Ende November des Jahres 1712 erscheint sein Name wieder in den 
Londoner Zeitungen, nnd zwar bei der Anzeige seiner nenen Oper y ,H 
pastor fido". An diese schloss sich am 10. Januar des folgenden Jahres 
die Oper ,,Theseus", die ebenfalls in kurzer Zeit componirt wurde. Mr 
den Geburtstag der Konigin Anna am 6. Pebruar 1713 componirte er 
eine Ode und gleichzeitig das Utrechter Te deum und Jubilate in D, das 
letztere in Deutscbland unter der Bezeichnung des 100. Psalms bekannt. 
Die Konigin setzte ilnn dafttr ein Jahrgehalt von 200 Pfond aus. Drin- 
gend aufgefordert, in England zu bleiben, hatte er die Kuekkehr nacli 
Hannover ganz vergessen ; sein Urlanb war ubersehritten. Zugleich hatte 
er mit clem Te deum seiner Dienst- nnd Unterthanenpflieht zuwider ge- 
handelt. Da bestieg sein bisheriger Gebieter, der Kurfurst Georg, als 
Georg I. den engHschen Thron; Handel kara dadurch in eine keines- 
wegs angenelame Lage, musste sich zuruckziehen inid verbergen. Der 
dienstvergessene Kapellmeister wusste indess auf heitere Weise den Konig 
zu versohnen, als er zu einer Wasserfahrt auf der Themse am 22. August 
1715 eine ,,Wasser-Musik" componirte, welche clem Konig gefiel, so dass 
Handel wieder zu Gnaden angenommen, und sein Gehalt mit einer 
Zulage vermetrt wurde. Die folgenden Jahre wolinte er meist bei 
englischen Grossen auf dem Lande in der Nate von London und wurde 
von diesen mit Auftragen bescliaftigt. Docli fallt in diese Zeit aucli 
eine Keise nacli DeutscHand, die er im Gefolge des Konigs unternahm. 
Diese Reise sollte ilm zugleich mit der deutschen Musik nocli einmal 
in unmittelbare Berizkrang bringen. Er componirte eine Passionsmusik 
nach den sclion einmal erwahnten Worten von Barttold Heinricli 
Brockes, die bereits Keiser, und, wie selion neulioh bemerkt, auelt 
Telemann bearbeitet batten. Mit diesem Werke setzte er seinen Fuss f 
bemerkt Chrysander, auf deutscb.es Gebiet, zog ihn aber schneU. 
wieder zuruck. Bald erliob er sieli auf einen anderen Standpunct, einen 
unendlicli hoheren, der fur den Gehalt seiner Kunst entscheidend war, 
indem er zugleich uber die stisslicli-sentimentalen deutscben Teste Mnaus- 
sehritt, und an das Bibelwort sicli anscMoss. Ende des Jahres 1716 
erfolgte seine Euekreise nact London. Er lebte hierauf langere Zeit als 
Musikdirector zu Cannons bei dem Herzog von Chandos, jedoch in durcli- 
aus freier Stellung. Dieser Aufenthalt ist wiclitig, weil er Mer (im 
Jahre 1717 20) seine 12 Anthems componirte, die eine Vorstufe zu 
seinen spateren Oratorien bilden. Der Fame Anthem (entstanden aus 
ant-hymn) weist darauf Mn, dass ursprunglieh mit ihm der Wechsel- 
gesang des Priesters und der Gemeinde bezeichnet wurde. Spater fiel 



192 

der Begriff cles "Wechselgesangartigen ganz weg, und es entwickelte sich 
eine niotettenartige Choi-form, die durcli Pur cell und Handel durcli 
Emfuhrung TOR Sologesangen zwischen die Chore zur Cantate ausgebildet 
wurde. Ala Texte sind Psalmen zu Grande gelegt. Bald darauf, im 
Jahre 1720, selien wir Handel denn auch mit seineni Oratoriuni 
^Esther" hervortreten, das erste Werk dieser Art in England und zu 
englisclien "Worten. Vieles aus seiner Passionsmusik nalnn er in dieses 
Werk auf, eine Yerfahrungsweise, die Handel tiberhaupt charakterisirt 
und die zuin Theft tiberraschend selinelle Abfassung vieler seiner Coni- 
positionen erklaii. Er hob aus nur voriibergehenden Zwecken gewid- 
meten Werken das Bedeutendere heraus, urn demselben eine grossere 
Dane- zu verMhen. Dieses Oratorium bildet den Uebergang zu den 
spateren "Wei-ken dieser Art; es ist, wie eine Oper, nodi in Scenen ab- 
getheilt und stellenweise dramatiseh und opermnassig gebaut. Zu der- 
selben Zeit und unter clenselben YerMltnissen zu Cannons schuf er auch 
noch ein zweites Oratorium, clas Schaferspiel ,,Ads und Galathea". 

Hiermit scUiesst der erste Hauptabsclinitt im Leben Handel's. 
Die gauze erste Halfte desselben ist damit abgethan. Sie stelit der 
grosseren mid becleutenderen zweiten Halfte gegenuber, die dadurch noeh 
merkwfirdiger und anzieliender wird, dass- der innere Fortgang mit 
der ausseren Wanderung durcli die musikalischen Culturlander gleichen 
Schritt halt. 

Der zweite Band des Chrysander'schen Werfces behandelt die 
Jak-e von 1720 bis 1740, die Zeit der TMtigkeit Handel's bei der 
ifcalienisdien Oper in London. Dieser gewinnt dadurch einen neuen Boden 
fur seine kunstlerisclie Thatigkeifc, er tritt dem Gesammtpublicum naher, 
wie sich denn uberhaupt durcli diese seine Thatigkeit erst eine musika- 
lische Oeffentlichkeit in England bildet. 

Um die soeben bezeichnete Zeit wurde durch Subscription cles Konigs 
und Adels die konigliehe Akademie der Musik errichtet, welche die Be- 
stimmiiDg hatte, stets eine Auswahl der besten Opern auf dem Haynaarket- 
Tlieater nioglichst vollendet darzustellen, und Handel mit der Direction 
sowie mit deni Engagement eines vorzuglichen Personals beauftragt. 
Die Yorbereitungen zu dieseni Unternehmen fallen in den Winter von 
1718 19, und Handel begab sich schon 1719 zu diesem Zwecke auf 
den Continent. In Dusseldorf gewann er den Sanger Bal das sari. In 
Dresden fand er im Herbst des Jahres 1719 fast alle Beruhmtheiten der 
italienischen Sangerwelt versammelt, doch vermochte er die betreffenden 
Kunstler und Kunstlerinnen niclit zu einem sofortigen Antritt eines 
Engagements zu gewinnen, da dieselben noch contractlich gebunden waren, 



193 

bios mit Ausnahme der Sangerin Durastanti, welclie far den Augen- 
blick besonders erwunscit kam. Die Uebrigen, unter diesen der ausge- 
zeichnete Sanger S en e si no, warden vom 1. October 1721 an iur die 
Akademie gewonnen. Mt der soeben schon bezeickneten Tendenz der 
Akademie, Alles zu vereinigen, was im Faehe der Buhnenmusik zu leisten 
sei, war engster Anschluss an die italienische Oper von selbst geboten. 
Bin nationaler Gedanke lag ihr fern. In diesem Sinne wahlte man ancli 
noch neben Handel die musikalisclien Leiter der Akademie, die Italiener 
Bononcini, sowie spater Attilio Ariosti, dieselben, denen Han- 
del schon in Berlin begegnet war. Diese traten zugleieh in Gemein- 
schaft mit ikm. als Componisten auf, nnd es war dadurch gleich anfangs 
Veranlassung zu mannigfaclien Elfersuchteleien und in Polge clavon zu 
den spateren lieftigen Streitigkeiten nnd Parteikampfen gegeben. Werke 
anderer italienischer Tonsetzer wurden ebenfalls mehrfach aufgefoJirt. 
So natanen die Vorstellungen im April des Jalires 1720 iliren Anfang. 
Handel begann seine TMtigkeit mit der Oper ..Rhadamist^, in der 
Senesino sich durch die Arie :y Oinbra eara" den grossten Beifall er- 
rang. Handel war jetzt fortwabrend far die Oper tMtig, und es folg- 
ten im Laufe der Jahje neue Werke dieser Gattnng in grosser Zahl, 
^Ploridant", J7 0tto a , 5 ,JuKus Casar u ? u. a. Yon der Oper ,.Mucitis Sca- 
vola ;c componirte Handel den letzten Act, Bononcini den zweiten 
und der Violoncellspieler der Akademie, Pilippo Mattei, "genannt 
Pippo, den ersten. Handel gewann den Preis liber seine Gegner, 
trotz der Anfeindungen, denen er ausgesetzt war. Was den kiinstleri- 
schen Werth dieser Werke betriffit, so unterscheiden sicli dieselben aus- 
serlich rdcht von dein, was damals in der italienisefen Oper Brauch war. 
Es sind, wie Clirysander sagt, Arienbiindel durch Eecitativfeden zu- 
sammengelialten. Dramatische Concertmusik ist der bezeiclinende Aus- 
druck daftir, nur dass Handel schon damals Bedeutenderes in solcher 
Weise gab, als seine Zeitgenossen meist zu leisten vennocMen. Nicht 
aber eine tiefere Anscliauung voro. "\Vesen der Oper charakterisirt Han- 
del's Werke, es ist mehr die innere Durchbildung, welclie denselben 
eine erhoMe Bedeutung verleiht, und dieselben nicht als blosse Mode- 
producte von vorubergehendem Interesse, sondern in der That als Vor- 
stufe fur seine spateren Oratorien erseheinen lasst. Es war, wie schon 
bemerkt, bei der Verbindung go vieler fremdartiger, zum Tlieil wider- 
spruchsvoller Eleraente natMieh, dass Kanipfe mancherlei Art nicM aus- 
bleiben konnten, die endlicli in die heftigsten Parteiungen ausarten 
mussten. Die Italiener arbeiteten gegen Handel, in gleicher Weise 
trat eine nationalgesinnte, englische Partei gegen ihn auf. Insbesondere 

13 



194 

arg wurde die Saclie, als nun ancli unter den Sangern nnd Sangerinnen 

ZerwtirMsse ausbraclien imd Hof iind Publicnin leblaaften Antkeil an den- 

selben nalrmen. FrancescaCuzzoni, wlcke 1722 ankam, sowie spater 

Faustina Hasse gekoren mit dem sckon genannten Senesino zu 

den Hatiptcelebrifcaten, uni die sicTi die Parteien haupts&chlich gruppirten. 

Beide Sangerinnen waren Toiler Capricen, namentlicli die Erstgenannte, 

deren Weigerung, eine fur sie von Handel componirte Arie m singen, 

diesen In den hoehsten Zorn versetzte, so dass er jeder Selbstbeherrschung 

nnfthig ausrief : r Dass Sie ein leibliaftiger Teufel sind, weiss ick, aber 

Sie sollen wissen, class ieh Beelzebub bin, der Teufel Oberster". Dabei 

ergriff Handel sie, hob sie auf und Melt sie, zitternd TOT Wnth, in 

das offene Fenster, in dem er schmir, sie unfehlbar liinunterzuwerfen, 

wcnn sie nicbt gehorche, was zur Folge hatte, class sie schreiend, in 

Todesangst, Alles versprach, und kiinftig musterhaft geliorsani gegen 

Handel war. Ein Streit der beiden Danien, der zu einem Handgeinenge 

auf offener Scene wurde, war es denn scliHesslicli auch, welcher der 

Saison ein Ende maclite. Diese erste Opernepoche umfasst die Jalire 

1720 1T28. Die Danien Cuzzoni und Hasse wurden zwar spater 

wieder so weit versolint, dass sie neben einancler singen wollten, aber die 

Theilnahme des Publictims war erialtet, und die regelmassige Jalires- 

subscription kam in der letzten Saison nicht wieder zu Stande. Es war 

zu spat, dass Handel die Zugel der Oper jetzt allein wieder in die 

Hande bekam, da seine Kiralen, imfahig, sich ilim gegenflber zu behaupten, 

sick batten znruckziehen mtissen. 

Handel hatte in diesem Zeitraiun 12 Op em gescbieben, die fiber- 
all in DeutscHand , Italian, den Mederlanden gegeben wurden. Selbst 
Frankreick gestattete ilinen, wenn auch nur auf knrze Zeit, Eingang. 
In dieselbe Zeit fallt auch der Tod des Konigs Georg I. Mr die Ttiron- 
besteigung seines Sohnes Georg II. erhielt Handel den Auftrag, die 
Chore liber die Kronungstexte neu zu setzen. Er componirte vier dieser 
Kronungsanthems. - 

In die Zeit des Aufhorens der Akademie fallt eine Episode, deren 
try sancler in einem besonderen Abschnitt ausfukrlicker gedenkt: die 
Entstehung der sogenannten Bettler-Opern und Balladen-Singspiele, welche 
der italieniscben Oper und fiberhatipt der Tonkunst im hoheren Sinne fur 
einen Augenblick Halt geboten, indem sie eine bedeutende Concurrenz 
hervoniefen. Sie waren, wie der angeftihrte Schriffcsteller bemerkt, 
ein Glied in der Kette oppositioneller Schriften, und mit den grossten 
satiiisclien Leistungen der engiischeri Literatur eng verfochten. So 
gi^oss war die Beliebtkeit derselben, dass in den nachsten zwolf Jahren 



195 

mehr als hundert Stucke dieser Art entstanden. Der Bettler-Oper 
gegeniiber hatte sich die italienisehe geleert. Eine neue Akademie wurde 
gebiidet, obsclion dieselbe von der Mheren wesentlicli abwich. Die 
neue Akademie bestand nur aus Mitgliedern, welehe sicli m einer mehr- 
jahrigen Subscription verpfiichtet hatten. im Uebrigen jedocli, wie es 
bei der ersteren geschehen war, weder Tonsetzer nocli ganger ver- 
schrieben, weder die Werke bestellten. noch die Auffthrungen be~ 
stimmten. Das Unternehnaen ging wesentlict vom Hofe und von dem 
zuin Hofe sicli haltenden Adel aus. Handel hatte alles Musika- 
lische zu leiten, und so trat er ini Spatsommer des Jahres 1728 seine 
zweite italienisclie Eeise an, mn Engagements einzuleiten. Unter den 
Sangern, welche er gewann, befand sich Bernacchi, der allerdings nacli 
Ohrysander's Angabe mit S e n e s i n o sicli nidit messen konnte. Ein 
Hinen fruher fiber diesen Sanger mitgetheiltes Urtheil lautete freilich 
gfinstiger. Die beste Acquisition machte er mit der Signora S trad a. 
Die Vorstellungen begannen Ende des Jahres 1729, und Handel 
trat jetzt abemials mit einer Anzafal neuer "Werte auf. Er componirte 
in den vier Jaliren des Bestehens dieses Unternelimens sechs Opern. 
Auch Senesino kam spater wieder nach London. 

Nach und naeh wiu-cle der Drang nact dem Besseren ein imnier 
allgemeinerer. Das nausikalische Altengland erwachte wieder. Han 
erkannte die Unbedeutendbeit der italienisclien Texte und wiinsclite 
bessere und cliese zugleicli in englisclier Sprache. Ein nationaler. mit 
einer liolieren Anschauung verbundener Kiinsttrieb beginnt Eaum zu 
gewinnen. Bestrebungen soldier Art waren niclit bios von Einfluss 
auf das Erwaehen des Handel'sclien Genius inggeiner ganzen Grosse, 
Handel im Gegentheil war denselben bereits voraiisgescliritten, Man 
hatte die Ueberraschung, dass das, was zu leisten versuehte, 

eigentlich schon gethan war, dass Handel in ..Esther 4 und ,,Aeis und 
G-alathea i4 zwei Werke geliefert hatte, an Diehtung und Musik vOUig 
neu, die nur aufgefuhrt zu werden brauchten, um die Ueberzeugung 
davon allgemein zu verbreiten. Man zog also diese Werke wieder 
hervor, zugleich aber auch durch scenische Action auf ein ihnen fremdes 
Gebiet. Von verschiedenen Unternehmern wurden anfangs mehrfache 
AuffBhrungen derselben ins Leben gerufen. Handel nahna die Sache 
in die Hand, trat an die Spitze dieser neuen Bewegung, und wurde 
dadurch auf die Bahn des Oratoriums hingeleitet. Er selbst veranstaltete 
wiederholt Aufftihrungen, und trug den Anforderungen der Biihne inso- 
weit Rechnung, als zwar eine eigentliche Action nicht stattfand, die 
Scene aber in malerischer "Weise einen passenden Hintergmnd darstellte, 

13* 



196 

und Eleider imcl alle sonstigen Deeorationen dem Gegenstand ent- 
sprechencl gewahlt warden. So wurde im Jahre 1732 ,,Esther", das 
andere der in Cannoiis entstandenen grossen Werke, im Hause eines 
Hrn. Bernliard Gates von den Knaben der koniglichen Eapelle mit 
Action aufgefehrl Der Ohor, bestehend aus den Eirchensangern und 
den Mtgliedern der koniglichen Eapelle, war nacli der Weise der Alten 
zwischen der Btihne und dem Orchester aufgestelll Darauf wurde es 
von demselben Personal in dem Gasthause zur Krone und zum Anker 
wiederholt. Una dieselbe Zeit fand zu einem wohlthatigen Zweck 
eine Auffahrung der seit dem Jahre 1714 niclit wieder zu Gehor 
gebrachten Utreehter Friedensmusik statt, was sick spater ebenfalls 
wiederholte. Eine andere wichtige Veranderung, die ebenfalls im Gefolge 
solcher Auffiihrungen Platz griff, verdient Merbei nocli eine besondere 
Erwahnung. Die Solosanger namlich waren theils Englander, theils 
Italiener, waren aber jetzt genotMgt ? sammtlich engliscli zu singen. 
Der Zug zum Erhabenen war jetzt in Handel wie aucli auf einen 
Augenblick in der Mehrzahl der Musikfreunde vorwaltend, und so 
schritt er auf dem durch ,,Esther" gebahnten Wege schnell zu einem 
nenen Werke und componirte 5 ,Debora a , welches im Jahre 1733 mit 
engiischem Text aufgefohrt wurde. Es war dies ein neuer Schritt zur 
Befreinng yon den italienischen Banden. Abgesehen hierYon ? so liegt 
die Bedeutung dieses Werkes wesentlich in den Choren. Das wirklich 
Neue in ,,Debora f{ , den Portschritt zu einer grosseren Vollendung des 
oratorischen Baues, sieht Chrysander in der chormassigen Charak- 
teristik der feindlichen Volksmassen. In , 5 Esther" erhebt sich die Be- 
deutung des Karnpfe^ noch nicht fiber das Personliche ; in ,,Debora" 
dagegen kommt uberall nur das Allgemeine zur Geltung. Der Schau- 
platz des Handel'schfiwirkens fiir die nachste Zeit war nicht London, 
sondern Oxford, wo er bei Gelegenheit eines feierlichen offentlichen 
Actes im Jahre 1733 ^Athalia" auffuhrte, wahrend das Werk in London 
erst zwei Jahre spater zu Gehor gebracht wurde. Ein Trauungsan- 
them componirte Handel im Jahre 1734 zur VermaMung der Princess 
Koyal mit dem Prinzen Yon Oranien. 

Jetzt folgt eine Epoche, wo zwei italienische Operntheater in 
London neben einander besfcanden, ein Zeitraum, welcher die Jahre 
von 1733 bis 1737 tunfasst. Durch die Ihnen soeben bezeichnete 
grosse TJmgestaltung trat die Bedeutung der Solosanger und Sangerinnen 
mehr und mehr in den Hintergrund. Die Italiener waren genothigt, 
englisch zu singen, und mit der vorwiegenden Bedeutung der Chore 
und dem Zurticktreten der Action musste natiirlich die fruhere Buhnen- 



197 

herrlichkeit der Ausfiihrenden mehr und mehr schwinden. Dies empfand 
namentlich Senesino. Als daher Italiener und englisehe Patiioten 
vereint immer entscMedener gegen Handel In die Schranken traten, 
fasste Senesino den Mufli, offen gegen Handel sicli aufzulehnen, 
und die Folge war, dass der Letztere ihm sofort kundigte. Auch 
Franceses Cuzzoni wurde wieder gewonnen, und ergriff begierig die 
Gelegenheit, sich an Handel, der sich bestandig geweigert liatte, sie 
wieder zu engagiren , zu lichen. Beide warden jetzt die Hauptstutzen 
des neuen Unternehmens, und die Folge war, dass sich Handel's Ge- 
sellschaft aufloste. Die Mitglieder derselhen gingen zum Theil zu den 
Feinden liber. Porpora wurde als Componist uud Dlrigent des Or- 
chesters gewonnen. AueliHasse stand unter Handel's Gegnern. Im 
Sommer 1733 ente daher Handel aufe Nene nacli Italien. Er wagte jetzt 
in Haymarket eine Oper auf eigene Eeehnung za unternehmen. Handel 
war so glficklich, neben der Signora Strada den ausgezeichneten 
Sanger Giovanni Carestini m gewinnen. Auch die Signora Dur a- 
stanti tarn nach zehnjahriger Abwesenheit wieder, obschon dieselbe 
den Hohepunct Hirer Ktinstlerscbaft faereits ubersclnitten hatfce, und 
Handel eroffnete sein Theater nun am 30. October 1733. Im Januar 
1734 folgte ein neues Werk von ihm, die Oper w Ariadne". Es erscMen 
wunschenswerth , beide Unternehmungen wieder zu vereinigen, da man 
der Gegenoper ein baldiges Ende weissagte, Indess waren die darauf 
gerichteten Bemuhungen vergeblicli. Aber auch Handel's Umstande 
verschlinimerten sich fortwahrend , namentlich als der weltberuhmte 
Farinelli, mitdemAdel an der Spitze, dem gegnerisohen Unternehmen 
erhobten Glanz verlieh, und auch der Hof, durch Farnilienzwiste veian- 
lasst, fortwahrend eine Parteistellung einnahm. Handel verliess Hay- 
market, und gab seine Vorstellungen in Lincolns-Inn-Fields , spater In 
Coventgarden. Aber mit der Uebersiedelung dahin verschlimmerte sich 
seine Lage noch bedeutend mehr, da man Haymarket als das recht- 
massige konigliche Operntheater anzusehen gewoint war. Er bracite, 
ura noch andere Stutzpunete zu ge^innen, in der Fastenzeit seine 
Oratorien zur Auffiihrung, und um auch Her eine Steigerung eintreten 
zu lassen, fahrte er offentliche Orgelconcerte ein. Es geschah dies 
zuna ersten Male zwischen den Abtheilungen der ,,Esther w im Jahre 
1735. Seine Auffiihrungen wie fraher zu fallen, war ihm freilich nicht 
moglich. Ueberhaupt ist es ein Irrthum, wenn man meint, dass er 
auch in den spateren Jahren einen durchgreifenden allseitigen Sieg 
errungen babe. Die Feindschaffcen von Seite der Italiener und der 
altenglischen Partei horten auch spater nicht auf. Ein weiterer Ver- 



198 

lust erwuchs Handel aus dem Abgange Carestini's, weleher sich 
durch Parinelli in clen Scliatten gestellt sail, und nacli beendigter 
Saison England verliess. Aucli zwischen ihm und Handel soil es 
niclit friedlieh abgegangen sein, da Cares tint ebenfalls anfanglich 
sich geweigert hatte, eine Arie, mit der er nachlier den grussten Beifall 
erlangte, zu singen. Handel soU ihm bei dieser Gelegenlieit u. A. 
zugerufen. haben: ,,Sie Esel, muss ich nicht besser wissen als Sie, was 
am hasten fin* Sie zu singen ist. Venn Sie nicht alle Gesange singen 
wollen, die ich Ihnen gebe, so zahle ich keinen Heller". Es wurde zu 
weit fiihren," die Details nock weiter zu verfolgen. Han-del verharrte 
in seiner Opposition, velcha seine Yerarniung zur Folge hatte. Die 
traurigen Erfahruiigen , welche er liatte machen miissen, die enormeu 
Anstrengungen , batten schliesslich seine Gesundheit zerriittet. Der 
Schlag riihrte ilin, lahnite seine ganze rechte Seite, und auch sogar 
seine Terstandeskriifte waren niomentan in Mitleidenschaft gezogen. 
Der Gebraucli der Bader zu Aachen im Sommer des Jahreg 1737 stellte 
ihn -wieder her, so dass er mit erneuter Kraft auftreten konnte; aber 
in den ausseren Verhaltnissen wurde dadurch keine Umanderung be- 
\rirkt. Der Streit endete in allseitiger Ermattung. Uebersattigung, 
ErintidiiBg hatte sich auch des Publicunis bemachtigt. Handel blieb 
zivar der eigentliche Sieger, aber es konnte ihm dies jetzt wenig nutzen. 
Seit 1737 hat er keine selbststiindige Opernleitung niehr ubemommen. 
Zuletzt arbeitete er auf Bestellung , ohne directe Bezieliung zu den Un- 
ternehinungen, hauptsiiehlich in Eucksicht auf das zu erzielende Honorar. 
Auch entschloss er sich, obschon nacli langeni Widerstreben, ejn Benefiz- 
concert fur sich zu veranstalten, welches ihm eine gute Einnahnie brachte. 
In diese Jahre aber Mlt zugleich sein entschiedenes Lossteuern auf sein 
hochstes ZieL Den epochemachenden Wendepunct bezeichnet die Com- 
position seines r Alexanderfestes-' im Jahre 1736, dessen Aufflihrung auch 
ein voiles Haus gewahrte, und das bei dem grossen Erfolg, welchen es 
gefunden hatte, schnell allgemeine Verbreitung fand und viele Wieder- 
holungen erlebte. In das Jahr 1737 geliort auch noch das Begrabniss- 
antliein for die Kouigin Caroline, ebenfalls eine Yorstufe fiir seine 
spatere Wirksamkeit. 

Hiemiit endet dieser Abschnitt. Handel verliess die BiUme. Er 
ging zwar nicht von derselben ab, er ging nur wie Chrysande'r 
benierkt, HIE den Zusammenhang der fritheren Schopfungen mit den 
spateren zu bezeichnen, daruber h in a us. Aber die bisherige Epoche 
war doch damit "abgeschlossen. Hierniit endet zugleich der zweite 
Band des Werkes, dem ich in meinen Angaben gefolgt bin. "Was das 



199 - 

Weitere betrifffc, muss ich mich deinnaeh nocli auf die fruheren Angaben 
beschranken. 

Den Gipfel seiner Meisterscliaft erreichte Handel in der Sphare, 
welclier fortan bis an seinen Tod seine ganze Kraft zugewendet blieb 
von diesem Zeitabschnitt an. Der ,,Messias* (1741) eroffnet die Eeihe 
der grossten Scliopfungen, von denen Samson" (1742), ^Semele" (1743), 
r Judas Maceabiius^ (1746), s: Josua tt (1747) vorzugsweise m betonen 
sind. Die Erfolge waren jedoch anfangs auch bier diesen Leistungen, 
der Bedeutung derselben nicht entsprechend; oft waren die Concerte 
nur selir wenig besucM. Bei der zweiten Auffthrung des ,,Messias* 
war das Hans leer. Der Konig nnd Einige seiner Umgebung sollen 
die einzigen Zuhorer gewesen sein. ,,Desto besser wird's schallen' 4 , 
rneinte HaiyJ.eL Aber seine Gasse litfc darunter sehr. Jetzt wendeie 
er sicli nacli Mand. In Dublin wurde der n Messias** mit Bewnnderung 
aufgenornmen. Ueber acht Monate verweilte Hilndel daselbst niit 
gluctlichem Erfolg, imd kehrte dann nacli London zuruck, wo er von 
1742 an nocb. 17 Oratorien und Cantaten auflEuhrte. Sein letztes Ora- 
torium ,,Jeplitha M setzte er 1751 als ein sclion ganzlicli Erblindeter, 
acht Jahre vor seinem am Gharfreitag den 14., nacli "Winter f eld's 
Angabe am 13. April 1759, erfolgten Tode. Hoch eine "Woche vorher 
war die Auffutoiing eines seiner "Werke von ihni selbst geleitet worden ; 
seinem Arzte batte er wenige Tage vor seinem Ende den "Wnnscli aus- 
gedruckt , dass es Preitags sein moge , damit er seinem Herrn und Br- 
loser am Tage seiner Auferstehung begegne. Er rulit in Westminster 
unter den Grossen der Nation; seine Statte ist mit einem Mannordenk- 
mal bezeicbnet. 

Handel unterlag in seiner "Wirksarnkeit fur die Buhne zurn Tlieil 
unwiirdigen, zura Tlieil wenigstens Gegnern, welclie sicb an kunsflerischer 
Kraft nicht mit ihm messen konnten. Dessenungeachtet ist sein Fall 
als eine Nothwendigkeit , als ein verdienter, niindestens als ein nicht 
bios durch aussere Ereignisse bedingter, zufalliger zn bezeiclmen. Es 
lebte in ihm keine hshere Idee von dein Wesen der Oper, als die da- 
mals gewolinliclie, welclie durch Italien zur Geltung gebracht war. 
Auch seine Opern, wie die seiner Zeitgenossen, sind, wie sclion erwahnt, 
eine Eette von Arien und Kecitativen, im Ganzen obne tiefere drama- 
tisclie Bedeutung. Er hatte danials allein die personliclie liohere Ge- 
walt des Genies voraus, nicht eine tiefere Anschauung von dem Wesen 
der Oper. Diese personliehe Gewalt des Genies allein war es, welche 
ibn in einzelnen Leistungen, in einzelnen Alien hoch emporhob und 
Bedeutenderes aussprechen liess, als seine Zeitgenossen vennochten. 



200 

Im Wesenflichen, wie gesagt, bekannte er sicli zu der danialigen 
Bichtung, welche die Yirtuositat des Sangers zum Mittelpunct des 
Kunstwerkes machte. Sein Fall war aueh ein Gliick fur die Ktmst 
Wie melrere der spater noch zu nennenden Meister scliuf er das 
Grosste und Tiefste erst im hoheren Alter, nachdem er in seiner Jugend 
in der Hauptsaehe der Kichtung der Zeit, wenn schon imnaer mit 
iiberwiegend edlerem Streben , Kaum gegeben hatte. Es war nicht ein 
ausserer Zufall, es war innere ISfothwendigkeit , welclie diese Wendung 
hervorrief. Aueli die Uebersiedelung nach England ist nicht als ein 
aiisseiiiehes tuid gleicligttltiges Breigniss zu betrachten. Deutschland 
war zu eng und kleinburgerHch. Handel bedtirfte dieser grossartigen 
Crngebung in England, uni seine Krafte zu entfalten; England bot da- 
mals Yorzugsweise den geeigneten Boden fur seine Wirksajrikeit. Gross 
mid niacbtig. wie er war, liber das Gewuhnliclie hinausgehend, kolossal, 
wenn auch niitunter etwas barenhaft, konnten ihm verkfimmerte Naturen, 
wie sie das deutsclie Leben gewobnlicli zeigt, konnte ibm deutsclie 
Englierzigkeit nicht zusagen. Dabei ist auch das religiose Moment 
nicht ausser Acht zu lassen. Aiich in dieser Beziehung bot England 
gerade damals das ihm Entsprechende. 

Joliann Sebastian Back war geboren am 21. Marz 1685 zu 
Eisenach, ein Sohn des dasigen Eof- und Stadtmusikus Johann Ain- 
brosius Bach. Obgleich diese Pamilie durch mehrere Generationen 
der Tonkunst zugethan gewesen, treten uns doch hervorstechende Er- 
scheinungen darin nieht entgegen. Als Curiositat wird berichtet, class 
der Vater Bach's einen Zwillingsbruder von so ausserordentlicher Aehn- 
lichkeit hatte, dass Beider Prauen nur an der Kleidung die Manner 
iinterscheiden konnten. Schon im zarten Alter, als der Knabe kaum 
das zehnte Jahr erreieht hatte, traf ihn das Geschick, die Eltern zu 
verlieren. Er wurde der Obhut seines altesten Bruders, Johann 
Christoph, Organisten zu Ohrdruff, anvertraut, und erhielt von diesem 
die erste Anleitung zuin Elavierspiel. Bald hatte er sich aller ersten 
Uebungsstucke bemeistert, an denen sein Bruder ihn heranzubilden hoffte, 
und wunschte Grosseres. Allein sein Bruder versagte ihm dies, insbe- 
sondere ein Buch, das Ziel seiner Wunsche, worin sich Orgel- und Klavier- 
stflcke yon Proberger, Kerl, Pachelbel befanden. Zwar wusste 
der Kleine Bath zu schaffen. Das Buch war nur in Papier geheftet, \ 
und befand sich in einem mit Gitterthiiren verschlossenen Schranke; 
seine Handchen langten leicht hindurch, er ergriff das Buch und schrieb 
es in der" Zeit von sechs Monaten in mondhellen Nachten ab; aber 
kaum hatte er seine Arbeit beendet, als der Bruder die List entdeckte, 



201 

und ihm die Abschrift grausamer Weise wleder wegnahm. Seine An- 
strengung hatte ihm nieht nur Niehts genutzt, sondern legte aucli wahr- 
scheinlich den Grand zu seiner spateren Augenkrankheit und dein da- 
mit zusammenhangenden Tode. Die hauslichen Verhaltnisse seines 
Bruders gestalteten sicli bald so, dass es Sebastian wunschenswerth 
erseheinen "musste , sich selbststandig ein Fortkommen zn suchen. Bs 
fugte sicli, dass er, im Besitze eiuer ungemein schonen Sopranstimme, 
im Jalire 1700 im Chor der ilichaelisschule zn Ltaeburg Aufnahnie fand. 
Doch kundigte sieh bald darauf der Bruch der Stimnae durch das eigen- 
thumliche Phanonien an, dass nrit seinen Soprantonen gleichzeitig die 
tiefere Octave sich horen liess. Aclit Tage lang, bei Reden und Singen, 
dauerte diese Doppelstimme. dann war niclit allein sein Sopran, sondern 
die Singstimme uberliaupt verloren. Wol mochte dies eine Veranlassung 
sein, jetzt deni Klavier und der Orgel verdoppelten Eifer zn widmen, 
Von-nicht unerheblicliem Einfluss auf Bacli's nmsikalisclien Bildungs- 
gang wurde Georg Boliin, Organist an der Johanniskirche in Lime- 
burg. TJin den Organist J. A. Keinken zu horen, wanderte Bach zu~ 
weilen nacli Hamburg, und die herzogliche Kapelle zu Celle, nieist aus 
Franzosen bestehend, gab ikni Gelegenheit, den damaligen franzosisehen 
Gesclimack kennen zu lernen. Im Jalire 1703 finden wir ilm als Hof- 
inusikus in Weimar, im Somrner desselben Jahres als Organist in Arn- 
stadt, Mer zuerst in Besitz eines Instrtimentes, welches itoi einen Spiel- 
raum for sein Genie gewatrte. Sein Eifer wurde natflrlich dadurcli nodi 
mehr entzundet, um so mehr, da er docli hauptsacMich auf Selbststudimn 
angewiesen war. Um den lioctgescliatzten Organisten Bustehude in 
Lubeck zu horen, nahm er einen Yierwochentlichen Urlaub und scheute sich 
niclii, den Weg in raulier Jahreszeit, 50 Meilen weit, zu Fuss zu machen, 
blieb auch langer als ihm gestattet war, fiber ein Yierteljahr lang, im 
Verborgenen Zuhorer desselben, dann erst nach Arnstadt zuruckkehrend. 
1707 berief ihn die thuringische Eeichsstadt Muhlhausen als Organist. 
An beiden Orten war er bestrebt, die Kbrcherimusik im Geiste des ihm 
vorschwebenden hoheren Ideals zu reformiren , stiess jedoch dabei. auch 
vielfach auf Widersprueh, so dass Conflicte, selbst mit den vorgesetzten 
Behorden, nieht ausblieben. Ton Muhlhausen reiste er im folgenden 
Jahre nach Weimar, und fand Gelegenheit, sich bei Hofe horen zu lassen. 
AUgemeine Bewunderung und der Antrag einer Stelle als Hof- und 
Eamrnerorganist, die er sofort annahm, war die Folge. Dort verweilte 
er neun Jahre, seit 1715 mit dem Titel eines herzoglichen Concert- 
meisters. Auch mit HaJle wurden eine Zeitlang Unterhandlungen gepflogen, 
die sich jedoch zerschlugen. Sein Ruhm als Orgelkunstier war jetzt schon 



202 

ein weit verbreiteter ; ein Vorfall im Jahr 1717 trag dazu bei, diesen 
noch zu erliohen. Um diese Zeit befaad sich der koniglich franzosische 
Hoforganist J. L. March and in Dresden, und war bei Hof als Klavier- 
spieler mit so grossem Beifall aufgetreten, dass ilroi ein Engagement 
mit bedeutender Besoldung angeboten wtirde. Bei einein zufalligen Aufent- 
halte in Dresden hatte auch Bach Gelegenheit, vor Kunstlern'und Kunst- 
freunden sicli lioren zu lassen. Es entspann sicli ein lebhafter Stroit, 
weleher von Beiden der Grossere seL Eine starke Partei aus den Hof- 
kreisen stand, da der Kurfiirst franzosische Kunst sehr liebte, auf 
March and's Seite, wahrend fur Bach vorzngsweise die deutschen 
Kunstler der Hofkapelle eintraten. Dieser wurde endlich dureli seine 
Freunde angegangen, March and zu einera "\Vettstreite herauszufordern. 
Er that dies, nachdem ihm Gelegenheit yerschafft war, seinen bei Hofe 
spielenden Gegner imbemerkt zu liuren, auf schriftlichem Wege, indem 
er sich bereit erklarte, auf jede ihm von March and gestellte Aufgabe 
einzugehen, vorausgesetzt, dass dieser seinerseits ein Gleiches verspreche. 
Marchand nahm die Ausforderung an, Tag und Stundo wurden fesfc- 
gesetzt, eine glanzende Gesellschaft hatte sich in dem Hause eines 
nicht genannten angesehenen Mannes '(wahrscheinlich des musikliebenden 
Ministers Grafen E lemming) versammelt. Bach war gegenwiirtig, 
March a Ed dagegen erschien nicht; man erkundigte sich und erfuhr, 
dass derselbe 5 ,bei friiher Tageszeit mit der geschwinden Post aus Dres- 
den Yerschwnnden sei". Er war im sieheren Vorgefuhl seiner Nieder- 
lage dem Kampfe aus dem "\Vege gegangen; Bach spielte nun allein. 
Um eben diese Zeit erhielt er eine Einladung von dem Fursten von Anhalt- 
Cothen, eineni grossen Musikfreund, als Kapellmeister. Er nahm dieselbe 
an, und blieb in "dieser Stellung sechs Jahre, nur mit der Unterbrechung 
einer Eeise nach Hamburg iin Jahre 1720, wo er zu aUgenfeiner Be- 
wunderung als Orgelspieler auftrat. Endlich, im Jahre 1723, trat Bach in 
das Amt ein, in welch em. er bis an seinen Tod verharrte. Der vor Kurzem 
geflannte Kuhnau war am 25. Juni 1722 gestorben; Bach folgte ihm 
am 30. Mai 1723 als Cantor und Musikdirector zu Leipzig. An diesem 
Tage fuhrte er die erste Musik in der Mcolaikirche auf; zugleich wurde 
ihm, wenn auch nur theilweise, das Directorium der Musik in der akade- 
ndschen Eirclie iibertra'gen. Bald naeh dem Antritt des neuen Amtes 
starb auch der Ftirst von Gothen; das frtihere, trotz Bach's ortlicher Ent- 
fernung von Cothen noch bestehende Verhaltniss hatte also jedenfalls 
eine Stoning erlitten. Hier in Leipzig entfaltete nun Bach bekanntlich 
die Hauptthatigkeit seines Lebens. Eine kraftige Unterstutzung seiner 
"Wirksarnkeit fand er durch den Superintendent Salomon Deyling, einen 



203 

Mann, dessen von den Zeitgenossen rfihmlichst gedacht wird. Dieser und 

Bach waren 27 Jahre Mndurch bestrebt, soviel sie vermocliten, die kirch- 

liclie Peier zu beleben, Predigt und Eunstgesang in Yerbindung zu bringen, 

uberhaupt den Gottesdienst zn schmucken. Das Yerhaltniss an der Tlionias- 

scliule zu den Eectoren derselben war dagegen nur kurzere Zeit ein giin- 

stiges. Einer derselben, Joliann Matthias Gessner, war sein Freund, 

der spatere Joliann August Ernesti jedoch scliatzte die Tonkunst 

gering. Mannigfaclie Eeibungen, wie sie in solchen Yerhaltnissen an 

Scliulen sich haufig und aueh nocli gegenwartig find en, niogen vorge- 

kommen sein. Es scheint, dass der sachsische Hof in der Absieht ihni 

1736 den Titel eines koniglich polnisehen und turfurstlich sSchsischen 

Hofcompositeurs beilegte, um^ Bach in seiner Stellung deni Rector 

gegenuber zu heben. Unser Meister war nach alien Seiten Mn thatig. 

Im Jahre 1727 fuhrte er ein TVerk zmn Geburtstage des Kurfursfcen, der 

in Leipzig anwesend war, auf. Die Peier der Uebergabe der Augsburgi- 

schen Confession 1730 gab ihm ebenfalls Gelegenheit, init seiner Eunst 

hervorzutreten. Uin das Jahr 1736 finden wir wochentlich zwei Concerte 

in Leipzig, deren einem, welches an jedeni Preitag Abends von 8 10 

Uhr, wahrend der Messen auch Dienstags, im Zimmermann'schen Kaffee- 

hause auf der Eatharinenstrasse statthatte, Bach vorstand. Die Aus- 

ftihrenden waren meist Studirende, deren Rohlieit man durct Kunstubung 

zu inildern suchte. Die Mitwirkung derselben war aber aucli nothwendig, 

denn mit den tibrigen Kraften, welche zu Gebote standen, sah es sein- 

misslich aus. In deni ? ,Entwuif einer wohlbestallten Kirchenniusik*% 

einer Eingabe, welche Bach 1730 rnaehte, fordert er zu einer voll- 

standigen Eorehenniusik 56 Personen, 36 Sanger und 20 Instrumen- 

tisten. Unter seinen Thonianern befanden sich jedoch nur 17 als Sanger 

zu Gebrauchende , und Instramentisten hatte er nur 8, 4 Stadtpfeifer, 

3 Kunstgeiger und 1 Gesellen, ,.von deren Qualitaten und musika- 

lischen Wissenschaften etwas nach der "Wahrheit zu erwahnen" ihm 

die Bescheidenheit nicht gestattefce. Bach konnte nur wirken durch 

ehrenden Beifall, Zuvorkomnaenheit, Eifer for die Saelie, denn die Mattel, 

welche die Stadt aufwandte, waren sehr gering. Aucli Conflicts mit 

der vorgesetzten Behorde, wie sie in ahnlicher Weise schon friiher vorge- 

konmien waren, wiederholten sich. Bach's Streben war eben ein hoheres, 

das nicht ausreichend verstanden und gewiirdigt wurde, der Endzweck 

desselben, den Forderungen der Kirche an* die Musik ini weitesten Sinne 

Gentige zu leisten. Noch will ich erwahnen, dass danials In Leipzig 

eine musikalische Gesellschaft bestand, welcher Bach als Mtglied bei- 

trat. Der Grunder derselben war Lorenz Ghristoph Mizler, der seit 



004 . 

1738 Mer feine musikalisehe Zeitschrift imter dem Titel ,,MusikaIiscIie 
Bibliothek" herausgab. fin Jahre 1747 erfulir Bach erne Auszeich- 
nung, welclie seine letzten Lebensjahre verschonte. Er wurde vonFrie- 
drich dem Grossen nach Potsdam eingeladen. Der Kordg hatte 
wiecleiiiolt seinen Wunsch, ilin kennen zu lernen, gegen Bach's zweiten 
Soln Pliilipp Emanuel, der in dessen Diensten stand, geaussert. 
Friedrich empfing Ilm sogielch bei seiner Ankunffc, ffihrte ihn iin 
Schlosse herum, und zeigte ilmi die aufgestellten Silbermann'schen 
Pianofortes; Sebastian musste alle 'versuehen und sich in freier Phan- 
tasie auf ilinen horen lassen, in Gegenwart der Kapellisten, welche sicl 
der "Wanderung angesctlossen batten, aucli ein ihm gegebenes Fugen- 
tliema musste er bearbeiten, dessen naliere Ansfiilirang er dem Konig in 
Jem Werke ,.Musikalisclies Opfer- f darbrachte, Diese Keise war der 
letzte Lichtpunct in seinem Leben ; clenn nun folgten Kummer und Leid. 
Dass seine Augen sekon in firuher Jugend gelitten batten, liabe ieb er- 
wahnt ; spater war diese Schwache noch durch. aulialtendes Arbeiten, na- 
mentlicli durch eigenes Graviren seiner "Werke in Kupfer, verinehrt 
worden. Erblindung war zu beflircliten, und so musste zu einer Ope- 
ration gescliritten warden, welche zweimal missgluckte, wirkKche Erblin- 
dung ZHT Folge hatte, und aucli die feste Gestmdheit Bach's durch 
tlen Gebrauch gewaltsamer Arzneroiittel erschutterte. Ein sechsmonat- 
llches Siechthum folgte, und endlich der Tod, am 30. Juli 1750, nach 
anderen Angaben am 28. desselben llonats, Abends ein Viertel auf neun 
Ulir. Bis zu seinem Lebenseude war er untmterbrochen thatig gewesen, 
raid hatte, wie Handel, die Ideen, die ihn bescbaffcigten, in die Feder 
dictirt Bach hatte in zwei Ehen gelebt und zwanzig Kinder erzeugt; 
in Jer ersten Ehe zwei Tocliter und ftinf Sohne, darunter Wilhelm 
Frieclemann und Carl Philipp Emanuel, bekannt unter den 
Nam en des Halleschen und Hamburger Bach; in der zweiten Bite sieben 
Tochter und sechs Soline, darunter Johann Christoph Friedrich, 
der Buckeburger, und Johann Christian, der "Londoner. 

Ich beschliesse die heutige Vorlesung mit der sclion erwahnten 
Charakteristik Handel's und Bach's von Fr. Rochlitz. 

,,Die Lebensgeschichte Handel's und Bach's, auch nur so ge- 
schrieben, wie wir die erste von Burney, die zweite von Fork el be- 
sitzen, gewahrt, besonders die eine der anderen gegenubergestellt, ein 
grosses Interesse; sie gewahii es selbst Denen, die sonst an Musik und 
Musikern wenig Antheil nebinen, wenn sie nur mit Sinn zu lesen wissen, 
was nicht inuner mit Sinn ausgesprochen , sondern nur ehrlieh und 
fleissig berichtet wordenist. 



205 

Handel und Bach, geboren fast -in einem Momenta, Beide in 
hohen Mannesjahren verstorben, kraftig und thatig fast bis znm letzten 
Lebenshauche, Beide Sachsen, Beide auch an Korper grosse, gewaltige, 
eisenfeste Manner. Bei Beiden drangt sich das emlnente Musiktalent 
schon in fruhen Einderjahren unwiderstehlich hervor; Beide eiiangen 
schon in der Knabenzeit, und gar nicht naeh dem gewohnlichen Gange 
raenschlicher Dinge, einen grundfichen und strengen Untenicht im Theo- 
retischen und Praktischen ihrer Eunst, Beide von ausgezeichneten Orga- 
nisten, und Beide, um gleichfalls ausgezeichnete Organisten m werden. 
Beide gelangen spater, und wieder nicht nacli gewdhniichem Lauf der 
Dinge, zu einem viel mehr umfassenden, hoheren Beruf, werden weit 
und breit bertthmt, auch von verschiedenen der grossten Fiirsten iirer 
Zeit aehtungsvoll ausgezeichnet; Beide erkennen das danibar, lassen sich 
aber dadurcli auch nicht um eia Haar yon der Art ihrer rorlaerigen 
Kunstthatigkeit verlocken. Beide zieht es nach alien wtirdigen, damals 
flblichen Gattungen und Ponnen iln*er Eunst f Beide arbeiten auch ffir 
alle, aber Beide eignen und widmen sich vor AHem dem Brhabenen, 
Grossen, Keichen ? Vollgesattigten, und zwar am liebsten, dieses ange- 
wandt auf religiose Gegenstande und for religiose Zwecke. Beide siad 
Manner streng rechtlich, gradans, und mit Geist und Seele auch 
ihrein Chilstenglauben anhangend, Beide sogar Letztes in hoheren Lebens- 
jahren nach gewissen halbdunkeln, aber grossartigen Ansichten dieses 
Glaubens, doch aber entziehen sich Beide darum keineswegs ihren welt- 
lichen oder btii-gerlichen Verhaltnissen und Geschaften. Beide erblinden 
im Alter, ohne deshalb ihrer Eunst. sogar auch dichtend, untreu zu 
werden ; Beide entschlafen ruhig und gottergeben, von ihren Zeitgenossen 
wenig verstanden, aber geehrt und respectirt, erst von der Nachwelt 
gefasst und gehuldigt nicht wenig Aehnliches; und doch so ginz- 
lich verschieden. 

Handel's unruhiger, leidenschaftlcher Geist , der von fruh an 
Mnaus zum Weit en und Fremden di'angte, warf ihn schon aly Jungling 
ins Gewuhl der Welt, und er gefiel sich daiin bis fiber die Halfte seines 
Lebens; er gefiel sich dark, mochte es da zu streiten oder zu lieben, 
zu erobern oder zu behaupten gelten. Ales, was iiber das Gewohnliehe 
MnauBgeht, was Menschen ergreift, Menschen beherrscht, wollte er kennen 
lernen, wie im Leben, BO in seiner Eunst ; von AHem Gewinn ziehen fur 
Geist und Charakter, ohne sich irgend Einem zu unterwerfen. Er mochte 
immer am liebsten mit Massen des Yolks, miter dem er lebte, zu thun 
haben; gera auch mit Grossen, die ein Yolk regieren; ihn selbst regie- 
ren sollten aber weder die Einen noch die Anderen ; dafur wollte er jedoch 



206 

freiwillig ihnen mit aller Treue dienen. An Allem und mit Allem wollte 
er sich yersuchen, im Leben und in seiner Kunst; Alles in eigene Er- 
fateing bringen. Er liess nicht ab und setzte es (lurch, wie kaum 
irgend Einer seines Gleichen: er machte die vielfaltigsten Erfahrungen, 
hochst freudige und liochst schmerzliche. Nun erst, in gesattigter Fulle 
der Manneskraft, fing er an, Abreclinung zu halten, Abrechnung mit 
sich und den Dingen ; und nun wahlte er, was seinein. gesammten "Wesen 
am volltonimensten sich eignete, und blieb fortan ihm treu bis zuin Tode, 
erreichte aber aucli darin, nur sicli selbst gleicli, was Keiner, weder 
vor nodi naeli ihm, erreicht hat. Er blieb unvermahlt, starb reich und 
rulit in der Westroinsterabtei unter prachtvollem Monuraente. Sein Leben 
hat durchaus etwas Heroisclies. 

Dagegen Bach! Seit diesem nur erst das Gluck widerfahren, als 
Organist angestellt zu sein in Arnstadt, mit siebenzig bis achtzig 
Thalern jahrlichen Gehalts, so fand er seine Ansprtiche erfiillt Er be- 
warb sich urn teinen hoheren Posten, sondern folgte nur jedeni Eufe, 
der ungesucht ihm zukam, um ihn als ein Geschenk der Vorsehung an- 
sehen zu konnen. In jedem neu erlangten Amte war nur sein Streben, 
es anfs MSgliehste zu erfullen. Diesem bequemte er sogar seine dichte- 
rischen Gaben an. So schrieb er als Organist Orgelstucke, als weima- 
rischer Eirchencompositeur Psalmen und geistliche Cantaten, als Musik- 
director der Hauptkirehen Leipzigs seine grossen yielstiinmigen, schwie- 
rigen, gelekien TTerke; jene Werke, welche so oft uns in den Fall 
setzen, dass der Sussere Sinn, durch welchen diese Kunst eingeht 
ist er auch ausserst getibt nicht mehr ausreicht, sondern dass wir, 
soil Jeiles an ihnen gefasst und gewurdigt werden, wie bei den Haupfr- 
werken antiker Bildhauerei einen zweiten zu Htilfe nehmen mtissen 
hier den Tast-, dort den Gesichtssinn. Nicht selten verlangten Konige 
und Ftrsten ihn zu horen: dann ging er hin, bescheidentlich, that ihren 
"Willen, und kehrte ebenso bescheidentlich, auch vollkonunen zufrieden, 
in sein enges Haus zuriick. Dass er der grosste Orgelvirtuos der Welt 
sei, musste er wol wissen: es war allzu offenbar und auch liberal! ein- 
gestanden; dass Yirtuositat auf der Orgel damals eben das war, was 
vom Praktischen in der Musik hervorzulieben und reich zu belohnen, 
besonders in Frankreich, England und Holland, zu guter Sitte und feinem 
Ton gelorte, das wusste Jedemiann ohne alien Zweifel er auch, 
gleichwol ist ihm niemals auch nur der Gedanke oder Wunsch gekom- 
men, einen Fuss liber sein Vaterland hinauszusetzen. Er lebte von frflh 
an verhekathet, erzeugte eine ganze Colonie von Kindern, starb arm und 



207 

ruM auf unserein Friedhofe, Memand weiss, wo? Sein Leben hat 
clurcliaus etwas Patriarehalisches*'. 

Die Versehiedenlieit Beider als Kunstler ini Grossen und Ganzen 
bezeichnet Eoclilitz selir treffend mit folgenden "Worten: 

Was Handel zu bearbeiten slch vorgesetzt, das ward vor ilim. 
iin vollesten Maasse lebendig; er sah es, als eben In cler Welt vor- 
geliend: und wie es sowar, wie es so verging, in Tonen darzustellen; 
dass es aueli vor dem empfanglichen und achtsamen Zuhorer lebendig, 
anschaulich, vorgehend wiirde, und der Zuliorer es gleiehsana mitdiirch- 
lebte: das war sein regstes Bestreben, das sein herrlichstes Eigentlium, 
wie es Eeiner ilim gleicli, ja aucli nur ahnlich, besessen hat. Dieses 
sein Eigenthmn vollkommen geltend zu inaclien und durcli die "Wirkung 
bewalrt zu sein, gelang Han del' n auch dadurch, dass er daran genug 
liatte nichts weiter hinznthat, nicht daran kunstelte, sondern nur 
atifs Treffendste und Entschiedenste es darlegen wollte; dass er lieber 
z. B. all seine* Kunstgelehrsamkeit veiieugnete, um nicht etwa durcli 
Ueberladung des BEcles oder durcli Zerstreuung der Interessen des Zu- 
liorers seinem Hauptstreben zu scliaclen. 1st dieses Yerleugnen scliwierig 
fiberall, und eine Art Opfer, der guten Sadie dargebracht: so ist es 
aucli um so verdienstlicher, und gescMelit es bei solclien Ausinalungen 
in Tonen nur allzuleiclit, dass man des Einzelnen niclit satt wird und 
sich im Kleinen verliert: so ist es ion so preiswfirdiger, class Handel, 
was er ergreift, stets im Grossen fas&i und also, docli aber oline Einkag 
der Bestimmtheit, ausbreitet. Dagegen, was Bach zu bearbeiten fiber- 
nahm, wurde allerdings aucli lebendig aber in ilim; er fiih.lt e es 
in seiiuem bewegten Geniuth; und wie er es da fuilte eben Er, wie 
er war , also in Tonen es auszudrucken, dass es auch in dem 
Gemnthe des empfangliehen, achtsamen Zuiorers lebendig wtirde und 
er es mitfuhlte: das war sein regstes Bestreben. Hieraus ergab sieh 
nun ganz naturlich, dass er fur diesen seinen Zweck gar niclit genug 
oder doch nie zu viel glaubte thun zu konnen; ausser, wo ganz beson- 
dere Veranlassungen ihn zu Abweichungen und Beschrankungen seiner 
selbst bewogen." 

Dies sind die Worte von Eochlitz. Sie sind geeignet, wie ge- 
sagt, durch ihre Anschaulichkeit Ihnen das Bild b eider Manner naher 
vor xiugen zu sfcellen. 

In der nachsten Vorlesung haben wir Beiden und den "Werken der- 
selben noch. eine etwas eingehendere Betraclitung zu widrneru 



Elfte Vorlesung, 



Handel und Sebastian Bach, Charakteristik Beider. Allgenieine Betrachtungen iiber 

das richtige Verstandniss insbesondere Bach's und die moderne Ueberarbeitung 

'alterer Werke. Der Wendepunct in der Geschichte der deutsclien Husik. 

Nachdem ich in der letzten Stunde das Bild Bach's und Handel's 
in den allgemeinsten Umrissen Dinen gezeiclinet habe, kommt es heute 
tlarauf an, demselben noch eine etwas genauere Ausfahmng zu geben. 

Sclion wahrend der Zeit seines Hamburger Aufenthaltes hatte sich 
Handel, wie Sie wissen, in der dramatischen Bearbeitung geistlicher 
Stoffe versuclit Zwischen diesen ersten Anfengen und den spateren 
Meisterschopfongen Kegt eine langere Eeihe yon Jabien, welche Handel 
fast ausschliesslich seiner Thatigkeit im Pache der Oper widinete. Es 
war dies ein Durcligangspnnct fur ilin, es war eine Entwicklungsstufe, 
welche er clurchlaufen musste, um ausreicliend vorbereitet nnd mit Er- 
fak'ungen ausgerflstet seine Lebensaufgabe zu erfassen. Auch nicM mit 
einem Male hat Handel die spatere Eiclitung eingeschlagen ; seine ersten 
Oratorien stehen nodi in naierem Zusammenhange mit seinen theatra- 
lischen Arbeiten. Dieser Umstand ist von entscheidendster WicMigkeit 
fur die Auffassung und Benrtheilung der Handel'sclien Werke sowol, 
wie cles Oratoriums uberhaupt. Das Oratorium ist, meiner Ansicht nacli, 
entscMeden als eine Vorstufe for die spatere Oper zu betrachten. Es 
entstand zu einer Zeit, wo die Oper zmn hoheren, bleibenden Kunstwerth 
Bich nocli nicM emporgeschwungen hatte, wo dieselbe nur ein flflchtiges 
Product der Mode war. Der tiefere Geist nun bemachtigte sich dieser 
Form, ton das, was auf der Biilme auszusprechen noch "unmoglich war, 
Mer zur Erscheinung zu bringen. Nehmen wir Mnzu, dass damals noch 
die religiose Anschauung das gesammte Dasein durchdrang, dass alles 
Grossere und Tiefere diesem Boden entkeimte, so erhellt zugleich, warum 



209 

vorzugsweise bibllsche Gegenstande seinen Inhalt bildeten. Man sucMe 
alles iiber das Gewohnliclie Hinausgeliende yorzugsweise in dieser Sphare ; 
der freie, weltliclte Standpunct for das musikaliselie Drama war noci. 
nicM gefunden, jener Standpunct, auf welchem das heitere Biihnenspfel 
zugleich eine eben so entsprecliende Offenbarung des absoluten Geistes 
1st. Die Oratorien, als geistliche musikaKscbe Dramen der Bfihne be- 
stimmt, sollten durcli erMMe Wirksamkeit des Chores einen Ernst, eine 
Feierliclikeit erhalten, die sie von den Prodncten der Mode auf diesem 
Gebiet, Yon den Darstellungen weltllehen Inhalts, so grossartige einzelne 
Scenen darin sieh ancli bin nnd wieder, nainentlieh bei Handel, vor- 
fanden, unterselieide , zugleich der Tragodie der Alten nahere. Die 
Oratorien vertraten in jener Zeit, wo es nocli kelne grosse, beroiscte 
Oper gab, diese Gattung. Una das Buinenspiel zu ersetzen, bemerkt 
v. "Winter feld, wurde es nun Aufgabe des Tomneisters, seine Ton- 
bilder um so scharfer, anscbaulicber auszugestalten, wobei ilim nebenher 
zu Statten kam, dass er, in den Choren zumal, Manches nun kunstreiclier 
und breiter ausfubxen durfte, als es die Raseliheit einer Bulinenauf- 
fiilirung erlaubt haben wurde, als es uberbaupt auch in soldier Gestalt 
in dein Gedaclitniss der Sanger und Spieler hatte haften konnen. Daher 
in Handel's folgenclen, wenn aucb durcli seine Dicbter dramatisch 
gefassten Oratorien, bei vielen Choren und anderen Gesangen jene 
episcbe Breite, ein Wort, das hier keineswegs als Tadel ausgesprochen 
sein, sondern eine wabrhaft neue Art yon Scbopfangen , eine neue 
Gattung, bezeichnen soil, die In rein musikalisclier Beziehung natfirlicli 
nun ein weit Grosseres gewabxt, als bei dem Znsannnenwirken aller 
Kiinste moglicb. gewesen ware, und dadurci fur die feblende Bulmen- 
malerei, den Prank der Aufzuge und Heidungen, den Zauber der 
grosseren Mannigfaltigkeit entscMdigen muss. Handel wurde so nach 
einer Seite bin gedrangt, welehe ibni nrsprunglich nocli ziemlicb fern 
gelegen hatte. Diese Oratorien waren aueh etwas ganz Anderes, als 
was man fruher unter diesero. Nainen bezeiclmete. Die Melirzabl der 
HandeTscben Werke stellt uns Begebenlaeiten aus den Bucliera des 
Alten Testaments in dramatischer Form dar; anclere, wie ? ,Semele i , 
5) Acis und Galathea", ,,Hercules", neigen sich der Oper zu; wieder andere, 
wie das , 5 Alexanderfest'% bEden eine Mittelgattung ; zwei Werke aber 
treten der Form zufolge or alien anderen Haeraus : .,Israel in Aegypten" 
und die Krone seiner ScMpfungen : der 5 ,Messias a . Diese Werke ruhen 
nicM auf freien Dichtungen, sondern besteben aus einer Eeihe grossartig 
zusammengestellter Schriffcspruche. Hier bat sieh Handel am weitesten 
Ton dern opernartigen Ursprung des Oratoriums entfenit, Her bat er 

14 



210 

am EntscHedensten das kirchlicl- religiose Gebiet betreten, Her hat er 
auf das Bestnnmteste das "Wesen der neuen, urspriinglich ihm ferner 
liegenden Riehtung ergriffen. 

Betracliten wir jetzt das Bild Handel's, wie es sieh uns dem 
eben Mitgetheilten zufolge darstellt, so erblicken wir eine Personlichkeit 
Toll gewaltiger Kraft, wesentlich zugewendet dem Grossen und Erhabe- 
aen, wie es in den Geschichten des Alten und Neuen Testaments zur 
Erseheinung gekoramen ist; eine Personlichkeyr aber, die nicht melir 
urngrenzt wird YOU dem kirchlich-religiosen Standpunct im engeren Stone, 
niclit ausschliessHch diesem sicli hingiebt, im Gegentlieil eine rein 
menscliliche Personliehkeit, for die das kirchlich- religiose Element 
nur nocli den Hintergrund bildet. Alle hohere menschliclie Kraft ruht 
auf jener Basis. Dies der Grand der zuin Tlxeil nocli vorhandenen 
ktrclilichen Parbung. Aucli die Gescliicliten des Alten Testaments mit 
iibervriegend weltlicliem Inlialt nmgab damals nocli ein gewisser religioser 
Nimbus. Handel schritt jedoch innerlicli schon aus dieser Spliare "her- 
ans und hat darum keine Kirclienniusik im engeren, specielleren Sinne ge- 
schrieben. Er ftihxte die Tonkunst lieraus aus dieser ihrer Abgesclilos- 
senlieit, und machte das dort Gewonnene zum Ausdrucksmittel fiir eine 
edlere "\Veltlichkeit. So, moclite man sagen, leilit er der ganzen aus 
den kirchliclien Scliranken befreiten, in freier Anbetung sich neigenden 
MenschMt seine Stimnie. Daher das Gesunde und Urkraftige in ilina, 
das Grosse und ilachtige, das Typische; es ist, als ob sicli die Brust 
erweitere bei seinen Tonen. Das augeblicb. Earchliclie liegt in der Grosse 
und Geimlt, womlt er seinen Gegenstand erfasst, in der Holieit, womit 
er auch rein Weltliclies ergreift, es ist die Inhere Wabrheit des "Welt- 
lichen, die er zur Geltung bringt, das Ewige darin, wahrend vorher 
dieses Gebiet (iberwiegend nur das Vergangliche, Modische abgespiegelt 
hatte. Handel liatte durcli die eigentliumliclien Phasen seiner Ent- 
wicklung hindurcb endlieli den ibni gemassen Ausdruck gefunden; diese 
Form ist ilini eigenthumlich. ; sie ist die Offenbarung seiner Personlich- 
keit. Selbst im ,,Messias" ist er niclit streng Mrclilich ; wolil aber darf 
man sagen, aus keinem anderen Grunde, als well er die enger gezogenen 
Grenzen sfcrenger Kirchlicbkeit darin schon durchbrochen, well er eine 
Hoke der Anschauung erreicht hat, Yor der jede Schranke fallt. Es ist 
die ewige That der Erlosung dargestellt in ewigen Tonen, in einer 
Weise, die YOU jeder Besonderheit der Auffassung befreit, sich tiber die 
Beschranktheit einer Zeitepoche erhebt t eine ? ,Cantate des gesammten 
Menschengeschlechts", fur alle Zeit dieselbe. Wir erblicken sonach die 
Eigenthiinilichkeit Handel's in dieser Weltliches und Geistliches ver- 



soknenden Richtung, wir sehen durch ilin den ScMtt vollbracht zur 
wahrhaft grossen Oper Mn ? aber wir finden ihn durch. aussere Veran- 
lassung auf einen anderen Weg gedrangt, wodureh er sich eine ebenfalls 
neue und einzige Stellung erringt. Was ihm in Hinblick auf seine 
grossen Nachfolger, zunachst auf Glue k, feHt, das ersetzt er durch 
den sicli zum Epos Mnneigenden Stil seiner Werke, durch die iiber alle 
Buhnenschranken weit hinausragende Erhabenheit seiner DarsteHung. 

Welche Folgerungen sich an diese Bestimmungen knupfen, dies 
Mer auszusprechen, ist noch nicht der Ort. Nur so viel sei erwakat, 
dass icli allerdings das Oratorium als eine Kunstgattung betrachte, 
welcher, wenigstens in der Mheren Gestalt, eine Zukunft nicht bevor- 
steht. Das Oratorium hat die Bestimniung, in der Oper aufzugehen, 
wie es auch im gesehichtlichen Fortgang der Fall gewesen ist. Soil 
diese mehr epische Kichtung der dramatischen der Oper gegenuber 
noch bestehen, so hat die alte Form wesentliehe Umgestaltungen zu 
erleiden, bedingt durch den rein weltlichen Inhalt, den das Oratorium 
in der Gegenwart Torzugsweise sich zu eigen machen muss. Ich deute 
dies bier nur an, da ich spater noch einmal darauf zu sprechen komme. 

Betrachten wir jetzt, bevor ich welter ghe, zunachst Bach. 

Zeigte sich der eben besprocliene Meister zu der ikm vorausgegan- 
genen Entwicklung auf dem Gebiet der protestantischen Errchenmusik 
in einer bei weitem freieren, auch j&remde Einfiusse in sieh aufnehmen- 
den Stellung, so erblicken wir bei seinem grossen ISiebennianne, der uns 
jetzt beschaftigt, im Gegensatz hierzu, einen irmigen Anschluss an das 
Vorausgegangene, nicht bios insoweit ? als er fremde Einwirkungen von 
sich abweist, nicht bios insoweit, als er von dem Geiste der deut- 
schen Yorzeit ausschliesslich genahrt erscheint; Bach beschliesst die 
bislier besprochene Entfaltung, er ist als letztes Glied dieser Kette zu 
betrachten, er tritt unmittelbar ein in die Entwieklung, und dies nieht 
aUein als kunstreich auggestaltender Tonsetzer, nach welcher Seite Ilin 
er vorzugsweise gekarmt ist, auch als SSnger geistlicher Liedweisen, 
und erfasste demnaeh die Aufgabe ganz im Geiste der Mheren Kunstier 
auf dem Gebiet des evangelisehen Eorchengesanges. v. Winter f eld im 
dritten Bande seines Werkes hat daruber ausfuhrliche Untersuchungen 
angestellt, und bezeichnet ihn als den Urheber einer grossen Anzahl yon 
Singweisen, die, wenn sie auch nicht mehr das Yolksmassige, wie in den 
fruheren Jahrhunderten, besitzen, doch das Streben nach allgemeiner 
Verstandlichkeit zeigen, ein das Gemeingefahl Yieler ansprechendes, 
die Yerbreitung der Weisen sicherndes Element enthalten. Yon seiner 
Thatigkeit als Setzer giebt er in seinen ^Yierstimmigen Choralgesangen 44 , 



welche ain fruhesten, in den Jahren 1765 und 1769, ersebienen, zu- 
letzt im Jahre 1843 von C. P. Becker wieder lierausgegeben worden 
sind, einen Beleg. Hier, bei der harmonischen Entfaltung geistlicher 
liedweisen, gewinnen wir ebenfalls die Ansebauung, ?5 in welch mrk- 
samera Zusammenhange er mit seiner Yorzeit gestanden, dass er sie 
kunstlerisch durchschaut, mit Preiheit auf ihren Vorbildern fortgebaut 
hat", so dass Z alter mit Kecht gegen Goethe sagen konnte, dass 
von Luther bis auf Sebastian Bach die echte Tradition der Kir- 
chentone sicli fortgepflanzt habe. Nur nach Seite der rhythniischen Aus- 
gestaltung liin lasst sich nicht ein Gleiches sagen; w Mer erweckt er 
niclit, wie dort, den Geist seiner Yorzeit, zugleich der reichen Mannig- 
faltigkeit der Mittel sich bedienend, die ihm seine Gegenwart bietet; 
er empfSngt die auf ihn forfcgeerbten Melodien als ein Qegebenes, wie der 
Geschniack seiner immittelbaren YorgSnger sie zugestutzt hat, doch mit 
dem Yorbehalte, selbst iin Geschniack seiner Zeit und nach Maassgabe 
eigener Knnstzwecke an ihnen zu modeln. Bis m seinen Tagen bin 
war der yormalige Keichthnin rhythniischer Verhaltnisse in den alten 
geistlichen Melodien ganz dem Gedachtniss der Mitlebenden entschwun- 
den, zranal jener rhythmsche Weehsel, der ein so eigenthurnliches 
Leben ihnen rerliehen hatte". Bach dichtete, was diese Anfgaben 
betrifft, nach v. "Winterfeld's Ausdruck, im Geiste einer ihm schon 
fremden Zeit, in einem Geiste, der nicht ein zuerst in ihm erwachter, 
ein schon angeeigneter war; er steht diesen Anfgaben gegentiber mit 
reicheren Kunstmitteln , dem Gewinn eines Jahrhunderts, aber nicht 
mehr in dem friiheren lebendigen Zusammenliange. Bemerkenswerth 
aber ist, dass er weit mehr als yiele seiner Yorganger auch in seinen 
kimstreicheren Werken dem Choral Zugang gestattete, nnd es deutet 
auch dies auf ein wieder uberwiegendes innigeres Yerstandniss der 
Yorzeit. Ich habe im Yerhaltniss zu den mir gesteckten Grenzen 
dieser Thatigkeit Bach's etwas ausftihiiicher gedacht, weil sie die am 
wenigsten gekannte, diese Kesultate des oft genannten ausgezeichneten 
Forschers weiteren Kreisen noch gar nicht zuganglich sind. Ein 
Gebiet, worauf die Meisten bei weitem heimischer, betreten wir, wenn 
wir Bach's allgemeine "Wirksamkeit auf dem Gebiete der protestan- 
tischen Kirclienmusik betrachten. Hier siud es zimachst dessen acht- 
und ftrafstimmige Motetten, seine Cantaten fur verschiedene Sonn und 
Festtage, diese in so grosser Anzahl, dass mehrere Jahrgange aus den- 
selben zusainmengestellt werden konnten, seine erst in neuerer Zeit 
allgemeiner bekannt gewordenen grossen Passionsmusiken nach Mat- 
thaus und Johannes, endlich seine funfstimmige Messe in H-Moll, ob- 



213 

Diese Hesse ist unter alien derartigen Wei-ken das grdsste, eines der 
grossten des Meisters uberhaupi Leipzig hatte in jener Zeit Manclies 
aus dem Gottesdienste der alten Erche beibehalten, und so erklart 
sich wol, wie Bacli zu dem lateimselien Text der ilesse kam, obsehon 
die Composition bei ihrem grossen Umfang kaum zur Auffuhrung beim 
Gottesdienst geeignet war. Das Kyrie und Gloria liat er ausserdem 
1733 for den Dresdner Eof componirt, urn den Titel eines kurfl sachs. 
Hofcompositeurs zu erlangen, und dieser Umstand war demnach eine 
zweite Yeranlassnng far ihn. Bei weitem mehr als Handel aber ist 
Bach in alien Gattnngen tbatig gewesen, in einer Ausdehnung, dass 
uns erst in neuerer und neuester Zeit diese Pulle melir nnd mehr zu- 
ganglich geworden ist. Handel besclirankte sieb in seiner reiferen 
Zeit vorzngsweise auf das Oratorium; wir besitzen aucl treffHclie 
Instrumentalwerke von ihm. aber doch Ton weit geringerer Ausdehnung. 
Bach bat sicli nacb alien Seiten bin wirksam erwiesen, uberall gross 
nnd bedeutend, das Alte abscbliessend, far Xenes die Babn brecliend. 
In alien Gebieten ist er von Einfluss und thatig gewesen. Wir besitzen 
von ilim Werke for Klavier, Orgel, Yioline, Klavier und Yioline, 
Orcbester, Concerte far einen, zwei, drei Mugel, Siiiten far Orchester 
u. s. w. Deni Instrnmentbaii sogar wendete er seine Aufnierksamkeit 
zu, so wie aucli an seinen Werken sicli zuerst in mnfassenderer Weise 
die musikalisclie Tlieorie entwickelt hat. Was die Passionsmusiken 
betrifft, so sind diese durcb das musikalische Drama jener Zeit enfc- 
standen, sie baben sich an ihm lieraufgebildet, obschon lange vor Bach 
derartige Werke Eingang geftmden batten. Hier aber linden wir unter 
dem Einfluss des neu Entstandenen die Fortbildimg der alteren Form, 
Die ersten Passionsmusiken datiren - aus der zweiten Halfte des 
16- Jahrbunderts. v. Winterfeld giebt die Beschreibung eines derartigen 
Werkes von einem gewissen Bartholomftus Gese voin Jahre 1588. 
Die Passion desselben nacli Johannes beginnt mit einem funfstiromigea 
Chor: ,,Erhebet eure Herzen zu Gott, und horet das Leiden unsers 
Herrn Cbristij we es St. Johannes beschrieben bat", worauf dann die 
evangelische Erzahlung im Ghoralkrae, einstimmig durch den Tenor 
vorgetragen, folgfc. Aus ihr treten selbststandig hervor die Eeden 
Christi, von den gewohnlichen vier Chorstinnnen vorgetragen, die Worte 
des Petrus und Pilatus dreistimmig, die der Magde und Knechte zwei- 
stimmig, durch zwei Soprane, durch Alt und Tenor, die VoDcschore ffinf- 
stimmig; ein ffinfstiniiiiiger Chor schliesst das Ganze. Welter schon. 
war, wie Sie sich erinnern, Heinrich Schiltz gegangen. Noch in 
clem Todesjahre desselben, 1672, erschien ein Passionswerk von dem 



214: ; 

preussischen Kapellmeister Johann Sebastian!, in welchem wir zum 
ersten Male geistliche Lieder in den biblischen Bericht eingeflocliten sehen. 
Endlich erscheinen, anf diese Weise vorbereitet, Bach's Werke dieser 
Ark Die Passion nach Ma titans ist die reifere nnd vollendetere. 
Schon vorausgegangea war dieser hocbst wahrscheinlich die nach Johannes. 
Jene wnrde am Gharfreitage des Jahres 1729 zum ersten Male in Leipzig 
aufgefohrfc, und Bach zeigfc sich darin in einer Hoheit, dass dieses 
Werk als der Culminationspnnct des protestantischen Bewusstseins zn 
betraeliten ist. Es ist der Ernst nnd die Tiefe der Ueberzengnng darin, 
die Macht und Energie des Charakters, das Erftilltsein von der Saehe, 
in einem Grade, dass diese Eigenschaffcen wol bei keinem anderen 
Tonkiinstler , roit Ansnahme Beethoven's, bei dem Letzteren 
natfirlieh auf weltliehem Gebiet in solclier Grosse zur Ersclieinung 
gekonnnen sind. Ancli Bach's Passionsmusik zwar erscheint nicht 
ganzlich frei von niodischen Bestandtheilen jener Zeit, sie zeigt anch 
die Mangel der Stnfe der EunstentwicHung, der sie angehort; liberall 
aber bricht der Geist siegreich hindurch, das Vergangliche in das Eeich 
des Ewigen emporhebend. 

Tntersnchen TO, wie ich es schon bei Handel gethan habe, jetzt 
zunaehst die allgemeinste Bezeichnnng des Bach'schen Wesens, so ge- 
wahren wir, dem weltlicheren Handel gegentiber, des Ersteren ent- 
schiedenere Eirchlichkeit. Wahrencl dort zwar das religiose Element 
stets den Mittelpunct der gesanimten Personlichkeit bildet, tritt es doch 
nicht so sehr hervor, dass sich Handel ansschliesslich darauf beschrankt 
zeigt. Bach gehort entsclriedener diesem Kreise an; es ist vorzugs- 
weise das Mrchlich-religiose Element, welches bei ilim vorwaltet. Bach, 
bertihrt vielleicht von jenen religiosen Bewegnngen, die kurz vor ihm 
und ganz in seiner Nahe von Spener und dessen Genossen ansgegangen 
waren, durchlebt in sich den Process des religiosen Bewusstseins, das, 
was den Glaubigen beschaftigt, wenn er durchdrungen ist von dem ewigen 
Inhalt des Ohristenthums, wenn er nach der Wiedergeburt im Glauben 
ringt; das "Weltliche , das wir bei ihm gewahren, erscheint an ihm 
ausserlicher, nicht niit dem innersten Mittelpnnct seiner Personlichkeit 
verschmolzen ; es erscheint nicht, wie bei Handel, in seiner Wahrheit 
nnd Berechtigung, im Gegentheil nur als ein verganglicher, modischer 
Bestandtheil. Bach, diese ureigene Natur, unterlag hierin den Bin- 
flussen seiner Zeit, und zwar fast mehr als Handel, es ist jene alt- 
franMsche Zierlichkeit und Galanterie, jene Mode vergangener Tage, es 
sind zum Theil franzosische Einfliisse, welche bemerkbar sind. Bach 
hat, wie schon erwahnt wurde, jene grosse Epoche beschlossen, er ist 



215 

das letzte Denkmal der machtigen Glaubenskraffc der Vorfalireru Seine 
gesehichtlichG Stellung aber als letztes GEed dieser Ketfce lasst ilin kaum 
noeh als vollstandigen, ganz entsprechenden Ausdruek jenes alien, in 
ursprunglicher Kraft hervorgetretenen religiosen Gemeingeistes be- 
trachten. Bach ist zu subjeetiy, als dass er ein treuer Spiegel der Ge- 
sannntheit sein konnte, auch zu wenig popular; er hat den alien Geist 
znr Ersclieinung gebracht, soweit dies in einer im Ganzen nicht gun- 
stigen Zeit moglich war, in einer Zeit, welche zu viel Gemachtes, aller 
UrsprungHchkeit Entfremdetes besass, um der Boden fur Schopfungen zu 
sein, welehe nach jeder Seite Mn eine ewige Jugend sich bewaliren sollen. 
Handel hatte Tor Baeh den grossen Yortheil Toraus, dass er in der 
Nation, in deren Schoosse er seine unsterbliclien TTerke sclinf, gestindere 
Elemente vorfand, nictt das pMlisterhaft Beengte, in trockenem Fonna- 
lismus TJntergegangene, "wie damals in Deutseliland. Bach ist eine 
Nachblfithe anf dem gewalMgen Stanom der Yorzeii; aber er liat die 
Elemente, welche ihm die Yorzeit bot, fiberwiegend nur in seine mach- 
tige Personlichkeit aufgenommen, diese damit erfiillend, nahrend, er 
zeigt sich der GesammtMt entfremdet, durcliaus esoterisch; er ist der 
Schlussstein der Entwicklung, aber auf dem Boden ausscbliessKcher 
Kunst, und einen objectiven Inhalt in fiberwiegend subjective! Weise 
aussprecliend. 

Nachdem ich so, wie ich glaube, das Bntscheidendste im Charakter 
beicler Manner vergleichend angegeben babe, koinmt es darauf an, ihnen 
im Einzelnen nocli etwas naher zu treten. 

Bach hat an der Orgel sicli herangebildet, von dieser seinen Aus- 
gangspunct genommen ; dies verleiht seinen gesammten Znnstleisfcnngen 
ihren bestimmten Charakter. Handel hat zwar gleichfalls diesen Atis- 
gangspunct genommen, bald aber ganz entgegengesetzten Einflussen sich 
Mngegeben. Bach's Thatigkeit war dem entsprechend eine mehr nach 
innen gekehrte, seine vorwaltende ^Teigung eine grublerische Versenkung; 
sein Leben ein innere^ Handel wendeie sich fruh nach aussen, den 
Menschen und der B^)achtung derselben zu, ringend und kampfend, 
die mannigfaltigsten Eindracke in sich aufnehnaend. Bach's Yerstand- 
niss erschliesst sich daher nur von innen heraus. Es ist nieht die 
aussere, sinnliche Klangwirkung, welche fur sich allein zu fesseln ver- 
mag. Dem inneren Sinn erst geht das Grossartige der Gestaltung auf, 
durch das Innere hindurch geht der Weg zum Aeusseren. Handel ist 
plastiscli, er gewahrt der sinnlichen Seite der Kunst ihr Kecht, und von 
dem Aeusseren gelangen wir zum Inneren. Bach, als achter Deutscher, 
war dem instrumentalen Element fiberwiegend zugeneigt, er schrieb 



216 

spater for seinen Thomanerchor, fur zwar musikalisch, aber nicht eigent- 
lich kunstgebildete Sanger. Handel widmete sich friih scion dem 
Gesange, und verkelrte bald mit den grossten Sangern und SSngerinnen 
der Welt. Danun erblicken -wir bei Handel als hervorstechenden 
Grundzug jene Popxilaritat im grossen und hohen Sinne, die Fahigkeit, 
auf Massen m wirken, die mehr augenblicHiche Einganglichkeit und 
Eindringlichkeit Bach, zeigt sich als Gegensatz; er ist nicht eingang- 
lich, minder sangbar, er ist der am wenigsten populare aller Tonsetzer. 
In Bach gelangte jane, einst von den Mederlandern begriindete, in 
Deutschland fortgebildete Eiclitung zu ihrem AbscHuss, sein Geist er- 
wachte unter dem Tongewebe contrapunctisch verbundener Stimmen; 
er bezeielmet die Spitze dieser Entwicklung. Handel steht mit dem 
einen Fusse in Italien; er ist innerhalb dieser Epoclie die Spitze der 
schon fralier eliarakterisirten italienisch-deutschen Eicliking. Bach cha- 
rakterisirt darum der Mangel ausserer Sclionlieit, wie sie Italien besitzt, 
Handel zeigt sich beruhrt von dem Zauber dieses Landes. Bach und 
Handel sind die Culminationspuncte ihrer Zeit innerhalb ihrer Kunst, 
nach den entgegengesetzten Seiten gewendet, der line das Hanpt des 
Nationalen, der Andere Eeprasentant jener uniyersellen Verschmelzung 
der Stile, auf die ich schon in der die Geschichte der deutschen Musik 
eroffnenden Betrachtung als eine Hauptbestiinmung zur Brfassung des 
deutschen Geistes hinwies. Handel bewegt sich in allgemein mensch- 
lichen Stimmungen , in den Stinimungen der Massen; was in der Brust 
eines religiosen, aber gesunden, freisinnig inannlichen Volkes sich regt, 
das hat er ausgesprochen , mit einer Urkraftigkeit uncl Gesundheit, dass 
es dnrch die Jahrhunderte schallt; Bach spricht nur sich aus, sein rdi- 
gioses Gemiith, er yergrabt sich inuner tiefer in sich hinein, und kann 
sich nicht genug than, um diese Tiefe zu erschopfen. Handel leiht 
der ganzen Menschheit seine Stimme, Bach ist nur insoweit allgemein, 
als Jeder diesen Process des ^eligiosen Bewusstseins in sich durchlebt. 
Handel in seinen Gestaltungen zeigt schon eineij^orahnung des spateren 
Kunstideals, Bach hat nur religiose Zwecke vor Augen, und die Kunst 
steht bei ihm noch ausschliesslich im Dienst der Kirche. Handel ist 
objectiv, episch, Bach subjectiv, lyrisch. Bach's Natur neigt tiber- 
wiegend dahin, zur abgeschlossensten Besonderheit sich auszubilden, das 
Gewohnliche, zur Hand Liegende abzuweisen, ein jedes Werk bis in das 
Kleinste und Einzelnste Mn auszugestalten. Handel arbeitet mehi 
aus dem Vollen und Ganzen, richtet seine Blicke iiberwiegend auf die 
Gesammtwirkung. Das eigenthltmliche Verhalten aller Derer, welche an 
den "Werken Beider Antheil nehmen, liegt zum Theil hierin begriindet. 



217 

Der Verehrer Bach's fthlt sieh m immer neuem Forschen angeregfc, in 
einen Ereis nie endender Thatigkeit Mneingezogen, alle seine Krafte 
sind in Ansprueh genommen, iromer Tieferes glaubt er zu entdecken, 
und so geschieht es leicht, dass einem Solchen das Bihfache und 
Populare seicht und geringhaltig erscheint, veil es fasslich ihm ent~ 
gegentritt, weil er das Yerstandniss nicht m emngen braucht: dass ein 
Solclier demnacli in ein durehaus scMefes Yerhaltniss der gesammten 
Kunst gegenftber gerath. Handel bietet zu solchen Yerirningen keine 
Veranlassung. Wie ihn selbst die lebendige Wechselbeziehung zu einer 
grossartigen Umgebung, in der er stand, vor solclier Einseitigteit schfitzte, 
so gewahrt er auch dem Horer einen unmittelbaren, aHgemeineren, viel- 
seitigeren Kunstgenuss. Inch die Stellnng beider Meisier bei ihjen 
Lebzeiten scbeint eine dem entsprechende gewesen zn sein. Bach war 
ftberwiegend doct wol nnr als Orgelspieler bewnndert; seine grossen 
Gesangswerke haben jedenfalls nnr eine geringere Yerbreitung nnd An- 
erkennung, ausser bei dem kleinen Kreise der Eingeweihten, gefunden; 
dem Volke ist er stefe fremd gebHeben. Handel stand schon in 
frflheren Jaliren der Gesammtlieit des Pnblieunis gegentber, und als er 
spater mit seineti Oratorien einmal durchgednmgen war, wnrde er metr 
und melir der Gegenstand der Verehrung des gesammten Englands. 
Beide Manner endlich sind Meister ihrer Knnst, Beide in eminenter 
Weise. Beiden aber ist diese gewaltige Kunst nie Zweck, stets nur 
Mittel znm Zweck. Sie sind so weit entfernt, damit zn prunken, dass 
sie aJlein damit Iiervortreten , wo es die Notliwendigkeit der Saetie er- 
fordert, und es sind Mssverstandnisse einer spateren Zeit, einer Zeit, 
welclie diesen Geist nicM zu fassen vennocMe, wenn insbesondere Bact 
als Mann der Krnstgeleirsamkeit, als trockener Contrapimetist, betrachtet 
wurcle. Bach besitzt Alles. In der Gewohnteit dieses Besitzes ergreiffe 
er tiberall nur das Gehorige " und NotMge. Jene Kunst war der notli- 
wendige und entsprediende Ausdraek fux den Geist jener Zeit, und es 
ist deshalb eine ganz unstattliafte Thatigkeit der Abstraction, Foim und 
Inhalt trennen zu wollen. 

Auch in den Schicksalen beider Meister nach ihrem Tode zeigt sicli 
bemerkenswerthe Aehnlichkeit. Erst der neueren und neuesten Zeit war 
es vorbehalten , Beide in ihrer unennesslichen Bedeutung erkennen und 
schatzen zu lernen. Handel wurde durch die Bemuhungen Hi Her 'a 
und Mozart's in DeutscHand zuerst allgemeiner bekannt und eiiangte 
seit dieser Zeit eine imnier weiter verbreitete Anerkennung. Bach s 
einer ganz anderen "WeltansehauuBg angehorig, als die war, welclie bald 
nach seinem Tode Geltung gewann, hat erst in neuester Zeit in weiteren 



Kreisen ein besseres VerstSndniss, eine mehr entsprechende Auffassung 
geftmden. TFie es eine Zeit gab, wo die Dome des Mttelalters als 
Erzeugnisse eines barbariselien Kunststandpunctes vollig ignorirt wurden, 
so gesehah es auch Bad, dessen Werke mit jenen Domen viel Ge- 
meinschaftliehes haben, dass man seiner nicht inehr gedachte. Den 
Bemuhungen von Marx uncl Mendelssohn insbesondere haben wir 
es zu danken, wena die Gegenwart eine alte Ungerechtigkeit wiecler gut 
zu maehen angefangen hat; diese Manner *sind unermudlich thatig ge- 
wesen, durch Auffuknzngen , ernente oder erste Ausgaben, sowie durcli 
die Schrift das aUgemeinere Verstandniss zu yermitteln. 

Id bescliliesse Mermit die Charakteristik Bach's imd Handel's. 
Unmoglich wurcle es sein, einen Reiclithum, wie ihn beicle Eiinstler uns 
vor Augen legen, in clieser gedrangten Darstellung zn erschSpfen. Die 
Hauptpuncte jedoeli, auf die es bei der Wurdigung derselben ankommt, 
glanbe ich Hinen bezeiclinet zu haben. Jetzt soil es zunachst noch 
meine Anfgabe sein, verscMedene durch das Bisherige gebotene Betrach- 
tnngen anzuschliessen, auf die Losung einiger sich uns darbietenden 
Fragen Mnzuarbeiten. 

Im Portgang der Geschichte geschiebt es stets, dass die folgende 
Epoclie, in ihrem Wesen oft sehi verscMeden, ja entgegengesetzt, die 
nnmittelbar voransgegangene negirt, und es erst einer spateren, abermals 
erhohten Stufe vorbehalten bleibt, die Extreme ausztigleichen, jecles der- 
selben als Entwicklungsmoment zu begreifen. So lange noch im Leben 
der Yolker, *wie des Einzelnen, in rascher Folge der Bewegung ein im 
Schoosse der Zukunft verhulltes Ziel zu erstreben ist, wird Alles, was 
dahin fuhrt, zuructgesetzt, vergessen; erst bei Erreichung des Zieles, 
erst da, wo die geschichtliche Bewegung, wenigstens augenblicklich, Halt 
macht, erscheint die Moglichkeit, den durchlaufenen Weg zu iiberblicken, 
die einzelnen Stadien abzugrenzen, ihre Bedeutung zu eimessen. Die 
Gegenwart bezeichnet, was Musft betrifft, einen solchen Moment, einen 
solchen Halt- und Wendepunct So ist Jetzt wenigstens in Bezug auf 
Bach und Handel das erreicht, dass alle tiefer gebildeten Musiker 
und Mtisikfreunde die Bedeutung derselben im AUgemeinen anerkennen. 
Geschieht dies, was den Ersteren betrifft, zur Zeit noch bald in tiber- 
wiegend hohem Grade, bald wieder in nicht ausreichender, denmach 
iinmer noch schwankender Weise, so liegt der Grund davon in der be- 
zeichneten Eigenthitalichkeit des Meisters, und auch die Ursachen einer 
einseitigen Yertieftmg uncl Ueberschatzung sind schon angegeben. Ich 
trete damit den ausserordentlichen Leistungen Bach's nicht entfernt 
zu nahe ? ich tadle aJlein jene ausschliessliche Versenkung in die Eunst- 



219 

sehopfnngen dieses Mannes, welche, in dem Streben, aUen Ruhm anf 
den Scheitel eines Einzigen zu hanfen, den Blick trfibt nnd befangen 
macht, nnd die Verdienste anderer gleieh grosser Meister verfceanen 
lasst. Bach 1st gross nnd nnsterblich in der vorhin bezeichneten 
Stellnng, was aber die freie Entfesselung des Geistes betrifft, wie sie 
dureh die spateren Meister hezeichnet wird, so ist er nicM fiber die 
ersten Anfange Mnansgekommen, nnd in diesem Sinne, auf weltliehem 
Gebiet, ist es richtig, wenn sein Yerhaltniss zum nachfolgenden Jahr- 
hundert, wie schon einmal erwahnt wurde, dnrcli das der agyptischen 
znr griecMsclien Kunst bezeichnet mrd. Eine weitere Ursache solcier 
Einseitigkeit, dass die Bedentnng des Meisters wol in den allgemeinsten 
Umrissen festgestellt ist, die nahere Bestimmnng aber liaufig Termisst 
wird, Kegt in dem Dnrcheinander der Ansichten auf mnsikaliscliein 
Gebiet, anf das wir spater noch. ansfthrlicher werden zn spreclien 
kommen, in der so ganz heterogenen Bildnng der Mnsiker, der alles 
Gemeinscliaftliclie so gar selir fehlt. Da nirgends nocli die Principien 
der Beurtbeilnng festgestellt sind, so 1st es eine nattoliclie Folge, wenn 
die Ansichten Hber die wichtigsten Knnstersclieinnngen so weit ausein- 
andergehen. Auct die Anerkennnng Bach's beim grossen Publienm 
ist eine noch sehr schwankende, nahere Yertrantheit wii-d selbst bei den 
emsteren Frennden der Knnst vennisst, nnd man begnugt sich meistens 
mit jenem kalten Eespect, der die Sache anf sich berahen lasst. Anch 
hier liegen die Ursachen znm Theil in der Eigenthumlichkeit Bach's, 
znm Then aber in einem Vorurtheil, welches die Musiker immer genahrt 
haben ? ohne zu wissen, wie sehr sie nicht bios Bach ? wie sehr sie der 
Stellung der Tonknnst uberhaupt, der Gesamnitheit gegeniiber, schadeten. 
Noch immer gilt Bach ilberwiegend als gelehrter Contrapuucidst, noeh 
immer sprechen die Musiker es ans, dass ohne nahere Yertrantheit mit 
jenen kunstlichen Fonnen so wie uberhanpt der Tonknnst, so znmelst 
Bach nicht nahe getreten werden konne. Ist nun auch dieser Ansieht 
eine einseitige "Wahrheit nnd Berechtignng dnrchaus nicht abzustreiten, 
so bernht dieselbe, in dieser Ansschliesslichkeit gefasst, doch wesentlich 
anf einern Yerkennen des Yerhaltnisses der Technik eines Tonstficks zum 
Geist desselben, anf einem Yerkennen des Verhaltnisses der Form znm 
Inhali Yon den Mnsikern wird leicht die Form mit dem Inhalt ver- 
wechselt, wird leicht die Form znr Hauptsache gemacht nnd der Geist 
ganz vernachlassigt, das Yerstandniss der Form als das einzig den Bin- 
gang Vermittelnde gefasst. Solcher Einseitigkeit gegenuber ist zn sagen, 
dass das Yerstandniss des Musikers durchans nicht ein specif is ch ver- 
schiedenes ist, wie die Dilettanten glanben und wie so yiele Musiker, 



220 

nm sich in einen gelehrten Nimbus zu hiillen, absiclitlicli verbreiten ; das 
Yerstandniss des Musikers 1st ein bewussteres durch die Einsicht in die 
Mittel des Ausdrucks, durch die Einsicht in die Art und Weise, wie 
ein bestrmmter Inhalt zur Darstellung gekominen ist; so wenig aber 
die Sehofiheit des menschliehen Korpers firr den Empfanglichen eine 
geringere ist, weil er mit der Knoclien-" und Muskelstructur, wodurch 
diese wunderbaren Biegungen und Linien hervorgebracht werden, nicht 
ganz vertraut, ebenso wenig darf das Yerstandniss des Tonwerks durch 
eine iricht ganz specielle Eenntniss seiner Technik leiden. Der Geist 
ist das Ursprungliche , den Ausdruek, wodnrch er zur Ersclieinung 
kommt, seine Form, Schaffende; die Form ist das Secundare, und kann 
erschopfend eigentlich nur aus dem Inhalt erkannt werden. Jedenfalls 
hat es (iemnach seine eben so grosse Berechtigung, wie die hier in 
ilrer Einseiiigkeit bestrittene Ansicht, wenn ich sage, dass es haupt- 
saehlich der Geist Bach's selbst ist, welcher das Verstandniss erschwert, 
dass es sich eben so sehr um eine alJgeniein geistige Yorbereitung 
handelt, um ihm nahe zu treten. Es ist diese tiefe, vergangenen Zeiten 
angehSrende Eeligiositat , welche einem im Weltliehen anfgehenden Ge- 
sehlecht, bei einem zerstreuten und unruhYollen Leben, nur als ein 
verschlossenes Buch vorliegt; es ist dieser grossartige Ernst, diese 
Strenge, welche bei so Yielen kaiun noch ein Organ des Verstandnisses 
6 ndet. Mit dernselben Eecht, mit dem clalier technische Vorbildung bei 
selbeL yerlangt wircl und veiiangt werden muss, darf auch eine allgemein 
der V olty or i )ere j[j ;un g gefordert werden. Man hat sich mit dem religiosen 
Sehoosse^ r Yorzeit yertrauter zu machen, man hat diese Entwicklung 
clahin fuhi\ en Bewusstseins in sich zu reproduciren, um Bmpfanglichkeit 
erst da, woq-jng^^ Beide Seiten iniissen gleich sehr beriicksichtigt 
maclit, ersclnjj yollstandige Vertrautheit erzielt werden soil. So lange 
die einzelneueb nur das contrapunctische Gertist sieht, wird auch das 
Gegenwart b>nirtheil nicht schwinden. Die Musiker aber haben, wie 
solchen Hal; geror a en fli c ] 1 geschadet, indem sie, statt die Leute zur Be- 
Bach undfleg Bildes einzuladen, dasselbe nur noch mehr in die Feme 
und Musit 

Geschiebju-enfl ^ bisher eine Yergangenheit Ihnen clarstellte, welche 
wie ei l'sna]imsweise in der Gegenwart wieder zitoi Leben erweckt wird, 
inrnife^Q ^ ^^ zum ers t en ]\/f a j e Kiinstler, die dem Leben der Gegen- 
zei !ft nahe stehen, deren Werke noch einen integrirenden Bestandtheil 
e inserer offentlichen Musikauffiihrungen bilden. Noch mehrere andere 
Fragen bieten sich uns in Folge davon dar, welche hier zimi ersten Male 
ihre Eiiedigung fordern. Dies Alles zugegeben, erwidert man, zugegeben 



221 - 

auch, dass man nnser schnell bewegtes, unruhvolles, leicht anfgereiztes 
Leben und Wesen auf Momente beseitigt, dass man sieh in die episclie 
Breite Handel *g, in den mysfcisclien Tiefsinn Bach's, in diese, schnell 
wechselnde Affecte ganzlich ausschliessende Welt versenkt habe; liegt 
nieht dessenungeaehtet in den Werken Bach's und Handel's selbst 
Etwas, was sie uns mit EecM entfremdet ; enthalten sie nielit Veraltetes, 
nur der Mode jener Zeit Angehdriges, was uns zurackstosst ; sind wir 
wirklich aflein im Unreeht, wenn wir uns nielit damit befieunden konnen; 
mussen wir uns nielit zum Theil der Errungenschaften eines hoheren 
Standpunctes entaussern, urn auf sie eingehen zu konnen, und erscheint 
es nicht gerechtfertigt, wenn wir jene "\Verke zum Theil umgestalten, 
verandem, um sie unserer Zeit entsprechend zu machen? Hierauf diene 
Polgendes zur Antwort: Die Frage nacli dem Yeralten oder Mchtver- 
alten frflherer Tonwerke ist eine auf unserem Gebiet vielfach angeregte, 
selten genugend beantwortete, eine Frage, welche eine grosse Eolle spielt, 
so dass jeden Augenblick von dem Veralten einer frfiheren Tonsehopfiing 
gesproclien wird. Auch die Frage nach der tlaeilweisen Umgestaltung 
fruherer "Werke ist vielfach aufgeworfen und ganz verschiedenartig, ja 
entgegengesetzt beantwortet worden. Icli versuche Folgendes festzustellen: 
Bleibend sind aEe Werke der Kunst, in denen die Epoclie derselben 
ihren auf dieser Stufe nioglichen, yollendeten Ausdruck gefunden, in 
denen das Walire, was sie anstrebte, das Beste, was sie besass, seinen 
CuLninationspunct enreicht hat. Dies ist das Wesen der Glassicitat, dies 
ist charakteristisch for Werke, welche, einer nothwendigen Entwicklungs- 
stufe des MenschengescMeehts angehorig, for ewige Zeiten als von glei- 
cher Gultigkeit bezeichnet werden mussen. Im Gegensatz Merzu tlieilen 
alle Schopfungen das ScMcksal des Yeraltens, welche nicht den Culmi- 
nationspunct einer Epoche bezeiclmen, welche zu ihmhin- oder von dem- 
selben herabfiitren, Werke demnach, welehe den Vorstufen der Kjinst 
angehoren, oder als eine JTachbluthe zu betoachten sind, Werke, denen 
das Ziel nur erst ein gealintes ist, welche die Erreichung nui* vermitteln, 
oder solche, in denen sehon die hochste Aufgabe einer Epoche uber- 
schritten wurde, die das schon Geloste durch Ueberhaufung der Mittel 
noch ein Mai losen wollen. DerarMge Schopfungen sind allein for die 
Kunstgeschichte von Bedeutung; sie haben allein fur den Geschichts- 
schreiber Interesse ? uni die Epochen des Aufbluhens und des Verfalls zu 
erkennen, und den wirHichen Hohepunct nach seinem wahren "Wesen zu 
erfassen. Dies sind die allgemeinsten Gesichtspuncte. Mher aber 
bedarf die Katur des Classischen der Bestimmung, dass die Epoche, aus 
der es hervorgeht, selbst sehon die Stellung der hochsten Bluthe in der 



gesckichtlicken Entwicklung eines Volkes einnekmen muss. Auck vor- 
ubergekende Werke konnen der kockste Ausdruck einer Zeit sein, tind 
doch eben nur yoruBergekende Bedeutung kaben, wenn diese Zeit selbst 
nur einen Durckgangspunct bezeicknet, wenn diese Zeit selbst nur den 
Vorstufen angekort, oder als eine Nackblutke im Leben eines Volkes zu 
betrackten ist. Jede Zeit findet denmacli zwar iliren kocksten Ausdruck 
in irgend einer Erscheimzng der Kunst oder Wissensckaft, aber diese 
Ersekeinungen sind yersckieden, je nack dem Werth der Epoclien, welcke 
sie abspiegeln. Das Classische ist dies dann, wenn es, als der kockste 
Ausdruck seiner Zeit, eine solcke zur Darstellung bringt, die das Leben 
und die geistige Entfaltung eines Volkes in den kocksten und gesteigert- 
sten Monienten in sick birgt ; das classisclie Kunstwerk entkalt den Kern 
einer Nation, die geistige Substanz derselben, und bringt diese in Hirer 
vollendetsten Gestalt zur Ersckeinung. So sind die classiscken Werke 
aller Zeiten die Denkmale der geistigen Entwicklung des Mensckenge- 
sckleckts, die Qrenzsteine, welcke die Stadien derselben abmarken. Alles 
dasjenige aber gekt unter im Strome der Zeiten, was solcke Hokepuncte 
vennittdt; nur die Spitzen der fernen Gebirge sind dem Auge sicktbar, 
nickt das, was zu iknen kinauf- oder yon iknen kerabfiikrt. Nock 
eine Bestiininung ist dem Gesagten kinzuzufugen, um dasselbe ziini Ab- 
scbluss zu bringen. Wurde bis jetzt yon dem Classiscken im Gegen- 
satz zu dem vorfibergehenden Ckarakter aller Uebergangsmomente ewige 
Dauer ausgesagt, so ist die Bezeicknung insoweit einzusckranken, als auck 
das Classiscke nickt fur alle Zeiten einer gleicken Lebendigkeit in dem 
allgemeinen Bewusstsein tkeilkaftig bleibt. Auck das Classiscke wird 
flberwunden, wird zur blossen Entwicklungsstufe kerabgesetzt, wird im 
Fortgang der Gesckickte als iiberwundener Standpunct betracktet. Diese 
Bestiminung ist nickt olme Sckwierigkeit, sie ist in neuester Zeit yiel- 
fack missverstaoiden worden, und ick wakle daker sogleick ein Beispiel. 
Homer, Sopkokles sind classisck, sie bezeicknen nack yersckiedenen 
Seiten kin das Hockste in der Entwicklung des grieckiscken Geistes. 
Alle naclifolgenden Gesckleckter kekren zu iknen zurtick als zu der ersten, 
kerrlicksten Blutke clesjenigen Volkes, welckes in seiner gesckicktlicken 
Stellung selbst einen solchen Hokepunct der Entwicklung bezeicknet. Die 
Werke der Genannten sind SchSpfungen yon ewiger Dauer, sie sind der 
vollendetste Ausdruek des menschlicken Geistes auf einer bestimmten 
Sfcufe seiner Entfaltung ; sie bezeicknen eine Stufe, welcke alle Spateren 
wiecler durcklaufen, in sick reproduciren mtissen. Aber diese Werke sind 
durckaus nickt mekr der adaquate Ausdi-uck un seres Bewusstseins, wir 
3ind durckaus nickt rnebr im Stande, in iknen ganzlick aufzugeken, und 



223 

darin unsere hochste Befriedigung zufinden; unser Bewusstsein ist durch 
den Beichthum der nachfolgenden Entwicklung ein unendlich vertiefteres, 
und jene Werke gehoren in diesem Sinne einein tlberwundenen Stand- 
punct an. Der grosse UnterscMed besteht demnach darin, dass das Clas- 
sische im Fortgang der Zeiten zwar ebenfalls zur Entwieklungsstufe 
lierabgesetzt erscheint, als solche aber ein nothwendiges und ewiges 
Glied in der Geschichte des menschlichen Fortschritts bezeichnet, das 
wirklieh Veraltende dagegen dem allgemeinen Bewusstsein entzogen 1st, 
und nur fur den Forseher vorubergehendes Leben und vorubergehende 
Bedeutung gewinni "Wenden wir das Gesagte auf Handel und Bach 
an, so ergiebt sich uns leieht. dass die Werke derselben in dem be- 
zeiahneten Sinne als classisch zu betraeMen sind. Handel und Bach 
sind die Spitzen, sind die Yollender einer ganzen, grossen Epoclie, welche 
in ilinen ihren Mchsten Ausdruck gefunden hat. Sind sie dies vielleicht 
nicht in dem ganz eminenten Sinne, wie die TorMn genarmten Diclifcer, 
so liegt der Grand zum Theil in dem Wesen ilirer Zeit, den danialigen 
Terhaltnissen, namentlich in DeutscHand, welche ilinen nicht so allseitig 
gimstige Bedingungen darboten, wie es in Griechenland oder in England 
zu Shakespeare's Zeit der Fall war, zum Theil in dem Umstand, 
dass italienisclie Einflusse im 17. Jahrhundert sich geltend gemacht und 
die protestantische Eunst von ihrem ursprunglichen Ziele abgelenkt hat- 
ten, zum Theil endlich in der Stellung der Tonkunst zum Leben iiber- 
haupt. Mehr fast als alle anderen Eunste hat die Musik bisher yon den 
Einfliissen der Mode zu leiden gehabt, und nur selten ist es ilir gelungen, 
ganz unabhangig von derselben das Ewige rein und ungetrfibt zur Bar- 
stellung bringen zu konnen. Aber Bach und Handel als Classiker 
theilen das Schicksal auch des Classischen, spater zur EntwicMungsstnfe 
herabgesetzt zu werden, und Merin liegt der Grund, wenn sie der Gegea- 
wart als nicht mehr unmittelbar angehorig betrachtet werden mussen, 
Auch in ihnen findet das gegenwartige Bewusstsein nicht mehr seinen 
hochsten adaquaten Ausdruck, und das letztere ist darum nicht durehaus 
rechtlos, im Gegentheil gar sehr berechtigfc, wenn es nicht sogleich in 
ihnen zu Hause ist, nicht sogleich und unmittelbar sich mit ihnen be- 
freunden kann. Schon muss das gegenwartige Bewusstsein zu ihnen als 
zu einer friiheren Entwicklungsstufe zuructkehren, und eine lebendige 
Anschauung ihres Geistes reproducirend vennitteln. Sind wir auch nieht 
BO weit entfernt, dass das, was diese Manner erfullte, uns ganzlich 
fL^emd ware es bildet in der That gegenwartig noch ein wesentliches 
Moment unseres Inneren , so mht doch unser Ideal auf ganz anderen 
Grundlagen ; das, was ihnen das Hochste war, ist erreicht, und auf neuen 



Wegeu wurde schon langst die Losung neuer Aufgaben unternonrmen. 
Untersuclien wir endlicli die Frage nacli der Bereclitigung einer Moder- 
nisiriiDg jener Werke, so ergiebt sicb. uns nach dem Vorausgegangenen 
mit LeicMigkeit die Antwort. Nur dann wurde eine Modernisirung zu- 
lassig ersclieinen, wenn das betreffende Werk noeli unserem eigenen 
Standpunct angeliort, wenn wir uns auf der Spitze der EntwicHung be- 
finden und eine zu dieser Mnfiilirende ScMpfung Mheren Anforderungen 
gemass umgestaltet warden soil. Bach, und Handel dagegen bezeichnen 
Beide eine abgesdilossene, von der unserigen weit verschiedene Epoche, 
und treten uns mit der BerecMigung als Classiker, als der vollendetste 
Ausdruck ihrer Zeit entgegen. Sind sie niclit liberal! frei von den da- 
maligen Einflussen, yon Einwirkungen der Mode, so tiberwiegt docli das 
Ewige in ihnen in so Iioliera Grade, dass jenes cliesem gegenflber ver- 
scliwindet. Eine Modernisirung ihrer "Werke muss darum, streng ge- 
nommen, als eine Barbarei bezeiclinefc werden; niclit das kann Mer er- 
reicM werden, dass man, wie in dern zuvor angegebenen Falle, zur Er- 
sclieinung bringt, was ein Kiinstler beabsicttigte, in Folge der Mangel 
seiner Zeit aber niclit erreiclite, im Gegentheil, man leiht ilmen nur 
einen der durcli sie bezeicltneten Stufe ganzlich fremden Ausdruck. Tom 
Princip aus- sind demnacli derartige Bearbeitungen, wenn sie das Wesen 
und die EigentMmlicIikeit des Werkes angreifen, ganzlich von der Hand 
zu weisen. Ein Anderes aber ist es, mit Vorsicht und Gescb.mack-j)ffen- 
bar nur der Mode Angehoiiges abzustreifen, oder zu erganzen, wenn dies, 
wie z. B. bei Handel, durcli Nichtbenutzung der Orgel geboten er- 
sclieint. Aucli die Eiicksicht auf aussere Verhaltnisse kann Manches 
entschuldigen. Zeigt sich ein Publicum so durcliaus anders gewolmt, 
so durchaus fliichtig und frivol, dass oline bedeutende Kurzungen und 
Auslassung-en ein solches Werk gar niclit zur Auffuhrung gebracM 
werden konnte, so sind diese entschieden vorzuziehen. Es ist besser, 
eine Tondiclitung unter derartigen TJmstanden, als gar nicM zu Gehor 
zu bringen, nur babe man stets das Bewusstsein gegenwartig, dass dies 
niclit Verbesserungen, sondern nur Accommodationen, der Schwaclie gegen- 
fiber, sind. Das Holiere bleibt immer, die Denkmale der Vorzeit unan- 
getastet zu lassen, und aus dem Geiste ilirer Zeit zu begreifen. Einem 
uberwiegend gebildeten Publicum gegenuber, einena Publicum, welches 
im Stande ist, sicli seiner umnittelbaren Subjectivitat zu entaussern, ist 
dieser Standpunct geltend zu machen; fur die grosse Menge, die nur im 
Augenblicke lebt, die Mchts kennt, als was ihre Zeit ihr bietet, sind 
Concessionen am Orte. Dies ist, wie icli glaube, die entsclieidende 
Losung der Frage. 



. 005 

Wir befinden tins jetzt am Schlusse der ersten grossen Epoclie der 
deutsehen Musik. Schon in der siefaenten Vorlesung, ais icli Ihnen einen 
voriaufigen Ueberblick fiber das noch m durchlaufende Gebiet gab, den- 
tete ich darauf Mn, dass jetzt bei uns derselbe Wendepunct eintrat, wie 
in Italien nach den Zeiten Palest rina's um das Jakr 1600. Die 
Epoclie des erhabenen StUs erreicht ilire Endschaft, die des sehonen be- 
ginni Auch das habe ich scion ausgesproehen, dass an Sebastian 
Bach und die Familie desselben, ahnlich wie in Italien an A. und D. 
Scarlatti, vorzugsweise dieser Umschwung sfeh knupft. Bald naht 
die Zeit, wo anf alien Gebieten, in Wissenschaft, Poesie und Kunst, 
Staat und Leben, eine grosse Umgestaltung sich geltend machte. Bin 
hoheres Geistesleben erwaclite in DeutscUand. Friedrich der Grosse 
und J o s ep h E., genahrt durch die nanaentlich in Frankrelch aufteimenden 
neuen Ideen, bemuhten sicli, an die Stelle des Mstorisci. Gewordenen, 
Princlplosen, an die Stele der alien Unordnung im Staat aHgemein ver- 
ntinftige, rechtliclie Bestimmungen treten zu lassen, und Deutschland aus 
seiner Erstarrung und Verknoclierung zu belreien. Die weltumgestaltende 
That der franzGsischen Eeyolution, dieses Weltgericlit fiber die Yer- 
gangenheit, folgte m Ende des Jahiiranderts, und fuhrte auf weltHehem 
Gebiet das duroh, was der Protestantisnius auf Mrchlicliem geflian hatte. 
Die alte Eeligiositat verschwand alhniililich. Kant, der grosse Vor- 
kainpfer des Eatioiialisnius ; erschien. Das gesammte innere Lebeii wurde 
ein anderes. BKeb firfiher jede Empfindung auf den TJmkreis des Kirch- 
lichen beschrankt, und zeigten sich die Herzen ausschliesslieh erfullt von 
reKgiosen Gefuhlen, so trat jetzt ein freier bewegtes Leben, traten freiere, 
weltliche Regungen an die Stelle. Die Mrchliehen Schranken wurden 
durchbrochen, der alte Dogmatismus gestiirzt, der Mensch lerate sich als 
Mensch erfassen. Tor Allen waren es die Manner der Sturm- und 
Drangperiode, die Manner jener Sehule, aus der endlich Goethe fiber- 
waltigend, siegreich hervortrat, die theils durch eigene Schopftmgen, 
theils durch das tiefere Yerstandniss Shakespeare's, welches sie ver- 
breiteten, das so lange dureh starre Formen geknechtete deutsclie Herz 
entfesselten, die winterliche Eisdecke, welche jede rein menschliche, jede 
warme Fruhlingsempfindung unterdrucfcie, sprengfcen. Wissenschaffliche, 
kiinstlerische Begeisterung trat an die Stelle der religiosen. War bis 
dahin der Protestantisnius Trager des fortschreitenden Geistes gewesen, 
so warden es jetzt Eunst und Wissenschaft. An die Stelle dogmatischer 
Gebundenheit trat ein freies Waltenlassen des Genius auch in der Eunst ? 
an die Stelle des Dogmatismus Sebastian Bach's die freie Genialitat 
der spateren Meister. Die Tonkunst folgte dieser TJmbildung der allge- 

15 



226 



meinen Weltanschauung, die classisclie Oper Glnck's, ermSglicht vor- 
bereitet dnroh die grossen ScMpfungen Handel's, trat m das Leben, 
die modeme Instaumentalmusik ma-de geboren. AJles Vorausgegangene 
hatte Mngedrangt anf diese dramatische Entfaltung; die epische Wurde 
und Haltung. die epische Ganzheit, me wir sie noch be,! Handel er- 
blicken, loste sieh aitf in ein mannigfaeh raancii-tes, Tielfach bewegtes 
affectvoUeres Seelenleben. An die Stelle dec ObjectivWat der Vorzer 
trat die Subjeetivitat der Neuzeit. Die Epoche der kirchlichen Tonkunst 
ist damit im WesentKclien beschlossen ; die Herrschaft der welthchen 
Musik beginnt. So lioeh die vorausgegangenen Jahrhunderte im Kirch- 
Hchen das letzte Jahrlmndert uberragen, so hocli ateht das letztere auf 
veltlichem Gebiet uber jenen. 

Wir crelangen jetzt zu den wichtigsten Gegenstanden unserer Be- 
tracb.tung, & zii d & er Gegenwart und dem, was in immittelbarem Zusammen- 
liano-e mit derselben steht, zu dem, woftr aUes Bisherige als Vorbe- 
reitog und Einleitung diente. Meine Betracatung wd aus diesem 
Gnmde aueli bei dem ReicMhnm des aufzunehmenden Materials - 
eine andere. Gait es bisher, in grosseren Gmppen Ihnen die hemr- 
stechendsten Erseaeiiiungen- Torzuf&aren, so verfolge ich in den nachsten 
Yorlesungen zuerst nur die Spitzen der EntwicHung bis herab auf die 
Gegenwarfc, und lasse sodann diesen Hauptwendepuncten das Speciellere, 
auf Mozart und Beethoyen die Schulen Beider, folgen. 



Zwolfte Vorlesung. 



Ersfe Anfange der franzoslschen Muslk: die franzoslselie Oper. Gambert. Lully. 
"Weiterer Eortgang: Grluck raid Picciai. 

Beyor ich micli zn den in der letzten Yorlesung bezeiehneten Gegen- 
standen wende, 1st es nothwendig, unsere Blicke nacli Frankreieh zu 
rich ten, urn jetzt auch dieses Land in den Kreis der Darstellung aufzu- 
nehmen. 

Frankreich hat nicht, wie Italien und DeutseUand, eine gleicli uni- 
fassende und geordnete EntwicHnng dnrchlatifen; es tritt bei weitem 
spiiter mit selbststandiger Bedeutung auf, "Wenn jene Lander mit der 
Blutlie der Earchenmusik begannen, so nnterscheldet sich Franfcreicli da- 
dui-cli wesentlich, dass ihm eine MrcUiche Tonbmst yon holierem Werth 
fast ganzlicli mangelte. In der Epoche Josqnin's, um das Jalir 1500, 
zeichneten sich einige Sctuler desselben ans, doch. fanden dieselben ihre 
Heimatli fiberwiegend in Italien. Seit dem Jahre 1530 waren in Paris 
nnd Lyon grosse Druckereien thatig, und es traten jetzt Compordsten 
auf, deren Chansons, Hotetten und Messen an diesen Orten gedruckt 
wurden. Auch aus spaterer Zeit i^erden nocli viele Titel und Namen 
genannt, ohne dass jedocli ein grosserer Euf und grossere Kunstbedeutung 
sicli daran knupfte; es scheint sogar, als habe die Tonkunst dort Eiick- 
schritte gemacht. So dauerten die Yerlialtnisse fort bis in das 17. Jahr 
hundert. Man war von der alten Schule des lioheren Conkapuncts langst 
abgefallen, ohne in den neuentstandenen Gattungen den Italienern nach- 
zueifem. Nur etwas Eigenthuniliclies besass der franzosisclie Hof scion 
seit Ludwig SHI., es waren dies die n Vingt-quatre Violons du Roy", 
(Violinen und Violen von verscMedenen Dimensionen), far welche einige 
Tonsetzer eine Art von Kannnerstucken geliefert liatten, Werke indess, 
welche nur die Kindheit der Eammermusik unter eineni wenig piusika- 
lisclien Volke bewelsen konnen. Ergt nacli Erfindung der Oper finden 

15* 



wir GelegenMt, von Frankreicb "Wesentliclaeres zu beriebten. Die Oper 
liatte daselbst spater als* in DeutscMand Eingang gewonnen. Der Car- 
dinal-Minister Mazarin war der Erste, der dieselbe nacli Frankreicl 
verpflanzte. Es gescliali dies im Jahre" 1645 , wo zum ersten Male vor 
dem Hofe von einer italienisclien Operngesellscliaft eine Auffulirung 
veranstaltet wurde. Lange zuvor schon latte man zwar theatralische 
Aufflhrungen gekanni Insbesondere war es eine Gattung unter dem 
Namen: Ballet, in welchem neben der Hauptsache, dem Tanze, auch 
gesungen und gesprodien wurde; es war dies aber AUes so unkunst- 
lerisct wie moglicli, oline alien Gesclimack bunt Zusammengestelltes 
enthaltend. Selbst diese Belustigungen des Hofes after niussten erst 
von einem Italiener einigennaassen in Ordnung gebracM werden. Die* 
erste OpernauffQhrung wurde in dem bezeiehneten Jalire YOU einer ita- 
lienisclien GeseUsdiaft vor dem Hofe in Petit -Bourbon Yeranstaltet. 
Das Stuck Mess J? La finta Pazza", Text von Giulio Strozzi. } ,Man 
kann sich jedoch", sagt S elm id in dem im Emgange dieser Vortrage 
genannten Werke fiber Gluck, ,,von dem damaligen Gesclmack einen 
Begriif rnachen, wenn man erfalrt, dass der erste Act dieses Singspiels 
mit einem Tanze Yon Affen und Baren, der zweite von Straussen und 
der dritte von Papageien gescllossen wurde." Zwei Jahre spater gab 
eine bessere, ebenfalls von Mazarin versciriebene Gesellschaft die 
Oper Orpheus und Eurydice" von Peri, mit ausserordentlicliem Beifall. 
Dieser Erfolg der Italiener spomte einige Franzosen an, Aehnliehes zu 
versuelien, doch so, class man sich streng an das von den Ersteren 
gegebene Yorbild Melt. Ein gewisser Abbe Perrin diclitete in franzo- 
sisclier Spraehe ein Hirtenspiel La Pastorale", ein gewisser Eolbert 
Cambert, Organist an der Kirclie St. Honore und spater Surintendant 
der Musii der Konigin Anna von Oesterreich, der Mutter Lud- 
wig's XIV., unterzog sicli der Composition desselben, und wurde 
dadurch der erste Franzose, der eine eigentliclie Oper in Musik 
setzte. Es gescliah dies im Jalire 1659. Mazarin, der diese neue 
Gattung sehr liebte, liess das Stuck mehnnals vor Ludwig XIV. in 
Vincennes auffuhren und ermunterte die Verfasser zu weiterer Tliatig- 
keit. Erfreut liber den gluckliclien Erfolg ihres ersten Versuclies schrit- 
ten Perrin und Cambert zur Composition der Oper Ariadne". 
Durch den Tod Mazarin's indess wurden die Fortschritte des lyri- 
schen Dramas urn zehn Jalire anfgehalten. Perrin erliielt endlich 
iin Jaln^e 1669 ein konigKehes Privilegium, welches ilim gestattete, 
offentliche Musik- und Opernvorstellungen zu geben. Er verband 
sich. mit Cambert, dem Marquis de Sourdeac, welclier dem 



229 

Masckinenwesen vorstand, uncl einera Finanzmeister , ricktete ein offent- 
lickes Theater in der Mazarinstrasse ein, und engagirte Mnsiker, Sanger 
und Tanzer; Tanzerinnen gab es noch nicht, man verfcleidete die 
Jiingsten als Frauen. Im Marz 1671 braekten dicse Manner die erste 
offentlicke Vorstellung vor dem Tolke zu Stande. Die Oper Mess 
w Pomone u , und war nicktssagend , mit leeren "Wortspielen und Zwei- 
deutigkeiten angeMlt, maclite aber so grosses Gluck, class sie aclit 
Monate hinter einander taglieh gegeben wurde, und dem Dichter allein 
einen Gewinn yon 30,000 Fr. einbrackte. Uneinigkeiten indess ent- 
standen bald unter diesen ersten Opernimternelimern. Dies benntzte 
ein sehlauer Italiener, Lully, der schon fruher in Paris angekonunen 
war, sick bei Hofe einztisclnneiclieln gewusst katte, und iinterdess konigl. 
Oberkapellmeister geworden war, so class es ilim gelang, das Opern- 
privilegram auf sick zu ubertragen, indem er P err in, den Beleidigten. 
beredete, dasselbe an ikn abzutreten. Lully Hess ein anderes Theater 
einrickten, engagirte einen anderen Dickter uncl begann seine Vorstel- 
lungen schon im November Jes Jak-es 1672. Cainbert war daraber so 
entrustet, class er Trankreick ganz verliess uncl sick mit seinen Werken 
nack England wendete. 

Jean Baptiste (Giovanni Battista) Lully war geboreu im 
Jakre 1633 zu Florenz, wurde aber 1644 von dem Herzog von Guise 
mit nack Paris genonimen, mm Dienst bei der Jfichte cles Eonigs, 
die sick indess wenig fur ikn interessirte uncl ikn beini Ktlcken- 
personal als Ktickenjunge besckaffcigen liess. Der intelligente Snabe 
jeclock, der sckon. in Florenz auf der Guitarre zu Himpern liebte; 
lernte fur sick Lieder und Tanze auf der Violine, erregte dadurck die 
Aufinerksainkeit , und erkielt nun ordenflicken Unterricht; bald mackte 
er sick durek Heine Tonstucke. welcke er componirfce. beliebt. Lud- 
wig XIV., der ikn begfmstigte , gab ikni znerst eine Stelle in der 
Kapelle, und yertraute ikm clann die Leitung einer neu far ikn ge- 
stifteten Musikertruppe an , die man n les petits Vicious" nannte , zum 
Untersckied von jenen sckon erwaknten alteren berubmten ^vinyt-quat^e 
Violons". Sogleick entbrannte auck sein Ekrgeiz, und sein Streben war 
darauf gericktet, es diesen vorzutkun, iki*en Rukm zu verloschen. Er 
coinponirte fur seine Leute Sympkonien, Trios, suckte uberkaupt Alles 
kervor, woclurck diese glanzen konnten. Im Jakre 1658 trat er in einen 
kokeren Wirkungskreis. Er mackte Musik zu einem der Ballette, welcke 
far den Hof erfiinden warden, in denen der Konig selbst tanzte und zu 
denen selbst Mo Here Texte liefern niusste. So wusste er nack und 
nack immer mehr die Aufinerksarakeit auf sick zu zieken, und so konnte 



230 

es bei seinem Natiirell nieht fehlen, dass er allmahlich zu den hochsten 
Ehrenstellen gelangte, und endlich GeneraHntendant der koniglichen 
Musik wurde. 

Lully "war listig, yerscHagen, einschmeichelnd und keck verwegen, 
von Ehrgeiz angespornt; alle Mifctel galten ihm reclit, wenn es sich 
darum handelte, seine Plane dtirehzusetzen. Ein seltsames Geniisch 
widerspredjender Eigenscliaften zeigt sich in seinem Charakter : Bedienten- 
natur, Medrigkeit, Harte, Gemeinheit, und auf der anderen Seite wieder 
nicht allein Talent, sondern auch Geist. Er wircl von einem Zeitgenossen 
als ein kleiner Mann gescbildert von iiblen Ziigen und vernachlassigtem 
Aeusseren, mit kleinen, rothgeranderten Augen, die man zuerst kaum 
linden konnte, die aber in dusterem Feuer gluhten und Funken von 
Geist und BosMt spnihten, ini Qesicht Spassliaftigkeit und liber die 
ganze Figur etwas Bizarres und stets Unrulie verbreitet. Derselbe Mann, 
der den Ersten des Hofes unverscltanit gegenubertreten konnte, wenn 
er den Konig auf seiner Seite wusste, der sich. von seinem Uebermuth 
zu den keeksten Streiclien hinreisscn liess, derselbe trug einst, als er 
des Konigs Gunst schwanken sah, kein Bedenken, in Mo Here's ,,ein- 
gebilcletem Kranken" die Kolle des Pourceaugnac zu spielen, vor Aerzten 
und Apothekern am Ende die FlucM zu ergreifen und endlich, uin den 
Eonig zuin Laclieu zu reizen, in den im Orchester befindlicheu Fliigel 
zu springen, so dass dieser.in Stticke ging, trug kein Bedenken, die 
Eolle des gemeinsten Possenreissers zu tiberneknien. In welcher Weise 
er ein solclies Benehmen entschuldigte , zeigt eine Antwort, welche er 
dem Kriegsminister gab, als er ziun Secretar des Konigs ernannt wor- 
den war. Louvois tadelte ibn, dass er sich in Wtirclen drange, die 
ihm nicht geblihrten, cla er doch Nichts sei als ein Possenreisser, Mchts 
habe als das Talent eines Lustigmachers. ,,Wie gern wiirden Sie ein 
solcher sein", erwiderte er, ,,wenn Sie. das Talent dazu hatten, oder 
wurden Sie sich als Kriegsminister weigern , auf den Befehl des Konigs 
zu tanzen?" Dabei war er heftig und tyrannisch; spielte ein Violinist 
falsch , so geschah es wol. class er wtithencl auf ihn zurannte, ihm 
das Instrument aus den Handen riss und ihm auf dem Eticken zerschlug. 
Kara er dann wieder zu sich und erkannte seine Uebereilung, so bat 
er den Beleidigteu hoflich um Entschuldigung , lud ihn zu Tische und 
bezahlte das Instrument fiber clen Werth. Auch noch in spateren Jahren 
gab er einen traurigen Beweis von derselben Haltungslosigkeit. Mile, 
le Eochois, die grosste theatralische Ktinstlerin der damaligen Zeit, 
Melt dureh Unpasslichkeit die Auffiihrung einer seiner letzten Opern 
,,Armide u auf. Gedrangt und eingeschiichtert durch Lully, musste 



231 

sie gestehen, dass sie Mutter sei; sie zeigte zur Entschuldigung em 
Eheversprechen yor, welches ihr der Geliebte auf eine Spielkarte ge- 
schrieben hatte. Ein Fusstritt war die far die UnglficHiche nur zu folgen- 
reiche Antwort des Mer sich in seiner ganzen Bohheit zeigenden Directors. 
Lully heirathete die Toehter des damals noeli inlioheni Anselien stehen- 
den Cambert, und dieser Huge ScMtt war ihm sehr forderlich zur 
Eireichung seiner Absichten und Plane. Ich liabe schon erwahnt, dass 
er das Opernprivilegium auf sich zu ubertragen wusste; zugleieh erhielt 
er die konigliche Vergiinstigtmg, welehe den iibrigen Pariser Tlieatern 
verbot, mehr als zwei Strmmen und sechs Geigenspieler zu gebrauchen. 
Er eroffnete das neue Theater nut dein Stucke Les fetes de P Amour 
et de Bacchus*; das Gedicht war von Philippe Quinault. Jetzt ver- 
band er sich mit dem Genannten, der ihni die Dichtungen zu seinen 
Opern lieferte. Pfir jedes Textbuch zahlte er ihni 4000 Litres. Ge- 
hoben von glticklichen Erfolgen, arbeitete Lully mit Quinault die 
Oper ,,Kadmus und Hermione", die erste 1673 aufgefuirte Tragedie 
lyri^M des franzosischen Theaters. Da zu dieser Zeit Mo Here ge- 
storben war und die Truppe desselben nicht beisammen blieb, so 
erhielt Lully das Theater irn Palais royal. Die erste Oper von 
Quinault und Lully auf demselben war w Alceste". Hierauf folg- 
ten ,,Theseus", ,,Le carnaval", J? Atys"S 5J Isis ;i , 5 ,Psyche u , 5 ,Bellero- 
phon" u. m, a., im Ganzen 19 Opern. Als er noch an seiner letztec 
Oper arbeitete, erkrankte er. Der Beichtvater erschien und kundigte\ 
ihni sogleich an, class er nicht eher Absolution seiner Siinden erwarten 
diirfe, bevor er nicht wenigstens seine neueste Oper ins Peuer ge- 
worfen habe. Lully uberlegte eine Zeit lang, liess die Stimmen seiner 
letzten Oper bringen und vor den Augen des Beichtvaters yerbrennen. Als 
er sich, jecloch nur auf kurze Zeit, wieder erholt hatte, besuchte ihn 
ein Preund und redete ihn an: ,,Ei, ei, Baptist, ich hore, dass Du 
Deine neue, schone Oper ins Peuer geworfen! Du bist ein Narr 
gewesen, dass Du Dich YOU einem traumenden Jansenisten hast be- 
wegen lassen, das schone Werk zu Ternichten!" ,,Still tf , antwortete 
Lully, ,,ich wusste, was ich that; dort im Scliranke daneben liegtnoch 
unverletzt die Partitur." Beim Dirigiren hatte er sich einst die Puss- 
spitze verwundet. Diese an sich unbedeutende Verletzung zog, bei 
seinem vielfach aufgeregten und ausschweifenden Leben, den Tod nach 
sich. Eine Entziindung hatte sieh eingestellt, die sich endlich fiber den 
ganzen Korper verbreitete. Lully liess sich, so wird erzahlt, aus dem 
Bett bringen und auf Asehe legen, hing eine Schnur um den Hals und 
declaniirte dabei, was nur yon eiuem reuigen Sunder, der Busse thut, 



erwartet werden kann, sang sein Sterbelied atif das Welimiithigste 
imd endete so, ira letzten Augenblick noch Scliauspieler , am 22. 
Marz cles Jalires 1687. Lully hatte sicli selbst eine Kapelle und ein 
Marmordenknial erricMen lassen, und Mnterliess ein VermOgen von 
630,000 Lv. 

Dies ist cler seltsame Grander der franzosisehen grossen Oper, 

jedenfalls fur Frankreich von grosser- Bedeutung, obsehon seine Lei- 

stungeii einen. hoheren Werth durcliaus niclit beanspruchen konnen. 

Eigenthunilich ist denselben die Yerbindung von Tanzen und Choren 

mit der Handlnng, ein Vorzug, dessen die italienisclie Oper entbehrte, 

eigenthfimlich die declamatorische Behandlung der Singstimme , obschon 

dieselbe eigentlieh melir eine Psalmodie als Recitation 211 nemien ist, 

und nur selten durdi kiirze, auf keinerlei Weise ausgeffihrte ariose 

Satze oder durcli kurze Eitornelle sich unterbrochen zeigt, im Ganzen 

ohne Geist iind Leben. Draniatisclier Ausdruck und Cliarakteristik ist 

darin nicht zu finden. Lully las wiederholt seine Texte, so class er 

sie auswendig lernte, declamirte dieselben,-bis die musikaKschen Accente 

horbar wurclen, und ging dann erst an das Havier. Hier spielte er 

nun so lange, bis er glaubte, das Eechte gefunden zu liaben; er dic- 

iiite dann meist das so Gefmidene einem seiner Mitarbeiter und Scbtiler 

irf die Feder. Diese Art des Compocirens lasst das Uebergewiclit, 

welches er deni Text einrauinte, erkennen. Bei AUedem war er im 

iOelisten Grade eigensinnig gegen seine Dichter; immer und immer 

wieder mussten ganze Scenen umgearbeitet werden; so konnte es niclit 

fehlen, class clock encllicli aus dem vielfaclien Probiren und Suchen ein Ke- 

sultat herrorging. Eine seiner wiclatigsten Neuerungen bestand aucli clariu, 

dass er statt der bislier gewolinliclien Knaben TOnzerinnen auftreten 

liess; es geschali dies im Jahre 1681 ; Aucli das ist bemerkenswerth, 

dass er zuerst die Blasinstrumente in das Opernorehester eingeftthrt hat. 

Quinault brachte in seine Teite, obschon er an cler ganzen Ein- 

richtung cler italienischen Oper im Wesentlichen des Inhalts, der Wahl 

der Gegenstande und der Oekonomie Mclits geandert hatte, eine bessere 

HaJtimg, einen sinnreicheren Zusaroinenliang. Bei Alledem war es 

Lully mit seinen Bestrebtingen clurchaus Ernst, so Widersprechendes 

aueh von iim auszusagen ist ; nicht bios mit seinen eigenen Arbeiten 

qualte er sich unablassig, in seiner gesammten Thatigkeit zeigte er den 

grossten Eifer und die grosste SorgMt. Die Zeitgeschichte spricht sich 

darflber in folgender Wcise aus: Lully war niclit nur in der Kunst, 

Opera zu setzen, sehr ausgezeichnet , sondera er verstand auch voll- 

kommen die Kunst, sie zur Darstellung zu bringen und die Auffuhrung 



233 

zu leiten. Sobald ihm jugendlidie , mit guter Stimxne begabte Talente, 
von deren Ausbildung sieh Etwas erwarten liess, begegneten, sorgte er 
sogleicli mit bewundenmgswiirdiger Voiiiebe zuerst fiir iliren Unter- 
richt; dann lehrte or ihnen selbst, wie sie eintreten, iind auf dem 
Theater gehen sollten, und dann, wle sie iliren Qeberden und Bewe- 
gungen den gehorigen Anstand zu geben hatten. So hat er die grossten 
Schauspieler und die beriihmtesten Schauspielerinnen gebildet, als die 
Beamnavielle, die Du'mesny, die Mile, de Saint-Christoplie und 
die beriihmte Kocliois, welclie das eigentlicli wahre Muster aller 
gross en Scliauspielerinnen gewesen ist, die man seither auf deni Pariser 
Operntheater geselien hatte. Ferner wollte er, (lass die Sanger in den 
Eecitativen ohne afle Liiufe tmd Vevzierungen sangen, und uberlmnpt 
in den Darstellungen seiner Opern zeigen sollten, class er sie dem 
franzCsischen Lustspiele, und zwar in der Weise der Champ mode , 
nacliznbilden beabsichtige. Naclidem er diese berfihmte Schauspielerin 
ihre Eollen vortragen geliort und seinem Gedaclitnisse tief eingepragt 
hatte , lehrfce er seine Zoglinge die Vortlieile kennen , wie sie ihrer 
Stiinme Anmutli , IVolilklang und Kraft, Eigenselaften, welclie man Ton 
der Kelile eines gangers erwartet, abgewinnen kGnnten, nm dem Zwecke, 
welchera er sie ^zu widmen gesonnen sei , vollkommen zu enfesprechen. 
Bei den Proben, die er selbst vornatm, duldete er nur die notMgen 
Personen, nainlicli den Dichter, den Tonsetzer und ahnliclie, Br rfigte 
die Eehler seiner Schauspieler , trat nahe vor dieselben Mn und Melt 
die Hand fiber die Augen, ran seiner Kurzsiclitigkeit nachzuhelfen und ja 
Mclits zu tiberselien, was seinen Tadel verdiene und einer Verbesserun|| 
bedurfe. Fur sein Oreliester besass er ein so feines Ok", dass er tm 
fernsten Hintergrunde des Theaters jeden Violinspieler , der einen fal- 
sclien Griff gethan hatte, sogleicli herauskannte. Wenn er derartige 
Ungelioiigkeiten vernahm, sagte er sogleieh: 7? Das waren Sie, so steht 
es nicht in Ihrein Parte". Bei semen Vorstellungen wurden fast eben- 
soviel Tanzstticke als andere Musikstftcke eingesclialtet. Br anderte 
den Eingang des Ballets, erfand Schritte und Qruppirungen, wie sie 
gerade dem Gegenstande entsprachen und wie es der Ausdruck ver- 
langte, ocler inwiefera es die Nothwendigkeit erfordejte. Er tanzte 
nicht selten seinen Tanzern selbst vor, UDI ihnen das Begreifen seiner 
Absichten zu erleichtern. Endlich wusste es Lully aucli dahin zu 
bringen, dass seine Schauspieler ihn sowol liebten als fBrchteteii. Er 
niachte sie verMndlich, ohne Widerrede jede Eolle anzunehmen , die er 
ihnen zutheilte, und genoss wirklich ein fast bewunderungswilrdiges An- 
sehen in diesera tonktinstlerischen Staate. 



234 

Um Lully als Tonsetzer ricMlg zu beurtheilen, muss man. die 
ZeitverMltnisse , muss man seine Umgebung in Anschlag bringen. Die 
Oper konnte damals Nichts sein als eine Hoffestlichkeit. An hohere, 
kunstlerisclie Bedetitung, an Wahrheit des Ausdrucks wurde niclit ge- 
dacht. Sie ztun wahrhaften Kunstwerk zu erheben, war erst einer 
spateren Zeit vorbehalten; am Hofe Lud wig's XIV. war sie McMs als 
eine geistreielie Maskerade, deren Hauptzweck die Verherrlichung der 
Fursten. Bei alien Mangeln Lully's jedocli lebte in ilim die Grund- 
richtung der franzosisclien Nation, die er, wenn auch nocli in hochst 
unvoHkommener Weise, zum Atisdruck brachte. Noch lange Zeit nacli 
seinem Tode belierrscliten seine Opern das franzosische Theater, und 
wol ein voiles Jahrhunclert hindurch stand er im hochsten Anselien. 
King war es von ilini, class er sicli offcers beliebter Tanz- und Liecl- 
weisen -bediente und sie in Tanzen und Choren verwendete; er wurde 
dadureli popular und trat dem allgemeinen Verstandniss naher. Seine 
Ouverturen. wurden so gescMtzt, class sie selbst in ItaJiea Eingang 
fanden. Die moderne Ouverture, beinerkt So lie lie in seiner Schrift: 
5 ,Der Tannhauser in Paris und der dritte musikalische Krieg", liatte da- 
tlurch ilii'e erste Anlage gewonnen. Auch, in ' Deutschland waren 
dieselben beliebt, und an inanehen Orten, wie z. B. in Hannover, gab 
es Kapdlcn, welche vorzugsweise diese Werke zur Darstellung brachten. 
Pink in seiner GescMcMe der Oper giebt davon eine ausfOhrliche Be- 
schreibung. Des Kuhmlichen ist freilich nicht viel m berichten; die 
Instriimentaliniisik befand sicli damals liberbaupt noch auf der Stufe der 
Ipnclheit Beilaufig sei erwahnt, dass Lully in spateren Jahren auch 
Kirchensachen geschrieben hat. Eassen wir das Gesagte zusammen, so 
ist nicht zu verkennen, dass trotz alles ausserlicli Berechneten durch 
Lully eine neue Eichtung der clramatischen Musik angebahnt wurde. 
Es war, clem freien melodischen Brgelien der Singstimme in Italien 
gegenHber, die Eichkmg auf Wortausdruek. Die Aufgabe der italieni- 
schen Oper war es, den musikalisclien Stoff in seinem ganzen Umfange 
durchzubilden. Die franzosische Schule hatte das Musikdrania im 
engeren Sinne zu ilirem Gegenstand. Das Eecitativ gewann an decla- 
matorisclier Wahrheit und Mannigfaltigkeit der Ausdrucf sweisc, die Arie 
an eigentlichem Charakier. Hier musste das Wort in den Vordergrund 
treten. Gesehah es auch in hochst untergeordneter "Weise, so wurden 
in Wahrheit doch die Bestrebungen Gl tick's dadurch vorbereitet. 
Schon das war ein grosser Gewinn, dass auf die Texte melir, als bis 
ilahin gewohnlieh, Eticksicht genommen wurde, class dor dramatische 
Tonsetzer nicht mehr als der ausschliesslich Herrschende erschien, im 



235 

Gegentheil die Aufgabe jetzt in einem engeren Anschluss an den Dichter 
bestand. Bewusstlos und zum Theil wol nur in Eolge seiner Schwaehe 
^als Tonsetzer liat Lully der italienisehen Oper gegenuber eine neue 
RicMung der tneatralisclien Musik, die eigentlicli dramatische, dadurcli 
eingeleitet. So, wie gesagt, wurcle er und sein Nachfolger Kameau, 
auf den ich nachher nocli znrnckkomme, auf lange Zeit Mnaus Herrscher 
ini Gebiet der Oper, Ms spater die Italiener und Gluek eine neus 
Wendung -herbeifuhrten. 

BetracMen wir jetzt die Entwieklung der Oper, soweit dieselbe Ms 
zu dem Zeitmoment, wo wir uns befinden, in Europa gediehen war. 

Italien liatte im Laufe yon beinahe zwei Jalirliiinderten das, wozu 
dureli die erste Erfindung der Grand gelegt war, weiter entfaltet, anfangs 
langsam, dann in immer rascherem Laufe der Stufe der Vollendung 
zufahrend, welclie auf diesern Standpuncfc der Kunstentwieklung ilber- 
haupt und bei diesem Princip nioglich war. EB ist selir Bedeutenrles 
auf diesem Gebiet geleistet vorden, aber ale jene "Werke sind jetzt ver- 
gessen, und die Scliopfer derselben kaiun noch dem N"amen nacli gekannt ; 
die ranfaSsendere und tiefere Losung der Aufgabe, welclie Deutsehland 
vollbraclit, hat jene Anfange, allerdings zum Theil mit Unrectt, derVer- 
gessenheit uberliefert. Sie wissen, dass der allgemeine Charakter der 
modemen itaEenisclien Oper aucli in jenen Werken wiederznfinden ist. 
Italien ist sich im Wesentlicben sehr gleich gebKeben, und dasselbe 
Princip, welches in den gegenwSriagen Kiuistseblpfungen dieses Landes 
zur Erscheinung kornnit, hat aucli jene frulieren Werke herrorgerafen. 
Nm* im Aeusseren, in der Haufung der Orchestermassen, in dem Gebraueh 
grosserer, complickterer Eormen sind grosse Umgestaltungen dureli die 
spatere Ktickwirkung Deutschlanda hervorgerufen warden; was das Wesent- 
liche betrifft, so ist in der italienischen Oper immter ein lyrisches, drama- 
tischeni Portschritt Mnderliches Atisstromen der Enipflndung, ist schone 
kttnstlerisclie Sinnlichkeit im Gegensatze zu der tiberwiegend geistigen 
Kiclitung der deutschen Musik lierrscliend gewesen. 

Die Oper auf einen freieren gescliicMlichen Standpunet zu heben 
und von den engen nationellen Schranken Italians zu befreien, die 
Losung der Aufgabe auf einer liolieren Stufe m vollbringen, war, nacli 
deni Vorgange Prankreichs, die Bestiminimg DeutscHands. Italien ist 
gross gewesen dadurch, dass eg alien ancleren Volkern eine Zeit lang 
erfindend voranging, Deutsehland immer dureli die umfassendere und 
tiefere Ausbildung, welclie es diesen Erfindungen angedeilien Mess. 

Unser Vaterlancl batten die Grauel des dreissigjalirigen Krieges zu 
selir niedergedr&ckt, als dass es gleielizeitig mit Italien einer TMtigkeit, 



deren Gedeihen die Iieiterste Behaglichkeit voraussetzt, sici hafcte zu- 
wenden komien ; es versaiunte, wie Dmen aus der vor Kurzem gegebenen 
Darstellung sclion bekannt, anfangs die selbststandige Entwicklung der 
neuen Erfindung und uausste sicli rait einigen Versuchen begnugeru 
Als aber die deutsclien Hofe sicli wiecler zu erholen begannen, war ikr 
Augenmerk so selir auf Italien geriehtet, class sie nur von dorther 
SSflger und CompoBisten beriefen, und die dentsclien Ktinstler ganz 
vernacLMssigten. Man wollte das Neue unmittelbar fertig und voEendet 
besitzen, niclit erst im eigenen Vaterlande mtflisam heraubilden ; holiere 
Kunstzwecke iiberliaupt konnten da niclit Geltung erhalten, wo man nnr 
an Zerskeuimg und Sinnenlust tlaclite. So konnte es gesclielien, dass 
die italienisclie Oper langere Zeit Mnclnrch zur ausscliliesslichen HeiTschaft 
in DeutscHand gelangte, Mer vollig heimiscli wurde und das Nationale 
niederdriiekte tmd Yenlrangfce, dass in unserer Knnstentwicldimg ein 
fremdes Element wesentliclier Bestandtheil wurde. Icli habe indess schon 
YOIL eigentlitlnilielien Anfangen auch bei nns bericMet, welche, wesentlicli 
aueli auf "die Kirclieninusik von Einfluss, aUmflhlicli eine Unigestaltnng 
bei nns tervorriefen. Jetzt, nacli so yiel gegebenen Mitteln,* bedurfte 
es nur eines allgemeinen geistigen Aufschwunges, uni die nationale Oper 
inii einera Male ins Leben treten zu selien. 

Diesen Aufsclnvung braclite die zweite Halffce cles vorigen Jahr- 
hunderts, bracliten die neuen Heen, welclie yon Frankreich lieraber 
kamen, brachte die beginnende Staatsuniwalzung, dieser grosse Sonnen- 
aufgang in der GescMclite, brachte Klop stock, der zwar in seinen 
grosseren Diclitungen flk nns jetzt langweilig, in seinen Ereilieitsoden 
ein Heros, eine unsterbKche Gestalt ist, bracliten iiberliaupt jene grossen 
Manner, welclie jetzt selinell nacli einander erschienen. So wurde es 
moglich, dass alle Strahlen in einein neuen Brennpnnct sich concen- 
traten, dass Dentsclland sicli znsammenfassen und seine EigentMimlicli- 
keit nun auck in der Oper auspragen konnte. Italien hatte den Anfang 
gemacht, hatte einer herbea, kirchliclien Erliabenlieit gegentiber die 
Eunst in die Welt eingefuhrt und eine sclione Sinnliclikeit zur Er- 
sclieinung gebraclit. Jetzt gait es, auf diesem Boden und mit solclier 
Errangenscliaft in die Tiefen des Geistes Mnabzusteigen, uncl jenen 
blulienden Fonnen, jener sclionen Sinnliclikeit, Wahrheit des Ausdrucks 
charakteristisclies und drainatisclies Leben einzubilclen, und so die Auf- 
gabe auf Mherer Stofe, mit umfassenderen Mitteln, flberhaupt univer- 
seller zu wiederholen; es gait zunachst, das, was bis daliin nocli 
mangelte, das Neue, Italien energiscli gegenifterzustellen. Dies war 
die That Gluck's. 



237 

Christopli WillibaM Bitter y. Gluclc war geboren am 2. Mi 17 J 4 
zu Weidenwang in der Obeipfalz. Seine Erziehung war nur eine ge- 
wohnliche, wie sie bei den YerMltnissen seiner Farnilie an einem Heinen 
Orte nicht anders sein konnte. Die Begabung for Musik aber sprach 
sicli schon friih ans, und so kam es, dass er bald zienilich gut vom 
Blatte singen lernte, ja dass er spater anch die Yioline und das Yiolon- 
cell besonders fertig nnd geseLmaekvoll zu spielen verstand. Als Gluck 
fur die Gymnasialstudien herangereift war, schickte ilin der Vater, 
dainals Porstmeister auf der ftirsti Lobkowitz'schen Herrschaft Eisen- 
berg, nacli dem ftifern gelegenen Stadtchen Kominotau, wo der junge 
Christoph. zwisclien den Jahren 1726 und 1732 den. Studien oblag. 
Dort war es auch, wo er einigen Untenicht im Klavier- nnd Orgelspiel 
empfing. Von Her begab sicli Gluck naeh Prag, um sich in den ver- 
scliiedenen Fachern welter auszubilden. Da jedodi die Unterstutzung 
seines Vaters immer sparliclier wurde, so sail er sicli bald in der Lage, 
seinen Unterlialt durch die Tonkunst allein zu suchen. Er ertheilte 
Unterricht im Gesang und auf dem Yioloncell und sang und spielte in 
den verschiedenen Kirclien der Hauptstadt. Spater besuchte er auek 
die grosseren Stadte des Landes und gab Concerte auf dem Yioloncell. 
Im Jahre 1736 selien wir ihn in Wien. Hier fand er in clem Hause 
der furstl. Lobkowitz'schen Familie gastliclie Aiifiialime und Unter- 
stutzung. Der lombardische Purst von Melzi, der ihn singen uad 
spielen gehort hatte, ernannte ihn zu seinem Kammermusikus, nahm ilm 
init nacli Mailand und ubergab ihn dort dem Kapellmeister Giovanni 
Battista Samrnartini ziu* weiteren musikalisclien Ausbildung. Nacli 
einem vierjfthrigen eifrigen Stadium trat Gluck als Operntonsetzer aui 
Seine erste Oper war ,,Artaserse" yon Metastasio, die 1741 in Mai- 
land zur Anffulirung gelangte. Der Erfolg, den dieselbe gewonnen hatte, 
wurde Ursache, dass nun bald zalilreielie Einladungen an ihn ergingen. 
So schrieb er in der Zeit von Tier Jahren noeh drei Opera fur MaEand, 
zwei fur Venedig, andere fur Cremona, Turin. Iin Jahre 1745 begab 
sich Gluck in Gesellsehaft seines Gonners, des Mrsten F. Ph. v. Lob- 
kowitz, uber Paris nach London, von wo er eine Einladung erhalten 
hatte. Dort kam am 7. Januar 1746 seine Oper n La cadvta de 7 
Giffanti u zur Auffuhrung, die indess kein ungewohnliches Gluck machte 
und nur fiinf Vorstellungen erlebte. Handel trostete Gluck, indeni 
er ihm sagte: ,,Ihr habt Euch mit der Oper nur zu viel Muhe gegeben; 
das ist aber hier nicht wohl angebracht; fur die Englander niusst Ihr 
auf irgend etwas Schlagendes und so recht auf das TrommelfelHYirkendes 
sinnen". Dieser Eath soil Gluck auf den Einfall gebracht haben, zu 



den GbOren dieser Oper Posaunen zu setzen, imd nun soil auch dieselbe 
grosseren Beifall geerntet baben. Bald darauf, am 4. Marz desselben 
Jabres, kam ein fruheres Werk, die Oper ,,Artamene", roit bei weitem 
grosserem Erfolg zur Auffubrang. Gegen Ende des Jabres 1746 kebrte 
Gluck fiber Hamburg nach Deutschland zuruck, und wurde, jedocli nur 
fur kurze Zeit, mit einem ansehnliclien Gehalt in die kurfarstliche 
Eapelle zu Dresden aufgenornnaen. YerscMedene Ursachen bestimmten 
ibn, seine Stellung zu verlassen und nacli Wien uberzusiedeln. Diese 
Stadt wahlte er von nun an zu seinem bleibenden Aufenthaltsort. 

Sein korzer AufentMt in London und vorher inCaris liatte far ilm 
die heilsamsten PrucMe getragen. Sclion frulier hatte er Hn und wieder 
in seinen Opera nacli einer den Zeitgenossen fremden, hSheren Wahrheit 
des Ausdi'ucks gestrebt. Machtig angeregt yon H a n d e 1's und E a m e a u 1 s 
"Werken, begannen jetzt mehr und mehr jene Ideen in ibm zu keimen, 
welclie ihn spfiter befaMgen sollten, die ersten unsterblichen Leistungen 
auf dem Gebiet der Oper zu geben. Eiae eigentliQmliclie Brfahrung in 
London hatte vorzugsweise noch dazu beigetragen. Er war aufgefordert 
worden, ein Pasticcio, d. L ausgesuclite Musikstucke aus schon compo- 
nirten Werken zu einem neuen lyrisch-dramatisclien Gedicht zusanamen- 
zustellen. Gluck kam dieser Aufforderung nacli und walilte zu diesem 
Zweck diejenigen Stucke aus seinen Opera aus, die stets mit dem grossten 
Beifall waren aufgenommen worden. Allein sclion bei der ersten Vor- 
stellung dieses Quodlibets musste er mit Erstaunen wahmelimen, dass 
dieselben Gesange, welclie in den Opern, fur die sie gescMeben waren, 
die grosste Wirkung hervorgebracht batten, Mer, in Yerbindung mit an- 
deren "\Vorten, ganz wirkungslos blieben. Diese Tliatsache zwang ilm 
zu dem Schlusse, dass jedem woHgelungenen Tonstiicke ein der Situation 
enteprechender Charakter innewolme, und dass nur in diesem Cliarakter 
der Grand der liolieren Wirkung liege. So bereitete sich- in Gluck 
allmahlicli die spatere Urnwandlung vor. 

Zu Anfang des Jaha*es 1748 treffen wir ibn bereits in Wien. Hier 
zeigt er sicli verscliiedenartig bescbSftigt, eine Reihe von Jabren hin- 
diu'cb aucb in der Tliatigkeit als Kapellmeister, von bier aus imter- 
nalmi er seine zahlreicben Eeisen, bier verheirathete er sich aucb, Er 
war endlich zu der Ueberzeugung gelangt, dass Metastasio's Werke, 
obgleich ausgestattet mit dicbterischen SchSnheiten, dennoch niclit 
geeignet waren, jene Wirkungen hervorzubringen, deren ein musikaliscbes 
Drama fShig sein . rntisse, insbesondere aucb, so lange den Clioren kein 
grosserer Antlieil an der Handlung zuerkannt werde. Gluck er~ 
offiaete seine Ideen einem damals in Wien lebenden begabten Dicbter 



239 

und Freunde, der Gelst und Kenntnisse genug besass, auf dieselben 
mit Leiehtigkeit eingehen zu konnen. Es war dies Baniero di Cal- 
zabigi aus Lirorno, damals L k. Eatk Glnekfand bei ihm ein ent- 
gegenkommendes Yerstandniss. Es gait, dramatise! e "Wahrheit nnd 
Folgerichtigkeit, dramatische Charakterzelclinioig zu ermogliclien, es 
kam darauf an. soweit eg fur jene Zeit nnd auf jeneni Standpunct zu 
eiTeiclien war, die Oper zum einheitsrolleren poetiscli -musikalisclien 
Kunstwerk zu erfieben, tiberliaupt das zu vollbringen, was man bei 
Erfindung der Oper eigenflich erstrebt, aber nicht ins "VFerk zu setzen 
vennocht hatte. Lange Jahre des Irrens waren nothwendig gewesen, 
um endlich die neue Einsiclit reifen zu lassen; G-luek wtirde frtlier 
niefrt diese Energie der reifsten Manneskraft besessen haben, nicht diese 
eiserne Beharrlichkeit des Willens. Hatte er aucli Mher sclion nach 
Holierem gestrebt, so haftete er doch Ms daMn im Ganzen a# der 
stereotyp gewordenen Opernfonn der Italiener, er wandelte in den Fuss- 
tapfen Jomelli's und Pergolese's. Wir erklaren uns Meraus, wie 
bis daMn der ^ame Gluek unter der Menge der Tonsetzer zwar mit 
grosser Anerkennung genannt mirde, aber oline jene lioliere Geltnng, 
die er spater erringen sollte; wir erklaren uns Meraus, wie G-Iuck 
spater selbst sein jBruheres Leben als vollig verloren und niclitig be- 
zeicinen konnte: mit Eecht allerdings den spateren grossen Leistungen 
gegenuber, mit Unrecht, da er erst die Veiirrung grundlich kennen ge- 
lernt haben musste, bevor er als Eeformator auffcreten konnte. 

Ich habe Ihnen die Betteiligung Gl nek's dargestellt entspreclend 
der bisher allgemein verbreiteten Ansicht Ich darf indess Dicht ver- 
sciweigen, dass Sc he lie dem Dichter Calzabigi einen grosseren An- 
theil an der Eeform beimisst, als Gluek, bemerkend, dass Letzterer 
erst viel spater sich klar geworden sei. Der erste Anstoss sei sonaeli 
von einem Literaten und DicMer ausgegangen, der Eulm des Musikers 
aber liabe spater den des Librettisten Terschlungen. Gewiss sei es indess, 
dass Gluek trefflich mitgewirkt habe. 

Jetzt kam es darauf an, nicht mit einem Male allem bis daMn 
Uebliclien den Erieg zu erklaren, im Gegentheil, mit VQrsicht die neue 
Balm zu betreten, um das Publieum an die Eeform zu gewohnen. 
57 0rpheus und Eurydiee" bot Merzu eken glueklielien Stoff. Den Ms 
dahin anerkannten Vorrecltten der Sanger konnten bei der Natur dieses 
StoflEs noch Concessionen gemacht werden. Calzabigi bearbeitete des- 
halb denselben. Die Oper wurde am 5. October 1762 zum ersten Male 
in "Wien aufgefflrrt, zuerst itafienisch, spater aucli deutscli. Anfangs 
mit getlieiltem, spater mit entseMedenerem Beifell. In den Clioren nament- 



240 

licli tritt das neue Princip entscMeden liervor. Es 1st ein ausserordent- 
Helier Untersehied zwischen diesen Ghoren iind denen cler dainaligen 
italienischen Oper. Bei Glue k 1st Alles schlagend, charakteristisch, von 
einer Wahrheit, wie sie die erstaunte Welt bis daMn in cler Oper noch 
nidit vemommen. liatte. Auf diese Weise wusste Gluck zu yermitteln, 
den Widersprueh der entschiedenen Freunde des itaKenischen Princips 
zu mildern mid sich Balm zu breehen fur die grossen Leistiingen, welclie 
nun folgen. sollten. Zunachst folgten zwar nur einige kleinere Arbeiten, 
vorzngsweise fur den Hof, u. A. ein Stuck, worin die Erzherzoginnen 
auftraten. Aber er konnte nun sclion entscMeclener sein Princip geltend 
maclien. Er verband sicli aufs Neue mit Calzabigi und componirte 
die Oper ,.Aleeste :i , die, Ende des Jalires 1767 aufgefiihrt, anfangs zwar 
nur einen getheilten Beifall erhielt, spater aber allgemein anerkannt 
wurft. tni Jalire 1169 erschien die Partitur dieser Oper im Druck. 
Grluck stellte derselben eine Dedication an den Grossherzog von Tos- 
cana Toran, und es zeigt dieselbe, dass er sich. des neuen Princips jetzt 
vollstSndig bemfichtigt liatte. Er hat clarin das, was er zu erreiclien 
bestrebt war, mit einer Klarlieit ausgesprochen, wie selten ein Ktinstler 
vennoclit hat. 

,;Als icli es unternahm", schreibt Gluck, ,,die Oper ,,Alceste" 
in Musik zu setzen, war meine Absicht, alle die Missbrauclie, welclie 
die falsch angebrachte Eitelkeit der ganger und die allzu grosse Ge- 
falligkeit der Componisten in die italienisclie Oper eingefuhrt liatten, 
sorgfaltig zu yenneiden; Missbrauclie, die eines der sclionsten und 
praclitigsten Schauspiele zum langweiligsten und lacherliclisten herab- 
gewtirdigt haben. leh suchte daher die Musik zu ibrer wahren Be- 
stimmung zurflckzufflhren, das ist: die DieMung zu unterstiitzen, um 
den Ausdruck der Gefuhle und das Interesse der Situationen zu ver- 
starken, ohne die Handlung zu nnterbrechen, oder durch. unntitze Ver- 
zierungen zu entsteflen. Icli glaubte, die Musik mtisse fur die Poesie 
das sein, was die Lebhaftigkeit der Farben und eine gliickHclie 
Miscliung von Scliatten und Lieht fttr eine fehlerfreie ^uncl wohlgeordnete 
Zeiclmung sinil, welclie nur dazu dienen, die Figuren zu beleben, 
ohne die Umrisse zu zerstoren. Icli habe mich demnacli gehutet, den 
Schauspieler im freuer des Dialogs zu unterbreclien, und ihn ein lang- 
weiliges Ritornell abwarten zu lassen oder ihn plotzlich mitten in einer 
Phrase bei einem gtinstigen Yocale aufzuhalten, damit er entweder 
in einer langen Passage die Beweglichkeit seiner schonen Stimme 
zeigen konne, oder abzuwarten, bis das Orchester ihrn Zeit lasse, Luft 
zu einer langen Fermate zu schopfen. Auch glaubte ich nicht fiber 



241 

die zweite Halffce einer Arie rascli hinweggehen zu dtirfen, wenn gerade 
diese vielleieht die leidenschaftlichste und wiclitigste 1st, nur um regel- 
massig viermal die Worte der Arie wiederholen zu konnen; eben 
so wenig erlaubte ich mir die Arie dort zu schliessen, wo der Sinn 
nieht sehliesst, nur um dem Sanger Gelegenheit zu verschaffen, seine 
Fertigkeit im Variiren einer Stelle zeigen zu konnen. Genug, ich 
wollte alle jene Mssbrauche verbannen, gegen welche der gesunde 
Mensehenverstand und der wahre Geschinack schon so lange vergebens 
kampften. Icli bin der Meinung, dass die Ouyerture den Zuhorer auf 
den Charakter der Handlung, die man darzusteflen gedenkt, vorbereiten 
und ilm den Inialt derselben andeuten solle; class die Instnunente 
inroier nur im Yerhaltniss mit dem Grade des Interesses und der Leiden- 
schaft angewendet werden mussen, und dass man vermeiden solle, im 
Dialog einen so grossen Zwischenraum zwischen Eecitativ und der 
Arie zu lassen, um nicht, dem Sinn entgegen, die Periode zu unter- 
brechen und den Gang und das Feuer der Scene am unrecMen Orte zu 
storen. Ferner glaubte ich einen grossen Theil meiner Bemuhungen 
auf die Erzielung einer edlen EmfaetJieit verwenden zu mussen; daher 
vermied ich es auch, auf Kosten der Klarlieit mit Schwierigkeifcen zu 
prunken; ich. habe niemals auf die Erfindrmg eines neuen Gedankens 
irgend einen Werth gelegt, wenn er nicht von der Situation selbst her- 
beigefuhrt und dem Ausdruck angemessen war. Endlich glaubte ich zu 
Gunsten des Effects selbst die Eegel opfern zu mussen. Dies sind die 
Grundsatze, die mich geleitet haben! Glucklicher Weise entsprach die 
Dichtung meinem Vorhaben aufs Herrlichste. Als der beruhmte Ver- 
fasser der 5 ,Alceste { S Herr v. Galzahigi, meinen Plan eines lyrischen 
Dramas dtirchfiihrte, hat er aEe bliihenden Schilderungen, alle unnutzen 
Bilder, alle kalten und wortreiehen Sittenspruche durch kraftige Leiden- 
schaften und anziehende SituaMonen, durch die Sprache des Herzens 
und eine stets abwechselnde Handlung ersetzt Der Erfolg rechtfertigte 
meine Ansichten, und der allgemeine Beifall in einer Stadt, wie Wien, 
fuhrte mich zu der Ueberzeugung, dass Einfalt und Wahrheit die einzigen 
richtigen Grundlagen des Schonen in den Werken der Kunste sind. 
Ich habe uberdies, ungeachtet des wiederholten Ansinnens der ausge- 
zeichnetsten Personen, den Druck der w Alceste" zu beschleunigen, das 
ganze "Wagniss meines UnternehmeBS, mit den tief eingewurzelten Vor- 
urtheilen in offenen Kampf zu treten, sehr lebhaft empfonden, und des- 
halb den Entschluss gefasst, mich mit dem machtigen Schutz Eurer 
Koniglichen Hoheit zu waffiuen und nm die Gnade zu bitten, rneiner 
Arbeit HSchstdero erlauchten Namen, welcher schon langst alle Stimmen 

16 



242 

des erleuchteten Europa for sich gewonnen hat, voraussetzen zu durfen. 
Der grosse ScMtzer der scbonen Ktinste, der Beherrscher eines Volkes, 
das mit ihm den Rubm theilt, niclt nur jene der Unterdruckung ent- 
rissen zu baben, sondern aucb selbst die grossten Muster in einer Stadt 
Ixervorzubriugen, welclie zuerst das Joch des gemeinen Vorurtbeiles 
gebrochen hat, um sicb den Weg zur YoUkommenlieit zu balmen: nur 
ein solcher Turst kann die Reform des edelsten der Schauspiele, in 
welcbem alle scbonen Kunste gleiclien Antlieil liaben, erfolgreicb unter- 
nekmen. Sollte dieses gelingen, so wird aucli mir der Rubin erbluben, 
den ersten Stein zum grossen Bau gelegt zu liaben. Mit diesem 
offentlichen Zeugnisse des erhabenen Scbutzes liabe ich die Ebre" 
etc. etc. 

Nacb der r ,Alceste' 4 , im Jahre 1769, lieferte Gluck die Musik zu 
der Oper ,.Paris und Helena", welche jedocli keinen so machtigen und 
nachhaltigen Eindruck in dea Gemutbern der Zuborer Mnterliess, anch. 
wegen der Natur des Gegenstandes nicbt binterlassen konnte. Den ein- 
mal angenommenen Grundsatzen indess ist er aucb in diesein Werke 
gefolgfe. Gluck liess ein Jalir spater aucb die Partitur dieser Oper im 
Brack erscheinen und widmete sie dem Herzog von Braganza. Er 
hatte, insbesondere von Norddeutscbland aus, sebr viel bittere Kritiken 
erfahren miissen, well man nocb unfaMg war, seine Ideen zu fassen. 
Sein Erfolg war bis dahin imnier nur noch ein getlieilter, weit entfernt 
yon einern Tollstandigon Siege, Aiiok in Wien liatte er eine macbtige 
Opposition an H a s s e und Metastasio. Er nalim dalier Veranlassung, 
in dieser Dedication sich daruber auszusprecben. 

w Wenn icb Eurer Hobeit", heisst es dort, ,,diese ineine Arbeit 
widme, bin icb weniger bemubt, einen Scbiitzer, als einen Ricbter zu 
finden. Nur ein gegen die Vorurtheile der Gewobnbeit bewaffneter Geist, 
eine zufeicbende Kenntniss der erliabenen Lehxen der Kunst, ein sowol 
nacli grossen Mustern als nacb den unveranderlicben Grundsatzen des 
Sclionen und des Waliren gebildeter Gescbmack sind es, die icb in mei- 
nern Maecenas suche, und in Eurer Hobeit vereinigt antreffe. Nur in 
der Hoffnung, Nachahmer m finden, entscbloss ich micb, die Musik der 
,jAlceste tf berauszugeben, urid glaubte mir scbmeicbeln zu diirfen, dass 
man sieb beeifern wtirde, die ?on inir eroffliete Babn zu verfolgen, um 
die Missbrauebe zu zerstoren, die sicb in die italienische Oper einge- 
scWichen und sie entwurdigt baben. Icb babe micb jedoch uberzeugt, 
dass meine Hoffnung vergeblicb gewesen ist. Die Halbgelehrten, die 
Kunstrichter und Tonangeber, eine Classe von Menschen, die ungluck- 
licber Weise sebr zaHreieh ist, und zu alien Zeiten dem Fortschritte 



243 

der Kunste tausendmal nachtheiliger war, als die Unwissenden, wuthen 
gegen eine Methode, welehe, wenn sie sich begrundet, ilire eigene An- 
rnaassung zu verniehten droht. Man hat geglanbt, nach unvoEkommen 
einstudirten, schlecht geleiteten und noeh sehlechter ausgefuhrten Proben 
sogleieh abspreehen zu konnen ; man hat in einein Zimmer die Wirkung 
berechnet, welehe die Oper auf der Btihne hervorbringen konnte! 1st 
das nicht der Scharfsinn jener griechischen Stadt, welehe ganz in der 
Nahe die Tfirkung mehrerer Bildsaulen, die for hohe Saulen bestimint 
waren, berechnen wollte? Einer dieser uberspannten Kunstfreunde, 
deren Seele ihren Sitz nur in den Ohren hat, wild manche meiner Arien 
zu rauh, manche Passage zu hart oder zu werdg vorbereitet fiaden; er 
bedenkt aber nicht, dass, in Beziehung auf die Situation, eine Arie oder 
Passage gerade diesen erhabenen Ausdruck verlangte und dadurch den 
glucklichsten Gegensatz bildete. Bin Pedant in der Hannonie wird ferner 
Me und da eine geniale Nachlassigkeit oder einen falschen Eindrack be- 
merken wollen und sich fur berufen halten, das Eine wie das Andere 
als unverzeihliche Stinden gegen die Greheimnisse der Harmonie zu er- 
klaren, worauf sich bald eine Menge vereinigen wird, diese Musik als 
barbarisch, wild und uberspannt zu verdammen. Den ubrigen Kiinsten 
geht es in dieser Hinsicht nicht viel besser; man urtheilt uber sie mit 
eben so wenig Gerechtigkeit und Einsieht, und Etire Hoheit werden da- 
von leicht den Grand errathen : denn je mehr man nach Yollkommenheit 
und Wahrheit strebt, clesto nothwendiger werden die Eigenschaften der 
Richtigkeit und Genauigkeit. Die Zuge, welehe Eaphael von den 
ubrigen Malern unterscheiden, sind in manchen Fallen kaum bemerkbar. 
Leichte AbweichuDgen in den Unnissen zerstoren die AehnHchfceit eines 
Caricaturkopfes nicht, aber sie verunstalfcen das Antlitz einer schonen 
Gestalt ganzlich. In der Musik will ich nur ein Beispiel anfiihren, es 
ist die Arie aus der Oper M 0reo" : Che farb senza JEuridice". 
Nahme man damit nur die geringste Yeranderung entweder in der Be- 
wegung oder in der Art des Ausdruckes vor, so wurde sie eine Arie for 
das Marionetten-Theater werden. In einem Stiicke dieser Gattung kann 
eine mehr oder weniger gehaltene Note, eine Yerstarkung des Tons, eine 
Vernacblassigung des Zeiinnaasses, ein TiiHer, eine Passage u. dergl. den 
Effect einer Scene ganzlich zerstoren. Wenn es sich' nun darum handelt, 
eine Musik nach den YOU mir aufgestellten Grundsatzen durchzutuhren, 
so ist die Gegenwart des Tonsetzers eben so nothig, als die Sonne den 
Schopfungen der Natur. Er ist die Seele und das Leben ^derselben ; ohne 
ihn bleibt Alles in Unordnung und Verwirrung: allein er muss gefasst 
sein, alien Hindernissen zu begegnen, wie man Menschen begegnet, 

16* 



244 

welehe, irngeaclitet sie Augen und Ohren liaben, dennoch unbekiimmert 
um die Begchaffenlieit derselben sich berufen fuhlen, fiber die schonen 
Kunste zu urtheilen, bios, well sie nur mit Augen und Ohren begabt 
sind: denn die Wutb, gerade fiber Dinge, die man am wenigsten ver- 
steht, schaell abzusprechen, ist ein gewobalicher Fehler der Menschen. 
Ja, einer der grSssten Philosopher! dieses Jalirliunderts hat es in jiingster 
Zeit gewagt, fiber die Musik zn schreibea und seine Ideen als Orakel- 
spruche mit der Ueberschrift zu veroffentlichen : 3 ,Sogni di Ciechi e Pole 
di Romanzi". Eure Hoheit werden das Drama des ,,Paris" bereits ge- 
lesen und dabei bemerkt liaben, dass es der Binbildungskraft des Ton- 
setzers jene starken Leidenschaften, jene grossartigen Gemalde, jene 
tragischen Situationen nicht darbietet, welche in der 7r Alceste" die Ge- 
mfither der Zuschauer erschfittern und zu ernsten Affeeten Gelegenheit 
bieten. ffier wird man dieselbe Kraft und Starke in der Musik^ eben 
so wenig eiwarten, als man in einem im hellen Licht gemalten Bilde 
weder dieselbe Kraft des Halbdimkels, noch dieselben grellen Gegensatze 
fordern wurde, die der Maler nur bei einem Gegenstande anwenden kann, 
der ilim zur Wall eines beschrankten Lichtes allein Eaum gewahrl In 
der r Alceste u handelt es sich um ein Weib, das nahe daran ist, ibren 
GemaM zu yerlieren, den zu retten sie Muth genug besifet, um unter 
den scbwarzen Schatten der Nacht in einem schauerlichen Haine die 
Geister der Unterwelt lieraiifzubesctworen, und die nocli in ihrem letzten 
Todeskampfe ffir das ScHcksal ihrer Kinder zittera und von einem an- 
gebeteten Gatten sich gewaltsain trennen muss. Im ,,Paride" handelt es 
sich jedocli um einen liebenden Jungling, der mit der Sprodigkeit eines 
zwar edlen, aber stolzen Weibes zu kampfen hat, und diese endlich mit 
alien Kunsten erfinderischer Leidenscliaft besiegi Darum habe ich mir 
Mfihe gegeben, einen Farbenweclisel zu ersinnen, den ich in den ver- 
schiedenen Charakteren des Plirygischen und Spartanisclaen Yolksstanimes 
aufsuchte, indem ich dem unbeugsamen und rauhen Sinn des Einen den 
zarten und weichen des Anderen gegeniiberstellte. Darum glaubte ich, 
dass der Gesang, der in meiner Oper lediglich die Sfcelle der Declamation 
vertritt, in der Helena der Hirer Nation angeborenen Eauhheit nachahmen 
musse; ebenso dachte ich, dass, well ich diesen Charakter in der Musik 
festzuhalten suchte, man mir es nicbt zum Pehler anreclmen wtirde, wenn 
ich mich je zuweilen bis zum Trivialen herabgelassen habe. Will man 
die Spur der Wahrheifc verfolgen, so darf man nie vergessen, dass nach 
Maassgabe des jorliegenden Gegenstandes selbst die grossten Schonheiten 
der Melodie und Harmonie zu Mangeln und Unvollkommenheiten werden 
konnen, wenn man sie am unrechten Orte gebraucht. Ich erwarte von 



24:5 

meinem , 5 Paride" keinen besseren Erfolg, als von meiner 5 .Alceste", in- 
s ofern es die Absicht betrifft, in den Tonsetzern die gewunschte Ver- 
anderung hervorzubringen ; doeli alle schon langst vorhergesehenen Hin- 
dernisse sollen mich keineswegs abschreeken, zur Erreiclumg meines giiten 
Zweckes aeue Versuche zu machen. Erhalte ieh nur die Zustimmung 
Eurer Hoheit, dann werde ich mit zufiriedenein Gemuthe mir stets sagen 
konnen: )9 Tolle Syparium\ suffidt mild uum Plato pro cintcto populo". 
Ich babe die Ehre mit tiefster Ehrfttrcht zu sein" etc. etc. 

Im Jahre 1769 wurde Gluck nach Parma zu einer furstlichen 
VennShlungsfeier berufen und yerherrliclite diese durcli seine Kunst In 
demselben Jahre lernte S a 1 i e r i ihn kennen. Unter G I u c k *s Protection 
kam die eiste Oper desselben zur Auffiitrung. Sie gefiel und Salieri's 
Gluck war gegrundet. Von nun an unterbreitete derselbe jedes seiner 
Werke dem Urtheile Gluck 's. Jetzt, nach diesem Aufsehwunge kunst- 
lerisclier Thatigkeit, lebte der Letztere einige Jahre hindnrch in mog- 
lichster Zuruckgezogenheit. Er componirte Liecler und Oden von Klop- 
stock, aucli einige Scenen aus dessen 55 Hermannsschlaclit is , eines seiner 
Hauptwerke, das leider der Kachwelt entzogen ist, well es der Tonsetzer 
nicht niedergeschrieben hat. Aber sclion war er mit netien Planen be- 
schaftigt, da die Erfolge seiner letzten "Werke ihn keineswegs zufriedenge- 
stellt batten, Er sail ein, dass er seine Plane menials ganz verwirklichen 
wurde, wenn er dazu nicht ein vortreffliches tragisches Gedieht, ein 
prachtvolles Theater und vorzugliche Darsteller benutzen konnte. Dies 
Alles hoffte er in Paris zu finden. Er besprach sieh deshalb mit dem 
Attache der franzosischen Gesandtschaft in Wien, B a illy du Eollet, 
einem kunstsinnigen Manne, der G luck's Bekanntschaft schon vor Jahren 
geinacht und nun in Wien die besten Opera desselben gehort hatte. 
B a illy du Eollet wahlte im Einverstandniss mit dem Tonsetzer Ea- 
cine's ,,Iphigenie in Aulis" und bearbeitete dieselbe als Operngedicht 
Jetzt wendete sieh Gluck nach Paris und erreichte endlich, wiewol 
nach vielen vergeblichen Bemuhungen, (lurch Yermittlung der Dauphine 
Marie Antoinette, unterstutzt auch durch die Bemifliungen Maria 
Theresia's und Joseph's, seine Absicht Im Spatsommer des 
Jahres 1773 begab sieh Gluck mit seiner ? ,Iphigenie in Aulis" nach 
Paris. Seine Gattin und seine AdojjMvtochter und Nichte Marianna 
begleiteten ihn. Dort angekommen, erschrak er zwar nicht wenig fiber 
die barbarische Beschaffenheit des franzosischen Gesanges, fiber jene zahl- 
losen Mangel und tiblen Gewohnheiten, die auch Anderen schon zum 
Bewusstsein gekommen, u. A. von Jean Jacques Eousseau schon 
fruher hart getadelt worden waren. Aehnliches begegnete ihm in Bezug 



246 

auf die Orchesterkrafte. Er musste die grosste Muhe anwenden, nm die 
Ausfahrenden seinen Zwecken dienstbar zu machen. Ausgertstet indess 
mit unerscMtterliclier That- und Willenskraft, wusste er alle Hinder- 
nisse zu beseitigen, so dass endBch die erste Auffuhrung am 19* April 
.1774 stattfinden konnte. Bei der ersten Vorstellung wurden viele Stticke 
mit rauschendem Beifall begrflsst, der Schluss jedocli kalt aufgenomnien. 
Dock schon naeh der zweiten Torstellung erfreute die Oper sich eines 
gunstigeren Erfolges, der sicli fortwahrend steigerte, obschon Partei- 
ungen entstanden und hartnackige Kampfe sich vorbereiteten. Gluck 
schritt nun sogleieli zui Umarbeitung seines Orpheus", der am 2. August 
desselben Jahres aufgefuhrt und mit Entzucken aufgenonamen wurde. 
Mit Ruhm belohnt und mit Gold liberMuft kehrte Gluck nach Wien 
zuruck, um auch seine ubrigen Opern fur die fi'anzosische Btiline einzu- 
richten. Er reiste liber Strassburg, wo er die Preude hatte, eine kurze 
Zeit inKlopstock's Sesellschaffc zu yeiieben. Bei diesem Zusannnen- 
treffen horte der Letztere Gluck's Mchte und mehrere Compositionen 
aus seiner 75 HermannsscTilaclit a . Es geschah dies zu Anfang des Jataes 
1775. Am 11. August desselben Jahres wurde G luck's Operette ,,La 
Cytliere assiegee" in Paris aufgefiihrt. Dieses Stuck brachte indess nur 
eine geringe Wirkung hervor; walirscheinlich hatte man in des Ton- 
setzers Abwesenheit nicht den zur Auffiihrung desselben nothwendigen 
Heiss angewendet. 

Gluck hatte in Paris die Dichtung zu der Oper ,,Roland" von 
Quinault empfangen, nm sie in Musik zu setzen. Nach Wien zurucfc- 
gekehrt. arbeitete er nicht nur fleissig an cliesem Werke, sondern auch 
an desselben Dichters ,,Arrnida", ebenso richtete er seine Oper ,,Alceste" 
fur die Paiiser Akademie der Musik ein. Spater ging er wieder nach 
Paris und brachte seine ,,Alceste" am 23. April 1776 zur Auffuhrung. 
Bei der ersten Vorstellung fiel indess diese Oper nicht nur ganzlich 
durch, sie wurde geradezu ausgezischt. Um dieselbe Zeit empflng Gluck 
aus Wien die Nachricht, dass seine Mchte einen Tag vor der Auffuhrung 
gestorhen sei. Der schlimme Erfolg der ,,Alceste" war indess nur ein 
momentaner, die Einsichtsvolleren schrieben die Ursachen der linMschen 
Dichtung, insbesondere der Unbedeutendheit der Entwicklung zu. Man 
suchte das Unpassende ein wenig zu entfernen, und das Werk fand dann 
einen gleichen Erfolg wie die friiheren. 

Eine Eeihe von Jahren war auf diese Weise verflossen, und Gluck 
hatte in Paris festen Puss gefasst Trotz alleclem aber war er noch 
keineswegs der unumschrankte Herrscher im Reiche der Tonkunst. Es 
gab dazumal drei Parteien in Paris. 



247 

Auf Lully war in Frankreich Jean Philippe Bamean, geboren 
zu Dijon am 25. September 1683 5 gefolgt. ,*Er war schon mehr als ein 
reifer Mann", bemerkt Sehelle in seiner vorhin genannten Schrift, 
,,ein Funfziger, als ihm der Zutritt zur Btihne gestattet wurde. Ein 
gescMckter Meister auf Kkvier und Geige, ein tnchtiger Orgelspieler, 
vor allem aber berubnt als erster Theoretiker seines Landes, war er 
im Besitz aller technisehen Mittel, die ihm sein Jalirhimdert darbot. 
Seine reichen Kenntnisse. verbunden mit einer bedeutenden Phantasie 
nnd festein Charafcter, setzten ihn in den Stand, die Oper naeh alien 
ihren Beziehungen grandlich durchzubilden. Sclion seine ersten Ver- 
suche auf dem Gebiet der dramatischen Musik, 3 . Samson 41 mid ^Hifpo- 
lyte et Aride", zeigen nach Form und Conception einen iinendliclien 
Abstand zwischen den Opern seiner Vorganger. Dasjenige Feld indess, 
auf welchexn der Fortscluitt am sichtbarsten hervortrat, waren die Arie 
tmd der Instrumentalsatz. Grossartig namentlicli tritt sein "Wirken auf 
clem Gebiet des letzteren hervor, dessen Yater er im watren Sion cles 
"Worts genannt werden kann." Eameau hatfce die dtircli Lully be- 
grundete Eichtung fortgesetzt, obschon er bereits den Stil und zwar niclit 
selten auf Kosten des Worts musikalisch erweitert hatte, so dass sich. 
selbst ausgedehntere Coloraturen bei ilim vorfinden, wiewol er eigent- 
lich gegen das Italienisdie gestimmt war. 

Er schrieb, von einer Eeise nach. Italien zuruckgekehrt, die vorMn 
genannte Oper ^Hippolyte et Aricie", welche mit Beifall aufgenommen 
wurde. Dadurch aufgemuntert, liess er, der ein totes Alter erreichte, 
eine grosse AnzaH abnlicher Werke, nnter diesen r Zoroaster" und Castor 
und Pollux", folgen. Im Jaire 1752 musste er es indess erleben, dass 
eine italienische Operngesellschaft ihm seine Erfolge streitig machte, so 
dass eine grosse Partei sieh jetzt der italienisclen Oper zuwendete. 
Auch. firfiber batten bereits Parteiungen bestanden. Sclion seit dem Tode 
L ullj's hatte sicli in den Schichten der guten Gesellschaft eine Partei 
zu Gunsten des italienischen Gescimacks gebildet, welcher yon nationaler 
Seite her mit dem liartnackigsten Widerstancle begegnet wurde. Sobald 
jedocl, Eameau in der Oper festenFuss gefasst hatte, nalnn der Streit 
eine coteriehafte, personliclie Farbung an. Lully 's und E a mean's 
Anlianger, die bis dahin zum Theil einander aucl gegentibergestanden 
batten, vereinigten sich jetzt, indem dieselben gemeinschaftlicli gegen 
die Italiener Opposition machten. Sclion jetzt begann demnach der be- 
rtihmte Musikstreit, der spater durch Gluck und Piccini noch gesteigert 
werden sollte. Die Parteien erMelten die Namen dfer Buffonisten 
und Antibuffonisten. Eke Gesellschaft italieniseher Sanger hatte in 



248 

Paris die Brlaubniss erhalten, im Saale der Grossen Oper komische Opern 
aufeufiihren, mid wurde deshalb >,Les Bouffons" genannt. Sie versammel- 
ten sich allabendlich im Opernsaale, wo die Einen standhaft verdamm- 
ten, was die Anderen in den Himmel erhoben. Der Brfolg indess war 
lange Zeit Mndiuch ein scliwankender , so dass jede der Parteien ab- 
wechselnd sicli eines momentanen Sieges erfreuen konnte. Die Franzosen 
hatten eben einen Vortheil emmgen, als Rousseau auftrat und sich 
entscMeden auf die Seite der Italiener stellte, indem er mit Eecht 
die Mangel der franzosischen Musik bekampfte. Dies hatte zur Folge, 
dass dadurch die letztere gefordert, dass mannigfache Fortschritte an- 
gebahnt wurden. Es erschienen jetzt die vorzuglicheren , gelauterten 
Schopfungen eines Dnni, Philidor, Monsigny,. Gretry u. s. w., 
den Sinn for gute Musik im Bereiche des Franzosisch-Nationalen weekend. 

Es gab demnach dazumal drei Parteien in Paris, die Anhanger 
Lully's und Kameau's, die ItaJiener, endKcb die Anhanger Grluck's. 
Gluck stand sclion auf der Hohe seines Euhmes, als die Preunde des 
ItaUeniscten, die ComtesseDu Barry, die Geliebte des Dauphins, an 
der Spitze, es durctgesetzt hatten, dasB einer der gefeiertsten italienischen 
Operntonsetzer, Piccini, nach Paris berufen wurde. Dieser, ein Nea- 
politaner und Schliler des neapolitanischen Conservatoriums, L. Leo's 
und Dur ante's, war einer der bedeutendsten Meister jener Zeit. Seine 
Opern, deren er eine grosse Anzahl geschileben, wurden in alien Haupt- 
stadten Europas gegeben. Nachdem er das Conservatorium verlassen 
hatte, weilte er vorzugsweise in Eom und ISTeapel, der Liebling des 
PubMcums. Als er nach Paris kam, war ihm ein grosser Euf schon 
Yorausgegangen. Die glanzenclen Erfolge eines seiner "Werke, seiner 
njBonne fille", der Umstand, dass Gretry sich seinen Schuler nannte, 
hatten ihn besonders gehoben. So betrat er im Jahre 1776 Paris. Man 
libergab ihin dasselbe Gedicht, welches auch Gluck in Musik zu setzen 
tibernommen hatte, die Oper ,,Eoland" von Quinault. Dies wurde daher der 
Grand, dass Gluck von der Ausfuhnmg dieser Aufgabe absah. Piccini fand, 
protegirt vom Konig, grosse Erfolge mit seinen Werken, so nanientlich so- 
gleich mit seiner ersten Oper ,,Eoland", und die nattirliche Folge war, dass 
der alteSfcreit nun erst recht erwachte, nun erst in sein hochstes Stadium trat. 

Am 23. September 1777 fand die ersfce Aufflihrung der Gluck'schen 
? ,Araida a statt. Auch Mer wurden die ersten Vorstellungen gleich- 
gtiltig aufgenommen, nach und nach aber gewann das Werk einen immer 
gunstigeren Boden. 

Endlich aber sollte der entscheiclende Moment kommen. Dies war 
der Fall im Jahre 1779. Schon am 30. November 1778 war Gluck 



249 

wieder in Paris angelangt, um seine ,,Iphigenie in Tauris" zur Auf- 
fuhrung zu bringen. Am 18. Mai cles folgenden Jalires wurde diese 
Oper zum ersten Male gegeben und gewann einen so grossen Erfolg, 
wie keines der Miberen Werke Gl uck's in Frankreicb. Gluck liatte 
mit seiner 55 Ipl]igenie in Tauris 4 ' nocb eine andere Operndiclitung n E<fio 
et Narcisse" zur Composition mit nach Paris genornrnen. Dieses Werk 
wurde funf Monate spater aufgefukrt, erhielt aber nur einen geringen 
BeifalL Die Aufhalime des yorausgegangenen war der glanzendste 
Moment, so dass sicb diesem gegeniiber eine ,,IpMgenie" von Pie- 
cini, welche am 23. Januar 1781 zur DarsteUung kam, nicbt bal- 
ten konnte. 

^-^'So liatte, sagt .Set ell e, wabrend ganz Europa sicb den Sirenen- 
klangen der italienisclien Musik beugte, diese in Paris das Bollwerk 
gefunden, an dem sicb. ilire Macht brecben sollte, und der genannte 
Autor findet clarin einen Beweis fur die eigene Mission der franzosiscben 
Kunst. Aucli die Bedeutung des Bouffonenkriegs,- bemerkt derselbe, be- 
ruhe auf dem Wesen und der Mission der franzosiseheii Oper. 

Die letzte Zeit seines Lebens verbracMe Gluck wieder in Wien. 
Er litt an den ungltickliclien Folgen eines Scblagflusses. Im Jabre 1783 
wurde er von der Pariser Akadeinie der Musik aufgefordert, einen Com- 
ponisten vorzuscblagen , der die Faliigkeit besitze, nacb den von iluii 
aufgestellten Grundsatzen zu arbeiten. Gluck sclilug Salieri vor, 
und dieser scbrieb demzufolge fur Paris die Oper n Les Itanaldes", welcle 
Gluck zu componiren abgelebnt batte. Das Werk wurde 1784 gegeben, 
und als Verfasser desselben erscMenen anfengs Gluck und Salieri 
gemeinscbaftlich auf dem TiteL Spater, nacb einer bedeutenden Anzalil 
von Vorstellungen, erklarte Gluck in einem Pariser Joui'nal, dass Salieri 
der alleinige Verfasser sei. 

Gluck starb am 15. November 1787 in Folge eines Diatfehlers und 
binterliess seiner ihn liberlebenden Gattin ein grosses VermQgen. 

Vielfacb. bat man gefragt, wie es gekommen, dass Gluck so ausser- 
ordentliebten Beifall in Paris gefunden bat, und die erHarenden Ursacben 
in Nebenumstanden gesucbt. Die nacbsten Ursach.en liegen ohne Zweifel 
theils in dem Grossen, in dem Ausserordentticben der Kunstscbopfongen 
selbst, theils in den eigenthumlich gestalteten, scion .angedeuteten Ver- 
lialtnissen, in die er mit der entscbeidenden That eintreten konnte, Wie 
der Vogel in den Zweigen singt, um zu singen, so liatte Italien gesungen 
in einem freien, melodiscben Ergeben der Singstimme, obne Eticksicbt 
auf besonderen, cliarakteristiscben Ausdruck, und Italien batte so der 
Melodie eine formelle, sinnlich sclione Vollendung gegeben. Gluck, 



250 

seinem allgemeinen Standpunete, seinem Princip dramatisclier Wahrheit 
im Ausdrucke zufolge, musste den Inlialt der Worte in ihrer Besonder- 
lieit selnen Melodien einpragen und den Verlauf derselben demzufolge 
bestimmen, musste clieselben zwischen jene frei fur sich bestehende Ge- 
sangsmelodie, welche nur die Grrundstimmung in sich aufnimmt und dann 
unabMngig yom Texte sich ergeht, und die gewohnliche Declamation 
stolen, musste den rhetorisclien Accent in seinen musikalischen Schaf- 
fensprocess aufnehmen. Dies aber war es, was dem franzosischen Wesen 
gemass war, was sclion Lully zur Geltung gebracht hatte. Lully 
hatte in ahnlicher Weise Gluck in Frankreicli vorgearbeitet, wie Purcell 
in England Handel's VorgSnger geworden ist. Es war niclit nur ein 
Kampf um Personlichkeiten, es liandelte sich niclit wie auf dem Ge- 
biet der Tonkunst so oft um personliche Eitelkeit und Amnaassung. 
Wenn das Publicmn kein anderes Interesse zu haben scHen, als sicli 
uber Gluck und Piccini zu streiten, so war dies ein Kampf um 
Principe, ein Kampf um die Weltlierrscbaft des Italienischen auf der 
einen und des Deutsch-Franzosisclien auf der anderen Seite. Dem bis 
dalin allein geltenden italienisclien Princip trat jetzt ein neues, geistig 
bedeutenderes, welches den Aufschwung der Oper zu walirhafter Kunst- 
bedentung zur Folge hatte, gegenuber. "Was wir spater yereinigt er- 
blicken, und was in dieser Vereinigung den ersten grossen Hohepunct 
auf dem Gebiet der Oper bezeichnet, trat hier zunachst nocli geschieden, 
ja feindlicli gesondert auf. Es gait zunachst der bis daMn allein berr- 
sclienden italienisclien RicMung gegenuber die deutscli-franzSsische selbst- 
standig herauszuarbeiten, in 'ihrer Geschiedenheit und Sonderung geltend 
zu machen. G 1 a c k war berufen, dieser Aufgabe sich zu unterziehen, 
und dieselbe zu losen. Er steht mit dem einen Fusse in Frankreicli, 
mit dem anderen in Deutschland, und hat dem entsprechend auf den 
Fortgang der Oper in beiden Landern den machtigsten Einfluss gehabt. 
Was seit der Erfindung der Oper nur eine Tauschung gewesen war, 
wurde durch ihn zum ersten Male zur Wahrheit, die Oper ward zum 
Kunstwerk erhoben, das griechische Drama ein bis clahin immer 
unisonst Erstrebtes zum ersten Male auf diesem Gebiet lebendig, 
wenn aucli immer nocli nicht im sfcrengen und eigentlichen, im hochsten 
.Sinne, so doch wenigstens insoweit, als es jener Zeit tiberhaupt mog- 
lich war. 

Hat man dies anerkannt, dann ist es aUerdings auch erlaubt, auf 
Nebenumstande hinzudeuten. Schon hatte in Frankreicli jene Umbildung 
der Ansicliten begonnen, welche in wenigen Jahren zur weltumgestal- 
tenden That werden sollte, und G luck's heroische Schopfungen fanden 



251 

darum einen yerwandteren Boden. Die grossen Dichter der franzosischen 
Nation batten ausserdem das Interesse an heroischen Stoffen, wie sie 
Gluck bearbeitete, geweckt, uncl auf diese Weise mittelbar die neue 
Eichtung angebahnt. 

Auch vom Glftck -~ man hat dieses Wortspiel gemacht wurde 
Gluck begunstigt, und man kann Mnzufugen, dass der Sieg ihm ohne 
die Vereinignng mehrerer gliicklicber Umstande schwerer geworden sein 
wurde. Ein Gliick war es ftr ilm, dass die Konigin Marie Antoi- 
nette, die als Erzherzogin in Wien seine ScMlerin gewesen war, seine 
Partei nahin, ein Gluck, dass J. J. Eousseau fur ilin kampfte, bekennend, 
Gluck babe seine ganze Theorie zerstort imd alle seine Ideen geandert, 
ein Gluck, dass iiberhaupt die geistreicbsten Manner imd Frauen, so die 
Grafinv. Genlis, Yoltaire, sicb lebhaft interessirten, nicht, wie es so 
haufig noch bis herab anf die neueste Zeit geschehen ist, das Musikalische, 
als ibrer unwtrdig, zur Seite liegen liessen. "Was Eousseau betrifffc, so 
wurde sclion vorhin zwei Mai anf diesen TJmstand Mngedeutet Eousseau 
batte fruber der franzosiscben Spracbe sowol wie der Nation alles Musika- 
lische abgesprochen; Gluck dagegen schatzte das Franzosisclie lioch, h5her 
als das Italienisclie. Das letztere Melt er bei der Haufung der Vocale mehr 
als jede andere Sprache geeignet, Passagen und reiche Gesangsfiguren zu 
tragen ; in dem Franzosischen fand er mehr Klarheit und Kraft ? grossere 
Angemessenheit fur dramatischen Ausdruck. Eousseau war durcb die 
That widerlegt, und ehrlich genug, dies einzugestehen. 

Anders verhielt es sich mit der Au&ahine der Glue k'schen Werke 
in jener Zeit in Deutschland. Es kamen dieselben zwar auch bier 
keineswegs ohne alien Brfolg zur Auffiihrung. So wurde z. B. 5? Iphi- 
genie in Tauris" im Jahre .1781 zum erst en Male in Wien mit dem 
ausserordentlichsten Beifall gegeben; diese Siege waren im Ganzen aber 
doch mehr nur vereinzelter Natur, uncl in Berlin z. B* bedurffce es weit 
lingerer Zeit, bevor Gluck's Schdpfungen und das darin ausgesprochene 
Princip zur Geltung kamen. Der norddeutschen Opposition gedachte 
ich schon welter oben im Vorubergehen. Insbesondere war es der als 
Geschichtschreiber bekannte Fork el, welcher durch die bornirte Kritik, 
welche er lieferte, seinen ubrigen Verdiensten wesentlich Eintrag gethan 
hat. Das Verdienst, in Deufcschland tiber Gluck zuerst die Augen 
geoffnet zu haben, gebtilirt namentlich J. F. Eeichardt. Bemerkens- 
werth aber ist es, dass die grossen Dichter und Schriftsteller jener 
Zeit Gluck's Verdienste fruber zu schatzen imd in ilirem ganzen Um- 
fange anzuerkennen verstanden, als die Musiker, und es ist diese That- 
sache ein neuer, trauriger Beleg fur die nur zu haufig wahrnebmbare 



252 

Unlust de* Letzteren, auf Neues einzugehen. S eh mid in dem ange- 
fubrten Werke giebt mehrere interessante Mittheilungen, was die Urtlieile 
damaliger Schriftsteller liber Gluck betrifft. Kl op stock war es, der 
den Ausspruch zu dem seinigen machte, Gluck sei der einzige Poet 
unter den Musikern. Gluck aber war es auch, der von sich selbst 
sagte, dass er, sobald er componire, zu vergessen suche, dass er Musiker 
sei. Aehnliche Urtlieile , wie das von Klopstock, besitzen wir u. A. 
von Herder und Wie land, und was die Sache an sicli obne weitere 
Beziehung auf Gluck betrifft, aucli von Lessing. Die Ausspruche 
sind von grosser Wichtigkeit, und Sie erlauben mir daber, Ihnen die- 
selben mitzutheilen. Horen wir zunaehst Wie land: ,,Endlicli haben 
wir die Epoche erlebt, wo der inachtige Genius eines Gluck das grosse 
Werk der musikalischen Eeform unternonunen bat, das, wofern es jemals 
zu Stande kommen kann, nur durch einen Feuergeist, wie der seinige, 
bewirkt warden musste. Der grosse Success seines Orpheus", seiner 
,,Iphigenia" wirde Alles hoffen lassen, wenn nicbt unuberwindliche 
Ursacben gerade in jenen Hauptstadten Europas, wo die schonen Ktinste 
ibre vornehmsten Tempel baben, sicli seinem Unternebmen entgegen- 
setzten. Eunste, die der grosse Haufe bios als Werkzeuge sinnlicher 
Wolluste anzusehen gewobnt ist, in ibre ursprunglicbe Wtirde wieder 
einzusetzen und die Natur auf einena Tbrone zu befestigen, der so 
lange von der willkiiiiicben Gewalt der Mode, des Luxus und der 
iippigsten Sinnlichkeit usurpirt worden: ist ein grosses und kuhnes 
Unternehmen! Aber zu almHcb dem grossen Unternebmen Alexander's 
und Clsar's, aus den Trinnmern der alten Welt eine neue zu scbaffen, 
um niclit ein gleicbes GescHck zu baben! Eine Eeihe von Glucken 
(so wie zum Project einer Univergal-Monarcbie eine Reibe von Ale x an- 
dern und Casarn) wurde dazu erfordert, uni diese Oberberrschaft der 
unverdorbenen Natur tiber die Musik, diesen einfachen Qesang, der, 
wie Mercur's Scblangenstab, die Leidenscbaften erweckt oder einscblafert 
und die Seelen ins Elysium oder in den Tartarus fiibrt, diese Verban- 
nung aller Sirenenkunste , diese scbone Zusammenstimmung aller Tbeile 
zur grossen Einheit des Ganzen auf dem lyrischen Scbauplatze berrschend 
und fortdauernd zu macben. Gluck selbst, bei allem seinen Entbusi- 
asmus, kennt die Menscben und den Lauf der Dinge unter dem Monde 
zu gut, um so Etwas zu hoffen! Schon genug, dass er uns gezeigt hat, 
was die Musik tftun konnte, wenn in diesen unseren Tagen irgendwo 
in Europa ein A then ware, und in diesem Atben ein Per ikies auf- 
trate, der flir das Singspiel tlum wollte, was jener fiir die Tragodien 
des Sopbokles und Euripides that!" Herder spricht sich in 



Beziehung auf G luck's Prineip wie folgt aus: ,,Der Fortgang des 
Jahrhunderts wird uns auf einen Mann fuhren, der diesen Trodler- 
krana werthloser Tone verachtend die Nothwendigkeit einer innigen 
Verknupfung rein menscHiclier Empfindungen und der Fabel selbst mifc 
seinen Tonen einsah. Von jener Herrscherhohe , auf welch er sich der 
gemeine Musicus brustet, dass die Poesie seiner Kunst diene, stieg er 
hinab und liess, soweit es der Geschmaek der Nation, fur die er in 
Tonen dichtete, zuliess, den "Worten, der Empfindung , der Handlung 
selbst seine Tone nur dienen. Er hat Nacheiferer , und vielleiclit eiferfc 
ihm bald Jemand vor: dass er namlich die ganze Bude des zerschnittenen 
und zerfetzten Opem-Klingklanges mnwirft, und ein Odeum aufrichtet, 
eiu zusammenhangend lyrisches Gebaude, in welchem Poesie, Musik, 
Action, Decoration Eines sind". 

Entschiedener ferner, als es Les*sing in den nachstehend mitgetheil- 
ten "Worten thut, kann man das Gluck'sche Prineip nicht anerkennen. 
Er sagt: ,,Die Vereinigung willkurlicher auf einander folgender Zeiclien 
mit naturlichen auf einander folgenden horbaren Zeiclien ist unstreitig 
unter alien moglielien die vollkommenste , besonders wenn noch dieses 
Mnzukommt , dass beiderlei Zeichen nicht allein far einerlei Sinn sind, 
sondern auch von ebendemselben Organe zu gleicher Zeit gefasst und 
hervorgebracht werden konnen. Von dieser Art ist die Verbindung der 
Poesie und Musik, so dass die Natur selbst sie nicht sowol zur Ver- 
bindung, als vielmehr zu einer und derselben Kunst bestimmt zu haben 
scheint. Es hat auch wirHich eine Zeit gegeben, wo sie beide zusam- 
raen nur eine Kunst ausmachten. Ich will indess nicht leugnen, dass 
die Trennung nicht natiirlich erfolgt sei, noch weniger will ich die 
Ausubung der einen ohne die andere tadeln; aber ich darf doch be- 
dauern, dass durch diese Trennung man an die Verbindung fast gar 
nicht mehr denkt , oder wenn man ja noch daran denkt , man die eine 
Kunst nur noch zu einer Hulfskunst der anderen macht, und von einer 
gemeinschaftlichen Wirknng, welclie beide zu gleichen Theilen hervor- 
bringen, gar Mchts rnehr weiss". - Sie sehen, jene Manner hatten 
eine viel deutlichere Einsicht in die Aufgabe der dramatischen Musik, 
als die Tonsetzer, und dies bis herab auf die neueste Zeit; eine deut- 
lichere Einsicht auch, als jene franzosischen bei dem Kampfe in Paris 
betheiligten Schriftsteller, denen der Kernpunct der grossen hierher ge~ 
horigen Pragen nicht zum Bewusstsein gekommen ist. 

Gluck gehort auf dem Gebiete der dramatischen Tonkunst zu den 
Mannern, welche die hdchste Auszeichnung verdienen. Fast keiner 
seinen grossen Nachfolger E. Wagner ausgenommen hat so wie er 



254 

seine Blicke ernzig und allein auf das Ewige geriehtet, und, jede Mode 
yerachtend, nur das fur alle Zeiten Gultige zur Darstellung zu bringen 
gesucht Fast bei keinem Tonkimstler ausser ihm zeigt sich eine solche 
energische Consequenz , eine solche eiserne Beharrlichkeifc des Willens, 
ein solch hohes, bewusstes Kunststreben , und es ist grossentheils nur 
dem stets erneuten Andringen des alten Opernprincips, dem Umstande, 
dass man bald nach ihm den von ihm betretenen Weg ^ wieder zu ver- 
lassen begaim, zuznschreiben , wenn Glnck noch nicht allgemein hn 
grosseren Publicmn die Stellung einninimfc, welche ihm gebithrt, die 
Stellung eines der grossten Ktinstler aller Zeiten. 

Mt eiaer BeMedigung, welche spatere Opern nur selten zu ge- 
wahren yermSgen, mit dem Bewusstsein , wirklich ein Kunstwerk yor 
tins zu haben, konnen wir noch jetzt der Auffiilirung Gluck'scher 
Opern beiwolmen. Der grosse Verstand Gluck's ist es, sein Alles 
uberschauender Blick ? welch er diese Befriedigung erweckt. Wenn die 
spateren grosseu Operneoinponisten weit mehr als G 1 u c k Phantasie und 
Empfindung beschaftigen , so ist doch fast keiner, welcher diese Massi- 
gung. diese Beherrschung, .diesen stets auf das Ganze gerichteten Blick, 
^lege verstandige Klarheit zeigte. Gluck hat zuerst Chaxaktere geschaf- 
fen im dicliterisehen Sinne, durch bestimnite Umrisse begrenzte Ge- 
stalten musikaliseh dargesteflt, und die Musik zu solcher Scharfe der 
Charakteristik ^ugespitzt. Mit grosser Meisterschaft weiss er gleich beim 
Beginn seiner Diamen das Wesentiiche, den inneren Kern jeder Person- 
lichkeit zur Darstellung* zu bringen, durch das gauze Stuck hindurch 
diese Eigenthtiinlichkeit consequent zu entfalten und bis zur Vollendung * 
zu entwiekeln. Mit grosser Meisterschaft weiss er die Instrmnente zu 
vertheilen, und den verschiedenen Charakteren ihrer Eigenthfirnlichkeit 
geiniiss beizuordnen , so dass, wahrend spatere Oomponisten von dem 
ganzen Orchester fortwahrend mehr oder weniger Gebrauch machen, hier 
bei Gluck im Gegentheil eine kunstvolle Vertheilung, ein kunstvolles 
Anfsparen bis zum rechten Moment sieh zeigt, eine Massigung, welche 
nicht ruhmend ^nug heryorgehoben werden kann, Mit grosser Meister- 
schaft endlich gestaltet Gluck jede Erfindung, jede Instrumentalfigur 
dem Plane des Ganzen gemass. Aus Allem spricht eine grosse, tiber- 
schauende, das ganze Werk bis in jede Einzelheit durchdringende 
Intelligenz, eine unerschutteiiiche Consequenz. Hatten die Opernformetf 
vor Gluck eine feste, unbewegliche , von dem Inhalt unaBhangige Ge- 
stalt gewonnen, so dass die innere Seele der Dichtung nicht mehr zur 
Erscheinung kommen konnte, so hat Gluck darin eine neue Wendung 
herbeigefiihrt , indern er uber Manier und Formalismus hinaus schritt 



255 

und die Q-estaltung lediglich von dem Gange der Saclie abhangig maehte. 
In jenem fruheren bios musikalischen Rahinen clramatisches Leben zu 
entwickeln, war unmoglich; Gluek erkannte die Nothwendigkeit, Alles 
in*Fluss zu bringen, mit Arien, Reeitativen, Ghoren zu wechseln, wie 
es der Augenblick gebot, ohne erst jeden Satz rein musikalisch auszu- 
fuhren, und zu einem bestimmten Abschluss zu bringen. Gluck end- 
licli hat sich nicht auf die Trivialitaten gewohnlieher Operntexte be- 
schrankt; er hat sorgfaltig gewahlt, und machtige Leidenscliafteri von 
wirklich substantiellem Gelialt, Yater-, Mutter-, Gatten-, Gescliwister- 
liebe, mannlichen Muth, Kulinheit, Zorn zur Darstellung gebracM. Er 
hat alle diese Seelenregungen, diese Leidenschaften mit einer Raturwalu- 
heit dargestellt, dass der Sinn und das Interesse fur seine Sclopfungen 
nie untergehen kann. 

Es ist jedoch weniger die schopferische Phantasie, welche Gluck 's 
Charaktere in das leben gerufen hat, es ist ein inehr verstandiges Er- 
kennen, und die Gestalten desselben zeigen darum eine gewisse Mono- 
toiiie, einen gewissen Mangel an Lebenswaime; es fehlt ihnen jene 
liebens- und bewunderungswurdige BeweglicM:eit 7 jene Geschineidigkeit 
und Mannigfaltigkeit, welche Mozart's Dichtungen aus^eiclinet. Gluok's 
Seele ist nur von Ernst erfullt, und seine Gestalten tragen danun eine 
und dieselbe Farbung, eine gewisse antike Grossartigkeit ; man hat sie 
. Marmorbildern verglichen, plastisch genannt, wie jene Marmorbilder, 
aber auch kalt und unbeweglich, wie jene. Es war Gluck niclit ge- 
geben, jenes Zauberreich der Phantasie zu betreten, welches Mozart und 
seine Nachfolger erschlossen haben, jene Kunstvollendung und classische 
Abgeschlossenheit zu erreichen, welche Resultat schopferischer Phanta- 
sie und tiefen Eamstverstandes zugleich ist. Gluck hat allerdings 
das, was er beabsichtigte , in Folge des Standpunctes seiner Zeit, in 
Folge des Mangels an Yorgangern, oftnials nicht befriedigend zur Er- 
scheinung zu bringen vermocht, und es ist dieser Umstand bei seiner 
BeurtheUung wesentlich in Anschlag zu bringeu. Es ist oftmals eine 
unvermittelte Eluft zwischen dem, was er beabsichtigte, und dem, was 
er zur Darstellung gebracht hat: hat man jenes erkannt, so ist Alles 
gross und bedeutend; halt man sich an das, was gegeben ist, so fiihlt 
man sich ofters unbefriedigt. Aber auch dies in Betracht gezogen, so 
ist doch bei ihm keineswegs noch jene Fulle und freie, schopferische 
Thatigkeit der Phantasie, welche die spatere Zeit charakterisiri Gluck 
steht nach alledem vor uns als einer der grossten Kunstler, was das 
Streben nach dem als einzig wahr erkannten Ziele, was Gro^e und 
Adel der Gesinnung, tiefes Denken, Yerstand in der Entwerfung und 



256 

Consequenz in der Ausfiihrung seiner Sehopfungen , als ein Muster der 
Nacheiferong , was sein Princip "betrifft, als ein YorMld fur die Gesin- 
nung; betrachten wir das Geleistete, so mtissen wir dem Nachfolger 
Mozart in Bezug auf die soeben namhaft gemachten Seiten die Sieges- 
palme reiclien, unbesehadet der Grosse Gl tick's, welche ihn in Einigem, 
was Hoheit, Adel, strenge, ernste Seelenschonheit betrifft, untiber- 
troffen erscheinen lasst 

Es sind griecMsclie Thranen, welehe in Gluck 's Werken vergossen 
werden; es ist eine jungfrauliehe Frische und Herbheit in diesen Charak- 
teren, ini Gegensatz zur entwickelten Sinnlichkeit des Weibes in Mozart; 
es welit eine frische Morgenluft in den Werken Gluck's, welehe nicht 
ganz frei ist von Kalte, wahrend Mozart in der warmen Mittagssonne 
einer ganz entfesselten Freude und Wonne stebt. Jener scbafft nur in 
Gemeinscliaft mit dem DieMer, dieser aus sicb selbst, aus der Ffille der 
Pbantasle heraus. Gluck ware verloren, wenn er solclie Trivialitaten, 
wie die Mozart'scben Texte im Einzelnen zeigen, wenn er keine 
liolien. tragiscben Empflndungen auszudrucken hatte; Mozart bat seine 
Charaktere vollstandig aus der Fiille des Herzens und der Pbantasie 
lieraus geschaffen; sie steben uns daruna nienscblicb naher, und Lepo- 
rello, Zerline, Osmin, Blondcben imd viele andere waren fur Gluck 
uninogliclL Gluck ist die noch. unaufgeschlossene Enospe, Mozart 
die in reichster Ftille entfaltete Blume. Die damalige Oper culminirt in 
zwei Gipfeln, Gluck und Mozart; Beide baben in gewisser Hinsicht das 
Hochste geleistet, je nachdem man den Gesicbtspunct feststellt. Wabrend 
indess Mozart die Aufgabe zum Abschluss bracbte, und in dieser Hin- 
sicht mibestreitbar die hohere Bestimmung erfdllte, hat er zugleich scbon 
ich sage dies unbeschadet der Yerehrung, die wir dem Herrlicben 
scbuldig sind dem Sinken der Kunst vorgearbeitet, und zu dem 
spateren Euckgang die Veranlassung gegeben. Er steht zuruck gegen 
Gluek in mebr als einer Beziehung. Bei diesein ist holies Bewusst- 
sein von der Wiirde der Sache und ktinstlerischer Ernst tiberwiegend; 
Mozart besass nicht diese strenge Haltung, dieses philosophisclie Be- 
wusstsein. Weit entfernt zwar, ein genialer Naturalist zu sein, dacbte 
er viel, mid gerade das schone Gleichgewicht von Eeflexion und un- 
mittelbar schaffender Naturkraft ist das Bezaubernde in seinen Schop- 
fungen; aber er dachte nur innerhalb seiner Kunst, nur musikalisch, 
und es mangelte ibm jenes davon getrennte, im Hintergrunde thronende, 
ausdruckliche tbeoretische Bewusstsein von der hohen Bedeutung der 
Jxunsfc und des schaffenden Genius, die Eucksicht, jede Schopfung 



257 

neben ihrer augenblicldiehen Bestimmung zugleich so zu gestalten/dass 
sie unmifctelbar auch der Unsterblichkeit geweiht war. Mannigfache 
ZugeStandnisse , welche er dem Zeitgeschmack machte, waren die Folge, 
und die Iiolie Ansehauung G- luck's yon der Oper ging bei ihm zum 
Theil veiioren. Alles, was das Genie zu geben vermag, sehen wir 
bei ihm in reichster Fulle vorhanden, und die tiefste Begeisterung far 
die Sache zeigt sich im Wesentlichen ; an stronger Haltung aber und 
Unterordnung alles Zufalligen unter die ewige Idee steht er Gluck 
nack Wenn bei diesem Alterndes sich zeigt, so ist die Ursache der 
Standpunet seiner Zeit und die minder ausserordentliche Begabung; bei 
Mozart, welcher uberall das Tollendete hatte geben konnen, haben wir 
die Ansclauung, dass es Concessionen gegen den Zeitgesckmack, dass *es 
eine minder holie Ansicht von der Saclie tibertaupt war. Durcli die 
gescMchtliche Mission Deutschlands zur itaHenisclien Musik hingedrangt, 
entfernte er sich. wieder von der frozen geistigen Schonheit G luck's, 
und gestattete dem sinnlichen Element in seinen Werken zweiten Eanges, 
,,Titus" z. B., allzu grossen Einfluss, verliess uberhaupt die strenge 
dramatische Gestaltung Gluck 's und maehte dieselbe liin und wieder 
von ausseren Einflussen abhangig. Seine iiberwiegend musikalische 
Natur endlich liess ihn zum Theil in Texten Befriedigung finden, welche 
im Ganzen allerdings vortrefflicli , musikaliscli reichen Stoff boten ? im 
Einzelnen jedoch, in der dichterischen und dramatischen. Gestaltung, 
sekr Vieles zu wtinschen ubrig liessen. Mozart maehte dadurcli die 
Oper zu einer musikalischen Schopfung, wahrend sie bei Gluek, wie 
es sein soil, eine dichterisch-musikalische gewesen war. Die moderne 
Testvernachlassigung , die scMefe "Wendung, welche der Begriff der 
Oper in spaterer Zeit erhalten hat, der Umstand, dass die Musik und 
die musikalisclien Pormen in der Oper das Uebergewieht erlangten, 
nicht aus der inneren Nothwendigkeit des Textes heraus geschaffen 
waren, dass Herkommen und Gewohnheit entschieden, liaben in ibm 
wieder ihren Drheber gefunden. Die Hoheit seines Genies Helt die 
Werke vorzugsweise auf jener Hohe, welche wir bewundern, weniger 
Bewusstsein, weniger ein stets in alien Theilen auf das Ewige und 
Unvergangliche gerichtetes Streben. Mozart bezeiclinet, wie dies bei 
alien Genien, welche auf dem Culminationspunct stehen, der Pall ist, 
den Wendepunct, das letzte Ersteigen des Gipfels, und das erste Hinab- 
gehen von demselben. So tragen die Momente hochster Eeife und Ent- 
wicklung im Eeiclie alles Lebendigen zugleich den Keim des Todes in 
sich, und die hochste Entfaltung ist zugleich die beginnende Vernichtung. 
Dies ist das Eesultat, welches wir festhalten mussen, um den weiteren 

17 



258 

Fortgang der Oper zu begreifen, und zu den endlichen Resultaten meiner 
Darstellung zu gelangen. 

Mit diesem Hinblick auf Mozart, der uns nun bald naher besehaf- 
tigen wird, schliesse ich die heutige Vorlesung. Mozart 1st das grosste 
Eesultat, welches Gluck gehabt hat; durch ihn wurde Mozart mog- 
lich, und die kunstgeschichtliche Bedeutung G luck's ist zunachst auch 
nur im Hinbliek, wie auf das, was ihm vorausgegangen war, so auf 
den Letzteren, seinen grossen Naehfolger, zu erfassen. Eine weitere 
Perspective noch wird sich uns eroffnen, wenn wir erst den Fortgang der 
Entwicklung bis herab auf die Gegenwart verfolgt haben. Dann wird 
sich zeigen, dass Gluck nicht vollstandig aufgeht in Mozart, dass, 
so zu sagen, ein Bruchtheil ubrig bleibt, was zur Fortbildung durch 
B. Wagner den Impuls gegeben hat. Jetzt hat uns des eben Genannten 
Auftreten in den Stand gesetzt, noch bestimmter dem Yon Gluck Ge- 
leisteten und Gewollten seine Stellung anzuweisen, das Erreichte sowol 
als das noch Fehlende zu bezeichnen. Mozart, das ist das Wichtigste 
in dieser Beziehung, hat die specifisch musikalische Seite zur hochsten 
^Entfaltimg gebracht, und wir sehen darum im weiteren Fortgang bis 
herab auf die Gegenwart diese Seite yorzugsweise ausgebeutet. Von 
unserem Standpunct aus indess, der im weiteren Verlauf immer mehr 
seine Begrundung erhalten wird, erscheint dieser ganze Abschnitt mehr 
nur als eine grossartige Episode. Wagner greift zurtick, kntipft an 
Gluck an, untersttitzt dabei durch den ganzen Eeichthum des durch 
die specifisch musikalische Entwicklung seit Mozart Gewonnenen. Das 
ist uberhaupt das Entwicklungsgesetz auf dem Gebiet der Oper, dass 
zuerst immer das einzig richtige Princip der Einheit und Gleichberech- 
tigung der Kunste in der Oper ergriffen und aufgestellt wird, dies 
Letztere nattirlich immer init der Einschrankung , dass auf der Musik 
vomigsweise der Accent ruht. Dann folgen Ablenkungen, Vertiefungen 
nach der specitisch musikalischen Seite Inn: so in Italien nach Erflndung 
der Oper, so nach den Zeiten Gluck 's. Ist die erstrebte Vertiefung ge- 
wonnen, ist eine neue Seite musikalisch herausgebildet, so erfolgt der 
Rlickgang auf das ursprtlngliche Princip der Einheit der Kunste, des 
innigeren Anschlusses der Musik an die Poesie, und man strebt nach 
neuer Yerwirklichung desselben auf immer hoherer Stufe. 

Nachdem wir die Anfange hoherer Kunstleistungen in Irankreich, 
und sodann das, was Deutschland und Frankreich vermittelte, die Schop- 
fungen Gluck' s, betrachtet haben, betreten wir in der nachsten Vor- 
lesung wieder ausschliesslich das deutsche Gebiet, urn dem Umschwunge 
der Eunst Mer m folgen. 



259 

Gluek 1st der erste Keprasentant der Epocle des schtfnen Stils la 
DeutscHand, der erste Eeprasentant des Umsehwunges in der zweiten 
Halffce des vorigen Jakrimnderts. Auf die grosse Kirchenmusik der 
Vorzeit folgt, durch ilin hervorgerufen , die classische Hohe der Oper. 
Wir haben jetzt zunachst die Oper in DeutscMand , die italienische so- 
wol wie die vaterlandische, weiter sodann die Entstelmng der modernen 
Instrumentabiusik , das Hervorgehen dieser dritten, wicMigsten Musik- 
gattung ins Auge zu fassen. 



17* 



Dreizehnte Vorlesung, 



Die italienisclie Oper in Deutschland: Hasse. Naumann. Graun. Die deutsche, 

insbesondere loniische Oper, die Operette und das lEelodram, G. Benda. Schweitzer. 

Hiller. Dittersdorf. Reichardt "Wenzel Miiller, Erster Aufschwung der Instrumental- 

nmsik. Bmamiel Bach. Friedeniann Bach. J. Haydn. 

Gluek hatte den entsprechenden Boden fur seine Schopfungen in 
Paris gefunden; wirkten auch dort viele aussere Umstande mit, ikn 
Bahn m brechen, fand sich. wol aucli dort mir iin "kleineren Kreise 
ein adaqnates Yerstandniss, so waren dock ausreichende Beziehungen 
Yorlianden, welclie die Ursaelien seiner Erfolge wurden und ein geneigtes 
Entgegenkommen von Seiten des Publicums yermittelten. Von Deutsch- 
land konnte dies in jener Zeit noch nicM gesagt werden. Deutschland 
war zu pHListerhaft und hausbacken, um diese von einer ganz anderen 
Hohe des Standpuncts aus entworfenen Schopfungen zu verstehen, ja nur 
aussei^che Inknlipfungspuncte finden zu konnen; noch zu wenig kunst- 
gebildet, um Mer, wo es sich nicht bios um musikalische Beui'Gheilung, 
wo es sich im Gegentheil ura hoheres Eunstverstandniss flberhaupt 
handelte, schon die nothwendigen Voraussetzungen dafur zu besitzen. 
Zwar bemerkte ich in der vorigen Vorlesung, dass G luck's Bestre- 
bungen durch den Umschwung der Zeiten hervorgerufen waren, dass 
er zuerst den Geist der Neuzeit zur Erscheinung brachte; ein Anderes 
aber ist es ? ob dieser Geist schon in die Massen eingedrungen ist, oder 
nui- erst am fernen Horizont erscheint. Dies Letztere war in Bezug auf 
Gluck der Pall. Gluck stand in seiner Zeit auf einsamer, noch 
unerkannter Hohe ; er hatte nur erst das neue ' Opernprincip aufge- 
stellt, aber ohne dass dasselbe schon hatte Eingang gewinnen konnen; 
er war, eine imposante Macht, dem bis dahin Herrschenden gegenuber- 
getreten, aber er hatte dasselbe noch nicht besiegt, noch nicht ganzlich 
beseitigi 



261 

Fragen Sie aber, welches die Opernzustande zu seiner Zeit in 
DeutseHand waren, so dient Merauf zur Antwort, dass wir als herr- 
schend im Publicum zwei Biehtungen bezeichnen miissen, die italienische, 
welche nock jetzt zahlreiche urwi begabte, Vertreter hatte und von den 
Hofen begtinstigt wurde, sodann eine im engeren Sinne national-deutsche, 
welche in den Ereisen des Volkes gehegt und gepflegt wurde. 

Was die erstgenannte.Bichtung betrifft, so finden Mer drei Manner 
vorzugsweise ihre Stellung, wiclitig genug, um in unserer Darstellirag 
nicht tibergangen zu werden, die beiden Dresdner Kapellmeister Hasse 
und Naumann und der Berliner Graun. Die genannten Ktinstler sind 
es gewesen, welche die italienische Bichtung in DeutseHand der Haupt- 
sache nach zum Abschluss gebraeht haben, und als die letzten Eepra- 
sentanten derselben zu bezeichnen sind. Begegnen uns spater noch ita- 
lienische Opern von italienischen Operngesellschaften dargestellt in 
Deutschland, so war dies etwas Vereinzeltes und reine Sache der Will- 
kur, der Liebhaberei der Fiu^ten, ohne principielle Berechtigung, wah- 
rend bis zu den Zeiten der Genannten eine solche Berechtigung, eine 
innere Nothwendigkeit, vorhanden war. 

Ich theile Ihnen in Kurze das Bemerkenswertheste uber die Ge- 
nannten mit. 

Johami Adolph Hasse war geboren im Jahre 1699 in Bergedo^f 
in der Nahe von Hamburg und fand seine erste ktinstlerische Ausbildung 
daselbst, wo er als Tenorist am Theater vorzuglich Gelegenheit hatte, 
Reiser's Opern zu studiren. Der Wunsch, sich eine grlindliche theo- 
retische Ausbildung zu verschaffen, ffihrte ihn 1724" nach Italien. Sein 
gutes Gluck brachte ihn bald in einer Gesellschaffc mit A. Scarlatti 
zusammen; sein vorzugliches Klavierspiel und sein liebenswurdiges, be- 
scheidenes Ben&hmen zogen die Aufinerksamkeit des Greises auf ihn, 
in dem Grade, dass derselbe, den "Wunsch'des jungen talentvollen 
Mannes bemerkend, diesem sieh selbst zum Lehrer anbot. Fleiss und 
Eifer des Schulers waren nun so gross, dass Scarlatti ihn bald seinen 
Heben Sohn nannte und das innigste, liebevollste , bis zum Tode des 
Lehrers fortdauernde Verhaltniss sich zwischen Beiden bildete. Bald 
machte Hasse durch seine Compositionen grosses Aufsehen in Italien, 
und zahlreiche Einladungen ergingen an ihn. So kam er 1727 nach 
Venedig, wo er fur Kirche und Theater componirte, mit solchem Gluck, 
dass er der Liebling des ganzen Publieums, insbesondere der Damen, 
wurde. Zu derselben Zeit war die schone, geistvolle Faustina Bor- 
doni, eine der grossten Sangerinnen, von London nach Venedig zurtick- 
gekehrt. Der Buf des n caro Sassone", wie Hasse die Italiener narinten, 



262 

zog auch die Aufmerksamkeit dieser Dame anf ihn. Man veranstaltete, 
urn Beide bekannt zu machen, eine glanzende Gesellschaft, und Faustina 
scMed aus derselben mit dem Entschluss, Hasse zu ilirem Gemahl zu 
erwahlen. Jetzt componirte dieser far Faustina, seine Gattin, und 
sie, die vorlier sich zurfickgezogen hatte, trat wieder offentlich auf. 
Der glanzende Hof August's, Konigs von Polen und Kurfursten von 
Sachsen, wunschte Beide an die grossartige, ausgezeichnete Oper nach 
Dresden. Hasse wurde zum Oberkapellmeister ernannt und seine 
Gattin als erste Sangerin engagirt. Beide fanden in ihrer neuen Wirk- 
samkeit die glanzendsten Erfolge. Bald jedoch gewaun der Kurfurst 
ein naheres Interesse fur Faustina, sie wurde furstliche Geliebte, 
und Hasse erhielt einen nicht gewtinschten Urlaub nacli Italien, Lange 
Jahre verweilte der ungliicHiche Eeisende daselbst und kam nur tin 
und wieder einmal zum Besucli nach Dresden. So wenigstens war die 
Msherige Annahme, und Bochlitz in dem Cbarakterbilde ,,Faustina 
Hasse" in seiner Schrift ,,Fur Freunde ^ier Tonkunst" erzaKIt diese 
Dinge ausfohrliclier. Wenn ich. Ihnen dies mittheile, darf ich indess 
die Bemerkung nicht ubergehen, dass man neuerdings die ganze Er- 
zahlung in Frage, das VerMltniss Faustinens zum Kurfursten g^nz- 
licli in Abrede gestellt hat. Es geschati dies in einem ausfahrliclien 
Aufsatz der ,,Leipziger Zeitung", Auf diesen verweise ich, was jene 
Angelegenkeit betrifft, Chrysander jedoch in seinem spater erscMe- 
nenen zweiten Bande der Biographie Handel's spricht dasselbe aus wie 
Eochlitz, nur noch. in bedeutend yerstarktem Grade, den Lebenswandel 
dieser Frau.tiberhaupt als einen hochst sittenlosen bezeichnend. Spater 
wurde Hasse nacli London berufen, als die fruher erwahnten Streitig- 
keiten mit Handel ausbrachen. Dort feierte er grosse Triumphe und 
erlebte einen vollstandigen Sieg uber Handel, ohne sich jedoeh dieses 
Sieges zu erfreuen. Sein eigenes widerstrebendes Gefahl, als Handel's 
Gegner zu stehen, die innere Ueberzeugung von der Grosse desselben, 
der momentan mehr der Parteisucht unterlag, machten ihn unempfind- 
licher gegen alle Vortheile, so dass er sich. bald entfernte und nie 
wieder nach London zuriickkehrte. Er begab sich nach Dresden, wo 
sich unterdess Faustinens Verhaltnisse geandert batten, und befand 
sich nun eine Eeihe von Jahren Mndurch in der erwtinschtesten Wirk- 
samkeit Die nach Beendigung des siebenjahrigen Krieges in Sachsen 
nothwendig werdenden Einschrankungen batten endlich die Pensionirung 
Beider zur Folge. Sie gingen nach Wien, endlich nach Venedig, wo 
Hasse im Jahre 1783 starb. Hinsichtlicb seines Werthes als Kunstler 
sind naturlich die Urtheile seiner Zeit und die der Gegenwart sehr 



verscMeden. Es gilt dies von den genannten Tonsetzern tiberhaupt, die, 
zu ihrer Zeit hoehberuhmt, jetzt nur ihr Andenken noch durcli einige 
Hauptwerke lebendig erhalten haben. Die fruliere Zeit pries die zahl- 
reichen Werke Hasse's, unter denen sich allein fiber 50 Opera be- 
finden, uberaus hoch. Bleibenden Werth besitzt, wie damals stets, nur 
das far die Kirche Geleistete. Am beruhmtesten ist sein Te deum, da 
noch jetzt alljahrlich in Dresden aufgefuhrt wird. Hasse ist durch und 
church Italiener, er theilt die Vorzuge und die Mangel seiner Schule. 
Dieselbe Schonheit der Melodie, dieselbe durchsichtige Klarheit, aber 
auch dieselbe Kalte und uberwiegend formelle Natur, welche die weni- 
ger gelungenen Werke jener Scliule charakterisirt Man braucht, urn 
dieses Urtheil bestatigt zu finden, nur die Sammlung Hasse 'seher 
Arien zur Hand zu nehmen, welclie J. A. Hi Her unter dem Titel: 
, 5 Meisterstiicke des italienischen Gesanges" herausgegeben hat/ Schone, 
gesangreiche Melodien zeigen sich uberall, aber nur wenige lassen einen 
tieferen Ausdruck erkennen - % die meisten sind uberwiegend formell und 
im Ganzen ziemlich steif. K. C. P. Krause in seinen 5 ,Darstellungen 
aus cter Geschichte der Musik" nennt Hasse den Correggio fur die 
KirchennmsiL ,,So wie dieser grosse Maler", bemerkt er, ,,den Himmel 
selbst voll Liebe und Preude, des innigsten, zartesten Gefuhls in Heb- 
lichen Gestalten, in Licht und Parbe schildert, so weiss Hasse dureh 
innig-schone Tone das Gemuth mit dem Vorgefuhl der seligen Preude 
des Himinels zu trosten und zu erftUlen." Sein Te clewn ist glanzend 
und ausserst dankbar fur die Stimmen, nicht ohne katholiscle Innigkeit, 
nicht ohne diesen eigenthurnlichen Zauber, die nachhaltigere Kraft aber, 
der wahrhaft hohere Aufschwung mangelt. 

Minder ausschliesslich den Italienern zugeneigt zeigt sieh Johaim 
Gfottlleb Nanmann, geboren zu Blasewitz bei Dresden im Jahre 1741, 
der mehr eine die Stile der beiden Lander yerinittelnde Stellung ein- 
nimmt. Nan maun steht nnserer Zeit noch naher, und die interessanten, 
fast romanhaften Lebensschicksale desselben sind allgemeiner bekannt. 
Er musste sich aus den imtergeordnetsten, zum Theil widerwartigsten 
Verhaltnissen emporarbeiten und gelangte erst * spat zu einer sein em 
Talent angemessenen , dann aber auch ausserst glanzenden Stellung. 
Sein Vater war ein schlichter Bauer zu Blasewitz. Sclion der Besuch 
der Kreuzschule zu Dresden war mit Muhseligkeiten yerbunden. Er 
hatte einen so weiten Weg zu machen, dass er zum Mittagsessen nicht 
nach Hause zuriickkehren konnte; er pflegte dasselbe, welches in einem 
Stuck Bro4 bestand, auf den Stufen der Prauenkirche zu verzehreiu 
Schon damals hatte er" die grosste Preude an der Musik; unterrichtet 



264 

wurde er darin YOU dem Sehulmeister des Dorfes, und als dieser nicht 
mehr geniigte, vom Cantor der Kreuzschule. Nach dem Willen der 
Mutter sollte et das Schlosserhandwerk erlernen. Er wurde wirklich 
zn einem Meister in die Lehre gethan und von diesern zuerst in einer 
finstern Werkstatte mit Glasstossen beschaftigt. Diese Arbeit war ihm 
so unertraglich, dass er endlich davonlief. Nun musste er znr Strafe 
das Yieh Mten. Hier aber war er gltzeklicher, derm er konnte sich 
nun ungestort seinen Phantasien tiberlassen. Endlich gab seine Mutter 
nach, und es wurde ihm erlaubt, sich far das Schulmeisteramt vorzu- 
bereiten. Jetzt konnte er semen Neigungen schon ungestorter leben. 
Bin sehwedischer Musiker, der nach Italien ging, trug ihm endlich. an, 
ihn daHn mitzunehmen. Dies ward nach langem "Widerstreben der 
Eltern endlich angenonrmen, und Naunaann war dadurch dem Ziele 
seiner Wtinsche wiecler einen Schritt naher gebracht. Hatfce er nun 
auch hier zwar anfangs mit grosaen Widerwartigkeiten zu kampfen, 
so gelang es ihm doch endlich, in Padua lange Zeit Tartini's Unter- 
riehfc zu * benutzen, sowie spater in Bologna den des bertihmten Pater 
Martini. Endlich kehrte er, nachdem er schon in Italien mit grbssem 
BeifaU als Operntonsetzer aufgetreten war, in sein Vaterland zuruck und 
erhielt jetzt ein feste Stellung als Earchen-, spater als Kanunercom- 
ponist, obschon er bald darauf und zu verschiedenen Malen nach Italien 
ging, Im Jahre 1776 erhielt er eine Einladung nach Stockholm, wo er 
die ganze Kapelle regenerirte, die Oper w Amphion", neben seiner ,,Cora" 
wol sein bastes Werk, schrieb, und tiberhaupt* dort dem Zustande der 
Kunst einen hoheren Schwung gab. Zwei Mai verweilte er dort; bei 
dem zweiten Aufenthalt schrieb er das letztgenannte Werk, welches sich 
neben G luck's ,,Alceste" und Piccini's Orlando" Melt. Auch Yon 
Kopenhagea kam an ihn eine Einladung, sowie nach Berlin. Die 
Triumphe im Auslande hatten die giinstigste Kiickwirkung auf seine 
Geltung in Dresden. Er wurde mit einera bedeutenden Jahrgehalt zum 
Ober-Kapellmeister daselbst ernannt, so dass -seine Stellung jetzt eine 
der glanzendsten war, die liberhaupt ein deutscher Tonkunstler einge- 
nonrmen hat. Im October 1801 fand er seinen Tod, indem er auf einem 
Spaziergange im Grossen Garten bei Dresden vom Schlage geruhrt 
wurde. Auch von Faunaann gilt, was von Hasse und anderen 
Tonkunstiern schon ofters gesagt wurde: nur seine kirchlichen Werke 
entlalten Blei"bendes, wahrend seine Opera ausschliesslich der Zeit ange- 
horten; Gluck ist der erste Unsterbliche auf diesem Gebiet. Piir die 
Eirche ist er sehr thatig gewesen; er hat allein 27 grosse Messen und 
10 geistliche Oratorien gesetzt. Zu bedauern ist, class die Werke, als 



265 

Eigenthum der katholischen Eirche zu Dresden, eine weitere Verbreitung 
nicht gefunden haben. Sein ,.Vater unser", nach Elop stock, hat ilia 
vorzugsweise in weiteren Ereisen bekannt gemachk Unter seinen Ora- 
torien sind die ungedruckten J5 Gli Pellegrini" das beruhmteste, das Finale 
darin lalte icli fur eine seiner schonsten Schopfungen. Das Tiefe, Ge- 
iDLiitlireiclie , Innige, HerzHche ist darin vorwaltend, eine ergreifende 
Frommigkeit Naumann liegt die Genialitat von Bach nnd Handel, 
diese Hoheit und Erhabenheit fern. Das einfach Herzliche, Har Be- 
gonnene, das Verstandige in der Anwendung der Kimstmittel ist seine Eigen- 
thiimlichkeit. Seinen schonen Gesang hat er nach dem Muster Italiens 
gebildet, aber er hat dabei seine deutsche Individuality nicht geopfert. 

Der dritte Etinstler dieser Eeihe ist Carl Heprich <xrann, ein 
Sachse, im Jahre 1701 geboren, der seine erste Bildung auf der Kreuz- 
schule in Dresden erhielt. Sehr geschatzt als Sanger, kam er im Jahre 
1725 an Hasse's Stelle als Tenorist naeh Braunschweig. Er wurde 
dort, da er sich auch schon als Componist auszeichnete, trotz seines En- 
gagements als Sanger zum Vice-Kapellmeister ernannt. Im Jahre 1735 
erhielt er einen Ruf von Friedrich dem Grossen. Er nahm den- 
selben an, obschon man ihn nur ungern scheiden sah. Als Friedrich 
Eonig geworden war, ernannte dieser ihn zum Eapellmeister. In dieser 
ehrenvollen Stellung, ausgezeichnet dui*ch die Gunst, durch die Freund- 
schaft des Eonigs, blieb er bis an seinen Tod im Jahre 1759. Hier 
war er rastlos thatig, in alien Fachern der Tonkunst, besonders auch 
in der Oper. Fast in jedem Jahre wurden neue Opern aufgefthrt, 
bei denen der Eonig zum Theil selbst dichterisch betheiligt war. 
Ausserdem schrieb er fiir sich selbst grossere Gesangssachen. Sein 
Hauptwerk auf kirchlichem Gebiet ist sein ,,Tod Jesu" nach Eamler. 
Dies wurde das beruhmteste Mrchliche Werk aus der zweiten Halfte 
des vorigen Jahrhunderts. Es ist in einer Menge von Ausgaben er- 
schienen und bis herab auf die Gegenwart aufgeffihrt worden. Noch 
giebt es Stadte, wo es alljahrlich aufgefuhrt wird, weil wohlhabende 
Leute Legate dafur aussetzten, damit diese Musik nicht in Vergessen- 
heit gerathe und den Seelen der Menschen nicht entzogen wurde. Ich 
werde auf das Werk zuruekkommen, sobald ich tiber die Eirchemnusik 
aus der zweiten Halfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen Gelegen- 
heit iabe. 

Wie schon im Eingange erwahnt, gedenke ieh jetzt noch einer 
diitten Kichtung, der eigeqtlich deutschen Oper, an die sich auch die 
Bluthe der konaischen Oper und der Operette anschliesst. Neben der 
Oper Italiens und Frankreichs denn auch fur die letztere, fur Lully 



266 

namentlich, waren in Deutschland schon Einige in die Schranken ge- 
treten, so der friiher genannte Hamburger Telemann neben Gluck, 
hatte sieh diese Bichtung geltend geinacht, und wurde die Vertreterin 
des Nationalen. B. Keiser hatte eine erfolgreiche Anregung gegeben, 
und das Feld der dramatischen Musik wurde von verscMedenen Ton- 
setzem angebaut. Am bemerkenswerthesten sind die "Werke aus der 
zweiten Halfte des vorigen Jahrhunderts, namentlich die, welclie der 
Sphare der komischen Oper angehoren, Deutschland hat hierin sogar 
Hervorstechendes geleistet, und es ist nur die Ungunst spaterer Zeiten 
gewesen, wodurch die Entwicklung abgebroclien wurde, wodurch Deutsch- 
land auf diesem Gebiete ebenso wenig als auf dem des Lustspiels er- 
reicht hat, "was es der ursprunglichen Anlage des Volkes gemass hatte 
erreichen konnen. 

In der ersfcen, noch mehr in der zweiten Halfte des vorigen Jahr- 
hunderts zeichnete sich die Familie Benda, sowol in der Virtuositat, 
namentlich auf der Violine, als in Compositionen aus. Als Tonsetzer 
auf dramatischem Gebiet war es insbesondere der gothaische Kapell- 
meister Gteorg Benda (172195), welcher sich hervorthat. Auch er 
hatte zwar Italien besucht und italienische Opern zur Auffiihrung ge- 
bracht, dabei aber das Deutsche nicht vernachlassigt. 1776 erschien 
sein ,,Dorfjalumarkt" ; spater ,,Bomeo und Julie", ,,Der Holzhauer" n. a. 
Mehr noch als diese Operetten hatte ein anderes "Werk desselbon Mannes, 
das erste deutsche Melodrama, ? ,Ariadne auf Naxos", im Jahre 1774 
Aufsehen erregt. In dieser neuen Gattung hatte sich frtiher schon in 
Franbreieh Bousseau mit seinem ,,Pygmalion" versucht; allein Benda 
kannte das Stuck nicht und bildete, was das Musikalische betrifft, das 
seinige nach eigener Ansicht. Ariadne" fand auf alien deutschen 
Btibnen Eingang und Beifall, wurde sogar in das Italienische und Fran- 
zosische tibersetzt, und veranlasste die Berufung des Componisten nach 
Paris. Die Melodramen warden jetzt Mode, und netie Werke dieser 
Art folgten sehr bald, insbesondere erfreute sich die spatere J5 Medea u 
Ben da's eines grossen Beifalls. Auf dem Gebiete der grossen Oper 
zeichnete sich Insbesondere Anton Schweltxer (J 737 87), gleichfalls 
ein Gothaer, aus; er componirte die Opern ,,Kosamunde" und , 5 Alceste" 
nach den Dichtungen von Wi eland. Die letztere namentlich ist be- 
achtenswerth, sie wurde in Druck gegeben und gowann grossen Erfolg. 
Auf clem Gebiete der Operette war es der bekannte Joliaim Adam 
Killer (17281804), Cantor an der Thom^schule zu Leipzig, der um 
diese Zeit der Liebling des Publicums geworden war. Dieser krank- 
liche, hypochondrische Mann wiirde wahrscheinlich gar nicht daran 



- 267 - 

gedacM haben, solche Compositionen zu schreiben, wenn ihn nicht der 
Schauspieldirector Koch in Leipzig danun ersueht hatte. Hill or ging 
auf die Wfinsche desselben em, verband sich mit dem Dichter Chri- 
stianFelixWeisse in Leipzig, imd so brachten Beide vereint zuerst 
im Jahre 1764 die ? ,verwandelten "We&ber" auf das Theater. Unter der 
ausgezeichneten Schauspielergesellschaft Koch's befanden sicli jrar 
wenige leidliche Sanger; so musste Hi Her yorzugsweise dem Bin- 
fachen, Liedmassigen sich bequemen. Danait aber hatte er gerade den 
rechten Ton, den Nagel auf den Kopf getroffen. Die "Werke belder 
Manner tind insbesondere die darin befindliclien Lieder machten ansge- 
zeichnetes Gluck, so dass fast jedes Jahr, als einmal die Babi gebro- 
chen war, eine neue Operette folgen konnte. Am entschiedensten griff 
die ,,Jagd" in das Leben ein; sie wurde das ansgesprochenste Lieblings- 
stuck ihrer Zeit in dieser Gattung. Interessant ist die Dedication an 
die Herzogin Anna Amalia von Weimar, welche der Dichtung vor- 
gedruckt ist, und bezeichnend fur den damaligen Stand der Dinge. Es 
heisst darin: 



unsre deutsclie Schauspielkunst 
Nicht eines Fiirsten Sclintz, nicht eines Hoflings Grunst 
Durch ganz Germanien sich kainn zn rulimeii wusste; 
Bald G-allien durch Witz, bald Welschland durch Gesang, 
Wo sie kaum athmete, sie wiederum verdrang; 
Wenn man das kleinste Lob der armen Kunst versagie, 
Sobald sie sich nur zu gefallen wagte: 
Was Wunder, dass sich nie ihr Lob 
Zu jener Biihnen Stolz erhob? 

Dass Deutschlands Dichter selbst Kothurn und So ecus scheuten, 
Und jeden Schritt, den sie darauf gethan, bereuten? 

Die Stellung der deutsclien Kunst der auslandigchen gegeniiber ist in 
diesen Worten deutlich. ausgesprochen. H filer's Mnsii ist liochst 
einfach, treuherzig, yolksmassig, oline irgend Ansprtiche zu machen, in 
ihrer Art aber trefflich, und ganz den damaligen enggemutW.iclien 7 pa- 
triarchalisehen Zustanden in Dentseliland entsprechend. Yon dieser Be- 
schaffenheit sind auch die Teste, mitunter etwas derb, nicht eben zart. 
Man war aber damals, wenn auch hausbackener und philisterhafter, so 
doch im Ganzen noch gesunder und kraftiger. Urn dieselbe Zeit nahm 
auch die Kunst des Gesanges in Deutsehland einen hoheren Aufschwung. 
Es ist um so mehr der Ort, hier claran zu erinnern, als es eine Sci.ffl.erin 
Hiller's, Gertrud Elisabeth Mara, geborene Schmeling, 
war, welche zuerst zu allgemeiner Anerkennung als Gesangskunstlerin 
auch im Auslande gelangte. Pr. Eochlitz hat fiber Beide, tiber 



268 

Hlller sowol wie fiber dessen Schulerin, in dem ofters genannten 
Werke interessante Mittheilungen gegeben. Neben Hiller verdient auch 
noch der Gothaer Era^t "Willielm Wolf (173592) in Weimar eine 
Erwahnung. Seine Thatigkeit fallt in die siebziger Jahre des vorigen 
Jahrhunderts* Diese Bliithe der feomischen Oper blieb indess nicM auf 
Norddeutschland beschrankt; bald wurde namentlicli Wien die Haupt- 
statte derselben. Hier war es insbesondere der ausgezeiclmete Carl 
Ditters, spater Bitters T. Dittersdorf, welcher Werke von mehr als 
Yorubergehendem Interesse sehuf. Dittersdorf, geboren 1739, kam, 
naehdem er schon in seinem zwolften Jahre als reisender Violinvirtuos 
Gluck gemacM hatte, als Page in die Dienste des Herzogs von Hildburg- 
hausen. Er bildete sich Mer inusikalisch weiter, entfloli aber wegen 
einiger dunrmen Streiche, und erMelt auf Empfehlung seines woHwollen- 
dea Fui*sten eine Anstellnng am Wiener Hofburg-Theater. Hier hatte 
er das Gltick, des Umgangs Metastasio's und G luck's zu geniessen. 
Mit dom Letzteien verweilte er sogar eine Zeit lang in Italien. Bei 
seiner Euckkehr im Jatre 1764 ernannte ilin der Bischof von Gross- 
wardein zum Hofkapellmeister. Er trat jetzt mit einer italienischen 
Operette !3 Amore in Musica" auf. Im Jahre 1770 kam er auf einer 
Eeise durch DeutscMand zu dem Furst-Bischof von Breslau und gewann 
dessen Gunst in so hohem Grade, dass dieser ilan seltsamer Weise zum 
Forstmeister, spater zum Landeshanptmann von Freienwaldau ernannte, 
den papstliclien Orden vom goldenen Sporn, sowie den Adel ihm ver- 
schaffte. Dittersdorf aber flihlte sich unbehaglicli in seiner glanzen- 
den lage, benahm sich unklug, kam in zerrtittete Verhaltnisse, und sah 
sich endlich durch den Tod des Bischofs im Jahre 1797 seiner Sttttze 
beraubt. So starb er in Durftigkeit im Jahre 1799. Dittersdorf J s 
Hauptwerk ,,Doctor und Apotheker" wurde 1786 in Wien zuerst gegeben, 
und fand dort, sowie in ganz Deutschland, unermesslichen Beifall. Wir 
besitzen eine grosse Reihe ahnlicher Werke von ihm, unter denen ich 
ntir an 5 ,Hieronymus Knicker" zu erinnern brauche. Dittersdorf hat 
auf komischem Gebiet das Grosste in Deutschland geleistet, und noch 
jetzt bewahren seine Werke, hie und da aufgefiihrt, ihre Wirkungsfahig- 
keit. Erscheinen auch in unserer Zeit die Alien zum Theil veraltet, so 
sind es doch insbesondere die Ensemblestucke, die Finales, welche die 
ursprungKche komische Kraft des Tonsetzers zeigen. ,,Doctor und Apo- 
theker" war die erste deutsche komische Oper mit ausgearfceiteten Fi- 
nales. Wie Mozart, war es Dittersdorf gegeben, die einzelnen 
Personen, wo sie vereinigt auftreten, charakteristisch zu scheiden. In der 
That erinnert Dittersdorf in mehr als einer Beziehung an Mozart, 



269 

so durch seine treffliche fostnunentation. Aueh seine Opernbucher ver~ 
dienen Lob. Nehmen wir zu alien diesen Vorzugen noch Mnzu, dass die 
Stoffe umnittelbar dem Leben des Volkes entnomraen, dass sie ein treuer 
Spiegel desselben sind, so erklart sich wol die ausserordentliche Beliebt- 
lieit in jener Zeii Wien wurde der Lieblingssitz der komisehen Muse 
und hat, auch unter veranderten Verhaltnissen, am langsten in Deutsch- 
land diese Neigung gepflegt Eragen Sie aber, wie es gekommen, dass 
dieser Aufsehwung auf eine so kurze Zeitepoche sich beschrankt, so er~ 
giebt sich die Antwort aus dem ffinblick auf die durch die napoleoni- 
sclien Kriege plotzlieh ernster -werdenden Zeitverhaltnisse. Die alte Lust 
nnd Heiterkeit, die Behagliehkeit des Daseins verschwand und machte 
entgegengesetzten Stimmungen Platz. Die Zeit der Fremdherrschaft in 
Deutschland war nicM der Mcpent, wo der Sinn fiir das Komische wei- 
tere Geltung nnd Entwicklung finden konnte. Eierzn kam die Herrschaft 
Trankreichs ancli in der Knnst. Als aber endlich die auslandischen Ein- 
flusse besiegt waren, ist es nicht wieder zn der frflheren Heiterkeit ge- 
kommen; die Stimmung blieb ernst und gedrfickt. Das war for die 
"Werke des vorigen Jahrtunderts so gunstig gewesen, dass damals, bei 
aller Beschranttlieit, die Zustande sich politisch freier zeigten, dass jenes 
imgluckselige Misstrauen, welches jede frische Kraft jzernagt, noch nicht 
Platz gefunden hatte. Das Lustspiel und in seinem Gefolge auch die 
komische Oper, kann nur gedeihen, wenn kein einengender Druck den 
Aufschwnng und den Ausbruch der Laune henrmt. Das Lustspiel bedarf 
der Pressfireiheit, und da wir diese nicht besitzen, so sind wir auch. noch 
nicht zu einem wirklichen Lustspiel gekomrnen ? einem Lustspiel, wel- 
ches sich die Aufgabe stellt, wie sie Platen ausspricht: ,,Volk und 
Machtige zu geisseln". Ich nenne Ton den Operntonsetzem des vori- 
gen Jahrhunderts noch JohaHn Friedricli Belchardt (175^1814), 
auch in unserer Zeit als musikalischer Schiiftsteller und Liedercomponist 
gekannt und geschatzt. Eeichardt war seit 1775 Kapellmeister in. 
Berlin und zunachst fur die grosse Oper thatig. Anfangs an Hasse 
und Graun sich anlehnend, war er spater einer der Wenigen, welche 
denBahnen Gluck's folgten. Er hat sich dann aber auch iin Singspiel 
versucht, und namentlich die Goethe'schen Texte bearbeitet. Einer 
der beliebtesten und fruchtbarsten Tonsetzer auf komischem Gebiet fur 
das Volk war endlieh der 1767 in Mahren geborene Weazel MUler^ 
Dittersdorf befreundet und von ihm gefordert, Er hat rnehr als 200 
Stucke dieses Genres geliefert. H. W. Eiehl in seinen ,,Musikalischen 
Charakterkopfen, erste Folge", einem Buche, das neben Yielem Einseitigen 
auch manches Bemerkenswerthe und Anregende, manche neue und eigen- 



270 

tMmlidie Anschauung enthalt, nennt Ihn den , 5 grossten Bankelsanger, 
den die Geschichte der deutschen Musik aufzuweisen hat" ; er spendet 
ihm damit, da er das Wort im guten Sinne gebraucht, ein grosses Lob. 

let wende mich nun zu dena zweiten Hauptgegenstande unserer 
heutigen Betrachtung. 

Die Instrumentalmusik ist ganz eigentlich das dem modernen Geiste 
Entspreehende. Fruiter war die Kunst gebunden an das Wort, insbe- 
sondere an religiose Texte. Den bis daMn ungeahnten Kegungen, welche 
sich jetzt Bahn brachen, der entfesselten Leidenschaft, dem freien Er- 
gehen des Subjects dient die Instrumentalmusik als Organ des Ausdrucks. 
Erblicken wir in dem EntwicHungsgange der Tonkunst uberhaupt die 
Bewegung vom Objectiven zum Subjectiven, von Darstellung eines aJlge- 
meinen Inbalts und aflgemeiner Zustande zur Entfaltung alles dessen, 
was die besondere Welt des Einzelnen bildet, so ist die Instrumental- 
musik die subjectivste Kunstgattung, und sie erscheint darum auch am 
spatesten auf classisclier Hohe. Auf die Kirclienmusik folgt die Oper, 
und an diese sehliesst sicb. die Instrumentalmusik in ilirer Vollendung. 

Unsere Blicke werden jetzt auf die Familie Bach zuriickgelenki 
Die kunstgescMehtlicli wicttigsten Sobae Sebastian's habe ich Ihnen 
sehon namliaft gemacht. Jetzt tritt uns vor alien Emanuel Bach. 
entgegen, als Derjenige, an den sich. die Entstehung der modernen In- 
skumentalmusik knflpft, als der erste Eeprasentant der Neuzeit auf diesem 
Gebiete. Handel zeigte sicli dem vocalen, Sebastian Bacli dem 
instrranentalen Elemente iiberwiegend zugeneigt. Dem entsprecliend 
sehliesst sich, sehr bedeutsam, auch im weiteren Fortgange die Oper, 
uberhaupt die Gesangsmusik, vorzugsweise an den Ersteren, w^hrend die 
Instrumentalmusik von dem Letzteren ihren Ausgangspunct nimmt. 

Interessant ist es, zu sehen, wie das Genie Sebastian Bach's, 
wenn der Ausdruck eiiaubt ist, in den Sohnen sich theilt, wie der Vater 
alle Seiten in sich zusammenfasst, die Sohne dagegen zwar reich, aber 
einseitiger begabt sind, die einseitigere Begabung indess gerade die Ur- 
saclie tier Weiterbildung der Tonkunst wurde. JSFeben Emanuel er- 
scheint a]s der reichstbegabte Friedemann Bach. Besass der Letztere 
die Tiefe, das Grublerische seines Vaters ohne dessen Ehrenfestigkeit und 
Gediegenheit, ohne dessen ernste Haltung, so hatte Emanuel mehr das 
Klar-Verstaudige ohne jene Eigenschaften, und zeigt sich darum mehr 
als Kunstler im modernen Sinne. Wilhelm Friedemami Bachj der 
alteste Sohn Sebastian's, war geboren zu Weimar im Jahre 1710. 
Der Leipziger Thomasschule zu seiner Bildung ubergeben, zeigte er treff- 
liche Anlagen, so dass seine Lehrer Ausgezeichnetes von ihm hofften. 



0*7-1 

& 1 1 

Spater studirte er Jurisprudenz, ftihlte sieh aber unter den Wissensehaften 
vorzugsweise zur Mathematik hingezogen, eine Feigung, welche sich bei 
dem Grublerischen und Tiefsinnigen zugewendeten TonMnstlern haufig 
findet. In Musik wurde er von <Jem-VaeE unterricitet und hatte es im 
Theoretischen und Praktischen sclion friili so welt gebracht, dass dieser, 
nicht leicht befriedigt, auch nach dieser Seite Mn Hervorstechendes von; 
ihm erwartete. Im Jahre 1733 wurde er nach Dresden als Organist 
an die Sophienkirche berufen. Spater begab er sich als Musikdirector 
nnd Organist nach Halle ; er hat von diesem Aufenthalt den Namen des 
Halle'schen Bach erhalten. FriedemannBach hat den Erwartnngen, 
welche man von ihm hegte, nicht entsprochen, entsprochen zwar in dem 
Sinne, als er Meister seiner Kunst war, so dass E in an u el von ihm 
urtheilte, er allein sei im Stande, ihren grossen Vater zu ersetzen, nicht 
aber insoweit, urn eine bleibende kunstgeschichtliche Bedeutung zu er- 
langen. Die Ursache lag in seinem ungMcklichen Naturell, in einem 
Missverhaltniss seiner Krafte. Hoch begabt, scheinen ihm die Eigen- 
schaften des Charakters, welche eine solehe Begabung erst zu frucht- 
bringender Entfaltung bringen konnen, gemangelt zu haben. Seine aus 
fortwahrender Versenkung in seine Kunst hervorgegangene Zerstreutheit 
wurde man entschuldigt haben, wenn er nur einigermaassen bemtiht ge- 
wesen ware, dieselbe zu beseitigen oder zu mildern; aber auch in dieser 
Beziehung hat er keinen Versuch gemacht, und er wanderte lieber VOE 
Halle fort, sein Amt verlassend, als er einmal von seinen Vorgesetzten 
ernstlich zur Rede gestellt wurde. Andere Eigenschaften entstanden je- 
doch aus dieser Versenkung in sich, welche nicht zu entschuldigen waren. 
Sein Charakter wurde flnster, menschenfeindlich, zuruckstossend, zank- 
siichtig, er verhartete sich in sich und betrachtete in anmaassendein 
Kilnstlerstolz die Welt und die Verhaltnisse derselben geringschatzig. 
Zuletzt wurde er gehasst, ja von seinen eigenen Brtidern verachtet, und 
hat sich dem Trunke ergeben. Er starb zu Berlin im Jahre 1784. Die 
Tunstgeschichte nennt ihn nur, urn eine untergegangene Grosse zu be- 
zeichnen, sie nennt ihn als ein Glied dieser ausgezeichneten Mnstler- 
familie; von bleibender Bedeutung * ist er nicht, auch sind nur wenige 
seiner Werke herausgegeben und bekannt geworden. Was man von 
Friedernann Bach hoffte, hat der jungere Bruder Emanuel ge- 
leistet, er, der anfangs nicht einmal zum Musiker bestimmt war. Carl 
Philipp Emanuel Back war, geboren zu Weimar 1714, der zweite 
Sohn Sebastian's. Er wurde von diesem ausdrucklich nicht der Ton- 
kunst, sondern, wie soeben erwahnt, den Wissensehaften gewidmet. Die 
beste und bequemste Vorbereitung dafiir fand sich. bei der Uebersiedelung 



naeh Leipzig. Emanuel besuchte ebenfalls die Thomassehule, spater die 
Universitaten zu Leipzig und Frankfurt a. d. 0., und sollte nach Be- 
endigung dieses Gursus mit einer reichen livlandischen Familie eine 
Eeise durch England, Frankreich und Italien antreten, als ihm ein Euf 
vonFriedrich dem Grossen, damaJigen Kronprinzen, zukam, worin 
er aufgefordert wurde, eine musikalische Stellung zu ubernehnaen. Seine 
Beschaftigung sollte darin bestehen, Fried rich's Flotenspiel auf dem 
Flugel zn begleiten. Bald gewann er, der nun die wissenschaftliche 
Laufbatn aufgegeben hatte, die Gunst seines Monarchen, und die Folge 
war, dass er eine sehr angenehme Stellung erhielt, als Friedrich zur 
Begierung gelangte. So vergingen die Jahre in erfreulicher Thatigkeit. 
Spater nalim jedocli Bacli's Zufdedenheit ab. Der Konig, "mit ganz 
anderen Interessen bescMffcigt , vernachlftssigte seine Musiker. Bach 
itahm daher im Jahre 1767 einen Ruf nach Hamburg als Musikdirector 
tier Hauptkirdien an, und lebte dort bis an seinen Tod im Jahre 1788, 
yertraut mit den vorzttglichsten Mannern, auch mit Klopstock, in 
ausserst ek*envoler, einflussreicher Thatigkeit. Er hat, wie schon friiher 
erwahnt, yon diesem Aufenthalte den Namen des Hamburger Bach er- 
jmlten. Betraehten wir jetzt die Bedeutung desselben als -Tonsetzer, 
seinen Einfluss auf die Entwicklung der Kunst Ein scheinbar zufalliger 
Umstand, den auch Fr. Eochlitz in seiner Schrift 5? Fur Freunde der 
Tonkunst", in einem Artikel fiber Emanuel Bach, nachdrlicklich her- 
Yorhebt, zeigt sich hier von grossem Einfluss. Sebastian Bach hatte 
bei dem niusikalischen Unterricht dieses Sohnes einen anderen Weg ein- 
geschlagen. In der Meinung, in ilim einen Dilettanten zu bilden, der 
die Kunst nur zu seiner Freude und Erholung betreibe, Melt er ihn fern 
von dem streng Schulmassigen, von dem, was in der Musik jener Tage 
feststehende Manier geworden war. ;' Moglichst vollkoip.menes Klavierspiel 
und rnoglichst entwickelte Fertigkeit im freien Phantasiren schienen Se- 
bastian Bach fur einen Dilettanten das Wesentlichste. Dadurch aber 
rief der Yater unbewusst in deni Solme eine ganz neue Richtung- hervor. 
Denn dieses tagliche Ueben in freier Phantasie Melt den Geist des 
Sohnes frei, gestattete seiner Individualitat unbeschranktes Spiel und enfr- 
schiedenen Einfluss, entschiedeneren, als bis dahin an irgend einem deut- 
schen Tonkunstler zu bemerken war, entschiedeneren, als die gelehrten 
gleichzeitigen Meister ohne Nachtheil fur ihre Kunst und "Wiirde zuge- 
stehen zu durfen glaubten. Die Bevorzugung des Klaviers auf Kosten 
der Orgel leitete ausserdem immer mehr zum Weltlichen hin, war uber- 
haupt auf Emanuel Bach's kunstlerischen Charakter von wesentlich 
bestimmender, nachhaltiger Wirkung. Nehmeu wir nun hierzu noch ein 



dieser Eichtung entsprechendes Nature!!, sanguinische Beweglichkeit, auf- 
geweckten Sinn, der sicli in der Jugend in der Lust zu allerlei neeki- 
schen Streichen zeigte, Behendigkeit, ein leieht aufgeregtes, oft wandel- 
bares Wesen, jedocli ohne Nachtheil fur das Tiefere, so ist erklart, wie 
sich in Emanuel Bach eine EicMung auspragen konnte, welche, ent- 
sprechend dem allgemeinen geistigen Umschwung in der zweiten Halfte 
des vorigen Jahrhunderts, im Gegensatz zu der alien Objectivitat den 
eigenen Geist und die eigene Gefuhlsart des Kiinstlers zur Darstellung 
brachte, und so die moderns Instrumentalmusik unmittelbar einleitete, 
die Basis wurde, auf welcher das spatere, grosse Gebaude derselben sich 
erhob. Emanuel Bach's Compositionen, besonders die fur das Klavier, 
enthalten neben Tielem, was der alten Seliule angetort, ganz unmnwunden 
und unbefangen dieses Neue ; sie bringen in Fulle Merkmale jenes leieh- 
ten, nectenden, leicht aufgeregten Wesens, welches vorhin schon erwahnt 
wurde. Je hoher Emanuel sich in gereiften Jahren stellen lernte, urn 
so hoher lernte er auch diese Eigenthunilichkeit schatzen, da gerade sie 
es war, worin ihn spater Kenner und Publicum bewunderten. Mit dem 
Leben vertrauter als Sebastian, ditrch Umgang, Verhaltnisse und all- 
seitige, gediegene Bildung geglattet, das Feine und Gewandte des hoheren 
geselligen Lebens sich aneignend, war er im Stande, zu der grossartigen 
Gediegenheit und Festigkeit des Vaters noch gefalligen Glanz, feinere, 
bewegtere Wendungen hinzuzubringen, und er ist dutch diese Verbin- 
dung, dadurch, dass das Wechselnde, Vielgestaltige der Individualitat 
auf diesem Hintergrunde erscheint, der Begrunder der modernen Eichtung 
der Tonkunst, im weiteren Sinne des Wortes der Begrunder der rouaan- 
tischen Eichtung derselben, der unmittelbare Vorlaufer Joseph Haydn's 
geworden. Dass er es gewesen ist, welcher die Sonatenform zuerst zu 
hoherer ktinstlerischer Bedeutung erhob sein Hauptwerk sind seine 
,,Sonaten fur Kenner und Liebhaber" , ist schon erwahnt worden. So 
gross hierdurch sein Einfluss ward, so gross war derselbe auch, was 
Klavierspiel betrifft. Er ist als der erste durch naehhaltige Bedeutung 
ausgezeichnete Lehrer fur dieses Instrument zu bezeichnen. Sein 3J Ver- 
sucli fiber die wahre Art, das Klavier zu spielen" brach die Bahn, und 
enthalt so Vorziigliches, dass derselbe noch in der Gegenwart aller Be- 
achtung werth ist. Mozart hatte, als er wenige Jahre vor seinem Tode 
in Hamburg war, Bach fleissig besucht, und iirtheilte uber ihn, nach- 
deni er ilin einige Male in freien Phantasien gehort: ,,Er ist der Vater, 
wir sind die Bub'n. Wer yon uns was Eechtes kann, hat von ihm ge- 
lernt ; und wer das nicht eingestehet, der ist ein .... Mit dem, was 
er macht, kamen wir jetzt nieht mehr aus: aber wie ers macht, da 

18 



274 

stelit ilim Keiner gleieh". Sie entnehmen aus alledein, welehe ausge- 
zeielinete Stellung Emanuel Bach in der Geschichte der Kunst ein- 
ninnni NUT auf dern Gebiete der Gesangscomposition war er weniger 
gliicklicL Der Bewegliehkeit seines Wesens, der grossen Freiheit, rait 
der er zu sehreiben gewohnt war, legte die angemessene Behandlung der 
Worte einigen Zwang auf. Wenn dessenungeaclitet seine Hauptwerke 
auch aus der Sphare, worin er das Vorztiglichste geleistet hat, jetzt den 
Meisten unbekannt sind, so theilt er in dem neulicli schon be- 
sproclienen Sinne das Schicksal aller Derer, welche eine neue Epoche 
beginnen. Die bedeutenderen Leistungen der Nachfolger lassen die ersten 
Anfange vergessen; fur die Kunstgeschichte aber sind solclie Anfange 
von grosster Wichtigteit. Als ich uber Sebastian Bach sprach, 
nannte ich ausser den jetzt besprochenen nocli zwei Sohne desselben, 
den Buckebm-ger uncl den Londoner Bach. Um das Bild dieser Familie 
zu vervollstandigen, mogen diese hier noch im Vorflbergehen eine Er- 
wabnung finden. Beide sind von geringerer Bedeutung ; der Erstgenannte 
nalim sicli Emanuel zum Muster, der zweite war Modecomponist und 
entfernte sieli am weitesten von der kunstlerisclien Holieit seines Vaters, 
aucli ini Leben am weitesten von dessen btirgerlicher Ebrenfestigkeit. 
Er war ein Mann des Salons und Mnterliess, obschon er viel verdiente, 
eine grosse Sctuldenlast. In Mozart's Leben werden wir ihm nocli 
einmal begegnen. 

Sie erblicken jetzt die Entwicklung so weit gedielien, dass nun bald 
der erste Hoheptmct der zweiten Epoclie, der des schonen Stils, erstiegen 
werden konnte. Nocli ein wicMiger Schritt indess war zu thun. An 
Gluck's Leistungen auf dem Qebiete der Oper konnten sich unmittel- 
bar die Mozart's in gleiclier Spliare anscbliessen. Jenes indess, was 
Emanuel Bach gegeben hatte, war noch nicht ausreichend, dass un- 
niittelbar ahnliche Schopfungen auch in der Instrmnentalmusik hiitten 
folgen konnen. So Bedeutendes Gluek und Emanuel Bach auch 
schon auf dem Gebiete der Orchestercomposition producirt Iiatten, so 
war doch dadurch die Instrumentalmusik noch nicht zu einer der Oper 
analogen Hohe gebracht worden. Noch eine Stufe war zu ersteigen, 
bevor Mozart uncl weiterhin Beethoven, allseitig vorbereitet, er- 
scheinen konnten. Dies geschah clurch J.Haydn, und unsere Betrach- 
tung leitet uns daher unmittelbar auf diesen. 

Josepli Haydn war geboren am 31. Mfirz 1732 in dem Dorfe 
Rohrau in Niederosterreich an der Grenze von Ungarn. Sein Vater war 
ein "Wagner und tibte in jenem Dorfe die Profession aus. Auf der 
Wanderschaft, als Eandwerksgesell, hatte derselbe ein wenig Uebung 



auf der Harfe sick zu versckaffen gewusst. Er setzte als Meister in 
Kohrau zur Brholung nacli der Arbeit die BeseMftigung mit diesein 
Instrmnente fort, indem er gewoknliek den Gesang seiner Frau begleitete* 
Der junge Joseph war bei diesen Debmigen zugegen, und die ersten 
Eindrucke, die er von der Aussenwelt erMelt, die ersten Eindrueke, 
welche in ikna liafteten, waren dalier vorzugsweise Tone; sein Geist 
erwacMe nnter Melodien. Jene Lieder batten sick so tief in sein Ge- 
daektniss gepragt, dass er sick derselben noch im spatesten Alter er- 
innerte. Die erste Anregung fiir Musik war gleiclizeitig mit deni 
Erwaeken seines Bewusstseins uberhaupt. Sechs Jakre alt gab man 
den Knaben zu eineni Verwandten, einem Scliulmeister aus dem benach- 
barten Hamburg. Hier erMelt derselbe Unterrickt in den gewohn- 
licken Schulkenntnissen, irn Singen, und was fur den spateren Instru- 
mentalcomponisten das Wesentlicliste war, fast auf alien Bias- und 
Saiteninstrunienten, sogar im PaukenscHagen. ,,Ick verdanke es diesem 
Manne nocb. im Grabe", sagte Haydn spater ofbmals, 55 dass er micli 
zu so vielerlei angehalten hat, wenn ich aucli dabei mehr Prugel als 
zu essen bekam." Empfoblen durch seine gute Stiname und durch seine 
GescMcklichkeit, kam er einige Jalire spater als Chorknabe an die Steplians- 
kirclie in Wien, wo er bis in sein 16. Jahr blieb. Der in Haimburg 
begonnene UnterricM wurde Mer etwas genauer uncl grundlicher fortge- 
setzt, ohne dass jedock Haydn eigentlicbe Anleitung in der Compo- 
sition erlialten hatte. Seine Vorbildung beschi-ankte sich auf Unterwei- 
sung im Praktischen und eigene Compositionsversuche, mit denen er frtih 
hervortrat Als der Brucli der Stimme erfolgte, erMelt er seine Entlas- 
sung; er war der Durftigkeit preisgegeben, da er nicht die geringste 
Untersttitzung von seinen armen Eltern erhalten konnte. Mitwirkung 
in den Orcliestern und bei Naclitmusiken gewahrte inm seinen Unter- 
halt. Er bewolmte ein annseliges Dacbkammerclien obne Ofen, wo 
der Regen eindrang. ,,Wenn ich aber", erzahlte er spater, J5 an meinem 
alten, von Wtimiern zerfressenen Ivlavier sass, beneidete ich. keinen 
Eonig uni sein Gluck." Um diese Zeit fielen ibrn die secns ersten 
Sonaten yon Emanuel Bach in die Hande. ?5 Da kam icli nicbt mehr 
von meinem Klavier weg, bis sie durchgespielt waren, und wer mich 
griindlicli kennt, der muss wissen, dass ick deni Emanuel Bach, sehr 
Vieles verdanke, dass ich ihn verstanden uncl fleissig studirt babe. Bach 
liess mir auch selbst einmal ein Compliment darflber macken." Haydn's 
Leben ist bis weit herauf in die spateren Jalire eine ununterbrochene 
Folge von Muhseligkeiten und steten Entbekrungen gewesen; erst spat 
nahm sein Geschick eine bessere Wendung, nakm zugleick seine 

18* 



schaffende Thatigkeit den hochsten Aufschwung. Haydn wurde zuerst im 
Jahre 1759 bei einem Qrafen Morzin als Musikdireetor angestellt, 
schon im folgenden Jahre aber trat er in gleicher Eigenschaft in die 
Dienste des Fursten Esterhazy, "wo er dreissig Jalire lang blieb. 
In dieser Stellung thatig, lebte er meist in Eisenstadt in Ungarn, ab- 
geschlossen, nur far die Kapelle dieses Fursten thatig, nur zwei bis 
drei Wintermonate in Wien zubringend, in einer ausserlich besehrankten, 
aber fur die Ausbildung seines Genius selir gimstigen Lage. ,,Niemand 
in meiher Nfihe konnte mich an mir selbst irre machen, und so musste 
ich Original werden." Er hatte hier zahlreiche Krafte zu seiner Dis- 
position iind konnte Erfalmmgen sammeln. Schon vorhin wurde bemerkt, 
class Haydn sich frttlizeitig in eigenen Conipositionen versucht hatte. 
Aclitzebn Jalire alt, componirte er sein erstes Quartett, nicht viel spater 
seine erste Oper ,,Der knunme Teufel", eine Satire auf den lainkenden 
Theaterdirector Affligio, die auch deswegen nach dreimaliger Atif- 
ffihrung verboten wurde; als Musikdirector im Dienste des Graf en Morzin 
seine erste Symplionie. Die Entsteliung dieser Werke war stets eine 
rein zufallige; durch aussere Veranlassungen wurde er daliin gefuhrt. 
Wir liaben bis jetzt zwei Epochen in Haydn's Leben durchlaufen, 
die erste seiner kummerlichen Existenz, zugleicli seiner Lehrjahre, die 
zweite, welclie durch den Aufenthalt beim Fursten Esterhazy be- 
zeichnet wird. Im Jalire 1790 starb dieser Fiirst, und mit diesem 
Todesfall beginnt die dritte, wiclitigste Epoclie. Erst jetzt trat er in 
die grosse Welt ein, wurde in weiteren Kreisen bekannt und erlangte 
eine ausgezeiehnete personliclie Stellung; zugleich nahm seine gesammte 
kunstlerische Thatigkeit den hochsten Anfschwung. Die Werke, welche 
wir kennen, und die seiu Andenken bei der Nachwelt lebendig erhalten 
werden, sind erst in dieser Epoche seines Schaffens entstanden. Ein 
gewisser Salomon aus Coin, damals in London bei clem Professional- 
Concert in Hanover-Square engagirt, hatte sich schon ofters brieflich 
an Haydn gewendet and ilm nach London eingeladen; Haydn hatte 
aber stets die Einladung abgelehnt. Salomon befand sich gerade in 
Deutschland. um neue Mitglieder zu engagiren, als er die Todes- 
nachricht des Fursten erfulir. Sogleich eilte er nach Wien und trat bei 
Haydn mit den Worten ein: w Maohen Sie sich reisefertig, in vierzehn 
Tagen gehen wir mit einander nach London". Haydn straubte sich 
anfangs gegen den Vorschlag, berief sich auf seine Unkenntniss der 
englischen Sprache und auf seine Unerfahrenheit im Eeisen. Aber bald 
warden diese Einwendungen beseitigt. Salomon stellte so giinstige 
Bedingungen, dass nun mit einem Male die aussere Lage des bis 



dahin immer &och bedrangten Tonkunstlers erne andere Wendung nahm. 
Zu Bnde des Jahres 1790 traten Beide die Eeise nach London an. 
Haydn rechnete die Jahre, welehe er in London zubrachte, zu den er- 
freulichsten seines Lebens. Das Gluck begfinstigte ihn, und Haydn 
erfuhr, was Wenigen vergount ist: er wurde geehrt, holier fast als 
Handel, seine europSische Beruhmtheit ging von Mer aus, und das 
hohe Alter, welches er erreichte, gewahrte ihm die Mogliehkeit, diesen 
Ruhm noch zu erleben und die Fruchte desselben zu geniessen. In Eng- 
land eroffnete sicli far ihn in der That eine neue Welt, tier begann 
die Zeit seiner Ernte, und zugleich, wie schon erwatnt, die seiner grossten 
Schopfungen. Hier liat er seine noch jetzt anerkannten Symphonien 
und Quartette, die ersten classischen Leistungen auf dem Gebiete der 
Instrumentalinusik, geschrieben; seine beiden bedeutendsten Oratorien 
aber, die ,,Schdpfung" und die , ; Jahreszeiten Ci , nach seiner Ruckkehr, als 
er in Wien privatisirte. Haydn ftihrte fiber seinen Aufenthalt in Eng- 
land selbst ein Tagebuch, Diese uns durch den sachs. Legationsrath 
Grie singer in der Biographie des grossen Tontiinstlers mitgetheilten 
Notizen (Allg. imisik. Zeitung vom Jahre 1809) betreffen zwar nur 
Aeusserlichkeiten ; aber es ist daraus ersichtlich, wie sehr sein Londoner 
Leben verscHeden war von dem fniheren beim Fiirsten Ester hazy, 
und wie Haydn's Krafte durch die Anerkennung, welehe er fand ? ge- 
hoben und gesteigert ^werden mussten. So hatte der arme Musikant 
allmahlich zu den hochsten Kreisen der europaischen Gesellschaft sich 
emporgearbeitet. Haydn wiederholte ofters, class er in Deutschland 
erst Yon England aus bfruhmt geworclen sei. Der "Worth seiner Werfce 
war anerkannt; aber laute, enthusiastische HuMigungen folgten erst 
nach seiner Eiickkehr. Jetzt, nach einem zweimaligen Aufenthalt in 
London, kaufte er sich in Wien ein Hans und lebte, zurtickgezogen von 
alien GeschSffcen, fortan nur der Composition. Die 5 .Schopfung ic com- 
ponirte er im Jahre 1797, die ,,Jahreszeiten :i wurden zum ersten Male 
1801 aufgefohrt. Haydn war 69 Jahre alt, als er die Liebe von 
Hannchen und Lucas gesungen hatte. Sie gewaliren bei ihm, wie bei 
den vorausgegangenen Meistern, bei Handel, bei Gluck, die hochste 
Schopferkraft fast im Greisenalter. Die Naturen des vorigen Jahrhunderts 
zeigen eine weit grossere Zahigkeit und Pestigkeit, als das gegenwartige 
Geschlecht, wo derartige Beispiele kaum noeh vorkonnnen durften. Wie 
das vorige Jahrhundert im Vergleich mit der Gegenwart fiberbaupt einen 
saftreicheren Boden besass, wie damals die Lebenskraft nicht so schnell, 
als in unserer Zeit, durch stote Aufregungen, durch die Unruhe des 
gesaranaten Lebens, verzehrt wurde, so erblicken wir iibeiiiaupt eine 



278 -- 

nachhaltigere Schopferkraffc, einen minder $chnell versieclienden Born 

der Produetivitat. Durch die beiden genannten Oratorien setzte Haydn 

seinem Kutmi die Krone auf. Aus alien Landern kamen ihm fortan 

bis an seinen Tod die ehrenvollsten Beweiso der Anerkenuung. End- 

lich unterlag seine Korperkraft. Hochverelirt und allgemein geliebt, 

sich seiner zuruckgelegten Laufbahn freuend, lebte or nocli mehrere 

Jahre, wie ein Vater unter seinen Kindern, in Wien. Er starb wahrend 

der Belagerung Wiens am 31. Mai 1809. Dies sind einige Haupt- 

puncte axis clem einfachen, aber ansprechenden Leben cles grossen Ton- 

kunstiers. Einfach biirgerlich, ehrbar, noeh ganz in der Weise des 

yorigen Jahrhunderts, mit clem Volke, aus clem er hervorgegangen war, 

sympatbisirend, natiirlichen Behagens Yoll, welclies sich bis znm Aus- 

clruck argloser Sehalkhaftigkeit steigerte, ein Solm seines Vaterlandes, 

sicli ergehend in behaglieher osterreichischer Gemuthlichkeit und Herzens- 

heiterkeit, kindlicli fronim, gliicklich in der Bescliriinkung und entfernt 

von afler fortreissenden Leidenschaft, so zeigt sicli uns sein Wesen. 

Haydn hat in seinem langen Leben ausserordoutlich. viel Musik gemaclit. 

Griesinger tbeilt uns ein nicht eiumal yollstandiges Vorzcicliniss mit : 

118 Symphonien, 83 Quartette, 24 Trios, 19 Opern, 5 Oratorien, 15 

Messen, 163 Compositionen fur das Baryton, das Lieblings(saiten)instrument 

Esterhazy's, 44 Klaviersonaten u. s. f. finclen sicli darin notirt. Viele 

dieser Werke gelioren indess, wie Ihnen sclion aus dcm bisber Darge- 

stellten ersichtlich, der Zeit seiner Entwicklung an: das Wiclitigste 

fallt in die letzte Epoche, in die Zeit von 1790 an, in die Zeit clemnach, 

wo Haydn, der Yorganger Mozart's, zugleich wieder das durch diesen 

Geleistete far eigene Steigerung unrl Weiterbildung benutzcn konnte. 

Seine Opern sind Gelegenheitswerke und Laben eine weitere Yerbreitung 

nicht gefunden; auch lag ihm, clem es nur darauf ankam, sein unschulds- 

Yolles Qemuth auszusprechen, das Dramatische fern. Ueber die Bedeu- 

tung seiner kirchlichen Werke wercle icli spater noch zu sprechen Ge- 

legenheit haben. Seine Eeligiositat war Naturreligion, er war fromm, 

aber weit entfernt, streng Kirchliches in sicli aufzunelimen und zur Dar- 

stellung zu bringen. Haydn ist der Anfangspunct fur die Neuzeit, er 

ist der Gruncl und Boden, auf welch em Mozart und die umfassende 

Schule desselben sich erheben konnten. Er hat die moderne Zeit ,er- 

offnet durch sein von alien positiven Stiinmungen dor Kirche, von aller 

Ueberliefenmg abgewendetes, heiteres, nur YOU einem kiudlich unsclmlds- 

vollen Inhalt erfflltes Gemtith. Es ist die Msche, nattirliche Empfindung, 

welche in ihm heiTortrat, mit historischer Nothwendigkeit hervortreten 

musste, um eine in der Darstellung des rein Menschlichen wurzelnde 



.Kunst zu begrunden. Er ist der erste Beprasentant jenes freien, von 
aller Ueberlieferung und Autoritat abgewendeten Geistes, welcher gleich- 
zeitig, wie in alien Gebieten, so namentlicli auf dem dex Poesie mi Er- 
seheinung kam. Die Instrumentahnusik ist die dieseni Geiste entsprecliende 
Kunstgattung, und so sehen wir in Haydn Denjenigen, der dieselbe zuerst 
zur selbststandigen Kunst emporhob. Seine Schopfungen in dieser Sphare 
sind das Wichtigste und Hervorragendste, was er gegeben hat; neben 
diesen seine beiden Oratorien. Tiefbedeutsam ist dabei, gerade in dieseni 
Moment, die "Wanderung der Tonkunst Ton Nord- nacli Suddeutsch- 
land. Der friiheren Kichtung hatte mehr das aorddeutsche Wesen ent- 
sgroclien. Jetzt, wo es darauf ankara, die entfesselte Empfindung aus- 
zustrSnaen, den Inbalt des Herzens auszuspreclien, der Pliantasie immer 
grosseren Spielraum zu gestatten, zeigt sicb sogleich StiddeutscMand, 
Oesterreich, eine ganze Epoche MndurcTi als die Heimath der Tonkunst. 
Wir haben jetzt die vor-Mozart'sche Epocle abgescHossen und 
sincl auf dem Puncfce angelangt, die durch Mozart bewirkte Umgestal- 
tung der Tonkunst, die Einfliisse derselben auf die ganze dvilisirte 
"Welt zu betracMen. In Mozart kommt die bisherige Entwicklung, 
nicht bios der deutsehen, nein, der enropaischen Musik zu ihrer Con- 
centration und ersten liocbsten BMhe. Jetzt waren die Mittel gegeben, 
jetzt die Kunst so weit gesteigert, um unmittelbar auf diesen naclisten 
Culminationspunct Mnfuhren zu k5nnen. Die Voranssetzungen, die Grund- 
lagen dieser Zuspitzung sind durcli das geboten; was die gesanimte 
Tonkunst bis dahin erreicM hatte. Was seit Jahrhunderten erstrebt 
worden war, gelangte jetzt zur Vollendung und zuni Abscliluss. Die 
italienische Musik hatte, soweit es auf dieser Stufe und bei diesem 
Princip moglicli war, ihre classiscie Hohe erreicht. Es war der Zauber 
sinnlicher Sclionheit, den dieses Land vorzugsweise zur Erscheinung 
gebracht hatte. Italien war erfindend yorangegangen, ohne indess diesen 
Erfindungen die entsprechende Steigerung und Portbildung geben zu 
konnen, Daneben hatte sich in der deutschen Musik eine grosse geistige 
Macht, Tiefe des Ausdrucks und der Charakteristik offenbart. Beide 
Lander hatten damit begonnen, den wOrdigsten Inhalt, den Inhalt der 
Eeligion, ein Allen Gemeinsames, ein Objectives, durch Tone zur Dar- 
stellung zu bringen. Die Entwicklung subjectiver Mannigfaltigkeit war 
darauf gefolgt, und mit dieser Wendung war unmittelbar die Bahn far 
die gesanimte neuere Kunst gebroehen worden. Italien hatte zunachst 
die Oper mehr nach der lyrischen Seite hin ausgebildet; Handel 
war dieser Eichtung mit seiner tiberwiegend epischen Natur gegenuber- 
getreten. Gluct blieb es vorbehalten, auf der Grundlage des bis 



dahin Geleisteten die Wendung zuna Dramatise! en. Mn m vollbringen. 
Wir erblicken Frankreieli eintretend in die allgemeine .Bewegung ; Deutseli- 
land aber hatte innerhalb seiner Grenzen vielfach disparaten Elementen 
Baum gegeben. Alle Kunstmittel waren bis zu mogliclister Hohe der 
Ausbildung gesteigert, zuletzt sahen wir'noch die Entslehnug der dritten, 
wicMigsten Kunstgattung, der Instnunentalmusik, in Deutschland. Dies 
sind die Eesultate aller Bestrebimgen, Eesultate, welche. nothwendig 
waren, una die Sehopfungen des grossten specifisch musikaKsclien Genies, 
um Mozart m5glich zu maclien. Jetzt naht die Zeit, wo fiber alles 
bis daHn Erreichte Abreehnung gehalten wird, wo es sicb. liber seine 
Brattchbarkeit zu dem grossen Ban aller Nationen ausweisen muss, 
Betrachten wir den durcMaufenen Weg, so erkennen wir als leitendes 
Piincip, dass es bis daliin darauf angekommen war, jede Nationalitat 
nicht nur, sondern auch jede besondere Kunstgattnng, jeden Knnststil, 
jede EicMung for sicli, getrennt von alien anderen, herauszuarbeiten, 
gesondert zur Selbststandigkeit zn fuhren, allein tmd geschieden von 
allem Uebrigen zur Geltnng zu bringen. Jedes Land batte seine be- 
sondere Aufgabe von dem Geist der GescMchte erhalten,, jede RicMung 
ike besondere Mission, Jetet nabt die Zeit der Ernte, jetzt der Moment, 
wo ein Universalgenie alles Vereinzelte zu einem grossen, organischen 
Ganzen zusammenfassen sollte, Diese That Mozart's liaben wir in 
der naclisten Vorlesung nalier zu betrachten. 



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