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Full text of "Geschichte der Oper"

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DER  OPER 


LIBRARY  OF 
WELLESLEY  COLLEGE 


PURCHASED  FROM 


OBAH  PÜMD 


Kleine  Handbücher 

der 

Musikgeschichte  nach  Gattungen 

Herausgegeben 

von 

Hermann  Kretzschmar 


Band  VI 

Geschichte  der  Oper 

von 

Hermann  Kretzschmar 


Leipzig 

Druck  und  Verlag  von  Breitkopf  &  Härtel 

1919 


Geschichte  der  Oper 


von 


Hermann  Kretzschmar 


Leipzig 

Druck  und  Verlag  von  Breitkopf  &  Härtel 
1919 


270R01 


Copyright  1919  by  Breitkopf  &  Härtel,  Leipzig 
Übersetzungsrecht  vorbehalten 


ML  \7oo     .^7S 


Buchschmuck  von  Roland  Auheißer 


107 


Inhalt. 

Seite 

Einleitung ^^^ 

Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper  .  10 -so 
Liederspiele,  iMoralitäten,  Schulkomödien,  Jesuitenspiele,  harmo- 
nisches Rezitativ.  —  G.  B.  Doni,  Über  den  Ursprung  des  neuen 
Bühnengesangs.  —  Die  Anfänge  des  Bühnengesangs.  —  Das  Madri- 
gal. —  Intermedien.  —  Orazio  Vecchis  „Ämfiparnasso".  — 
Jacopo  Peris  „Euridice".  —  Die  Choroper.  —  Giulio  Caccinis 
„Euridice".  —  Ag ostin 0  Agazzaris  „Eumelio".  —  Claudio 
Monteverdis  „Orfeo".  —  Claudio  Monteverdis  „Lamento 
d'Arianna". 

Die  Venetianische  Oper ^^ 

Die  ersten  Operntheater.  —  Die  accidenti  verissimi  in  der  Venc- 
tianischen  Oper.  —  Claudio  Monteverdis  „Incoronazione  di 
Poppea".  —  Francesco  Cavallis  „Didone".  —  Die  Rezitativ- 
oper. —  Die  Vertreter  der  Rezitativoper.  —  Pietro  Andrea 
Ziani.  — Giov.Legrenzis  „Totila".  — Melani,Agostini,  Sab- 
badini, Abbatini.  —  Das  Orchestercrescendo  und  die  Bravourarie. 

Französische  Oper 108-132 

Pierre  Perrin  und  Robert  Cambert.  —  Jean  Baptiste 
Lully.  — Philipp  von  Quinault.  —  Das  französische  Ballett. — 
Das  Orchester  der  französischen  Oper.  —  Comedie- Ballet  oder 
Opera-Ballet.  —  Die  Nachfolger  Lullys.  —  Die  Lullysche  Schule.  — 
Jean  Philipp  Rameau. 

Das  erste  Jahrhundert  der  Deutschen  Oper 133-157 

Die  Deutsche  Oper  in  der  älteren  Zeit.  —  Heinrich  Schützens 
„Dafne".  —  Die  ßraunschweiger  Opernaufführungen.  —  Die  Oper 
in  Meiningen,  Hannover,  Hamburg.  —  Die  Hamburger  Oper.  — 
Sigmund  Kusser,  Reinhard  Keiser.  —  Die  Deutsche  Oper 
in  Leipzig.  —  G.  Ph.  Telemann.  —  Die  Deutsche  Oper  in  Nürn- 
berg, Ansbach,  Durlach.  —  Das  Ende  der  Deutschen  Oper  im 
^8.  Jahrhundert. 

Itahenische  Oper  unter  den  Neapolitanern.   . 158-184 

\  Apostolo  Zeno.  — PietroMetastasio.  — AlessandroScar- 

'  \,     \  latti.  — Leonardo  Vinci  und  Giov.  B.  Pergolesi. —  Nicolo 

y  Porpora.— G.F.Händel.— B.Marc  el  los  „Teatro  allamoda".— 

\\  Die  neapolitanische  „Opera  buffa''. 


VI  Inhalt. 

Seite 

Von  Hasse  bis  Gluck -185—206 

Johann  Adolf  Hasse.  —  Domenico  Terradellas.  —  Nicolo 
Jommelli.  —  Tommas o  Traetta.  —  Chr.  \V.  Gluck. 

Gegenströmungen 207—2.33 

Die  Wandlungen  der  Opera  buffa. —  Nicola  Piccinnis  „Buona 
figliuola  maritata".  —  Das  Deutsche  Singspiel.  —  Vom  Singspiel 
zur  Oper. —  Albert  Schweitzers  „Alceste". —  Ignaz  Holz- 
bauers ,, Günther  von  Schwarzburg".  —  Die  nationale  Oper  in  den 
nordischen  Ländern. —  J.  J,  Rousseaus  „Devin  du  village". — 
Egidio  Romoaldo  Duni.  —  Die  bürgerliche  Oper.  ~  Die  Ver- 
schmelzung französischer  und  italienischer  Schule.  , 

Die  Schule  Glucks 234-246 

Die  Vertreter  der  Gluckschen  Oper  in  Paris.  —  Gasparo  Spon- 
t  i  n  i.  —  Glucks  Reformen  in  Deutschland.  — W.  A.Mozarts  Opern. — 
Glucks  Opern  auf  den  deutschen  Bühnen.  —  Die  Glucksche  Schule 
in  Haben. 

Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 24  7-275 

Melodram  in  Singspiel  und  opera  comique.  —  Revolutions-  und 
Schreckensoper.  —  Aufschwung  der  Komischen  Oper.  —  K.  M. 
von  Webers  „Freischütz".  — K.M.  von  Webers  „Euryanthe".  — 
Vincenzo  Bellini.  —  Nicolo  Isouard  und  Adrien  Boiel- 
dieu.—  Daniel  Auber.  —  Jakob  Offenbach.  —  Richard 
Wagner.  —  Eine  Wagner-Schule.  —  Giuseppe  Verdi. 

Register 276-286 


Geschichte  der  Oper 


Einleitung 

Wenn  die  Oper  auch  von  der  Wichtigkeit,  die  sie  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  besaß,  viel  eingebüßt  hat,  so  nimmt  sie  doch 
im  Kunstleben  der  Gegenwart  immer  noch  eine  ansehnliche  Stellung 
ein.  Das  beweisen  die  Theaterzettel  und  die  gefüllten  Opernhäuser  der 
großen  Städte.  Sie  gilt  als  ein  glänzendes  Stück  dramatischer  Kunst, 
zugleich  ist  sie  das  anspruchsvollste :  sie  verlangt  ein  größeres  Maß 
von  Vorbildung  als  das  gesprochene  Drama,  nicht  bloß  musikalische, 
sondern  auch  geschichtliche  Vorbildung.  Man  muß  die  Geschichte 
der  Oper  kennen,  um  mitten  im  Wirrwarr  der  auseinander  gehenden 
Richtungen  sich  zurecht  finden,  um  Wert  oder  Unwert  neuer  Versuche 
und  Entwicklungen,  wie  sie  uns  zuletzt  beispielsweise  Rieh.  Wagner 
gebracht  hat,  sicherer  beurteilen  zu  können.  Geschichte  der  Oper  ist 
die  unerläßliche  Vorbedingung  zu  einer  Ästhetik  der  Oper,  sie  ist 
konkrete  Ästhetik.  Das  ist  die  vornehmste  Veranlassung,  sich  mit  ihr 
bekannt  zu  machen. 

Ihr  Studium  vermittelt  dann  weiter  die  Bekanntschaft  mit  großen 
Künstlern  und  mit  bedeutenden  Werken.  Eduard  Hanslick  hat 
wiederholt  ausgesprochen:  die  Lebensdauer  eines  musikalischen  Kunst- 
werks sei  fünfzig  und,  wenn  es  hoch  kommt,  hundert  Jahre.  Dieses 
Axiom  ist  heute  durch  die  Namen  Schütz,  Palestrina  widerlegt; 
es  stimmt  auch  für  unsere  Opernpraxis  nicht  recht  mehr.  Sie  macht 
allerdings  bei  Gluck  halt  und  stellt  uns  vor  die  Frage,  ob  in  Zu- 
kunft auf  die  Wiederbelebung  auch  älterer  Werke  gerechnet  werden 
darf?  Auf  Wiedereinführung  ganzer  Opern  des  17.  Jahrhunderts 
und  aus  der  ersten  Hälfte  des  18.  nur  spärlich  und  bei  Gelegen- 
heiten, wie  sie  1878  die  Hamburger  Oper  bei  ihrer  zweihundert- 
jährigen Jubelfeier  mit  der  Aufführung  von  Hand  eis  »Almira*,  wie 
sie  Breslau  1912  mit  einer  Neubearbeitung  von  Mo nteverdis  »Orfeo« 
bot.  Aber  es  gibt  einzelne  Opern,  von  Cavalli  z.  B.,  die  in  stil- 
gerechter, vollendeter  Ausführung  auf  ein  verständiges  Publikum 
noch  heute  überwältigend  wirken  würden.  Noch  mehr  aber  gibt  es 
einzelne  Szenen  dieser  Art.  Gerade  die  Vor-Glucksche  Oper  ist  reich 
an  musikalisch-dramatischen  Elementen  und  Ideen,  die  in  der  Gegen- 
wart eines  erstaunlich  belebenden  Eindrucks  sicher  wären. 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VI.  1 


2  Einleitung 

Nicht  der  letzte  unter  den  Nebenerträgen  einer  Operngeschichte  ist 
die  Beleuchtung,  die  von  ihr  aus  auf  das  Theater  älterer  Zeit  überhaupt 
fällt.  Eigenheiten  Shakespeares,  wie  seine  Verkleidungsmotive,  rücken 
erst  durch  Bekanntschaft  mit  der  Oper  ins  System.  Aber  nicht  bloß 
auf  das  Theater  des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  sondern  auf  die  ganze 
Kultur  dieser  Perioden  fallen  von  der  Oper  aus  aufhellende  Lichter. 
Sitten,  Geschmacksrichtungen,  Moden,  Wesen  und  Wert  großer  geistiger 
Strömungen  offenbaren  durch  die  Oper  sonst  unbekannte  Züge. 

Eine  vollständige  Geschichte  der  Oper  in  der  Zeit  bis  Gluck  läßt 
sich  gegenwärtig  allerdings  nicht  geben.  Einmal  ist  der  größere  Teil 
der  hierzu  nötigen  Vorarbeiten  überhaupt  noch  gar  nicht  in  Angriff  ge- 
nommen, zweitens  aber  zeigt  der  Bestand  des  wesentlichsten  Quellen- 
materials selbst  so  bedenkliche  Lücken,  daß  die  Hoffnung  auf  eine  voll- 
kommene Lösung  der  Aufgabe  vielleicht  für  alle  Zeiten  aufgegeben 
werden  muß.  Diesen  wesentlichsten  Teil  des  Quellenmaterials  bilden 
die  Partituren  der  Oper.  Nun  sind  von  den  italienischen  Opern,  gerade 
in  der  Periode,  wo  sie  den  Kontinent  beherrschten,  nämlich  von  der 
Mitte  des  17.  Jahrhunderts  ab,  die  Partituren  nur  handschriftlich  ver- 
breitet worden.  In  der  französischen  Oper  wurden,  dank  einer  ein- 
sichtigen Verfügung  Ludwigs  XIV.,  die  aufgeführten  Werke  sämtlich 
gedruckt,  mit  Privileg  geschützt  und  in  mehrfachen  Exemplaren  auf 
den  Öffentlichen  Bibliotheken  hinterlegt.  Die  Entwicklung  des  fran- 
zösischen Musikdramas  können  wir  daher  heute  ziemlich  vollständig 
übersehen.  Aber  bei  der  italienischen  Oper  stehen  wir  immer  wieder 
vor  den  fatalsten  Lücken.  Es  sind  Partituren  verschollen,  welche  wir 
als  die  Hauptwerke  ihrer  Schöpfer  bezeichnet  finden,  z.  B.  aus  der 
venezianischen  Oper:  Legrenzis  »Divisione  del  mondo«,  Sacratis 
»La  finta  pazza«.  Von  einzelnen  Komponisten,  welche  im  Repertoire 
eine  Hauptstelle  einnahmen,  ist  wenig  oder  nichts  erhalten.  Von  den 
mehr  als  zwanzig  Opern,  mit  denen  z.  B.  Rinaldo  da  Capua  vertreten 
war,  sind  heute  fünf  Werke  übrig;  von  Latilla  besitzen  wir  gar  nichts. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  darf  allerdings  eine  Besserung  dieser 
Sachlage  erwartet  werden.  Zu  den  großen  öffentlichen  Bibliotheken, 
in  welchen  bedeutendere  Sammlungen  italienischer  Opernpartituren 
aufbewahrt  werden,  —  auf  deutschem  Boden:  die  Königlichen  Biblio- 
theken in  Berlin  und  Dresden,  die  Hof-  und  Staatsbibliothek  in  Mün- 
chen, die  Stadtbibliothek  in  Hamburg,  die  besonders  reiche  Hof  biblio- 
thek  in  Wien  und  die  Bibliothek  der  Gesellschaft  der  Musikfreunde 
ebendaselbst,  im  französischen  Sprachgebiet:  die  Bibliothek  des  Con- 
servatoire  und  die  Nationalbibliothek  in  Paris,  die  Bibliotheque  royale 
in  Brüssel;  in  Italien  die  Markusbibliothek  zu  Venedig,  die  Biblio- 
teca  Estense  zu  Modena  —  eine  der  ersten  von  allen  — ,  die  Biblio- 
theken der  musikalischen  Lyzeen  zu  Bologna,  Florenz  und  der  Santa 
Caeciliai  zu  Rom  und  namentlich  die  Bibliothek  des  Konservatoriums  zu 


1  Letztere  hat  der  Deutsche  Adolf  Berwin  ins  Leben  gerufen. 


Einleitung  3 

Neapel  — ,  kommt  noch  eine  Anzahl  kleinerer,  zum  Teil  in  Privatbesitz 
befindlicher  Bibliotheken.  Namentlich  an  diesen  letzteren  Stellen  fehlt 
es  noch  vielfach  an  einer  planmäßigen  Feststellung  des  vorhandenen 
Materials.  Das  gilt  für  ehemalige  kleine  deutsche  Eesidenzen,  noch 
mehr  aber  für  die  Bibliotheken  altitalienischer  Familien.  Im  Jahre 
1888  tauchte  im  Palazzo  Chigi  zu  Rom  der  längst  verloren  geglaubte 
»Orfeo«  von  Luigi  Rossi,  eine  der  wichtigsten  Opern  des  17.  Jahr- 
hunderts auf,  fünf  Jahre  später  war  er  wieder  verschwunden,  dafür 
kam  eine  andere  Oper  des  Komponisten  »II  Palazzo  d'Atlante«  zum 
Vorschein. 

Jedoch  auch  an  den  Stellen,  deren  Besitz  an  Opernpartituren  kata- 
logisiert und  bekannt  ist,  bleibt  bibliographisch  noch  manches  zu  tun. 
In  der  Mehrzahl  derselben  treten  wir  vor  eine  dunkle  Abteilung, 
gebildet  aus  den  Opern  des  gefürchteten  Anonymus.  Es  gibt  nun 
Fälle,  in  welchen  sich  dieser  unbestimmte,  unbekannte  Autor  mit 
Leichtigkeit  ermitteln  läßt,  und  die  Tatsache,  daß  die  musikalische 
Abteilung  großer  Bibliotheken  zuweilen  gänzlich  unberufenen  Händen 
überwiesen  wird,  läßt  sich  mit  zahlreichen  Anekdoten  belegen.  So 
erklärte  in  Wien  vor  dreißig  Jahren  der  betreffende  Kustos:  »von 
Draghi  haben  wir  nichts«.  Schon  aber  mit  Hilfe  des  Zettelkatalogs 
ließ  sich  feststellen,  daß  die  Bibliothek  von  diesem  Draghi,  welcher 
am  Orte  Kapellmeister  und  jahrzehntelang  der  eigentliche  Hauskom- 
ponist der  Wiener  Hofoper  gewesen  war,  81  große  Opern  und  eben- 
soviel und  noch  mehr  kleine  Serenaden,  Festspiele  und  andere  Ein- 
akter besaß.  In  der  sonst  gut  geordneten  und  verwalteten  Bibliothek 
zu  Bologna  waren  seiner  Zeit  von  Jomelli  eine  Oper  ;'>Merope«  und 
eine  »Epitide«  als  zwei  verschiedene  Werke  gebucht,  obwohl  unter 
den  beiden  Titeln  ein  und  dieselbe  Oper  vorliegt.  »Epitide«  ist  die 
Hauptperson  der  »Merope«.  In  Modena  befanden  sich  in  der  Abtei- 
lung des  »incerto  autore«  auch  Werke  wie  »Le  deserteur«  und  »Ar- 
söne«,  die  noch  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  in  Frankreich  und 
Deutschland  mit  ihren  Verfassern  fast  sprichwörtlich  bekannt  waren. 

An  andern  Orten  bereitet  aber  der  Nachweis  über  Dichter  und 
noch  mehr  der  über  Komponisten  jener  »opere  incerto  autore«  ernst- 
liche Schwierigkeiten.  Das  war  bis  vor  drei  Jahrzehnten  der  Fall  in 
St.  Marco  zu  Venedig,  wo  die  betreffende  Abteilung  aus  84  Nummern 
bestand.  Doch  ist  es  hier  Taddeo  Wiel  gelungen,  uns  die  ver- 
mißte Auskunft  zu  geben,  mit  Hilfe  verzweigter  Untersuchungen, 
namentlich  durch  den  Vergleich  der  Texte  der  Partituren  mit  den  ge- 
druckten Textbüchern  und  dem  Studium  der  Vorreden  der  letzteren. 
Seine  Arbeit,  im  Jahre  1888  unter  dem  Titel  »I  Codici  musicali 
Contariniani  del  sec.  XVII  nella  Reale  Bibliotheca  di  S.  Marco«  in 
Venedig  erschienen,  hat  allein  zwei  Dutzend  verloren  geglaubter 
Opern  Francesco  Cavallis  ans  Licht  gezogen. 

Was  in  Venedig  möglich  war,  wird  sich  auch  an  anderen  Orten 
erreichen  lassen.    Wir  dürfen  hoffen,  daß  in  die  Abteilung  der  »opere 

1* 


4  Einleitung 

incerto  autore«  auf  allen  Bibliotheken  Licht  gebracht  wird,  daß  wir 
hierdurch  über  eine  Reihe  von  Werken  Kenntnis  erhalten,  die  wir 
bisher  vermissen,  daß  endlich  auch  einige  Meister  praktische  Ver- 
tretung finden,  die  wir  bis  jetzt  nur  dem  Namen  nach  und  durch 
unzureichende  Berichte  kennen.  Wollen  wir  uns  diesem  Ziele  schneller 
nähern,  so  ist  die  Voraussetzung,  daß  die  Zahl  der  Mitarbeiter  wächst. 
Dieser  Erfolg  hängt  eben  wieder  davon  ab,  daß  das  Interesse  für 
den  Gegenstand,  welchen  weit  über  ein  Jahrhundert  die  tiefste  Gleich- 
gültigkeit gedeckt  hat,  immer  mehr  erstarkt.  Dafür  haben  sich  in 
den  letzten  Jahrzehnten  günstige  Anzeichen  bemerklich  gemacht. 

Bilden  die  Opernpartituren  den  unentbehrlichsten  Teil  für  eine 
Geschichte  der  Oper,  so  sind  die  Textbücher  nicht  minder  wichtig 
Wenn  auch  eine  geniale  Musik  eine  Zeitlang  über  die  Wertlosigkeit 
eines  schlechten  Librettos  hinwegtäuschen  kann,  so  bleibt  doch  das 
Gedicht  die  ausschlaggebende  Grundlage  der  Oper,  und  die  bedeuten- 
den Umwälzungen  in  der  Geschichte  der  Oper  sind  jederzeit  in  erster 
Linie  von  dramatischen  Gesichtspunkten  aus  erfolgt;  die  Musik 
schloß  sich  an.  Die  Oper  trat  als  ein  Protest  gegen  das  theatra- 
lische Unwesen  des  16.  Jahrhunderts  schon  ins  Leben,  die  Namen 
Gluck,  Wagner  bedeuten  mehr  noch  als  eine  musikalische:  eine 
dramatische  Reform,  eine  bedeutende  Verlegung  und  Umgestaltung 
der  dichterischen  Ziele  und  Mittel.  Die  Geschichte  der  Operndichtung 
bietet  aber  auch  ein  großes,  selbständiges  Interesse:  Sie  bringt  einen 
bedeutenden  Beitrag  zur  Kultur-  und  Geistesgeschichte  der  Völker, 
welche  an  der  Pflege  und  Ausbildung  der  Oper  beteiligt  waren.  In 
ihr  sind  eigentümliche  und  bezeichnende  Züge  aus  der  Denkes-  und 
Sinnesart,  aus  dem  Sittenleben  der  Zeiten  und  Nationen  niedergelegt, 
welche  wir  an  anderen  Stellen  nicht  in  derselben  Deutlichkeit  oder 
überhaupt  nicht  wiederfiüden. 

Für  diesen  Teil  des  Quellenmaterials  nun,  für  die  Geschichte  der 
Operndichtung,  liegen  die  Verhältnisse  wesentlich  günstiger.  Der  über- 
wiegend größere  Teil  der  Textbücher  der  italienischen  Opern  ist  noch 
aufbewahrt.  Die  Textbücher  wurden  in  starken  Auflagen  gedruckt 
und  wiedergedruckt,  von  mehreren  der  hervorragendsten  Operndichter 
liegen  die  Werke  in  stattlichen  Gesamtausgaben  vor.  Eine  der  reich- 
sten italienischen  Textbibliotheken  ist  die  des  Liceo  Rossini  zu  Bo- 
logna, in  Deutschland  stehen  Berlin,  Hamburg,  Weimar  an  der  Spitze. 

Mit  Opernpartituren  und  Textbüchern  ist  das  notwendigste  Quellen- 
material für  eine  Geschichte  der  Oper  begrenzt.  Sie  reichen  jedoch 
noch  nicht  aus,  um  die  Stellung  der  Werke  im  Repertoire  und  da- 
mit die  Neigung  und  Richtung  des  Publikums  erkennen  zu  lassen, 
des  Publikums,  welches  auch  bei  der  Entwicklung  der  Oper  wie  bei 
der  Entwicklung  jeder  andern  Kunst  fast  ebensoviel  gegeben,  wie 
empfangen  hat.  Sie  reichen  ferner  nicht  aus,  um  über  Zeitbestim- 
mungen ins  klare  zu  kommen.  Hier  tritt  die  Memoirenliteratur  mit 
helfend  ein.     In  erster  Reihe   aber   haben  wir    uns    an  die  Theater- 


Einleitung  5 

und  Bühnenstatistik  zu  wenden.  In  früherer  Zeit  nur  schwach  cre- 
pflegt,  in  Italien  durch  die  Kataloge  eines  Allacci  und  Groppo,  in 
Deutschland  durch  Gottscheds  »nötigen  Vorrat«,  durch  Marpurgs 
historisch-kritische  Beiträge  —  sämtlich  Arbeiten  aus  der  Mitte  des 
vorvorigen  Jahrhunderts  —  vertreten,  wird  dieser  Teil  der  Quellen- 
kunde in  neuerer  Zeit  immer  eifriger  und  immer  besser  bearbeitet. 
Italien,  das  Land,  in  welchem  das  Theater  den  höchsten  Rang  ein- 
nimmt, geliebt  und  überschwenglich  geschätzt  wird,  ging  voran.  Wir 
haben  von  allen  bedeutenderen  musikalischen  Städten,  mit  Ausnahme 
von  Florenz,  seit  etlichen  Jahrzehnten  lokale  Theatergeschichten,  Ar- 
beiten von  Sängern,  Direktoren  und  anderen  der  Bühne  näher  stehenden 
Männern.  Stark  aufs  Anekdotische  gerichtet,  in  der  eigentlichen  For- 
schung nur  auf  das  bequem  Erreichbare  oder  das  Pikante  beschränkt, 
sind  diese  Bücher  allerdings  in  den  statistischen  Angaben  über  die 
älteren  Perioden  unvollständig  und  unzuverlässig.  Sie  gewähren  aber 
doch  immerhin  einigen  Anhalt,  und  sie  haben  ferner  die  gute  Wir- 
kung gehabt,  zu  gründlicheren  Untersuchungen  anzuregen.  Als  die 
reifen  Früchte  der  letzteren  liegen  vor:  die  »Scenni  storici«  vonLivio 
Galvani  in  Venedig  (1884),  Francesco  Florimos  »La  Scuola  musi- 
cale  di  Napoli  ed  i  suoi  Conservatorii«  (Neapel,  2.  Auflage  1880—84), 
ferner  G.  C.  Botturas  »Storia  del  Teatro  communale  di  Trieste« 
(Triest  1885),  CorradoRiccis  »I  teatri  di  Bologna  nei  secoli  XVII 
e  XVIII«  (Bologna  1888),  Wiels  » I Teatri  musicali  Veneziani  del  Sette- 
cento«  (Venedig  1897),  P.E.Ferrari:  »Spettacoli  dramatico-musicali  e 
coreografici  in  Parma  dall  1628—1683«  (Parma  1884),  A.  Paglizzi 
Brozzi:  »II  Regio-ducal  teatro  di  Milan 0  nel  secolo  XVIII«  (Mailand 
1894),  Aless.Gandini:  »Cronistoria  dei  teatri  diModena  1539  al  1871« 
(Modena  1873),  A.  Chiappelli:  »Storia  del  teatro  in  Pistoja  dalle 
origini  alla  fine  del  secolo  XVm«  (Pistoja  1913),  G.  Radiciotti: 
»Contributi  alla  storia  del  teatro  e  dellamusica  inUrbino«  (Pesaro  1899), 
P.Cambiasi:  »Teatro  allaScalal778— 1889 «(Mailand  1888undl889). 
Von  deutschen  Werken  gleicher  Art  und  gleichen  Wertes  sind  zu 
nennen:  M.  Fürstenau:  »Geschichte  der  Musik  und  des  Theaters 
am  Hofe  zu  Dresden«  (1.  Bd.  Dresden  1861,  2.  Bd.  Dresden  1862), 
ferner:  F.  M.  Rudhart:  »Geschichte  der  Oper  am  Hofe  zu  München« 
(Freising  1865),  Teubner:  »Geschichte  des  Prager  Theaters«  (Prag 
1876  und  1886)  und  endlich  Fried  rieh  Walter:  »Geschichte  des 
Theaters  und  der  Musik  am  Kurpfälzischen  Hofe«  (Leipzig  1898). 
Die'perlin,  Wien,  Hamburg  und  andere  Plätze  —  z.  B.  W.  Lyn k er: 
»Geschichte  des  Theaters  und  der  Musik  in  Cassel«  (Cassel  1865), 
J.  Peth:  »Geschichte  des  Theaters  und  der  Musik  zu  Mainz« 
(Mainz  1879),  H.  Hirschberg:  »Geschichte  des  Herzoglichen  Hof- 
theaters zu  Koburg  und  Gotha«  (Berlin  1911)  —  behandelnden  älteren 
Werke  sind  wissenschaftlich  nicht  vollwertig,  erst  in  neuer  Zeit  hat  Gurt 
Sachs  für  eine  Operngeschichte  Berlins  stichhaltige  Anfänge  geliefert, 
Schiedermair,  Einstein  sind  ihm  für  Bayreuth,  Durlach,  Neuburg  zur 


6  Einleitung 

Seite  getreten.  VonSchweden  sind  in  D ah Igrens  »Stockholms  theatrar« 
(Stockholm  1866)  und  von  Dänemark  in  Oeverskous  »Den  danske 
Skuepladses  Histoire«  (Kopenhagen  1854 — 1876)^  in  A.  Aumont  »Det 
danske  Nationalteater  1748—1889«  (Kopenhagen  1900)  gute  Bücher 
zu  dieser  für  eine  Geschichte  der  Oper  unentbehrlichen  statistischen 
Grundlage  beigesteuert  worden.  Spanien  ist  durcli:  J.  Milego  »Estudio 
historico-critico  El  teatro  en  Toledo  etc.«  (Valencia  1909),  H.Merimee 
»L'art  dramatique  ä  Valencia  etc.«  (Toulouse  1913),  Derselbe: 
»Spectacles  et  comedies  ä  Valencia«  (Toulouse  1913),  Pesea  y  Goni 
»Le  opera  espaniola  etc.«  (Madrid  1881),  vertreten.  Für  Kußland  liegt 
eine  Geschichte  der  Oper  vor  in:  Vsevolod  Cesichin  (Tscheschichin), 
»Istorö  ya  ruskoy  operi«  (2.  Auflage  Moskau  1905),  für  Amerika  in 
H.  Edward  Krehbiel,  »Chapters  of  Opera«  (New  York  1908).  — Von 
der  Menge  französischer  Arbeiten,  welche  in  neuerer  Zeit  auf  diesem  Ge- 
biete erschienen  sind,  sind  Gh.  Nuitter  et  Erneste  Thoinans  »Les 
origines  de  l'opera  fran9ais«  (1887),  weiter  Ed.  Gregoirs  »Les 
gloires  de  l'opera  et  la  musique  ä  Paris«  (4  Bde.,  1880 — 83)  als  voll- 
gültige Leistungen  zu  verzeichnen.  Als  brauchbar  und  praktisch  darf 
auch  das  kleine  Buch  von  Neree  Desarbres  »Deux  si^cles  ä  l'opera« 
(1868)  empfohlen  werden.  Die  Franzosen  haben  noch  dadurch  er- 
leichterte Arbeit,  daß  sich  ihre  Geschichte  der  Oper  im  wesentlichen  im 
Bereiche  der  Mauern  von  Paris  abgespielt  hat.  Außerhalb  Paris  sind 
B.  Leffebre:  »Histoire  du  theätre  de  Lille«  (Lille  1901  —  1907)  und 
E.  Destranger:  >Le  theätre  ä  Nantes  depuis  ses  origines  jusqu'ä  nos 
jours«  (Paris  1893)  erschienen.  Die  Franzosen  verderben  sich  den  Erfolg 
in  der  Regel  aber  durch  novellistische  und  schöngeistige  Neigungen.  Dies 
gilt  insonderheit  von  den  mannigfachen  Beiträgen,  welche  A.  Pougin  zur 
Geschichte  in  der  Periode  Glucks  beigesteuert  hat.  In  Frankreich  ist 
auch  zum  ersten  Male  seit  Allacci  wieder  in  neuerer  Zeit  der  Versuch 
gemacht  worden,  eine  allgemeine  Statistik  der  Oper  zu  geben  und  alle 
seit  Entstehung  des  Musikdramas  in  Paris  aufgeführten  Werke  mit 
genauen  Daten  zusammenzustellen.  Das  betreffende  Werk,  von  Felix 
Clement  verfaßt  und  betitelt:  »Dictionnaire  lyrique  ou  histoire  des 
operas«  (Paris  1868,  1879,  3.  Auflage),  ist  jedoch  unbrauchbar.  Leider 
ist  es  als  Grundlage  für  ein  deutsches  Opernhandbuch  benutzt  worden. 
Zur  Kritik  von  Clement  kann  es  dienen,  daß  er  als  Komponisten 
italienischer  Partituren  häufig  die  Maschinisten  nennt,  welche  bei  der 
Aufführung  der  Opern  mitgewirkt  haben.  Ähnlich  verworren  ist  der 
»Dictionary-catalogue  of  Operas  and  Operettas  (Morgantown  1910)«  des 
Amerikaners  John  Towers,  obwohl  diesem  Verfasser  dieselben  vor- 
züglichen, jetzt  in  Washington  befindlichen,  handschriftlichen  stati- 
stischen Arbeiten  von  Albert  Schatz  zur  Verfügung  gestanden  zu 
haben  scheinen,  die  0.  G.  Sonn  eck  ^  zu  seiner  vorzüglichen  »Dramatic 

1  Der  gleiche  Verfasser  hat  auch  einen  Catalogue  of  Opera -librettos  prin- 
ted  before  1800  veröffentlicht  (2  Bde.  Library  of  Congress  Washington  1914). 


Einleitung  7 

Music«  (Washington  1908)  benutzt  hat.  Auch  die  Angaben  über  Titel, 
Zeit  und  Verfasser  von  Opern  in  dem  Lexikon  von  Fetis,  der  be- 
rühmten »Biographie  universelle  des  musiciens  et  bibliographie  ge- 
nerale de  la  musique«  (3.  Auflage,  Paris  1878)  sind  arg  un- 
zuverlässig. Hier  findet  sich  fast  bei  jedem  fünften  Werke  der 
venetianischen  Schule  als  Komponist  ein  gewisser  Nicolini  an- 
gegeben. Dieser  anscheinend  so  fruchtbare  Nicolini  war  jedoch 
nichts  weiter  als  ein  venetiauischer  Buchdrucker,  dessen  Name 
als  solcher  auf  einer  großen  Anzahl  von  Textbüchern  vorkommt. 
Aus  einer  Oper  des  jüngeren  Ziani:  »Cajo  Marcio  Coriolano« 
macht  Fetis  zwei,  1.  »Cajo  Mario«,  2.  »Coriolano«;  Bernabe'is: 
»Gli  dei  festiggianti«  wird  bei  ihm  zu  einem  ganz  sinnlosen  »Gloria 
festiggianti«.  Man  könnte  die  Flüchtigkeit  der  Opernstatistik  von 
Fetis  mit  einem  Band  Anekdoten  belegen.  Leider  aber  ist  das 
Werk  doch  nicht  zu  umgehen;  es  bildet  allerdings  ein  Sammel- 
surium, aber  auch  die  reichste  Sammlung  von  statistischen  Daten, 
die  man  beachten  muß,  sei  es  auch  nur,  um  sie  zu  widerlegen.  Eine 
nur  italienische  Opernstatistik  liegt  in  Carlo  Dassoris  »Opere  ed 
operisti  etc.«   (Genua  1906)  vor. 

Wir  haben  mit  diesen  Bemerkungen  über  die  Statistik  der  Oper 
das  Thema  der  Vorarbeiten  zur  Geschichte  der  Oper  betreten,  von 
denen  vorhin  schon  gesagt  wurde,  daß  ein  wichtiger  Teil  derselben 
noch  gar  nicht  in  Angriff  genommen  worden  sei.  Dieser  wichtige 
Teil  betrifft  zunächst  die  biographische  Behandlung  einer  Eeihe  der 
ersten  Opernkomponisten  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  Von  einem 
Meister  von  der  Bedeutung  des  Alessand ro  Scarlatti  stand  bis  vor 
kurzem  Geburts-  und  Todesjahr  noch  nicht  fest.  Von  seiner  Lehrzeit, 
von  dem  Gange  seiner  Entwicklung,  der  Zahl  seiner  Werke  und  ihrem 
Zusammenhange,  ihrer  Wirkung  auf  die  Mitwelt  und  die  folgende 
Zeit  waren  wir  nicht  genügend  unterrichtet.  Mittlerweile  ist  Besserung 
eingetreten.  Wir  haben  jetzt  die  Biographie  Scarlattis  von  Edward 
Dent,  die  Jomellis  von  Hermann  Abert,  über  L.  Leo  hat  ein  Nach- 
komme, über  Pergolesi  Radiciotti,  über  Simon  Mayr  Schieder- 
mair,  über  A.  Steffani  A.  Neißer,  über  S.  Kusser  H.  Scholz,  über 
Georg  Kaspar  Schür  mann  F.Schmidt,  über  0.  Boxberg  H.M  er  s- 
mann  geschrieben,  über  Monteverdi  und  Gagliano  hat  schon  Jahr- 
zehnte früherEmil  Vogel  verdienstliche  Untersuchungen  veröffentlicht. 
Wir  haben  neuere  Arbeiten  über  R.  Keiser,  H.  Graun,  über  Lully 
und  Rameau.  Aber  wenn  wir  an  Hasse,  an  Traetta,  Majo, 
Piccinni  und  andere  bedeutende  Nebenmänner  Glucks  denken,  bleibt 
kein  Zweifel,  daß  für  die  Opernbiographie  noch  sehr  viel  zu  tun 
ist.  Es  ist  einleuchtend,  daß  vor  hundert  Jahren  und  früher  die 
Schwierigkeiten  und  Hindernisse,  welche  sich  heute  einer  Geschichte 
der  Oper  entgegenstellen,  zum  Teil  viel  geringer  waren,  zum  Teil 
gar  nicht  bestanden.  Zugleich  leuchtet  aber  auch  ein,  warum  in  jenen 
früheren  Perioden  eine  Geschichte  der  Oper  nur  wenig  vermißt  wurde. 


8  Einleitung 

Was  man  lebendig  und  voll  besitzt,  braucht  man  sich  nicht  beschreiben 
zu  lassen.  Die  musikalische  Geschichtsschreibung  überhaupt  ist  ja 
erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  ins  Leben  getreten. 
Padre  Martini  in  Bologna,  Forkel  in  Göttingen,  Burney  in  London 
machten  bekanntlich  die  ersten  Versuche  und  zwar  sogleich  im  großen 
Stile.  Der  letztere  ist  der  einzige  von  den  dreien,  welcher  in  seiner 
»General  history  of  music«  (London  1778)  überhaupt  bis  an  die  Zeit 
der  Oper  herankam.  Was  er  im  dritten  Bande  dieses  Werkes  von  der 
Entwicklung  des  Musikdramas  und  von  seinen  Meistern  mitteilt,  zeigt 
Fleiß.  Aber  seine  Darstellung  leidet  an  Maugel  des  Planes  und  im 
Urteil  an  musikalischer  Beschränktheit.  Von  den  späteren  musika- 
lischen Universalhistorien  muß  die  von  W.  Ambro s  in  der  neuesten 
von  H.  Leichten  tritt  bearbeiteten  Auflage  wegen  ihrer  reichen  und 
genauen  Beiträge  zur  Geschichte  der  Oper  hervorgehoben  werden. 
Fünfzehn  Jahre  vor  Burney  begegnet  uns  zum  ersten  Mal  ein  be- 
sonderes Buch  über  die  italienische  Oper.  Es  ist  des  Grafen  Alga- 
rotti  »Saggio  sopra  l'opera  in  musica«  (1763).  Ihm  folgt  1777 
Signorelli  mit  einer  »Storia  critica  de'  teatri  antichi  e  moderni«.  An 
Erfolg  übertraf  diese  Vorgänger  ein  Werk  des  spanischen  Jesuiten  Ste- 
fano Arteaga,  das  den  Titel  führt:  »Le  rivoluzioni  del  teatro  musi- 
cale  italiano«  (3  Bände,  Venedig  1785,  2.  umgearbeitete  Auflage). 
Leider  ist  diese  Geschichte  nicht  berichtend,  sondern  vorwiegend  räso- 
nierend gehalten.  Nach  einem  ähnlichen  System  bringt  Castil-Blazes 
»L'opera  enFrance«  (2.Aufl.,  Paris  1826)  mehr  Theorie  als  Geschichte  und 
bewegt  sich  in  hin  und  wieder  mit  Beispielen  belegten  Betrachtungen 
über  die  in  der  Oper  zur  Verwendung  kommenden  Musikformen 
(Ouvertüre,  Eezitativ,  Arie  usw.)  und  ähnliche  Allgemeinheiten.  Der 
Merkwürdigkeit  halber  darf  diesen  Werken  noch  eine  weitere  Ge- 
schichte der  Oper  hinzugefügt  werden,  die  von  G.  W.  Fink  ge- 
schrieben, 1835  in  Leipzig  herausgegeben  und  mit  naiver  Dreistig- 
keit der  philosophischen  Fakultät  in  Leipzig  gewidmet  ist.  Diese 
335  Seiten  Kleinoktav  umfassende  Geschichte  begleitet  die  Entwick- 
lung der  Oper  in  den  älteren  Perioden  mit  mürrisch-theologischen 
Glossen,  ersichtlich  ohne  daß  der  Verfasser  von  den  Komponisten  und 
Werken,  die  er  sämtlich  mißbilligt,  Leistungen  von  Belang  gesehen 
hat.  Ziemlich  gleichaltrig  mit  Fink  ist  Hogarth:  »Memoirs  of  the 
musical  drama«  (London  1838).  Der  beste  Beitrag  zur  Geschichte  der 
älteren  Oper  ist  Romain  Rollands  »Histoire  de  l'opera  en  Europe 
avant  Lully  et  Scarlatti«  (1895).  Auch  die  von  Richard  Wagner 
in  den  einschlagenden  Schriften  abgegebenen  Urteile  über  ältere, 
Vor-Gluckische  Opern  lassen  Kenntnis  des  wesentlichsten  Quellen- 
materials vermissen.  Führt  er  doch  sogar  die  Entstehung  der 
Gattung  auf  die  in  den  Kreisen  der  Vornehmen  herrschende  Lust 
am  Ariengesang  zurück.  Daß  im  allgemeinen  die  Opernpartituren 
der  älteren  italienischen  Zeit,  namentlich  die  des  17.  Jahrhunderts  bis 
in  die  Gegenwart  nur  äußerst  spärlich  studiert  worden  sind,  zeigt  sich 


Einleitung  9 

schon  darin,  daß  in  vielen  von  ihnen  der  Streusand  so  auf  den  Noten 
liegt,  wie  er  bei  ihrer  Niederschrift  hingeschüttet  wurde. 

Heute  ist  der  geschichtliche  Sinn  auch  in  den  musikalischen 
Kreisen  ein  anderer,  ein  stärkerer  geworden.  Wir  haben  angefangen, 
uns  mit  den  Schätzen  der  alten  Musik  wieder  in  direkte  Verbindung 
zu  setzen,  und  wir  suchen  aus  ihnen  das  künstlerische  Leben  der 
Gegenwart  zu  befruchten.  Auch  die  alte  Oper  gehört  unter  diese 
Schätze.  Vermögen  wir  ihr  Bild  auch  nur  in  den  Hauptlinien  hin- 
zustellen, so  bietet  es  doch  schon  in  diesen  der  fesselnden  Züge,  der 
Belehrung  und  des  Genusses  genug. 


„o«>»e,    .O6o„ 


Vorgeschichte, 
Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Solange  die  Oper  da  ist,  liat  sie  auch  immer  Gegner  gehabt,  nicht 
bloß  berufene  Tadler  ihres  Verfalls,  sondern  grundsätzliche  Verächter 
der  ganzen  Gattung.  Unter  den  letzteren  haben  sich,  und  nicht  erst 
seit  Voltaire,  die  Freunde  und  Vertreter  des  gesprochenen  Dramas 
am  meisten  hervortgetan ;  aber  auch  Fachmusiker  von  Bedeutung, 
zuletzt  noch  Hans  von  Bülow,  haben  ihnen  wiederholt  zugestimmt. 
Sie  erklären  die  Oper  deshalb  für  unsinnig,  weil  man  im  gewöhnlichen 
Leben  spricht  und  nicht  singt.  Mit  gewöhnlichem  Leben  soll  es 
aber  die  Oper,  das  Drama  überhaupt  nicht  zu  tun  haben,  sondern 
mit  Ereignissen  und  Zuständen,  die  das  Seelenleben  außerordentlich 
erregen.  Da  wird  die  Musik  zur  natürlichen  Sprache  des  Menschen. 
Die  Oper  ist  so  weit  berechtigt,  als  es  die  Musik  überhaupt  ist,  und 
solange  der  Mensch  in  höchster  Freude  lacht  und  jauchzt,  im  höchsten 
Schmerze  weint  und  jammert,  wird  auch  eine  gute  Oper  immer  auf 
Verständnis  rechnen  dürfen.  Mit  der  strengen  Beschränkung  aufs 
Verfahren  des  gewöhnlichen  Lebens,  mit  der  glatten  absoluten  Natur- 
treue kommt  überhaupt  keine  Kunst  aus,  insbesondere  die  Dramatik 
nicht.  Haben  etwa  die  Monologe  der  Shakespeare  und  Schiller  ihre 
Vorbilder  in  der  Wirklichkeit?  Was  sind  sie  anders  als  ein  Ersatz 
der  Musik?  Bei  allen  Völkern,  die  ein  Theater  gehabt  haben,  ist 
immer  in  einer  oder  der  andern  Weise  die  Musik  mit  in  den  Dienst 
der  Bühnendarstellung  gezogen  worden,  die  Oper  bietet  nur  die 
reichste  Verwendung  von  Musik  im  Drama,  die  reichste  und  im 
Stil  einheitlichste  und  vollendetste.  Wir  datieren  sie  heute  bekannt- 
lich seit  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts,  aber  es  ist  gar  nicht  un- 
möglich, daß  sie  damals  nur  wiedererfunden  ist.  Die  Männer  wenig- 
stens, denen  wir  ihre  Einführung  um  1600  zu  danken  haben,  waren 
der  festen  Meinung,  daß  ihr  Musikdrama  nichts  weiter  als  die  Er- 
neuerung der  antiken  Tragödie  sei. 


Liederspiele,  Moralitäten,  Schulkomödien  H 

Die  Entstehung  der  Oper  und  ihre  erste  Periode  bilden  denjenigen 
Abschnitt,  welcher  schon  bisher  häufig  und  verhältnismäßig  gute  Dar- 
stellungen erfahren  hat.  Wir  haben  über  diese  Periode  Berichte  von 
Zeitgenossen,  unter  denen  der  »Trattato  della  musica  scenica«  des 
G.  B.  Doni,  der  an  einer  späteren  Stelle  genau  mitgeteilt  werden  soll, 
als  der  bedeutendste  anzuführen  ist.  Arteaga  behandelt  die  Versuche, 
welche  der  Einführung  des  Musikdramas  vorhergingen,  ausführlich; 
auch  Burney  bringt  wie  schon  erwähnt,  ziemlich  reiche  Mitteilungen 
aus  den  ersten  Jahrzehnten  der  Oper  welche  durch  die  Beigabe  aus- 
geführter Notenbeispiele  bis  heute  ihren  Wert  behauptet  haben.  Neuere 
Spezialdarstellungen  sind  dann  gegeben  worden  von  C.  v.  Winterfeld 
im -dritten  Kapitel  seines  »Johannes  Gabrieli  und  sein  Zeitalter<' 
(Berlin  1834)  und  von  Hans  Michael  Schletterer  in  »Die  Ent- 
stehung der  Oper«  (Nördlingen  1873).  Die  Resultate  aller  dieser 
Arbeiten  hat  dann  Wilhelm  Ambros  in  seiner  Musikgeschichte  kritisch 
zusammengefaßt  und  bedeutend  durch  neue  Ergebnisse  eigener  For- 
schungen vermehrt.  Überholt  wird  er  samt  seinen  Vorgängern  durch  die 
bereits  angeführte  Arbeit  von  R.  Rolland.  Als  neuestes  statistisches 
Stück  kommt  noch  dazu:  A.  Solerti,  »le  origini  del  melodramma« 
(Turin  1903).  Obwohl  hier  der  musikalische  Teil  übergangen  wird, 
ist  doch  auch  J.  J.  Klein,  »Geschichte  des  italienischen  Dramas«, 
2.  Band,  Leipzig  1867,  noch  zu  erwähnen,  und  zwar  deshalb,  weil 
er  viele  und  gute  Proben  aus  den  Dichtungen  der  ersten  Opern 
gibt.  Nur  macht  der  niedrige,  zwischen  Johannes  Scherr  und  Wilhelm 
Busch  beständig  schwankende  Ton  das  Studium  dieses  Buches  un- 
erquicklich. 

In  Handbüchern  der  Musikgeschichte  wird  gern  nach  Vorläufern  der 
Oper  gesucht  und  ziemlich  allgemein  auf  die  Liederspiele,  die 
Moralitäten  und  die  Schulkomödien  verwiesen.  Das  Liederspiel 
reicht  bis  ins  13.  Jahrhundert  zurück.  Das  älteste  und  gegenwärtig 
bekannteste  uns  erhaltene  Exemplar  dieser  Gattung  ist  »Le  jeu  de 
Robin  et  de  Marion«  des  Adam  de  la  Haie,  1285  und  angeblich 
für  den  Hof  von  Neapel  geschrieben  i.  Aus  diesem  in  vielen  Biblio- 
theken vorhandenen  Werk  gibt  Kiesewetter  in  »Schicksale  und  Be- 
schaffenheit des  weltlichen  Gesanges«  (Leipzig  1841),  mehrere  Proben. 
Arrey  von  Dommer  beschreibt  es  kurz  aber  ausreichend  in  seinem 
»Handbuch  der  Musikgeschichte«.  Es  ist  eine  dialogisierte  Dorfidylle, 
in  die  14  von  verschiedenen  ländlichen  Instrumenten  mitgespielte 
tanzartige  Liedmelodien  eingelegt  sind,  über  deren  anmutigen  Cha- 
rakter das  hier  folgende  Beispiel  genügende  Auskunft  gibt. 


1  J.  Tiersot:  »Sur  le  jeu  de  Robin  et  Marion,  d'Adam  de  la  Halle« 
(Paris  1897),  M.  Meienreis:  »Adam  de  la  Hale's  Spiel:  Robin  et  Marion* 
(München  1893),  E.  Langlois:  »Le  jeu  de  Robin  et  de  Marion<  (Lille 
(Paris?]  1896,  W.  Tappert:  »Zwei  Lieder  aus  dem  Singspiel  Robin  et 
Marion«  (Halle  1874). 


12 


Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


^feiS 


-^-^ 


Ro-bins   m'a-ime,  Ro-bins  m'a,      Robins    m'a     de-man  -  de-e 


^.E^£:=^E^ 


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sim'au-ra.         Ro-bins      m'a-ca  -  ta   co-t^-le   d'es-car  -  la  -  te 


X=X 


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-^— g^ 


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bonneet      b6-le,    Sou-kra-nie-et 


chaintu    -    re,  le     al'euri    va. 
Erster  Teil  da  capo. 


Die  Scbulkomödien  und  Moralitäten  entstammen  dem  14.  Jahr- 
hundert. Die  älteste  ist  das  in  Eisenach  entstandene  und  dort  auf- 
geführte »Spiel  von  den  törichten  und  klugen  Jungfraun«.  Neuer- 
dings hat  es  Schletterer  in  dem  oben  angeführten  Buch  abgedruckt, 
Ludwig  Bechstein,  der  Märchendichter,  welcher  es  gefunden  und 
zuerst  herausgegeben  hat  (Hildburghausen  1855),  glaubte  es  als  Oper 
bezeichnen  zu  dürfen.  Als  weiter  bekanntere  Werke  aus  der  Klasse 
dieser  Schulkomödien  sind  zu  nennen:  Joannis  Reuchlin  »Phor- 
censiscaenica  progymnasmata«,  1498,  Hegendorffi  »Comedia  nova«, 
1520,  Paul  Rebhuns  »Geistliches  Spiel  von  der  gottesfürchtigen  und 
keuschen  Frau  Susanne«,  1536;  Joachim  Greffs  »Mundus«,  1537; 
das  von  Goedecke  (Grundriß  usw.)  mitgeteilte  »Schöne  Spiel  von  der 
Frau  Jutte«.  Mit  der  Oper  haben  aber  diese  Schulkomödien  nichts 
zu  tun.  Es  sind  —  wie  wir  das  heute  bezeichnen  ■ — •  Schauspiele  mit 
musikalischen  Einlagen.  In  der  älteren  Zeit  sind  dieser  Einlagen  wenige 
und  sie  sind  dürftig.  In  dem  vorhin  genannten  Werke  des  Reuchlin 
z.  B.,  den  »Scaenica  progymnasmata«  —  es  ist  eine  dem  Terenz  nach- 
gebildete und  lateinisch  verfaßte  Dorf  komödie  —  bestehen  sie  aus  vier 
Chorgesängen  einfachster  Natur,  welche  bei  den  Aktschlüssen  einfallen. 
Der  am  Schluß  des  ersten  Akts  vorgeschriebene,  Chorus  choralis  be- 
zeichnet, hat  neun  Verszeilen.  Die  übergeschriebene  Melodie  klingt 
wie  unbeholfener  Psalmengesang,  muß  aber  achtmal  wiederholt  werden. 
Beim  zweiten  Akt  ist  der  Chor  durchkomponiert,  der  fünfte  Akt  geht 
leer  aus.  Diese  Schulkomödien  erhielten  sich  bis  ans  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts, und  da  geschah  es,  und  zwar  unter  dem  direkten  Einfluß 
der  Oper,  daß  sie  reicher  mit  Musik  ausgestattet  wurden.  So  enthält 
das  »Zittauische  Theatrum«  »wie  solches  a*^  1682  präsentirt  worden«, 
von  Christian  Weise  außer  den  Chorgesängen  auch  begleitete  Solo- 
lieder und  selbständige  Instrumentalmusik  und  zwar  nicht  bloß  an 
den  Schlüssen  der  Akte,  sondern  auch  am  Anfang  und  in  der  Mitte 
der  Szenen,  an  geeigneten  und  unpassenden  Stellen.  In  »Jacobs 
doppelter  Heirat«,  dem  ersten  unter  den  drei  Stücken  des  genannten 
»Zittauischen  Theatrum«,  singen  drei  Schäfer,  drei  Schäferinnen  und 


Jesuitenspiele,  harmonisches  Rezitativ  13 

außerdem  einige  Bauernmägde  Sololieder  verschiedenen  Inhalts,  madri- 
galische Liedweisen  die  einen,  spottende  Couplets  die  andern.  Die 
Chöre  eröffnen  einzelne  Akte,  das  Orchester,  »mehrenteils  —  wie  Weise 
sagt  —  in  Pauken  und  Schalmeyen  bestehend,  weil  das  ganze  Spiel 
eine  Schäferei  abbilden  soll«,  fällt  zuweilen  plötzlich  und  überraschend 
ein,  wie  in  der  Szene,  in  welcher  Jakob  und  Lea  zusammengegeben 
werden  sollen.  Diese  in  vielfacher  Beziehung  sehr  verwunderlichen,  im 
Tone  oft  roh  gehaltenen,  mit  Zweideutigkeiten  gefärbten,  durch  Prügel 
belebten,  in  der  angeblich  moralischen  Tendenz  oft  bedenklichen 
—  Jakob  erhält  am  Schlüsse  des  hier  angeführten  Stückes  durch  eine 
himmlische  Vision  die  durch  den  dreißigjährigen  Krieg  erklärliche 
Erlaubnis  zwei  Frauen  zu  nehmen  —  in  bezug  auf  Ausstattung  und 
namentlich  auf  Personenzahl  —  im  »Jakob  usw.«  kommen  50  ver- 
schiedene, im  »Masaniello«  82  Rollen  vor  —  höchst  anspruchsvollen 
Schulkomödien,  wurden  wie  in  diesen  Dingen,  so  besonders  in  der 
reichen  Verwendung  von  Musik  noch  übertrotfen  durch  die  sogenannten 
Jesuitenspiele,  welche  im  16.  Jahrhundert  im  katholischen  Deutsch- 
land zur  Blüte  gelangten.  Rudhart  berichtet  a.  a.  0.  über  eine  dieser 
Jesuitenaufführungen  zu  München  im  Jahre  1597.  In  ihr  wirkten 
900  Choristen  mit. 

Wir  können  Jesuitenspiele,  Schulkomödien,  Liederspiele  als  Vor- 
läufer der  Oper  ebensowenig  anerkennen  wie  die  Balletts  und  ähnlichen 
halb  theatralischen  und  halb  musikalischen  Lustbarkeiten  des  fran- 
zösischen Hofs  und  der  französierenden  deutschen  und  italienischen 
Residenzen,  welche  von  Castil-Blaze  und  andern  französischen  Schrift- 
stellern, neuerdings  auch  wieder  von  H.  M.  Schletterer  i,  für  die  Vor- 
geschichte der  französischen  Oper  verwertet  worden  sind.  Mit  einem 
ähnlichen  Recht  dürfte  dann  in  diese  Klasse  auch  die  italienische 
Tragödie  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  aufgenommen  werden.  Denn 
auch  in  ihr  waren  nach  griechischem  Muster  Chorgesänge  eingelegt. 
Ob  reicher  oder  spärlicher  mit  Musik  ausgestattet  und  durchsetzt,  allen 
den  genannten  Arten  dramatischer  Kunst  fehlt  dasjenige  wesentliche 
Element,  welches  bei  der  Erfindung  der  Oper  nachweislich  den  Aus- 
schlag gab,  das  harmonisierte  Rezitativ.  Der  Umstand,  daß  die 
Begründer  der  Oper,  die  Peri,  Gagliano,  Monteverdi,  in  den 
Vorreden  ihrer  Opern,  unter  den  Vorbildern  des  Musikdramas  jene 
verschiedenen  Abteilungen  des  Schauspiels  mit  musikalischen  Einlagen 
nicht  erwähnen,  gewinnt  bei  dieser  Sachlage  seine  Bedeutung. 

Viel  näher  steht  der  Oper  das  liturgischeDrama  des  Mittel- 
alters, die  in  früherer  Zeit  zahlreiche  Familie  von  Mysterien  und  bib- 
lischen Festspielen,  in  welchen  Kirchen  und  Klöster  an  hohen  Feiertagen 
die  fälligen  Abschnitte  der  heiligen  Geschichte  dramatisch  wirksam 
vortrugen.    Alle  diese  Weihnachts-  und  Ostermysterien,  die  auf  die 


1  H.  M.  Schletterer:   »Studien    zur    Geschichte    der    französischen 
Musik  in*  (Berlin  1885). 


14  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Bühne  getragenen  Geschichten  der  Heiligen,  auch  die  Parodien  des 
liturgischen  Dramas,  die  Narren-,  Teufels-  und  Eselsfeste  gleichen  den 
Opern  insoweit,  als  sie  ganz  gesungen  wurden.  Wenigstens  läßt  sich 
das  für  die  Jahrhunderte,  aus  welchen  uns  ausreichende  Dokumente 
vorliegen,  annehmen  i.  Nach  dem  15.  Jahrhundert  sterben  die  sämt- 
lichen Glieder  des  großen  Kreises  liturgischer  Festspiele  ab.  Ein  einziges 
erhält  sich:  die  Passion,  und  in  der  Stilart  der  Choralpassion,  welche 
noch  bis  zur  Zeit  von  Heinrich  Schütz  und  über  ihn  hinaus  in  Blüte 
blieb,  kann  jedermann  den  musikalischen  Typus  des  alten  liturgischen 
Dramas  betrachten  und  mit  dem  unserer  Oper  vergleichen.  Beide 
haben  Rezitativ.  Aber  das  liturgische  Rezitativ  ist  musikalisch  und 
auf  den  Ausdruck  angesehen,  noch  ziemlich  ärmlich.  Es  besteht  aus 
Notenreihen,  wie  sie  ja  noch  heute  in  der  Kirche,  in  der  protestan- 
tischen beim  Vortrage  der  Kollekte  und  der  Versikeln,  verwendet 
werden.  Es  sind  Deklamationsformeln  auf  einen  und  denselben  Ton 
gestützt,  nur  an  den  Spitzen  der  Sätze,  am  Anfang  und  Ende,  durch 
kleine  Intervalle,  durch  bescheidene  Melismen  ein  wenig  gesanglich 
gefärbt.  Dieselben  drei  oder  vier  Typen  des  liturgischen  Rezitativs 
begleiten  uns  während  der  ganzen  Dauer  der  alten  geistlichen  Dramen, 
sie  wandern  von  einer  Person  zur  andern  und  kehren  wieder  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Veränderungen  der  Rede  und  Handlung.  Man  kann  mit 
diesem  anspruchslosen,  altertümlich  einfachen  musikalischen  Apparat 
den  Charakter  der  Werke  untereinander  sondern  und  der  Passion  z.  B. 
einen  andern  Grundton  geben  als  der  Auferstehungsgeschichte.  Man 
hat  auch  tatsächlich  diesen  liturgischen  Akzent  im  16.  Jahrhundert 
für  weltliche  Theaterstücke  verwendet.  Solerti  gibt  dafür  die  Belege 
mit  einem  »Sacrificio«,  das  1554  in  Florenz  aufgeführt  wurde.  Dessen 
Komponist,  Alfonso  della  Viola  hat  später  inFerrara  noch  ähnliche 
Versuche  vorgebracht.  Sollte  es  sich  dabei  auch  nur  um  Ausnahmen 
handeln,  so  kann  man  doch  nicht  umhin,  das  liturgische  Drama  als 
einen  Vorläufer  der  Oper  anzuerkennen,  wenn  auch  als  einen  noch  sehr 
unvollkommenen.  Sein  Rezitativ  ist  leer  und  primitiv,  aber  es  teilt 
mit  dem  der  Oper  die  Haupteigenschaft,  daß  der  ganze  Text  gesungen 
wird.  Es  hat  auf  die  Bestrebungen  der  Hellenisten,  die  die  Oper 
ins  Leben  riefen,  eingewirkt,  ohne  daß  sie  es  wußten;  vielleicht  auch 
wollten  sie  es  sich  nicht  eingestehen.  Tatsächlich  wird  es  in  den  zeit- 
genössischen Berichten  mit  vollständigem  Stillschweigen  übergangen. 
Unter  diesen  Berichten  von  Zeitgenossen,  die  im  Jahresbericht  der 
Florentiner  Musikalischen  Akademie  von  1895  gesammelt'  worden 
sind  und  auch  von  Solerti  nochmals  mitgeteilt  werden,  ist  der  des 
Giov.  Battista  Doni  der  ausführlichste  und  deshalb  besonders 
wichtig,  weil  Doni,  als  geborener  Florentiner,  seit  1640  Universitäts- 
professor in  seiner  Vaterstadt,  den  Kreisen,  aus  denen  die  Oper  her- 


1  A.  Solerti:  >Le  origini  del  Melodramma«  (Turin  1903);   >Gli  albori 
del  Melodramma«  (Mailand  1905). 


Gr.  B.  Doni:  Über  den  Ursprung  des  neuen  Bühnengesangs         15 

vorging,  näher  stand  als  andere  Berichterstatter  der  Periode.  Unter 
den  zahlreichen  Ai'beiten  Donis,  die  erst  1763  durch  Passeri  in  Florenz 
im  Druck  veröffentlicht  worden  sind,  ist  das  Hauptstück  der  Traktat 
»Della  musica   scenica«.     In    ihm    lautet   das    9.  Kapitel    wie  folgt: 


Dell  origine  che  el)l)e  a  tenipi 
Dostri  11  cantare  in  Seena. 

In  ogni  tempo  si  e  costumato  di 
frammettere  alle  azioni  dramatiche 
qualche  sorta  di  cantilene,  o  in  forma 
d'Intermedi  tra  un  Atto  e  Taltro,  o 
pure  dentro  Tistesso  Atto,  per  qualche 
occorrenza  del  soggetto  rappresen- 
tato.  Ma  quando  si  cominciassero 
a  cantare  tutte  le  Azioni  intere,  fresca 
ne  e  ancora  la  memoria,  percioche 
avanti  a  quelle  che  fece  il  Sig.  Emilio 
del  Cavaliere  gentiluomo  romano  e 
intendentissimo  della  Musica,  non 
credo  si  sia  praticato  cosa  che  me- 
riti  di  essere  mentovata.  Da  costui 
vä  attorno  una  Rappresentazione  in- 
titolata  >Deir  Anima  e  del  corpo« 
stampata  qui  in  Roma  nel  1600  e  in 
essa  si  fa  menzione  di  una  Commedia 
grande  rappresentata  in  Firenze  nel 
1588  per  le  Nozze  della  Serenissima 
Granduchessa,  nella  quäle  erano  molti 
frammessi  di  Musica,  da  lui  medesimo 
composti ;  dove  anco  due  anni  appresso 
si  rappresentö  il  »Satiro«  con  le  Mu- 
siche  deir  istesso.  Conviene  perö 
sapere  che  quelle  melodie  sono  molto 
differenti  dalle  odierne,  che  si  fanno 
in  istile,  comunemente  detto  Reci- 
tativo,  non  essendo  quelle  altro  che 
ariette  con  molti  artifizii,  di  ripeti- 
zioni,  echi  e  simili  che  non  hanno 
che  fare  niente  con  la  buona  e  vera 
Musica  Teatrale,  della  quäle  il  Sig. 
Emilio  non  pote  aver  lumen  per  man- 
camento  di  quelle  notizie,  che  si  cavano 
dagli  antichi  Scrittori.  E  ciö  si  co- 
nosce  chiaramente  da  certe  massime 
che  egli  mette  avanti,  le  quali  sono 


Über  den  Ursprung  des  neuen 


Zu  allen  Zeiten  ist  man  gewohnt 
gewesen,  zwischen  die  dramatischen 
Handlungen  irgend  eine  Art  von  Musik 
einzuschalten,  sei  es,  daß  man  zwi- 
schen einen  Akt  und  den  folgenden 
sogenannte  Intermedien  (Zwischen- 
stücke) gab,  oder  daß  man  gleich  an 
den  Akt  selbst  ein  passendes  Nach- 
spiel anfügte.  Aber  der  Zeitpunkt, 
von  dem  ab  man  begann  ganze 
(vollständige)  Dramen  zu  singen,  ist 
noch  frisch  in  unserm  Gedächtnis. 
Denn  ich  glaube,  daß  vor  denen,  die 
Em.  del  Cav.,  ein  römischer  Edelmann 
und  hervorragender  Musikkenner,  ver- 
faßt hat,  bemerkenswerte  Versuche 
nicht  hervorgetreten  sind.  Von  die- 
sem Mann  ist  ein  geistliches  Spiel 
mit  dem  Titel  »Seele  und  Leib«  ge- 
druckt im  Jahre  1600  zu  Rom  in  Um- 
lauf, und  in  dessen  Vorrede  tut  er 
einer  großen  Komödie  Erwähnung, 
die  in  Florenz  im  Jahre  1588  bei  der 
Vermählung  Ihrer  Hoheit  der  Groß- 
herzogin aufgeführt  wurde;  in  dieser 
waren  viele  musikalische  Einlagen  von 
Cavaliere  selbst  komponiert.  In  Flo- 
renz führte  man  auch  zwei  Jahre  später 
den  > Satyr«  mit  Musik  von  demselben 
Verfasser  auf.  Da  muß  man  jedoch 
wissen,  daß  diese  Musik  von  der  heu- 
tigen sehr  verschieden  ist.  Diese  be- 
dient sich  eines  Stils,  den  man  ge- 
wöhnlich Rezitativ  nennt,  jener 
besteht  aus  nichts  als  Arietten,  die 
sehr  künstlich  angelegt,  mit  Wieder- 
holungen Echos  und  ähnlichen  Dingen 
ausgestattet  sind,  die  mit  der  guten 
und  wirklichen  Theatermusik  nichts 
zu  tun  haben.  Von  dieser  hatte  der 
Herr  Emilio  keine  Ahnung,  weil  ihm 
alle  die  Kenntnisse  abgingen,  die  auf 
den  antiken  Schriftstellern  beruhen. 
Das  sieht  man  ganz  deutlich  aus  einer 
Reihe  von  Grundsätzen,  die  er  auf- 
stellt, die  aber  den  Forderungen  des 
Theaters  vollständig  widersprechen. 


16 


Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


al  tutte  contrarie  a  quelle  che  richiede 
il  Teatro.  Tra  Taltre  cose  ei  vuole 
che  i  versi  siano  piccoli  come  di  sette 
e  di  cinque  sillabe,  e  anco  di  otto, 
con  sdruccioli  e  con  le  rime  vicine 
che  e  giustamente  un  volere  ridurre 
la  Musica  scenica  a  barzellette  e  villa- 
nelle,  che,  come  accenai  di  sopra,  ser- 
vono  propriamente  per  framessi  e 
ripieni  delle  Commedie  massimente 
giocose.  Vuole  anco,  che  bastino  tre 
atti  e  che  il  Poema  non  passi  sette- 
cento  versetti,  e  altre  sue  chimere, 
cavate  all'  odierna  pratica  corrotta. 
Non  vorebbe  anco  che  la  sala  fosse 
capace  che  di  mille  persone  al  piü; 
perche  i  Cantori  non  avessero  a  sfor- 
zare  troppo  la  voce;  cose  tutte  che 
si  potrebbero  dare  per  legge  ad  una 
Commedia  di  Monache  o  da  Giovani 
studenti,  e  non  per  Azioni  rappresen- 
tate  con  reale  apparato,  che  tra  le 
altre  condizioni  richiedono  un  sito  di 
competente  grandezza  e  Cantori  eletti : 
potendosi  anco  trovare  rimedi  per  in- 
gagliardire  la  voce  degli  Attori,  come 
piü  abbasso  si  dira.  Questa  dunque 
si  puö  dire  che  sia  stata  la  prima 
etä  della  Musica  teatrale,  dopo  tanti 
secoli  rinata  in  Firenze,  come  tante 
altre  nobili  professioni,  nella  maniera 
che  si  e  visto,  benche  con  principij 
molto  deboli  e  bassi.  Ma  notabile 
accrescimento  fece  poi  con  1'  intro- 
duzione  del  suddetto  stile  recitativo, 
il  quäle  e  stato  universalmente  rice- 
vuto,  e  praticato  oggi  da  molti,  accor- 
tisi  che  universalmente  diletta  piü 
che  la  maniera  madrigalesca  per  la 
gran  perdita  che  vi  si  fa  del  senso 
delle  parole.  Questo  stile  cominciö 
parimente  in  Firenze  intorno  i  mede- 
simi  tempi;  sebbenepiü  tardi  fu  iutro- 
dotto  nelle  Scene,  cioe  lä  intorno  al 
1600,  principio  di  questo  secolo  e 
della  seconda  etä  di  questa  Musica 


So  verlangt  er  u.  a.,  daß  die  Verse 
kurz  seien,  sieben-,  fünfsilbig,  höch- 
stens läßt  er  noch  acht  Silben  und 
die  sogenannten  sdruccioli  —  d.  h. 
Zwölfsilber  mit  dem  Akzent  auf  der 
Antepenultima  —  zu.  Die  Keime 
sollen  nahe  beieinander  liegen.  Das 
heißt  doch  die  dramatische  Musik 
auf  die  Stufe  der  Spaßdichtung,  etwa 
der  Villanellen  (Schnadlhüpfer),  zu- 
rückbringen, die  ja,  wie  ich  oben  an- 
gedeutet habe,  als  Einlagen  und  zum 
Ausfüllen  der  Komödien,  namentlich 
der  sehr  ausgelassenen,  ihre  Berech- 
tigung haben.  Dann  will  er  auch, 
daß  drei  Akte  immer  genügen  sollen 
und  daß  das  Gedicht  nicht  mehr 
als  700  Verschen  habe,  und  was  er 
sonst  noch  für  Schimären  aus  einer 
augenblicklichen,  gesunkenen  Praxis 
herbeiholt.  Er  möchte  auch,  daß  der 
Saal  höchstens  1000  Personen  faßt, 
damit  die  Sänger  ihre  Stimme  nicht 
anzustrengen  brauchen;  alles  Dinge, 
die  man  vorschreiben  kann,  wenn 
Mönche  und  junge  Studenten  spielen, 
aber  nicht,  wenn  es  sich  um  Auf- 
führungen an  Fürstenhöfen  handelt. 
Die  verlangen  neben  andern  Einrich- 
tungen auch  einenßaum  von  gehöriger 
Größe  und  ausgesuchte  Sänger,  und 
es  lassen  sich  Mittel  finden,  die  Stim- 
men der  Spieler  stärker  zu  machen,  wie 
später  auseinandergesetzt  werden  soll. 

Die  Zeit  des  Cavalieri  bildet  also 
—  kann  man  sagen  —  die  erste  Periode 
der  dramatischen  Musik.  Sie  entstand 
nach  vielen  Jahrhunderten  wie  soviele 
andere  Zweige  des  geistigen  Lebens, 
zuerst  wieder  in  Florenz  in  der  Weise, 
die  hier  gezeigt  worden  ist,  allerdings 
auf  verfehlten  und  niedrigen  Grund- 
sätzen. Aber  die  dramatische  Musik 
machte  dann  einen  bemerkenswerten 
Fortschritt  mit  der  Einführung  des 
erwähnten  rezitativschen  Stils.  Dieser 
ist  allgemein  anerkannt  und  wird 
heute  schon,  von  vielen  Musikern  ge- 
handhabt. Überall  ergötzt  er  zweifel- 
los mehr  als  die  alte  Madrigalenkunst, 
weil  diese  dem  Sinn  der  Worte  Ab- 
bruch tut.  Dieser  Rezitativstil  nun 
entstand  ebenfalls  in  Florenz  und  in 
der  behandelten  Zeit;  auf  die  Bühne 
kam  er  jedoch  erst  gegen  1600,  mit 
dem  Anfang  des  Jahrhunderts  beginnt 
auch  die  zweite  Periode  der  drama- 


Gr.  B.  Doni:  Über  den  Ursprung  des  neuen  Bühnengesangs  17 


scenica.  Era  in  quei  tempi  in  Fi- 
renze  il  Sig.  Giov.  Bardi  de'  Conti 
di  Vernia  (il  quäle  fu  chiamato  poi 
al  servizio  di  Papa  demente  VIII 
di  felice  memoria,  che  1'  amö  tenera- 
mente  e  lo  fece  suo  Maestro  di  Ca- 
mera), Signore  dotato  di  molte  no- 
bilissime  virtü;  e  sopratutto  grande 
amatore  delV  Antichitä  e  dellaMusica, 
e  nella  quäle  aveva  fatto  studio  parti- 
colare,  cosi  intorno  la  Teorica,  come 
la  Pratica,  componendo  anco  per  quei 
tempi  assai  acconciamente.  Era  perciö 
la  casa  sua  un  continuo  ricetto  di 
piü  ameni  studj,  e  come  una  fiorita 
Accademia,  dove-si  adunavano  spesso 
giovani  nobili  per  passare  onesta- 
mente  l'ozio  in  virtuosi  esercizj  ed 
eruditi  discorsi:  e  in  particolare  delle 
cose  di  Musica  vi  si  ragionava  molto 
frequentemente  e  discorrevasi  del 
modo  di  ridurre  in  uso  quell'  antica, 
tanto  lodata  e  stimata,  e  giä  per  molti 
secoli  spenta,  insieme  con  altre  nobili 
facoltä,  per  l'inondazioni  de'  Barbari: 
accorgendosi  sopratutto  che,  siccome 
l'odierna  nell'  espressione  delle  parole 
era  molto  difettosa,  e  nel  suo  proce- 
dere  mal  graziosa,  cosi,  a  volere  avici- 
narsi  a  quella,  era  necessario  trovar 
modo  che  le  cantilene  si  potessero 
piü  acconciamente  profferire,  sieche 
la  Poesia  si  sentisse  scolpitamente  e 
i  versi  non  si  storpiassero.  Era  in 
quei  tempo  in  qualche  credito  tra' 
Musici  Yincenzio  Galilei,  il  quäle  in- 
vaghitosi  di  quella  dotta  e  virtuosa 
adunanzä,  molte  cose  vi  apparö ;  e  si 
per  l'ajuto  che  ne  ebbe,  e  si  per  il 
suo  bell'  ingegno  e  continue  vigilie, 
quell'  opera  compose  sopra  gli  abusi 
deir  odierna  Musica,  che  e  stata  poi 
due  volte  divulgata  con  le  stampe. 
Per  la  quäl  cosa  animato  il  Galilei 
a  tentare  cose  nuove,  e  ajutato  massi- 
mamente  dal  Sig.  Giovanni,  fu  il  primo 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VI. 


tischen  Musik.  Es  lebte  damals  in 
Florenz  Herr  Johann  Bardi  aus  dem 
Geschlecht  der  Grafen  von  Vernio 
(derselbe,  der  dann  in  den  Dienst 
des  Papstes  Clemens  VIII.  gesegne- 
ten Andenkens  berufen,  von  diesem 
zärtlich  geliebt  und  zum  Kammer- 
herrn ernannt  wurde).  Bardi  war 
ein  Edelmann  mit  einer  Menge 
adliger  Tugenden  ausgestattet,  vor 
allem  besaii  er  Liebe  zum  Altertum 
und  zur  Musik.  Diese  Kunst  hatte 
er  besonders  studiert,  ihre  Theorie 
sowohl  wie  die  Praxis,  er  kom- 
ponierte für  jene  Zeit  hervorragend 
geschickt.  Bardis  Haus  war  lerner 
der  stetige  Mittelpunkt  der  ergie- 
bigsten Studien,  gewissermaßen  die 
Blüte  einer  Akademie.  Hier  ver- 
sammelten sich  oft  die  jungen  Edel- 
männer, um  ihre  Mußezeit  in  künst- 
lerischen Übungen  und  in  gelehrten 
Gesprächen  zu  nützen.  Ganz  beson- 
ders unterhielten  sie  sich  sehr  häufig 
über  musikalische  Fragen  und  such- 
ten sich  darüber  klar  zu  werden,  wie 
man  die  so  gelobte  und  angesehene, 
aber  mit  andern  edlen  Gütern  unter 
dem  Vordringen  der  Barbaren  seit 
Jahrhunderten  verschwundenen  Mu- 
sik der  Alten  wieder  in  Gebrauch 
setzen  könne.  Man  wurde  vor  allem 
darüber  einig,  daß  man,  da  die  heutige 
Musik  im  Ausdruck  der  Worte  ganz 
unzureichend  und  in  der  Entwicklung 
der  Gedanken  abstoßend  war,  bei  dem 
Versuch,  sie  der  Antike  wieder  näher 
zu  bringen,  notwendigerweise  Mittel 
finden  müsse,  die  Hauptmelodie  ein- 
dringlich hervorzuheben  und  so,  daß 
die  Dichtung  klar  vernehmlich  sei 
und  die  Verse  nicht  verstümmelt  wür- 
den. Bei  den  Musikern  stand  damals 
Vincenzo  Galilei  in  ziemlichem  An- 
sehen. Er  machte  nun  für  jenen  ge- 
lehrten und  kunstliebenden  Bardi- 
schen Kreis,  der  für  ihn  schwärmte, 
mancherlei  zurecht ;  unter  andern  ver- 
faßte er  mit  dessen  Hilfe  und  auf 
Grund  der  eigenen  schönen  Fähig- 
keiten und  unausgesetzter  Beobach- 
tungen jene  bekannte  Abhandlung 
über  die  Mängel  der  heutigen  Musik, 
die  inzwischen  gedruckt  und  in  zwei 
Auflagen  verbreitet  ist.  Dadurch  zu 
weiteren  neuen  Versuchen  ermutigt 
und  besonders  entschieden  von  Herrn 
Johannes  (Bardi)   unterstützt,  wurde 

2 


18 


Vorgescliichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


a  comporre  melodie  a  una  voce  sola, 
avendo  modulato  quel  passionevole 
lajnento  del  Conte  Ugolino  scritto 
da  Dante,  che  egli  medesimo  cantö 
molto  soavemente  sopra  un  concerto 
di  Viole.  La  cosa,  senza  fallo,  piacque 
assai  in  generale;  sebbene  non  vi 
mancarono  degli  emoli  che,  punti  da 
invidia,  nel  principio  se  ne  risero :  onde 
nel  medesimo  stile  egli  compose  parte 
delle  >Lamentazioni«  di  Geremia 
profeta,  che  furono  cantate  in  devote 
Compagnia.  Era  in  quel  tempo  nella 
Camerata  del  Sig.  Giovanni,  Giulio 
Caccini  romano,  di  etä  giovanile;  ma 
leggiadro  cantore  e  spiritoso ;  il  quäle 
sentendosi  inclinato  a  tal  sorte  di 
Musica,  molto  vi  si  afifaticö,  compo- 
nendo  e  cantando  molte  cose  al  suono 
di  un  instrumento  solo,  che  per  lo  piü 
erä  una  Tiorba,  trovata  in  quei  mede- 

simi  tempi  in  Firenze  da detto 

il  B  a  r  d  e  1 1  a.  Co  stui  dunque  ad  imi- 
tazione  del  Galilei,  ma  con  stile  piü 
vago  e  leggiadro,  messe  in  Musica 
alcune  Canzonette  e  Sonetti,  composti 
da  Poeti  eccellenti,  e  non  da  rima- 
tori  a  dozzina  e  come  per  lo  piü  avanti 
a  lui  si  usava,  e  ancora  oggi  in  parte 
si  costuma;  onde  si  puö  dire  che  egli 
sia  stato  i  primo  ad  accorgersi  di 
queslo  errorre  ed  a  conoscere  che 
Parte  del  contrappunto  non  e  capace 
a  perfezionare  un  Musico  come  quasi 
universalmente  si  tiene:  confessando 
egli  in  un  suo  discorso  di  avere  im- 
parato  piü  da  i  dotti  ragionamenti 
della  Camerata  di  quel  Signore,  che 
in  trent'  anni  spesi  da  lui  nell'  eser- 
cizio  di  quest'  arte.  Ivi  anco  dice 
di  esser  stato  il  primo  a  mandar 
fuori  modulazioni  per  una  voce  sola, 
le  quali  in  efifetto  hanno  avuto  grandis- 
simo  applauso ;  e  a  lui  in  gran  parte 
si  deva  la  nuova  e  graziosa  maniera 
di  cantare  che  si  e  poi  messa  in  uso. 


nun  Galilei  der  erste,  der  Gesänge 
für  eine  Stimme  komponierte,  und 
zwar  setzte  er  die  leidenschaftliche 
Klage  des  Conte  Ugolino  aus  Dantes 
Feder  in  Töne  und  trug  sie  selbst  mit 
Begleitung  eines  Chores  von  Violen 
sehr  rührend  vor.  Ohne  Zweifel  ge- 
fiel die  Sache  allgemein,  obgleich  es 
nicht  an  Nebenbuhlern  fehlte,  die  vom 
Neid  getrieben  anfangs  lachten.  Der 
Erfolg  veraulaßteGalilei,  in  demselben 
Stil  Abschnitte  aus  den  Klageliedern 
des  Propheten  Jeremias  zu  behandeln, 
diese  wurden  in  religiösen  Versamm- 
lungen aufgeführt.  Zum  Bardischen 
Kreise  gehörte  damals  auch  Giulio 
Caccini  aus  Bom,  noch  ein  junger 
Mann,  aber  ein  meisterlicher  und  geist- 
voller Sänger.  Dieser  fühlte  sich  zu 
der  neuen  Art  von  Musik  hingezogen, 
widmete  sich  ihr  mit  großem  Eifer 
und  komponierte  viele  Stücke  mit  Be- 
gleitung nur  eines  Instruments.  Das 
war  in  den  meisten  Fällen  eineTheorbe, 
die   er  in  Florenz  um  jene  Zeit  bei 

einem gewissen  Bardella 

gefunden  hatte.  Dieser  Giulio  Ro- 
mano also  setzte  nach  dem  Muster 
des  Galilei,  aber  in  einem  reicheren 
und  fließenderen  Stile  eine  Reihe  von 
Kanzonetten  und  Sonetten  in  Musik, 
die  er  von  wirklich  großen  Dichtern 
und  nicht  von  Dutzendreimern  nahm, 
wie  das  vor  ihm  meistens  der  Brauch 
war  und  noch  heute  teilweise  üblich 
ist.  Man  kann  also  sagen,  daß  G.  R. 
der  erste  war,  der  dieses  Irrtums  inne- 
ward und  zugleich  einsah,  daß  die 
Kunst  des  Kontrapunkts  nicht  im- 
stande ist  einem  Musiker  die  volle 
Reife  zu  geben,  wie  man  allgemein 
annimmt.  Bekennt  doch  Romano  in 
einem  seiner  Aufsätze,  daß  er  durch 
die  gelehrten  Gespräche  im  Bardi- 
schen Kreise  mehr  gelernt  habe  als 
durch  dreißigjährige  Übung  in  der 
kontrapunktischen  Kunst.  An  dieser 
Stelle  beansprucht  er  auch  der  erste 
gewesen  zu  sein,  der  Gesänge  für  eine 
Stimme  herausgegeben  hat.  Sie  haben 
in  der  Tat  den  größten  Beifall  er- 
halten, und  auf  den  Romano  geht 
zum  großen  Teil  auch  die  neue,  an- 
mutige Gesangskunst  zurück,  die  all- 
mählich in  Aufnahme  gekommen  ist. 
Er  hat  für  sie  viele  Werke  verfaßt 
und  sie  vielen  Schülern  ß:elehrt,  am 
bedeutendsten  der  einen  Tochter,  die 


G.  B.  Doni:  Über  den  Ursprung  des  neuen  Bühnengesangs  19 


avendo  egli  in  essa  intavolato  molte 
cose  e  insegnatola  a  molti  Scolari, 
massime  a  una  sua  figliuola,  che  riusci, 
come  e  ancora  oggi,  eccellente  in 
questa  facoltä. 

Intorno  a'  medesimitempi  (per  non 
defraudare  nessuno  della  lode  meri- 
tata)  fiori  in  Roma  Luca  Marenzio, 
il  quäle  e  stato  il  primo  nello  stile 
madrigalesco  a  fare  camminare  le 
parti  con  bell'  aria;  poiche  avanti  a 
lui,  purche  il  concento  fosse  sonoro 
e  soave,  di  poco  altro  si  curavano. 
Ma  nello  stile  recitativo  fu  concor- 
rente  ed  emulo  del  Caccini,  Jacopo 
Peri,  fiorentino,  ancora  esso  esperto 
Compositore  e  Cantore  famoso,  nell' 
Istrumento  di  tasti  allievo  di  Cristo- 
fano  Malvezzi,  il  quäle  vi  diede  pari- 
mente  a  coltivare  questo  stile  e  in 
esso  niirabilmente  riusci  e  ne  riportö 
grandissima  lode.  Dopo  il  Sig.  Grio. 
Bardi  successe  il  Sig.  Jacopo  Corsi 
in  amare  e  favorire  la  Musica  e  i 
Professori  di  essa;  aDzi  di  ogni  piü 
nobile  e  virtuosa  professione;  sieche 
la  casa  sua,  mentre  visse,  fu  un  con- 
tinuo  albergo  delle  Muse  e  un  cortese 
ricetto  de'  loro  seguaci,  non  meno 
forastieri  che  del  paese.  Fu  congiunto 
seco  il  Sig.  Ottavio  Rinuccini  di 
strettissima  amicizia,  la  quäle  non 
vuole  essere  durabile  se  non  e  gran- 
dissima simpatia  di  umori;  e  perche 
come  ognuno  sa,  ei  fu  leggiadrissimo 
Poeta  (avendo  le  Opere  sue  mirabil- 
mente  del  naturale,  patetico  e  grazioso 
onde  nella  Musica  ottimamente  ries- 
cono)  e  la  Poesia  e  la  Musica  sono 
sorelle  e  consorti:  ciö  diede  loro  oc- 
casione  di  perfezionare  scambievol- 
mente  l'una  e  l'altra,  e  comunicarne 
il  piacere  a  quelle  virtuose  adunanze. 
La  prima  Azione  che  in  questo  nuovo 
Stile  di  Musica  si  rappresentasse,  fu 
la  >Dafnec,  favola  boschereccia  del 


auf  diesem  Grebiet  so  bedeutend  wurde, 
wie  sie  es  heute  noch  ist. 

Um  dieselbe  Zeit  (das  muß  er- 
wähnt werden,  um  niemanden  des 
verdienten  Lobes  zu  berauben)  glänzte 
in  Rom  Luca  Marenzio.  Er  war  der 
erste,  der  im  Madrigalenstil  dazu  ge- 
langte ,  die  einzelnen  Stimmen  aus- 
drucksvoll zu  führen.  Vor  ihm  sah 
man  nur  darauf,  daß  der  Gresamtklang 
zwischen  stark  und  zart  wechselte,  und 
kümmerte  sich  um  nichts  anderes. 
Aber  im  rezitativischen  Stil  war  nicht 
Marenzio,  sondern  Jakob  Peri  aus 
Florenz  der  Mitbewerber  und  Nach- 
ahmer des  Caccini.  Auch  Peri  war 
ein  gewandter  Komponist  und  ein 
berühmter  Sänger,  im  Tastenspiel  ein 
Schüler  des  Cristofano  Malvezzi,  der 
sich  ebenfalls  diesem  Stile  widmete, 
auszeichnete  und  die  größte  Aner- 
kennung einerntete.  In  der  Liebe 
zur  Musik,  in  ihrer  und  der  Musiker 
Förderung  erhielt  Giov.  Bardi  einen 
Nachfolger  im  Sig.  Jacopo  Corsi,  der 
überhaupt  für  alle  edlen  und  künst- 
lerischen Angelegenheiten  eintrat,  so 
daß  sein  Haus,  solange  er  lebte,  eine 
beständige  Herberge  der  Musen  und 
die  freundliche  Empfangsstätte  ihrer 
Anhänger  war,  mochten  es  Fremde 
oder  Einheimische  sein.  Mit  Corsi 
war  Sig.  Ottavio  Rinuccini  in  jener 
engsten  Freundschaft  verbunden,  wie 
sie  nur  dann  von  Dauer  zu  sein  pflegt, 
wenn  sie  sich  auf  Verwandtschaft  der 
Neigungen  gründet.  Da  nun,  wie 
jedermann  weiß,  Rinuccini  ein  aus- 
gezeichnet befähigter  Dichter  war, 
in  dessen  Werken  Natürlichkeit,  Pa- 
thos und  Anmut,  die  ja  am  besten 
zur  Musik  passen,  wunderbar  hervor- 
traten, und  da  Dichtung  und  Musik 
Schwestern  sind  und  zusammenge- 
hören, so  ergab  sich  für  sie  von  selbst 
die  Gelegenheit  wechselseitig  die  eine 
wie  die  andere  Kunst  zu  vervollkomm- 
nen und  das  Gefallen  daran  auf  die 
bei  Corsi  verkehrende  kunstbegeisterte 
Gesellschaft  zu  übertragen.  Das  erste 
Drama  nun,  das  in  dem  so  gefundenen 
neuen  Musikstil  dargestellt  wurde, 
war  die  >Dafne«,  ein  Hirtenstück  von 
Rinuccini.  Es  wurde  im  Hause  Corsis 
in  jener  Komposition,  die  sowohl  von 
Peri  wie  von  Caccini  herrührte,  unter 
beträchtlicher  Teilnahme  der  ganzen 
Stadt    aufgeführt.       Später    wurden 


20  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


Rinuccini;  la  quäle  si  recitö  in  Casa 
del  Sig.  Jacopo,  essendo  modulata 
cosi  dal  Peri,  come  dal  Caccini,  con 
gusto  indicibile  della  Cittä  tutta. 
Di  poi  furono  recitate  altre  Favolette 
e  Azioni  intere;  e  sopratutto  con 
regale  apparato,  nelle  nozze  della  Cri- 
stianissima  Regina  di  Francia  »l'Euri- 
dice«  del  medesimo  Sig.  Ottavio, 
modulata  per  la  maggior  parte  del 
suddetto  Peri  (che  anco  recitö  da  se 
qualche  Personaggio,  siccome  nella 
>Dafne<  aveva  rappresentato  »Apol- 
line«), e  il  restante  fu  messo  in  Musica 
dal  Caccini;  e  cio  fu  nel  1600,  nel  quäle 
per  la  medesima  occasione  fu  rappre- 
sentato anco  >ilE,apiniento  di  Cefalo« 
dove  il  Caccini  vi  ebbe  la  maggior 
parte.  Consegui  parimente  grande 
applauso  l'Arianna  del  medesimo  Ri- 
nuccini, la  quäle  fu  vestita  di  con- 
venevole  melodia  dal  Sig.  Claudio 
Monteverde,  oggi  Maestro  di  Cappella 
della  Republica  di  Venezia,  il  quäle 
ne  ha  dato  in  luce  la  parte  piü  prin- 
cipale,  che  e  lamento  dell'  istessa 
Arianna  che  e  forse  la  piü  bella  com- 
posizione  che  sia  stata  fatta  a'  tempi 
nostri  in  questo  genere.  Lascio  di 
dire  di  molte  altre  Azioni  di  minor 
grido,  rappresentate  ad  imitazione  di 
quelle  in  varij  luoghi  e  principalmente 
qui  in  Roma ;  perche  non  e  mio  in- 
tento  Fintessere  qui  un  istoria  di 
questi  successi  musicali.  Non  devo 
giä  tralasciare  quello  che  ho  inteso 
dal  Sig.  Pietro  de'  Bardi,  figlio  del 
sopradetto  Sig.  Giovanni  (da  cui  mi 
sono  State  comunicate  cortesemente 
molte  notizie)  e  da  altri,  che  prima 
il  Peri  e  il  Caccini,  si  per  l'industria 
loro  e  sapere  come  per  l'assistenza 
continua  e  ajuto  che  ebbero  dal  Sig. 
Jacopo  e  dal  Sig.  Ottavio,  arrivarono 
a  quel  segno,  che  si  vede,  che  in 
questo  Stile  appena  si  puö  fare  meglio ; 
e  parimente  grandissimo  ajuto  riceve 
il  Monteverde  dal  Rinuccini  nell'  Ari- 


noch  andere  vollständige  Märchen 
und  Dramen  aufgeführt,  vor  allem 
mit  f ürstlichem  Auf  wand  bei  der  Hoch- 
zeit der  Allerchristlichsten  Königin 
von  Frankreich  die  »Euridice«,  eme 
Dichtung,  ebenfalls  von  Rinuccini, 
komponiert  zum  großen  Teil  von  dem 
genannten  Peri  (der  wie  er  in  der 
»Dafne«  den  Apollo  gegeben  hatte, 
auch  hier  einige  Rollen  selbst  über- 
nahm). Einzelne  Abschnitte  waren 
von  Caccini  in  Musik  gesetzt.  Das 
war  im  Jahre  1600.  In  demselben 
Jahr  und  für  dieselbe  Gelegenheit 
führte  man  auch  das  »Rapimento  di 
Cefalo«  auf,  an  dem  Caccini  den  größ- 
ten Anteil  hatte.  Einen  großen  Bei- 
fall fand  auch  Rinuccinis  »Arianna«, 
die  mit  passender  Musik  von  Sig. 
Claudio  Monteverde,  gegenwärtig 
Kapellmeister  der  Republik  Venedig, 
versehen  wurde.  Monteverde  hat  das 
Hauptstück  seiner  Komposition  ver- 
öffentlicht: es  ist  das  »Lamento  der 
Arianna«  selbst,  vielleicht  die  schönste 
Komposition,  die  bis  auf  unsere  Tage 
in  dieser  Art  überhaupt  entstanden 
ist.  Ich  sehe  davon  ab  über  die  vielen 
andern  Stücke  von  geringerer  Be- 
deutung zu  berichten,  die  im  Anschluß 
an  jene  an  verschiedenen  Stellen  und 
hauptsächlich  hier  in  Rom  aufgeführt 
worden  sind.  Denn  es  ist  nicht  meine 
Absicht  -hier  eine  Geschichte  dieser 
musikalischen  Ereignisse  einzuflech- 
ten.  Ich  darf  jedoch  nicht  das  über- 
gehen, was  ich  von  Herrn  Pietro  de' 
Bardi,  dem  Sohne  des  früher  erwähn- 
ten Giov.  B.  (von  dem  mir  freund- 
licherweise viele  Nachrichten  zuge- 
kommen sind)  und  von  anderen  gehört 
habe,  daß  nämlich  zuerst  Peri  und 
Caccini  teils  auf  Grund  eigenen  Stre- 
bens  und  Könnens,  teils  fortwährend 
von  Corsi  und  Rinuccini  belehrt  und 
unterstützt,  an  ein  Ziel  kamen,  das 
sichtlich  auf  diesem  Gebiete  kaum 
(wesentlich)  überholt  werden  kann. 
Ebenso  erfuhr  Monteverde  bei  der 
» Arianna « wichtigste  Förderung  durch 
Rinuccini,  obwohl  dieser  kein  Fach- 
musiker war.  Aber  er  glich  das  durch 
seinen  äußerst  feinen  Geschmack  und 
durch  ein  scharfes  Gehör  aus,  Eigen- 
schaften, die  man  ja  auch  in  der  Art 
und  Anlage  seiner  Dichtung  schon 
zur  Genüge  bemerkt.  Da  nun  diese 
drei  Musiker  mit   viel   Gelehrigkeit 


Gr.  B.  Doni:  Über  den  Ursprung  des  neuen  Bühnengesangs         21 


anna,  ancor  che  non  sapesse  diMusica 
[supplendo  a  ciö  col  suo  giudizio  finis- 
simo  e  con  l'orecchia  esattissima,  che 
possedeva;  come  anco  si  puö  conos- 
cere  dalla  qualitä  e  testura  delle  sue 
poesie),  poiche  con  molta  dociltä  e 
attenzione  questi  tre  Musici  ascol- 
tarono  sempre  gli  utilissimi  inseg- 
namenti  che  quei  due  Gentiluomini 
gli  somministravano,  instruendoli  di 
continuo  di  pensieri  eccellente  e 
dottrina  esquisita  quäle  si  richiedeva 
in  cosa  si  nuova  e  pregiata:  onde  ne 
hanno  riportato  appresso  il  mondo 
perpetua  lode  e  luogo  degnissimo  fra 
la  schiera  de'  Musici  con  avere  cosi 
notabilmente  migliorata  questa  fa- 
coltä  nella  principale  parte  di  essa, 
che  e  la  Favella  e  la  melopeia,  E 
cosi  si  conosce  che  i  veri  architetti 
di  questa  Musica  Scenica  sono  pro- 
priamente  stati  li  Signori  Jacopo 
Corsi  e  Ottavio  Rinuccini ;  e  li  primi 
formatori  di  questo  stile  le  tre  musici 
mentovati,  e  che  alla  nostra  cittä  e 
suoi  cittadini  non  poco  e  tenuta  la 
professione  della  musica. 


und  Aufmerksamkeit  den  so  nützlichen 
Lehren  folgten,  mit  denen  die  beiden 
Edelleute  ihnen  beistanden,  indem  sie 
ihnen  fortwährend  außerordentliche 
Ideen  zutrugen  und  sie  zu  einer  so 
unabhängigen  und  feinen  Einsicht 
führten,  wie  sie  ein  so  neues  und  be- 
deutendes Unternehmen  verlangte  — 
darum  haben  sie  von  der  Welt  ein 
unumgängliches  Lob  geerntet  und  in 
dem  Kreis  der  Tonsetzer  einen  Ehren- 
platz erhalten.  Sie  haben  die  musi- 
kalische Kunst  auf  einem  Hauptge- 
biete bemerklich  verbessert,  nämlich 
im  Ausdruck,  und  den  Gesang  zur 
Tonsprache  erhoben.  Und  so  ergibt 
sich  denn,  daß  die  eigentlichen  Bau- 
meister der  dramatischen  Musik  die 
Herren  Jacopo  Corsi  und  Ottavio 
Rinuccini  sind,  die  ersten  aber,  die  in 
jenem  Stil  Bauten  ausführten,  waren 
die  drei  erwähnten  Musiker.  In 
unserer  Stadt  aber  (Rom)  und  bei 
ihren  Bürgern  hält  man  viel  auf  die 
musikalische  Kunst. 


Dieser  Bericht  des  Doni  bezeichnet  das  Musikdrama  mit  der  größten 
Entschiedenheit  als  eine  Schöpfung  der  Renaissance:  es  hat  keine  An- 
knüpfungspunkte in  der  Zeit;  es  überhaupt  zu  ermöglichen,  bedurfte 
es  einer  neuen  Musik,  einer  Gesangkomposition,  die  das  Verhältnis 
von  Wort  und  Ton  auf  neue,  der  Vernunft  entsprechende  Grundlagen 
stellte.  Diese  Grundlagen  boten  die  Alten ;  auf  sie  wurde  der  Neubau 
gestützt.  Einsichtige  Laien  waren  die  Baumeister,  begabte  und  wil- 
lige Musiker  dienten  nur  als  Bauführer. 

Diese  Darstellung  wird  durch  die  Zeugnisse  Rinuccinis,  des  ersten 
Dichters,  und  auch  die  der  Komponisten  Per i,  Cacciniund  Gagliano 
bestätigt  und  ergänzt.  Rinuccini  hat  sich  zur  Sache  geäußert  in 
einem  Brief  an  Maria  von  Medici,  der  er  seine  »Euridice«  wid- 
mete, Peri  und  Caccini  haben  ihre  Kompositionen  der  Rinuccinischen 
»Euridice«  mit  Vorreden  an  den  Leser  in  den  Druck  gebracht, 
Gagliano  spricht  über  die  Entstehung  der  Oper  in  der  Vorrede 
zu  seiner  *Dafne«  (1608).  Alle  diese  Dokumente  ^  sind  häufig  zitiert 
worden. 


1  Sie  sind  ^zuletzt  abgedruckt  in  Gandolfis   >Alcune  considerazioni 
intorno  alla  riforma  melodramraatica«    [in  den   atti  della  Accademia  .  .  . 
di  Firenze]  (Florenz  1896). 


22  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Auch  diese  Zeugen  sind  der  Meinung:  die  Griechen  und  Römer 
haben  auf  der  Bühne  ihre  Dramen  vollständig  gesungen  — ,  und  wir 
haben's  versucht  ihnen  nachzumachen.  In  dem  Bericht  über  das 
musikalische  Verfahren,  das  sie  einschlugen,  ergänzen  die  Komponisten 
den  Doni  mit  Einzelheiten,  namentlich  Peri.  Daraus  ersehen  wir, 
daß  da,  wo  eingehende  Vorschriften  der  Alten  nicht  vorlagen,  man 
sich  an  die  Naturbeobachtung  hielt.  Da  war  man  sicher,  wenigstens 
im  antiken  Geiste  zu  handeln.  Nach  den  Beschreibungen  der  alten 
Schriftsteller  glaubte  man  beispielsweise,  daß  die  Alten  für  ihr  Musik- 
drama ein  Mittelding  zwischen  Gesang  und  gewöhnlicher  Rede  gehabt 
hätten.  Für  Tempo  und  Rhythmus  dieses  Redegesanges  hatte  man 
Anhalt  in  den  Versmaßen  der  alten  Tragödien  und  in  den  Ausfüh- 
rungen, die  Theoretiker  über  die  voce  diastematica  hinterlassen  hatten. 
Aber  es  fand  sich  nichts  in  den  Quellen  über  die  Melodik  des  alten 
Bühnengesanges.  Da  hilft  sich  Peri  so:  Ja,  wie  ist  denn  das  beim 
gewöhnlichen  Sprechen  ?  —  fragt  er.  Mir  scheint,  wenn  einer  an- 
fängt zu  reden,  geht  er  von  einem  harmonischen  Ton  aus.  Dann 
aber  streift  er  eine  Menge  anderer,  die  sich  gar  nicht  bestimmen 
und  messen  lassen,  schließlich  kommt  er  aber  wieder  am  Ende  des 
Satzes,  wo  er  ruhig  wird,  auf  einen  musikalischen  Ton  zurück.  Daraus 
macht  sich  nun  Peri  die  Regel:  Anfang  und  Schluß  der  Sätze  werden 
zum  Baß  Konsonanzen  bilden  müssen,  die  dazwischen  liegenden  Töne 
sind  Dissonanzen,  von  denen  die  Harmonie  keine  Notiz  zu  nehmen 
braucht.  Es  wäre  falsch,  jeden  Ton  der  Singstimme  mit  Akkorden 
zu  begleiten.  Der  Wechsel  der  Harmonie  nimmt  sein  Tempo  nach 
höheren  Gesichtspunkten,  in  erster  Linie  nach  dem  Charakter  der 
Affekte,  die  Trauer  hält  zurück,  die  Freude  beschleunigt.  Noch  bis 
zu  Monteverdi  hin  haben  wir  die  Beispiele  in  Hülle  und  Fülle,  wie 
die  Komponisten  durch  Beobachten,  Nachdenken  und  Berechnen  neue 
Aufgaben  glücklich  lösen.  Es  war  eine  Zeit,  in  der  auch  bei  den 
Musikern  der  Kunstverstand  zu  seinem  gebührenden  Rechte  kam,  eine 
Zeit,  die  im  Kampf  gegen  Unklarheit  jeglicher  Art  von  der  Macht 
des  Unbewußten,  von  der  blinden  Genialität  nicht  viel  wissen  wollte. 
Im  Eifer,  im  Ernst  und  in  der  Redlichkeit  sind  daher  die  Opern  der 
ersten  Zeit  Musterleistungen.  Alles  geriet  aber  trotzdem  nicht  voll- 
kommen, erst  die  Erfahrung  brachte  eine  Scheidung  zwischen  Vor- 
zügen und  Mängeln. 

Wir  sind  mit  der  oben  angeführten  Stelle  Peris  mitten  hinein- 
geraten in  die  Arbeit  am  neuen,  begleiteten  Sologesang.  Zu  seiner 
Entstehung  hatten  verschiedene  Wege  geführt.  Einmal  die  Verlegen- 
heit dem  Stimmenreichtum  der  Chorsätze  gegenüber,  wie  ihn  besonders 
die  Venetianische  Schule  pflegte.  Man  ersetzte  die  Stimmen  erst 
durch  Orchesterinstrum ente,  der  nächste  Schritt  war,  daß  man  sie 
in  einem  Auszug  der  wesentlichen  Akkorde  auf  die  Orgel,  aufs  Cem- 
balo oder  gar  die  Laute  übertrug,  und  dieser  Schritt  führte  über- 
haupt vom  kontrapunktischen  Stile  ab,  zu  einer  Unterscheidung  von 


Die  Anfange  des  Bühnengesangs  23 

Haupt-  und  Nebenstimmen,  von  führender  Melodie  und  von  Beglei- 
tung; man  fand,  daß  für  die  Begleitung  eine  einfache  Harmonie  ge- 
nügte. Dieser  Weg  war  ein  musikalischer,  ihn  hatten  die  Musiker 
gebrochen.  Einen  zweiten  zeigte  das  gebildete  Laientum  des  16.  Jahr- 
hunderts, an  seiner  Spitze  die  Hellenisten  von  Florenz.  Die  hatten 
sich  durch  das  Studium  des  Boetius,  der  1495  gedruckt  wurde, 
dann  des  Plutarch  (de  musica),  des  Aristoxenos  und  durch  andere 
in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  ebenfalls  durch  Druck- 
legung allgemein  und  bequem  zugänglich  gewordene  Theoretiker  des 
alten  Griechenlands  mit  der  antiken  Musik  bekannt  gemacht  und 
erblickten  in  ihr  eine  Kunst,  die  die  gewaltigste  Wirkung  durch  ein- 
fachen, einstimmigen  Gesang  erreichte.  Das  zwang  zur  Reform  und 
zur  Hebung  der  Melodik.  Einstimmige  Melodien  von  äußerstem 
Sprachgehalt  und  reichstem  Ausdruck  zu  erfinden,  war  das  Haupt- 
trachten der  um  den  Grafen  Bardi  versammelten  Akademiker.  Beide 
Parteien,  die  Musiker,  die  die  Vereinfachung  der  Harmonie  durch- 
setzten und  die  Hellenisten,  die  sich  der  Verbesserung  der  Melodie  an- 
nahmen, wurden  dabei  auch  von  der  Volksmusik  beeinflußt. 

Die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  war  die  Zeit  der  italienischen  Villa- 
nellen,  der  protestantischen  Choräle,  des  hugenottischen  Psalter,  der 
Niederländischen  Souterliedekens.  Der  von  Renaissance  und  Refor- 
mation getragenen  ungewöhnlich  starken  Liedkraft,  die  dieser  einfachen 
Chorkomposition  zugrunde  lag,  verdankt  die  damalige  polyphone  Kirchen- 
musik einen  allgemeinen  Aufschwung  der  Thematik,  sie  verdankt  ihr  die 
besondere  Stilklärung  Palestrinas.  In  die  Kammermusik  aber  drangen  die 
Formen  des  Volksgesanges  ganz  direkt  ein.  Vincenzo  Giustiniani 
erzählt  in  seinem  »Discorso  sopra  la  musica  de  suoi  tempi«  (1628),  wie 
in  seiner  Jugend  in  den  Musikschulen  neben  den  Kompositionen  des 
Arcadelt,  des  Lasso,  des  Alessandro  Striggio,  des  Ciprian 
de  Rore  und  des  Filippo  de  Monte  auch  Neapolitanische  Villanellen 
für  eine  Stimme  mit  Begleitung  eines  Instrumentes  gesungen  wurden, 
echte  und  nachgemachte.  Diese  volkstümliche  Strömung  in  der  Musik 
des  16.  Jahrhunderts  kam  der  Ausgestaltung  des  neuen  Sologesanges 
zu  Hilfe,  sein  eigentliches  Gepräge  erhielt  er  aber  durch  die  Helle- 
nisten. Wenn  wir  daraufhin  die  Schriften  der  Galilei  und  Doni  be- 
fragen, so  finden  wir  bei  ihnen  unsere  heutige  Akzentlehre  ziemlich 
vollständig  vorgetragen  und  in  den  Vordergrund  gestellt.  Sie  ver- 
langen von  der  Musik,  daß  sie  dem  Worte  zu  seinem  Rechte  helfe, 
und  zwar  nach  jeder  Richtung  hin,  im  engeren  und  weiteren  Sinne. 
Vor  allen  Dingen  muß  die  Komposition  so  angelegt  sein,  daß  der 
Text  vom  Zuhörer  jederzeit  deutlich  verstanden  werden  kann,  die 
Musik  muß  die  Form  der  Verse  heben,  sie  muß  sich  dem  einzelnen 
Worte  anschmiegen.  Besonders  aber  soll  sie  den  logischen  Akzent 
der  Gedichte  verstärken:  den  Sinn  der  Sätze  zum  erhöhten  Ausdruck 
bringen,  den  größeren  und  den  kleineren  Wendungen  des  Gedanken- 
ganges folgen,  Gehalt  und  Charakter  des  Ganzen  und  aller  einzelnen 


24  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Teile  belebend  veranschaulichen.  Der  gute  Schauspieler  ist  nach  Doni 
das  Muster  für  die  Komponisten.  An  ihm  können  sie  lernen,  wie 
die  Stimme  hoch  oder  tief,  die  Rede  langsam  oder  schnell  ist,  wie 
die  Worte  hervorgehoben  werden,  wie  ein  Fürst  mit  dem  Vasallen, 
wie  er  andererseits  mit  einem  Bittsteller  spricht,  wie  die  Matrone 
anders  spricht  als  das  Mädchen,  als  der  einfältige  Knabe,  als  die 
Buhlerin,  wie  der  Ton  der  Klage  anders  klingt  als  der  des  Geschreies, 
der  Lustigkeit  und  der  Furcht.  Hat  doch  selbst  das  Tier  —  so  schließt 
der  betreffende  Abschnitt  —  seine  Stimme,  um  auszudrücken,  ob  ihm 
wohl  oder  wehe  ist. 

Nach    der  Meinung   von   Doni^    und    Galilei  2    war   die    bisherige 
Komposition  diesen  Forderungen,  sie  war  dem  sogenannten  Ausdruck, 
dem  Charakter  des  Redenden,   dem  Affekte,  dem  Inhalt  der  Rede  so 
gut  wie   alles  schuldig  geblieben.     Der  mehrstimmige,    kontrapunk- 
tische Chorsatz,  die  bis  dahin  ausschließlich  gepflegte  Form  der  Kunst- 
musik, erschien  den  Florentiner  Hellenisten  3  wie  der  Tod  aller  Poesie. 
Um  deutlich   zu  zeigen,    wie   übertrieben,  ja  ganz  verblendet  diese 
Ansicht  war,    braucht   man    nur    den   Namen  Palestrina    zu   nennen. 
Allerdings  bewegte  sich  die  Kirchenmusik  in  einem  begrenzten  Kreise 
von  Anschauungen  und  Empfindungen,  und  sie  war  in  ihrer  Hingabe 
an  dieselben  durch  kirchliche  Rücksichten  gebunden.    Aber  die  Kunst 
des  Ausdrucks  innerhalb   dieses  Kreises  hatten   ihre  Meister  so  ver- 
standen, daß  sie  uns  nach  Jahrhunderten  noch  als  Muster  dienen.    Und 
inzwischen  war  der  Kreis  selbst   erweitert  worden.    Es  war  mit  den 
Mitteln  des  kontrapunktischen  Chorsatzes   eine  weltliche  Kunstmusik 
entstanden:  das  Madrigal.   Hatte  Christobal  Morales*  dieser  welt- 
lichen Musik  seine  Verachtung  ausgesprochen   und  Palestrina  ^  seine 
früheren  Versuche  auf  dem  Gebiete  später  als  Jugendsünden  erklärt,  so 
war  das  Madrigal  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  dennoch  zur  hohen 
Blüte  gediehen,  und  es  hatte  sich  jedenfalls  reichlich  darum  bemüht, 
mit  der  Musik  Naturtreue  zu  erreichen.    Darauf  beruhen  die  Nach- 
ahmungen des  Vogelgesangs,  des  Weibergezänks,  des  Schlachtenlärms 
bei  Jannequin,  die  Jagdmusiken  bei  Gombert,  Verdelot.     Unser 
Eccard  versucht  einmal  das  Treiben  auf  dem  Markusplatz  in  Venedig 
in  einem  Chorsatz  wiederzugeben.    Ähnliches  finden  wir  bei  den  Ita- 
lienern schon  während  des  14.  Jahrhunderts  in  den  Florentiner  Karne- 
valsgesängen, wir  finden  es  später  wieder  bei  AI.  Striggio,  bei  Gio- 
vanni Croce.    In  einem  Hauptvertreter  des  Madrigals,  in  Cyprian 
de  Rore  nämlich,  erkannten  die  Galilei  und  Doni  selbst  einen  großen 
Meister  des  musikalischen  Ausdrucks.    Die  Verurteilung  des  Kontra- 

1  Doni:  »De  praestantia  musicae  veterisc.     S.  89. 

2  Galilei:  »Dialogo  della  musica  antica  e  dellamoderna«.  Florenz  1Ö81. 

3  Mei:  »Della  musica  antica  e  moderna«.     Venedig  1602. 

4  Vorrede  zum  ersten  Buche  seiner  Messen.     1544. 

5  Vorrede  zum  »Hohen  Lied  Salomonis«.     1584. 


Das  Madrigal  25 

punkts  an  sich  erregt  daher  unsere  Bedenken  als  eine  sehr  mangel- 
haft begründete.  In  ihr  zeigen  sich  jene  Eichter  als  arge  Dilettanten. 
Wir  dürfen  mit  großer  Bestimmtheit  vermuten,  daß  in  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  die  sogenannten  Chöre  in  Italien  durch- 
schnittlich sehr  schlecht  sangen  und  durch  einen  rohen,  unausgegli- 
chenen Vortrag  alles  verdarben,  was  die  Kompositionen  an  Ausdruck 
enthielten.  Auch  bildeten  den  Durchschnitt  der  Komposition  in  Messe, 
Motette  und  Madrigal  mittelmäßig-schematische  Leistungen,  welche 
in  ihrer  Wirkung  um  so  mehr  versagen  mußten,  als  zu  der  schlechten 
Aufführung  auch  noch  der  Umstand  hinzutrat,  daß  ihre  Menge  und 
die  Alleinherrschaft  ihres  Stiles  auf  die  Dauer  ermüdeten.  Alle  diese 
Beschwerden  wurden  nun  dem  Stile  selbst  zur  Last  gelegt,  der  Kontra- 
punkt war  und  wurde  bei  den  Laien  verhaßt.  Daß  Musiker  von  der 
Autorität  eines  Zarlino  für  ihn  warnend  und  belehrend  eintraten, 
änderte  nichts  mehr  an  dem  Laufe  der  Dinge,  die  Stimmung  gedieh 
bis  zu  der  Gewalt  einer  Naturkraft.  Bei  dem  Namen  Kontrapunkt 
dachte  man  nur  an  die  Auswüchse,  an  das  Sündenregister  der  Gattung: 
an  die  durcheinander  schreienden  Stimmen,  an  die  Mißhandlung  von 
Wort  und  Text,  gegen  welche  auch  die  Beschlüsse  des  Tridentiner 
Konzils  und  Palestrinas  Mustermessen  nichts  Gründliches  hatten  aus- 
richten können. 

Auch  um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  war  der  kontrapunk- 
tische Chorsatz  angegriffen  worden,  damals  auf  kirchlichem  Boden. 
Wenn  man  jetzt,  nur  einige  Jahrzehnte  später,  aufs  neue  und  mit 
einem  so  heftigen  Ungestüm  gegen  den  Kontrapunkt  vorging,  so  kam 
das  daher,  weil  mittlerweile  die  neue  musikalische  Stilart,  der  Solo- 
gesang, bereits  in  Sicht  getreten  war.  Die  melodische  Kunst  hatte 
angefangen  sich  außerhalb  des  Geheges  des  Chorsatzes  zu  versuchen. 
Die  ersten  Versuche  waren  der  Not  entsprungen.  Man  hatte  aus  den 
vielstimmigen  Chören  hier  und  da  eine  oder  einige  Stimmen  weg- 
gelassen, man  war  dazu  geschritten,  eine  einzige  Stimme  aus  dem 
Chorsatze  beizubehalten  und  die  übrigen  erst  mit  Instrumenten  zu  be7 
setzen,  dann  auf  die  Harmonie  einer  einfachen  Laute  oder  eines  Klavier- 
instrumentes zu  reduzieren.  Die  bekannte  Sammlung  G.  Morphys 
»Les  Luthistes  espagnoles  du  XVP  si^cle«  zeigt  am  einfachsten, 
wie  die  frühesten  begleiteten  Sologesänge  aussahen.  Diese  Solo- 
stimmen, in  sich  zusammenhanglos,  durch  Pausen  zerstückelt,  waren 
noch  keine  Sologesänge,  ebensowenig  wie  es  die  Sopranstimme  eines 
neuen  Chorwerks  sein  würde.  Aber  sie  halfen  doch  stark  mit  den 
Weg  zum  Sologesang  zu  finden. 

Der  Ausbildung  eines  bessern  Sologesanges,  einer  Melodik,  die 
den  Anforderungen  der  Hellenisten  genügte,  war  fortan  mehrere 
Menschenalter  lang  die  Arbeit  der  Musiker  in  erster  Linie  gewidmet. 
Auf  der  Anfangsstufe  suchte  man  zunächst  die  Solomelodie  von  der 
Chormelodie  dadurch  zu  unterscheiden,  daß  man  ihr  eine  größere 
äußere  Beweglichkeit  gab,  sie  reichlich  mit  Figuren  und  Verzierungen 


26  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

mischte.  In  der  Regel  blieb  diese  Ausschmückung  dem  Belieben  der 
Sänger  überlassen.  Dieses  Variieren  und  Ergänzen  der  Vorlage  des 
Komponisten  war  eine  besondere  Kunst,  die  von  jedem  Sänger  seit 
der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  verlangt  wurde.  Es  gibt  von  da  ab 
eine  Menge  Lehrbücher,  die  dafür  die  Regeln  aufstellend  Noch 
Cavalli  schreibt  an  einzelnen  Stellen  seiner  Opern  ein  kurzes  »passagio« 
vor  und  überließ  es  dem  Geschmack  und  der  Kunst  des  Sängers, 
die  geeigneten  Noten  zu  wählen.  Die  Mehrzahl  der  Komponisten 
verzichtete  aber  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  auf  jede  Andeu- 
tung und  verließ  sich  darauf,  daß  die  geschulten  Sänger  die  rich- 
tigen Stellen  und  Formen  für  die  Verzierungen  selbst  finden  würden. 
Nach  Arteaga  soll  auf  diese  Kunst  des  Kolorierens  als  Mittel  der 
Melodiebildung  der  Umstand  sehr  anregend  gewirkt  haben,  daß  in 
der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  neue  Instrumente  in  den 
Dienst  gestellt  wurden,  welche  schnelle  Figuren  erlaubten.  Darunter 
gehören  die  Violinen.  Andere  verschiedene  Sorten  von  Lauteninstru- 
menten erleichterten  das  Akkordspiel  und  machten  das  Gehör  mit 
dem  System  einfacher  und  selbständiger  Harmonien,  wie  sie  zum 
Sologesang  langhin  verwendet  wurden,  vertraut.  Es  vollzog  sich 
eine  Vereinfachung  der  Harmonien.  Aus  solchen  rein  musikalischen 
Elementen  konnte  eine  neue  Stilart  allein  und  unabhängig  von  den 
Forderungen  und  Anregungen  der  Hellenisten  hervorwachsen.  Es 
scheint,  als  wenn  die  geistlichen  Konzerte  Viadanas  in  Rom  als  die 
Früchte  einer  solchen  rein  musikalischen  Entwicklung  gereift  seien  und 
es  ist  sicher,  daß  Vincenzo  Galilei  es  nicht  bloß  seinen  griechischen 
Studien,  sondern  ebenso  dem  musikalischen  Gang  der  Zeit  zu  danken 
hatte,  wenn  er  schon  lange  vor  Viadana  in  den  beiden  von  Doni 
erwähnten  Arbeiten,  der  Ugolinoszene  und  dem  Klagelied  des  Jeremias 
die  ersten  Früchte  unsres  heutigen  Sologesanges  vorlegen  konnte. 
Mit  diesen  beiden  Kompositionen  des  Galilei  erlangte  der  beglei- 
tete Sologesang  das  Bürgerrecht  unter  den  musikalischen  Kunstformen. 
Eine  weitere  Frage  ist  nun  die :  Wie  kam  es,  daß  aus  diesem  neuen 
Musikstil  eine  neue  Art  Drama,  das  Musikdrama,  hervorging?  Die 
stärkste  Ursache,  die  zur  Entstehung  der  Oper  führte,  war,  wenn  auch 
nirgends  eingestanden,  das  Bestreben,  auch  das  Theater  der  Zeit  mit 
dem  Geist  der  Antike  zu  füllen.  Die  Renaissance  mußte  bei  ihrem 
Kampf  gegen  die  Kirche  und  ihre  Scholastik  an  die  Herrschaft  über 
die  Bühne  denken,  denn  sie  ist  unter  Umständen  wichtiger  als  die 
Kanzel.  So  beginnen  denn  die  Versuche  das  geistliche  Drama  durch 
ein  weltliches  zu  verdrängen,  in  Italien  schon  im  15.  Jahrhundert 
und  führen  bald  zur  Nachbildung  lateinischer,  dann  auch  griechischer 
Schauspiele   und  Tragödien  2.     Sie   blieben  weit  hinter   den  Mustern 


1  Vgl.  F.   Chrysander:    »Lodovico   Zacconi  als   Lehrer  des  Kunst- 
gesanges« (Vierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  1894). 

2  Vgl.  Alessandro  d'Ancona:  ^Origini  del  Teatro  Italiano«  (1890). 


Intermedien  27 

zurück.  Da  kam  mau  denu  auf  die  Idee,  die  Ursache  der  Über- 
legenheit des  antiken  Dramas  darin  zu  suchen,  daß  es  durchkomponiert, 
daß  es  Musikdrama  war.  Das  ist  eine  Hypothese,  die  bis  heute  noch 
nicht  völlig  genügend  erwiesen  ist.  Den  Vertretern  der  Renaissance 
galt  sie  als  Tatsache,  und  diese  Entdeckung  führte  zu  einem  Wett- 
eifer in  dem  Bemühen  die  Musik  der  Zeit  zu  dramatisieren.  Er  ergrijff 
sogar  die  Madrigalenkomposition;  immer  mehr  wirds  dem  Ende  des 
Jahrhunderts  zu  Brauch,  die  Sammlungen  weltlicher  Chorgesänge  mit 
dramatisierenden  und  programmatischen  Titeln  zu  versehen:  »flamme 
d'amore«,  Liebesflammen,  »le  veglie  di  Siena«,  Siena  bei  Nacht  usw. 
Bald  geht  der  Dramatisierungseifer  weiter,  man  setzte  wirkliche 
Theaterstücke  in  Musik,  zunächst  kleine,  die  sogenannten  Intermedien. 
Diese  Intermedien,  Intermezzi,  dienten  in  der  Kunstgeschichte  des  15. 
und  16.  Jahrhunderts  einem  ähnlichen  Zweck,  wie  gegenwärtig  unsere 
Zwischenaktsmusik  und  unsere  Tafelmusik.  In  Italien,  Frankreich 
und  Deutschland  erschienen  sie  unter  verschiedenen  Namen  und  in 
vielfachen  Spielarten  als  Einlagen  zwischen  den  einzelnen  Akten  der 
Tragödien  oder  den  Hauptgängen  großer  Festmahle.  Ihren  Inhalt  bil- 
deten Allegorien,  Aufzüge,  Maskeraden,  lebende  Bilder,  ballettartige 
Tänze  und  Spiele,  besonders  häuflg  aber  Hanswurstiaden  und  Possen. 
Die  Intermedien  der  letzteren  Art  blicken  auf  die  Satyrspiele  des 
Dramas  der  Alten  zurück  und  weisen  in  die  Zukunft  hinaus  auf  die 
spätere  opera  bufi'a  der  Italiener.  Eine  ziemlich  vollständige  mit 
Quellenangabe  versehene  Aufzählung  der  bekanntesten  italienischen 
Intermezzi  und  der  mit  ihnen  verwandten  musikalischen  Theaterstücke 
geben  Dommer^,  Rolland  u.  a.  2.  Danach  beginnt  die  Intermedienmusik 
in  Italien  gleich  am  Anfang  des  15.  Jahrhunderts.  Ambros^  ergänzt 
mit  Mitteilungen  über  ähnliche  Erscheinungen  in  Deutschland  und 
Frankreich.  In  dem  von  ihm  beschriebenen  »Ballet  comique«  des 
Beaujoyeulx  ist  eine  heute  sehr  populäre  Melodie  zu  Hause: 


(son  de  clochette. 


Das  berühmteste  dieser  madrigalischen  Intermezzi  ist  der  »Amfl- 
parnasso«  des  Orazio  Vecchi,  gedruckt  in  Venedig  1604  —  nach 
einigen  Schriftstellern  (darunter  auch  Ambros  HI,  563)  1594  auf- 
geführt  in  Modena.     Die  Modeneser    haben    dem  Orazio  Vecchi  auf 


1  A.  V.  Dommer:  Handbuch  S.  262  u.  ff.  Nur  das  erste  Mailänder 
Stück  muß  statt  1388  um  hundert  Jahre  später  gesetzt  werden.  Siehe  Klein: 
»Das  ital.  Dramac  II,  519. 

2  N.  d'Arienzo:  »Dell'  opera  comica  dalle  origini  a  Gr.  B.  Pergolesi« 
(Rivista  musicale  11,  S.  597 ff.,  IV,  S.  121  fi".),  W.  F.  Henderson:  >Some 
forerunners  of  Italian  operac  (New  York  1911). 

3  Ambros,  W.,  Geschichte  der  Musik  IV,  241  ff. 


28 


Yorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


Grund  dieses  Werkes  die  Erfindung  der  komischen  Oper  zuge- 
schrieben. Auf  der  Grabschrift  liest  man  von  ihm:  »qui  harmo- 
niam  primus  comicae  facultati  conjunxit« ;  im  Theater  steht  seine 
Büste.  Das  Stück,  dessen  Text  ebenfalls  von  Orazio  Vecchi  herrührt 
—  daher  der  Titel  »Amfiparnasso«  — geht  über  Umfang  und  Cha- 
rakter der  Intermedien  bedeutend  hinaus.  Darin  hat  Ed.  Dent  \  der 
ihm  kürzlich  eine  Abhandlung  gewidmet  hat,  recht,  nicht  aber  darin, 
daß  er  ihm  den  dramatischen  Charakter  und  die  Bestimmung  als 
Theaterstück  abspricht.  Es  ist  eine  große  Musikposse  und  besteht 
aus  einer  Keihe  schwankartiger  Szenen,  deren  Mittelpunkt  ein  ver- 
liebter alter  Geck:  der  Pantalone  vecchio  und  seine  beiden  Diener 
Pedrolino  und  Francatrippa  bilden.  Personennamen,  Situationen, 
Charaktere  und  Motive  weisen  den  »Amfiparnasso«  in  die  Stegreif- 
komödie. Einer  der  beliebtesten  Scherze  der  italienischen  commedia 
deir  arte :  das  Durcheinander  verschiedener  italienischer  Dialekte  und 
die  Einmischung  fremder  Sprachen  ist  in  dieser  Posse  auf  die  frei- 
gebigste Weise  ausgenutzt.  Wir  hören  da  Toskanisch,  Venetianisch, 
Spanisch,  Bergamaskisch  und  auch  hebräische  Brocken  fallen  darein. 
Daß  der  Chorstil  im  Madrigal  gelernt  hatte,  drastische  Töne  für  Scherz, 
Übermut  und  Ausgelassenheit  anzuschlagen,  zeigen  uns  die  Tanzlieder 
der  Italiener,  es  zeigen  es  uns  namentlich  die  lustigen,  fast  szenisch 
gedachten  Liebeschöre  Morleys  und  anderer  Engländer.  Orazio  Vecchi 
hatte  sich  für  diese  Seite  des  Madrigalenstils  besonders  geschult: 
nämlich  in  den  vorhin  schon  genannten  »Le  veglie  di  Siena  ovverro 
i  varii  humori  della  musica  modema  a  3,  4,  5  e  6  voci«2,  einer 
Sammlung  von  musikalischen  Charakterbildern,  in  welcher  namentlich 
die  komischen  Figuren  durch  Originalität  und  Kühnheit  hervorragen. 
Mit  derselben  Virtuosität  wie  in  dieser  Sammlung  —  sie  kam  aller- 
dings erst  1604  in  Druck  —  hat  Orazio  Vecchi  den  Madrigalenstil 
auch  in  dem  »Amfiparnasso«  behandelt.  Die  Technik  des  Chorsatzes 
zeigt  überall  große  Freiheit  und  Mannigfaltigkeit  der  Gruppierung. 
Wir  treffen  sogar  auf  Abschnitte,  in  denen  nur  eine  Stimme  singt. 
So  beginnt  der  erste  Akt  gleich  mit  einem  Solo  des  Pantalon,  welcher 
nach  seinem  Knechte  ruft: 


m 


w 


5 


t 


:t 


? 


'^m 


0       Pe-dro  -  lin   dov'    es   -   tu?     Dov' 


-  tu     Pe-dro- 


i 


t; 


t 


lin,    Pe  -  dro  -  lin,    Pe  -  dro  -  lin? 


Das  Beispiel  zeigt  Talent  für 
realistische  Erfindung,  die  Un- 
geduld und  der  Eifer  mit  denen 

1  Ed.  Dent:  >Notes  on  the  Anfiparnasso  of  Orazio  Vecchi«  (Sammel- 
bände  der  IMG  Xn,  S.  330  ff.) 

2  Venedig,  1605  in  Nürnberg  als  >Noctes  ludicrae« ,  1614  zu  Gera  in 
deutscher  Übersetzung. 


Orazio  Vecchis  >Amfipariiasso«  29 

der  Herr  nach  dem  säumigen  Diener  ruft,  könnten  kaum  einfacher 
und  besser  getroffen  werden.  An  ähnlichen  drolligen  und  possier- 
lichen Motiven  ist  der  »Amfiparnasso«  voll.  Die  Mehrzahl  seiner  Effekte 
beruht  jedoch  auf  Übertreibung  und  auf  übermütiger  Ausnutzung  des 
Kontrastes.  Dem  oben  zitierten  Anfang  des  ersten  Aktes  geht  ein 
Prolog  voraus,  der  mit  den  feierlichsten  Harmonien  schließt.  Am 
stärksten  lebt  das  karikierende  Element  des  Vecchi  in  der  dritten 
Szene  des  dritten  Aktes,  in  welcher  die  lustigen  Brüder,  vor  einem 
Judenhause   stehend,    die   innen   singenden  und  Sabbat  feiernden  Be- 

-^ ^ — 


wohner  mit  unaufhörlichem 


-!^^=    herauszulocken 


tick,  tack,  tock 
suchen. 

Wie  Doni  berichtet,  wurde  der  »Amfiparnasso«  von  bloßen  Panto- 
mimen gespielt,  was  sie  zu  sprechen  hatten,  sang  der  hinter  der  Bühne 
aufgestellte  Chor.  Das  war  also  ein  Zugeständnis  an  die  dramatische 
Wahrscheinlichkeit.  Seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  aber  war, 
wie  bereits  erwähnt,  eine  bessere  Weise  aufgekommen  sich  ihr  zu 
nähern:  Man  ließ  nur  die  dramatisch  notwendigen  Stimmen  des  Chor- 
satzes wirklich  singen,  die  andern  übertrug  man  auf  die  Instrumente. 
So  ist  in  der  Vorrede  zu  den  Intermedien  desMalvezzi,  welche  15891 
zu  Florenz  (bei  der  Hochzeit  des  Don  Ferdinand  von  Medici  mit 
Christina  von  Lothringen)  aufgeführt  wurden,  bemerkt,  daß  ein  Teil 
der  sechs-  und  achtstimmigen  Chöre  von  der  Sopranstimme  allein 
gesungen  werden  kann,  wenn  die  übrigen  Stimmen  vom  Orchester 
gespielt  werden 2.  Bei  einem  im  Jahre  1579  zu  Florenz  aufgeführten 
Intermezzo  P.  Strozzis  sang  in  dieser  Weise  der  uns  von  Doni  her 
bekannte  G.  Caccini  die  Partie  der  Nacht.  Eine  solche  klanglich 
isolierte,  von  einem  Virtuosen  mit  Koloraturen  und  Figurenwerk  er- 
gänzte Chorstimme  konnte  wenigstens  äußerlich  als  Sologesang  gelten; 
wenn  sie  auch  innerlich  von  dieser  Gattung  durch  die  Methode  des 
Harmonieentwurfs  getrennt  blieb. 

Die  Mehrzahl  dieser  Intermedien  stand  indes  der  Oper  schon  da- 
durch ferner,  daß  sie  entweder  von  Haus  aus  keinen  Dialog  hatten, 
oder  wenn  er  da  war,  so  wurde  er  nur  gesprochen  und  nicht  gesungen. 
Die  oben  angeführten  Intermedien  des  Malvezzi  bieten  hierfür  den 
Beleg.  Ihr  Text  enthält  überhaupt  nichts  Dramatisches,  er  besteht 
aus  Epilogen  zu  den  Akten  der  Tragödie,  in  welche  diese  Intermedien 
eingelegt  waren,  und  aus  Huldigungen,  welche  dem  Brautpaar  galten. 
Ähnlich  verhält  es  sich  mit  einem  andern  Intermezzo,  welches  bei 
derselben  Gelegenheit  mit  zur  Aufführung  kam,  dem  von  Luca 
Marenzio  komponierten:  » Combattimento  d' Apolline   con  serpente«, 

1  1588  nach  Riemann;  nach  unserer  Zeitrechnung  1589. 

2  Gedruckt  in  Stimmbüchern  Venedig  1591.  Es  wird  in  der  Vorrede 
besonders  hervorgehoben,  daß  diese  Intermedien  außer  Chören  auch  Sin- 
fonien enthalten. 


30  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

einem  Stück,  welches  noch  dadurch  Beachtung  erregt,  weil  es  auf 
ein  Hauptstück  der  olympischen  Spiele  und  der  griechischen  Kunst 
zurückgeht  und  weil  wir  in  ihm  zum  ersten  Male  Rinuccini  als 
Theaterdichter  begegnen.  Auch  in  ihm  ist  der  dramatische  Vorgang 
musikalisch  nur  angedeutet:  war  ein  Dialog  dabei,  so  scheint  er  nicht 
komponiert  worden  zu  sein.  Die  Musik  besteht  wie  die  Malvezzis 
nur  aus  Chören  und  Orchestersätzen:  einem  Hirten chore,  welcher  die 
Angst  vor  dem  Drachen  ausdrückt,  einer  Sinfonie,  welche  während 
des  Kampfes  gespielt  wurde,  einem  zweiten  Hirtenchore,  der  den  Tod 
des  Ungeheuers  verkündet,  und  einem  dritten,  der  das  ganze  Stück 
mit  Tanz  und  Jubel  abschließt.  Dieselbe  Anlage  treffen  wir  in  einer 
von  Rudhart^  beschriebenen  Stegreif komödie,  welche  im  Jahre  1568 
zu  München  mit  der  Musik  des  Orlando  di  Lasso  aufgeführt  wurde. 
Der  erste,  welcher  Theaterstücke  ganz  und  gar,  d.  h.  mit  dem 
Dialog  in  Musik  setzte,  war,  wie  wir  schon  aus  Doni  wissen,  Emilio 
del  Cav allere.  Die  betreffenden  Werke  waren  »II  Satiro«  und  »La 
disperazione  di  Fileno«,  welche  im  Jahre  1590  am  Hofe  zu  Florenz, 
an  welchem  der  Komponist  damals  als  Intendant  wirkte,  zur  Auf- 
führung kamen.  Das  war  also  sieben  Jahre  vor  dem  »Amfiparnasso« 
des  Vecchi.  In  dem  zweiten  wirkte  Vittoria  Archilei,  die  uns  noch 
oft  begegnen  wird,  mit  und  »rührte  die  Zuhörer  zu  Tränen*.  Im 
Jahre  1595  folgte  noch  eine  dritte  gleiche  Arbeit,  »II  Giuoco  della 
cieca«.  Die  Dichtungen,  von  Laura  Guidiccioni  aus  Lucca  verfaßt, 
gehörten  der  durch  Polizianos  »Orfeo«  (1524)  eingeführten,  durch 
Guarinis  »Pastor  fido«  und  Tassos  »Aminta«  namentlich  an  den 
Höfen  bald  beliebt  gewordenen  Gattung  des  Pastorale  an,  welches  von 
Anfang  an  der  Mitwirkung  der  Musik  einen  reichlicher  zugemessenen 
Platz  bot  als  Tragödien  und  Intermedien.  Diese  Stücke  des  Cavaliere 
haben  vor  allem  dadurch  Bedeutung,  daß  sie  dichterisch  über  den 
Charakter  der  Intermedien  hinausgehen.  Für  Emilio  del  Cavaliere 
ist  in  der  Vorrede  zu  seiner  »Rappresentazione  dell'  anima  e  di 
corpo«  (Rom  1600)  auf  Grund  dieser  Arbeiten  durch  den  Heraus- 
geber (Aless.  Guidiotti  in  Bologna)  das  Verdienst  in  Anspruch  ge- 
nommen worden,  daß  er  zuerst  wieder  »den  Stil  der  alten  Griechen 
und  Römer  in  seiner  Musik«  angewendet  habe.  Doni  und  ihm  folgend 
Arteaga  haben  demgegenüber  behauptet,  daß  jene  —  bis  jetzt  als 
verloren  zu  betrachtenden  —  Werke  nichts  anderes  gewesen  seien 
als  wie  die  früher  erwähnten  Intermedien,  echte  oder  modernisierte 
Madrigalenkompositionen,  und  jeden  Anspruch  des  Cavaliere  zurück- 
gewiesen. Ihnen  haben  sich  die  neueren  Darstellungen  —  u.  a.  auch 
die  von  Ambros  —  angeschlossen.  Der  Angriff  auf  die  Ehrenhaftig- 
keit des  Cavaliere  beruht  aber  auf  einem  Mißverständnis.  Doni  glaubt, 
daß  hier  ein  Recht  für  den  Cavaliere  verlangt  wird,  welches  dem 
Peri  zukommt.     Denn  dieser  war  es,   welcher  den  begleiteten  Solo- 


1  Rudhart  a.  a.  0.  5. 


Jacopo  Peris  »Euridice«  31 

gesang  ins  Drama  einführte,  dadurch  der  Schöpfer  der  Oper  wurde 
und  nach  der  Meinung  seiner  Zeit  das  Problem  der  Restaurierung  der 
Tragödie  der  Alten  damit  vollkommen  löste.  Aber  Peri  selbst  ist 
es,  der  dem  Cavaliere  zu  Hilfe  kommt.  In  der  Vorrede  seiner  »Eu- 
ridice«  sagt  er,  daß  seines  Wissens  Cavaliere  der  erste  gewesen  sei, 
welcher  die  Musik  auf  die  Bühne  gebracht  habe.  Als  Peri  diese 
Worte  schrieb,  wußte  er  ersichtlich  vom  »Amfiparnasso«  des  Vecchi 
nichts  und  sah  die  Intermedien,  in  denen  die  Musik  mehr  neben  dem 
Bühnenvorgang  herging,  nicht  für  voll  an.  Aber  sein  Zeugnis  trägt 
viel  dazu  bei  dem  Cavaliere  einen  Anteil  an  der  Einführung  der 
Oper  zu  sichern.  Emilio  del  Cavaliere  ging  über  die  Intermedien  in 
doppelter  Art  hinaus,  indem  er  erstens  die  Theaterstücke  durchkom- 
ponierte, nämlich  mit  dem  Dialog,  was  bisher  nur  ausnahmsweise  vor- 
gekommen war,  und  zweitens,  indem  er  dabei  von  Instrumenten  be- 
gleiteten Sologesang  anwendete.  Worin  dann  Peri  wieder  über  den 
Cavaliere  hinausging,  das  sagt  er  (a.  a.  0.)  deutlich.  Er  habe  das 
Verfahren  seines  Vorgängers  in  anderer  Art  (in  altra  guisa)  aufge- 
nommen, und  diese  andere  Art  setzt  er  nun  deutlich  auseinander. 
Es  ist  die  Behandlung  der  Harmonie,  die  Befreiung  vom  Madrigalen- 
satz im  Sologesang,  welche  er  als  sein  Eigentum  in  Anspruch 
nimmt. 

Das  Werk,  in  welchem  dieser  wesentliche  Fortschritt  vollzogen 
wurde,  war  die  »Dafne«  ^,  welche  im  Jahre  1594  zu  Florenz  zum  ersten 
Male  aufgeführt  und  dann  bis  zum  Jahre  1597  noch  zweimal  wieder- 
holt wurde.  Der  Dichtung,  welche  Ottavio  Rinuccini  aus  seinem 
vorhin  erwähnten  » Combattimento  d' Apolline«  hatte  hervorgehen  lassen, 
werden  wir  zu  wiederholten  Maien  noch  begegnen;  die  Musik  Peris 
dagegen  muß  als  verloren  betrachtet  werden.  Die  nachweislich  zweite 
Oper  überhaupt,  die  erste,  welche  der  »Dafne«  folgte,  besitzen  wir. 
Sie  heißt  »Euridice«.  Ihr  Dichter  ist  wieder  Rinuccini  und  der 
Komponist  gleichfalls  Peri.  Das  Werk  wurde  zum  ersten  Male  am  9.  Fe- 
bruar 1600  zu  Florenz  bei  den  Festlichkeiten  aufgeführt,  mit  welchen 
die  Vermählung  der  Maria  von  Medici  mit  König  Heinrich  IV.  von 
Frankreich  begangen  wurde.  Die  Partitur,  im  Jahre  der  Aufführung 
gedruckt,  ist  zuletzt  wieder  im  Jahre  1863  bei  Gr.  G.  Guidi  in  Florenz 
und  von  L.  Torchi  in  >1'  arte  musicale  in  Italia«  (Bd.  6)  herausgegeben 
worden. 

Bis  zu  Monteverdi  haben  die  Opern  keine  Gattungsbezeichnungen. 
Dieser  wendete  zum  ersten  Male  eine  solche  an,  indem  er  seinen  »Orfeo« 
als  favola  in  musica  bezeichnete,  später  wurde  der  Name  dramma  in 
musica  oder  dramma  per  musica  gebräuchlich,  noch  später  erst  der  Titel 
opera2.  Auf  dem  Titelblatt  der  »Euridice«  steht  einfach:  Euridice  • — 
Poesia  di  Rinuccini  —  Musica  di  Jacopo  Peri.    Dann  folgt  eine  doppelte 


1  L.  Sonn  eck:  >Dafne,  the  first  opera«  (Sammelbände  der  IMG.  IV  ff.). 

2  Zuerst  bei  Cavallis  Erstling  »le  nozze  di  Teti«.     Venedig  1639. 


32  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Widmung  an  die  hohe  Braut,  eine  vom  Dichter,  die  andere  vom  Kom- 
ponisten. Rinuccini  wie  Peri  berufen  sich,  wie  schon  erwähnt,  beide 
für  ihre  Arbeit  auf  das  Verfahren  der  alten  Griechen.  Dann  richtet 
Peri  die  schon  berührte  längere  Vorrede  an  den  Leser.  Zwei  Sätze 
sind  es  in  diesem  berühmten  Dokument,  welche  den  ganzen  Vorrat  von 
Systematik  umfassen,  über  w^elchen  Peri  für  die  Komposition  verfügte. 
Der  erste  bestimmt  das  Ziel :  Es  bandelt  sich,  sagt  Peri,  darum,  einen 
Tonsatz  zu  schaffen,  welcher  zwischen  Rede  und  zwischen  Gesang  eine 
Art  Mitte  hält.  Der  zweite  Satz  bezeichnet  das  Mittel.  Die  haupt- 
sächlichste Sorgfalt,  erklärt  der  Komponist,  ist  der  Begleitungsharmonie 
zuzuwenden.  Das  Prinzip,  nach  welchem  sie  behandelt  werden  muß, 
ist:  Die  Stimme  des  Sängers  bleibt  so  lange  auf  demselben  Akkord, 
bis  logische  oder  grammatische  Gründe  von  Belang  zwingen  die  Har- 
monie zu  ändern.  Einen  praktisch  sehr  wichtigen  Satz  enthält  die 
Vorrede  noch  an  der  Stelle,  in  welcher  Auskunft  über  die  Instrumente 
gegeben  wird,  welche  die  Begleitung  auszuführen  haben.  In  der  Par- 
titur ist  die  ganze  Begleitung  nur  als  ein  hin  und  wieder  bezifferter 
Baß  skizziert.  Da  der  Partitur  Orchestersätze  mit  Ausnahme  einer 
Stelle  ganz  fehlen,  würde  die  Instrumentalpartie  der  Oper  sehr  ärmlich 
gewesen  sein,  wenn  das  ganze  Werk  hindurch  nur  ein  und  dasselbe 
Cembalo  zur  Begleitung  benutzt  worden  wäre.  Peri  belehrt  uns  aber, 
daß  bei  der  Aufführung  der  »Euridice«  ein  Gravicembalo,  ein  Chitarrone, 
eine  große  Lyra  und  eine  große  Laute  da  waren.  Das  ist  also  ein 
volles  Quartett  von  Akkordinstrumenten,  welche  starken  und  mächtigen 
Klang  gaben,  wenn  sie  zusammen  gespielt  wurden,  und  welche  anderer- 
seits, abwechselnd  gebraucht,  mannigfache  Färbungen  im  Akkompagne- 
ment  ermöglichten.  Der  Gebrauch,  bei  Opernaufführungen  nicht  bloß 
ein,  sondern  mehrere  Harmonieinstrumente  für  das  Generalbaßspiel, 
für  die  Begleitung  des  späteren  Seccorezitativs  namentlich,  zu  benutzen, 
erhielt  sich  bis  weit  in  das  18.  Jahrhundert  hinein,  wenn  die  Zahl  dieser 
Instrumente  allmählich  auch  geringer  wurde.  In  der  ersten  Periode  sehen 
wir  in  der  Baßstimme  der  Partituren  bei  Peri,  Gagliano,  Maz- 
zocchi,  auch  noch  bei  Cavalli  (»Didone«)  sehr  oft  mitten  in  der  Zeile, 
beim  Auftreten  einer  w^eiteren  Person,  beim  Einsetzen  einer  neuen 
Periode  den  Schlüssel  erneuert.  Das  scheint  den  Wechsel  des  begleiten- 
den Akkordinstrumentes  andeuten  zu  sollen.  Die  Komponisten  begnüg- 
ten sich  in  der  Regel  damit,  die  Baßstimme  allein  aufzuschreiben, 
und  sie  überließen  für  deren  Ausführung  die  ganze  Verantwortung 
dem  betreffenden  Musiker.  Zuweilen  aber  finden  wir  doch  eine  wichtige 
Mittelstimme  mit  ausgeschrieben^.  Peri  nennt  seine  Akkompagnateure : 
Jacopo  Corsi,  Grazio  Montalvo,  Giov.  Battista  del  Violino,  Giov.  Lapi, 
Männer,  welche  zum  Teil  Musiker  von  Ansehen  waren.  Die  Herren 
spielten  hinter  der  Bühne,  bildeten  also  ein  unsichtbares  Orchester. 
In    der  ganzen   ersten  Periode  waren  die  Orchester  auf  diese  Weise 


1  In  L.  Rossis  >I1  Palazzo  d'Atlante«,   in  Cavallis  »Scipione«  z.B. 


Jacopo  Peris  >Euridice< 


33 


versteckt.  Von  mitwirkenden  Sängern  nennt  Peri:  Francesco  Rasi 
(Aminta  —  Tenor),  Ant.  Brandi  (Arcetro  —  Tenor),  Melchior  Palan- 
trotti  (Pluto  —  Baß).  Peri  selbst  hat  den  Orfeo  gesungen,  die  wegen 
ihrer  Koloratur  und  ihrer  Kunst  im  Verzieren  weit  gefeierte  Vittoria 
Archilei,  die  »Euterpe  ihrer  Zeit«,  sang  die  Euridice.  Die  Dafne  über- 
nahm ein  Knabe  aus  Lucca.  In  Vittoria  Archilei  haben  wir  den  Beweis, 
daß  mit  dem  Anfang  der  Oper  sofort  auch  Frauen  auf  der  Bühne 
erscheinen.  Nach  Peris  Worten  wirkten  noch  mehrere  Musiker  in 
den  Solopartien  mit.  Die  Zahl  der  letzteren  beläuft  sich  auf  zwölf. 
Es  ist  gewiß,  daß  ein  oder  der  andere  Sänger  mehrere  Partien 
vertrat,  wie  dies  in  der  ersten  Periode  der  Oper  auch  weiter  nach- 
weislich vorkam. 

Die  Chöre  der  Oper  bestehen  aus  Hirten  und  Nymphen  und  aus 
Geistern  der  Unterwelt.  Nach  antiker  Manier  haben  die  Chöre  ihre 
Chorführer,  welche  als  Solohirten  und  Solonymphen  die  madrigalisch 
vielstimmigen  Sätze  mit  einstimmigen  Zwischenstücken  unterbrechen 
und  verbinden,  sie  haben  aber  keinen  antiken  Charakter,  sondern  sie 
erheben  in  moderner  Art  ihre  Stimme  auch  außerhalb  der  Akt- 
schlüsse, sie  sind  nicht  bloß  Richter  der  Handlung,  sondern  sie 
handeln  mit. 

Wie  alle  bekannten  Opern  aus  den  ersten  sieben  Jahren  hat  auch 
die  >Euridice«  keine  Ouvertüre.  Auf  den  Beginn  des  Stückes  machte 
ein  Signal,  eine  Fanfare  von  Trompeten  aufmerksam.  Den  höheren 
Zweck  der  späteren  und  der  modernen  Opernouvertüre,  nämlich  in 
den  Stimmungskreis  des  Dramas  einzuführen,  erreichte  man  mit  einem 
Prologe.  Die  Idee  des  Prologs  übernahm  das  Musikdrama  aus  dem 
antiken  und  mittelalterlichen  Theater;  die  Form  blieb  zunächst  sehr 
einfach :  Eine  allegorische  Person,  die  Gestalt  eines  klassischen  Dichters 
erscheint  und  singt  den  Inhalt  des  Stückes  in  einer  Reihe  gleichmäßig 
kurzer  Verse  —  gewöhnlich  Vierzeiler  —  ab.  In  der  »Euridice«  ist  es  die 
Person  der  »Tragödie«,  welcher  die  sieben  Prologverse  übertragen  sind. 
Sie  gehen  alle  nach  derselben  Melodie,  ein  kurzes  Ritornell  schließt: 


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Ig     che    d'al  -  ti      sos  -  pir     va  -  ga,  e       di     pian       -       ti 

I       I     ^ji= 


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X  p        1          1           1            1            1 

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Kl.  Haudb.  der  ilusikgescL .     VI. 


34 


Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


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Fei  negli  am  -  pi      te  -   a  -  tri       al    po  -  pol    fol  -  to     Sco  -  lo- 


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Kitornello 


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rir      di     pie  -  tä        vol  -  ti,  e        sem  -  bian  -  ti         (Instrumente) 


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Der  Prolog  der  »Euridice«  diente  in  seiner  antikisierenden  Feier- 
lichkeit den  Opernkomponisten  noch  lange  als  Muster.  Das  Stück 
selbst  behandelt  die  schöne  Sage  von  dem  thrakischen  Sänger,  der 
die  Gattin  aus  dem  Hades  befreite,  teilweise  mit  unmittelbarer  An- 
lehnung an  den  »Orfeo«  des  Poliziano.  Rinuccini  hat  einzelne 
Personen  mit  diesem  gleich  und  fast  auch  manche  Verse.  Bedeutend 
unterscheidet  sich  aber  seine  »Euridice«  von  jenem  »Orfeo«  durch 
den  Ausgang.  Das  tragische  Verbot  des  Umblickens  ist  übergangen; 
nachdem  Orfeo  den  Widerstand  des  Pluto  mit  seinem  Gesang  be- 
zwungen, ist  alles  gut. 

Die  Handlung,  welche  im  Texte  Rinuccinis  in  sechs  Szenen  zerfällt, 
in  der  Partitur  aber  ohne  jede  weitere  Einteilung  erscheint,  beginnt 
mit  dem  Auftreten  eines  Chores.  Hirten  und  Nymphen  versammeln 
sich  auf  einer  hübschen  Aue.  Einer  ihrer  Führer  teilt  in  gehobenen 
Tönen  mit,  daß  Orfeo  und  Euridice  heute  Hochzeit  halten  werden.  Diese 
Nachricht  erregt  große  Freude,  welcher  einzelne  Nymphen  und  Hirten 
in  Wechselrede  Ausdruck  geben.  Die  Frauen  bekränzen  ihr  Haupt; 
man  bittet  alle  Götter  um  ihren  Schutz,  Phöbus  aber  um  seinen  besten 
Glanz  für  den  festlichen  Tag:  denn  »ein  solches  Liebespaar  sah  nie 
die  Sonne«.  In  anmutigen  Läufen  jubelt  die  Solonymphe  dieses 
Wort  hinaus,  es  wandert  von  Mund  zu  Mund  in  neuen  Wendungen; 
schließlich  fällt  der  Chor  rauschend  mit  ein  in  den  Spruch,  der 
außer  auf  das  mythische  Brautpaar  des  Dramas  auch  als  Huldigung 
auf  das  fürstliche  paßte,  zu  dessen  Vermählung  die  Aufführung  der 
Oper  stattfand. 


Jacopo  Peris  >Euridice< 


35 


N  inf  a. 


par     d'aman  -  ti  il    so- 

m 


Non   ve 


de  un    si 


mil 


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Pastore  (Tenor). 


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Arcetro  (Tenor). 


le.  Non  ve-deun  si-mil     par  d'aman-tiil    so  -  le.  Non  ve_ 


42 — -: 


^P^^ggji: 


Coro: 


Non 


de      un      si  -  mil    par 

I         I  I 

^       ^      S 


d'a  -  man  -  ti  il 


Bis  hierher  geht  die  erste  Szene,  welche  von  freundlichem  Leben 
erfüllt,  wirksam  aufgebaut  und  auch  vom  Komponisten  mit  einem 
Talent  ausgeführt  ist,  welches  der  Situation  wie  den  Charakteren 
mannigfaltiges  Interesse  abgewinnt.  Bis  zur  Hochzeitsnachricht  läßt 
Peri  einen  Ton  des  Zeremoniells  und  der  Würde  vorwalten,  dann 
schlägt  er  einen  freudigen  Klang  an,  kontrastiert  und  steigert  die 
Pointe  auf  ihrer  Wanderung  durch  die  Soli  mit  einer  bemerkens- 
werten Freiheit,  die  sich  namentlich  in  den  eigentlich  stilwidrigen 
Textwiederholungen  äußert;  durch  den  Chor  erhält  die  Stelle  eine 
glänzende  Spitze.  In  einer  Zeit,  in  welcher  der  begleitete  Sologesang 
den  ungeheuren  Reiz  der  Neuheit  einzusetzen  hatte,  kann  man  sich  die 
Wirkung  dieser  bei  einer  guten  Ausführung  noch  heute  frischen  Szene 
vorstellen. 

In  der  zweiten  Szene  erscheint  Euridice,  durch  den  süßen  Gesang 
herbeigelockt,     fct  den  Schmeicheleien  und  Artigkeiten,  welche,  dem 

3* 


36 


Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


liebenswürdigen  Naturell  des  Italieners  von  jeher  eigen,  in  dem 
Pastoraldrama  besonders  reiche  Verwendung  gefunden  haben,  fordert 
die  Braut  ihre  Gespielinnen  auf,  mit  ihr  den  Schatten  eines  nahen 
Gebüsches  aufzusuchen,  wo  getanzt  werden  soll.  Der  Chor  der  Nym- 
phen geht  ab  unter  den  Klängen  eines  Madrigals  » AI  canto ,  al  ballo « , 
welches  zur  Familie  der  Tanzlieder  gehört  und  die  ganze  frohe,  feine 
Beweglichkeit  und  Heiterkeit  dieser   Gattung  zeigt. 


AI    can  -  to  al  bal  -  lo    al    bal-lo  al     ball'  all'     o^ 


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AI  -  le  bell'  ond'     e 

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to    a  -  dor 


lie  -  te    Tut  -  ti  o  Pas-tor  cor  -  re  -  te 

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usw. 


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Tut  -  ti  o  Pas  -  tor   cor  -  re  -  te 


Es  wird  dreimal  wiederholt.  Zwischen  die  Verse  treten  aber  sehr 
hübsch  klingende  Sologesänge,  welche  den  lustigen  Charakter  der 
Szene  gut  schattieren. 

Nun  tritt  Orfeo  auf.  Ihn  hat  Rinuccini  als  schwärmerischen  Jüng- 
ling gezeichnet.  Es  ist  etwas  sehr  Inniges  in  dieser  Figur.  Orfeo 
spricht  zu  den  Wiesen  und  Grotten,  zu  der  ganzen  unbelebten  Natur 
wie  zu  alten  Freunden.     Sie   haben   das   erste  Anrecht   darauf,   von 


Jacopo  Peris  »Euridice« 


37 


seinem  Glücke  zu  erfahren.  Der  Gesang  hat  entsprechend  schöne 
Züge  von  Wärme  und  Herzlichkeit  und  ist  formell  sehr  deutlich  dis- 
poniert. Auf  den  ersten  Teil,  der  den  Ausdruck  des  Glückes  enthält, 
folgt  eine  Partie  der  Sehnsucht  in  dunkleren  Tonfarben,  und  den 
Schluß  und  den  dritten  Teil  bildet  die  feierliche,  weihevolle,  gebets- 
artige Musik,  in  welcher  die   Göttin  der  Liebe  angerufen  wird: 


[Andante]  ^. 


Bella  madre  d'a  -  mor,  bella   madre  d'amor,   dall'  ende  fuora    Sorgi 


J  4 


Si 


±röi 


fe- 


ig— 


Das  Erscheinen  des  Arcetro,  eines  Freundes,  welcher  zum  Gratu- 
lieren kommt,  macht  dem  Monolog  des  Orfeo  ein  Ende.  Musikalisch 
interessanter  als  dieser  Arcetro  ist  ein  zweiter  Freund,  Tirsi,  welcher 
seinen  Glückwunsch  in  Gestalt  einer  als  Ritornello  bezeichneten  Sere- 
nade darbringt.  Dieses  Ritornell  wird  von  drei  Flöten,  in  einem  Satze, 
der  wohlklingend  ist,  wie  Flötenterzette  in  der  Regel  sind,  ausgeführt. 


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Lebhaft. 


=*=ifcr 


^=^m 


^ 


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Dieser  Abschnitt  und  die 
in  der  darauffolgenden  An- 
sprache des  Tirsi  angebrachten 


kurzen  Zwischenspiele  sind  die  einzigen  Stellen  in  der  Partitur,  an 
welchen  Orchesterinstrumente  zur  Verwendung  kommen'^.  Daß  ge- 
rade Flöten  gewählt  wurden,  kommt  nicht  bloß  daher,  daß  dieses 
Instrument  einen  ausgeprägt  pastoralen  Charakter  hat,  sondern  es  be- 
ruht wohl  auch  auf  archäologischen  Gründen,  von  denen  noch  die 
Rede  sein  wird. 

Nach  dieser  Szene,  mit  welcher  die  Exposition  des  Dramas  ab- 
schließt, nimmt  die  Handlung  sehr  plötzlich  die  kritische  Wendung. 
Dafne   kehrt   zurück   und   bringt   die  Nachricht,    daß  Euridice,    von 


1  Ebenso  wie  in  der  Chormusik  der  älteren  Periode,  sind  auch  in  den 
Sologesängen  der  ersten  Zeit  Tempobezeichnungen  ungewöhnlich. 

^  In  einem  historischen  Konzert,  welches  im  Jahre  1885  bei  Gelegenheit 
der  »Exhibition  of  inventions«  im  Kristallpalast  zu  London  gegeben  wurde, 
stand  das  Flötensätzchen  als  »Sinfonie  Euridice <  auf  dem  Programm 


38 


Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


einer  Schlange  gebissen,  gestorben  sei.  Rinuccini  hat  diese  Özene 
sehr  geschickt  angelegt.  Orfeo  und  die  beiden  Freunde  müssen  der 
Unglücksbotin  die  Nachricht  förmlich  abringen.  Aber  auch  musi- 
kalisch ragt  diese  Szene  hervor.  Peri  hat  ihr  mit  rhythmischen  und 
harmonischen  Mitteln  am  Eingang  eine  dumpfe,  schwere  Färbung 
gegeben,  für  die  einige  Vorhaltsakkorde  viel  tun.  Elementar  wirkt 
der  plötzliche  Einsatz  von  Moll: 

[Andante). 
Dafne. 


fe 


-#-^s 


Com'  in  un  punto 


EP 


ohi   me       ve  -ni   -  sti  me 

I 


no 


^ 


Efe 


i^#g^ 


Befremdend  scharf  ist  die  Dissonanz  bei  »ohi  me«^.  Es  sind  der 
Dafne  noch  mehrere  s&hr  ergreifende  musikalische  Wendungen  in  den 
Mund  gelegt,  und  um  den  düsteren,  bangen  Grundton,  welcher  schon 
über  diesem  Eingang  der  Szene  schweben  soll,  zum  Ausdruck  zu 
bringen,  hat  Peri  kühne  und  neue  Schritte  getan.  Besonders  be- 
merkenswert erscheint  der  Harmoniewechsel  zwischen  dem  Schluß 
von  Dafnes  Rede  und  dem  Einsatz  des  Orfeo: 


1  Nach    Genas si   und  andern  gleichaltrigen  Gesanglehrern  darf  man 
sich  die  Härte  dieses  Querstandes  durch  eine  Verzierung,  etwa: 


ohi  me 


ipnö^E^d  gemildert  denken. 


Jacopo  Peris  »Euridice« 


39 


Dafne. 


^ 


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ES 

Nonchie-der     la      ca-gion,         del      mio     do  -  lo 

I 


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Orfeo. 


P^ 


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^ 


Nin-fa,    deh    sia    con  -  ten  -  ta  -  ri  -dir     per-chc    t'af-fa-ni 


^5=b 


weil  dergleichen   scharfe    akkordische  Gegensätze   noch   langehin   ein 
beliebtes  Mittel  des  Situationsausdrucks  waren. 

Bei  den  Zeitgenossen  des  Peri  scheint  namentlich  der  längere  Ab- 
schnitt dieser  Szene  einen  tiefen  Eindruck  hinterlassen  zu  haben,  in 
welchem  Dafne  allein,  ohne  Zwischenreden  anderer,  den  eigentlichen 
Bericht  von  dem  Tode  der  Euridice  gibt.  Hier  nähert  sich  Peri 
dem  schnellen  Gange  des  späteren  Seccorezitativs  und  wird  zugleich 
dem  Pathos  der  Situation  gerecht.  Dafne  berichtet  in  dem  natur- 
wahren Ton  tieferer,  innerer  Regung:  in  die  Hast  des  Vortrages 
mischen  sich  tief  eindringende  Laute  und  Klänge  der  Klage.  Doni 
und  die  zeitgenössischen  Schriftsteller  sahen  in  diesem  Abschnitte  der 
Perischen  »Euridice«  den  Höhepunkt  des  Werkes,  das  erste  Muster 
eines  neuen  Stils,  des  »stile  rappresentativo «  und  zitierten  ihn,  wenn 
die  besten  Leistungen  aus  der  ersten  Zeit  des  Musikdramas  genannt 
wurden.  Der  formelle  Träger  dieses  Stils  ist  die  Verwendung  kurzer 
Noten  auf  einen  Ton. 

Dafne. 


Per-quel  va-go  Bo-schetto      0  -  ve     ri-gan-doi     fio  -  ri 

usw. 


Es  sind  aber  auch  andere  melodische  und  harmonische  Mittel  in 
diesem  Abschnitte  mit  großer  Wirkung  verwendet:  einfaches  Fort- 
schreiten auf  Dreiklangsnoten,  Erstarren  der  Stimme  auf  langsamen 
Tönen  der  Tiefe,  Wechsel  von  Dur  und  Moll;  der  Satz  ist  reich  an 
ergreifenden  Zügen. 


40  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Nun  beginnt  Orfeo  zu  klagen:    »Non  piango  e  non  sospiro«, 


Orfeo. 


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Non  piaiigo     e  nonso-spi -ro     0  mia  ca   -  ra  Eu-ri-di  -  ce 


Es  sind  edle  Weisen  getragenen  Charakters,  welche  den  Zustand 
einer  mit  dem  Schmerz  ringenden  Seele  sprechend  ausdrücken.  Mit 
einer  gewissen  gewaltsamen  Ruhe  beginnt  dieser  Gesang  in  tiefer 
Lage.  Dann  schlägt  er  beim  Einsatz  des  zweiten  Verses  heftig  in 
die  Höhe,  die  Harmonie  rückt  wieder  plötzlich  von  E'dur  nach  ^moll, 
die  Melodie  setzt  in  lauter  beweglichen  Wendungen  kurz  ab.  Eine 
dieser    eindringlichen   Melodiebiegungen    spricht    in    ausgesprochener 


italienischer  Volkszunge : 


1^ 


löiz 


Chi  mi  t'ha      toi  -  to  ohi  -  me 


Es  ist  vielleicht  zum  ersten  Male,  daß  der  eigentümlich  klagende 
Portamentozug,  der  in  Italien  bei  allen  Natursängern  immer  wieder- 
kehrt, in  Noten  gebracht  und  für  die  Kunstmusik  verwendet  wurde. 
Im  dritten  Teile  kehrt  dieses  »lamento  d'Orfeo«  wieder  in  den  Ton 
ruhiger  Resignation  zurück,  mit  dem  es  begann.  Dieser  an  Inhalt 
fesselnde,  in  der  Form  fertige  und  abgeschlossene  Klagegesang  beträgt 
nur  24  Takte.  Der  Chor  setzt  ihn  jedoch  nach  einer  weniger  inte- 
ressanten Dialogepisode,  an  welcher  Dafne,  Aminta,  Arcetro  und  eine 
Nymphe  beteiligt  sind,  mit  neuen  Weisen  fort.  Es  folgt  eine  längere 
Trauerszene,  deren  musikalischer  Mittelpunkt  von  einem  kurzen  ma- 
drigalischen Satze  (fünfstimmig) :  »Sospirate  aure  celesti«  gebildet  wird. 
Die  Nebenpartien  bestehen  aus  einem  Terzett  und  einer  Reihe  klei- 
nerer Solosätze  trauernden  Ausdrucks.  Sie  münden  alle  wieder  in 
den  Chorrefrain   »Sospirate  usw.« 


Sospi-ra  -  te  au-re  ce  -  le  -  sti.    Lagri-mate  o     Sei  -  ve,  ocampi 


^^_,J_4-J_J    i__^ 


pi^$-f-r-^-s 


-<? G>-  --— 


a 


TT 


-\ VX F_F— F-^- 

I       J       '       i 


-'-fT- 


Jacopo  Peris  »Euridice«  41 

Der  Chor  hat  im  Aüfang  dieser  Szene,  ebenso  wie  in  der  fol- 
genden auch  einige  einstimmigen  Sätze  zu  singen.  Einstimmigen 
Chorsätzen  begegnen  wir  in  der  ersten  Zeit  des  Musikdramas  noch 
mehrmals. 

Dieser  Trauerszene  des  Chors  und  der  Freunde,  der  wohl  bedeu- 
tendsten, am  meisten  von  antikem  Geiste  beseelten  Szene  der  »Euridice«, 
folgt  ein  längerer  Abschnitt  in  einem  ähnlichen  stile  recitativo  gehalten 
wie  vorher  die  Erzählung  der  Dafne.  Arcetro  berichtet  hier  von  dem 
weiteren  Geschick  des  Orfeo,  welchem  im  Augenblicke  des  größten 
Schmerzes  und  der  Verzweiflung  vom  Himmel  herab,  im  Wagen  von 
Tauben  gezogen,  Venus  als  Trösterin  erschienen  ist.  Dieser  Bericht 
ist  weniger  wirksam  komponiert,  wie  die  entsprechende  Szene  der 
Dafne ;  dem  Stile  ist  weder  der  bewegte  forttreibende  Zug,  noch  die 
Gewalt  der  melodischen  Akzente  abgewonnen,  welche  dort  den  Ein- 
druck bestimmten.  Der  Chor  unterbricht  die  Monodie  zunächst  mit 
einigen  unbedeutenden  einstimmigen  Sätzen,  gibt  aber  dann  am  Ende 
der  Szene  einen  breiten  Abschluß  mit  zwei  fünfstimmigen  durch  einen 
Solosatz  auseinander  gehaltenen  Madrigalen,  in  welchen  den  Göttern 
für  die  Erhaltung  des  Orfeo  gedankt  wird. 

In  der  darauffolgenden  Szene  rät  und  veranlaßt  Venus  den  Orfeo 
in  den  Hades  hinabzugehen  und  vom  Pluto  selbst  die  Geliebte  loszu- 
bitten.  Diese  Szene  hat  einen  sehr  liebenswürdigen  musikalischen 
Grundton.  Die  Göttin  und  der  Sänger  reden  zueinander  wie  Mutter 
und  Kind;  jene  freundlich  aufrichtend,  dieser  im  liebenden  Vertrauen: 

Die  Partie  des  Orfeo  ist   an  dieser 

^=i~^       j       ä^^^—f — ^i^—        Stelle  durch  einen  auffälligen  formellen 
'       fig-liad-granGiöTve  ^^^p\  interessant :  der  Ton  der  Frage 

Q  ist  in  der  Musik,  da  wo  Orfeo   »Dove 

rivedro  quelle  luci  alm'  e  serene  ?  «  sagt, 
ganz  unbeachtet  geblieben.  Ebenso  läßt  der  Ausdruck  in  der  Partie 
der  Venere  an  den  Stellen  zu  wünschen  übrig,  an  welchen  sie  die 
Schauer  des  Hades  schildert. 

Als  Venus  fortgegangen,  finden  wir  den  Orfeo  sofort  im  Hades. 
Die  Partitur  gibt  keine  Auskunft,  und  auch  sonst  suchen  wir  eine 
solche  vergebens,  ob  zwischen  den  beiden  Szenen  eine  längere  Pause 
zu  denken  ist,  oder  ob  eine  plötzliche  Verwandlung  hier  eintrat.  Der 
letztere  Fall  ist  der  wahrscheinlichere.  Den  Berichten  Donis  und  anderer 
Zeitgenossen  nach  verstand  und  liebte  man  die  Kunst,  die  Szene  in 
raschen  Kontrasten  zu  sehen.  Man  darf  bei  dieser  Hadesszene  selbst 
durchaus  keine  Leistungen  erwarten,  wie  sie  in  der  modernen  Oper, 
etwa  in  Glucks  »Orpheus«,  oder  Marschners  »Hans  Helling«,  bei 
ähnlichen  Gelegenheiten  gebräuchlich  sind.  Der  Grund  des  Mangels 
liegt  weniger  in  dem  Unvermögen  der  damaligen  Instrumentalmusik, 
als  in  der  persönlichen  Veranlagung  Peris.  Schon  nach  wenigen  Jahren 
gab  Monteverdi  Glanzproben  romantischer  Situationsmalerei  mit  orche- 
stralen Mitteln. 


42  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Die  Szene  im  Hades  ist  die  längste  der  Oper.  In  ihrem  Entwürfe 
unterscheidet  sie  sich  von  allen  andern  der  Oper  durch  die  breit  aus- 
geführten Sologesänge  des  Orfeo,  der  dreimal  den  Anlauf  auf  die  Gnade 
des  Pluto  nimmt.  Der  erste  dieser  Klagen-  und  Bittgesänge  hat  die 
Länge  von  sechzig  und  mehreren  Takten.  An  keinem  andern  Teile 
seiner  »Euridice«  hat  sich  Peri  so  angestrengt  in  der  Verwertung  der 
bekannten  musikalischen  Mittel  wie  in  dieser  Hadesszene.  Ja  er  ver- 
fährt hier  kühn  und  überrascht  mit  Bildungen,  welche  die  Theorie 
seiner  Zeit  nicht  guthieß,  denn  in  den  Melodien  des  Orfeo  begegnen  wir 
an  dieser  Stelle  verminderten  Quinten  und  anderen  Ausnahmeintervallen, 
in  der  Harmonie  Nonendissonanzen  mit  ziemlich  freier  Auflösung.  Die 
Wirkung  einzelner  Stellen  ist  unbestreitbar;  durchaus  schön  ist  der 
Eingang  des  Abschnittes,  ein  »lamento«,  d.  h.  ein  durch  Wiederkehr 
derselben  eindringlichen  Hauptzeile  gezeichneter  Klagegesang.  Diese 
Hauptzeile  lautet 


La  -  cri  -   ma  -  te       al    mio  pian  -  to     om  -  bre  d'in  -  fer  -  no 

Ahnlich  wirksam  ist  der  von  den  Worten  »Ohi  me«  bis  »ombre 
d'inferno«  reichende  Abschnitt.  Aber  als  Ganzes  ermüden  diese  Ge- 
sänge des  Orfeo  durch  die  vielen  Kadenzen,  durch  den  engen  Kreis 
der  harmonischen  Modulation,  durch  den  Mangel  an  wirklichem  Gesang. 
Neben  Orfeo  sind  noch  Pluto,  Proserpina,  Caron  und  Radamantes  be- 
teiligt. Auch  ihnen  gegenüber  muß  dem  Peri  das  Bestreben  zugestan- 
den werden,  musikalisch  zu  charakterisieren.  An  der  Partie  des  Pluto 
hat  schon  Doni  den  Ausdruck  der  Würde  und  Gerechtigkeit  her- 
ausgefunden und  auf  die  Verwendung  der  Sekunden  zurückzuführen 
gesucht.  Der  Chor  tritt  erst  am  Schlüsse  der  Szene  mit  zwei  kurzen 
Sätzchen  ein:  Es  sind  Wechselchöre  von  Männerstimmen,  welche  die 
Götter  des  Hades  repräsentieren.  Auch  hier  hält  ein  kurzer  Solosatz 
(des  Radamantes)  die  beiden  Chornummern  auseinander.  Die  jetzt 
folgende  Szene  führt  uns  nach  dem  Platze  zurück,  auf  welchem  die 
Oper  begann.  Mit  dem  jungen  Morgen  ist  bei  den  Hirten  und  Nymphen 
die  Trauer  um  Euridice,  die  Sorge  um  Orfeo  neu  erwacht.  Arcetro 
verweist  auf  den  Schutz  der  Göttin,  die  er  gestern  dem  unglücklichen 
Sänger  sich  nahen  gesehen.  Da  eilt  Aminta  mit  der  Nachricht  herbei : 
»Die  Geliebten  sind  beide  wieder  da.«  Und  Orfeo  und  Euridice 
folgen  auf  dem  Fuße.  Dramatisch  frisch  und  lebendig  angelegt, 
wird  diese  Szene  durch  die  Musik  noch  sehr  gehoben.  Der  rasche 
Wechsel  verschiedener  Stimmen  wirkt  hier  allein  gut,  der  Chor 
beteiligt  sich  wieder  mit  einstimmigen  Sätzchen.  Ein  stärkerer  musi- 
kalischer Aufschwung  kommt  in  die  Komposition  mit  dem  Auftreten 
des  Orfeo,  welcher  die  Rettung  der  Euridice  und  seine  eigene  in  einem 
einfachen,  freudevollen,  durch  Echos  eigentümlichen  Solomadrigal  feiert. 


Jocopo  Peris  »Euridice«  43 

Es  besteht  aus  zwei  Versen,  der  zweite  bringt  die  Melodie  und  den 
Satz  des  ersten  Verses  mit  einigen  Änderungen  und  Erweiterungen 
des  Schlusses,  gehört  also  zum  Teil  schon  der  Variationengattung 
mit  an,  welche  bald  auf  längere  Zeit  für  die  Gestaltung  der  »Arien« 
in  den  Opern  bräuchlich  wurde.  In  kurzen  Plaudersätzchen  geht  nun 
das  Werk  zu  Ende.  Ein  Zyklus  von  Chören  und  Chorterzetten,  letztere 
abwechselnd  von  Frauen-  und  Männerstimmen  gesungen,  bildet  den 
eigentlichen  Abschluß.  Zu  dem  fünfstimmigen  Chorsatze  wird  mit 
getanzt,  für  letzteren  Zweck  ist  auch  ein  selbständiger  Instrumental- 
satz von  fünf  Doppeltakten  mit  eingefügt. 

Die  »Euridice«,  als  Dichtung,  gehört  zu  jener  Klasse  von  Dra- 
men, welche  ihren  Schwerpunkt  nicht  in  den  Charakteren,  sondern 
in  den  Situationen  suchen,  und  ruht  schon  hierdurch  auf  einem  Boden, 
welcher  der  Musik  von  Natur  leicht  zugänglich  ist.  Sie  ist  zur 
Hälfte  ein  Götterstück.  Aber  Rinuccini  rückt  das  Wunderbare  der 
Fabel  in  begreifliche  menschliche  Nähe.  Die  Gattenliebe  macht  den 
Orfeo  zum  Helden,  und  der  Gesang  ist  seine  Waffe.  Die  Dichtung 
hat  ihren  spannenden  Mittelpunkt;  sie  ist  reich  an  rührenden  Zügen 
und  idyllischen  Bildern  und  getragen  von  dem  Fluß  einer  poetisch 
belebten  und  formschönen  Sprache,  die  sich  zum  Teil  über  die  Manier 
der  Zeit  weit  hinaushebt.  Wenn  Rinuccini  für  die  Handlung  dieses 
Musikdramas  die  Form  des  Pastorale  wählte,  so  kam  er  damit  nicht 
bloß  einer  Liebhaberei  der  höheren  italienischen  Gesellschaft  entgegen. 
Nein,  diese  Wahl  des  Pastorale  beruhte  unausgesprochen  auch  auf 
gut  musikalischen  Gründen.  Mit  der  Szenerie  und  dem  Gefühlsleben 
des  Pastorale  hatte  sich  die  Musik  schon  im  Madrigal  vertraut  ge- 
macht: Es  war  ein  Vorteil,  daß  sie  in  dem  Augenblicke,  wo  es  galt, 
in  dem  Sologesang  eine  neue  Kunstform  zu  entwickeln,  wenigstens 
geistige  Anknüpfungspunkte  vorfand. 

Arteaga  hat  den  Wert  der  Leistung  Rinuccinis  unumwunden  an- 
erkannt. Er  nennt  dessen  »Euridice«  die  beste  Dichtung,  welche 
bis  zu  den  Zeiten  Metastasios  für  die  Oper  geschrieben  worden  ist. 
Im  Gegensatz  zu  ihm  bricht  ein  neuerer  Kritiker  (Karl  von  Winter- 
feld in  »Gabrieli  und  sein  Zeitalter«)  über  sie  den  Stab  und  be- 
gründet sein  hartes  Urteil  durch  den  Vergleich  der  »Euridice« 
mit  der  Antike.  »Was  —  ruft  er  aus  —  was  war  den  Ita- 
lienern des  Cinquecento  der  Inferno?«  Vollständig  recht  hat  er  mit 
dieser  Frage  insofern,  als  die  Sagen  der  Alten  nach  der  großen 
Glaubensumwälzung,  welche  die  Geschichte  im  Christentum  erfuhr, 
ihre  dogmatische  Kraft  und  religiöse  Bedeutung  verlören  hatten. 
Aber  es  liegt  dabei  eine  Überschätzung  dieses  Momentes  vor.  Denn 
einem  Dichtwerk  gegenüber  gibt  nicht  der  Glaube  von  Verfasser  und 
Publikum,  sondern  die  Phantasie  den  Ausschlag.  Es  muß  Winter- 
feld ferner  zugestanden  werden,  daß  Rinuccini  und  diejenigen,  welche 
ihm  folgten,  bei  ihrer  Nachbildung  des  antiken  Dramas  den  tiefsitt- 
lichen Grundzug  ganz  übersahen,  welcher  die  Werke  des  Sophokles 


44  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

und  Äschylos  über  Jahrtausende  hinweg  lebendig  erhalten  hat,  und 
daß  sie  sich  im  wesentlichen  auf  die  formellen  Elemente  der  antiken 
Tragödie  beschränkten.  Aber  man  wird  dem  Rinuccini  durch  den 
einseitigen  Vergleich  seiner  »Euridice«  mit  der  Antike  nicht  ge- 
recht. Man  muß  sie  vielmehr  einmal  dem  Durchschnitt  des  zeit- 
genössischen Dramas  entgegenhalten  und  zweitens  denjenigen  Dich- 
tungen, welche  nach  Rinuccini  in  der  venetianischen  Periode  die 
Richtung  des  Musikdramas  bestimmten.  Stellen  wir  die  »Euridice« 
des  Rinuccini  und  seine  andern  Musikdramen  —  obwohl  diese  bedeu- 
tend schwächer  sind  —  den  deutschen  Staatsaktionen  jener  Zeit,  den 
Blut-  und  Greueldramen,  der  Unflatkomödie  —  wie  sich  J.  L.  Klein 
ausdrückt  —  des  italienischen  Theaters  um  den  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts gegenüber,  so  steht  Rinuccini  als  der  Vertreter  einer  höheren 
Bildung  vor  uns.  Über  seinem  Werke  glänzt  das  milde  Licht  eines 
feinen  harmonischen  Geistes.  Die  spätere  Venetianische  Oper  ist 
theatralisch  efi'ektvoller ,  reicher  an  Handlung,  aber  sie  bildet,  mit 
der  »Euridice«  verglichen,  einen  Rückfall  ins  Barbarische  und  Rohe. 
Die  Tatsache,  daß  die  Oper  bei  ihrem  ersten  Erscheinen  in  den  bes- 
seren Kreisen  sympathisch  aufgenommen  und  als  die  vornehmste  Art 
dramatischer  Kunst  bevorzugt  wurde,  kommt  zum  Teil  auf  Rinuccinis 
Verdienst.  Daß  aber  Rinuccini  dieses  Verdienst  erstrebte,  daß  er 
mit  voller  Absicht  mit  seinem  Pastorale  gegen  die  rohe  Dramatik 
seiner  Zeitgenossen  reagieren  wollte,  beweist  der  zweite  Vers  im 
Prolog  der  »Euridice«: 

»Non  sangue  sparso  d'innocente  vene 
Non  ciglia  spente  di  tiranno  insano, 
Spettacolo  infelice  al  guardo  umano 
Canto  SU  meste,   e  lagrimose  scene. « 

Das  »Non«  hat  man  sich  als  unterstrichen  zu  denken.  Suchen 
wir  die  formellen  Elemente  auf,  welche  Rinuccini  gleich  den  andern 
Pastoraldichtern  seiner  Zeit  —  Guarini,  Tasso  —  aus  der  antiken 
Tragödie  herübernahm,  so  finden  wir  außer  einigen  Berührungspunkten 
in  der  Führung  des  Dialoges,  welchen  später  von  andern  noch  schärfer 
nachgegangen  wurde,  einige  typische  Figuren  des  alten  Dramas.  Das 
sind  die  Boten  und  die  Freunde.  Wichtiger  als  sie  ist  aber  der 
Chor.  Diesen  kannte  auch  schon  die  gesprochene  Tragödie  des  15. 
und  16.  Jahrhunderts.  Er  gelangte  aber  in  dem  Musikdrama  unserer 
ersten  Periode  zu  einer  ganz  neuen,  hervorragenden  Bedeutung.  Er 
wurde  aktiver,  er  bestimmte  die  Wirkung  der  Szene,  und  er  wurde 
geradezu  zum  Träger  des  idealen  Elementes  der  Oper.  Der  Chor 
bildet  so  stark  das  Kennzeichen  und  den  schönsten  Zug  in  der  Phy- 
siognomie der  Oper  der  ersten  Periode  gegenüber  der  Anlage  der 
italienischen  Musikdramen  in  der  Zeit  der  Venetianer  und  Neapoli- 
taner, daß  wir  diese  erste  von  Florenz  ausgehende  Periode  schlecht- 
hin die  Choroper  nennen  dürfen. 


Die  Choroper  45 

Ein  großer  Teil  der  in  die  erste  Periode  gehörenden  Operndich- 
tungen hält  am  Pastorale  fest.  Doch  ist  in  diesen  Pastoralen  die 
Handlung  nirgends  mit  der  Einfachheit  geführt,  welche  der  »Euridice« 
eigentümlich  ist.  Das  galante  Element  der  Zeit  kommt  in  ihnen 
zum  Ausdruck  und  die  listenreiche  Liebelei  bildet  die  Seele  ihrer 
Entwicklung.  Die  Konflikte  entspringen  aus  Werben  und  Ver- 
schmähen; die  Sehnsucht  und  die  Glut  des  Verlangens,  der  Haß  und 
die  Eifersucht  sind  die  Leidenschaften,  welche  die  Musik  am  häu- 
figsten wiederzugeben  hat.  Li  Guarinis  »Pastor  fido«,  schwächer  in 
Rinuccinis  eigener  »Dafne«  und  in  seiner  »Arianna«  haben  wir  die 
Haupttypen  dieses  Intrigenpastorales. 

Eine  etwas  uninteressante  Nebenklasse  zweigte  sich  vom  Pasto- 
rale in  der  sogenannten  Allegorienoper  ab.  Das  Grundwesen  dieser 
Gattung  ist  didaktischer  Natur:  An  die  Stelle  der  Götter  und  Halb- 
götter treten  hier  personifizierte  Begriffe.  Die  Tugend  und  das  Laster 
machen  sich  mit  rhetorischen  und  mimischen  Mitteln  die  Opfer 
streitig,  der  Zuhörer  wird  mit  moralischen  und  erbaulichen  Betrach- 
tungen überhäuft.  Ln  letzten  Akt  klärt  in  der  Regel  das  plötzliche 
Erscheinen  von  Höllengeistern  und  Dämonen  die  betörten  Jünglinge, 
welche  im  Mittelpunkte  dieser  Dramen  stehen,  über  den  Abgrund 
auf,  vor  welchem  sie  angelangt  sind,  und  bewirkt  schleunige  Um- 
kehr. Rom  war  die  Hauptstelle  für  diese  moralischen  Pastoralen, 
Kardinäle  erscheinen  häufig  als  die  Dichter.  Musikalisch  sind  diese 
römischen  Allegorien,  welche  sich  später  mit  dem  Oratorium  ver- 
schmolzen, in  der  Regel,  wie  wir  bald  sehen  werden,  wegen  ihrer 
Chöre  sehr  bemerkenswert. 

Eine  dritte  Richtung  in  der  Dichtung  der  Choroper  stellt  sich 
zum  Pastorale  in  Gegensatz.  Sie  wirkt  in  erster  Linie  durch  Sze- 
nerien und  Dekorationen  und  entfaltet  in  der  Oper  Prunkvorstel- 
lungen, bei  welchen  sich  die  Künste  des  Zirkus  und  des  magischen 
Kabinetts  die  Hand  reichen.  Das  dramatische  Lebenselement  dieser 
musikalischen  Ritter-  und  Zauberstücke  ist  das  Wunder.  Götter, 
Heroen,  der  Ozean,  die  Sonne,  die  Tritonen,  die  Zeichen  des  Tier- 
kreises, Jäger  und  Fischer  erscheinen  in  bunter  Mischung  als  han- 
delnde Personen;  die  Handlung  durcheilt  in  fünf  Akten  alle  Elemente, 
springt  von  der  Erde  hinauf  zum  Himmel,  von  der  Luft  ins  Meer. 
Der  Vater  dieser  phantastisch  verworrenen  Richtung,  welche  mit 
dem  Pastorale  gleichzeitig  von  dem  Musikdrama  Besitz  ergriff,  ist 
Gabriel  Chiabrera.  Im  Grunde  haben  wir  sie  als  eine  Weiterbil- 
dung der  ballettartigen  Intermedien  des  16.  Jahrhunderts  zu  be- 
trachten. Das  Wesen  und  die  Bestandteile  dieser  bei  Hoffestlichkeiten 
unentbehrlich  gewordenen  Prunkspiele  kehrt  in  den  Opern  der  Chia- 
breraschen  Richtung  wieder.  Nur  ist  alles  auf  größeren  Fuß  gestellt. 
Aus  den  Einaktern  sind  vielteilige  Dramen  geworden,  zu  dem  alten 
Musikapparat  von  Chören  und  einfachen  Sinfonien  ist  der  Sologesang 
mit  seinen  neuen  Reizen   getreten.     Wenn   aber  diese  Richtung  im 


46  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

weiteren  Verlauf  der  Choroper  an  Boden  gewann  und  auch  die  Pa- 
storalopern und  die  Römischen  Allegorienopern  durchdrang,  so  ist 
das  besonders  dem  sprungweisen  und  fabelhaften  Aufblühen  des  thea- 
tralischen Maschinenwesens  zuzuschreiben.  Wir  besitzen  über  die 
Entwicklung  dieses  Teiles  der  theatralischen  Künste  in  der  Zeit  der 
Choroper  nur  allgemeine  Angaben  und  keine  genauen  ins  einzelne 
gehenden  Berichte.  Denn  die  Meister  des  Faches,  Torelli  z.  B., 
welchen  Louis  XIV.  nach  Paris  berief,  wahrten  über  ihre  Erfindungen 
ein  strenges  Geschäftsgeheimnis.  Aber  die  Tatsache  ist  durch  zahl- 
reiche Bilder  belegt,  von  denen  die  früher  angeführte  »Commemora- 
zione  della  riforma  melodrammatica«  (1895)  eine  genügende  Anzahl 
mitteilt  1.  Erklärlicherweise  lenkte  das  Dekorationswesen  der  Oper 
die  Aufmerksamkeit  in  hervorragendem  Grade  auf  sich.  Mit  Staunen 
und  Bewunderung  erzählen  die  zeitgenössischen  Berichterstatter,  daß 
wilde  Tiere,  Bäume,  Felsen,  Fabelwesen  singend  auftreten,  daß  Men- 
schenmassen im  Fluge  verzaubert  und  entzaubert  werden,  daß  Dra- 
chenzähne sich  in  bewaffnete  Männer  verwandeln,  aus  der  Erde  Bäume 
hervorspringen,  der  Himmel  plötzlich  geöffnet  die  volle  Versammlung 
der  Götter  zeigt,  daß  Wolken  herabschwebend  spielende  Orchester 
entladen,  Einöden  und  wilde  Wälder  im  Augenblick  zu  blühenden 
Hainen  werden.  Auch  einzelne  Komponisten  hatten  für  diese  Kunst- 
stücke ein  empfängliches  und  wachsames  Auge,  z.  B.   Gagliano. 

Aber  es  ist  zu  weit  gegangen,  wenn,  wie  dies  Ambros  tut,  be- 
hauptet wird,  daß  das  dekorative  Element  in  der  Oper  das  musi- 
kalische mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund  gedrängt  habe.  Die 
Prüfung  der  aus  der  Periode  der  Choroper  erhaltenen  Partituren 
zeigt  ein  besseres  Ergebnis. 

Peris  Leistung  in  der  »Euridice«  ist,  wenn  man  diese  Kompo- 
sition als  ersten  Versuch  betrachtet,  bewunderungswürdig.  Er  ar- 
beitete ohne  praktische  Vorlagen  und  von  den  Bruchstücken  einer 
Theorie  mehr  gehemmt  als  gefördert.  Einige  der  Fehler  in  seiner 
Komposition  müssen  direkt  auf  einen  zu  großen  Eespekt  vor  den 
Weisungen  der  Florentiner  Hellenisten  zurückgeführt  werden.  In 
erster  Linie  gehört  unter  diese  die  Schwerfälligkeit  seines  Perioden- 
baues. Sie  entsprang  einer  falschen  Auffassung  des  Reimes,  der 
in  der  Poesie  ein  Surrogat  der  Musik  ist,  und  seine  Bedeutung  in 
den  meisten  Fällen  verliert,  wenn  das  Gedicht  sich  in  Töne  kleidet. 
Aber  Peri  markiert  den  Abschluß  jeder  Zeile  mit  einer  vollen  Ka- 
denz. Schon  Doni  spricht  sich  in  einem  besonderen  Kapitel  über 
diese  Überschätzung  des  Reims  aus  2.  Sie  beherrscht  die  Zeit,  sie 
kehrt  in  der  italienischen  Monodie  wieder  und  noch  stärker  in  dem 


1  Weitere  Auskunft  vermittelt  E.  Flechsig:  »Die  Dekoration  der 
modernen  Bühne  in  Italien  von  den  Anfängen  bis  zum  Schluß  des  16.  Jahr- 
hunderts« (Berlin  1894). 

2  Im  »trattato  della  musica  scenica«  S.  19  (Del  abuso  delle  Rime). 


Die  Choroper  47 

jungen  deutschen  Lied.  An  vielen  Stellen  jedoch  durchbricht  er 
den  Zwang  und  wiederholt,  vom  Strome  der  Empfindung  fortgerissen, 
wider  das  Verbot  seiner  Auftraggeber  bedeutungsvolle  Worte.  Kirch- 
liche und  madrigalische  Musik  waren  die  einzigen  Formen  der  Kunst- 
musik, welche  bis  zu  Peri  gegolten  hatten.  Was  Wunder,  daß  wir 
seinen  Sologesang  vielfach  von  madrigalischen  Wendungen  und  Ge- 
meinplätzen abhängig  sehen?  Der  Terzfall  der  Stimme  nach  oben 
an  den  Schlüssen  der  Abschnitte  und  Perioden,  der  gleich  im  Prolog 
(s.  oben)  auftritt,  ist  der  am  häufigsten  verwendete  jener  Madrigalen- 
reste. Er  erhielt  sich  im  Rezitativ  noch  bis  zu  Cavalli  hin.  Eine 
Unterscheidung  der  einzelnen  Redeformen  im  Drama  sehen  wir  in 
der  »Euridice«  angebahnt.  Der  von  den  Zeitgenossen  so  stark  be- 
wunderte Abschnitt,  wo  Dafne  den  Tod  der  »Euridice«  berichtet, 
liefert  den  Beweis,  daß  Peri  die  Sprache  der  Empfindung  und  die 
Sprache  des  Berichts,  die  dramatische  Geschäftssprache  musikalisch 
zu  sondern  suchte.  Freilich  war  er  weder  gewillt  noch  imstande, 
diesen  Versuch  streng  durchzuführen.  Alles  in  allem  genommen 
zeigt  die  Komposition  Peris  im  Sologesang  dieselbe  Erscheinung, 
welche  uns  in  allen  Leistungen  auf  diesem  Gebiete,  gleichviel,  ob 
wir  ihnen  in  der  Oper  oder  außerhalb  nachgehen,  wieder  begegnet: 
Der  Ausdruck  ringt  jahrzehntelang  mit  der  Form.  Was  aber  Peri 
in  bezug  auf  Ausdruck  in  der  »Euridice«  bietet,  ist  immer  über- 
zeugend, zeigt  lebendiges,  sicheres  Gefühl  und  Naturbeobachtung  und 
trägt  häufig  die  Spuren  des  Genies.  Er  handhabt  Melodie,  Harmonie 
und  Rhythmus,  die  Elemente  der  Tonkunst,  vorwiegend  mit  einer 
vorauseilenden  Kühnheit  und  ürsprünglichkeit,  und  hat  allen  An- 
spruch darauf,  unter  die  großen  schöpferischen  Geister  der  Tonkunst 
eingestellt  zu  werden. 

Fragt  man  danach,  wieweit  die  Komposition  der  »Euridice«  den 
nachfolgenden  Arbeiten  anderer  zum  Muster  gedient  hat,  so  darf 
behauptet  werden,  daß  der  Grundriß  der  »Euridice«  allen  Nachfol- 
gern in  der  Periode  der  Choroper  zum  Ausgangspunkte  gedient  hat. 
Am  meisten  anregend  wirkten  neben  der  wiederholt  erwähnten  Be- 
richtsszene der  Dafne,  die  zu  dem  leichten  Ton  im  Rezitativ  führte, 
die  zwei  Verse,  welche  Orfeo  bei  der  Rückkehr  aus  dem  Inferno 
den  Freunden  und  Gefährten  vorsingt:  »Gioite  al  canto  mio«.  Nach 
ihrem  Beispiel  behandelte  man  die  lyrischen  Abschnitte  in  der  Dich- 
tung fortan  musikalisch  in  Variationenform.  Die  »Arien«  mit  Vari- 
ationen auf  bleibendem  Baß  sind  die  häufigst  gebrauchte  Form 
für  die  Sologesänge  in  der  Periode  der  Choroper.  Die  größte  Be- 
deutung für  die  weitere  Geschichte  der  Oper  erhielten  aber  die  Chor- 
szenen der  »Euridice«.  Sie  sind  noch  heute  lebensfähig  und  wirksam, 
trotz  ihrer  Kürze.  Das  Vorbild  dieser  Chorszenen  der  »Euridice« 
wird  von  den  folgenden  Komponisten  immer  weiter  ausgeführt;  die 
Chöre  selbst  wurden  größer  und  in  eine  bewegtere,  abwechslungs- 
reichere und  mannigfaltigere  Umgebung  gesetzt.    Über  die  Leistungen 


48  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Paris  im  Sologesang  kam  man  in  der  Periode  Peris  selbst  wesentlich 
nach  der  Richtung  hinaus,  daß  Bericht  und  Gefühlsausdruck  schärfer 
unterschieden  wurden  und  der  ganze  formelle  Teil  der  Musik  gewann 
an  Glätte  und  Klarheit. 

Es  wechseln  in  der  Opernmusik,  welche  in  den  vierzig  Jahren 
nach  Peris  »Euridice«  folgte,  bedeutende  und  geringere  Leistungen, 
und  die  an  der  Arbeit  teilnehmenden  Talente  sind  ungleich,  wie  immer 
und  überall.  Im  ganzen  aber  zeigen  die  Werke  einen  steten  Fort- 
schritt. Das  wird  besonders  dann  bemerkbar,  wenn  man,  wozu  wir 
Gelegenheit  finden  werden,  die  dramatischen  Arbeiten,  welche  Männer 
wie  Peri,  Gagliano  und  Monteverdi  am  Beginn  der  Periode  schrieben, 
mit  denen  vergleicht,  welche  30  Jahre  später  aus  ihren  Händen 
hervorgingen.  Derjenige  Teil  der  Opernmusik,  welcher  jenen  Eort- 
schritt  am  deutlichsten  zeigt,  ist  der  Sologesang.  Seine  Formen 
werden  klarer  und  reicher;  der  Ausdruck  gewinnt  an  Beweglichkeit, 
an  Mannigfaltigkeit  und  Tiefe.  Es  erfolgt  eine  Scheidung  zwischen 
lyrischen  Partien  und  rezitativischen  und  die  ersteren  sind  es,  denen 
die  Entwicklung  des  Sologesanges  am  meisten  zugute  kommt,  das 
Rezitativ  behält  noch  länger  einen  Rest  von  Schwerfälligkeit.  In  den 
Prologen  scheint  man  die  Unbehilflichkeit  der  ersten  Anfangszeit  ab- 
sichtlich festgehalten  zu  haben.  Sie  wirkte  feierlich,  antik.  Für  den 
Entwurf  der  Szene,  für  die  Verschmelzung  von  Chor-  und  Sologesang 
bildet  das  Muster  der  »Euridice«  die  ganze  Periode  hindurch  die 
Grundlage,  aber  die  Gruppen  wie  ihre  einzelnen  Glieder  erfahren 
bedeutende  Erweiterungen. 

Über  die  Zahl  der  in  diese  Periode  fallenden  Opern  —  dramme 
in  musica  oder  p.  musica  ist  ihre  übliche  Bezeichnung  —  können 
wir  uns  an  den  erwähnten  Catalogo  des  Allacci^  halten.  Wenn  die 
früher  erwähnten  Lokalforschungen  auf  dem  Gebiete  der  Theater- 
statistik einst  ihren  Abschluß  gefunden  haben  werden,  mag  das  Bild, 
welches  wir  heute  sehen,  an  Vollständigkeit  und  Genauigkeit  ge- 
winnen. Ein  wesentlich  anderes  dürfen  wir  aber  kaum  erwarten. 
Nach  Allacci  kommen  in  den  Jahren  1600—1637  auf  ungefähr  450 
wirklich  aufgeführte  oder  nur  gedruckte  Bühnenwerke  bloß  38  Stücke, 
welche  mit  Sicherheit  oder  Wahrscheinlichkeit  der  Oper  zugewiesen 
werden  können.  Nach  Solertis  Feststellungen  aus  dem  Jahre  1906 
sind  es  41.  Erscheint  uns  diese  Anzahl  eine  geringe,  so  müssen  wir 
in  Betracht  ziehen,  mit  welchen  Schwierigkeiten  die  Aufführung  von 
Opern  in  jener  ersten  Periode  noch  verknüpft  war.  Kehren  doch  an 
den  verschiedenen  weit  entlegenen  Orten  dieselben  Namen  der  Sänger 
wieder:  Signor  Brandi,  Signorina  Archilei  usw.  Wir  dürfen  nicht 
vergessen,  daß  solche  Aufführungen  nur  immer  gelegentlich  als  Fest- 
vorstellungen vor  geladenem  Publikum  stattfanden.  Das  erste  Schick- 
sal und  die  früheste  Entwicklung  der  Oper  hing  von  der  Gunst  eines 


1  >Drammaturgia  divisa  in  sette  indici«.     Rom  1666. 


Griulio  Caccinis  »Euridice«  49 

ausgewählten  Mäzenatentums  ab.  Sie  ging  von  den  Medizeern  in 
Florenz  zu  den  Gonzagas  in  Mantua,  von  Hof  zu  Hof,  sie  kam  von 
da  in  die  Paläste  reicher  Fürsten  und  Kardinäle,  sie  kam  in  die  Aka- 
demien und  in  die  Ratssäle  der  großen  italienischen  Städte.  Sie  war 
an  den  Geschmack  und  die  Kunstneigungen  der  oberen  Klassen,  sogar 
an  die  speziellen  Bedürfnisse  der  Repräsentation  gebunden.  Und  da 
innerhalb  dieser  Schichten  das  gesellige  und  geistige  Leben  durch 
ganz  Italien  ziemlich  das  gleiche  war,  bewegt  sich  auch  die  Ent- 
wicklung der  Oper  jener  Zeit  überall  in  dem  annähernd  gleichen 
Kreise.  Vollständige  Übereinstimmung  herrschte  in  den  szenischen 
Ansprüchen:  man  wollte  sehen,  staunen  und  überrascht  sein,  die  Musik 
überließ  man  ihrem  natürlichen  Gang;  wir  haben  keine  Anzeichen 
dafür,  daß  irgendwo  ein  bestimmter  Wille  die  Bahnen  der  Fachmänner 
gewiesen  habe.  In  bezug  auf  den  Inhalt  und  die  Tendenz  der  Dra- 
men gingen  die  Anforderungen  stärker  auseinander.  Die  griechische 
Oper  und  die  Allegorien-  und  Moraloper  scheiden  sich  auch  geo- 
graphisch: Florenz  und  Rom.  Diese  beiden  Städte  haben  auch  quan- 
titativ an  der  ersten  Geschichte  der  Oper  den  Hauptanteil.  Auf  Rom 
kommen  in  der  ersten  Periode  (nach  Allacci)  12,  auf  Florenz  14  Werke. 
Mantua  steht  ihnen  gleich  durch  die  Bedeutung  der  wenigen  Werke, 
welche  dort  hei-vorgingen.  Dann  kommen  Bologna,  Vicenza,  Turin, 
Padua,  Pisa,   Urbino  und  weitere  Städte. 

Von  jenen  38  oder  41  Opern  ist  ungefähr  ein  Drittel  erhalten. 
Die  erste  davon  ist  gleichfalls  eine  Komposition  der  Rinuccinischen 
»Euridice«.  Ihr  Komponist  Giulio  Caccini  ließ  die  Partitur,  die 
den  Titel*  hat:  »L'Euridice  composta  in  musica  in  stilo  rappresenta- 
tivo«  noch  im  Jahre  1600  drucken.  Sie  gleicht  der  des  Peri  in  der 
Anlage,  in  der  Besetzung  und  sämtlichen  Äußerlichkeiten.  Sie  teilt 
mit  dieser  auch  Mängel,  wie  die  Einförmigkeit  und  die  Abhängigkeit 
von  typischen  Wendungen,  die  aus  dem  Madrigal  stammen,  die  Nei- 
gung zu  melodischen  Gemeinplätzen  und  sie  ist  viel  reicher  an  Miß- 
griffen im  Ausdruck.  Caccinis  Pluto  z.  B.  ist  lustig  gehalten.  Wo 
die  Handlung  Pathos,  Tiefe  und  Kühnheit  der  Töne  verlangt,  bleibt 
Caccini  meistens  hinter  dem  begabteren  Peri  zurück.  Nur  an  einer 
einzigen  Stelle  ist  seine  Auffassung  die  bessere:  das  ist  die,  wo  Orfeo 
in  den  Inferno  eintritt.  Hier  hat  er  den  treffenderen  Ton  der  Trauer. 
Wohl  aber  erscheint  Caccini  als  der  geübtere  und  fester  geschulte 
unter  den  beiden.  Darauf  weisen  seine  fließenden  Bässe,  seine  gut 
gerundeten  Perioden,  die  korrekte  Deklamation  und  die  bewegliche 
und  reichere  Modulation.  Die  Wiedergabe  freudiger  Stimmung,  auf 
die  die  Madrigalenkomponisten  besonders  eingeübt  waren,  beherrscht 
er  lebendiger  und  bestimmter  als  Peri.  Äußerlich  unterscheiden 
sich  die  Sologesänge  Caccinis  von  denen  des  Peri  durch  reichere  Ein- 
mischung von  Koloraturen.  Sie  rechnen  mit  der  gesangstechnischen 
Virtuosität,  tragen  dadurch  aber  zuweilen  in  die  Deklamation  und  Me- 
lodik einen  Zug  geistiger  Unreife  hinein. 

Kl.  Ilandb.  der  Musikgesch.     VI.  4 


50  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

In  der  Gestalt,  wie  wir  heute  die  Partitur  der  >Euridice«  des 
Peri  kennen,  kam  sie  1600  nicht  zur  Aufführung.  Einzelne  ihrer 
Chöre  und  Solosätze  waren  durch  solche  aus  Caccinis  Eeder  ersetzt, 
dessen  Schüler  in  der  Oper  mitwirkten.  Bald  darauf  scheint  Caccini 
dann  das  ganze  Drama  komponiert  zu  haben.  Auch  schrieb  er  für 
dieselben  Festlichkeiten  eine  selbständige  kleine  Oper:  »II  rapimento 
di  Cefalo^,  deren  Dichtung  von  Chiabrera  herrührt  und  als 
»poemetto  dramatico«  bezeichnet  ist.  Dieses  > Rapimento«  wurde 
auf  Kosten  der  Stadt  aufgeführt,  der  Chor  hatte,  wie  wir  aus  Caccinis 
>Nuove  musiche«  wissen,  die  für  jene  Zeit  außerordentlich  starke 
Besetzung  von  57  Personen.  Zwei  Chöre  und  drei  Arien  aus  dem 
Rapimento  hat  Caccini  in  seine  »Nuove  musiche«  aufgenommen.  Die 
Arien,  von  Palontrotti  (Baß),  Peri  und  Rasi  (Tenöre)  gesungen,  sind 
gering  an  Gehalt,  in  der  Form  wiederum  durch  die  langen  Koloraturen 
auffällig.  Die  Chöre  machen  durch  die  Behandlung  der  Harmonie 
einen  modernen  Eindruck,  die  Verbindung  und  Gruppierung  der  Chöre 
und  Soli  ist  wirksam. 

In  demselben  Jahre  1600  wurde  zu  Rom  in  dem  bekannten  Bet- 
saale des  Neri,  dem  Oratorio  des  Klosters  S.  Maria  di  Vallicella 
ein  Werk  aufgeführt,  welches  nach  dem  Willen  der  Verfasser  eben- 
falls der  Gattung  des  Musikdramas  zuzuweisen  wäre.  Es  ist  die 
>Rappresentazione  di  anima  e  di  corpo«  von  Emilio  del 
Cavaliere^,  dem  Komponisten  der  erwähnten  drei  Florentiner  Pastoral- 
stücke von  1590.  Die  Partitur,  welche  noch  im  Jahre  der  Auffüh- 
rung im  Druck  erschien,  ist  dem  Kardinal  Aldobrandini  gewidmet  und 
von  dem  Herausgeber,  Aless.  Guidotti  in  Bologna,  mit  einer  Vorrede 
versehen,  in  welcher  nochmals  die  Verdienste  betont  werden,  welche 
der  inzwischen  verstorbene  Cavaliere  sich  um  die  Wiedererweckung  der 
alten  Tragödie  erworben  hat.  Dieses  Vorwort  ist  eine  der  ausführ- 
lichsten unter  den  Willensmeinungen  der  an  der  Einführung  der  Oper 
nächstbeteiligten  Männer.  Es  geht  auf  viele  Einzelheiten  ein,  welche 
auf  die  Methode,  mit  welcher  die  ersten  Komponisten  erfanden  und 
anordneten,  Licht  werfen.  Abermals  ergibt  sich  daraus,  daß  viele 
Kleinigkeiten  in  ihren  Arbeiten,  welche  uns  zufällig  und  einer 
weiteren  Beachtung  nicht  wert  erscheinen,  auf  eifriger  Berechnung,  auf 
eingehender  Beobachtung  des  natürlichen  und  gewöhnlichen  Lebens, 
auf  Beachtung  geringfügiger  Notizen  aus  der  Geschichte  der  alten 
Tragödie  beruhen.  Die  Verwendung  der  drei  Flöten  in  der  »Euridice« 
des  Peri  z.  B.  findet  in  der  Vorrede  unserer  >Rappresentazione«  ihre 
Begründung.  Die  Flötenbegleitung  galt  für  antik,  und  deswegen 
führt  sie  Cavaliere  in  seiner  »Rappresentazione«  systematisch  durch. 
Doch  steht  er  mit  diesem  Verfahren  allein. 

Die  Dichtung  der  »Rappresentazione«,  welche  gleichfalls  von  Ca- 


1  A.  Solerti:    »Laura  Guidiccioni  Lucchesini  ed  Emilio  del  Cavaliere« 
(ßivista  musicale  IX,  797). 


Agostino  Agazzaris  »Eumelio<  51 

valieres  früheren  Mitarbeiterin  Laura  Guidiccioni  herrührt,  ist  interes- 
sant als  ein  Versuch,  das  Mysterium,  die  Hauptart  des  mittelalter- 
lichen geistlichen  Schauspiels  durch  den  neuen  Musikstil  wieder  zu 
beleben.  Die  italienischen  Mysterien  heißen  Rappresentazione ;  der  An- 
schluß an  die  Gattung  ist  aber  in  diesem  »Spiele  von  Seele  und  Leib« 
auch  innerlich  versucht  worden.  Die  auf  der  Bühne  erscheinenden 
Figuren  sind  lauter  personifizierte  Begriffe:  Welt  (mondo),  Leben  (vita 
humana),  Körper  (corpo),  Vergnügen  (il  piacere),  der  Verstand  (il  in- 
telletto);  die  Handlung  ist  durch  moralische  Betrachtungen  ersetzt, 
die  dramatische  Entwicklung  darauf  beschränkt,  daß  die  Vertreter  der 
Sinnlichkeit,  welche  am  Anfang  geschmückt  und  geputzt  erscheinen, 
sich  am  Ende  des  »Spiels«  in  Totengerippe  verwandeln.  Die  Tendenz 
der  »Rappresentazione«  ging  in  die  Mehrzahl  der  späteren  römischen 
Opern  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  hinüber;  waren 
doch  die  Kardinäle  die  Hauptmäzene  der  Gattung.  Aber  die  kahle 
Gestalt  vermied  man. 

Die  Musik  Cavalieres  ist  unbedeutend  und  viel  geringer  als  die 
Peris.  Die  Chöre  sind  ganz  kurz,  die  Solostücke  treiben  zwi- 
schen Koloratur  und  Deklamation  hilflos  hin  und  her.  Die  einzige 
kleine  Neuerung  im  Entwürfe  der  Komposition  bildet  eine  auf  die 
Skala  aufgebaute  Sinfonie,  mit  welcher  der  erste  Akt  beschlossen  wird. 

Die  nächste  erhaltene  Oper  stammt  wieder  aus  Rom.  Es  ist  der 
»Eumelio«  unter  dem  Titel  Dramma  pastorale  von  Agostino 
Agazzari  für  die  Zöglinge  des  Seminario  Romano  in  Rom  ge- 
schrieben und  da  im  Karneval  1606  mehrmals  aufgeführt.  Noch  in 
demselben  Jahre  erschien  es  im  Druck  (Venedig,  Amadino).  Das  Werk 
ist  interessant  als  der  erste  bekannte  Fall,  in  welchem  die  neue  Oper  an 
die  Stelle  der  alten  Schulkomödien  getreten  ist.  Die  Dichtung,  deren 
Verfasser  wir  nicht  kennen,  vereinigt  florentinische  und  römische  Ele- 
mente. Das  Stück  spielt  in  den  ländlichen  Kreisen,  in  welche  uns  Ri- 
nuccini  und  die  Pastoraldichter  zu  führen  lieben;  ein  großer  Teil  der 
Sologesänge  preist  die  in  tausend  Madrigalen  besungenen  Reize  der 
Natur,  und  die  Chöre  der  Hirten  vertreten  die  guten  Mächte  des 
Dramas.  Seine  Tendenz  ist  in  römischer  Art  moralisierend:  die  Hingabe 
an  die  Weltlust  nimmt  ein  Ende  mit  Schrecken.  Dieser  gute  Zweck, 
sagt  Agazzari  in  der  Vorrede,  habe  ihn  hauptsächlich  zur  Komposi- 
tion bewogen.  Agazzari  genoß  wegen  seiner  Leistungen  in  der  Kirchen- 
musik, unter  denen  namentlich  sein  »Stabat  mater«  hervorzuheben, 
einen  großen  Ruf.  Der  Titel  des  »Eumelio«  führt  in  als  Armonico 
intronato  an,  eine  Würde,  in  welcher  wir  das  musikalische  Gegen- 
stück zum  Poeta  laureatus  erblicken  dürfen.  Wir  sind  danach  be- 
rechtigt, an  seinen  »Eumelio«  Erwartungen  zu  knüpfen.  Die  Arbeit 
erfüllt  dieselben,  was  im  Gegensatz  zu  Ambros,  welcher  die  Oper  zu- 
erst beschrieben  hat,  betont  werden  muß.  Der  »Eumelio«  ist  be- 
deutender als  die  Opern,  welche  ihm  vorangingen.  Seine  Chöre  sind 
mannigfaltig   und  voll  von  dramatischem   Geist,  besonders   die  vitii, 

4* 


52 


Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


die  Geister  der  Sinnenlust,  einfach,  aber  treffend  und  lebendig  cha- 
rakterisiert. Die  Sologesänge  der  Oper  stehen  über  denen  der  >Euri- 
dice«  bezüglich  der  klareren  Fassung  und  der  Leichtigkeit  ihrer  Me- 
lodik. Der  Prolog  des  Werkes,  den  die  »Poesia«  vorträgt,  mag  hier- 
von eine  Probe  geben. 


SEB^ 


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La  sembianza      e  questa  fronde  av  -  volta  al  crine  spar   -    so  e  la- 


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lE^^E^|:^EgEiEzl=3=^ii^^ 


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vo-ri-  o  lo   qua  -  re.       No-ta  avoi  stuo-lo  il  -  lu  -  stri  horami   fa  -  ce, 


^(5): 


j — — h 


k^^^^^^^i^^EE^^EEi, 


-n • g>- 


1 


da     cui     son  spes  -  so      lie  -  ta      men       -       te  ac-col  -  ta. 


Was  den  Melodienbau  Agazzaris  von  dem  der  Vorgänger  in  der 
Oper  schon  vom  Prolog  ab  unterscheidet,  ist  die  geschmackvolle  Ver- 
wendung des  Melisma  d.  h.  der  Gebrauch  mehrerer  Töne  auf  einer 
Silbe.  Caccini  und  Cavaliere  bedienen  sich  dieses  Elementes  für  ihre 
Melodiebildung  im  Übermaß,  Peri  weicht  ihm  in  der  »Euridice« 
ganz  aus,  Agazzari  wählt  zwischen  den  beiden  Extremen  eine  gute 
Mitte.  Freilich  hält  er  sich  an  die  besondere  Form  des  Melisma 
—  vier  Achtel  auf  die  Silbe  —  etwas  zu  ausschließlich.  Die 
übrigen  Verse  des  Prologs  werden,  wie  in  der  »Euridice«,  auf  die- 
selbe Melodie  gesungen  wie  der  erste.  Auch  die  übrigen  Sologesänge 
des  >Eumelio«  sind,  soweit  sie  aus  Versen  von  gleichem  Metrum  be- 
stehen, so  behandelt.  In  der  Vorrede  bittet  Agazzari  wegen  dieses 
Verfahrens  um  Entschuldigung  mit  Berufung  auf  Aristoteles  und 
Homer  und  auf  den  triftigeren  Grund_,  daß  er  zur  Komposition  seiner 
Oper  nur  14  Tage  Zeit  gehabt  habe.  Es  war  ja  inzwischen  Gebrauch 
geworden,  bei  Arien,  welche  aus  einer  größeren  Anzahl  gleichgebauter 
Verse  bestanden,  Vers  für  Vers  die  Melodie  zu  variieren  und  nur 
Grundbaß  und  Harmonie  festzuhalten.  Nach  diesem  Grundsatz  ist 
ein  großer  Teil  der  Opern  in   der  nächstfolgenden  Zeit  angelegt. 

Der  erste  Akt  beginnt  mit  dem  Gesang  des  Eumelio  (Sopran), 
der    die    idyllische    Herrlichkeit    des    schattigen   Waldes    preist,    in 


Agostino  Agazzaris  »Eumelio< 


53 


welchem  er  fortan  nach  dem  Willen  seines  Vaters  Apollo  wie  im 
klösterlichen  Frieden  lediglich  der  Einkehr  ins  Innere  leben  soll. 
Schon  in  der  zweiten  Szene  aber  tritt  an  den  Jüngling  die  Verführung 
in  Gestalt  der  Nymphe  »Echo«  heran.  Eumelio  fragt  die  Nymphe 
über  seine  Zukunft  und  Echo  antwortet  in  der  bekannten  zweideu- 
tigen Weise  der  Orakel.  Das  Echo,  bekanntlich  schon  in  der  kontra- 
punktischen Periode  bei  Dichtern  und  Komponisten  sehr  beliebt,  ge- 
wann mit  der  Einführung  des  Sologesanges  bedeutend  an  Ausdehnung 
und  erhielt  sich  in  Oper,  Oratorium  und  Kantate  bis  gegen  die  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts.  Noch  J.  S.  Bach  hat  in  seinem  Weihnachtsora- 
torium eine  Echoarie.  Agazzari,  der  uns  das  Echo  in  der  Oper  zum 
ersten  Male  vorführt,  verwendet  für  dasselbe  gern  und  wirksam  längere 


Figuren:  Schließt  Eumelio  mit         F^t^- — ^^   i   !   i — FTTj    m      \  - 

all'     0      -  -  -  ro 

so  antwortet  Echo  mit  demselben  Gange:   oro.     Fragt  Eumelio  »mai 
sara  che  in  me  all'  oggi«,  so  nimmt  Echo  diesen  Schluß  mit 


^„^7^  ^^^ 


og         -------       gl 

auf.  Das  Echo  wird  abgelöst  von  einem  coro  de  vitii,  der  in  mun- 
terer, leichter  Weise  den  Jüngling  an  sich  zu  ziehen  sucht.  Eumelio 
wehrt  in  rezitativischen  Sätzen  ab,  die  vitii  locken  wieder.  Darauf 
erhebt  der  Coro  dei  Pastori  in  einem  prächtigen  und  imposanten 
achtstimmigen  Satze  seine  warnende  Stimme.  Trotzdem  folgt  Eu- 
melio den  Verführern,  wie  uns  der  Nuntio  Corybante,  der  drama- 
tische Ersatzmann  des  Angelus  der  antiken  Tragödie,  mitteilt,  von 
den  triumphierenden  Scharen  der  vitii  umtanzt  und  umsungen. 
Die  ganze  Szene  ist  äußerlich  sehr  wirksam  aufgebaut,  der  Wechsel 
von  Frauen-  und  Männerchören,  die  Steigerung  zum  Doppelchor, 
der  Gegensatz  der  Themen  belebt  diese  Musik  immer  von  frischem. 
Die  Erfindung  der  Chormelodien  hat  madrigalischen  Charakter, 
aber  sie  ist  dem  Wesen  der  Situationen  vortrefflich  angepaßt.  In 
den  Tanzweisen,  welche  die  Chöre  der  Vitii  singen,  ist  ein  be- 
stimmter Grundzug  durchgeführt.  Sie  sind  alle  auf  denselben  Rhyth- 
mus, den  trochäischen  Doppelfuß  J  J  J  J?  gestellt,  und  mit  diesem 
rhythmischen  Motiv  spielt  Agazzari  eine  ganze  Skala  leicht  gewogener 
und  frivoler  Empfindungen  durch,  er  geht  mit  ihr  bis  in  die  Nähe 
einer  wilden,  dämonischen  Lustigkeit,  wie  solche  der  letzte  Chor  dieser 
Szene  bezeichnet: 

[Presto  zu  denken:) 


ä^^ 


=p= 


ä 


g^-|fc 


Gi-ra,   gi-ra    bel-lo  stuo-lo,   bat-tiil  stuo-lo,    bel-lo  stuo-lo 


54  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Noch  ehe  dieser  Satz  zu  Ende,  ändert  sich  mit  einem  Schlage  die 
Szene:  die  Bühne  wird  aus  dem  Hain  die  Hölle,  die  freundlichen 
Vitii  sind  zu  schauerlichen  Gespenstern  verwandelt  und  stimmen 
einen  Coro  infernale  an,  der  viel  auf  einen  Ton  gehalten,  im  übrigen 
aber  in  der  Charakteristik  schwach  ausgefallen  ist.  Sehr  schön  da- 
gegen ist  der  bewegliche,  von  flutenden  Empfindungen  getragene  Chor : 
»Piangiamo  oime«,  mit  welchem  die  Hirten  das  Schicksal  des  Eumelio 
beklagen.  Er  scheint  durch  Peris  »Sospirate  aure  celesti«  inspiriert 
zu  sein,  greift  aber  weiter  aus  und  nähert  sich  dem  Stil  Carissimis. 
Auch  die  darauf  folgende  lange  Höllenszene  hat  mit  der  in  der  >Euri- 
dice«  des  Peri  ersichtliche  Ähnlichkeit.  Wie  dort  Orfeo  seine  Gattin, 
so  rettet  hier  Apollo  den  Sohn  durch  Gesang  aus  den  Händen  der 
Unterirdischen. 

Arteaga  verlegt  in  das  Jahr  1606  eine  andere  dramatische  Kom- 
position, die  wir  noch  besitzen:  den  »Carro  di  fideltä  d'amore«  des 
römischen  Komponisten  Paolo  Quagliati.  Der  Dichter  dieses  Stückes, 
Pietro  da  Valle,  hat  von  der  Aufführung  desselben  eine  längere  Be- 
schreibung gegeben \  in  welcher  es  heißt:  »Die  Bühne  war,  wie  zu 
den  Zeiten  des  Thespis,  ein  Wagen,  welcher  das  Personal,  aus  fünf 
Sängern  und  ebensoviel  Instrumentisten  bestehend,  von  Straße  zu 
Straße  trug.  Eine  ungeheure  Menschenmenge  zog  hinter  dem  Wagen 
her  und  wurde  nicht  müde  zuzuhören.  Manche  wohnten  der  Vor- 
stellung sechs-  bis  siebenmal  bei;  ja  etliche  folgten  unserm  Wagen 
auf  zehn  und  zwölf  Halteplätze  und  wichen  nicht  von  uns,  solange 
wir  auf  der  Straße  waren. «  Schon  aus  diesem  Berichte  ist  zu  schließen, 
daß  dieser  »Carro  di  fideltä«  keine  Oper  im  vollen  Florentiner  Sinne 
gewesen  sein  kann.  Wie  aus  der  Partitur  des  Werkes  hervorgeht, 
welche  im  Jahre  1611  von  Oberto  Fidate,  der  das  Stück  nach  der 
Vorrede  zuerst  in  Bologna  kennen  gelernt  hatte,  herausgegeben  wurde, 
haben  wir  es  hier  mit  einer  Art  dramatischer  Kantate  zu  tun,  deren 
Gegenstand  der  Preis  treuer  Liebe  ist.  Das  Thema  ist  nicht  in  die 
Form  einer  Handlung  gebracht,  sondern  nur  auf  Personen  (Amor, 
Apollo,  Arion,  Orfeo,  Fama)  verteilt,  unter  welchen  Apollo  als  Meister 
der  Ki^nste  sich  mit  viel  Koloratur  hervortut.  Unter  den  Sätzen  des 
Werkes  befinden  sich  zwei  Duette  und  am  Schlüsse  ein  Quintett,  in 
welchem  die  Fama  die  Solo-  und  Hauptpartie  bildet.  Der  Brauch, 
von  der  Karre  aus  kurze  Theatervorstellungen  zu  geben,  bestand  schon 
vor  der  Einführung  der  Oper  bei  Maskenfesten,  wie  er  auch  heute 
in  Italien  noch  nicht  erloschen  ist.  Das  Werk  Quagliatis  beweist, 
wie  groß  der  Reiz  war,  den  die  neue  Gattung  des  Sologesanges  aus- 
übte, wie  das  bloße  Nacheinander  verschiedener  singender  Personen 
schon  dramatisch  wirkte.  Es  steht  in  seiner  Art  nicht  allein  da.  Von 
Quagliati  selbst,  der  sich  auch  durch  kirchliche  Kompositionen  be- 
kannt gemacht    hat,    besitzen   wir   noch   eine   zweite  dem   »Carro  di 


1  Doni:  »Compendio  del  trattato  etc.« 


Claudio  Monteverdis  »Orfeo«  55 

fideltä«  ähnliche  Komposition.  Sie  heißt  »La  sfera  armoniosa«i, 
ist  zu  einer  fürstlichen  Hochzeit  bestimmt  und  besteht  aus  einer  Reihe 
von  Huldigungs-  und  Gratulationsgedichten,  welche  von  mehreren 
allegorischen  und  phantastischen  Figuren  —  es  tritt  auf  »das  Schiff 
der  Glücklichen«,  »der  Stern«  —  vorgetragen  werden.  Die  Musik 
dieser  »Sfera«  steht  über  der  zum  »Carro«  und  zeigt  eine  bereits 
vorgeschrittene  und  formell  fertige  Melodik,  in  deren  Charakter  das 
anmutige  und  tanzartige  Element  vorherrscht.  Einem  großen  Teile 
dieser  Einzelgesänge  und  Duette  ist  konzertierende  Instrumentalbeglei- 
tung beigegeben.  Der  Form  nach  unterscheidet  Quagliati  seine  Num- 
mern als  Madrigale  und  Arien,  und  versteht  unter  letzteren  Sätze 
von  fünf  und  sechs  selbständigen  Teilen,  in  deren  Melodie  rezitati- 
vische, figurierte  und  sprachähnliche  Elemente  vorkommen,  welche  im 
Madrigale  sich  nicht  finden.  Der  »Eumelio«,  der  »Carro  di  fideltä«  und 
die  »Sfera  armoniosa«  sind  Beweise  für  die  Macht,  welche  die  Oper 
sofort  auf  die  Geister  in  allen  Kreisen  ausübte.  Man  versuchte  sie 
sofort  auch  in  den  Niederungen  theatralischer  Kunst  einzupflanzen. 
Agazzaris  »Eumelio«  hat  noch  die  weitere  Bedeutung,  daß  er  mit  seinem 
Überfluß  an  Chören  und  seiner  moralisierenden  Fabel  das  erste  Lebens- 
zeichen der  Römischen  Schule  in  ihrer  vollen  Eigenart  bildet. 

Zunächst  aber  tritt  mit  dem  Jahre  1607  Mantua  in  der  Vorder- 
grund der  Operngeschichte  und  zwar  in  erster  Linie  durch  die  Arbeiten 
von  Claudio  Monteverdi,  welcher  von  1604  bis  zum  Jahre  1613 
Kapellmeister  am  Hofe  der  Gonzaga  war.  Die  erste  Oper  Monteverdis 
ist  sein  »Orfeo«,  welcher  am  Anfang  des  Karnevals  von  1607  zuerst 
auf  der  kleinen  Bühne  der  Accademia  degl'  Invaghiti  aufgeführt  und 
dann  am  24.  Februar  und  am  1.  März  in  den  Räumen  des  Hoftheaters 
zu  Mantua  wiederholt  wurde.  1609  erschien  das  Werk  (in  Venedig 
bei  Amadino)  im  Druck.  Die  Vorrede  dieser  dem  Herzog  Francesco 
Gonzaga  gewidmeten  Ausgabe  enthält  interessante  Bemerkungen  be- 
züglich der  Instrumentation;  den  Noten  selbst  sind  Anweisungen  über 
Behandlung  und  Aufstellung  der  Instrumente  beigegeben:  das  eine 
Organo  di  legno  soll  rechts,  das  andere  links  stehen  usw.  Die  Dich- 
tung des  Monteverdischen  »Orfeo«,  welche  von  Aless.  Striggio,  dem 
Sohne  des  berühmten  Madrigalisten,  herrührt,  unterscheidet  sich  von 
der  »Euridice«  des  Rinuccini  hauptsächlich  dadurch,  daß  in  ihr  die 
ursprüngliche  Fassung  der  Sage  wiederhergestellt  ist:  Orfeo  blickt 
sich  auf  dem  Rückweg  vom  Hades  nach  Euridice  um  und  verliert 
sie  dadurch.     Apollo  versetzt  das  Paar  unter  die  Sterne. 

Der  hervorstechendste  Zug  in  der  Partitur  des  »Orfeo«  ist  ihr 
Reichtum  an  selbständigen  Instrumentalsätzen.  Kleinere  Zwischen- 
spiele und  Ritornelle  übergehend,  zählen  wir  im  »Orfeo«  26  Orchester- 
stücke 2.     Diese  Sätze  haben  den  Zweck,  die  Szenen  einzuleiten  und 

1  Exemplar  im  British  Museum  zu  London. 

2  Alfred  Heuß:  »Die  Instrumental-Stücke  des  »Orfeo«  von  Monte- 
verdi«.   Sammelbände  der  IMG  IV,  175ff.    1902. 


56  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

abzuschließen,  noch  mehr  aber  sollen  sie  den  Lauf  der  Handlung  an 
den  Hauptpunkten  innerlich  beleben.  Das  zeigt  sich  am  deutlichsten 
im  zweiten  Akt.  Da  wird  Polterabend  gefeiert  und  da  sind  es  die 
Instrumentalsätze,  die  die  freudige  Stimmung,  mit  welcher  der  Akt 
beginnt,  allmählich  bis  zur  Ausgelassenheit  steigern.  Motiviert  sind 
sie  durch  den  Wunsch  der  Hirten,  daß  Orfeo  auf  seiner  Lyra  etwas 
zum  Besten  geben  möge.  Als  die  Fröhlichkeit  den  höchsten  Punkt 
erreicht  hat,  tritt  die  Botin  mit  der  Nachricht  auf,  daß  Euridice 
gestorben  ist:  ein  schneidender  Kontrast!  Von  bedeutender  Wirkung 
ist  dann  auch  der  Orchestersatz,  welcher  die  Klageszene  im  zweiten 
Akt  abschließt.  Noch  mehr  prägt  sich  die  Sinfonie  ein,  welche  den 
dritten  Akt  eröffnet,  ein  durch  Rhythmus  und  Harmonie  feierlicher 
und  hochernster  Satz.  Sein  schauerliches  Gepräge  erhält  aber  dieses 
Tonstück,  welches  uns  in  den  Inferno  einführt,  durch  den  Klang  der 
Posaunen,  Kornetten  und  tiefen  Zungenstimmen,  welche  hier  zum 
ersten  Male  in  der  Oper  ihren  Mund  öffnen.  Einige  Minuten  später, 
in  dem  Augenblicke,  wo  Charon,  von  Orfeos  Gesang  eingewiegt,  die 
Augen  schließt,  ertönt  die  Sinfonie  von  neuem,  aber  in  sanften  Far- 
ben: Bratschen  und  andere  weiche  Instrumente  sind  an  die  Stelle  der 
Metallstimmen  getreten.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  gerade  dieser 
Instrumentalsatz  aus  dem  »Orfeo«  auf  die  Musiker  anregend  gewirkt 
hat.  Cavalli,  der  in  seinen  Werken  am  meisten  von  allen  späteren 
die  Schule  Monte verdis  zeigt,  bringt  in  seiner  ersten  Oper:  »Le  nozze 
di  Teti  e  Peleo«   eine  ähnliche  Höllensinfonie. 

Der  »Orfeo«  Monteverdis  ist  auch  die  erste  Oper,  welche  eine 
Ouvertüre  hat.  Diese  Ouvertüre  besteht  aus  zwei  Teilen.  Der  erste^ 
»Toccata«  benannt,  ist  ein  ganz  eigentümliches  Stück  antiquarischer 
Laune :  im  Grunde  nicht  viel  mehr  als  ein  etwas  reicher  ausgeführtes 
Exemplar  der  alten  Fanfaren,  die  bisher  als  Zeichen  gedient  hatten, 
daß  die  Vorstellung  beginne.  Die  Harmonie  besteht  aus  einem  ein- 
zigen Akkord:  dem  Cdur-Dreiklang,  der  16  Takte  lang  ausgehalten 
wird.  Die  Instrumente  sind  dem  Bestand  der  alten  Heerpauker-  und 
Trompetermusik  entnommen:  der  Basso  bläst  das  ganze  Stück  durch 
nur  C,  der  Vulgano,  die  nächst  höhere  Stimme,  liegt  auf  g,  der 
Alterbaß  wechselt  mit  ceg,  der  Quintbläser  hat  zu  diesen  drei  Tönen 
noch  die  obere  Oktave,  und  als  Sopran  fungiert  der  Clarino,  der 
einige  bescheidene  melodische  Gänge  über  diese  einfache  Grundlage 
hin  quinquilliert.  Das  Ganze  klingt  aber  keck  und  allerliebst  und 
ist  mit  reicherer  Besetzung  zu  wiederholen.  Auf  diesen  ersten  Teil 
folgt  aber  ein  zweiter,  der  den  Charakter  des  Dramas  in  elegischen, 
wehmütigen  Melodien  ausspricht.  Ihn  nennt  Monteverdi  Ritornell 
und  läßt  dieses  Ritornell  die  ganze  Oper  hindurch  in  weichen  und 
rührenden  Augenblicken  wiederkehren.  Es  besteht  aus  vier  Ab- 
schnitten, die  über  Sequenzen  desselben  Basses  aufgebaut  sind: 


Claudio  Monteverdis  »Orfeo« 


57 


m 


^=f=f 


w^ 


^ 


=^=?2: 


i 


I      hl     I      I 


i-^  Jifin 


"^^^^^^^m 


^^ 


* 


^ 


-^t- 


^i-w^ 


Mit  seiner  Toccata  und  dem  ihr  folgenden  Ritornell  hat  Monteverdi 
höchst  einfach  den  doppelten  Zweck  der  Instrumentalouvertüre,  auf 
den  Beginn  des  Stückes  aufmerksam  zu  machen  und  zugleich  seine 
Moral  zu  ziehen  erreicht.  Auch  diese  Ouvertüre  hat  in  die  Opern  der 
Venetianischen  Periode  ihre  Spuren  eingegraben,  namentlich  mit  ihrer 
Toccata.  In  Cavallis  »Didone«  schließt  ein  ganz  ähnliches  »Passata« 
betiteltes  Stück  den  ersten  Akt.  Mehr  aber  noch  als  in  selbständigen 
Instrumentalsätzen  klingt  der  eigentümliche  Ton  der  Monteverdischen 
Toccata  in  den  Trompetenarien  fort,  an  welchen  die  Musikdramen 
der  frühen  Venetianer  ziemlich  reich  sind. 

Einzig  ist  das  Orchester  des  »Orfeo«  durch  seine  Zusammenset- 
zung. In  ihr  berühren  und  vereinigen  sich  zwei  geschichtlich  getrennte 
Epochen:  die  Zeit  der  Akkordinstrumente  und  die  spätere  Periode  der 
einstimmigen,  neuen  Orchesterinstrumente.  Die  Violinen  und  Holz- 
bläser stehen  mitten  drin  in  der  Familie  der  alten  Orgeln,  Lauten 
und  der  anderen  Harmonieinstrumente,  die  zum  16,  Jahrhundert  ge- 
hören. Die  volle  Besetzung  bilden  2  Gravicembali,  2  Contrabassi  da 
viola,  10  Violen  da  braccio,  1  Doppelbarfe,  2  kleine  Violinen  (»alla 
Francese«),  2  Chitharronen,  2  organi  di  legno,  3  Gambenbässe,  4  Po- 
saunen, 1  Regal,  1  Flautino  alla  vigesima  seconda,  1  Clarino  und 
3  Trombe  sordine.  Von  einzelnen  dieser  Instrumente  haben  wir 
kaum  einen  Begriif  mehr^ 


1  Der  Umstand,  daß  auf  dem  Titelblatt  des  »Orfeo«  dem  Verzeichnis 
der  Instrumente  auf  gleicher  Linie  die  Personen  gegenüberstehen: 
Personaggi.  Stromenti. 

La  Musica,  Prologo  Duoi  Grauicembani 

Orfeo  Duoi  Contrabassi 

usw.  usw. 

hat  den  englischen  Historiker  Hawkins  zu  der  irrigen  Annahme  verleitet, 
daß  in  Orfeo  jede  Person  mit  besonderen,  ihr  eignen  Instrumenten  auftrete. 


58  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Monteverdi  treibt  mit  diesem  reichen  Material  zuweilen  einen 
spielerischen  Mißl^rauch.  Die  Stellen  des  »Orfeo«,  wo  von  zwei  zu 
zwei  Zeilen  die  Instrumentation  wechselt,  zeigen  den  Charakter  eines 
Suchens  nach  äußerlich  musikalischer  Wirkung  und  stören  durch  ihre 
Unruhe.  Aber  im  ganzen  überwiegt  in  der  Verwendung  der  Instrumente 
das  dramatisch  Planmäßige  und  die  geniale  Fähigkeit  die  Klangfarben 
als  Mittel  des  Ausdrucks  und  der  Belebung  der  Situation  zu  benutzen. 
In  diesem  Sinne  ist  Monteverdi  ein  Instrumentationsgenie,  vielleicht 
das  reichste,  welches  die  Geschichte  kennt,  und  sein  »Orfeo«  eine  uner- 
schöpfliche Quelle  genußreicher  Studien.  Der  größte  Teil  der  in  diesem 
Werke  in  bezug  auf  diesen  Punkt  niedergelegten  Anregungen  ist  un- 
benutzt geblieben.  Unter  die  wenigen  Ideen  dieses  Gebietes,  welche 
bald  nach  Monteverdi  wieder  aufgenommen  wurden,  gehört  die  engere 
Verbindung  von  Gesang  und  Instrumentalspiel  in  der  Form  des 
Konzertierens  beider  Faktoren.  Die  wichtigste  Stelle  des  »Orfeo«, 
an  welcher  diese  Neuerung  erscheint,  ist  die  Szene  des  dritten  Aktes, 
wo  Orfeo  im  Inferno  den  Pluto  durch  seine  Kunst  zu  stimmen  und 
für  sich  zu  gewinnen  sucht.  Die  Gänge  und  die  wild  drehenden 
Figuren  der  beiden  mit  den  Kornetten  und  der  Doppelharfe  wechselnden 
Violinen  tragen  in  erster  Linie  den  aufregenden  und  spannenden 
Charakter  dieser  Szene. 

Wie  Monteverdi  aus  der  allgemeinen  Musikgeschichte  als  Vater 
der  Dissonanz  bekannt  und  berüchtigt  ist,  so  geht  auch  in  seinem 
»Orfeo«  durch  die  Harmoniebehandlung  ein  schroffer,  strenger  und 
gewaltsamer  Zug.  Aber  er  beruht  nicht  auf  Willkür,  sondern  im 
Gegenteil  auf  einer  bis  zur  Hartnäckigkeit  festen  Konsequenz.  Monte- 
verdi liebt  und  sucht  die  Steigerung  im  Periodenbau:  die  steigende 
Sequenz  ist  ihm  das  naturgetreue  Abbild  der  wachsenden  Empfindung, 
des  Glühens  der  Seele.  Auch  hier  mag  er  die  Natur  belauscht  haben: 
Die  Stimme  geht  parallel  mit  der  inneren  Erregung  beim  Menschen 
in  die  Höhe.  In  einfachster  Anwendung  dieser  Beobachtung  läßt 
Monteverdi  seinen   »Orfeo«   die  ergreifende  Stelle  singen: 


lE£EE;^;EEgz=;zB£ii:mE^ 


?=*= 


Ren  -  de  -  te  -  miil  mio       ben,    ren  -  de   -  te-  miil  mio    ben 
B  O  G  B  A 


,ÖES 


ren  -  de  -  te-  mi  il  mio        ben,         Tar  -  ta  -  rei       nu  -  nu. 
D  G  BAGF     Es  DO 

Aber  wie  hier  in  einem  einfachen,  akkördisch  begleiteten  Satze,  so 
verfährt  er  auch  in  kontrapunktischen  Partien,  führt  die  Steigerung  in 
den  vielen  Stimmen  streng  durch  ohne  Rücksicht  auf  die  Reibungen 
und  die  Zusammenklänge,  die  sich  ergeben,  wenn  die  verschiedenen 
Motive    ihre  Wege  fortschreiten,    ohne   aufeinander   zu    achten.     Es 


Claudio  Monteverdis  »Orfeo< 


59 


kommen  zu  dieser  rücksichtslosen  Konsequenz  in  der  Harmonie  des 
»Orfeo«  noch  manche  subjektive  Manieren  und  auch  Härten,  die  der 
Zeit  angehören:  wie  die  frei  einsetzenden  großen  Septimen.  Überwie- 
gend ist  aber  bei  diesem  Teil  der  Musik  des  » Orfeo «  der  Eindruck,  daß 
wir  es  in  Monteverdi  mit  einem  Virtuosen  der  Harmonie  zu  tun  haben, 
einem  Akkordkünstler,  welcher  die  Mittel  der  alten  Schule  zu  wunder- 
baren Wirkungen  zu  führen  wußte.  Namentlich  mit  der  knappen 
Nebeneinanderstellung  kontrastierender  Akkorde  erreicht  er  an  hoch- 
pathetischen Stellen  das  Erstaunlichste.  Eine  solche  Stelle  ist  die 
am  Schlüsse  der  Erzählung  der  Botin,  das 

Spa  -  ven  -  to 


i^i=if 


4^2 G 


t=4: 


A    %D 

Eine  andere  noch  schönere  im  vierten  Akte,  da,  wo  der  argwöhnisch 
erregte  Orfeo  den  Entschluß  faßt,  das  Verbot  zu  brechen  und  sich  nach 
der  »Euridice«  umzusehen.  Auf  das  laute  Cmoll  mit  dem  lang  ge- 
haltenen es  das  hier  unheimlich  dunkel  klingende  ^dur.  Gebrochen 
und  stammelnd  schließt  der  Gesang. 


Orfeo  (Tfuor) 


i^g^E^^^^ 


i=t 


^ 


;S^-. 


:i=: 


dolcis-si-mi  lu-mi!io    pur       vi  veg-gio,     io  pur! 


■^^^ 


^ 


±l2^! 


I       — 


?z: 


^=^^-1-^J^_j^Qi 


ma  quäl    ec  -  clis  -  si  oi   -    irie  v'o  -  scu-ra? 


5IEE^=3P 


^üfe 


Neben  der  Instrumentierung  und  der  Harmonie  hat  der  > Orfeo« 
Monteverdis  aber  auch  noch  in  der  Anlage  der  Szenen  und  in  dem 
Ausdrucke  des  Sologesanges  ganz  neue  Elemente.  Die  Szenen  sind 
bedeutend  breiter  geworden  als  wir  sie  bisher  in  den  Opern  fanden. 
Einmal  durch  die  Einschaltung  der  Instrumentalsätze,  zum  andern 
durch  die  fugenmäßige  Durchführung  der  Themen  in  den  Chorsätzen. 
Zugleich  erscheinen  sie  auch  einheitlicher.  Dies  dadurch,  daß  Monte- 
verdi dichterisch  bedeutende  Worte  und  Gedanken  wiederholt  und 
zum  umschlingenden  Bande  getrennter  Nummern  macht.  Dies  Ver- 
fahren im  Entwurf  hat  noch  in  der  Choroper  Frucht  getragen.    Den 


60  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Sätzen  des  Monteverdischen  »Orfeo«  gibt  es  zuweilen  eine  moderne 
Färbung.  Was  M.  dem  Sologesang  an  Eindringlichkeit  und  Schärfe 
des  Ausdrucks  zugewonnen  hat,  kommt  besonders  den  pathetischen 
und  gespannten  Szenen  zugute.  Solche  sind  die  Schlußszene  des 
zweiten  Aktes  mit  der  Erzählung  der  Botin,  im  dritten  Akte  der 
Gesang  des  »Orfeo«  an  die  Geister  des  Inferno  gerichtet,  ein  eigen- 
tümliches Gemisch  von  Ernst  und  Wildheit.  Jenen  repräsentieren 
schauerlich  gemessene  Grundharmonien,  diese  furiose  Triller.  In  einem 
demütigen  Schluß  klingt  die  Szene  —  dem  » Combattimento «  und  dem 
»Lamento  d'Arianna«  Monteverdis  ähnlich  —  wunderschön  aus.  Die 
Partie  des  Orfeo  ist  in  dieser  Szene  außer  in  einer  einfachen  auch  in 
einer  sehr  schwierigen  Lesart  niedergeschrieben.  Koloraturen,  für  die 
sich  heute  kaum  ein  Sänger  finden  würde,  sollen  die  Leidenschaft  aus- 
drücken. Zu  dieser  Gattung  pathetischer,  bedeutender  Sologesänge 
gehört  auch  noch  die  bereits  erwähnte  Szene  des  vierten  Aktes,  in 
welcher  die  Euridice  ihrem  Gatten  wieder  entschwindet.  Ruhigen 
Partien  der  Dichtung  gegenüber  verhält  sich  Monteverdi  zuweilen 
bequem.  Ein  Beispiel  für  letzteren  Eall  ist  das  in  Rouladen  breit 
gezogene  Duett  zwischen  Orfeo  und  Apollo,  mit  welchem  die  Oper 
schließt.  Als  erste  Anwendung  der  Duettform  in  der  großen  Oper 
ist  das  Stück  interessant.  Auch  die  Liebeswerbungen  und  die  Hirten- 
szenen läßt  Monteverdi  ziemlich  fallen.  Nur  ein  hübsches  Element 
ist  in  letzteren  zu  bemerken:  ein  Anklang  an  den  italienischen  Volks- 
gesang mit  seinen  kurz  abbrechenden  Rhythmen  und  seinem  einfach 
klaren  Eormenbau. 

Bei  dem  Vergleich  Monteverdis  mit  Peri  fanden  wir  als  den  äußer- 
lich hervorstechendsten  neuen  Zug  die  reiche  Verwendung  von  In- 
strumentalmusik im  »Orfeo  zur  Belebung  der  Handlung,  zur  Ergänzung 
des  Dichters.  Schon  ein  Menschenalter  vorher  hatten  Malvezzi  und 
andere  Komponisten  in  die  Florentiner  Intermedien  kleine  Sinfonien 
eingelegt.  Ohne  Zweifel  hat  das  Monteverdi  gewußt.  Einen  viel 
breiteren  Platz  räumten  aber  die  Franzosen  der  Instrumentalmusik 
in  Form  von  Märschen  und  Charaktertänzen  bei  ihren  Balletts  ein. 
Auch  damit  war  Monteverdi  bekannt ;  nach  Vogels  Biographie  dürfen 
wir  annehmen,  daß  er  selbst  in  Frankreich  gewesen  ist,  jedenfalls 
aber  hat  er  französische  Musik  studiert.  Doch  geht  Monteverdi  nicht 
bloß  über  die  Intermedien,  sondern  auch  über  die  Balletts  dadurch 
weit  hinaus,  daß  er  seine  Instrumentalsätze  in  ein  viel  innerlicheres 
Verhältnis  zu  den  dramatischen  Vorgängen  setzt.  Am  deutlichsten 
zeigt  sich  das  im  zweiten  Akt.  Da  sind  es,  wie  schon  mitgeteilt  wurde, 
die  Instrumente,  die  die  freudige  Stimmung  immer  mehr  und  bis  zum 
ausgelassenen  Tone  steigern.  An  anderen  Stellen  grundieren  sie  ein- 
leitend den  Empfindungscharakter  und  das  Milieu  der  kommenden 
Handlung,  so  in  der  Ouvertüre,  in  der  Sinfonie  zum  dritten  Akt  und 
in  den  zahlreichen  Ritornellen.  Oder  sie  ziehen,  nach  Art  des  Chores 
der  antiken  Tragödie  die  Summe  der  Eindrücke,  so  am  Schlüsse  des 


Claudio  Monteverdis  >Orfeo«  Q\ 

zweiten  Aktes.  Mit  Ausnahme  einer  Stelle  treten  alle  diese  Instru- 
mentalsätze als  selbständige  Vorspiele,  Nachspiele  und  als  Zwischen- 
spiele zwischen  den  einzelnen  Versen  desselben  Sängers  auf.  Die 
erwähnte  Ausnahme  findet  sich  im  dritten  Akt,  in  der  großen  Hades- 
szene. In  ihr  konzertieren  zwei  Violinen  mit  dem  singenden  Orfeo, 
sie  modernisieren  das  gewaltige  Leierspiel,  mit  dem  der  Held  den 
Charon  bezaubert.  Hier  schlägt  also  Monteverdi  bereits  die  Brücke  zu 
Alessandro  Scarlatti  und  zu  den  ihm  folgenden  Versuchen,  Ge- 
sang und  Instrumente  in  der  Ausführung  einer  besondren  drama- 
tischen Aufgabe  aufs  engste  zu  verbinden.  Das  Wagnersche  Orchester 
ist  das  zurzeit  letzte  Glied  einer  langen  Kette,  an  deren  Ausbildung 
auch  die  Franzosen  einen  großen  Anteil  haben,  der  Vater  aber  der 
Idee,  des  Prinzips,  die  Instrumente  in  der  Oper  nicht  bloß  begleiten, 
sondern  wesentlich  mitreden  zu  lassen,  ist  Monteverdi. 

Schon  dieser  eine  Umstand  stellt  den  »Orfeo«  auf  einen  hohen 
Platz  unter  den  künstlerischen  Reformwerken.  Aber  Monteverdi  hat 
auch  im  Gesangteil  des  »Orfeo«  gewaltig  geneuert  und  wichtige  Wege 
erschlossen.  Die  Tätigkeit  des  Chores  ist  bedeutend  erweitert,  er  singt 
nicht  bloß  am  Schluße  der  Szenen  wie  bei  Peri,  sondern  auch  mitten 
drin,  und  was  noch  mehr  bedeutet,  der  Chor  beschränkt  sich  bei  ihm 
nicht  auf  knappe  Sätze  von  vier  Takten  und  ähnlich,  sondern  er  singt 
sich  aus.  Die  »Orfeo «-Chöre  kümmern  sich  nicht  mehr  um  die  absolute 
Unterordnung  der  Musik  unter  die  Dichtung,  sie  wiederholen  reichlich 
Worte,  sie  würden  zum  großen  Teil  auch  für  sich  allein,  vom  Drama 
losgelöst,  wirken  können,  sie  haben  einen  ganz  neuen,  stolzen  Stil. 
Es  handelt  sich  aber  bei  dieser  Emanzipation  des  Chores  im  »Orfeo« 
nicht  um  selbstherrliche  Übergriffe  der  Musik,  wie  sie  der  weiteren 
Entwicklung  der  Oper  so  häufig  verderblich  geworden  sind,  sondern 
Monteverdi  erweitert  die  Chorsätze  darum,  um  den  Eindruck  großer 
Situationen  zu  vertiefen  und  einzuprägen.  Niemals  ergehen  sich  die 
»Orfeo «-Chöre  in  Allgemeinheiten  und  in  Abschweifungen,  die  vom 
Kernpunkt  der  dramatischen  Lage  wegführen.  Daß  das  Beispiel,  das 
Monteverdi  mit  seinen  Chören  bietet,  nicht  verstanden  und  nur  äußer- 
lich nachgebildet  worden  ist,  läßt  sich  allerdings  angesichts  des  Treibens 
der  römischen  Schule  kaum  in  Abrede  stellen. 

Bedeutender  als  in  den  Chören  sind  die  gesanglichen  Neuerungen 
Monteverdis  in  den  Solopartien.  Er  zuerst  kommt  dem  griechischen 
Ideal  eines  zwischen  Rede  und  Gesang  die  Mitte  haltenden  Vortrags 
merklich  näher,  einmal  durch  die  Einführung  schnellerer  Rhythmen,  zum 
anderen  durch  eine  leichtere  und  reichere  Kadenzierung.  Er  bahnt  die 
stilistische  Unterscheidung  zwischen  berichtendem  und  betrachtendem 
Text  deutlich  an;  das  spätere  sogenannte  Seccorezitativ  zeigt  sich  in  den 
Sologesängen  des  »Orfeo«  wenigstens  in  Umrissen,  die  Form  der  drei- 
teiligen Arie  aber  schon  klar  ausgebildet.  Die  Hauptsache  aber  am  Solo- 
gesang Monteverdis  ist  die,  daß  er  auch  im  Ausdruck  über  Peri  weit 
hinaus  kommt,  besonders  in  der  Wiedergabe  von  Leidenschaft  und  starker 


62  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Seelenerregung.  Die  Hauptmittel  hierfür  sind  eine  außerordentlich  frei 
bewegliche,  durch  Kühnheit  auch  heute  noch  in  Erstaunen  setzende  Ver- 
wendung von  vorbereiteten  oder  freien  Dissonanzen  und  Dissonanzen- 
ketten und  eine  außerordentlich  reiche  Rhythmik,  die  namentlich  in 
der  Verwendung  von  kleinen  Werten  neu  ist.  Kein  Zweiter  dekla- 
miert soviel  in  Sechzehnteln  wie  Monteverdi.  Zieht  man  das  Er- 
gebnis, so  steht  man  bei  diesem  Orfeo  vor  einer  Summe  künstlerischer 
und  musikalischer  Begabung  und  Bildung,  die  im  ganzen  Verlauf  der 
Musikgeschichte  nicht  überboten  worden  ist.  Dieser  Komponist  hat 
ureigne  Töne  für  das  Größte  und  das  Kleinste.  Das  schließt  nicht 
aus,  daß  seine  ürsprünglichkeit  im  Leidenschaftlichen  und  im  Er- 
habenen ihre  Hauptgebiete  hat  und  es  verträgt  sich  sehr  gut  mit 
dieser  Ursprünglichkeit,  daß  die  Musik  des  Orfeo  viel  reicher  als  das 
bisher  geschehen  ist,  aus  Volksquellen  schöpft.  Die  sämtlichen  Solo- 
gesänge der  führenden  Hirten  und  Ninfen  könnten  dem  Liederschatze 
der  Zeit  entnommen  sein,  jedenfalls  folgen  sie  volkstümlichen  Mustern, 
zum  Teil  auch  die  des  Orfeo,  z.  B.  sein  Auftrittsgesang  im  zweiten  Akte: 


aE^E^ESEEÖlfe^EÖE^^^ 


Ec-co   pur-ch'a  voi  ri  -  tor  -  no,  ca-re  sei  -  veepiag-gie  a-ma-te 

dessen  Melodie  in  verschiedenster  Umbildung  zur  Zusammenfassung 
der  Szene  dient.  Mit  dieser  Naivität  paart  sich  aber  ganz  im  Stil 
der  Renaissancezeit,  ein  gewaltiger  Kunstverstand,  der  manche  der 
höchsten  Leistungen  nicht  bloß  durch  Naturbeobachtung,  sondern  durch 
scharfe,  folgerichtige  Berechnung  erreicht.  Der  »Orfeo«  Monteverdis 
gehört  durch  alle  diese  Eigenschaften  zu  den  Meisterwerken,  die  der 
Zeit  trotzen,  die  dem  Studium  und  dem  Genuß  tagtäglich  wieder 
frischen  Ertrag  bieten. 

Monteverdi  hat  nach  dem  »Orfeo«  noch  sieben  Opern  komponiert, 
nämlich  1608  die  »Arianna«  des  Rinuccini  für  Mantua,  1627  »La 
finta  pazza  Licori«  von  P.  Strozzi,  ebenfalls  für  Mantua,  1630  die 
»Proserpina  rapita«  von  G.  Strozzi,  welche  in  Venedig  im  Hause  des 
Girolamo  Mocenigo  aufgeführt  wurde,  eines  reichen  Patriziers,  mit 
welchem  Monteverdi  in  fortgesetztem  künstlerischen  Verkehr  lebte. 
1639  folgte  die  Oper  »L'Adone«,  deren  Text  von  Paolo  Vendramin 
herrührt.  Sie  wurde  im  Teatro  San  Giovanni  e  Paolo  aufgeführt, 
1641  »Le  nozze  d'Enea  conLavinia«  (Text  von  Giacomo  Badoaro),  den 
Beschluß  macht  1642  »L'incoronazione  di  Poppea«,  von  Giov.  Franc. 
Busenello  gedichtet  und  im  Theater  San  Cassiano  aufgeführt.  Gaetano 
Giordaniin  seinem  »Intorno  al  Gran  Teatro  del  Comune  ed  altri  minori 
in  Bologna«  1  setzt  in  das  Jahr  1630  die  Aufführung  einer  Oper  »Delia 
e  rUlysse«,    zu   welcher  Monteverdi  die  Musik   in  Gemeinschaft  mit 


Bologna  1655. 


Claudio  Monteverdis  »Lamento  d'Arianna«  63 

Francesco  Manelli  geschrieben  haben  soll.     Doch   ist  diese  Notiz 
das  einzige,  was  auf  die  Existenz  des  Werkes  hinweist. 

Zu  den  genannten  sieben  Opern  kommt  noch  die- Musik  zu  fünf 
Intermedien,  welche  Monteverdi  im  Jahre  1627  für  Parma  ge- 
schrieben hat  1. 

Von  allen  seinen  größeren  Bühnenarbeiten  war  bis  vor  kurzem 
nur  der  »Orfeo«  zugänglich.  Durch  Wiel  haben  wir  seit  1889  auch 
die  »Incoronazione  di  Poppea«  wieder.  Ambros  bezeichnet  einen  in 
Wien  befindlichen  »Ulysses«  als  den  Monteverdischen,  jedoch  die 
Echtheit  dieses  Werkes  ist  im  hohen  Grade  zweifelhaft  2. 

Aus  der  »Arianna«  Monteverdis  ist  ein  Bruchstück  erhalten,  das 
sogenannte  »Lamento  d'Arianna«,  ein  Klagegesang,  welchen  die 
Heldin  des  Dramas  in  dem  Augenblick  anstimmt,  in  welchem  sie  von  den 
Fischern  dem  in  der  Verzweiflung  gesuchten  Wellentod  entrissen  worden 
ist.  Die  von  ihrem  Teseo  treulos  und  heimtückisch  Verlassene  hat  kein 
Wort  des  Dankes  für  ihre  Retter:  in  tieftraurigen  Wendungen  singt  sie 
ihnen  immer  von  neuem  ihr:  »Lasciate  mi  morire«  entgegen.  Der 
Chor  der  Strandbewohner  sucht  zu  trösten,  Arianna  kehrt  immer  wieder 
zu  jenem  Refrain  zurück. 

Dieser  Abschnitt  war  bis  vor  kurzem  das  einzige,  was  von  dem 
»Lamento  der  Arianna«  vorlag.  Emil  Vogel  ist  es  gelungen,  in  einer 
Handschrift  der  Nationalbibliothek  zu  Florenz,  welche  eine  Anzahl 
monodischer  Gesänge  aus  dem  ersten  Drittel  des  17.  Jahrhunderts  ent- 
hält, den  ganzen  Lamento,  wie  er  1623  zu  Orvieto  gedruckt  worden, 
zu  entdecken,  doch  fehlen  die  Chorstellen.  Wahrscheinlich  wurde  die 
»Arianna«  im  Karneval  1614  zuFlorenz  aufgeführt.  Bonini  ^  versichert, 
daß  in  jedem  Hause,  wo  ein  Klavier  oder  eine  Theorbe  zu  finden  war, 
»Arianna«  gesungen  und  gespielt  wurde.  In  Venedig  war  die  »Arianna« 
im  Jahre  1640  vom  Karneval  bis  zum  Herbst  mit  eingerichtetem  Text 
das  Zugstück  des  Teatro  San  Moise.  Über  den  großen  Eindruck  der 
»Arianna«  liegen  ferner  die  Zeugnisse  von  Gagliano  und  Coppini^  vor. 
Was  speziell  den  »Lamento«  betrifft,  so  nennt  ihn  Doni  geradezu  die 
schönste  Komposition,  welche  bis  zum  Jahre  1640  für  das  Theater 
geschrieben  worden  ist.  Monteverdi  selbst  hat  dieses  Stück  in  zwei 
verschiedenen  Neubearbeitungen  veröffentlicht.  Im  Jahre  1650  ließ 
er  59  Verse  des  »Lamento«  als  fünfstimmige  Madrigale  erscheinen. 
Dann  legte  er  später  dem  Text  lateinische  Worte  unter  und  gab 
ihn  im  Jahre  1640  am  Schlüsse  seiner  »Selve  morale  e  spirituale« 
(Venedig)  als   »Pianto  della  Madonna«,   als  Marienklage  heraus.     Der 


i  Alle  diese  Angaben  beruhen  auf  der  vortrefflichen  Monographie  Emil 
Vogels  über  Monteverdi  (Emil  Vogel,  Claudio  Monteverdi.    Leipzig  1887) 

2  Siehe  H.  Goldschmidt,  Sammelbde.  d.  IMG  IV,  671  und  IX,  570 ! 

3  Bonini:  »Regoli  e  discorsi  sovra  la  musica«,  aufgenommen  in  Adrien 
de  la  Fage:  >Essai  de  diphterographie  musicale«.     Paris  1864. 

'•  3.  Buch  der  musica  scolta.     Mailand  1609. 


64 


Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


»Lamento  d'Arianna«  wurde  in  der  monodischen  Komposition  bald 
und  lange  als  Muster  angeführt  und  benutzt,  wenn  die  höchsten 
Grade  von  Seelenschmerz  und  Trauer  darzustellen  waren,  nicht  bloß 
in  Italien  sondern  auch  in  Deutschland.  Hier  liegt  in  der  Altmonodie 
des  Eisennacher  Christoph  Bach  »Ach,  daß  ich  Wassers  genug  hätte« 
eine  Arbeit  vor,  die  unmittelbar  an  Monte verdi  anschließt.  Lamentos 
fanden  sich  bereits  in  Peris  »Euridice«.  Wenn  das  aus  Monteverdis 
Arianna  so  ganz  besonders  ausgezeichnet  wurde,  lag  das  in  der  Gewalt 
seines  Refrains,  der  auch  die  eigenen  formellen  Züge  des  Kompo- 
nisten stark  ausgeprägt  zeigt: 


La  -  scia-te  mi  mo  -  ri  -  re 


^a^^ 


Monteverdi  selbst  hat  im  Jahre  1619  einen  »Lamento  d'Apollo«,  im 
Jahre  1627  auf  Stanzen  aus  Tassos  »Befreitem  Jerusalem«  ein  »Lamento 
d' Armida«  komponiert.  Derselbe  Band  der  Nationalbibliothek  zu  Florenz, 
in  welchem  sich  die  Handschrift  des  vollständigen  »Lamento  d'Arianna« 
befindet,  enthält  noch  zwei  ähnliche  Kompositionen,  eine  Monodie  für 
Sopran  oder  Tenor:  »0  lagrime,  o  sospiri«  und  ein  Duett  für  Sopran 
und  Tenor:  »Queste  lagrime  miei«.  Die  Monodie  fängt  fast  wörtlich 
so  an  wie  der   »Klagegesang  der  Ariamia«,  nämlich: 


\-!&- 


m 


t 


m^s^ 


0 la  -  gri  -  me, 


:ii 


^: 


es: 
I 

spi 


?^: 


Auch  das  Duett  klingt  Monteverdisch  an,  namentlich  an  der  gewaltig 
ausdrucksvollen  Klagestelle  des  Tenors:    »Lasso  'ne_.';miei    tormenti«. 


Claudio  Monteverdis  »Lamento  d'Arianna« 


65 


Auch  Peri  hat  sich  in  einem  späteren  »Lamento  d'Iole«,  das 
dem  herakleischen  Sagenkreis  angehört,  Monteverdi  angeschlossen.  Die 
Komposition  1,  160  Takte  lang,  ist  vorwiegend  rezitativisch  mit  Ein- 
schaltung ausdrucksvoller  Melodiewendungen,  für  welche  Skalengänge 
(aufwärts  aus  der  chromatischen,  abwärts  aus  der  diatonischen)  in 
sanft  gleitenden  Rhythmen  sehr  wirkungsvoll  benutzt  sind.  Durch 
sie  erhält  die  Gestalt  der  lole  ihren  eigenen  weichen  Zug.  Das  formelle 
Hauptmerkmal,  des  frei  eingeteilten  Stückes,  welches  zugleich  die 
Verwandtschaft  mit  dem  Monteverdischen  Muster  bekundet,  ist  die 
refrainmäßige  Wiederholung  des  Einsatzmotivs  an  den  bedeutendsten 
Anfangsstellen  der  Perioden.     Es  ist  folgendes: 


Uc-ci 

^   1' 

di  -  mi-do-k 

)    -    res 

Uc-ci 

di-mi-do-lo      - 

^j'^      ,^      l*^      X 

res 

1 — 1 — 

fe 

^^ 

-1^ . r — ,N — H 

-5?— ;+w-i 

t=M=?i 

r?               *   ^'^  tt#  ^^    ^1 

ff-'^                \-^'U  '^ 

r^  • 

,             ,"-' 

-■■■H -i^ 

^ 

cJ                ^. 

^ 

J 

Lijden  Opern  der  folgenden  Periode  erhalten  sich  die  Lamentos 
lange  fort  als  gern  gehörte  Hauptnummern.  Einer  der  bedeutendsten 
Klagegesänge  nach  Monteverdischen  Muster  ist  das  »Lamento  d'Issifile« 
in  Cavallis  >Giasone«.  Noch  bis  gegen  das  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
hin  wirkt^die  Form  der  Ariannenklage  weiter.  Eine  der  schönsten 
Nachbildungen  aus  dieser^Uetzten  Zeit  ist  die  Klage  des  Paride  in 
Dom.  Freschis  »II  Ratto  d'Elena«,  der  die  schwermütige  Frage  des 
Paride 


:^S?E 


"^- 


t: 


He-le-na   do-ve        se     -      i? 
HE  C  H 

zugrunde  liegt. 

Neben  »Orfeo«,  »Incoronazione«  und  dem  »Klagegesang  der  Ari- 
anna«  besitzen  wir  noch  von  Monteverdi  zwei  kleinere  dramatische 
Arbeiten,  den  sogenannten  »Ballo  dell'  ingrate«  und  das  »Combatti- 
mento  di  Tancredi  e  di  Clorinda«. 

Der  »Ballo  dell'  ingrate«,  welcher  in  Mantua  im  Jahre  1608 
genau  eine  Woche  nach  der  »Arianna«  aufgeführt  wurde  und  im 
Jahre  1638  im  8.  Buch  der  »Madrigali  guerrieri  ed  amorosi«  in  Druck 


1  Enthalten  in  einem  Sammelband  des  Liceo  musicale  zu  Bologna  (Sig- 
natur Q,  49).  Auch  die  Oratorienmusik  des  17.  Jahrhunderts  ist  reich  an 
Lamentos,  die  der  Monteverdischen  Ariannenklage  folgen.  Die  ersten  und 
bekanntesten  bringt  Carissimi  in  seiner  Jephta. 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VI.  5 


66  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

erschien,  gehört  zu  jener  Gattung  kleiner  Festspiele,  die  in  dra- 
matischer Form  einen  witzigen  oder  artigen  Gedanken  durchführen. 
Die  musikalischen  Höfe  verbrauchten  bis  tief  ins  18.  Jahrhundert 
hinein  ungemein  viel  Arbeiten  dieser  Klasse  unter  der  Bezeichnung 
Intermedien,  Balletts,  Akademien,  Probleme.  Auch  der  Titel  Kon- 
zert wird  für  solche  musikalisch- dramatische  Einakter  verwendet. 
Die  Dichtung  des  »Ballo  dell'  ingrate«,  von  Rinuccini  verfaßt,  be- 
handelt ein  in  der  Novelle  und  im  Lustspiele  jener  Zeit  sehr  be- 
liebtes Thema,  die  Sprödigkeit  der  Damen,  in  halb  scherzender 
Weise.  Amor  beklagt  sich  beim  Pluto  darüber,  daß  die  Schönen 
von  Mantua  ihren  Verehrern  mit  zu  großer  Kälte  begegnen.  Darauf 
beschließt  der  Herrscher  der  Unterwelt  den  Töchtern  und  Frauen 
der  Herzogsstadt  ein  kleines  Bild  von  den  Strafen  vorzuführen, 
welche  die  spröden  Schönen  in  der  Hölle  erwarten.  Er  beruft 
einige  weibliche  Schatten,  welche  sich  bei  Lebzeiten  des  Vergehens 
der  Lieblosigkeit  schuldig  gemacht  haben  und  läßt  sie  in  der  Sprache 
von  Pantomimen  und  Tänzen  die  Qualen  schildern  welche  sie  im 
Hades  leiden.  Dieser  Teil  des  Festspiels  bildet  die  musikalische 
Hauptpartie  und  besteht  aus  Charaktertänzen  für  die  Instrumente, 
in  denen  eine  ganze  Reihe  schmerzlicher  Gefühle  ausgedrückt  wird. 
Mit  einfachen  Mitteln,  vornehmlich  dem  Mittel  rhythmischer  Steigerung 
desselben  Themas  moduliert  diese  Musik  von  der  ruhigen  Niederge- 
schlagenheit bis  zur  wilden  Raserei.  Als  die  Leidenschaftlichkeit  der 
Tanzszene  sich  der  Erschöpfung  nähert,  brechen  die  Instrumente  plötz- 
lich ab:  die  Tänzerinnen  beginnen  zu  singen  und  rufen  in  einem  vier- 
stimmigen Frauenchor  den  Zuschauerinnen  die  Moral  des  Stückes  zu: 
»Seid  barmherzig,  ihr  Schönen!«  Die  Pointe  des  Dramas  und  der 
Höhepunkt  der  Komposition  fallen  zusammen.  So  einfach  der  kleine 
Schlußgesang  ist,  so  tief  dringt  er  ein,  namentlich  durch  die  Gewalt 
einer  einschneidenden  freien'  Nonendissonanz ,  welche  Monteverdi  in 
die  Harmonie  gemischt  hat.  Der  betreffende  Einsatz  hat  Veranlassung 
zu  einer  ausgeführteren  Polemik  gegeben,  in  welcher  sich  auf  Seite 
von  Monteverdis  Gegnern  namentlich  der  Theoretiker  Artusi  hervor- 
tat. Soweit  die  Eigentümlichkeit  des  Monteverdischen  »Ballo«  auf 
der  charakteristischen  Verwendung  von  Instrumentalmusik  beruht,  be- 
steht zwischen  dem  >' Ballo«  und  dem  »Orfeo«  eine  sichtbare  Ver- 
wandtschaft. Nur  ist  Monteverdi  in  dem  neuen  Werke  mit  der  Aus- 
beutung der  Methode  viel  weiter  gegangen  als  in  dem  früheren.  Die 
Anregung  kam  wahrscheinlich  zu  beiden  Malen  aus  der  französischen 
Praxis.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  bildet  Monteverdis  »Ballo« 
einen  der  ersten  und  bedeutendsten  unter  den  wenigen  Fällen,  in 
denen  an  der  Entwicklung  des  italienischen  Musikdramas  französische 
Einflüsse  teilgenommen  haben.  In  der  italienischen  Oper  selbst  ist 
eine  weitere  Einwirkung  von  Monteverdis  > Ballo«  zunächst  nicht 
zu  bemerken. 

Auch  das  »Combattimento  di  Tancredi  e  di  Clorinda«  ruht 


Claudio  Monte verdis  >Ballo  delP  ingrate«  67 

in  dem  wesentliclisten  Teile  seiner  künstlerischen  Anlage  auf  der 
Verwendung  von  Instrumentalmusik  zum  Ausdruck  der  Handlung. 
Wie  im  »Ballo«  eine  charakteristische  Tanzszene,  malt  im  »Combatti- 
mento«  das  Orchester  eine  Kampfszene.  Im  genauen  Anschluß  an 
die  Worte  des  Gedichtes  —  12.  Gesang  aus  Tassos  »Befreitem  Jeru- 
salem« — ,  welches  den  Zweikampf  von  Clorinda  und  Tancred,  den 
beiden  Liebendea,  die  ohne  sich  zu  erkennen  im  Dunkel  der  Nacht  an- 
einander geraten  und  als  vermeintliche  Feinde  ein  hitziges  Gefecht 
beginnen,  das  mit  dem  Tode  der  Clorinda  endet  —  im  Anschluß  an 
die  Bilder  dieses  Gedichtes  führen  die  Instrumente  die  einzelnen  Wen- 
dungen dieser  Szene  vor.  Wir  hören  die  Schwertstreiche,  das  Rasseln 
der  Helme  und  Schilder,  wir  sehen  die  Kämpfenden  ablassen  und  von 
neuem  mit  Ungestüm  den  Kampf  aufnehmen.  Soweit  sich  Erschei- 
nungen der  Gesichts  weit  in  Klangformen  übertragen  lassen,  hat  Monte- 
verdi  jeden  Zug  dieses  Kampfbildes  ins  Musikalische  übersetzt.  Um 
in  dieser  Beziehung  deutlich  zu  sein  gibt  er  einem  im  Tripeltakte 
einherpolternden  Motiv  in  der  Partitur  noch  besonders  die  Bemerkung 
bei:  »motto  del  cavallo«.  Und  im  Drang  nach  Anschaulichkeit  und 
Charakter  seiner  Tonsprache  greift  er  hier  abermals  zur  Spekulation 
und  Berechung  und  gelangt  auf  diesem  Verstandeswege  abermals  zu 
neuen  Ausdrucksmitteln  über  die  bald  Näheres  mitzuteilen  sein  wird. 
Die  Schönheit  und  Bedeutung  des  » Combattimento «  erstreckt  sich  aber 
über  Äußerlichkeiten  hinaus.  Namentlich  der  Schluß  der  Kompo- 
sition, die  Stellen,  wo  Clorinda  mit  Tönen  der  Ergebung  und  Hiramels- 
ahnung  ihre  Seele  aushaucht,  ist  ein  Muster  frommen  verklärten  Aus- 
drucks und  hat  von  Pallavicinos  »Gerusalemma  liberata«  ab  bis  auf 
Verdis  Troubadour  und  Aida  in  vielen  Sterbeszenen  italienischer  Opern 
fortgewirkt.  Übrigens  teilt  das  »Combattimento«  die  milde  Schönheit 
dieses  Schlusses  einigermaßen  mit  dem  »Lamento  d'Arianna«.  Der 
Gesangteil  des  »Combattimento«  besteht  nur  aus  der  Partie  des  Testo, 
der  die  Erklärungen  zu  den  instrumentalen  Bildern  gibt  und  auch  die 
Worte  Tancreds  und  Clorindas  übernimmt.  Der  Testo  aber  ist  die 
typische  Erzählerfigur  in  der  Passion  und  im  alten  Oratorium,  die 
hier  Monteverdi  beeinfl.ußt  haben. 

Das  »Combattimento«  wurde  im  Jahre  1624  im  Hause  des  schon 
genannten  Patriziers  Mocenigo  zu  Venedig  aufgeführt,  vierzehn  Jahre 
später  gedruckt.  In  der  Vorrede  der  »Madrigali  guerrieri  ed  amo- 
rosi«  geht  Monteverdi  näher  auf  das  »Combattimento«  ein.  Nach 
seiner  Meinung  habe  die  neuere  Musik  nur  zwei  Arten  von  Affekten 
auszudrücken  vermocht:  die  weichen  und  die  gemäßigten;  es  haben 
ihr  dagegen  die  Töne  für  die  erregten  Leidenschaften  gefehlt.  Und 
nun  —  ein  erneuter  Beweis  für  den  Glauben  an  die  Vollkommen- 
heit der  alten  Musik,  welcher  die  Florentiner  Tonschule  beseelte, 
einerseits,  andererseits  für  den  Ernst,  aber  auch  die  mechanische 
Befangenheit,  mit  welcher  sie  der  Rekonstruktion  dieser  echten 
Kunst  oblagen  —  setzt   Monteverdi  auseinander,  wie  er   durch  eine 

5* 


68         f  •. Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Notiz  des  Plato^  über  den  Ausdruck  des  Erregten  und  durch  weitere 
Notizen  anderer  griechischer  Philosophen  über  den  Gebrauch  des  spon- 
deischen  und  pyrrhichischen  Versmaßes  dazu  gekommen  sei,  das 
> Tremolo«  zu  erfinden.  Das  Tremolo  ist  demnach  nichts  als  die  Auf- 
lösung einer  ganzen  Note  in  16  Sechzehntel  und  die  Durchführung 
dieses  Rhythmus.  Im  »Combattimento«  tritt  diese  Spielart  zum  ersten 
Male  mit  dem  Wort  »ira«  ein.  Den  Spielern  soll  nach  Monteverdis 
Versicherung  dieses  erste  Tremolo  sehr  große  Schwierigkeiten  bereitet 
haben.  Auch  das  »Pizzikato«  erscheint  im  »Combattimento«  zum 
ersten  Male  auf  der  Bildfläche  der  Instrumentalmusik.  Es  bezeichnet 
hier  die  auf  den  Harnisch  fallenden  Schwertstreiche  der  Kämpfenden. 
Kurz  vorher,  gleichzeitig  mit  Monteverdis  »Arianna«  und  bei 
derselben  festlichen  Veranlassung  kam  in  Mantua  eine  zweite  Oper  zur 
Aufführung,  die  uns  ebenfalls  erhalten  blieb.  Es  ist  die  »Dafne«  von 
Marc'  Antonio  Gagliano,  dem  Domkapellmeister  zu  Florenz,  einem 
in  Italien  angesehenen  Musiker,  von  dessen  kirchlichen  Kompositionen 
einzelne  noch  im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  gesungen  wurden. 
Die  Dichtung  von  Rinuccini,  dieselbe,  welche  schon  Peri  im  Jahre 
1595  komponiert  hatte,  ist  schwächer  als  die  der  »Euridice«.  Sie 
zerfällt  in  zwei  Hälften,  zwischen  welchen  kein  Zusammenhang  be- 
steht. Die  erste  schildert  den  Kampf  des  Apollo  mit  dem  Drachen; 
ßinuccini  benutzte  für  sie,  wie  schon  bemerkt,  sein  altes  Intermezzo 
vom  Jahre  1589.  Die  zweite  behandelt  die  Liebe  des  Gottes  zur 
spröden  Nymphe  Dafne,  ganz  unter  dem  Banne  des  galanten  Ge- 
schmackes der  Zeit.  Die  erste  und  bessere  Hälfte  des  Dramas  ist 
auch  die  musikalisch  wertvollere;  namentlich  die  Behandlung  der 
Chöre  zeichnet  sie  aus.  In  der  ersten  Szene  klagen  die  Hirten  einer 
nach  dem  andern,  daß  der  Drache,  der  drüben  im  Walde  haust,«  ihre 
Fluren  verwüstet,  ihr  Leben  bedroht.  Der  Chor  nimmt  diese  Klagen 
in  einem  Gebet  an  die  Götter  auf,  in  dessem  Ausdrucke  sich  frommes 
Vertrauen  und  schmerzliches  Bangen  die  Wage  halten.  Der  musi- 
kalische Entwurf  dieser  Szene  gleicht  dem  Muster,  welches  Peri  in  der 
»Euridice«  aufgestellt  hat.  Aber  die  Ausführung  im  einzelnen  ist  reifer 
und  ergiebiger:  die  Solosätze  sind  melodisch  reich  und  faßlich,  die 
Chöre  in  einem  mit  ihnen  verwandten  Tone  gehalten.  Es  ist  Einheit 
in  den  Gliedern  dieser  Gruppe,  die  musikalische  Erfindung  hat  nicht 
mehr  bloß  auf  die  richtige  Deklamation  von  Worten,  Versen  und 
Sätzen  hingearbeitet,  sondern  ein  größeres  Ganze,  den  vollständigen 
dramatischen  Abschnitt,  ins  Auge  gefaßt.  Der  ganzen  Szene  liegt 
ein  und  dasselbe  Hauptmotiv  zugrunde;  es  ist  das  folgende: 


i^ 


-#— 


^ 


1  Diese  Notiz  steht  im  3.  Buche  von  Piatos  de  republica  III.  10  und 
nicht  wie  Monteverdi  zitiert  in  Piatos  Rhetorik. 


Marc'  Antonio  Gaglianos  »Dafne« 


69 


Diese  Takte  gehen  durch  die  Sätze  der  Solisten  ebenso  wie  durch 
die  Gesänge  der  Chöre,  die  dreistimmigen  und  die  fünfstimmigen 
gleicherweise.     Trotz   des  schlichten   Grundtons   dieser   Gebetsweisen 

o 

hat  Gagliano  in  den  fünf  stimmigen  Satz  doch  einen  ziemlich 
grellen  Akzent  hineinzumischen  gewußt,  welcher  auf  einer  geschick- 
ten und  kühnen  Benutzung  einer  querständigen  Vorhaltsharmonie 
beruht: 


^mm 


t=^ 


w 


O-di  il     pi  -  an-to  e  pre-  ghi         no  -  stri 


9^- 


:JL_^ 


--^ 


?^ 


\ 1- 


Im  Wesentlichen  zeigt  auch  diese  Szene  wieder,  wieviel  die  junge 
Oper  der  Madrigalkomposition  verdankt. 

In  der  nächsten  Szene,  der  Szene,  wo  Apollo  mit  dem  Drachen 
kämpft,  ist  der  Chor  in  einer  neuen,  bisher  nicht  vorgekommenen 
Weise  behandelt.  Wir  haben  in  derselben  einen  Versuch  zu  einem 
sogenannten  dramatischen  Chor  vor  uns.  Die  Chöre  äußern  im  leb- 
haften Rhythmus,  von  Schritt  zu  Schritt  mit  neuen  Motiven  und 
Themen  einsetzend,  ihre  lebhafte  Teilnahme  an  jeder  einzelnen  Wen- 
dung des  szenischen  Vorganges.  Sie  schreien  auf,  als  der  Drache 
hervorbricht,  im  nächsten  Augenblick  begrüßen  sie  das  Erscheinen 
des  Apollo  mit  hellem  Jubel:  sie  bitten  zum  Himmel,  sie  begleiten 
jeden  Stoß  des  Gottes  und  jede  Bewegung  des  Ungeheuers  mit  leb- 
haften und  bezeichnenden  Wendungen  im  Gesang.  Das  ganze  Bild 
das  möglicherweise  auf  Monteverdis  » Combattimento «  eingewirkt  hat, 
äußert  einen  stark  realistischen  Zug  in  seinen  kurzen,  abgerissenen 
Sätzen  und  seinem  Nebeneinander  entgegengesetzter  Stimmungen.  Um 
die  Spannung  zu  erhöhen,  mischt  Gagliano  zwischen  den  Gesang  auch 
kleine,  immer  nur  wenige  Viertel  dauernde  Gänge  zweier  Violinen 
(mit  Baß).  Auch  in  dieser  ganz  und  gar  dramatisch  durchgeführten 
Chorszene  wird  am  Eingang  der  bekannte  Echoeffekt,  welcher  in  den 
Solostücken  dieser  Oper  reichlich  verbraucht  wird,  zur  Anwendung 
gebracht. 

Ein  besonderes  Interesse  besitzt  Gaglianos  Vorrede  zur  » Dafne <^ 
Aus  ihren  geschichtlichen  Notizen  ersehen  wir  von  neuem  bestätigt, 
daß  Peris  »Euridice«  in  Italien  den  wichtigsten  Anstoß  zur  Ein- 
führung des  Musikdramas  gegeben  hat,  aber  auch  Monteverdis  »Orfeo« 
ist  darin  schon  erwähnt.  Das  Eigene  dieser  Vorrede  besteht  aber 
in  den  genauen  Vorschriften,  welche  Gagliano  in  betreff  der  Über- 
einstimmung von  Spiel  und  Musik  aufstellt.  Er  geht  bis  in  die 
kleinsten  Einzelheiten    von    Gestikulation   und   Gefühlsausdruck   und 


70  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

schreibt  dem  Sänger  selbst  die  Zahl  der  Schritte  vor,  welche  auf 
die  einzelnen  Ritornelle  der  Kampf szene  kommen  sollen.  Vom  Drachen 
wird  verlangt,  daß  er  sich  vierfüßig  vorwärts  bewegt  und  Feuer  speit, 
den  Apollo  soll  während  des  Gefechts  auf  der  Szene  ein  zweiter  Dar- 
steller vertreten,   damit  sich  der  Sänger  nicht  erhitzt. 

Von  den  Opern  der  nächsten  Jahre  ist,  soweit  bis  jetzt  bekannt, 
nichts  erhalten.  Unter  den  dem  Anscheine  nach  verlorenen  Werken 
dieser  Zeit  ist  die  »Andromeda«  des  Hieronymo  Giacobbi,  des 
Domkapellmeisters  von  Bologna,  hervorzuheben.  Eine  Arie  aus  dieser 
Oper,  die  an  der  Stelle  stand,  wo  Perseus  das  Seeungetüm,  das  die 
Andromeda  verschlingen  soll,  mit  den  Worten  anruft:  »lo  ti  sfido,  o 
mostro  infame«,  war  lange  Zeit  durch  ganz  Italien  berühmt. 

Die  Opern,  welche  uns  von  1625  ab  wieder  vorliegen,  zeigen, 
daß  die  dramatische  Musik  in  der  zwischenliegenden  Zeit  sich  fort- 
schreitend entwickelt  hatte.  Wir  bemerken  eine  Bereicherung  der 
Formen  und  auch  des  Ausdrucksvermögens.  Eine  bedeutende  Wand- 
lung hat  namentlich  der  Prolog  erfahren :  er  ist  dramatisiert  worden 
und  erscheint  jetzt  in  Form  eines  bewegten  Theaterstückes,  welches 
zuweilen  in  mehrere  Szenen  zerfällt  und  an  dessen  Ausführung  in 
der .  Regel  auch  die  Chöre  beteiligt  sind.  In  der  Musik  des  Prologs 
wie  der  eigentlichen  Handlung  hat  sich  eine  Scheidung  vollzogen: 
die  geschlossenen  Nummern  heben  sich  scharf  aus  dem  erzählenden 
und  geschäftlichen  Teile  des  Dialogs  ab.  Bereits  in  Mazzocchis 
»La  catena  d'Adone«,  welche  im  Jahre  1626  (Venedig  bei  Aless. 
Vincenti)  gedruckt  wurde,  sind  die  »Arien«  unter  diesem  Namen  auf 
dem  Schlußblatte  des  Bandes  zusammengestellt.  Die  Bemerkung,  daß 
das  Werk  außer  den  an  dieser  Stelle  angeführten  Arien,  unter  denen 
auch  die  Chorsätze  mit  inbegriffen  sind,  noch  mehrere  Arien  unter- 
halte, welche  die  Langeweile  des  Rezitativs  (che  rompono  il  tedio 
del  recitativo)  unterbrechen,  berechtigt  uns  zu  dem  Schlüsse,  daß 
man  den  Rezitativstil,  der  in  den  Opern  bis  dahin  geherrscht  hatte, 
als  einen  mangelhaften  betrachtete.  Die  Ideen,  nach  denen  Peri  zu- 
erst komponierte,  sind  aufgegeben,  der  genaue  Anschluß  an  das  Wort 
und  das  Metrum  des  Gedichtes  gilt  mit  Recht  als  für  die  poetische 
Wirkung  im  musikalischen  Drama  unwesentlich,  aber  man  geht  weiter: 
man  erklärt  den  vor  einem  Menschenalter  so  bewunderten  stilo  reci- 
tativo oder  rappresentativo  für  langweilig.  Das  will  der  >  tedio  del 
recitativo«  sagen  und  das  ist  die  bedenkliche  Wendung  in  der  Ent- 
wicklung. Der  tedio  del  recitativo  haust  von  jetzt  ab  bis  auf  die 
Gegenwart  als  der  böse  Geist  in  der  Geschichte  der  Oper,  die  Ver- 
nachlässigung des  Rezitativs  wird  das  Kennzeichen  der  schlechten 
Zeiten  und  der  schlechten  Komponisten.  In  Rom,  wo  jetzt  für 
längere  Zeit  die  Oper  ihren  Hauptsitz  hat,  verlegt  die  Mehrzahl  der 
Komponisten,  und  auf  ihre  Veranlassung  der  Dichter,  den  Schwer- 
punkt der  Erfindung  immer  mehr  auf  die  Ensemble-  und  Chor- 
szenen.    In  derartigen  Szenen  kamen  sie  der  Meisterschaft  zuweilen 


Der  »tedio  del  recitativo«  71 

nahe  und  hinterließen  Leistungen,  deren  gewaltiger  äußerer  Eindruck 
von  niemandem  in  Abrede  gestellt  werden  kann.  Die  Musiker  be- 
schränkten sich  in  diesen  Chorsätzen  nicht  länger  auf  den  einfachen 
Madrigalenstil,  sondern  sie  erinnerten  sich,  wie  es  Monteverdi  getan, 
wieder  der  bewährten  Methoden  und  Hilfsmittel  aus  der  Epoche  des 
Kontrapunktes  und  verschmolzen  sie  mit  den  neuen  Erscheinungen, 
welche  durch  den  Sologesang  und  durch  die  letzte  Entwicklung  der 
Instrumentalmusik  ins  Leben  gerufen  worden  waren.  Verbindung  von 
Mannigfaltigkeit  der  Form  und  Einheitlichkeit  des  Charakters  ist  der 
Hauptvorzug  jener  Chorszenen,  die  uns  als  das  Beste  in  den  neuen 
Opern  nach  1625  entgegentreten.  Aus  einem  und  demselben  Grund- 
thema sind,  haushälterisch  und  reizvoll  zugleich,  die  großen  Gruppen 
abgeleitet,  in  welchen  sich  Menschenstimmen  und  Instrumente,  die 
großen  und  kleinen  Chöre  und  die  einzelnen  Darsteller  ablösen.  Aber 
während  dieser  bedeutenden  Ausbildung  der  großen  Chor-  und  En- 
sembleszenen ruhte  die  weitere  Entwicklung  der  Monodie  auch  nicht. 
Ging  sie  auch  auf  dem  Hauptwege  selbständig,  abseits  von  der  Oper, 
auf  dem  Gebiete  der  Haus-  und  Kammermusik  vor  sich,  so  sind  die 
Opern  darum  nicht  arm  an  gehaltvollen  und  schönen  Sologesängen. 
Das  erste  Werk  aus  diesem  neuen  Abschnitte  der  Choroper  ist  »La 
liberazione  di  Ruggiero  dall'  isola  d'Alcina«  von  Francesca 
Caccini,  der  talentreichen,  wie  ihre  Schwester  Maria  Caccini  nament- 
lich als  Sängerin  gefeierten  Tochter  des  Verfassers  der  »NuoveMusiche«. 
Der  Dichter  des  sehr  unbedeutenden,  in  Chiabreraschem  Sinne  auf 
Ballettkünste  angelegten  Stückes  —  es  wurde  am  Großherzoglichen 
Hofe  zu  Florenz  im  Jahre  1625  während  des  Besuches  des  Königs 
Ladislaus  Sigismund  von  Polen  ^  aufgeführt  und  im  Jahre  1628  ge- 
druckt (Florenz,  bei  Pietro  Cecconelli)  —  ist  Ferdinando  Saracinelli 
(Bali  di  Volterra).  Dem  hohen  Besuche  zu  Ehren  tritt  im  Prologe 
neben  dem  Nettuno  als  zweite  Person  die  Vistola  Fiume  (der  Fluß 
Weichsel)  auf.  Chöre  der  Numi  dell'  acque,  der  Wassergeister,  be- 
gleiten den  Neptun  und  die  Weichsel.  Die  musikalische  Form  teilt 
sich  zwischen  Rezitativ,  Sologesängen,  Duetten  und  Chören.  Eine  ma- 
drigalisch muntere  und  flotte  und  als  die  erste  ihrer  Art  dreisätzig 
gehaltene  Ouvertüre  geht  dem  Prologe  voran;  eine  zweite  Sinfonia 
schließt  ihn.  In  der  Form  dieser  Eröffnungsouvertüre  kann  man  die 
Vermittlung  zwischen  der  Gabrielischen  Sonate  und  der  späteren  Sin- 
fonia Scarlattis  erblicken.  Ein  lang  ausgeführter  Viervierteltakt  bildet 
den  Anfang,  in  der  Mitte  steht  ein  anmutiger  Tanzsatz  im  Dreiviertel- 
takt, den  Schluß  bildet  ein  nur  vier  Takte  betragender  Anhang  im 
Viervierteltakt.  In  der  Oper  selbst  sind  die  Hauptstellen  durch  Chöre 
markiert.    Alcina  und  Ruggiero,  das  Liebespaar,  treten  in  Gesellschaft 


1  Nach  All a CG is  Dramaturgia  führten  bei  derselben  Gelegenheit  der 
Herzog  Karl  von  Toskana  und  seine  Kavaliere  eine  sogenannte  »Barriera'^ 
auf,  die  den  Titel  »La  prudenza  delle  donne«  trug. 


72  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

eines  Chores  von  Damigelle,  jungen  Hofdamen,  auf.  Den  freundlichen 
Weisen  dieser  Kreise  wird  später  in  einem  Chor  von  »Mostri  di  Cru- 
delta«,  von  Geistern  der  Grausamkeit,  ein  Gegensatz  geboten;  den 
Schluß  des  Werkes  bilden  Tanzszenen,  von  Chören  durchflochten.  Der 
Charakter  der  »Liberazione«  als  Prunk-  und  Zauberstück  tritt  in 
diesem  Schlußteile  besonders  deutlich  hervor.  Die  Damen,  welche  bis 
dahin  im  Garten  als  Ziergewächse  festgehalten  waren,  bitten  um  Er- 
lösung der  gefangenen  Ritter  und  vereinigen  sich  mit  ihnen  zu  groß- 
artigen Ballettouren  zu  Fuß  und  zu  Pferde.  Am  Schlüsse  der  Par- 
titur stehen  die  Namen  der  Damen  und  Herren  vom  Florentiner  Hofe, 
welche  diese  Szenen,  diesen  Ballo  nobilissimo,  wie  er  genannt  wird, 
ausführten.  Eine  anschauliche  Illustration  aus  dem  Hofleben  des 
17.  Jahrhunderts!  Sie  gilt  für  einzelne  Residenzen  und  ihre  Oper,  z.  B. 
für  Wien,  auch  noch  auf  die  nächsten  hundert  Jahre  und  länger. 
Auch  mit  einer  anderen  Erscheinung,  dem  Motive  der  Verkleidung 
Melissas,  ist  die   »Liberazione«  für  die  spätere  Oper  vorbildlich. 

In  den  Sologesängen  des  Werkes  ist  Neues  kaum  zu  bemerken.  Wir 
begegnen  in  ihnen  vielerlei  Schablonenarbeit  mit  Koloraturen  und 
Echos.  Aber  auch  mancher  guten  musikalischen  Idee.  Eine  Stelle, 
es  ist  die  wo  Ruggiero  mit  dem  Ausrufe  »0  miserabil  vita«  sich 
der  schmählichen  Fesseln  bewußt  wird,  welche  Alcina  um  ihn  ge- 
schlungen, ist  interessant  durch  ein  Ritornell,  welches  in  der  Instru- 
mentierung (4  Violen,  4  Posaunen)  den  Einfluß  Monteverdis  zeigt. 
Ein  Liebeslied  eines  vorüberziehenden  Hirten:  »Per  la  piü  vaga«  wird 
eingeleitet  durch  ein  Vorspiel  von  drei  Flöten.  Also  nochmals, 
wie  bei  Peri  und  Cavaliere,  griechische  Spuren!  Es  gehört  gleich- 
zeitig zu  denjenigen  Nummern  der  Oper,  welche  durch  ihren  ein- 
fachen Ausdruck  fesseln.  Das  bedeutendste  Stück  dieser  Gattung  ist 
jedoch  am  Anfang  des  Werkes  das  Liebesgespräch  Ruggieros  und  Al- 
cinas,  eine  Versöhnungsszene,  in  welcher  namentlich  Ruggiero  in 
seinem  Sätzchen: 


^EeEö: 


=i^ 


^zziiv 


t^f^rp 


^ 


-^  ^ 


Cor  mio      per  tua  bei  -  le  -  za       an  -  de  -  ro  men-tre  vi  -  vo. 

rührend  herzliche  Töne  anschlägt. 

Bedeutender  als  die  >Liberazione«  ist  Domenico  Mazzocchis 
bereits  erwähnte  »La  catena  d'Adone«.  In  der  an  Odoardo  Farnese, 
den  Herzog  von  Parma,  gerichteten  Widmfing  wird  mitgeteilt,  daß 
die  Oper  in  Rom  »da  eccellentissimi  cantori«  aufgeführt  worden 
sei,  aber  nicht  in  welchem  Hause  und  zu  welcher  Zeit.  Auch  »La  ca- 
tena« gehört  unter  die  Zauberstücke.  Die  Quelle,  nach  welcher  es  der 
Dichter  Ottavio  Troncaschi  verfertigt,  ist  »La  prigione  d'Adone*,  ein 
Bruchstück  aus  dem  großen  Epos  »Adone«  von  Giambattista  Marino. 
Die  Circe  des  Stückes  heißt  Falsirena,  Venus  befreit  den  Jüngling  aus 
deren  Banden.     Die  Handlung  ist  ganz  und    gar   das  Produkt  einer 


Domenico  Mazzocchis  »La  Catena  d'Adone«  73 

verliebten  und  abenteuerlichen  Fantasie,  wie  sie  in  den  Opern  Chia- 
brerascher  Richtung  zu  herrschen  pflegt.  Am  Schlüsse  erst  hat  man 
ihr  das  moralische  Mäntelchen  umgehängt,  welches  das  Theater  in 
Rom  zu  tragen  pflegte.  Es  folgt  nämlich  der  Oper  eine  Art  Epilog, 
Allegoria  della  favola  genannt.  Nach  diesem  bedeutet  Falsirena  die 
menschliche  Seele,  Idonia,  die  schlechte  Beraterin,  repräsentiert  die 
Concupiscenza,  die  Wollust  und  Sinnlichkeit,  Arsete  ist  der  Vertreter 
der  Ragione,  der  Vernunft.  Vielleicht  war  dieser  allegorische  Anhang 
die  Bedingung  für  die  Druckerlaubnis.  Denn  die  Operntexte  standen 
von  Anfang  an  unter  Zensur  und  tragen  alle  den  Vermerk  con  licenza 
dei  superiori.  Ja  vom  Jahre  1640  ab  pflegen  sich  die  Dichter  in 
der  Vorrede  zu  entschuldigen,  wenn  sie  die  heidnischen  Götter  in  den 
Stücken  verwenden,  und  ausdrücklich  ihre  Festigkeit  im  christlichen 
Grlauben  zu  betonen.  Im  Prolog  der  »Catena«  scheint  Troncaschi 
von  dem  höheren  und  frommen  Sinn,  welcher  seinem  Drama  zugrunde 
lag,  noch  nichts  geahnt  zu  haben,  denn  hier  führt  er  uns  ein  mytho- 
logisches Motiv,  die  Feindschaft  zwischen  Apoll  und  Venus,  als  die 
treibende  Kraft  seiner  Handlung,  vor.  Das  Stück  wirkt  nicht  durch 
Ideen,  sondern  durch  das  äußere  Gewand,  durch  reiche  Dekoration 
und  fesselnde  Szenerien.  Im  Prolog  verwandelt  sich  die  Bühne  mit 
einem  Male  aus  einem  grünen  Hain  in  die  Grotte  des  Vulkan,  wir 
erblicken  die  Scharen  der  Zyklopen  bei  der  Arbeit.  Im  ersten  Akt 
wird  der  dunkle  Wald  der  Zauberin,  sobald  sich  Adone  naht,  zum 
blühenden  Garten.  Der  dritte  Akt  hat  eine  geteilte  Szene:  im  Vorder- 
grund weilt  Falsirena  klagend,  draußen  im  Garten  feiern  die  Chöre 
mit  lebhaftem  Gesang  ein  Fest.  Die  Musik  hebt  und  unterstützt  die 
Gebilde  des  Dichters  und  bietet  selbst  in  den  durchschnittlich  nach 
dem  üblichen  Schema  geformten,  mit  Echos  und  Variationen  ver- 
sehenen Solopartien  einzelne  bedeutsame  Züge.  Der  weiblichen  Haupt- 
figur der  Oper,  der  Falsirena,  hat  Mazzocchi  eine  edlere  Seele  ein- 
gehaucht. Beim  Dichter  erscheint  sie  vorwiegend  als  Kokette,  der 
Komponist  gibt  ihr  in  langen  Tönen  Empfindungen  der  Sehnsucht 
und  des  Herzens;  in  erregten  Gängen  versucht  er  Äußerungen  leben- 
diger Leidenschaft.  Auch  im  Rezitativ  kommen  solche  Wendungen 
vor;  sehr  eindrucksvoll  ist  unter  ihnen  die  Stelle,  wo  Falsirena  mit 
den  Worten  »Deh,  piü  non  spirar  voglio«  von  dem  nichtssagenden 
Geplauder  der  Gefährtinnen  sich  abwendet.  Das  Hauptgewicht  liegt 
aber  in  den  Chören  und  Chorszenen.  Im  Ausdruck  meist  zutreffend, 
interessieren  sie  uns  besonders  durch  ihre  Anlage,  die  in  der  Kunst 
mit  der  Breite  der  Form  die  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen  Glie- 
der zu  verbinden,  über  Agazzari  und  zuweilen  über  Monte verdi  hinaus- 
geht. Es  liegt  allen  Sätzen,  welche  die  Szene  bilden,  dasselbe  Haupt- 
thema zugrunde,  oder  wenn  andere  freie  Gedanken  dazwischen  treten, 
kehrt  es  an  den  entscheidenden  Stellen  doch  wieder  und  bildet  den 
festen  Punkt,  um  welchen  sich  die  musikalische  Form  der  Szene  be- 
wegt.    Die  Schlußszene  des  ersten  Aktes  bildet  ein    hervorragendes 


74 


Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


Beispiel    dieses  Stiles.     Ihr  musikalischer  Mittelpunkt  ist  ein  sechs- 
stimmiger Chor  über  das  Thema 


Mi-  ra,     mi  -  ra     gio-jo-  so     del  -  la   fon-te    l'a-spet     -     to 

aufgebaut.  Die  Zwischensätze  bestehen  aus  einem  Ballo,  einem  madri- 
galischen Satz  im  Dreihalbetakt,  den  einmal  die  Frauenstimmen,  später 
auch  Soli  ausführen.     Sein  einfaches  Thema 


^EE£ 


^ 


Qui    fon  -  te       sor  -  ge      al        He  -  to       se  -  ren 

wird  durch  prächtige,  lebendige  Arbeit,  reizende  Nachahmungen  im 
dreistimmigen  Satze  über  den  bloßen  Tanzcbarakter  hinausgehoben. 
Noch  imposanter  ist  die  dritte  Szene  des  zweiten  Aktes,  in  der  das 
Fest  des  Amors  gefeiert  wird.  Eine  Instrumentalsinfonie  eröffnet.  Ihr 
Hauptthema 


^ 


'^^=f=F-^ 


wird  in  den  zwei  folgenden  Sätzen  erst  als  Frauen chor,  dann  als 
Männerchor  weitergeführt.  Hierauf  folgt  eine  zweite  Sinfonie  (in 
C-Takt),  die  nach  einem  Rezitativ  wieder  zu  Chören,  erst  der  Nymphen, 
dann  der  Hirten,  benutzt  wird.  Die  Festszene  schließt  mit  einem 
dritten  Teil,  der  aus  Duett  (Idona  und  Oraspe)  und  sechsstimmigem 
Chor  besteht.  Thematisch  sind  auch  diese  beiden  Sätze  gleich.  Die 
Arbeit  ist  kunstvoll  entworfen  und  durch  den  Wechsel  der  Chorgruppen 
reich  an  Klangwirkungen.  Die  Dynamik  frappiert  durch  das  scharfe 
taktische  Ablösen  von  piano,  forte  und  pianissimo.  Solche  schroffe 
riegensätze  der  Stärkegrade  wurden  bald  beliebt,  die  Ouvertüren  der 
nächsten  Zeit  zeigen  sie  ebenfalls,  z.B.  die  zu  Landis  »Alessio«.  Auch 
der  Prolog  hat  einen  gut  erdachten  Chor,  und  zwar  für  Männerstimmen, 
den  die  Zyklopen  bei  der  Arbeit  singen.  Dem  Hauptteil  desselben 
liegt  die  folgende  Melodie 


m 


■42— (2. 


-a- 


4=4: 


3: 


3 


Le    sa  -  et  -  te  sovr'  i      re 


son   ven  -  det  -  te    de  -  gli  De 


i 


son    ven -det  -  te      de  -  gli    De  -  i 

unter.     Ihr  flotter,   lustiger   Grundton   erhält   durch    den   hinkenden 
Rhythmus  eine  sehr  eigne  Färbung.     In  der  Mitte   brechen  die  ge- 


Marc'  Antonio  Gaglianos  >La  Flora«  75 

plagten  Schmiede  in  eine  grandiose  Klage  aus.    Wie  schwere  Steine 
fallen  in  ihre  muntere  Musik  die  breiten  Noten  des  Motivs: 


hinein. 


Ma    tra      no  -  i 


Ein  ähnlicher  Zyklopenchor  machte  fünfzig  Jahre  später  Antonio 
Draghis  »Fuoco  eterno  custodito  delle  Vestali«(Wien  1674)  berühmt, 
eins  der  ersten  Musikdramen,  welchem  der  Stoff  der  »Vestalin«  zu- 
grunde liegt. 

M.  A.  Gaglianos  »La  Flora«  ist  unter  den  aus  dem  nächsten 
Jahrzehnt  vorhandenen  Opern  diejenige,  welche  Mazzocchis  »Catena« 
an  musikalischem  Werte  gleichsteht.  Ja,  sie  übertrifit  sie  in  einzelnen 
Punkten.  Gagliano,  der  Komponist  der  »Dafne«,  schrieb  die  »Flora« 
für  die  Hochzeitsfeierlichkeiten  bei  der  Vermählung  des  Herzogs 
Odoardo  von  Parma  mit  Margarete  von  Toskana.  Damen  und  Herren 
der  Hofgesellschaft  wirkten  in  den  fünf  Balletts  der  Tritonen  und 
Nereiden,  der  Satyrn  und  Waldgötter,  der  Liebesgötter,  der  Wetter- 
und Sturmgeister  und  der  Luftgeister  zusammen,  welche  den  Schluß 
der  Akte  bildeten.  Im  Jahre  1628  wurde  das  Werk  gedruckt.  Die 
Dichtung  der  »Flora«,  welche  von  dem  um  das  Florentiner  The- 
ater verdienten  Andrea  Salvadori  herrührt,  dramatisiert  ein  Stück 
Naturleben:  das  Erwachen  des  Frühlings.  Jupiter  befiehlt,  daß  die 
Erde  auch  ihre  Sterne  haben  soll.  Die  Blumen  sollen  diese  Sterne 
sein,  hervorgegangen  aus  der  Ehe  zwischen  Zephir  und  Clori.  Die 
Kämpfe,  welche  dem  Einzug  des  Lenzes  und  seiner  Blütenpracht  vor- 
hergehen, werden  nun  von  Salvadori  auf  die  Feindseligkeiten  und 
Eifersucht  der  Götter  untereinander  zurückgeführt.  Die  Liebesintrige 
wurde  bald  das  ausschließliche  Motiv  aller  dramatischen  Entwicklung 
in  der  Oper.  Li  unserer  »Flora«  wirkt  Venus  für  den  Liebesbund 
zwischen  Zephir  und  Cloris,  Amor  entzweit  das  Paar.  Er  führt  die 
Gelosia,  die  Göttin  der  Eifersucht  herein,  die  das  Land  zur  Wüste 
macht.  Schließlich  erfolgt  doch  die  Aussöhnung.  Mit  Lobgesängen 
auf  den  Frühling,  insbesondere  auf  den  Frühling  in  Parma  und  Florenz 
klingt  die  Oper  aus.  Die  Musik  bewegt  sich  zum  Teil  noch  in  den 
alten  Formen,  ihr  Prolog  ist  der  ehemalige  einfache  Liederprolog: 
Verse  nach  derselben  Melodie.  Sie  bringt  aber  auch  Neues:  ein  leicht 
dahinfließendes  Rezitativ.  Die  fortwährenden  Kadenzen  sind  verschwun- 
den, nur  eine  gewisse  Härte  in  den  Modulationen  unterscheidet  es 
von  dem  späteren  Stile.  Wo  nach  Scarlatti  die  Harmonien  im  Domi- 
nantverhältnis stehen  würden:  g—c  oder  g—d,  kadenziert  Gagliano  in 
Nachbardreiklängen  g—fnnd  ähnlichen.  Im  Ausdrucke  ist  namentlich 
die  Rezitativstelle  der  zweiten  Szene  des  ersten  Aktes  beachtenswert, 
wo  Pan  zu  zürnen  und  zu  trotzen  beginnt.  Wie  Gagliano  in  der 
Kampfszene  der  »Dafne«  Chöre  erfand,  die  dramatische  Natur  be- 
sitzen, so  gibt  er  auch  hier  namentlich  dem  Doppelchor  der  Nereiden 


76  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 


und  Nixen  am  Schlüsse  des  vierten  Aktes  »Lagrimiam  sospiriamo« 
und  dem  kurzen  französisch  anklingenden  Chor  der  Stürme  im  fünften 
Akt  »Partiam«  sehr  wirksame  Töne.  Die  beachtenswerteste  Erschei- 
nung der  »Flora«  liegt  aber  in  dem  Entwürfe  der  Form  für  die 
beiden  ersten  Szenen  des  ersten  Aktes,  Chorszenen,  welche  in  fünf- 
und  dreistimmigen  Sätzen  in  der  aus  Mazzocchis  »Catena«,  aus  Gag- 
lianos  eigener  »Dafne«  bekannten  Weise  dasselbe  Grundthema  durch- 
führen. Nur  wenige  Rezitative  treten  dazwischen.  Neu  ist  aber,  daß 
der  Hauptsatz  der  ersten  Szene,  der  kräftige  Hauptchor: 


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Bel-la   Divaal  tuo  ri-torno,  ri    - 


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de  11  gior-no 


—  er  wechselt  hier  mit  einem  elegisch  anmutigen  Madrigalensatz  über 


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Di-ve   de     mon-te    di   -    ve  del     fon-te 

in  der  zweiten  Szene  wiederkehrt  und  den  Abschluß  des  Aktes  bildet. 

Die  Partie  der  Clori  ist  nicht  von  Gagliano,  sondern  von  Jacopo 
Peri  komponiert.  In  der  Vorrede  wird  dies  mitgeteilt,  und  über  jeder 
Arie  —  das  Wort  ist  für  die  Sätze  ausdrücklich  gebraucht  —  steht 
ein  J.  P.  Wir  können  diese  Arbeit  Peris  als  ein  klassisches  Zeugnis 
für  den  Fortschritt  betrachten,  welcher  sich  in  den  28  Jahren^  seit 
der  »Euridice«  vollzogen  hatte.  Formell  bekundet  er  sich  in  einem 
musikalisch  selbständigen  Melodiebau,  Peri  hat  mit  dem  deklamieren- 
den Prinzip,  mit  dem  sklavischen  Anschluß  der  Tonreihen  ans  dich- 
terische Metrum  gebrochen,  der  Gesang  strömt  frei  auf  den  Wellen 
der  Empfindung  dahin  und  nimmt  nicht  mehr  die  Länge  und  Kürze 
der  Silben,  die  Deutlichkeit  der  Reime,  sondern  den  richtigen  Aus- 
druck der  im  Gedicht  lebenden  Ideen  zum  Ziele.  Die  erste  dieser 
Clori-Arien  mag  mit  ihren  Anfangsperioden  eine  Probe  dieses  neuen 
Stiles  im  Sologesang  geben: 


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te     pu    -    re      val    - 


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li    di    Za    - 


ffi  -  ro 


Marc'  Antonio  Gaglianos  »La  flora< 


77 


Die  anderen  drei  Opern,  welche  der  Zeit  nach  der  Gaglianoschen 
> Flora«  nahestehen,  nehmen  eine  künstlerisch  geringere  Stufe  ein.  Es 
sind  »Erminia  sul  Giordano«  des  Michelangelo  Rossi,  der 
»Alessio«  des  Stefano  Landi  und  die  »Galatea«  des  Vittori 
Loreto. 

Das  letztgenannte  Werk,  die  »Galatea«,  gedruckt  im  Jahre  1639 
zu  Rom  und  dem  Kardinal  Barberini  gewidmet,  rührt  in  Text  und 
Musik  von  demselben  Künstler  her.  Noch  berühmter  als  in  der  Kom- 
position und  Poesie  war  Vittori  Loreto  (da  Spoleto)  in  seiner  Eigen- 
schaft als  Sänger.  Die  Musik  ist  in  den  bescheidensten  Formen  der 
Anfangszeit  der  Oper  gehalten,  im  Rezitativ,  in  den  Sologesängen,  in 
den  Duetten  und  Chören  wenig  bedeutend.  Die  Arien  sind  strophisch 
variierende  Lieder,  die  Chöre  meist  knapp.  Als  mehr  hervortretend 
lassen  sich  die  Szene  des  Polifem  im  dritten  Akt  und  die  Szene  im 
vierten  Akte  bezeichnen,  in  welcher  der  Chor  den  Tod  des  Aci  be- 
klagt: »Mira  te  habitator  di  questi  boschi«.  Das  ist  ein  durch  die 
Gruppierung  der  Stimmen  sehr  belebter,  durch  die  Natürlichkeit  des 
Ausdruckes  gewinnender  Satz.  In  der  Auffassung  wirkt  der  Über- 
gang aus  ruhig  dahinsprechender  Deklamation  in  eifrige  Erregung 
und  leidenschaftliche  Wiedergabe  des  Schmerzes  am  meisten.  Der 
»Alessio«  des  Stefano  Landi  interessiert  uns  vornehmlich  dadurch, 
daß  in  ihm  zum  ersten  Male  das  komische  Element  auftritt,  wel- 
ches später  im  venetianischen  Musikdrama  einen  sehr  breiten  Platz 
emzunehmen  bestimmt  war.  Mitten  unter  die  Kavaliere  und  Alle- 
gorien des  Gedichtes  drängt  sich  ein  Dienerpaar,  mit  seinen  Gemein- 
plätzen, seinen  Spaßen  und  Gassenhauern.  Letztere  erscheinen  in 
dem  Auftrittsduett  der  beijjen  Gesellen  Martio  und  Curtio  bereits  in 
einer  sehr  fertigen  Gestalt: 


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Po  -  ca       VC  -  glia    di     far      be  -  ne,      vi  -  ver      lie  -  to,  andar    a 


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spasso,   fres-coe       gras- so  mi  man  -  tie -ne. 


Eine  zweite  uns  erstmalig  begegnende  Erscheinung,  welche  in  der 
künftigen  Zeit  Bedeutung  gewann,  ist  die,  daß  eine  männliche  Haupt- 
partie, die  des  Alessio  selbst  durch  einen  Soprankastraten  besetzt  ist. 
Diese  sogenannten  Kastraten,  erwachsene  Männer,  die  durch  eine  in 
der  Kinderzeit  vorgenommene  Operation  an  der  Mutation  der  Stimme 
verhindert  wurden  und  nun  aus  voller  breiter  Brust  Sopran-  und  Alt- 
partien vortrugen,  nahmen  schon  seit  Alters  in  den  Kirchenchören 
hervorragende  Stellungen  ein.  Ihre  Glanzzeit  erlebten  sie  aber  erst 
in  der  Oper,  namentlich  der  des  18.  Jahrhunderts,  wo  ihnen  mit  Vor- 
liebe die  Helden-  und  andere  Hauptpartien  übertragen  wurden.     Auch 


78  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

Griuck  schrieb  seinen  »Orfeo«  für  einen  Kastraten.  Die  Auftritts- 
szene des  Alessio  zeichnet  sich  durch  den  Ton  überlegener  Heiterkeit, 
mit  welcher  die  in  der  Mitte  der  Szene  stehende  Arie  »Se  l'aure  vo- 
lano«  (Dreivierteltakt)  beginnt,  aus.  Diese  Arie  ist  in  der  Partitur 
»Arietta«  genannt.  Die  Dämonen  des  Stückes  singen  als  Männer- 
chöre. Der  »Alessio«  ist  auch  die  erste  Oper  nach  der  »Liberazione«, 
die  mit  einer  größeren  Ouvertüre  beginnt.  Sie  ist  wie  die  der  Li- 
berazione der  Giulia  Caccini  dreisätzig. 

Die  Oper,  zu  Ehren  der  Anwesenheit  Karl  Alexanders  von  Polen 
beiBarberini  aufgeführt  und  1634  (Rom,  P.  Masotti)  gedruckt,  scheint 
sich  verbreitet  zu  haben.     Wir  finden  sie  in  Bologna. 

Die  »Erminia«  des  Michelangelo  Rossi^  knüpft  ebenfalls  an 
die  oben  genannte  Liberazione  dadurch  an,  daß  ihre  Handlung  auf 
der  Verkleidung  der  Hauptperson  aufgebaut  ist.  Mit  ihr  beginnt 
eine  starke  Familie  von  Verkleidungsopern,  deren  Konflikte  sich 
daraus  entwickeln,  daß  der  Held  lange  Zeit  unerkannt  bleibt:  so  er- 
scheint Erminia  erst  als  Soldat,  dann  als  Hirt.  Die  musikalische  An- 
lage der  Oper  folgt  den  frühesten  Mustern.  Unter  ihren  Chören  zeich- 
nen sich  die  der  Furien  aus,  welche  das  Gefolge  der  Armida  bilden. 
Der  Komponist  gibt  ihren  heiteren  Weisen  fremdartig  dunkle  Ab- 
schlüsse. Auch  die  Ouvertüre  hat  einen  abweichenden  Charakter. 
Nach  drei  feierlichen  Takten  Einleitung  setzt  ein  unruhig  flottes 
Thema  ein 


welches  in  Engführungen  nachgeahmt  wird.  Der  gewöhnliche  Ouver- 
türenstil der  ersten  Periode  stellt  an  diesen  Platz  einen  gleichmäßig 
ruhigen  Satz. 

Nach  dem  Jahre  1640  sind  in  Italien  nur  noch  wenige  Opern- 
partituren gedruckt  worden.  Es  entstanden  so  viel  neue  Werke,  daß 
das  Interesse  an  einem  einzelnen,  auch  wenn  es  sehr  bedeutend  war, 
nicht  lange  haftete;  zweitens  paßten  sich  die  Komponisten  enger  und 
enger  der  Eigentümlichkeit  bestimmter  Sänger  an.  Eine  unter  den 
wenigen  gedruckten  Choropern  aus  dieser  späteren  Zeit  ist  erhalten. 
Es  ist  Marco  Marazzolis  »La  vita  humana«.  Der  Nebentitel  heißt 
»II  trionfo  della  pietä«.  Sie  erschien  im  Jahre  1658  bei  Mascardi  in 
Rom  in  einem  außerordentlich  stattlichen  Bande,  dem  mehrere  schöne, 
interessante  Kupferstiche,  Ansichten  aus  der  Stadt,  Genrebilder  aus 
dem  römischen  Volksleben  jener  Zeit  beigegeben  sind.  Die  Oper, 
welche  in  dem  Jahre  der  Drucklegung  selbst  im  Palazzo  Barberini  auf- 
geführt wurde,  ist  der  Königin  Christine  von  Schweden  gewidmet, 
deren  Name  eine  Zeitlang  mit  der  Geschichte  des  Musikdramas  in  Rom 


1  1637  in  Rom  gedruckt,  nach  Fetis  schon  1625  aufgeführt  beiBarberini. 


Marco  Marazzolis  »La  vita  humana«  79 

verknüpft  ist.  In  der  »Vita  humana«  hat  ihr  der  Dichter  eine  beson- 
dere Ovation  mit  den  Versen  »Per  il  ciel  partira  della  nativa  sede«  be- 
reitet. Die  Dichtung  dieses  Werkes  prägt  den  eignen  Charakter 
der  römischen  Allegorienoper  ungewöhnlich  stark  aus.  Um  eine  Hand- 
lung und  ihre  Entwicklung  hat  sich  der  Dichter,  der  Kardinal  Giulio 
ßospigliosi,  nicht  bemüht.  Es  genügt  ihm,  Innocenza,  die  Colpa  und 
die  anderen  allegorischen  Personen  samt  ihren  Chören  von  Tugenden 
und  Lastern  erbauliche  und  fromme  Gespräche  führen  und  mora- 
lische Betrachtungen  halten  zu  lassen.  Wir  .würden  das  Werk,  wenn 
es  nicht  ausdrücklich  als  Dramma  musicale  bezeichnet  wäre,  dem  Ora- 
torium zuweisen.  Die  Musik  zeichnet  sich  durch  den  Reichtum  an 
einfachen  und  Doppelchören  aus,  die  formell  sehr  geschickt  und  zum 
Teil  auch  breit  aufgebaut  sind.  Im  Ausdruck  aber  zeigen  sich  be- 
deutende Schwächen;  die  Tugenden  und  die  Laster  singen  ziemlich 
gleich.  Der  beste  Chor,  lebendig  und  in  breiterem  Melodieüuß  ein- 
hergehend, ist  der  am  Schlüsse  des  Prologs.  In  den  Solis  liegt  ein 
altvaterisches  Wesen.  Wertvoller  ist  ein  Liedchen,  welches  die  Sen- 
tinella  (die  Schildwache)  der  Innocenza  hinter  dem  Felsen  versteckt 
singt.  Seine  Wiederholungen  treten  sehr  natürlich  aus  dem  Dialog 
heraus.  Ferner  ein  langausgeführtes  Duett  in  der  Form  des  Passa- 
caglio,  d.  h.  mit  immer  neuer  Melodie  über  dasselbe  kurze  Baßthema. 
Als  bemerkenswerte  Ausnahme  kommt  auch  ein  Terzett  vor.  Von 
Intrumentalsätzen  ist  eine  den  Trompeten  und  Tamburis  übertragene 
Fanfare  hervorzuheben,  mit  vrelcher  der  Anbruch  des  festlichen  Morgens 
begrüßt  wird. 

Beim  Erscheinen  der  »Vita  humana«  war  die  Zeit  der  Choroper 
bereits  vorüber.  Zwar  folgten  ihr  noch  einige  Nachzügler  von  Be- 
deutung. Doch  gehören  sie  zur  Hälfte  ihrer  Natur  bereits  einer  neuen 
Gattung   an. 

Wenn  die  Komposition  in  den  Solopartien  binnen  weniger  Jahr- 
zehnte solche  Fortschritte  machte,  wie  wir  sie  namentlich  in  den 
verschiedenen  Arbeiten  Peris  selbst  beobachten  können,  so  dankt 
sie  dies  zum  großen  Teil  der  Pflege  mit,  welche  die  sogenannte 
Monodie  in  der  Haus-  und  Kammermusik  fand.  Das  erste  Werk, 
welches  für  diesen  Zweck  veröffentlicht  wurde,  ist  Giulio  Caccinis, 
des  häufig  Genannten  »Nuove  Musiche«  vom  Jahre  1602  (Florenz). 
Die  Stücke  dieser  Sammlung  tragen  noch  den  Charakter  von  zwischen 
steifer  Deklamation  und  überschwenglichem  Figurenstil  schwanken- 
den Versuchen.  Ambros  nennt  im  vierten  Bande  seiner  Geschichte 
der  Musik  eine  Reihe  ähnlicher  Sammlungen,  an  deren  Spitze  Ludo- 
vico  Viadanas  »Concerti  ecclesiastici«  stehen.  In  einzelnen  der- 
selben sind  die  Leistungen  nicht  besser  als  bei  Caccini.  Dahin 
gehört  Ottavio  Durantes  Werk  »Arie  divote«^  Rom  1608.  Die 
Vorrede  gibt  als  Zweck  der  Arbeit  an,  zu  zeigen:  la  maniera  di 
cantar  con  grazia,  l'imitazione  delle  parole  e  il  modo  di  scrivere 
passaggi   ed   altri   effetti.      Die    Kompositionen    sind    mit    gesuchten 


80  Vorgeschichte,  Entstehung  und  erste  Periode  der  Oper 

und  aufdringlichen  Passagen  überladen.  Das  Werk  ist  deshalb 
interessant,  weil  es  unter  die  ersten  Versuche  gehört,  den  neuen 
Stil  des  Sologesanges  auf  religiöse  Texte  anzuwenden.  Die  Monodie 
und  die  dramatische  Musik  hielt  damit  ihren  Einzug  in  die  Kirche. 
Geistliche  Hymnen,  Marienklagen  und  andere  Arten  spiritualer  Musik 
—  um  den  Ausdruck  zu  gebrauchen,  dessen  sich  auch  Monteverdi 
für  diese  Zwecke  bediente  —  folgten.  Als  eine  der  besseren  unter 
den  bekannten  Sammlungen  von  Monodien  ist  die  »Euterpe«  des 
Domenico  Brunetti  (Venedig  1606)  zu  bezeichnen.  Sie  enthält 
Solostücke,  Duette,  Terzette  und  Quartette  unter  dem  Titel  von  Madri- 
galen, Kanzonetten,  Arien,  Stanzi,  Scherzi  diversi  in  Dialoghi,  e  Echo. 
Die  einzelnen  so  aufgeführten  Arten  lassen  eine  streng  formeile  Unter- 
scheidung nicht  erkennen.  Größtenteils  sind  sie  kurz  gehalten  und 
schließen  auf  den  Anfang  zurücklenkend.  Aber  als  Studien  im  Aus- 
druck, in  der  Bildung  und  Entwicklung  der  Motive,  auch  in  der 
Verwendung  der  Koloratur  sind  sie  alle  wertvoll. 

Der  poetische  Gegenstand  dieser  weltlichen  Monodie  ist  vorwiegend 
erotischer  Natur.  Die  ersten  Regungen,  Glück  und  Leid  der  Liebe, 
die  traurigen  Lagen  des  Verlustes  und  des  Verlassenseins  bilden  den 
Haupttext  und  geben  der  Musik  Gelegenheit  ihre  Kräfte  zu  entwickeln. 
Sie  übte  an  ihnen  die  ganze  Skala  des  Gefühlsausdruckes  durch,  von 
den  leichten  Tönen  des  Scherzes  und  des  Humors  bis  zu  gewaltigen  Aus- 
brüchen der  Leidenschaft,  des  Schmerzes  und  der  Verzweiflung.  Gern 
gab  man  diesen  Ijrrischen  Gedichten  eine  leichte  dramatische  Färbung, 
sei  es  auch  nur  im  Titel.  Man  dachte  sie  in  eine  besondere  Situation 
hinein.  So  enthält  Gaglianos  »Musiche«  (Venedig  1615)  eine  Klage 
eines  in  die  Hölle  Verdammten.  Man  fand  auch  von  hier  aus  bald  die 
Brücke  zu  zyklischen  Monodienkompositionen,  an  deren  Vortrag  ver- 
schiedene Sänger  teilnehmen  konnten.  Wir  haben  solche  in  den  früher 
erwähnten  Arbeiten  des  Paolo  Quagliati  kennen  gelernt.  Im  Ausdruck 
enthalten  von  1650  ab  diese  Monodien  fast  alle  bedeutende  Leistungen, 
die  Musik  ringt  nach  Deutlichkeit.  Die  Form  zeigt  den  Eeichtum 
einer  noch  ungeklärten  Entwicklungszeit.  Die  sinnliche  Freude  an 
Figuren,  Koloraturen,  eingänglichen  Melodien  kämpft  oft  gegen  die 
strenge  Sachlichkeit  des  Ausdrucks  an.  Daran,  daß  sich  allmählich 
ein  richtiger  Ausgleich  vollzieht,  hat  der  Sologesang  in  der  Oper  ein 
sichtliches  Verdienst. 


Die  Venetiaiiische  Oper^ 

Wenn  wir  auf  die  vier  Jahrzehnte,  die  das  Musikdrama  seit 
Peris  »Euridice«  durchlebt  hatte,  einen  Rückblick  werfen,  so  müssen 
wir  konstatieren:  das  Resultat  entspricht  nur  zum  Teil  den  Er- 
wartungen. 

Die  Musik  hatte  sich  als  dramatisches  Mittel  bewährt,  und  die  enge 
Verbindung  von  Musik  und  Drama,  die  Existenz  also  des  Musik- 
dramas, konnte  als  gesichert  gelten.  Aber  das  Hauptziel,  das  man  da- 
bei anfangs  im  Auge  hatte,  die  Renaissance  der  antiken  Tragödie,  eme 
allgemeine  Hebung  des  dramatischen  Geistes,  ein  Drama,  das  nicht 
bloß  in  der  From,  sondern  auch  in  Wert  und  Kraft  der  Tragödie 
der  Alten  glich,  —  dieses  Hauptziel  war  nicht  erreicht  worden. 
Das  neue  Drama  schloß  sich  an  die  antiken  Fabeln  und  Formen  an; 
eine  antike  Gedankenrichtung  vertraten  im  wesentlichen  nur  die  Chöre 
und  die  dem  Dialog  reicher  oder  spärlicher  eingemischten  Sentenzen. 
Den  tiefsittlichen  Grundzug  aber,  auf  dem  Begebenheiten  und  Hand- 
lungen bei  Sophokles  und  Äschylos  ruhten,  hatten  die  Dichter  des 
neueren  Musikdramas  bei  ihren  Nachbildungen  entweder  übersehen 
oder  abgeschwächt.  Wie  alle  lebendige  Kunst  drängte  auch  das  neue 
Musikdrama  nach  modernen  Elementen,  schöpfte  unwillkürlich  aus 
den  Sitten  und  Anschauungen  der  Gegenwart  und  aus  den  Quellen 
der  Zeit,  guten  wie  schlechten. 

Und  doch  war  das  Musikdrama  in  den  verflossenen  vier  Jahr- 
zehnten allen  störenden  Einflüssen  von  außen  her  so  viel  als  möglich 


1  Literatur.  H.  Kretzschmar:  »Die  Venetiaiiische  Oper  und  die 
Werke  CavalUs  und  Cestis<  (Vierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  1892), 
Derselbe:  »Beiträge  zur  Geschichte  der  Venetianischen  Oper«  (Jahrbuch  der 
Musikbibliothek  Peters  1907,  1910,  1911);  A.  Solerti:  »Le  rappresentazioni 
musicali  di  Venezia  dall  1571  al  1605«  (Rivista  musicale  IX,  S.  503 ff); 
A.  Heuß:  »Die  Venetianische  Opernsinfonie«  (Sammelbände  d.  IMG  IV, 
S.  404 ff);  H.  Goldschmidt:  »Das  Orchester  der  italienischen  Oper  im 
17.  Jahrh.«  (Sammelbände  d.  IMG  II,  S.  16  ff). 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VI.  6 


32  Die  Venetianische  Oper 

entzogen  geblieben.  Es  war  nicht  aus  dem  Schutze  der  Höfe  und 
der  obersten  Gesellschaft  herausgekommen.  Seine  Probe  vor  der 
weiteren  Öffentlichkeit  hatte  es  noch  zu  bestehen. 

Im  Jahre  1637  erfolgte  dieser  entscheidende  Schritt  und  zwar  zu 
Venedig.    Hierher  war  Claudio  Monte verdi  im  Jahre  1613  als  Kapell- 
meister von  San  Marco  berufen  worden,  der  berühmte  Komponist  des 
»Orfeo«   und  der  »Arianna«.     Es  konnte  nicht  fehlen,    daß  die  An- 
wesenheit  des    bedeutendsten  Vertreters   der   neuen   Kunst   in    einer 
wirklichen  Großstadt  Folgen  hatte.    Aus  den  Häusern  der  Moncenigos 
und  der   andern   reichen  Patrizier   drang   das  Interesse   an   der  Oper 
von  Jahr  zu  Jahr  in  weitere  Kreise  der  Bürgerschaft  und  ins  Volk 
und  führte  endlich  zur  Eröffnung  eines  eigenen   öffentlichen  Opern- 
hauses,   des  Theaters  zu  San  Cassiano.     Benedetto  Ferrari    eines 
jener  Universalgenies,   an  denen  die  Zeit  der  Renaissance   besonders 
reich  war.  Virtuos  auf  der  Laute,  guter  Sänger,  dramatischer  Dichter 
und  Komponist   in   einer   Person,    dazu   auch   noch    ein   bedeutendes 
Geschäfts-  und  Organisationstalent,  war  der  Unternehmer.   Sein  Institut 
wurde  der  Grundstein  einer  langen  Herrschaft,  die  Venedig  von  jetzt 
ab  auf  dem  Gebiete  des  Musikdramas  ausübte.    Dem  einen  und  ersten 
Operntheater   wurden   bald   andere   nachgebildet.      In   der  Regel   er- 
hielten  sie   ibre   Namen    nach    den   Kirchspielen.     San   Cassino,    das 
immer  eins  der  angesehensten  blieb,  brachte  von  1637-1700:  37  ver- 
schiedene Opern  heraus.    Das  nächstgegründete,  San  Giovanni  e  Paolo 
von  1639-1699,    also    in    sechzig  Jahren,    49   verschiedene  Werke, 
San  Moise  von  1639-1679:  34;  das  Teatro  Novissimo  von  1641-1647: 
8;  das  Teatro  S.  Apollinare  von  1651-1660:   11;  das  Teatro  San  Sal- 
vatore  von  1661-1700:  67  Opern;  das  Teatro  di  Salvoni,  in  Unter- 
brechungen  geöffnet   von    1670-1689:    4   Opern,    und    das    Teatro 
San  Angelo  in  der  Zeit  von  1677-1700:  43  Opern.    In  Summa  ergibt 
das  für  Venedig  auf  die  Zeit  von  sechzig  und  etlichen  Jabren  drei- 
hundert verschiedene  Opern,  oder  aufs  Jahr  fünf  neue  Opern.  Das  ist  für 
unsere  deutschen  Begriffe  eine  stattliche  Leistung.    Aber  dazu  kommt 
eine  Grundverschiedenheit  der  theatralischen  Ansprüche  bei  Deutschen 
und  Italienern.     Wir  legen  den  Hauptnachdruck  auf  den  dichterischen 
Wert  des  Werkes,  der  Italiener  legt   ihn   auf  die  Ausführung.     Er 
wird  nicht  müde  dasselbe  Schauspiel,  dieselbe  Oper  immer  wieder  zu 
besuchen,  bis  er  jeden  Zug  aus  dem  Spiel  auswendig  weiß  und  un- 
willkürlich mitmacht.     Daher   seine   scharfe  Kritik,    sein  feines  Be- 
obachtungsvermögen für  die  Kunst  beim  Autor  und  beim  Darsteller. 
Wir  genießen  mehr  en  gros  und  als  Naturalisten.     Das  ist  heute  noch 
so,  wie  es  vor  fast  dreihundert  Jahren  schon  war.     Auch  die  erstaun- 
liche Zahl  der  Opernhäuser,  die  damals  gleichzeitig  tätig  waren,  bestätigt 
jenen  Eifer  für  das  Theater.     In  der  Regel  spielten  immer  vier  zur 
selben  Zeit,  einmal  waren  acht  zugleich  geöffnet.    Das  will  für  eine 
Stadt  von  140000  Einwohnern  —  soviel  besaß  Venedig  um  1630  — 
etwas  heißen  und  gibt  die  treffendste  Vorstellung  von  der  Theaterlust 


Die  ersten  Operntheater  83 

der  Italiener.  Galvanii,  der  uns  das  zuverlässigste  und  neueste 
Bild  von  der  äußeren  Entwicklung  und  den  Verhältnissen  der  Vene- 
tianischen  Oper  in  den  Jahren  1637-1700  bietet,  teilt  mit,  daß  die 
Eintrittsgelder  für  den  Platz  zwei  Lire  betrugen.  Dieser  feste  Satz  er- 
litt erst  im  Jahre  1770  eine  Änderung.  Davon  hätten  die  Theater 
nicht  bestehen  können.  Die  Oper  erfreute  sich  neben  diesen  Eintritts- 
geldern noch  eines  reichlichen  Zuschusses  von  Seiten  der  Kunstfreunde 
in  der  Form  der  Logenmiete.  Die  reicheren  und  angeseheneren 
Familien  betrachten  es  in  Italien  bis  auf  den  heutigen  Tag  als  eine 
Pflicht,  im  Theater  eine  Loge  zu  besitzen,  und  die  Logen  vererben 
in  den  Familien.  Das  ist  eine  Selbstbesteuerung,  die  uns  den  Wert 
zeigt,  den  das  Theater  in  den  Augen  der  Italiener  hat.  Sie  erklären 
es  für  den  ersten  Kulturmesser  und  stellen  es  der  Schule  mindestens 
gleich  und  bringen  ihm  Opfer,    die  bei  uns    kaum  jemand  versteht. 

Als  Ferrari  die  Oper  in  San  Cassino  eröflnete,  spielte  er  mit 
seiner  Gesellschaft  auf  Teilung,  eine  Einrichtung,  die  auch  in  neuerer 
Zeit  hier  und  da  versucht  worden  ist.  Später  wurde  das  sogenannte 
Impresariosystem,  das  Unternehmersystem  üblich,  das  noch  heute  in 
Italien  herrscht,  wie  alle  die  heutigen  Einrichtungen  des  Opernwesens 
in  Italien  auf  das  Muster  zurückgehen,  das  sie  in  der  venetianischen 
Periode  erhielten.  So  vor  allen  Dingen  die  Begrenzung  der  Spiel- 
zeit. Bei  uns  in  Deutschland  wird  entweder  das  ganze  Jahr  hindurch 
oder  doch  den  Winter  ohne  Unterbrechung  durchgespielt.  Der  Ita- 
liener hat  drei  verschiedene  Spielzeiten  im  Jahre.  Der  Karneval,  der 
vom  26.  Dezember  bis  zum  30.  März  dauert,  bildet  die  sogenannte 
Hauptstagione.  Er  war  ursprünglich  die  einzige  Zeit,  in  der  die 
Venetianische  Oper  geöffnet  war.  Bald  kam  aber  die  »Stagione  di 
Ascensione«,  die  Himmelfahrtszeit,  vom  zweiten  Ostertage  bis  15.  Juni 
hinzu,  und  später  noch  die  »Stagione  di  Autunno«.  Sie  reicht  vom 
1.  September  bis  30.  November. 

Der  Impresario  engagierte  anfangs  die  Mitglieder  der  Gesellschaft 
nur  gegen  geringes  Gehalt.  Aber  der  Wert  bedeutender  Sänger 
scheint  sehr  schnell  gestiegen  zu  sein,  namentlich  von  der  Zeit  ab, 
wo  die  Oper  über  Italien  hinausdrang.  Schon  im  Jahre  1719  bezog 
Antonio  Lotti  in  Dresden  mit  seiner  Frau  ein  Gehalt  von  10000  Talern. 
In  der  »  Andromeda«  von  Ferrari,  mit  der  das  Theater  zu  San  Cassiano 
im  Jahre  1637  eröffnet  wurde,  war  an  Frauen  noch  Mangel.  Da 
werden  die  Rollen  der  Juno,  Venus  und  Astrea  noch  von  Männern 
besetzt,  einige  Jahrzehnte  später  war  schon  das  System  der  Kammer- 
sängerinnen ausgebildet,  die  ganze  Titelsucht  und  das  Virtuosenwesen 
der  neuen  Zeit  voll  entwickelt.  Der  Komponist  der  Opern  wurde  anfangs 
nach  Umständen  bezahlt,  später  ward  für  eine  mehraktige  Oper  der 
feste  Satz  von  hundert  Dukaten  für  unbekannte,  von  zwei-  bis  vier- 
hundert für  bereits  angesehene  Komponisten  üblich.    Außerdem  erhielt 

1  LivioNic.Galvani:  »I  teatri  musicali  diVenezia  nel  sec.  XVIP«  (1878). 

6* 


g4  Die  Venetianische  Oper 

der  Komponist  für  seine  Mitwirkung  bei  den  Aufführungen  seines  die 
ganze  Stagione  hindurch  gegebenen  Werkes,  bei  denen  er  in  der  Regel 
das  erste  Cembalo  spielte,  eine  ansehnliche  Vergütung.  Die  Dichter, 
soweit  sie  nicht  Teilnehmer  waren,  begnügten  sich  ursprünglich  mit 
der  Ehre.  Mit  der  stärkeren  Nachfrage  bildete  sich  auch  für  sie  ein 
geschäftlicher  Weg,  und  sie  erhielten  den  Erlös,  den  der  Verkauf 
der  Textbücher  ergab  und  die  Zuwendungen,  die  aus  den  Dedika- 
tionen  flössen.  Damit  hängt  es  zusammen,  daß  fast  alle  im  17.  Jahr- 
hundert gedruckten  Textbücher  großen,  reichen  Herren  gewidmet 
sind.  Seinen  Stil  kann  man  an  diesen  Dedikationen  nicht  bilden, 
aber  sie  sind  eine  Fundgrube  von  Notizen,  die  für  die  Geschichte 
und  namentlich  die  Statistik  sehr  wichtig  sind. 

Wer  im  Textbuch  nachlesen  wollte,  der  zündete  sich  an  seinem 
Platz  ein  mitgebrachtes  Wachskerzchen  an.  Die  Spuren  dieser  Be- 
leuchtung zeigen  die  erhaltenen  Stücke  noch  heute  an  versengten 
Stellen  und  an  fest  gewordenen  Tropfen.  Das  Format  dieser  Bücher 
ist  Duodez,  zum  Einstecken.  Bei  Galavorstellungen  und  mit  den 
Exemplaren,  die  für  vornehme  Gäste  bestimmt  waren,  an  den  Resi- 
denzen durchweg,  trieb  man  mit  den  Textbüchern  Luxus:  großer 
Druck  auf  großem  Format,  Goldschnitt  und  Einbände,  die  heute 
wieder  als  Musterleistungen  des  Kunstgewerbes  hervorgesucht 
werden. 

Außer  durch  die  Wachskerzen  der  Zuhörer  waren  die  Theater 
nur  schwach  beleuchtet.  Auf  der  Bühne  brannte  eine  kleine  Fackel, 
auf  den  Seiten  des  Proszeniums  standen  auf  hohen  Holzpfeilern  zwei 
Öllampen,  die  beständig  dem  Erlöschen  nahe  waren.  Es  waren  nach 
heutigen  Begriffen  Provinzialzustände.  Aber  für  das  17.  Jahrhundert 
waren  die  venetianischen  Operntheater  kleine  Weltwunder.  Bei  uns 
in  Deutschland  kam  es  damals  noch  gar  nicht  vor,  daß  man  bei 
Licht  Theater  spielte.  Unsere  Vorstellungen  fanden  nachmittags  statt. 
Die  Wachskerzen  und  Fackeln  der  venetianischen  Bühne  wirkten  da- 
her moderner  und  glänzender  als  heute  unsere  elektrischen  Lampen. 
Und  eifriger  als  heute  nach  dem  Wagnertheater  in  Bayreuth  wall- 
fahrtete  das  vornehme  Europa  des  17.  Jahrhunderts  nach  den  Musik- 
theatern der  märchenhaften  Weltstadt  Venedig.  Die  Folge  davon  war, 
daß  die  Oper,  nachdem  sie  in  Venedig  ihre  Residenz  aufgeschlagen 
hatte,  die  räumliche  Herrschaft  schnell  und  weit  ausdehnte,  nicht  bloß 
in  Italien,  sondern  über  Italien  hinaus.  Wir  müssen  deshalb  zu  den 
dreihundert  Opern,  die  in  dem  Zeitraum  von  1637-1700  nachweis- 
lich für  venetianische  Bühnen  geschrieben  wurden,  noch  eine  ebenso 
große  Zahl  setzen,  die  von  venetianischen  Meistern  oder  in  ihrem  Stil 
für  andere  italienische  und  für  deutsche  Residenzstädte  gedichtet  und 
komponiert  worden  sind.  Von  dieser  großen  Anzahl  ist  vielleicht 
der  sechste  Teil  erhalten,  und  zwar  ausschließlich  handschriftlich. 
Der  Druck  von  Opernpartituren  hört  in  der  venetianischen  Periode 
auf.     Ging  ein  Werk  von  der  ersten  Bühne  nach   einer   andern,    so 


Die  accidenti  verissimi  in  der  Venetianischen  Oper  85 

wurde  es  m  der  Regel  umgearbeitet  und  dem  vorhandenen  Personal 
und  den  lokalen  Verhältnissen  angepaßt.  Ja,  wie  das  noch  bis  ins 
19.  Jahrhundert  in  Italien  üblich  blieb,  man  nahm  von  berühmt  ge- 
wordenen Opern  am  liebsten  nur  den  Text  herüber.  Der  Kapell- 
meister an  Ort  und  Stelle  schrieb  die  Musik  neu. 

Wenden  wir  uns  jetzt  von  diesem  äußeren  Bilde  ab  und  der  Frage 
zu :  Welchen  Einfluß  äußerten  die  venetianischen  Verhältnisse  auf  die 
künstlerische  Entwicklung  des  Musikdramas? 

Die  Antwort  lautet:  Das  Musikdrama  löst  jetzt  den  Zusammen- 
hang mit  Renaissance  und  Antike  fast  vollständig  und  nähert  sich 
nicht  bloß,  es  gibt  sich  dem  italienischen  Theater  des  17.  Jahrhun- 
derts vollständig  hin.  Die  Musikdramen  der  venetianischen  Periode 
unterscheiden  sich  von  den  Staatsaktionen  und  den  Stegreif komödien, 
denen  die  Florentiner  den  Garaus  hatten  machen  wollen,  in  nichts 
weiter,  als  daß  sie  gesungen  wurden.  Homer,  Pindar,  die  Alte 
Dichtung  und  die  Alte  Geschichte  geben  nur  die  Namen  für  die 
Helden  her.  Die  Helden  selbst  waren  Italiener  vom  Schlage  der  Borgias, 
und  die  Stücke  sind  Zeitbilder,  übertriebene,  aber  im  wesentlichen 
lebensgetreue  Abschnitte  aus  dem  politischen  und  gesellschaftlichen 
Bilde  Italiens,  wie  es  in  den  Jahrhunderten  nach  den  Kreuzzügen 
war.  Usurpatoren,  gestürzte  und  verbannte  Herrscher,  Prätendenten 
und  Kronenjäger  aller  Art  stellen  die  Hauptpersonen.  Es  wird  um 
Erbfolge  und  Länderbesitz  gestritten  mit  allen  Mitteln  der  Gewalt 
und  List:  durch  Staatsheiraten,  durch  Entführung  und  Vertauschung 
von  Kindern,  durch  Betrug  und  Meuchelmord.  Der  Kriegslärm  feind- 
licher Parteien,  die  Verschwörungen,  Revolten  und  Überfälle  nehmen 
kein  Ende  in  diesen  Musikdramen.  Sie  geben  das  Bild  einer  aben- 
teuerlichen, wilden  Zeit,  einer  Zeit,  welche  für  Italien,  das  Land, 
in  das  Osmanen  und  Korsaren  einfielen,  das  Land  in  welchem  der 
Streit  um  Ghibellinen  und  Weifen  jedes  Gemeinwesen  in  haßerfüllte 
Parteien  zerrissen  hatte,  leider  auch  noch  im  17.  Jahrhundert  mehr 
als  bloße  Dichtung  war.  Die  Moral,  der  Geist,  welcher  in  diesen 
Operndichtungen  gelehrt  wird,  ist  der  reinste  Machiavellismus.  Wir 
begegnen  in  ihnen  allerdings  guten  Charakteren,  Freunden  und 
Dienern,  die  sich  durch  Treue  und  die  Fähigkeit  der  Aufopferung 
auszeichnen,  edlen  Frauen,  welche  für  die  Gatten  Ehre  und  Leben 
einsetzen.  Aber  auch  diese  besseren  Naturen  verfolgen  ihre  Ziele 
auf  krummen  Wegen. 

Den  Dichtern,  in  der  großen  Mehrzahl  wenigstens,  war  das  Ge- 
fühl für  die  höheren  Zwecke  im  Drama  abhanden  gekommen.  An 
den  sittlichen  Problemen,  die  ihnen  die  Fabeln  entgegenbrachten, 
gingen  sie  in  der  Regel  achtlos  vorbei.  Der  Punkt,  auf  den  sie 
ihre  ganze  Kunst  richteten,  war  die  Erfindung  von  sogenannten 
accidenti  verissimi,  wie  das  Stichwort  lautet,  d.  h.  wahrschein- 
lichen Zwischenfällen,  mit  denen  die  fatti  storici,  die  geschicht- 
lichen Hergänge,   überzogen   und  verdeckt  wurden.      Nur   zu  bald 


gß  Die  Venetianische  Oper 

liefen  aber  alle  diese  Erfindungen  nur  denselben  zwei  Spuren  nach, 
die  uns  schon  in  der  Römischen  Schule  begegnet  sind:  der  Intrige 
und  der  Liebelei.  Das  waren  die  unvermeidlichen  Federn  jedes 
dramatischen  Getriebes,  ihnen  zu  Liebe  wurden  die  natürlichen  Motive 
der  Entwicklung  beiseite  geschoben.  In  der  venetianischen  Bear- 
beitung des  »Orfeo«  stirbt  die  Euridice  nicht  am  Schlangenbiß, 
sondern  an  Eifersucht.     Ihr  Orfeo  ist  ein  Mädchenjäger. 

In  Nebendingen  waren  diese  venetianischen  Poeten  nicht  un- 
bedeutend. Ihre  Dichtungen  sind  reich  an  Überraschungen  und  an 
Effekt!  Die  Dichter  verstehen  es  den  Zuschauer  in  Atem  zu  halten, 
sie  reizen  das  Auge,  sie  machen  aber  auch  das  Herz  in  Fieber 
schlagen  und  die  Seele  zittern.  Menschenleben  sind  sehr  billig  in 
diesen  Opern  —  aber  für  den  Augenblick  wirken  diese  hochnot- 
peinlichen Effekte  der  Überfälle,  der  Schiffbrüche,  der  Hinterhalte, 
Mordversuche  und  der  tollkühnen  Heldenstückchen  doch.  Den  Auf- 
tritten dieser  Art  schließen  sich  die  zahlreichen  Beschwörungs-  und 
Geisterszenen  mit  ihren  Schauern  an,  doppelt  wirksam  in  einer  Zeit, 
die  noch  vom  Aberglauben  erfüllt  war.  Das  freundlich-phantastische 
Element  vertreten  Traumszenen,  in  welchen  Züge  von  Genien  dem 
Unglücklichen  Trost  und  helle  Zukunftsbilder  bringen,  in  welchem 
Liebende  im  Schlafe  sprechend  süße  Geheimnisse  verraten.  Das 
rührende  Element  kommt  zur  Geltung  in  zahlreichen  Abschiedsszenen 
zwischen  Mann  und  Frau,  deren  herzlich  einfacher  Ton  uns  den 
wohltuenden  Beweis  bringt,  daß  Familienglück  und  das  Gefühl  reiner 
Liebe  doch  in  der  galanten  Zeit,  der  diese  Opern  entsprangen,  nicht 
ganz  entschwunden  waren. 

Einen  bedeutenden  Bestandteil  endlich  dieser  Operndramen,  der 
immer  mehr  wächst,  je  weiter  wir  in  der  venetianischen  Periode  vor- 
schreiten, bilden  die  komischen  Szenen,  die  in  die  Handlung  ein- 
geschoben wurden.  Anfangs  nach  griechischem  Muster  gebildet  und 
mit  griechischen  Namen  belegt  —  Satyro,  Demo,  Bloco  —  nähert 
sich  dieses  lustige  Volk  immer  mehr  den  realistischen  Gestalten  der 
comedia  di  arte.  Der  harmlose  Humor  der  »Fliegenden  Blätter« 
belebt  sie.  Zur  Kulturgeschichte  bringen  sie  einen  wichtigen  Bei- 
trag als  naturgetreue  Bilder  aus  dem  Leben  der  niederen  Volks- 
schichten. Mit  diesen  Intermezzos  drang  die  venezianische  Schule 
zuerst  ins  Ausland. 

Die  Übereinstimmung  mit  dem  Geschmack  der  Zeit,  der  Reich- 
tum an  theatralischen  Effekten  lassen  es  uns  verstehen,  daß  diese 
Opernbücher  auch  losgelöst  von  Szene  und  Musik  geschätzt,  gekauft, 
gelesen  und  in  immer  neuen  Auflagen  gedruckt  wurden.  Die  belieb- 
testen Dichter  der  Periode  waren  Gulio  Strozzi,  Persiani,  Faustini, 
Sbarra,  Bonarelli,  Minato,  Aureli,  Apolloni,  Ivanovich,  Moniglia, 
Cicognoni,  Berni,  Bontempi,  Bissari,  Noris,  Bassani,  Corradi,  Morelli, 
Ciellis,  Cupeda.  Sie  stammen  in  der  Mehrzahl  aus  Venedig  und  den 
oberitalienischen    Städten.     Es   sind    unter   ihnen   vornehme   Männer 


Die  accidenti  verissimi  in  der  Venetianischen  Oper  87 

und  gelehrte  Herren,  die  sich  auf  ihre  Gelehrsamkeit  viel  einbildeten. 
Der  verbreitetste  unter  ihnen  ist  Nicolo  Minato  aus  Bergamo.  Er 
verbrachte  den  größten  Teil  seiner  Manneszeit  als  kaiserlicher  Hof- 
dichter in  Wien  und  beherrschte  von  hier  aus  das  italienische  Theater 
mit  einer  noch  größeren  Macht,  als  sie  neuerdings  Scribe  in  der 
französischen  Oper  ausgeübt  hat.  Seine  Richtung  wurde  die  herr- 
schende, aber  sie  hat  nicht  mit  einem  Male  die  venezianische  Oper 
in  Beschlag  genommen.  Der  Geist  der  Renaissance  wehrte  sich  noch 
lauge,  und  bis  zuletzt  behauptete  sich  eine  kleine  Dichterpartei,  die 
den  venezianischen  Geschmack  verwarf.  Ihr  bedeutendster  Vertreter 
ist  Francesco  Busenello,  ein  edler,  vornehmer,  warmer  Dichter, 
der  der  Gegenwart  wieder  zugeführt  zu  werden  verdient. 

Für  die  Musik  war  die  Wendung,  die  die  Dichtung  in  der  Oper 
der  venetianischen  Periode  nahm,  äußerst  ungünstig.  Der  Mangel 
an  sittlichen  Grundideen  in  der  Handlung,  der  Flattergeist  in  der 
Anlage,  die  alle  drei  Minuten  mit  Szenen  wechselte,  das  Heer  von 
Nebenpersonen  —  das  alles  lähmte  die  Kraft  und  die  Begeisterung 
des  Komponisten.  Besonders  musikwidrig  war  der  neue  Dialog  mit 
seiner  Häufung  von  Prosa  und  Geschäft.  Einen  starken  Ausfall 
erlitt  die  Tonkunst  auch  dadurch,  daß  die  venetianische  Oper  den 
Chor  abschaffte.  In  dieser  Maßregel  loderte,  angefacht  durch  den 
übertriebenen  und  äußerlichen  Chorkultus  in  den  Opern  der  Römi- 
schen Schule,  der  alte  Haß  der  Renaissancemusiker  gegen  den  Kontra- 
punkt nochmals  und  mit  äußerster  Entschiedenheit  auf. 

Wahrscheinlich  kam  aber  auch  noch  ein  geschäftlicher  Gesichts- 
punkt hinzu:  mit  der  Beseitigung  des  Chors  fiel  für  die  Impresarios 
eine  bedeutende  Ausgabe  weg.  Es  kommen  in  verschiedenen  Opern 
noch  kleine,  kurze  Chorsätze  vor,  die  wir  uns  zur  Not  vom  Verein 
der  im  Stücke  tätigen  Solisten  aufgeführt  denken  können,  aber  im 
allgemeinen  ist  die  italienische  Oper  vom  Beginn  der  venetianischen 
Periode  ab  bis  in  die  Zeit  nach  Gluck  lediglich  Solooper. 

Doch  aber  hat  die  Musik  diese  Schule  der  Not  mit  sehr  großem 
Erfolge  durchgemacht.  Die  Blütezeit  des  dramatischen  Sologesanges, 
d.  h.  der  Kunst  mit  den  Mitteln  einer  einzelnen  menschlichen  Stimme 
einem  reichen  Seelenleben-  und  allen  den  Leidenschaften  und  Re- 
gungen, aus  denen  es  sich  zusammensetzt,  Ausdruck  zu  geben  — 
die  Blütezeit  dieser  Kunst  beginnt  in  der  venetianischen  Periode. 
Die  Opern,  die  ihr  angehören,  enthalten  sehr  viele  Bruchstücke  von 
ungebrochener  Lebenskraft.  In  erster  Linie  in  den  Liebesszenen, 
dann  in  den  Szenen  von  ganz  oder  halb  religiösem  Charakter,  den 
Geisterszenen  und  den  Szenen  der  Ombrae.  Sie  wurden  stets  in 
demselben  Stil  und  mit  denselben  Mitteln  ausgeführt.  Von  letzteren 
ist  eins  in  unsere  Gegenwart  mit  hineingekommen  in  den  Geigen- 
klängen, die  den  »Christus«  in  Bachs  Matthäuspassion  umschweben. 
In   dritter   Linie   stehen   die  Idyllen,    die    Schlummer-   und   Traum- 


88 


Die  Venetianische  Oper 


Szenen,  die  Szenen  am  Bach  und  im  Hain  mit  ihi'en  zarten  Natur- 
schwärmereien und  feinen  Tonmalereien,  die  sich  heute  noch  durch 
Händeis  Oratorien  frischen  Lebens  erfreuen. 

Die  Hauptmeister  in  der  Komposition  der  venetianischen  Periode 
sind  Fr.  Cavalli,  M.  A.  Cesti,  L.  Rossi,  P.  Ziani,  M.  A.  Sartorio, 
Sacrati  und  Albinoni  im  ersten  Abschnitt ;  in  dem  zweiten  Abschnitte 
von  1660 — 1680  M.  A.  Ziani,  Draghi,  Bernabei,  Legrenzi,  Rovettino ; 
am  Ausgange  der  Periode:  Carlo  Pallavicini,  Domenico  Freschi, 
0.  Grossi,  Alessandro  Stradella,  Domenico  Gabrieli,  Antonio  Perti, 
Antonio  Sabbatini  und  Carlo  Francesco  Pollarolo. 

Die  Werke  dieser  Komponisten,  soweit  sie  noch  erhalten  sind, 
finden  sich  auf  der  Bibliothek  von  San  Marco  in  Venedig,  in  Modena 
und  Wien.  Einzelne  Hauptopern  sind  mehrfach  vorhanden,  z.  B. 
Cavallis  »Giasone«,  Cestis  »Dori«.  Andere  Werke  der  Periode,  die 
ebenfalls  Weltruf  erlangt  hatten,  wieLegrenzis  »II  divisione  del  mondo«, 
Sacratis  »Pinta  pazza«  scheinen  verloren.  An  die  Spitze  der  genann- 
ten Komponisten  muß  noch  Claudio  Monteverdi  gestellt  werden, 
der,  wie  früher  erwähnt,  mehrere  Opern  für  Venetianische  Bühnen 
geschrieben  hat.  Eine  davon  ist  erhalten,  seine  (1624  aufgeführte) 
»Incoronazione  di  Poppea«,  eine  im  Text  höchst  widerliche,  die 
Geschichte  eines  doppelten  Ehebruchs  vorstellende  Nero-Oper,  deren 
Musik  aber  den  Meister  mit  einer  Reihe  herrlicher  Stellen  auf  der 
Höhe  seiner  Reife  zeigt.  Seine  alte  Lebhaftigkeit  äußert  sich  in 
den  Berichtigungen  und  Ergänzungen,  die  er  an  den  Rezitativen  der 
Dichtung  vornimmt.  Bei  wichtigen  Mitteilungen  unterbricht  die 
zuhörende  Person  durch  aufgeregte  und  ungeduldige  Zwischenfragen 
oder  dadurch,  daß  sie  dem  Sprecher  das  entscheidende  Wort  vom 
Munde  wegnimmt.  Wo  der  Dichter  (Busenello)  einer  Person  eine 
fortlaufende  Reihe  von  vielleicht  dreißig  Versen  gibt,  zerlegt  sie 
der  Komponist  in  zehn  Gruppen  von  je  drei  Zeilen,  jede  Gruppe 
durch  Zwischenreden  einer  zweiten  Person  von  der  andern  getrennt. 
Die  Musik  aber  gehört  teilweise  zum  Abgeklärtesten  und  Schönsten, 
was  die  Geschichte  der  Oper  zu  bieten  hat.  Das  Hervorragendste 
ist  der  Eingang,  wo  Otto,  von  Sehnsucht  getrieben,  vor  dem  Hause 
seiner  ihm  treulos  gewordenen  Poppea  steht: 


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Claudio  Monteverdis  > Incoronazione  di  Poppea« 


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90 


Die  Venetianische  Oper 


Der  Satz  ist  das  ebenbürtige  Seiten  stück  zu  den  berühmten  zwanzig  Tak- 
ten, mit  denen  das  Lamento  d'  Arianna  beginnt.  In  der  Arianna  eine 
leidenschaftliche  Klage,  hier  eine  edel  elegische.  Dort  der  Blick 
auf  eine  verzweifelte,  zerstörte  Seele,  hier  in  ein  Gemüt,  das  sein 
Leid  mit  Anmut  trägt;  dort  eine  aufregende,  hier  eine  rührende 
Wirkung.  Aber  beide  Stücke  gleichen  sich  darin,  daß  die  Dar- 
stellung auf  neuen  Mitteln  ruht  und  sie  gleichen  sich  in  der  Ver- 
einigung von  Freiheit  und  Klarheit  des  Ausdrucks.  Es  gibt  wenig 
Sologesänge,  in  denen  sich  die  Stimmung  so  unmittelbar,  so  lebendig 
bewegt,  sich  so  reich  an  hinreißenden  Zügen  ergießt,  kaum  einen 
zweiten,  der  so  naturgetreu  italienisch  und  unwiderstehlich  warm 
klingt,  wie  diese  Klage  des  Otto  bei  dem  »Ah«.  Der  ganze  Satz 
gehört  in  eine  Mustersammlung. 

Daß  die  Incoronazione  im  weiteren  Verlauf  musikalisch  nicht 
auf  der  gleichen  Höhe  bleibt  und  darin  hinter  dem  Orfeo  zurück- 
steht, liegt  am  Text.  Als  die  weitere  hervorragendste  Szene  der 
Oper  wird  man  den  Abschied  Senecas  von  seinen  Angehörigen  (2.  Akt, 
3.  Szene)  bezeichnen  dürfen.  Er  hat  die  Gestalt  eines  dreistimmigen 
Satzes  über  das  Motiv: 


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Non    mo  -  rir,  non   mo  -  rir 


und  bringt  den  stechenden  Schmerz  dem  Ende  zu  mit  einschneidender 
Schärfe  zum  Ausdruck.  Das  Mittel  sind  mit  elementarer  Gewalt 
nach  der  Höhe  drängende  chromatische  Durchgänge  sämtlicher  be- 
teiligter Stimmen: 


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Non  mo-rir,nonmo-rir,  Se  -  ne    -    ca      non  mo- rir,    Se-ne-canon 
Auch  hier  wieder  beruht  die  Wirkung  auf  scharfer  Lebensbeobachtung. 


Claudio  Monteverdis  >Incoronazione  di  Poppea«  91 

Für  die  Charakteristik  des  »Nero«  sind  zwei  Szenen  wichtig,  die, 
wo  er  dem  Seneca  mitteilt,  daß  er  die  Poppea  verstoßen  will,  die 
andere,  wo  er  vor  dem  Senat  das  Urteil  über  Ottavia  und  Ottone 
spiicht.  Da  betont  Monteverdi  die  Haltlosigkeit  des  Kaisers  und 
die  Brutalität.  Die  Worte,  mit  denen  Nero  den  Seneca  anredet, 
lauten:  »Tu  mi  sforzi  allo  sdegno«.  Die  Musik  beginnt  äußerst  ge- 
wichtig und  feierlich: 


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Tu,      tu  tu 

dann  aber  wird  sie  sofort  heftig,  der  Kaiser  schnattert  und  über- 
schreit sich  in  tierischer  Wut.  Eine  Zeile  auf  demselben  Akkord,  auf 
demselben  Ton,  auf  denselben  zwei  Worten  (alla  sdegno)  einher- 
polternde  Sechzehntel,  die  schon  aus  dem  » Combattimento «  bekannten 
Pyrrichien  in  neuer  Verwendung,  veranschaulichen  das  ganz  lebens- 
getreu. Noch  wirksamer  kommt  das  Gemisch  von  Theatermajestät 
und  Narrheit  in  der  andern,  in  der  Gerichtsszene  zum  Ausdruck, 
auch  da  wesentlich  durch  die  Einschaltung  plötzlicher  schneller  Läufe. 
Namentlich  der  Schluß  ist  köstlich.  Die  Worte  heißen:  »Convengo 
giustamente  risentirmi  —  volate  ad  ubidirmi«.  Komponiert  aber  sind 
sie  folgendermaßen: 


Con-ven-go  gius-ta  -men-te  ri-sen-tir-mi         volate  ad  u-bi  -  dir  -mi 
F C 


Wenn  man  sich  vorstellt,  wie  die  Herren  Senatoren  mit  gesenkten 
Köpfen  dem  gespreizten  und  koketten  Erlasse  lauschen  und  dann 
diesen  letzten  Takt  ansieht,  der  so  ungeduldig,  verächtlich  in  dem 
trivialen  Skalengange  sagt:  warum  seid  ihr  noch  nicht  fort,  da  kann 
man  über  die  drastische  Wirkung  der  Stelle    nicht  im  Zweifel  sein. 

Nebenbei  bemerkt,  singt  Nero  Sopran,  seine  Partie  und  die  des 
Ottone  sind  für  Kastraten  bestimmt,  die  Poppea  und  Ottavia  sind 
Altstimmen.  Die  lieben  die  Venetianer  noch  heute,  das  Klima  ver- 
sorgt damit  vorzüglich  und  besser  als  mit  Sopranen. 

Die  Sänger  von  St.  Gervais  in  Paris  haben  vor  einigen  Jahren 
eine  Aufführung  der  »Incoronazione«  geplant.  Jedenfalls  ist  der 
Gedanke  gut  und  naheliegend.  Wenn  man  bei  einer  der  älteren 
Opern  einen  Wiederbelebungsversuch  machen  will,  so  sind's  wenige 
so  wert,  wie  diese  letzte  Arbeit  Monteverdis.  Dem  17.  Jahrhundert 
und  den  Venetianern  bewies  sie,  daß  ein  Komponist,  wenn  er  ein 
Meister  war,  alle  Aufgaben  lösen  konnte,  die  ihre  Dramatik  stellte. 
Als  der  musikalische  Führer  der  Periode  ist  Francesco  Cavalli  zu 


92 


Die  Venetianische  Oper 


betrachten.  Er  war  der  verbreitetste  Komponist  und  derjenige, 
dessen  Werke  sich  am  längsten  hielten;  er  war  es  auch,  auf  den 
der  Stil  der  Schule  wenigstens  zum  Teil  zurückgeht.  Das  neue 
Hauptelement  dieses  Stils  bilden  lange,  umfangreiche  Sologesänge  in 
geschlossener  Form,  breite  Arien,  die  auf  den  Höhepunkten  der 
Szene  einsetzen  und  als  Passacaglias,  Ciaconnen  oder  in  einer  anderen 
Variationenart  verlaufen,  aber  so,  daß  die  einzelnen  Variationen  durch 
kleinere  Rezitative  oder  durch  Orchestersätzchen  getrennt  sind.  Es 
ist  dieselbe  Methode,  die  später  Gluck  wieder  aufgenommen  hat.  Die 
Ca  valiischen  Arien  haben  in  der  Mehrzahl  Themen  im  ^/j-Takt, 
einfache,  ausdrucksvolle  Melodien,  die  den  Barkarolen  der  vene- 
tianischen  Volksmusik  gleichen.  Auf  diesem  volkstümlichen  Ele- 
ment, das  Cavalli  populär  machte,  hat  die  Venetianische  Schule  eifrig 
weiter  gebaut,  der  Barkarolenklang  wurde  zum  Merkmal  venetiani- 
scher  Abkunft;  ohne  Barkarolen  vermochte  man  sich  eine  vene- 
tianische Oper  nicht  mehr  zu  denken;  in  neapolitanischen  Buffo- 
opern  aus  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  ist  Signor  Barcarollo 
Spitzname  für  Leute  aus  Venedig.  Indes  beruht  die  Größe  Cavallis 
nicht  auf  dieser  sinnigen  Anknüpfung  an  den  Volksgeschmack  seiner 
Heimat,  sondern  ihre  Wurzel  liegt  in  einer  ungewöhnlich  ernsten 
und  tiefen  Natur  und  in  der  Meisterschaft,  mit  der  diese  sich  be- 
sonders in  der  Form  des  Rezitativs  äußert,  namentlich  bei  Un- 
glück, Trauer,  Abschied  und  ähnlichen  ernsten  Veranlassungen.  Am 
schnellsten  ergibt  sich  das  Bild  seines  künstlerischen  Wesens  aus  dem 
Eingang  seiner  »Didone«,  einer  seiner  Hauptopern.  Die  Griechen 
sind  eben  in  Troja  eingebrochen,  das  Volk  ruft: 


Ar-mi,  ar-mi,  ar-mi    E  -  ne  -  a,     ar -mi 


ar    -     mi,  ar-mi    E  -  ne 

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Francesco  Cavallis  »Didone« 


93 


ar  -  mi,   di  -  am     all'     ar  -  mi,  diam  all'     ar  -  mi  all'   ar    -     mi. 


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Als  Eneas   sich  anschickt  dem  Eufe  zu  folgen,  da  stürzt  Creusa 
aus  dem  Hause  ihm  nach  und  sucht  ihn  zurückzuhalten: 


Creusa.      (agitato) 


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(Meno.) 


E-ne-a,    E-ne-a,    E  -  ne  -  a,        non  e    piütem-po   di 


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sta-bi-lir  spe-ran-ze    su  la  pun-ta  alla  spa- 


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94 


Die  Venetianisclie  Oper 


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vil  -  le       la         dis-pe-ra - ta  Tro  -  ia    di     re  -  li-quie  dis-fat-te 


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cu-ma-lo  spa-ver-to  -  so    di      ce  -  re  -  si    con  -  fuse  hor-ri-bil- 


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In  dieser  erregten  Weise  fährt  Creusa  noch  länger  fort,  den  Gatten 
zum  Dableiben  zu  bewegen.  Auch  weiche  rührende  Töne  schlägt 
sie  gelegentlich  an,  so  bei  der  Stelle,  wo  des  kleinen  Sohns  gedacht 
wird: 


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Se    tu    par  -  ti,  chi        res 


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a     cus-to      dir 


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Francesco  Cavallis  >Didone« 


95 


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den-tro     alle  stan-ze    nos-tre  il     dol    -    ceAs-ca 


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Endlich    antwortet  Enea  und  mit  seinem  Einsatz  stehen  wir  vor 
dem  echten,  eigenen,  ernsten  Cavalli-Rezitativ : 


(Tenor.) 


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Die  Venetianische  Oper 


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lo  -   ria  ad       e  -  ter-nar     il       lu  -  me  a  su  -  a      me  -  mo  -  ria? 


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25t 


Wie  unter  den  Dichtern  haben  wir  auch  unter  den  venetianischen 
Komponisten  zwei  Parteien.  Die  eine  hält  sich  an  die  Forderungen 
des  Dramas,  die  andere  an  die  Forderungen  des  Volkes,  die  zweite 
gewinnt  schließlich  die  Oberhand.  Die  verschiedene  Stellung  der 
Komponistenparteien  spricht  sich  am  deutlichsten  in  ihrem  Verhältnis 
zu  den  musikalischen  Formen  aus,  zu  Rezitativ  und  geschlossnen 
Gesangsätzen. 

Bezüglich  des  Rezitativs  ist  die  aristokratische  Partei  der  Meinung, 
daß  hier  die  Hauptkraft  des  Komponisten  einzusetzen  sei.  Mit 
Rücksicht  darauf  wählt  sie  die  Dichtung.  Monte verdi  und  Cavalli 
treten  als  Verbündete  des  Busenello  und  der  Dichter  auf,  die  in 
ihren  Dialogen  auf  große,  bedeutende  Situationen  ausgehen.  Diese 
Dialoge  führen  nun  Männer  wie  Cavalli  in  einem  einfachen,  aber 
höchst  ausdrucksvollen,  eindringlichen  Stil;  im  wesentlichen  deklamiert 


Die  Rezitativoper  97 

die  Stimme,  wo  sie  aber  an  den  Hauptstellen  des  Textes  Melodie  gibt, 
spricht  sie  in  äußerlich  schlichten  und  doch  tief  ergreifenden  Wen- 
dungen. Auch  in  den  rein  deklamatorischen  Strecken  wirken  diese 
Rezitative  mächtig  auf  die  Stimmung  im  großen  und  kleinen.  Und 
das  erreicht  die  Cavallische  Partei  durch  die  Führung  der  Harmonie  i. 
Die  Akkorde  und  die  Modulationen  entfalten  bei  den  Venetianern 
zum  ersten  Male  ihre  volle  Kraft  als  rhythmische  Ausdrucksmittel. 
Der  Reichtum  an  Harmonieverbindungen  geht  über  allen  Vergleich 
mit  Peri,  Gagliano  und  den  Römern  hinaus,  den  Monteverdi  des 
»Orfeo«  und  der  Florentiner  Periode  überholen  sie  durch  Reife  und 
maßvolle  Ruhe. 

Für  die  geschlossenen  Gesangsätze  herrscht  bei  Cavalli  und 
seinen  Genossen  der  Grundsatz,  daß  sie  nur  an  den  dramatisch  natür- 
lichen und  notwendigen  Stellen  verwendet  werden.  Mit  ihrem  äußeren 
Reiz  rechnen  sie  nicht,  sondern  nur  mit  ihrer  psychologischen  Macht. 
Die  melodisch  geschlossenen  Sätze  bilden  darum  bei  ihnen  die  Höhe- 
punkte der  Szenen,  sie  erscheinen  nur  da,  wo  die  Empfindung  auf 
den  Siedepunkt  gelangt,  wo  die  Stimmung  die  entscheidende  Krisis 
durchmacht.  In  der  Form  dieser  geschlossenen  Sätze  bedient  sich 
die  Cavallische  Partei  ganz  vorwiegend  des  alten  Florentiner  Mittels 
der  Variation;  aber  sie  stellt  die  Variationen  nicht  nackt  aneinander, 
sondern  mischt  Rezitative  dazwischen  und  sichert  dadurch  die  Ur- 
sprünglichkeit und  Naturtreue.  Beliebt  ist  für  schwermütige  Aufgaben 
bei  diesen  variierten  Sologesängen  ein  Basso  ostinato. 

Die  andere,  die  demokratische  Partei  hat  zum  Rezitativ  wenig 
Vertrauen.  Sie  trägt  seiner  Natur  bei  der  Wahl  der  Texte  keine 
Rechnung  und  sinnt  auf  Mittel,  die  Eintönigkeit  der  Deklamation 
durch  sinngefällige,  absolut  musikalische  Einlagen  und  Ausweichungen 
zu  unterbrechen.  Das  beliebteste  Verfahren  hierfür  ist  die  reichere 
Einschaltung  von  Figuren  auf  malerischen  Worten  und  die  Ein- 
mischung kurzer,  auf  wenige  Takte  beschränkter  Kantilenen.  Auch 
hilft  sie  sich  durch  Mehrstimmigkeit.  Die  auf  der  Szene  befindlichen 
Personen  singen  oder  deklamieren  plötzlich  zusammen  in  Akkorden. 
Dieses  mehrstimmige  Rezitativ  ist  eine  Spezialität  der  venetianischen 
Oper,  bei  den  Neapolitanern  schon  schwindet  es  wieder;  Händel  ver- 
wendet es  noch  manchmal.  Auch  das  begleitete,  vom  Orchester  mit 
sprechenden  Motiven  unterbrochene  Rezitativ,  das  in  der  folgenden 
Geschichte  der  Oper  zu  so  großer  Bedeutung  gekommen  ist,  hat  seine 
Heimat  in  der  venetianischen  Oper.  Rovettino,  einer  der  Vertreter 
der  aristokratischen  Partei,  hat  es  zuerst  in  seiner  »Gli  amori  di 
Apollo  e  Leucotoe«  versucht.  Da  ist  es  Mittel,  die  Situation  zu 
charakterisieren,  die  Welt  des  Pluto  mit  ihren  geheimen  Schauern 
zu  zeichnen.     Für  andere  war  es  die  Tugend  in  der  Not. 


1  Romain  Rolland:  »L'histoire  de  l'opera  en  Europe  avant  Lully 
et  Scarlatti«  (1895). 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VI.  7 


98  Die  Venetianische  Oper 

Die  Vorliebe  für  die  geschlossenen  Formen  treibt  die  demo- 
kratische Partei  aber  nicht  bloß  zu  kurzen  Einlagen  von  Melodien, 
zu  Koloraturschlüssen  im  Rezitativ,  zu  gesangmäßiger  Behandlung 
von  Textabschnitten,  die  wie  kurze  Befehle  und  Berichte  nur  De- 
klamation und  Rezitativ  sein  können,  sondern  sie  gehen  damit,  unter 
Mitwirkung  der  Dichter  natürlich,  bis  zu  sinnwidrigen  Eingriffen 
ins  Szenarium.  Die  Entwicklung  der  Handlung  wird  häufig  durch 
lyrische  Einlagen  aufgehalten,  die  der  Situation  gar  nicht  entsprechen, 
aber  die  musikalische  Yergnügtheit  an  sich  reizen  und  die  Nach- 
frage nach  Volksweisen,  nach  Barkarolen  und  Gassenhauern  be- 
friedigen. Die  Opern  dieser  Partei  sind  voll  von  zur  Unzeit  ge- 
sungenen Liedern.  Das  bezeichendste  Beispiel  dafür  bietet  der  »Orfeo« 
des  Luigi  Rossi. 

Es  hängt  damit  zusammen,  daß  die  demokratische  Partei  dort,  wo 
die  Handlung  eine  geschlossene  Musikform  verlangt,  der  Entwicklung 
eines  langen  Stückes  auf  dem  Variationenweg  ausweicht.  Sie  bevor- 
zugt die  Kantate,  die  ja  in  der  Haus-  und  Kammermusik  der  Zeit 
durch  Carissimi  eine  feste  Gestalt  gewonnen  hatte. 

Die  Kantate  mit  ihrem  freien  Wechsel  von  Tonart  und  Tempo, 
von  Rezitativ  und  Gesang  ist  die  natürlich  gegebene  Musikform  für 
Seelenzustände,  wo  sich  eine  Klärung  der  Gefühle  vollzieht,  wo  zwischen 
verschiedenen  wichtigen  Wegen  gewählt,  wo  ein  Widerstreit  sich 
kreuzender  Neigungen  und  Pflichten  geschlichtet  und  entschieden 
werden  soll.  Die  demokratische  Partei  spart  aber  die  Kantate  nicht 
für  dramatische  Aufgaben  dieser  Art  auf,  sondern  verwendet  sie  auch 
für  ganz  einfache  und  klare  Situationen,  wo  erhörte  Liebe  jubelt,  wo 
ein  Verlust  beklagt  wird.  Sie  bevorzugt  sie  aus  äußeren  Gründen 
wegen  des  Wechsels  der  Formen.  Auch  hier  steht  hinter  den  vene- 
zianischen Komponisten  das  Gespenst  der  Furcht,  Furcht  vor  der 
Langeweile.  Das  verfolgt  sie  dann  ebenfalls  bei  der  Anlage  der  Szenen. 
Auch  hier,  in  der  Verteilung  von  Rezitativ  und  Gesang,  verfahren  die 
Demokraten  nur  nach  Rücksichten  der  formellen  Wirkung  und  mischen 
die  beiden  Formen  häufig  in  Widerspruch  zu  den  Forderungen  der 
dramatischen  Situation  und  des  Textes.  Das  Ergebnis  beim  Vergleich 
der  Szenen  auf  der  aristokratischen  und  demokratischen  Seite  ist: 
dort  Größe  und  Klarheit  der  Gruppierung  und  des  Eindrucks,  hier 
Buntheit,  ein  angenehmes,  unterhaltendes  Durcheinander.  Die  Demo- 
kraten befanden  sich  im  vollsten  Einklang  mit  den  venetianischen 
Durchschnittslibrettisten  und  mit  dem  Geschmack  des  Volkes,  die 
Aristokraten  haben  den  Beifall  und  die  Bewunderung  der  Nachwelt 
für  sich,  soweit  sie  auf  ein  sachliches  Verfahren  Wert  legt.  Wir 
freuen  uns  über  die  frische  Erfindung,  über  den  fließenden  Stil,  das 
Spiel  mit  der  Kunst,  über  eine  Fülle  talentvoller  Einzelheiten  in  den 
Opern  Cestis.  Aber  im  ganzen  sind  uns  diese  Musikdramen  in  erster 
Linie  Beispiele  einer  Geschmacksverirrung.  Cavalli  dagegen  er- 
schüttert   uns    noch   heute    durch    seine   Rezitatlve   und   durch    seine 


Die  Vertreter  der  Rezitativoper  99 

schlichten  Arien.  Auf  der  Cestischen  Seite  stehen  Talente,  aber  nur 
auf  der  Cavallischen  Charaktere.  Die  demokratische  Partei  hat  die 
Geschichte  und  das  Wesen  der  venetianischen  Oper  bestimmt.  Er- 
freulicherweise waren  aber  Naturen  wie  die  Cavallis  nicht  zu  der 
Rolle  des  Verkannten  verurteilt.  Er  selbst  war  der  angesehenste 
Komponist  der  angesehensten  Bühnen:  San  Cassiano  und  San  Giovanni 
e  Paolo.  Nach  einem  Xontrakt  vom  Jahre  1658  bekam  er  für  jede 
Oper  400  Dukaten,  später  450  Dukaten  —  das  sind  Zahlen,  die  aus- 
sprechen, wie  hoch  er  eingeschätzt  wurde.  Er  war  einer  der  ersten, 
die  das  italienische  Musikdrama  im  Auslande  vertraten.  1662  schrieb 
er  für  die  Vermählung  Ludwigs  XIV.  seinen  »Ercole  amante«  und  führte 
ihn  in  Paris  auf,  wie  bekannt  mit  geringem  Erfolge.  Cavalli  kam,  wie 
er  an  Faustini  schreibt,  mit  dem  festen  Vorsatz  zurück,  seine  Kraft 
nicht  mehr  ans  Theater  zu  verschwenden.  Er  hat  noch  Opern  ge- 
schrieben. Aber  arbeitete  er  früher  schon  immer  rasch,  so  läßt  jetzt 
die  innere  Hingabe  nach.  Der  ernste  Mann,  der  die  venetianische 
Oper  vor  Irrwegen  sichern  konnte,  tritt  zur  Seite;  von  den  Mitar- 
arbeitern  kann  ihn  keiner  ersetzen,  so  interessant  sie  einzeln  und  als 
Musiker  sind. 

Cavalli  war  einer  der  höchsten  Repräsentanten  der  Rezitativoper, 
in  der  »Didone«  und  sein  >Ercole  amante«  obenan  stehen.  Nach  Cavalli 
müssen  auf  der  Seite  der  Komponisten,  die  es  mit  dem  Drama  und 
dem  Rezitativ  in  der  Oper  ernst  nahmen,  M.  Antonio  Sartorio  und  der 
jüngere  Ziani,  Marc' Antonio  Ziani,  an  erster  Stelle  angeführt  werden. 
Dieser  Sartorio  ist  ein  Dramatiker  großen  Stils,  in  den  Konzessionen 
an  das  Volk  maßvoll,  meisterlich  in  der  Weite  des  Wurfs,  in  der  Deut- 
lichkeit des  Grundtones,  wo  es  sich  um  geschlossene  Formen  handelt, 
bewundernswert  durch  das  Geschick,  mit  dem  er  ganzen  Szenen  bei 
allem  Wechsel  von  Rezitativ,  Gesang  und  selbständigen  Sinfonien  den 
einheitlichen  Charakter  wahrt.  Neu  sind  seine  Arien  durch  die  Füh- 
rung des  Orchesters.  Das  beschränkt  sich  nicht  mehr  auf  Vor-  und 
Zwischenspiele,  sondern  es  konzertiert  fortwährend  mit  dem  Sänger. 
Seine  Hauptoper  ist  »Adelaide«,  von  der  wundervollen  Ouvertüre  ab 
eine  Kabinettsleistung  an  Erfindung.  Der  jüngere  Ziani,  der  dieses 
konzertierende  Orchester  ebenfalls  aufnimmt,  ragt  im  Ausdruck  elegi- 
scher und  schwermütiger  Stimmungen  hervor.  Da  gibt  er  Melodien 
von  einer  Unmittelbarkeit  und  ürsprünglichkeit,  wie  man  sie  selten 
findet.  Das  Mittel,  dessen  er  sich  dabei  originell  bedient,  besteht  im 
Absetzen  und  in  kleinen  Pausen.  Im  Rezitativ  ist  er  groß,  sobald 
ernster  Ton  verlangt  wird.  Als  die  Hauptwerke  können  sein  »Alci- 
biade«   und  die   »Damira  placata«   bezeichnet  werden. 

Diesen  beiden  darf  noch  Rovettino  angereiht  werden.  Sein  Haupt- 
gebiet sind  Situationen,  wo  getröstet,  aufgerichtet,  zugesprochen  wird. 
Er  bestreitet  solche  Aufgaben  mit  einer  Folge  kleiner  liedartiger  Ge- 
sangstücke, trennt  und  belebt  sie  aber  durch  dazwischen  gestellte 
Rezitative,    also    nach   Cavallischer    und   Gluckscher   Methode.      Wo 

7* 


100  Die  Venetianische  Oper 

Erregung  auszudrücken  ist,  übertreibt  Rovettino.     Seine  Hauptoper 
ist  »Gli  amori  di  Apollo  e  Leucotoe«. 

Der  Führer  der  demokratischen  Partei  ist  Marc'  Antonio  Cesti, 
der  einzige  unter  den  hervorragenden  Komponisten  der  venetianischen 
Oper,  der  nicht  aus  Oberitalien  stammt.  Gegen  1620  in  Florenz  geboren, 
wurde  er  (nach  Mattheson)  Schüler  des  Carissimi^,  und  scheint  in  seiner 
Wanderzeit  auch  nach  Frankreich  gekommen  zu  sein,  da  er  in  der 
Vorrede  einer  in  Wien  befindlichen,  1662  für  Florenz  komponierten 
Serenata  eine  Bekanntschaft  mit  französischer  Musik  zeigt,  die  kaum 
anders  als  an  Ort  und  Stelle  erworben  sein  kann.  Nach  seinen  ersten 
venetianischen  Erfolgen,  die  1649  mit  der  »Orontea«  beginnen,  kommt 
von  der  Mitte  der  fünfziger  Jahre  ab  in  seine  Geschichte  eine  Lücke ; 
erst  zehn  Jahre  später  erscheint  er  wieder  in  Wien  in  kaiserlichen 
Diensten,  ist  mehrere  Jahre  in  Innsbruck,  einer  der  habsburgischen 
Nebenresidenzen,  Bürger  und  Hausbesitzer  und  scheint  1673  in  Venedig 
gestorben  zu  sein.  Cesti,  eines  der  größten  musikalischen  Talente 
seiner  Zeit,  vertritt  namentlich  den  außerordentlichen  Melodienreich- 
tum des  17.  Jahrhunderts  in  hervorragender  Weise.  Als  Dramatiker 
hat  er  sein  eigenes  Gebiet  im  Ausdruck  des  Innigen  und  Zarten,  und 
erwärmt  uns  am  eigentümlichsten  in  idyllischen  Szenen,  da,  wo  die 
Töne  die  sanften  Regungen  liebender  Herzen  aussprechen,  wo  der 
Freund  tröstend  zum  Freunde  spricht,  wo  ein  Einsamer  sich  sehnt 
und  erinnert,  wo  sinnige  Träumereien  zu  schildern  sind.  Da  ist  er 
originell  und  unerschöpflich  an  intimen  und  feinen  Wendungen,  kein 
anderer  zeitgenössischer  Komponist  hat  so  viel  Melodien  mit  ver- 
minderten Terzen  und  seltenen  Intervallen.  Auch  für  das  Neckische 
und  Komische  ist  er  ausgezeichnet  begabt.  Kraft  und  Leidenschaft 
liegen  seiner  weichen  und  sinnigen  Natur  ferner,  er  löst  jedoch  die 
ihm  innerlich  fremden  Aufgaben  immer  graziös,  beweglich  und  mit 
einer  Fülle  musikalischer  Einfälle,  die  nicht  immer  treffend,  aber  meist 
reizend  sind.  Die  Wirkung  seiner  Sirenengaben  wird  durch  die 
Virtuosität  verstärkt,  mit  der  Cesti  die  Form  führt,  durch  die  Leichtig- 
keit und  Natürlichkeit,  mit  der  er  die  konträrsten  Ausdruckselemente, 
Töne  des  Herzens  und  der  Galanterie,  Ernst  und  Scherz,  echtes  Leben 
und  äußeren  Elfekt  wechselt,  mischt  und  verbindet.  Dadurch  wurde 
er  eine  Größe  der  venetianischen  Oper  und  gewann  auf  deren  Ent- 
wicklung einen  starken  Einfluß.  In  seinen  Briefen  an  die  venetianischen 
Librettisten  und  Impresarii  hält  er  entschieden  darauf,  daß  er  in  den 
Honoraren  und  in  der  sonstigen  Behandlung  ja  nicht  unter  Cavalli 
gestellt  wird,  er  sei  mehr  als  der,  nämlich  Komponist  in  kaiserlichen 
Diensten.  —  Einige  Einakter  eingerechnet,  lassen  sich  von  Cesti 
150  Opern  nachweisen;  elf  davon  sind  erhalten,  vier  in  der  Markus- 
bibliothek, sechs   in    der  Wiener  Hofbibliothek^.     Die    bedeutendste 


1  Mattheson:  > Grundlage  einer  Ehrenpforte <,  S.  36. 

2  E.  Wellesz:   »Zwei  Studien  zur  Geschichte  der  Oper  im  17.  Jahr- 
hundert« (Sammelbände  der  IMG  XV  S.  124  ft'.;. 


Pietro  Andrea  Ziani  101 

von  ihnen  ist  »La  Dori«,  die  in  den  Formen  und  Mitteln  der  Ver- 
kleidungsoper die  Macht  der  Gattenliebe  feiert.  Ihre  Musik  zeigt  die 
Schule  Carissimis  sehr  deutlich,  hat  sehr  viel  Wärme  und  Innig- 
keit und  ist  poetisch  und  in  einem  großen  Zug  entworfen.  Die  »Dori« 
drang  durch  ganz  Italien,  hielt  sich  lange  und  findet  sich  noch  heute 
auch  in  ausländischen  Bibliotheken.  Auszüge  daraus  teilt  Eitner 
im  zwölften  Bande  der  Publikationen  mit. 

Noch  berühmter  wurde  der  in  Wien  1666  aufgeführte  »II  Pomo 
d'oro«,  der  die  Geschichte  von  Paris  und  Helena  mit  pompöser  Ver- 
wendung von  Chor-  und  Instrumentalmusik  vorführt.  Die  Oper  wurde 
in  Wien  ein  ganzes  Jahr  lang  wiederholt,  und  was  eine  ganz  unerhörte 
Ausnahme  war,  wie  Rinck,  der  Biograph  Leopolds  I.,  schreibt,  »mit 
Zulassung  aller  Leute  präsentiert«.  Die  Inszenierung  kostete  100000 
Taler,  eine  Summe,  die  nichts  so  Außerordentliches  hat,  wenn  man 
weiß,  was  die  Höfe  für  Festopern  gelegentlich  aufwendeten.  Die 
Aufführung  von  Bontempis  »II  Paride«  hatte  in  Dresden  1666 
300000  Taler  verschlungen.  Solche  Zahlen  darf  man  nicht  auf  das 
Konto  »Leichtsinn  und  Verschwendung«  buchen,  sondern  sie  belegen 
in  erster  Linie  die  Kunst-  und  Kulturerwartungen,  die  das  17.  Jahr- 
hundert an  das  Musikdrama  knüpfte.  Einen  Neudruck  des  »Pomo 
d'oro«  haben  die   »Denkmäler  der  Tonkunst«  in  Österreich  gebracht i. 

Der  nach  Cesti  bekannteste  Komponist  auf  der  Seite  der  venetia- 
nischen  Volksoper  ist  Pietro  Andrea  Ziani^,  zum  Unterschied  von 
Marc' Antonio  Ziani,  gewöhnlich  der  ältere  Ziani  genannnt,  ein  ziemlich 
eitler,  insbesondere  auf  Cesti,  mit  dem  er  zugleich  in  Wien  weilte, 
neidischer  Herr.  Stolz  war  er  besonders  auf  seine  Schnellschreiberei; 
in  allen  an  die  venetianischen  Geschäftsfreunde  gerichteten  Briefen 
kommt  er  darauf  zurück,  daß  er  den  »Annibale«  in  jungen  Jahren 
in  sechs  oder  gar  fünf  Tagen  komponiert  hat.  Da  kann  man  sagen : 
es  war  auch  danach.  Denn  dieser  Zianische  Hannibal  ist  mehr  ein 
Vogelsteller  in  Papagenos  Art,  als  ein  Held,  und  wohl  die  ärgste 
Karikatur,  die  sich  in  der  venetianischen  Oper  findet.  Selbst  die 
Ombrae,  die  Geisterstimmen  in  diesem  Hannibal  singen  kleine  gefall- 
süchtige Liedchen.  Und  doch  beweist  P.  A.  Ziani  durch  andere  Werke, 
insbesondere  durch  » Amore  guerriero «  und  seine  » La  fortuna  di  Rodope 
e  di  Dalmira«,  daß  er  ein  höheres  dramatisches  Talent  besaß.  In  diesen 
Opern  kommen  Rezitativstellen  von  Monteverdischem  Geist  vor,  und 
die  Führung  der  Form  paßt  sich  vollendet  frei  und  ursprünglich 
der  Situation  an.  Daß  der  Geschmack  des  Publikums  eine  solche 
Kraft  verleiten  konnte,  ihr  besseres  Teil  zu  verleugnen,  und  daß 
Zianis  schlechteste  Opern  sich  Jahrzehntejlang  hielten,  zeigt  wieder 
einmal  deutlich,    wie  leicht  das  musikalische   Urteil   die  Hauptsache 


*  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich.  Jahrg.  III,  2.  Teil  u.  IV,  2.  Teil. 
-  H.  Kretzschmar:  > Weitere  Beiträge  zur  Geschichte  der  Venetia- 
nischen Oper<  (Jahrbuch  der  Musikbibliothek  Peters  1910). 


102  I^iö  Venetianische  Oper 

außer  acht  läßt  und  sich  sinnlichen  Wirkungen  gefangen  gibt.  Und 
doch  ist's,  wenigstens  in  der  Vokalmusik,  gar  nicht  so  schwer,  das 
Eichtige  zu  treffen.  Denn  da  entscheidet  das  Verhältnis  des  Tones 
zum  Wort  über  Wert  und  Unwert  der  Leistung.  Dieser  Maßstab 
führt  aber  auf  den  Punkt,  an  dem  die  Wurzel  des  Übels  in  der 
venetianischen  Oper  lag.  Das  war  der  Charakter  der  Dichtung. 
Gingen  die  Librettisten  auf  Allotria  aus,  so  war  es  nur  natürlich, 
daß  ihnen  die  Musiker  folgten. 

Während  P.  A.  Ziani  als  Dramatiker  ein  Vertreter  des  Verfalls 
der  Oper  ist,  verdankt  sie  ihm  mancherlei  Förderung  der  musika- 
lischen Mittel.  Er  hat  die  volkstümlichen  Elemente  um  einige 
Typen  vermehrt,  die  für  die  Schule  lange  Bedeutung  hatten.  Zu 
den  auch  von  Cavalli  geliebten  venetianischen  Melodien  im  ^/j-Takt, 
den  Nachbildungen  des  elegischen  Barkarolengesanges,  stellt  er  als 
einer  der  ersten  sogenannte  Sizilianos.  Das  sind  die  außerordentlich 
wandlungsfähigen  Melodien  im  ^^/g~Tsikt,  die  heute  jedermann  aus 
Händeis  Messias  (»Er  weidet  seine  Herde«)  und  aus  der  herrlichen 
Pastoralsinfonie  des  Bachschen  Weihnachtsoratoriums  kennt.  All- 
gemein wird  angenommen,  daß  sie  ihre  Einführung  und  Entwick- 
lung den  neapolitanischen  OpernkomiDonisten,  in  erster  Linie  dem 
A.  Scarlatti,  verdanken.  Heuß  ^  hat  dem  gegenüber  darauf  hinge- 
wiesen, daß  schon  Monteverdis  »Orfeo«  einen  solchen  Siziliano  ent- 
hält. Sie  werden  bei  den  Venetianern  schnell  beliebt,  und  da  scheint 
P.  A.  Ziani  vorgegangen  zu  sein.  In  seiner  »Galatea«  stehen  sie  sehr 
wirkungsvoll  kontrastierend  dicht  neben  einem  aufgeregten  Lamento 
des  Aci,  das  sich,  wie  Ziani  nach  Venedig  mitteilt,  der  Kaiser  eigen- 
händig abgeschrieben  hat. 

Der  andere  durch  den  älteren  Ziani  sehr  beliebt  gewordene  Formen- 
typus ist  die  Trompetenarie,  d.  i.  eine  Arienart,  bei  der  mit  der 
Singstimme  die  Trompete  konzertiert,  die  früheste  Spezies  der  durch 
Scarlatti  eine  Zeitlang  zur  Herrschaft  gelangten  Arie  mit  obligatem 
Soloinstrument.  Die  Gegenwart  kennt  diese  konzertierenden  Arien 
aus  den  Bachschen  Passionen,  z.  B.  »Ich  will  bei  meinem  Jesus 
wachen«,  wo  der  Tenor  mit  der  Oboe  sich  im  Vortrag  derselben 
Melodien  ablöst.  Die  Trompetenarien  im  besonderen,  die  Händel 
noch  liebt  (»Kommt  all,  ihr  Seraphim«  im  »Samson«)  bilden  gewisser- 
maßen das  leidenschaftliche  und  heroische  Gegenstück  zu  den  Sizilianos. 
Sie  ergaben  sich  aus  den  Kriegs-  und  Kampf szenen,  an  denen  die 
venetianischen  Stücke  reich  sind,  und  waren  eine  Fortsetzung  und 
Weiterbildung    der  Fanfaren-   und  Signalstellen   in   den  Ouvertüren. 

Auch  im  Kleinstil  der  venetianischen  Schule  lassen  sich  zwei 
einzelne  Züge  auf  den  älteren  Ziani  zurückführen.  Der  erste  ist  die 
malerische  Wiedergabe  von  Worten,  die  der  Phantasie  ein  Bild  bieten. 
So  oft  im  Text  von  Tromba,  Battaglia  oder  Guerra  gesprochen  wird, 


1  Heuß,  a.  a.  0.  S.  206. 


Giov.  Legrenzis  >Totilac  103 

sei  es  im  Rezitativ  oder  im  melodischen  Satz,  immer  bringt  da  Ziani 
längere  Figuren  und  Läufe.  Die  übliche  technische  Bezeichnung 
solcher  Stellen  als  »Koloraturen«  bringt  noch  heute  ihren  ursprüng- 
lichen Zweck  als  Mittel  der  Tonmalerei  zur  Geltung.  Eine  andere 
Stilnuance,  die  an  Ziani  anknüpft,  findet  sich  bei  elegischen  und 
heiteren  Arien.  Da  arbeitet  er  dadurch  auf  Spannung,  daß  er  die 
Melodie  ohne  jedes  Vorspiel  mit  der  Singstimme,  oft  der  unbegleiteten 
Singstimme,  einsetzt,  aber  schnell  abbricht.  Nun  erst  kommt  das 
Ritornell  der  Instrumente  und  nach  ihm  wieder  der  Sänger  mit  der 
vollständigen  Periode.  Auch  diese  Arieneingänge  haben  sich  in  der 
neapolitanischen  Schule  behauptet  und  kehren  noch  bei  Händel  wie- 
der, sehr  sinnig  z.  B.  in  den  Gesängen  der  Jole  in  Herakles,  er- 
greifend wirksam  in  ihrer  Klage  um  den  Vater.  Alle  diese  Neue- 
rungen des  Ziani  sind  Abschlagszahlungen  an  das  dramatische  Wesen 
der  Oper,  Versuche,  das  Volk  durch  die  Musik  in  den  inneren 
Charakter  einzelner  Bühnenvorgänge  tiefer  einzuführen.  Nur  der 
Mut  die  Form  in  jedem  Moment  dem  Gange  des  Dramas  anzupassen, 
fehlte. 

Die  bei  allen  Venezianern  beliebteste  Münze  dramatischer  Ab- 
schlagszahlung sind  kleine  Duette.  Sie  finden  sich  bereits  in  den 
ersten  Opern,  die  wir  aus  der  Schule  haben,  und  in  der  Regel  in 
dreisätziger  Gruppierung  so  durchgeführt,  daß  im  ersten  und  dritten 
Satz  die  beiden  Stimmen  einen  3/2-Takt,  im  Mittelsatz  einen  beweg- 
teren Viervierteltakt  in  Nachahmungen  bringen.  In  der  »Delia« 
des  Paolo  Sacrati  von  1639  kommt  es  aber  auch  vor,  daß  dieser 
Mittelsatz  in  Sextenparallelen,  also  ganz  Bellinisch  gesungen  wird. 
Diese  selbe  Oper  ist,  nebenbei,  auch  durch  ein  begleitetes  Rezitativ 
mit  tremolierenden  Geigen,  also  nach  dem  Muster  von  Monteverdis 
»Combattimento><  ausgezeichnet:  Der  König  sieht  seine  Geliebte  in 
einer  Barke  mit  einem  andern  fahren. 

Andere  Komponisten  aus  dieser  x^nfangszeit  der  venetianischen 
Schule  stehen  noch  vollständig  auf  dem  Boden  der  Florentiner  Oper. 
Lenardini  aus  Urbino  ist  das  Hauptbeispiel.  Seine  »Psyche«  er- 
innert mit  den  Chören  an  Gagliano,  mit  den  Rezitativen  gar  an  die 
Perische  »Euridice«,  nur  die  zahlreichen  Elegien  im  Y2-Takt  zeigen 
auf  Venedig.  Bei  einzelnen,  wie  Claudio  Boretti  und  Frances- 
chini  äußert  sich  die  Rücksicht  auf  den  Volksgeschmack  in  der 
großen  Menge  komischer  Nummern,  und  dabei  ist's  bemerkenswert, 
daß  die  fast  ohne  Ausnahme  sehr  gut  geraten.  Einige  Trivialität 
muß  allerdings  in  Kauf  genommen  werden. 

Zu  den  Talenten,  die  wir  mangels  genügenden  Materials  keiner 
von  den  beiden  entgegengesetzten  Parteien  bestimmt  einreihen  können, 
gehört  Luzzo.  Das  einzige  Werk,  das  wir  von  ihm  besitzen,  sein 
»Medoro«,  hat  eine  schöne  Programmouvertüre,  in  der  Schlacht-  und 
Traumszenen  aus  der  Handlung  erklingen,  und  eine  Beschwörungs- 
arie,   die  dadurch  sehr  interessant  ist  —   »Dal  nero   barbaro  mostri 


104  Die  Venetianische  Oper 

tartari  udite«  beginnt  der  Text  —  daß  sie  den  für  Geisterszenen  und 
ähnliche  Aufgaben  von  den  Venetianern  eingeführten  Stil  frei  variiert. 
Der  Zauberer  singt,  so  wie's  noch  Mozarts  Komtur  tut,  auf  dem- 
selben Ton,  aber  am  Schluß  geht  er  aus  dieser  starr  feierlichen 
Deklamation  in  einen  dämonisch  wilden  Ausbruch  des  Zornes  über. 

Daß  trotz  arger  Zeichen  von  Schwäche  das  dramatische  Gewissen 
in  der  zweiten  Periode  der  venetianischen  Oper  nicht  eingeschlafen 
war,  zeigt  ein  Hauptvertreter  dieses  Zeitraumes;  der  aus  der  all- 
gemeinen Musikgeschichte  und  als  Liebling  Seb.  Bachs  bekannte 
Giov."  Legrenzi.  Sein  »Totila«  namentlich  (1677,  San  Giovanni) 
ist  reich  an  ergreifenden  Szenen.  Gleich  dieser  Auftritt:  Colia  be- 
tritt die  Bühne  mit  dem  Dolch  in  der  Hand.  Sie  soll  auf  Satums 
Befehl  den  schlafenden  Sohn  opfern.  Wie  sie  da  im  langen  Rezitativ 
rührend  klagt  und  in  der  beschließenden  Arie  »Dolce  figlio  reposi 
e  dormi«  innig  einfach  und  ganz  leise,  den  Schlummernden  nicht 
zu  stören,  betet,  das  ist  Cavallischer  Geist.  Noch  mehrmals  wieder- 
holt sich  in  anderen  Wendungen  der  Kampf  zwischen  Göttergebot 
und  Mutterpflicht.  Da  machen  >Suone  di  trombe«  ein  Ende,  der 
Feind  naht,  ein  wilder  Kampf  entspinnt  sich,  dann  erklärt  Totila 
in  einer  glänzenden,  koloraturenreichen,  von  zwei  obligaten  Trom- 
peten begleiteten  Arie  sich  zum  Herrscher  des  Landes.  Das  sind 
ganz  neue  imposante  Töne  für  den  Ausdruck  festen,  gewaltigen 
Willens.  Die  darauf  folgende  Abschiedsszene  der  Gefangenen  bringt 
dann  wieder  Meisterstücke  der  Klage,  vor  allen  die  Arie  der  Marzia 
»Dolce   padre«,   über   der   eine  göttliche  Fassung  und  Hoheit  liegt. 

Aber  daß  andere  Komponisten  im  Gegensatz  zu  solchen  Leistungen 
wieder  den  musikalischen  Effekt  voranstellten,  beweist  Pagliardi, 
namentlich  mit  seinem  »Lisimaco«,  in  dem  mit  der  bloßen  Gesang- 
technik  ohne  alle  Rücksicht  spekuliert  wird. 

Die  nächste  Folge  der  Wirksamkeit  der  venetianischen  Bühne 
war  eine  rasche  und  allgemeine  Verbreitung  der  Oper  über  das 
italienische  Land.  Schon  von  1650  ab  entwickelt  sich  auch  in 
Florenz,  Rom,  Genua,  Bologna,  Modena  ein  regelmäßiger,  öffentlicher 
Opernbetrieb,  und  nach  und  nach  errichten  auch  kleine  Städte  wie 
Udine  und  Lucca  Musikbühnen  nach  venetianischem  Muster.  Es  tun 
sich  Schulen  für  dramatischen  Gesang  auf,  von  denen  die  zu  Bologna 
besonders  berühmt  wird,  und  überall  versuchen  sich  Musiker  in  der 
Opernkomposition. 

Durch  diese  neuen  Mitarbeiter  wird  natürlich  der  Stil  des  Musik- 
dramas beeinflußt.  Etliche  der  spezifisch  venetianischen  Musik- 
elemente, z.  B.  die  charakteristischen  Barkarolenmelodien  und  die 
kleinen  heiteren  Viervierteltakte  verflüchtigen  sich,  und  es  treten 
neue  Formen  auf.  Dieser  ganzen  mächtigen  Entwicklung,  die  schießlich 
dahin  führt,  daß  an  Stelle  Venedigs  Neapel  die  Führerschaft  im 
Musikdrama  übernimmt,  haben  die  älteren  Schriftsteller,  wie  Arteaga, 
nur  wenig  Beachtung  geschenkt.     In  neuerer  Zeit  hat  aus  ihr  Romain 


Melani,  Agostini,  Sabbadini,  Abbatini  ]^05 

Rolland  einen  besonderen  Abschnitt  herausgegriffen,  nämlich  den 
Anteil,  den  Rom  und  Florenz  an  der  Arbeit  dieser  Periode  gehabt 
haben.  H.  Goldschmidt  hat  diese  Spur  in  seinen  »Studien  usw.« 
weiter  verfolgt.  Rolland  erblickt  das  Hauptergebnis  der  neben  der 
venetianischen  Schule  hergehenden  Opernarbeit  darin,  daß  in  Rom 
und  Florenz  sich  in  aller  Stille  eine  wirkliche  komische  Oper  ge- 
bildet habe.  Die  drei  Werke,  um  die  es  sich  hierbei  ausschließlich 
oder  doch  in  erster  Linie  handelt,  sind  die  1639  in  Rom  von  den 
Gebrüdern  Mazzocchi  auf  einen  Text  des  Kardinals  Rospigliosi  kom- 
ponierte Oper:  »Chi  soffre,  speri«,  ferner  »Dal  mal  il  bene«,  und 
die  Florentiner  Oper  »Tancia  overro  il  Podestä  di  Colognole«,  1657 
von  Jacopo  Melani  komponiert.  Schon  vor  Rolland  hat  Ricardo 
Gandolfi  in  den  Jahresberichten  der  Musikakademie  von  Florenz  auf 
dieses  Werk  im  gleichen  Sinne  aufmerksam  gemacht.  Aber  es  ist 
ein  Irrtum,  wenn  man  in  diesen  Werken  die  ersten  komischen  Opern 
im  neuen  Stil  sehen  will.  Denn  abgesehen  von  den  für  die  Zwischen- 
akte geschriebenen  Intermezzos  der  Venetianer,  finden  sich  bei  ihnen 
schon  vollständige  komische  Opern,  die  sie  gewöhnlich  Tragikomödien 
nennen.  In  dieser  Gattung  ist  Cavallis  »Alcibiade«  schon  wegen  der 
Spaße,  die  da  der  Held  mit  seinem  alten  Lehrer  treibt,  ein  be- 
merkenswertes Beispiel.  Auch  die  Musik  in  »Chi  soffre,  speri«  und 
in  der  »Tancia«  ist  einfach  venetianisch,  wie  denn  Melani  im  be- 
sonderen auch  durch  andere,  Rolland  und  Gandolfi  fremd  gebliebene 
Werke,  unter  denen  besonders  »II  canciere  di  se  raedesimo«  anzuführen 
wäre,  sich  ganz  auf  die  Seite  der  Venezianer  stellt,  und  zwar  der 
frühesten  Venezianer.  Auf  sie  weisen  zum  Teil  auch  die  stattlichen 
Chorszenen  der  »Tancia«  hin.  Das  wirklich  originelle  Element  dieser 
beiden  komischen  Opern  liegt  darin,  daß  der  Text  sich  von  der  An- 
tike abwendet.  Die  Handlung  ist  ganz  aus  dem  Volksleben  der  Zeit 
genommen,  auch  die  Personennamen  sind  modern  italienisch.  Damit 
weisen  die  Mazzocchi  und  Melani  auf  den  »Amfiparnasso«  des  Orazio 
Vecchi  zurück  und  auf  die  kommende  Opera  buffa  der  Neapolitaner 
voraus. 

Aber  keinesfalls  beschränkt  sich  die  von  den  neuen  Stellen  getane 
Arbeit  auf  die  vermeintliche  oder  wirkliche  Geburt  der  komischen 
Oper.  Die  Hauptkraft  gilt  überall  der  großen,  mythologischen  oder 
historischen  Oper  auf  antiker  Spur.  Da  haben  wir  in  Rom  einen 
nennenswerten  Komponisten  in  Pietro  Simone  Agostini;  seine 
Hauptwerke  sind  »L'Adalinda«  und  »II  Ratto  delle  Sabine«,  ferner  in 
Bernardo  Sabbadini  mit  seiner  »lone«  und  seinem  sehr  lustigen 
Wiener  Festspiel  »Po,  Imene  und  Citerea«.  Endlich  in  Antonio  Maria 
Abbatini.  In  dessen  Hauptwerk:  »Dal  mal  il  bene«  liegt  wieder 
einmal,  ähnlich  wie  in  Luigi  Rossis  »Orfeo«  ein  Hauptparadigma  der 
Liedoper  vor:  Lenora  fordert  ihre  Freundin  Marina  zu  einem  Lied 
auf  den  Amor  auf.  Das  wird  gesungen,  findet  aber,  weil  zu  melan- 
cholisch,  keinen  Beifall,  und  da  schlägt  Lenora  ihr  eigenes  Lieder- 


j^Qg  Die  Venetianische  Oper 

buch  auf  und  schickt  ein  heiteres  drein.  Dann  sind  Ständchen  ein- 
gelegt, darunter  dreistimmige  Madrigale,  die  mit  Gitarrebegleitung 
hinter  der  Szene  gesungen  werden.  Auch  diese  Oper  kann  für  die 
komische  Gattung  in  Anspruch  genommen  werden.  Es  ist  die  an- 
spruchslose Komik  der  venetianischen  Intermezzi.  Der  Tabarco,  der 
Harlekin  des  Stückes,  erschrickt  allemal,  wenn  es  an  die  Tür  klopft, 
und  in  einer  Szene  sind  gleich  vier  Personen  in  Todesangst  um 
nichts.  Wir  hören  da  ein  Quartett,  wo  alle  Stimmen  von  Anfang 
bis  Ende  tremolieren.  Auch  in  Kom  also  wurde  für  die  Erheiterung 
der  Massen  gesorgt.  Einer  der  höherstehenden  römischen  Opern- 
komponisten ist  der  aus  der  Geschichte  der  Sonate  bekannte  Bernardo 
Pasquini,  seine  Hauptopern  sind:  » La  donna  6  fedele «  und  »Tirinte«. 
Auch  die  Mittelitaliener  Antonio  Bertali,  Perti,  Pistocchi 
komponieren  zunächst  im  venetianischen  Stil  weiter.  Für  die  Wen- 
dung entscheidend  wird  allmählich  Modena.  Die  hier  einheimischen 
Komponisten  Mazzi,  Gianettini,  Manera  gehören  noch  vollständig 
zur  alten  Schule,  aber  mit  Alessandro  Stradella^  meldet  sich  das 
Neue.  Seine  Stärke  liegt  im  elegant  Anmutigen.  Sein  »Oratio«,  seine 
»Circe«  zeigen  aber  daneben  bemerkenswerte  Anläufe  zu  größeren 
Formen  geschlossenen  Gesanges,  und  mit  mehrstimmigen  Schluß- 
sätzen deutet  er  schon  auf  die  Zeit  der  brillanten  Ensembles  hin. 
Auch  seine  »Accademia  d'Amore«  ist  beiläufig  zu  beachten,  an  ihrer 
Ouvertüre  läßt  sich  zum  ersten  Male  im  17.  Jahrhundert  das  Orchester- 
crescendo, dessen  Entstehungszeit  ja  noch  immer  streitig  ist,  nach- 
weisen. Bei  den  Gebrüdern  Bononcini,  dem  M.  A.  Bononcini  und  dem 
Giovanni  Bononcioi,  die  beide  aus  Händeis  Lebensgeschichte  all- 
gemein bekannt  sind,  mischen  sich  nun  die  neuen  Elemente  schon 
reicher  mit  den  alten.  Da  haben  wir  z.  B.  in  Marc  Antonio  Bonon- 
cini s  »La  conquista  del  velo  d'oro«  die  Volkstümlichkeit  im  In- 
strumentalklang in  neuer  Nuance.  Peleo  singt  eine  große  Arie  mit 
Begleitung  von  Mandoline  (Violinen  mit  Dämpfern  dazu),  in  der- 
selben Oper  aber  auch  eine  Abschiedsszene  zwischen  Medea  und  Gia- 
sone,  deren  melodischer  Teil  den  gewöhnlichen  Umfang  überschreitet 
und  dazu  noch  einen  Ton  für  die  leidenschaftliche  Erregung  an- 
schlägt, der,  ganz  auf  das  Theatralische  zugeschnitten,  die  wirkliche 
und  mögliche  Empfindung  übertreibt.  Von  Giovanni  Battista 
Bononcini  hat  sich  namentlich  der  »Mario  fugitivo«  weitverbreitet, 
nicht  bloß  wegen  der  trefflichen  Musik,  sondern  auch  deshalb,  weil 
die  Zeit  für  die  Helden,  die  vom  Unglück  betroffen  sind,  besondere 
Sympathien  hatte.  Für  die  Geschichte  des  Generalbaßspieles  hat 
dieser  »Mario«  eine  besondere  Bedeutung.  Die  Arie  des  Icilio  »So 
che  isospetti«  wird  von  Spinetten  begleitet,  diese  Begleitung  aber 
ist  ausgeschrieben. 


1  Heinz  Heß:  Die  Opern  Alessandro  Stradellaa  (Beihefte  der  IMG  ü,  3. 
1906). 


Das  Orchestercrescendo  und  die  Bi'avourarie 


107 


Weitere  Neuerungen  finden  sich  nun  auch  bei  den  Komponisten, 
deren  Haupttätigkeit  in  Venedig  liegt.  Da  tritt  Carlo  Pollarolo 
nicht  als  bedeutender  Geist,  aber  als  Förderer  der  Form  hervor.  Im 
»Rodrigo«  schaltet  er  in  die  Melodien  wirksam  deklamierte  Episoden 
ein,  er  führt  mit  seinen  Violinen  charakteristische  Begleitungsmotive 
durch,  in  seiner  »Genuinada«  sind  es  während  eines  Duettes  bei  stock- 
finstrer Nacht  unruhige  Triolen  zum  Ausdruck  der  Verwirrung.  Er 
macht  häufigere  Versuche  in  der  sogenannten  Bravourarie,  im  aus- 
geprägten Theaterstil  also,  und  auf  den  Spuren  des  Giovanni  Bonon- 
cini.  Er  bringt  endlich  gerne  kleine  Duette,  wo  die  zweite  Stimme 
plötzlich  der  ersten  alles  wörtlich  nachsingt. 

Dadurch,  daß  sie,  was  an  neuen  Versuchen  sich  zeigt  und  be- 
währt, zusammenfassen,  sind  Carlo  Grossi,  D  omenico  Gabrieli, 
Domenico  Freschi  und  Carlo  Pallavicini  die  Hauptrepräsen- 
tanten jener  Endepoche  der  venetianischen  Schule  geworden.  Der 
wenigst  bedeutende  unter  ihnen  ist  Carlo  Grossi,  der  reichste  Palla- 
vicini. Diese  Männer  haben  die  Opernkomposition  wieder  auf  eine 
höhere  Durch schnittsstufe  hinaufgeführt  und  der  Musik  einen  stär- 
keren dramatischen  Charakter  gegeben.  Das  war  nur  möglich  unter 
Mithilfe  der  Dichter.  Sie  stellten  den  Komponisten  neue  Aufgaben: 
Naturschdlderungen,  Bilder  aus  Lebenskreisen,  die  bis  dahin  über- 
gangen worden  waren,  das  Kindertreiben  z.  B.  Sie  sagten  sich  von 
der  Schablone  des  Szenenentwurfes  los,  stellten  große  Monologe  an 
Punkte,  wo  sie  bis  dahin  nicht  üblich  waren,  belebten  Gespräche 
und  Verhandlungen  durch  reiche  Einmischung  der  von  den  Vene- 
zianern ausschließlich  musikalisch  ausgenutzten  Duette.  Auf  diesen 
Unterlagen  war  eine  Musik  möglich,  die  an  reicherer  Mannigfaltigkeit, 
dramatischer  Wahrheit  und  Größe  über  die  venetianische  Vorlage 
hinausging.  Sie  wirklich  geboten  zu  haben,  ist  das  Verdienst  des 
Pallavicinischen  Kreises,  die  geschichtlichen  Ehren  hat  Scarlatti  ge- 
erntet. 


Französische  Oper^ 

Die  französische  Oper  hat  auffällig  lange  auf  sich  warten  lassen. 
Wie  zwischen  Frankreich  und  Italien  von  jeher  ein  reger  und  rascher 
Musikverkehr  bestanden  hatte,  so  suchten  die  Franzosen  auch  mit  den 
italienischen  Anfängen  der  musikalischen  Renaissance  Schritt  zu  halten. 
Wie  in  Italien  die  Florentiner  Hellenisten,  so  wirken  in  Frankreich 
die  sogenannten  Plejaden  für  die  richtige,  auf  antike  Vorbilder  ge- 
stützte Verbindung  von  Musik  und  Poesie.  Schon  im  Jahre  1369 
gründet  Karl  IX.  auf  Veranlassung  von  Antoine  Baif,  dem  Haupte 
jener  Siebenmänner,  eine  »Academie  de  poesie  et  de  musique«.  Auch 
die  italienischen  Intermedien,  die  in  der  Chorzeit  zuerst  reichlichere 
Mengen  von  Musik  aufs  Theater  brachten,  wurden  schon  unter 
Katharina  von  Medici  nach  Frankreich  verpflanzt  und  nachgebildet.  Es 
ist  ganz  undenkbar,  daß  dem  französischen  Hofe  und  den  höfischen 
Kreisen  die  Oper  lange  unbekannt  geblieben  sein  soll.  Denn  Peris 
»Euridice«  war  zur  Vermählung  der  Maria  von  Medici  mit  dem  König 
von  Frankreich  komponiert  worden,  Rinuccini  aber  begleitet  die  junge 
Königin   in   die   neue  Heimat   und  bleibt  drei  Jahre  lang  in  Frank- 

1  »Recueil  general  des  operas  representees  par  l'Academie  Royale  de 
musique  depuis  son  etablissement«  (Paris  1703—1745},  »Histoire  du  theätre 
de  rAcademie  Royale  de  musique  en  France«  (Paris  1750),  »Histoire  de 
rOpera  Bouffon<  (Paris  1760;,  >Histoire  de  l'Opera  comique«  (Paris  1769), 
Castil-Blaze:  »L'Opera  en  France«  (Paris  1826),  derselbe:  »Theätres 
lyriques  de  Paris«;  »L'Academie  Royale  de  musique  de  1645—1855«  (Paris 
1855),  :»L'Opera  ItaHen  de  1548  ä  1856«  (Paris  1856),  L.  Celler:  »Les  ori- 
gines  de  l'Opera  et  le  ballet  de  la  Reine«  Paris  1868),  A.  Du- Gasse: 
»Histoire  anecdotique  de  l'ancien  theätre  en  France«  (Paris  1864),  O.  Chou- 
quet:  »Histoire  de  la  musique  dramatique  en  France«  (Paris  1873),  Ed. 
öregoir:  >Des  gloires  de  l'Opera  et  la  musique  ä  Paris«,  1.  Bd.  1878, 
2.  u.  3.  Bd.  1881  (Brüssel,  Antwerpen),  H.  Prunieres:  »L'opera  Italien  en 
France  avant  Lulli«  (Paris  1913),  Ch.  Nuitter  und  E.  Thoinan:  »Les 
origines  de  l'Opera'^frangaise«  (Paris  1886),  J.  Ecorcheville:  »De  Lulli  ä 
Rameau  1690— 1730«  (Paris  1906),  L.  de  la  Laurencie:  »Lulli«  (Paris  1911]. 


Pierre  Perrin  und  Robert  Cambert  109 

reich.  Trotzdem  finden  sich  keine  öfi'entlichen  Spuren  des  italienischen ^ 
Musikdramas  in  Frankreich,  die  ganze  Florentiner  Choroper  bleibt 
für  die  Franzosen  tot.  Erst  von  den  Venezianern  nehmen  sie  Notiz. 
Am  14.  (24.)  Dezember  1645  führen  italienische  Komödianten  im 
Palais  Bourbon  die  >Finta  pazza«  von  Sacrati  auf.  Man  kann 
aber  diese  Aufführung  nicht  für  voll  rechnen.  Denn  erstens  war  das 
Rezitativ  durch  gesprochenen  Dialog  ersetzt,  zweitens  ist  die  >Finta 
pazza«  kein  zusammenhängendes  Drama,  sondern  ein  loses  Gemisch 
szenischer  Bilder  mit  derselben  Hauptperson,  also  ungeeignet  zur  Ver- 
tretung der  italienischen  Oper^  Signora  Bertholezzi,  die  die  Finta 
pazza  sang,  eine  talentvolle  Sängerin,  gefiel,  den  meisten  Beifall  fand 
ein  Ballett  von  Affen,  Bären,  Straußen  und  Papageien.  Im  ganzen 
war  der  Erfolg  nur  sehr  mäßig.  Am  5.  März  1647  folgte  dann  der 
>Orfeo«  des  Luigi  Rossi.  Über  seine  Aufnahme  haben  wir  einen 
Bericht  in  »Les  Ballets  anciens  et  modernes  selon  les  rögles  du 
theätre«  des  Jesuitenpaters  Menestrier  von  1682.  Dieser  nennt  und 
lobt  von  den  Sängern  nur  einen  Tenoristen  Atto,  vom  Komponisten 
ist  kein  Wort  gesaoft.  Die  Neuheit  und  die  Pracht  der  Maschinerien 
und  Szenerie  scheint  die  Hauptsache  für  die  Zuhörer  gewesen  zu 
sein.  Auf  diesem  Gebiete  brachte  das  Musikdrama  auch  den  Fran- 
zosen ungeahnte  Wunder.  Am  22.  November  1660  wird  dann  im 
großen  Saale  des  Louvre  in  Paris  Cavallis  »Xerxe«  aufgeführt,  aber 
mit  vollständigem  Mißerfolg.  Die  Berichterstatter  führen  ihn  vor 
allem  auf  die  Länge  der  Vorstellung  zurück.  Sie  dauerte  neun 
Stunden.  Trotzdem  wurde  im  Jahre  1662  eine  zweite  Oper  Cavallis 
in  Paris  aufgeführt,  sein  »Ercole  amante«,  zur  Hochzeit  Ludwigs  XIV. 
komponiert.  Wieder  ohne  Erfolg.  Damit  sind  die  Versuche,  das 
italienische  Musikdrama  originalgetreu  nach  Frankreich  zu  verpflanzen, 
im  gi-oßen  ganzen  zu  Ende.  Immer  wieder  hat  die  französische  Oper 
bei  den  Italienern  angelehnt,  unter  ihrem  Einfluß  und  unter  dem 
anderer  Ausländer  wichtige  Wendungen  ihrer  Entwicklung  vollzogen. 
Aber  die  lange  Fremdherrschaft,  die  Deutschland  ertragen  mußte,  blieb 
ihr  erspart,  einige  Jahrzehnte  nach  der  ersten  Bekanntschaft  mit  der 
neuen  Kunst  stellt  sie  sich  auf  eigene  Füße. 

Der  Dichter  Pierre  Perrin  und  der  Komponist  Robert  Cambert 
sind  die  Männer,  die  zuerst  eine  französische  Nationaloper  versucht 
haben.  Im  Jahre  1659  führten  sie  auf  dem  Schlosse  zu  Issy  bei  Herrn 
de  la  Haye  ein  Pastorale  auf.  Über  den  Inhalt  des  Stückes  ist  nichts 
bekannt,  wir  erfahren  nur,  daß  merkwürdigerweise  keine  Tänze,  aber 
viele  Instrumentalstücke,  darunter  auch  ein  Flötenkonzert,  darin  vor- 
kamen, daß  die  Schwestern  Sercamanan  durch  ihre  schönen  Stimmen 
Aufsehen  machten.  Es  scheint  den  italienischen  Mustern  mit  Ein- 
mischung französischer  Elemente  nachgebildet  gewesen  zu  sein,  gefiel 


1  A.  de  Lereis:  > Dictionnaire  portatif  des  theätresc  1754,  Edouard 
Gregoir,  a.  a.  0.  1.  Bd.,  S.  37  ft; 


WQ  Französische  Oper 

sehr  uüd  wurde  als  »Pastorale  von  Issy«  zu  Vincennes  vor  der  Hof- 
gesellschaft oftmals  wiederholt.  Das  Gedicht  ist  in  die  Werke  des 
Perrin  aufgenommen,  und  da  als  »Premiere  comedie  fran9aise  en 
musique«  bezeichnet  worden.  Dem  Cambert  brachte  der  Erfolg  im 
Jahre  1666  die  Ernennung  zum  Musikintendanten  der  Königin  Anna 
von  Österreich  ein,  1669  aber  verlieh  Ludwig  XIV.  Perrin  und  Cam- 
bert gemeinsam  die  Konzession  zur  Eröffnung  eines"  öffentlichen 
Opernhauses  in  Paris,  der  sogenannten  Academie  Royale  de  Mu- 
sique, die  ohne  Unterbrechung  und  unter  verschiedenen  Namen  bis 
heute  der  Hauptsitz  der  Oper  in  Frankreich  geblieben  ist.  Niemand 
außer  Perrin  und  Cambert  durfte  in  Paris  und  Frankreich  Opern 
aufführen.  Am  19.  März  1671  wurde  die  Academie  eingeweiht  mit 
einer  Oper  »Pomone«,  zu  der  wieder  Perrin  den  Text,  Cambert  die 
Musik  geschrieben  hatte.  Acht  Monate  hindurch  zog  diese  erste 
öffentlich  aufgeführte  französische  Oper  immer  wieder  die  Menge  ins 
Haus.  Jedoch  ernteten  die  beiden  Künstler  von  den  Früchten  des 
einträglichen  Monopols  so  gut  wie  nichts.  Perrin  war  ein  sehr 
eitler  und  schlechter  Dichter,  aber  noch  unglücklicher  als  Geschäfts- 
mann. Er  hat  nicht  einmal  der  Aufführung  der  »Pomone«  beiwohnen 
können.  An  jenem  19.  März  saß  er  bereits  im  Schuldgefängnis,  das 
er  Jahrzehnte  hindurch  immer  nur  auf  kurze  Galgenfristen  verlassen 
konnte.  Cambert  mußte  sich  daher  für  weitere  Arbeit  einen  neuen 
Dichter  suchen.  Er  fand  ihn  in  Gilbert;  der  schrieb  den  Text  zu 
einer  zweiten  Oper  »Les  peines  et  les  plaisirs  de  l'amour«,  die  mit 
Camberts  Musik  am  3.  April  1672  aufgeführt  wurde. i  Da  hatte 
auch  für  Cambert  die  Abschiedsstunde  geschlagen.  Weil  durch  die 
Mißwirtschaft  des  Perrin  der  ganze  Bestand  der  Oper  gefährdet 
war,  nahm  Ludwig  XIV.  das  Privileg  den  ersten  Besitzern  wieder 
weg  und  verlieh  es  stärkeren  Händen,  denen  des  Jean  Baptiste 
LuUy.  Perrin  verschwindet  aus  der  Öffentlichkeit,  Cambert  geht  nach 
England. 

Der  Übergang  des  Privilegs  von  Perrin  und  Cambert  auf  Lully 
ist  seit  alter  Zeit  zu  Lullys  Ungunsten  gedeutet  worden.  Von  jeher 
haben  die  Franzosen  nur  mit  gemischten  Gefühlen  auf  die  Verdienste 
gesehen,  die  sich  immer  wieder  Ausländer  um  die  französische  Oper 
erworben  haben  —  es  ist  ja  eine  lange  Reihe :  Lully,  Gluck,  Piccinni, 
Sacchini,  Spontini,  Cherubini,  Meyerbeer.  In  dieser  Stimmung  ist 
besonders  Lully  oft  verkleinert,  als  bloßer  gewöhnlicher  Intrigant 
hingestellt,  sogar  als  Künstler  herabgesetzt  worden  2,  in  neuerer  Zeit 
wieder  sehr  keck  und   tendenziös  von  Weckerlin  und  Pougin^.     Da 


1  Neudruck  in  >Chefs-d'oeuvre  classiques  de  1' Opera  frangais«. 

2  1688.    Lettre  de  Clement  Marot  (Senesay)  ....  touchant  ce  qui  s'est 
pass6  ä  l'arrive  de  J.  B.  de  L.  aux  Champs  Elysees. 

3  Weckerlin  im  Vorwort  der  Neuausgabe  (Paris  1881).   —   Pougin 
in  >Les  vrais  Createurs  de  TOpera  frauQais,  Perrin  et  Cambert*.     1881. 


Jean  Baptiste  Lully  111 

ist  es  denn  ein  Verdienst  der  Arbeit  von  Nuitt^r  und  Thoinan,  den 
wahren  Sachverhalt  endgültig  aufgeklärt  zu  haben.  Die  Verfasser 
lassen  einfach  die  gerichtlichen  Akten  sprechen. 

Diese  äußere  Geschichte  der  Entstehung  der  französischen  Oper 
enthüllt  die  Ursachen,  aus  denen  sich  das  Musikdrama  in  Frankreich 
so  langsam  einbürgerte,  nur  zum  Teil.  Ohne  Zweifel  bildete  der 
bigotte  Ludwig  XIII. ,  unter  dem  alle  weltliche  Kunst  daniederlag, 
das  Haupthindernis.  Der  Regierungsantritt  Ludwigs  XIV.  war 
der  Wendepunkt.  Mit  ihm  bekam  Mazarin,  der  schon  als  fran- 
zösischer Gesandter  in  Rom  unter  die  Mäzene  der  italienischen 
Oper  gehört  hatte,  freie  Hand.  Er  war  es,  der  die  Sacrati,  Rossi 
und  Cavalli  nach  Paris  rief,  der  auch  die  Versuche  Perrins  und 
Camberts  und  der  andern  eingeborenen  Talente  förderte  und  das 
Musikdrama  Frankreichs  unter  einen  mächtigen,  königlichen  Schutz 
brachte. 

Die  Aufnahme  aber,  die  die  italienische  Oper  in  Paris  fand,  zeigt, 
daß  sie  auf  tiefere,  innere  Hindemisse  stieß.  In  den  Werken  Cavallis 
hatten  die  Pariser  das  beste  kennen  gelernt,  was  das  italienische 
Musikdrama  zu  bieten  hatte.  Lehnten  sie  sie  dennoch  und  zwar  mit 
dem  Bemerken  ab,  es  seien  Klosterlieder,  so  läßt  sich  das  nur  zum 
Teil  mit  Unkenntnis  der  italienischen  Sprache  erklären  und  entschul- 
digen. Denn  die  edle  Melancholie  Cavallis  spricht  aus  den  Tönen  auch 
zu  denen,  die  die  einzelnen  Worte  nicht  verstehen.  Das  italienische 
Musikdrama  mutete  den  Franzosen  nicht  bloß  eine  fremde  Sprache  zu 
und  verletzte  ihr  Selbstgefühl,  ihre  Eitelkeit,  es  stellte  sie  in  eine 
fremde  Welt,  in  der  sie  sich  nicht  zurecht  zu  finden  wußten,  für 
die  sie  nicht  geschult  und  erzogen  waren.  Die  Italiener  waren  von 
der  Sehnsucht  nach  einer  seelenvollen,  das  Innere  des  Gemüts  lebens- 
wahr widerspiegelnden  Musik  zur  Oper  gekommen.  Die  Erfindung 
eines  Sologesanges,  der  potenzierte  Sprache  sein  wollte,  hatte  die 
Einführung  des  Musikdramas  veranlaßt;  erst  mit  der  Monodie  hatten 
sie  eine  Theatermusik  erhalten,  die  die  Gebildeten  gelten  ließen. 
Von  diesem  Sologesang  hatten  die  Franzosen  sehr  wenig  erfahren, 
selbst  seine  technische  Seite  war  ihnen  so  fremd  geblieben,  daß  Cam- 
bert für  seine  ersten  Aufführungen  in  Paris  kein  Personal  fand  und 
sich  geeignete  Leute  aus  dem  Languedoc  holen  und  notdürftig  zu- 
richten mußte.  Der  französische  Boden  war  für  die  Lebensbeding- 
ungen der  italienischen  Opernmusik  nicht  vorbereitet.  Auf  der  andern 
Seite  waren  die  Franzosen  über  die  dichterische  Stufe,  auf  der  die 
Florentiner  und  venezianischen  Librettisten  standen,  längst  hinaus. 
Wenn  Perrin  und  Cambert  mit  Nachbildungen  des  Pastorale  kamen, 
in  denen  wie  in  »Pomone«  weitläufig  über  Apfel  und  Artischocken  ge- 
handelt wird,  in  denen  wie  in  »Les  peines  et  les  plaisirs  de  l'amour« 
Götter  und  Göttinnen  die  Sprache  von  Knechten  und  Mägden  führen, 
so  begingen  sie  einen  argen  Anachronismus. 


W2  Französische  Oper 

Was  wir  von  Camberts  Opern  noch  besitzen  i,  zeigt  einen  begabten 
und  in  den  Künsten  der  Niederländischen  Schule  geübten  Musiker 
und  läßt  es  verstehen,  daß  seine  Werke  in  England  beliebt  geworden 
sind.  Auch  in  Deutschland  tauchen  sie  noch  ein  Menschenalter  nach 
ihrer  Entstehung  auf.  Eine  französische  Truppe  bringt  im  Jahre  1700 
von  Metz  und  Straßburg  aus  >Pomone«  und  »Les  Peines«  nach 
Frankfurt;  auch  Wien  hat  sie  noch  später  kennen  gelernt.  Wenn 
man  aber,  wie  Weckerlin  das  tut,  Cambert  als  Komponist  über  Lully 
stellt,  so  ist  das  eine  verfehlte  Ehrenrettung.  Camberts  Arbeiten 
waren  im  Grunde  italienische  Opern  in  französischer  Sprache,  erst 
Lully  bildete  eine  wirkliche  französische  Oper  aus,  eine  Oper,  die  in 
Dichtung  und  Musik  mit  nationalen  Mitteln  und  Neigungen  rechnet, 
die  die  Vorzüge  und  Mängel  der  einheimischen  Kunst  widerspiegelt. 

Rinuccini  durfte  mit  seinem  Musikpastorale  sich  für  einen  Refor- 
mator der  italienischen  Bühne  halten.  Frankreich  bedurfte  einer 
solchen  Reform  nicht  erst,  sie  war  durch  Corneille  bereits  so  weit 
vollzogen,  daß  die  Franzosen  das  beste  Theater  von  ganz  Europa  zu 
haben  glaubten.  Der  Anschluß  an  Corneille s  Tragödie  war  für 
die  französische  Oper  unvermeidlich.  Lully  sicherte  sich  daher  für 
die  Dichtung  einen  Vertreter  der  Schule  Corneilles:  Philipp  von 
Quinault.  Quinaults  »Kokette  Mutter«  ist  noch  im  Jahre  1767 
in  Hamburg  aufgeführt  und  von  Lessing  als  eine  der  besten  fran- 
zösischen Komödien  des  17.  Jahrhunderts  anerkannt  worden 2.  Seine 
Tragödien,  insbesondere  die  beste,  »Astrate«,  waren  von  Boileau  ver- 
spottet worden  3;  anders  scheint  sie  Lully  beurteilt  zu  haben.  Er 
führte  den  grollenden  Dichter  der  Bühne  wieder  zu  und  brachte  für 
seine  regelmäßige  Mitarbeit  Opfer ^.  Das  Musikdrama  braucht  kein 
poetisches  Genie,  aber  eine  Kraft,  die  eine  Handlung  normal  und 
geschmackvoll  der  Natur  der  Musik  anzupassen  versteht.  Diese  Fähig- 
keiten besaß  Quinault  mehr  als  ausreichend,  und  im  guten  Willen, 
der  Musik  entgegenzukommen,  ging  er  fast  über  das  Notwendige 
hinaus.  Uns  ist  schon  Corneilles  Rhetorik  zu  gespreizt  und  hoch- 
trabend, Quinault  überladet  der  Musik  zuliebe  seinen  Dialog  noch 
viel  mehr  mit  Sentenzen  und  pathetischen  Gemeinplätzen.  Noch  in 
einem  zweiten  Punkte  unterscheidet  sich  seine  Operndichtung  von  der 
Tragödie  Corneilles:  sie  prägt  den  höfischen  Charakter  viel  deutlicher 
aus,  oft  bis  zum  Unangenehmen  in  den  Prologen.  Das  kam  daher, 
daß  die  Oper  das  besondere  Schoßkind  Ludwigs  XIV.  war.  Er  hatte 
Perrin  und  Cambert  gefördert,   Lully  an  seinen  Platz  gebracht  &.    Ihm 


1  British  Museum,  Conservatoire  de  Paris  (Blackwells  Ausgabe). 

2  Lessing:  >Hainburgische  Dramaturgie«,  Vierzehntes  Stück. 

3  Boileau:  >Ars  poetica«  1672. 

4  Quinault  bezog  vom  Komponisten  für  jedes  Opernbuch  4000,   vom 
Könige  2000  Francs. 

5  Louis  als  Komponist  siehe  Gregoir  I.  115. 


Philipp  von  Quinault  \\^ 

haben  wir  es  noch  heute  zu  danken,  daß  die  französischen  Opern 
von  LuUy  ab  vollständig  erhalten  worden  sind.  Er  verfügte,  daß 
alle  Werke,  die  an  der  Academie  Royale  zu  Gehör  kamen,  sofort 
und  in  zahlreichen  Exemplaren  gedruckt  wurden.  Ein  Teil  der  statt- 
lichen Partituren  wurde  den  Komponisten  zum  Verkauf  überlassen, 
bis  ans  19.  Jahrhundert  heran  waren  darum  die  meisten  französischen 
Komponisten  auch  Musikalienhändler.  Ein  reichlicher  Teil  der  ge- 
druckten Partituren  wurde  aber  von  vornherein  für  die  Bibliotheken 
abgesondert.  Von  Verlegenheit  um  das  wichtigste  Quellenmaterial 
ist  daher  für  die  Geschichte  der  französischen  Oper  keine  Rede.  Die 
französischen  Opernpartituren  verbreiteten  sich  über  die  ganze  Welt 
und  sind  noch  heute  überall,  auch  in  solchen  Bibliotheken  zu  finden, 
die  eine  musikalische  Abteilung  nur  nebenher  pflegen.  Ludwig  XIV. 
wohnte  den  Opernaufführungen,  wenn  er  konnte,  persönlich  bei,  der 
Plan  jedes  neuen  Werkes  wurde  ihm  zuerst  unterbreitet.  Kein 
Wunder,  daß  sich  der  Dichter  für  so  viel  Gunst  in  seiner  Dichtung 
unaufhörlich  verbeugte.  Schon  in  Camberts  »Les  Peines  usw.«  singt 
Venus  im  Prolog:  > Louis  est  le  plus  graud  des  rois«.  In  Quinaults 
Dichtungen  steht  der  »Roi  Soleil«  für  alle  Helden  Modell.  In  den 
Prologen  ist  er,  ohne  mitzuspielen,  die,  meistens  mit  einem  bloßen 
>Lui«  angeführte  Hauptperson,  der  mit  Kunst  oder  Gewalt  gehuldigt 
wird.  In  »Roland«  geschiehts  mit  einem  Vergleich  zwischen  Karl 
dem  Großen  und  Ludwig  dem  Vierzehnten,  in  »Armide«  heißt  es: 
»Nur  Louis  Güte  und  Größe  ermöglicht  es,  daß  wir  heute  die  Ge- 
schichte von  Renaud  und  Armida  erfahren«,  in  Campras  »Arethuse« 
singt  der  Dichter:  »Möge  Ludwig  noch  tausendmal  den  Frühling 
sehen,  möge  er  auf  immer  die  Macht  der  Götter  teilen,  sie  regieren 
den  Himmel,  er  aber  beherrscht  die  Erde.«  So  wurde  denn  auch 
die  Oper,  und  noch  mehr  als  das  übrige  Theater,  den  Franzosen  so- 
fort politisch  näher  gebracht. 

Gehen  so  im  höfischen  und  im  Sentenzenstil  Quinaults  Dichtungen 
über  die  Geschmackslinie  der  Corneilleschen  Tragödie  hinweg,  in  allen 
übrigen  Punkten  schließen  sie  sich  ihr  an.  Auch  in  ihnen  setzen 
ausschließlich  Heroeutum  und  Frauenliebe  das  dramatische  Werk  in 
Bewegung. 

In  der  Heldengeschichte  sucht  Quinault  seine  Stoffe,  die  Mytho- 
logie, die  alte  Geschichte,  das  Epos  des  Mittelalters  und  der  Renais- 
sancezeit sind  seine  Quellen;  Bacchus,  Kadmus,  Alceste,  Theseus,  Atys, 
Proserpina,  Perseus,  Phaeton,  Amadis,  Roland,  Armide  die  Haupt- 
gestalten und  die  Titel  seiner  besten  Opernbücher.  Zierlichkeit  und 
Klarheit  des  Stils,  Natürlichkeit  und  leichter  Fluß  der  Sprache, 
Mannigfaltigkeit  und  Wohlklang  der  Verse,  Feinheit  der  Empfindung 
zeichnen  alle  seine  Werke  aus,  und  mit  diesen  Eigenschaften  ist  er 
vor  allem  ein  Meister  in  der  Schilderung  der  Liebe.  Ihre  schmerz- 
lich süßen  Klagen,  ihr  erstes  Entzücken,  die  Szenen-,  in  denen  Zweifel, 
Vorwürfe  und  Bitten,  Hoffnung  und  Argwohn  wechseln,  hat  niemand 

Kl.  Haudb.  der  Musikges.h.    VI.  8 


114  Französische  Oper 

besser  wiedergegeben  als  Quinault.  Seine  »Isis«  enthält  in  den  ersten 
Szenen,  wo  sich  Hierax  über  die  Nymphe  lo  beklagt,  Muster  für 
die  Darstellung  der  Unruhe  eines  verliebten  Herzens.  Im  fünften 
Akte  des  »Atjs«  sind  die  Verse,  wo  sich  der  Held  für  den  Mörder 
der  Sangaris  hält,  ein  weiteres  Beispiel  für  Quinaults  Begabung  als 
Dichter  der  Liebe.  Aber  die  Liebe  und  Verliebtheit,  für  die  auch 
die  Italiener  alles  nötige  Dichtertalent  besaßen,  war  nicht  Quinaults 
einzige  Stärke.  Die  Verse,  in  denen  in  der  »Alceste«  die  Gefährten 
des  Pluto  von  Tod  und  Leben  sprechen,  die  Anrede  des  Herkules 
an  den  Herrscher  der  Unterwelt,  in  der  > Proserpina«  das  Dankgebet 
nach  der  Niederlage  der  Giganten,  die  Grausamkeit  der  Medusa  zeigen 
einen  Dichter,  der  der  Erhabenheit  der  Alten  nachstrebt.  Quinaults 
ganze  Bedeutung  wird  aber  nur  dann  klar,  wenn  man  ihn  mit  den 
gleichzeitigen  venezianischen  Librettisten  vergleicht.  Mit  ihnen  teilt 
er  das  Stoffgebiet.  Aber  wie  ganz  anders  führt  er  die  Fabeln!  Dort 
ein  Wirrwarr  in  der  Entwicklung,  Blindheit  gegenüber  den  großen 
Ideen,  Motiven  und  Charakteren,  eine  plebejische  Mischung  von  Ernst 
und  Posse!  Auch  Quinault  wendet  gelegentlich  einmal  einen  ganzen 
Akt  hindurch  den  Blick  von  den  Hauptpersonen  hinweg  auf  das 
Treiben  von  Nebenfiguren,  wie  das  kein  Dramatiker  des  Kontrastes 
und  des  Ausruhens  wegen  ganz  vermeiden  kann.  Aber  auch  in 
solchen  Episoden  bleibt  er  würdig,  und  er  bringt  sie  selten  und  aus- 
nahmsweise. Die  Größe  der  Leidenschaften  lebt  sich  in  seinen  Helden 
und  in  ihren  Hauptszenen  nie  völlig  aus,  er  überläßt  der  Musik  da 
häufig  mehr  als  erlaubt  ist;  in  den  Entscheidungsstunden  deutet  er 
den  Seelenkampf  nur  an  und  führt  ihn  nicht  mit  der  Härte  aus,  die 
tragisch  wirkt.  Aber  auch  in  diesen  Mängeln  ist  er  der  Vertreter 
des  literarischen  Geschmackes  seiner  Nation.  Die  Zucht  der  Akademie 
beengt  seinen  Schwung,  wie  sie  es  auch  bei  seinen  größeren  Lands- 
leuten tut,  sie  behütet  ihn  aber  auch  vor  Geschmacklosigkeit.  Es 
steht  hinter  den  Quinaultschen  Operndichtungen  eine  den  Italienern 
überlegene  Bildung,  ein  vornehmer  dramatischer  Sinn.  Sein  eigenes, 
individuelles  Talent  spricht  am  klarsten  aus  der  Folge  der  Szenen, 
aus  der  Führung  der  Handlung.  Da  haben  wir  einen  reichen  Wechsel 
eindringlicher  Bilder  und  doch  vollendete  Harmonie;  und  alle  diese 
Bilder  sind  vortrefflich  musikalisch  gewählt,  und  zwar  mit  feinem 
Verständnis  für  das,  was  die  französische  Musik  in  Quinaults  Zeit 
konnte.  Doch  aber  stört  uns  manche  Wendung  darin  schon  beim 
bloßen  Lesen,  noch  mehr,  wenn  wir  sie  mit  der  Musik  hören. 
Weniger  stark  und  in  anderer,  gesitteterer  Art  als  bei  den  Ita- 
lienern, aber  immer  noch  zuviel,  fühlen  wir  uns  auch  bei  Quinault 
von  Nebensachen  aufgehalten:  die  Massen  mischen  sich  zu  sehr  in 
die  Handlung. 

Das  erklärt  sich  daraus,  daß  Lully  außer  an  die  Tragödie  Cor- 
neilles  mit  der  Oper  noch  an  ein  zweites  Stück  altfranzösischer  Kunst 
anzuknüpfen  hatte,    an  das  französische  Ballett.     Die  Franzosen 


Das  französische  Ballett  115 

sind  noch  heute  die  ersten  Tanzmeister  und  Choreographen,  der  Tanz 
hat  bei  ihnen  mehr  als  bei  andern  Völkern  auch  in  der  neueren 
Kulturentwicklung  sich  in  seiner  antiken  und  naturmenschlichen  Be- 
deutung behauptet,  und  die  französische  Musik  hat,  wie  sich  jeder- 
mann durch  die  einfachsten  Katalogstudien  überzeugen  kann,  von 
früher  Zeit  ab  einen  Schatz  von  Charaktertänzen  und  Tanzliedern 
ausgebildet,  wie  sie  keine  zweite  Nation  besitzt.  Dieser  Schatz  kam 
zu  seiner  ersten  und  höchsten  Geltung  von  dem  Augenblick  ab,  wo 
die  Franzosen  durch  Katharina  von  Medici  mit  den  italienischen  Inter- 
medien  bekannt  wurden.  Die  Italiener  ließen  über  den  Sologesang 
die  Intermedien  allmählich  fallen,  den  Franzosen  aber  wuchsen  ihre 
Balletts,  die  jenen  nachgebildet  wurden,  schnell  ans  Herz.  Seit  dem  oft 
zitierten  >Ballet-comique  de  la  reine«  ^  vom  Jahre  1581,  das  Balthazar 
de  Beaujoyeux  zum  Verfasser  hat,  stand  die  Gattung  fest  in  der 
öffentlichen  Gunst.  Je  weiter  wir  ins  17.  Jahrhundert  kommen, 
desto  größer  wird  ihre  Zahl;  ja  beim  Eindringen  der  italienischen 
Oper  wächst  sie  demonstrativ.  Wie  Wagner  noch  im  > Tannhäuser« 
für  die  Pariser  ein  Ballett  einlegen  mußte,  so  war  es  zweihundert 
Jahre  früher  Cavalli  ähnlich  ergangen:  nur  mit  französischen  Tanz- 
szenen durchschossen  konnten  sein  >Serse«  und  >Ercole«  aufgeführt 
werden.  Auch  Moli^res  Lustspiele  wurden  mit  Balletts  versehen. 
Der  König  und  die  Königin,  Prinzessinnen  und  Hofstaat  wirkten  mit 
besonderem  Vergnügen  in  solchen  Balletts  mit,  und  LuUy  verdankte 
sein  Glück  seinen  Leistungen  als  Ballettkomponist  und  als  Tänzer. 
So  lag  es  ihm  nahe  genug,  in  der  neuen  französischen  Oper  vor 
allem  für  das  Recht  des  Ballets  zu  sorgen.  Zahlreichen  glaubwür- 
digen Berichten  nach'  war  es  sein  erstes,  im  Plan  der  Quinaultschen 
Dichtungen,  sobald  sie  vom  König  zurück  waren,  nach  den  Stellen 
zu  suchen,  wo  sich  Ballettszenen  schickten.  An  ihnen  hing  der 
äußere  Erfolg  der  Oper  in  erster  Linie,  der  Dichter  mußte  sie  sich 
gefallen  lassen,  der  Komponist  setzte  bei  ihnen  mit  der  Arbeit  ein, 
bei  LuUy  wenigstens  kam  der  eigentliche  dramatische  Teil  zeitlich 
erst  hinterher. 

Dichterisch  ist  der  französischen  Oper  diese  Verbindung  mit  dem 
Ballett  überall  anzumerken.  Von  ihr  hat  sie  den  Reichtum  an  Festen, 
an  Aufzügen  und  Idyllen,  den  eigenen  Apparat  von  guten  und  bösen 
Geistern,  von  Genien  und  Dämonen,  Priestern  und  Priesterinnen, 
Schäfern  und  Schäferinnen,  der  sich  bis  ans  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts durch  alle  Aufklärung  und  Nüchternheit  behauptet  hat. 
Diese  Verbindung  ist  der  französischen  Oper  ein  Schmuck  und  ein 
Reiz,  durch  sie  sind  die  Franzosen  die  Schöpfer  der  romantischen 
Oper,  sind  Meister  in  der  musikalischen  Belebung  äußerer  Szenerie 
geworden.    Auf  diesem  Gebiete  versuchten  alle  neues  hinzuzutragen, 


1  Neudruck  in  den  Chefs-d'oeuvre  classiques  de  l'Opera  fran^ais. 

2  Von  den  deutschen  sind  die  Matthesons  hervorzuheben! 

8* 


116  Französische  Oper 

und  die  französische  Oper  wurde  ein  immer  ergiebigeres  Feld  für 
Tonmalereien,  intime  wie  gewaltige.  Aber  das  Ballett  hat  der  fran- 
zösischen Oper  auch  viel  geschadet,  zunächst  dichterisch.  Zum  Wort- 
gepränge, das  der  Corneilleschen  Tragödie  entstammt,  kommt  das 
Schaugepränge  des  Balletts  und  dadurch  eine  Konkurrenz  des  glänzend 
Nichtigen  mit  dem  dramatisch  Wichtigen.  Die  geringeren  Musiker 
sind  dadurch  sehr  häufig  in  eine  äußerliche  Eichtung  gedrängt  und 
von  der  Hauptaufgabe  der  dramatischen  Musik,  der  naturwahren 
Wiedergabe  bedeutender  Seelenzustände,  abgelenkt  worden.  Es  hat 
lange  gedauert,  bis  die  französische  Oper  zu  einem  Ausgleich  zwischen 
Ballett  und  Musikdrama  gekommen  ist;  im  Auslande  vermochte  sie 
trotz  aller  Schwärmerei  für  französische  Kultur  nicht  Fuß  zu  fassen. 
Die  italienische  Oper  blieb  ihr  auch  mit  ihren  Verirrungen,  mit  ihrer 
Einseitigkeit  und  Entartung  in  der  Wirkung  aufs  Gemüt,  an  tragischer 
Kraft  lange  überlegen. 

Und  doch  waren  die  Franzosen  vor  den  Italienern  außer  durch 
die  geschmackvolleren  Dichtungen  auch  rein  musikalisch  im  Vorteil. 
Es  standen  ihnen  reichere  musikalische  Mittel  zur  Verfügung:  Solo- 
gesang, Ghorgesang  und  selbständige  Instrumentalmusik.  Die  italie- 
nische Oper  war  reine  Solooper  geworden,  setzte  den  Komponisten 
auf  ein  geringes  Maß  musikalisch  sinnlicher  Wirkungen,  und  zwang 
ihn  dem  romantischen  Teile  der  Handlung  gegenüber  nahezu  zur 
Askese.  Wenn  bei  den  Italienern  ein  siegreicher  Feldherr  mit  seinen 
Scharen  triumphierend  über  die  Bühne  zieht,  nimmt  die  Musik  davon 
keine  Notiz.  Die  Komponisten  der  venezianischen  Schule  schreiben 
in  solchen  Fällen  in  der  Regel  ein  einfaches  »si  suona  la  tromba« 
hin  —  bei  Händel  heißt's:  >a  flourish«  —  und  überlassen  das  Nähere 
dem  Ermessen  der  Orchestermusiker.  Dem  französischen  Komponisten 
gibt  ein  solcher  Vorgang  Gelegenheit,  sich  und  sein  Publikum  durch 
einen  Blick  vom  Inneren  aufs  Äußere  zu  erfrischen,  durch  ein  da- 
zwischen geschobenes  Instrumentalgemälde  die  Macht  des  Gesanges 
neu  zu  beleben.  Was  die  Franzosen  aber  durch  die  Beibehaltung 
des  Chores  vor  den  Italienern  voraus  haben  konnten,  das  war  durch 
die  Werke  der  Florentiner  bereits  geschichtlich  festgestellt.  Es  galt 
für  die  französischen  Komponisten  nur,  den  ihnen  zugewiesenen  Reich- 
tum weise  zu  verwalten,  die  nationalen  Traditionen  mit  den  Forde- 
rungen des  Musikdramas  in  Einklang  zu  bringen  und  das  Publikum 
für  eine  richtige  Kunst  zu  erziehen.  Ihre  Hauptaufgabe  war  der 
Ausgleich  zwischen  Ballett  und  Drama.  Sie  verlangte  überlegenes 
musikalisches  Talent,  noch  mehr  aber  unabhängigen  Charakter.  Wenn 
diese  Aufgabe  nur  langsam  und  mit  vielen  Schwierigkeiten  gelöst 
wurde,  so  spielte  auch  da  eine  französische  Nationaleigentümlichkeit, 
die  unbedingte  Hingabe  an  gefeierte  Autoritäten,  die  Gewohnheit, 
auf  anerkannte  Meister  und  die  Gesetze,  die  sie  gegeben,  ein  für 
allemal  zu  schwören,  stark  mit.  Diese  Autorität  war  in  der  fran- 
zösischen Oper  Lully. 


Das  Orchester  der  französischen  Oper  117 

Lullys  19  Opern ^,  die  im  Jahre  1672  mit  »Les  Fetes  de  l'Amour 
et  de  Bacchus«  einsetzen,  1687  mit  »Acis  et  Galatee«  schließen,  gehören 
zur  Gattung  der  Choroper  und  halten  in  ihr  ungefähr  die  Stufe  ein, 
die  die  Florentiner  Schule  bei  den  letzten  römischen  Vertretern  er- 
reicht; jedoch  mit  Abweichungen,  die  teils  auf  nationale  französische 
Traditionen,  teils  auf  die  Individualität  Lullys  zurückgehen. 

Von  den  Italienern  weicht  Lully  zunächst  mit  seinem  Orchester 
ab.  Das  ist  weit  reicher  als  das  der  Venezianer,  es  ist  kurz  gesagt 
bereits  das  moderne  Orchester  mit  Violinen,  Holzbläsern,  Trompeten, 
Hörnern  und  Pauken,  die  alte  Zeit  wirkt  nur  noch  in  den  Cembalis, 
Harfen  und  verwandten  Akkordinstrumenten  mit. 

Die  hohe,  heutige  Violine  ist  in  Frankreich  heimisch;  als  sie 
Monteverdi  in  seinem  »Orfeo«  zum  ersten  Male  verwendete,  bezeichnete 
er  sie  als  »Violino  piccolo  alla  Francese. «  Noch  unter  Ludwig  XIII . 
wurde  in  der  Hofmusik  ein  besonderes  Violinenorchester  errichtet, 
die  24  Mann  starke  >grande  bände  des  violons«,  oder  »les  vingt-quatre 
violons  du  roi«.  Sie  spielten  bei  allen  Bällen  am  Hofe,  zu  Neujahr, 
am  1.  Mai,  am  St.  Ludwigstag  (25.  August),  und  so  oft  der  König 
von  Fontainebleau  oder  von  einer  Reise  in  die  Residenz  zurückkehrte, 
konzertierten  die  Violons  am  Hofe.  Ludwig  XIV.  setzte  dieser  »grande 
bände«  noch  eine  »petite  bände«  zur  Seite,  die  in  der  Stärke  von 
16  Mann,  von  Lully  geleitet,  zu  dem  engeren  Musikdienst  des  Königs 
befohlen  wurde  und  ihn  auf  Reisen  begleiteten.  Es  war  natürlich,  daß 
Lully  diese  Institute  für  seine  Opern  benutzte.  So  sehen  wir  denn  die 
Violinen  viel  reicher  in  Tätigkeit  als  bei  den  Venezianern,  aber  auch 
in  einem  andern  Stil  verwendet.  Dort  spielen  sie  als  Quartett  von 
Solostimmen,  bei  Lully  in  der  Regel  nur  im  zweistimmigen  Satz, 
Oberstimme  und  Baß,  die  Harmonie  und  die  Mittelstimmen  bleiben 
den  Akkordinstrumenten  überlassen.  Dagegen  sind  bei  Lully  die 
Streicherstimmen  nicht  solistisch,  sondern  chorweise  und  stark  be- 
setzt. Der  volle  Chor  wechselt  zuweilen  mit  kleinen  Gruppen,  aber 
für  gewöhnlich  spielen  sämtliche  Violinen  im  unisono,  so  daß  die 
Melodie  im  vollsten  Klang  hervortritt.  Noch  bei  Händel  und  Bach 
ist  dieses  Lullysche  Unisono  der  ersten  und  zweiten  Geigen  in  den 
Arien  sehr  häufig.  Wir  haben  also  hier  sichtbar  in  dem  Lullyscben 
Orchester  koloristische  Absichten,  Wirkungen  durch  das  sinnliche 
Klangelement  vor  uns.  Sie  beschränken  sich  nicht  auf  diesen  einen 
Fall,  sondern  die  Mannigfaltigkeit  der  Farbengebung  gehört  zur 
Methode  der  Lullyschen  Instrumentalkomposition,  ist  durch  ihn  ein 
Vorzug  des  französischen  Orchesters  geworden,  der  dem  Ausland  bald 
ins  Auge  fiel.     Er  führte  ihn  zunächst  mit  den  Violinen  weiter  durch. 


1  Im  Neudruck  liegen  vor:  Th^see,  Phaeton,  Psyche,  Cadmos  et  Her- 
mione,  Alceste,  Bellerophon,  Isis,  Persee,  Atys,  Proserpine,  Arraide  (in  Chefs- 
d'ceuvre  classiqaes  de  l'Opöra  frangais]. 


11g  Französische  Oper 

In  Fugen,  in  den  Episoden,  längeren  Tanzsätzen  nimmt  er  seine 
Violinen  in  drei  Reihen  auseinander,  im  letzteren  Falle  gewöhnlich 
in  hoher  Lage,  so  daß  diese  Stellen  aus  dem  Ganzen  hell  heraus- 
leuchten. Zu  weiteren  Kombinationen  hat  er  die  Holzblasinstrumente 
an  der  Hand,  immer  Flöten  und  Oboen.  Sie  wechseln  mit  den  Streich- 
instrumenten, am  häufigsten  spielen  sie  Neben-  und  Zwischensätze  zu 
drei  Stimmen,  Trios,  bei  denen  entweder  das  Fagott  den  Baß  nimmt, 
oder  aber  der  Gesamtchor  der  Violinen  spielt  die  Unterstimme,  Mittel- 
und  Oberstimme  werden  den  Flöten  oder  Oboen  gegeben.  Dieses  ge- 
mischte Trio  fand  den  Beifall  der  Zeit;  eine  der  stattlichsten  Nach- 
ahmungen bringt  S.  Bach  im  >Et  Resurrexit«  der  H moU-Messe  *.  Die 
Trompete  LuUys  bleibt  wie  bei  den  Venezianern  auf  kriegerische 
Szenen  beschränkt,  und  immer  sind  die  Blasinstrumente,  Holz  wie 
Messing,  melodisch  verwendet,  niemals  wie  in  unserer  hierin  barba- 
rischen Zeit  als  Füllstimmen. 

Zu  dieser  Ausbildung  eines  farbenreicheren  Orchesters  hat  die 
Natur  der  französischen  Oper,  ihr  durch  den  Balletteinfluß  bedingter 
starker  Verbrauch  an  selbständiger  Instrumentalmusik  den  Anlaß  ge- 
geben. Die  Mehrzahl  dieser  Instrumentalsätze  sind  Tänze.  Nur  zu- 
weilen erscheinen  sie  idealisiert,  ins  Bereich  vollerer  Kunst  gehoben. 
Die  Hauptmasse  besteht  aus  getreuer  Nachbildung  volkstümlicher 
Musik,  ja  einzelne,  die  eine  längere  Form  durch  naive,  unaufhörliche 
Wiederholung  eines  einfachen  Themas  entwickeln,  könnten  direkt  aus 
dem  primitiv  Provenzalischen,  aus  dem  Skandinavischen,  Slavischen 
und  aus  den  Quellen  stammen,  aus  denen  heute  noch  die  Bizet, 
Grieg  und  Dvorak  geschöpft  haben.  Über  den  Reichtum  an  Arten 
und  Formen,  den  die  Lullysche  Oper  auf  diesem  Gebiete  birgt,  ist 
die  gegenwärtige  Musikwelt  durch  die  Couperin  und  Muffat  unter- 
richtet, die  ganze  Klavier-  und  Orchestermusik  des  17.  Jahrhunderts, 
auch  noch  die  Suite  Bachs  und  Händeis  zeigt  Lullys  Spuren.  In  den 
wenigen  Fällen,  wo  Lully  Ballettsätze  breiter  ausführt,  bedient  er 
sich  des  in  seiner  Zeit  üblichen  Hauptmittels  der  Formenvergrößerung: 
der  Variation,  und  in  dieser  instrumentalen  Variationenkunst  hat  er 
Meisterstücke  von  bleibendem  Wert  geliefert,  sie  war  das  beste  Feld 
für  seine  Begabung.  Kompositionen  wie  die  Passacaglia  im  fünften 
Akt  der  »Armide«  haben  wir  in  der  Umgebung  Lullys  wohl  nur 
wenige.  Geschichtlich  hat  die  Orchestermusik  der  Lullyschen  Oper 
am  nachhaltigsten  durch  die  Sinfonien  gewirkt,  mit  denen  er  die 
Dramen  eröffnet.  Sie  tragen  bereits  den  Namen  Ouvertüre,  und 
tatsächlich  ist  aus  ihnen  die  moderne  Ouvertüre  hervorgegangen.  Bei 
Lully  besteht  sie  aus  drei  Teilen,  die  ohne  Pause  zusammenhängen. 
Der  erste  ist  langsam  und  feierlich,  der  zweite  bewegt,  in  der  Regel 
fugiert,   der   dritte   wieder   im  Charakter    des   ersten   gehalten.     Das 


1  Vergleiche  Henri  Lavoix:  »Histoire  de  rinstrumentation«  (1878;. 


Das  Orchester  der  französischen  Oper  119 

Ganze  weist  selten  auf  ein  bestimmtes  einzelnes  Stück  hin,  wie  das 
bei  den  Venezianern  üblich  ist,  sondern  deutet  nur  in  erster  Linie 
die  Würde  einer  Opernvorstellung  als  Hoffest,  die  Gegenwart  der 
Majestät,  in  zweiter  das  verwickelte  und  phantastische  Treiben  der 
Bühnenwelt  an.  Doch  gestattet  das  Schema  der  Lullyschen  Ouvertüre 
sehr  wohl  auf  die  Handlung  und  ihre  Hauptcharaktere  einzugehen, 
wie  Händel,  Rameau  und  Gluck  bewiesen  haben.  Es  hat  sich  daher 
für  die  Ouvertüre  bis  auf  die  Gegenwart  behauptet;  nur  der  dritte 
Satz  ist  seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  gefallen. 

Im  Gesangteil  der  Lullyschen  Oper  tritt  das  Rezitativ  auffällig 
zurück.  Es  fehlt  in  vielen  Szenen  vollständig  und  wird  auch  da, 
wo  es  LuUy  nicht  umgehen  kann,  immer  nur  sparsam  und  vorsichtig 
verwendet.  Fast  bilden  auch  im  Dialog  die  Takte  mit  deklamieren- 
den Singstimmen  und  ruhigem  Baß  Oasen.  Selbst  in  den  Erzählungen 
traut  Lully  dem  Rezitativ  nur  wenig,  benutzt  jeden  Stich  ins  Lyrische, 
um  in  geregelten  rhythmischen  Gesang  umzulenken  und  hat  ersichtlich 
den  Dichter  veranlaßt,  ihm  fortwährend  Gelegenheit  zum  Abschweifen 
zu  geben.  Und  doch  versteht  Lully,  wenn  auch  kein  hervorragendes, 
so  doch  ein  ganz  korrektes  und  gutes  Rezitativ  zu  schreiben;  ja  die 
besten  Stellen  in  seinen  Opern,  die  dramatisch  lebendig  empfundenen 
sind  in  der  Mehrzahl  Rezitativstellen.  Wenn  er  trotzdem  die  natür- 
lichste Form  des  dramatischen  Singens  nur  als  Ausnahme  gebraucht, 
so  beugte  er  sich  der  Tatsache,  daß  in  Frankreich  der^  tedio  del 
recitativo  noch  stärker  herrschte  als  in  Venedig.  Die  Berichte  und 
Kritiken  aus  Lullys  und  der  ihm  folgenden  Zeit  lassen  ahnen,  daß 
diese  Abneigung  zum  Teil  auf  der  Unfähigkeit  der  französischen 
Sänger  beruhte.  Das  Rezitativ  ist  der  Prüfstein  für  die  Intelligenz 
und  den  Geist  des  Sängers.  Man  sieht  aber  aus  den  geschlossenen 
Gesängen,  daß  Lully  und  seine  Nachfolger  auf  sehr  geringes  Material 
angewiesen  waren.  Lahaye  (in  >  Reflexions  sur  l'opera«)  hebt  die 
Lullyschen  Sängerinnen,  insbesondere  die  La  Rochois  und  die  Tournet, 
sehr  hoch.  Nach  den  Partien,  die  für  sie  geschrieben  worden  sind, 
waren  sie  aber  schwach. 

Mit  Ausnahme  des  >Theseus«  gehen  die  rhythmischen  Forderungen 
der  Lullyschen  Sätze  und  Sätzchen  nicht  über  das  im  Tanz  und 
Ballett  Übliche  hinaus:  möglichst ,  einerlei  Notenwerte,  lange  Reihen 
von  Vierteln,  hier  und  da  durch  Achtel  abgelöst,  punktierte  Rhythmen 
beliebt,  lange  Noten  in  der  Regel  nur  auf  Reimsilben;  Figuren, 
Melismen  sind  Ausnahmen.  Lully  ist  kein  schlechter,  zuweilen  sogar 
ein  feiner  und  kühner  Melodiker,  aber  die  Rhythmik  unterstützt  seine 
gute  Linienführung  nicht,  sie  ist  geringen  Sängern  angepaßt.  Hier 
hätte  es  für  den  Komponisten  gegolten  zu  erziehen  und  Aufgaben 
zu  stellen.  Lully  beugte  sich.  Die  Monotonie  der  Bewegung  schien 
den  Franzosen  durch  Corneille,  durchs  Ballett  geheiligt,  die  italie- 
nischen Muster  hatten  nur  schwach  gewirkt.  Wenn  Fetis  behauptet, 
Lullys  Arien    seien   ersichtlich    dem   Cavalli    nachgebildet,    so    miß- 


120  Französische  Oper 

braucht  er  den  Namen  Cavalli.  Das  einzige  italienische  Vorbild,  das 
sich  in  Lullys  Sologesang  nachweisen  läßt,  ist  wieder  Monteverdis 
»Lamento  d'Arianna«.  Es  tritt  in  seine  Rezitative  und  seine  Arien 
hinein,  das  Prinzip  des  Eefrains  gebraucht  er  geistvoll,  witzig,  sinn- 
reich, zuweilen  mit  selbständiger  Größe,  er  verbindet  durch  die  Wieder- 
holung eindringlicher  und  bedeutender  Themen  nicht  bloß  Teile  des- 
selben Satzes,  sondern  auch  Szenen,  die  auseinander  liegen.  Er  hat 
den  Refrain  bereits  zur  Reminiszenz  erweitert  und  zur  Vorgeschichte 
des  Leitmotivs  bemerkenswerte  Beiträge  geliefert,  wovon  man  sich  am 
einfachsten  aus  der  zweiten  und  vierten  Szene  des  vierten  Aktes  der 
Armide  überzeugen  kann.  Wie  der  Rhythmik  das  Leben,  der  Reichtum 
an  Bildung,  so  fehlt  aber  im  allgemeinen  dem  Satzbau  der  Lullyschen 
Sologesänge  die  Deutlichkeit  und  die  Schärfe  der  Gruppierung,  die 
die  gleichzeitigen  Italiener  besitzen.  Auch  Lully  legt  größere  Ge- 
sänge in  der  Regel  dreiteilig  an.  Aber  seine  Mittelteile  bilden  zum 
Hauptteil  keinen  Gegensatz,  auch  da  nicht,  wo  ihn  die  Worte  ver- 
langen oder  die  Handlung  ihn  gibt.  Der  Übergang  von  Dur  nach 
Moll,  ein  Wechsel  der  Klangfarben,  ein  plötzliches  Eintreten  hoher 
Stimmen,  eine  neue  Besetzung  der  begleitenden  Instrumente,  das  sind 
die  stärksten  Mittel  Lullyscher  Satzeinteilung.  Durch  Farben  sondert 
er,  nicht  durch  Formen.  Thematisch  bleiben  seine  Mittelsätze  meist 
im  Geleise  des  Hauptsatzes.  Die  Übergänge  und  Unterschiede  sind 
so  zart,  daß  sie  manchen  Hörern  entgehen.  Riehl  bat  deshalb  Lullys 
Satzbau,  sehr  unpassend  allerdings,  mit  der  unendlichen  Melodie  Wagners 
verglichen.  Auch  hier  herrscht  das  französische  Gesetz  der  Gleich- 
mäßigkeit, das  Muster  von  Ballett  und  Tanz.  Summiert  man,  so 
steht  in  den  Opern  Lullys  ein  Musiker  vor  uns,  der  weder  durch 
Anlage  und  Bildung,  noch  durch  Charakter  zu  den  großen  Meistern 
zählt.  Und  doch  steht  die  mächtige  Wirkung  dieser  Werke  auf 
eine  große,  geistvolle  Kation  geschichtlich  fest.  Noch  Sacchini  trug 
wegen  der  Konkurrenz  mit  Lully  Bedenken  eine  »Armide«  zu  kom- 
ponieren. Lully  ist  kein  großer,  kein  ungewöhnlicher  Musiker,  aber 
denDOcb  ein  gewaltiger  Künstler.  Die  Gaben,  die  die  Renaissancezeit 
auch  für  den  Musiker  in  den  Vordergrund  stellte:  scharfe  Beobachtung, 
einfach  sichere  Wiedergabe  menschlicher  Zustände  und  Charaktere, 
besitzt  er  im  hervorragenden  Grade.  Wo  ihn  die  Ballettpflichten 
nicht  hemmen,  da  kommt  in  seinen  Opern  ein  echter  Dramatiker 
zum  Vorschein.  Auch  ohne  musikalische  Originalität,  mit  gewöhn- 
lichen Mitteln  triflPt  er  überall  den  richtigen  Ton,  in  der  Ausführung 
erlahmt  er  oft,  aber  der  Eintritt  und  der  geistige  Zuschnitt  seiner 
Bilder  nimmt  die  Phantasie  gefangen.  Unbedeutende  Einfälle  hebt 
er  dadurch,  daß  er  sie  an  den  günstigsten  Platz  und  zur  rechten 
Zeit  bringt,  namentlich  aber  auch  durch  koloristische  Mittel:  -ein 
schallender  Chor  nimmt  sie  auf,  oder  er  überrascht  plötzlich  mit 
einem  Ensemble  hoher  Stimmen^  eine  Idylle  wird  durch  einen  bar- 
barischen  Kriegsgesang    unterbrochen.      Die    Folge    der   Szenen,    ihr 


Comedie-ßallet  oder  Opera-Ballet  121 

Charakterverhältnis  ist  dramatisch  wohlberechnet,  das  Zurückgreifen 
auf  Hauptstücke  schließt  zusammen  und  gibt  dem  Aufbau  der  Akte 
eine  Einheitlichkeit  und  Größe,  von  der  die  Italiener  noch  lange  über 
Lully  hinaus  weit  entfernt  sind.  Seine  Erfindung  ist  vielseitig,  Scherz 
und  Zärtlichkeit  sind  ihm  ebenso  geläufig  wie  Schreck  und  Ver- 
zweiflung. Im  Dämonischen  hat  er  sich  für  alle  Zeiten  ausgezeichet. 
Ein  Hauptbeispiel  bietet  die  Anrufung  des  Hasses  in  »Armida«.  Wie 
wirksam  führt  er  dieses  finstere  Stück  ein,  im  scharfen  Kontrast  zu 
einer  Idylle! 

Diese  Spuren  einer  großen  künstlerischen  Kraft  haben  die  Lullyschen 
Opern  in  Paris  fast  hundert  Jahre  lang  gehalten.  Noch  in  Glucks 
Zeit  gab  man  an  besonderen  Lully-Abenden  die  schönsten  Bruch- 
stücke aus  seinen  Hauptopern,  »Atys«,  »Thesee«,  »Alceste«",  »Armide«. 
Ins  Ausland  drangen  sie  schon  zeitig,  Modena  führte  bereits  1687 
Lullys  »Psyche«  mit  italienischen  Einlagen,  auf,  aber  sie  behaupteten 
sich  nirgends. 

Bald  nach  Lully,  im  Jahre  1688,  starb  auch  Quinault.  Der  Stil 
der  französischen  Oper  war  durch  beide  Männer  so  fest  begründet, 
daß  die  neuen  Kräfte,  die  an  ihre  Stelle  treten,  nichts  Wesentliches 
daran  änderten.  Unter  den  Nachfolgern  Quinaults  traten  Duboulay, 
Madame  Gibot,  La  Motte,  später  Ant.  Danchet  hervor.  Zuweilen  wagen 
diese  neuen  Dichter  mehr  als  Quinault,  in  Idomenee,  in  Matthesie 
z.  B.  einen  tragischen  Ausgang.  Aber  in  erster  Linie  streben  alle 
nach  den  hergebrachten  Ballette ft'ekten.  Diese  Seite  der  französischen 
Oper  hatte  während  Lullys  Zeit  noch  die  größten  Fortschritte  ge- 
macht, Vigarani  und  Rivani  entfalteten  in  Dekoration  und 
Szenerie  dichterischen  Erfindungsgeist.  Im  Jahre  1684  hatten  die 
Tanzszenen  einen  neuen  Reiz  gewonnen  durch  Einführung  von  Frauen. 
Eine  Mademoiselle  La  Fontaine  war  die  erste  Ballettänzerin.  An- 
gesichts dieser  neuen  Stützen  der  Opern dramen  machen  es  sich  die 
Dichter  etwas  leichter.  Die  Monologe  namentlich  leiden,  das  Ballett- 
element wird  immer  breiter,  und  bald  steht  im  Repertoire  der 
Academie  die  Musiktragödie  im  Quinaultscben  Stil  gegen  die  reinen 
Balletts  zurück.  Noch  zu  Lullys  Zeit  waren  diese  alten  Hof balletts 
auch  äußerlich  aufgestutzt  worden.  Im  Jahre  1686  wurden  für 
das  Ballet  de  la  jeunesse  zwei  Balkons  auf  der  Bühne  errichtet, 
damit  die  Schäfer  und  Schäferinnen  in  Doppelchören  singen  konnten. 
So  wurden  von  nun  an  Stücke,  die  gar  keinen  dramatischen  Zu- 
sammenhang haben,  sondern  nur  eine  Anzahl  von  »Entrees«,  wie  wir 
heute  sagen  von  Tableaux,  aneinander  reihen,  die  beliebtesten.  Sie 
heißen  Comedie-Ballet  oder  Opera-Ballet.  In  der  Zeit  zwischen 
Lully  und  Rameau  hat  an  der  Academie  ein  Stück  die  größte  Zahl 
von  Aufführungen  gehabt,  das  sich  Festes  Venitiennes  nennt. 
Es  ist  nichts  als  eine  Folge  von  fünf  italienischen  Intermezzos,  die 
weiter  nichts  Gemeinsames  haben,  als  daß  sie  alle  in  Venedig  spielen. 
Es  sind  Szenen  aus  dem  Volksleben,  aus  dem  Maskentreiben  in  der 


;[22  Französische  Oper 

Zeit   des   Karnevals.     Das   erste   Entree    »Les   Serenades    et    les 
Joueurs«  beginnt  damit,  daß  sich  zwei  Mädchen,  Irene  und  Lucile, 
die   denselben  Burschen,    einen   Herrn   Leander,    lieben,   treffen    und 
aushorchen.     Die  lustige  und  flotte  Szene,  in  der  uneingeschränkte 
Herzensergießungen  mit  Momenten  von  Zurückhaltung,  Verschlagen- 
heit und  Mißtrauen  fortwährend  wechseln,  schließt   mit  dem  Bünd- 
nis  zu   gemeinsamer  Eache.     Beschluß   und   Plan   sind   eben    fertig, 
da  kommt  Leander  mit  einem  Trupp  Musikanten,  um  der  Irene  ein 
Ständchen  zu  bringen.     Irene  schiebt  in  der  Dunkelheit  Lucile  vor, 
ohne  daß  es  Leander  merkt,  und  dieser  schwört  er  nun,  daß  er  die 
Lucile  nicht  ausstehen  kann.    Im  Augenblick,  wo  er  in  Ekstase  ge- 
rät,   schreit    die   Lucile    > Undankbarer    Schlingel«,    die    Irene    »Du 
Spitzbub«.      Die    Musikanten    kommen    wieder   auf  die   Bühne    und 
preisen  in  Chören  und  Arien  das  Glück  der  Liebe.    In  einem  tollen, 
ausgelassenen  Wirrwarr  geht  die  Posse  zu  Ende.    Das  zweite  Entree : 
»Le  Bai*   schildert  einen  Maskenball,  auf  dem  ein  Prinz,  um  seine 
Geliebte    auf   die   Probe    zu   stellen,    sich   ihr  in   einer  Verkleidung 
nähert.     Wichtiger    als    das  Liebespaar   sind    aber  die  Nebenfiguren, 
insbesondere   ein   Tanzmeister  und   ein  Musikmeister,    die   sich    erst 
die  größten  Elogen  sagen,  dann  aber  über  die  Vorzüge  ihrer  Kunst 
in   Streit   geraten.     Der   Tanzmeister   rühmt    seine   Pas,    der   andere 
seine  Töne.     Das  Stück  läuft  auf  eine  Galerie   musikalischer  Spaße 
hinaus,    der  Musikmeister  macht   seinem  Rivalen   vor,    wie   ein  See- 
sturm musikalisch  geschildert  wird,  wie  die  Winde  pfeifen,  wie  die 
Wolken   sich   teilen,    wie   der   Schlaf,    die  Nachtigall,    der  Frühling, 
die  Liebe  vom  Komponisten  behandelt  werden,  wie  er  Schatten  und 
Tote    sprechen   läßt.     Es   ist   eine   vollständige  Parodie  der  musika- 
lischen Aufgaben  der  Oper  —  am  Ende  wieder  ein  fröhliches  Kon- 
zert im  echt  venezianischen  Ton  mit  einer  Forlane   als  Hauptstück. 
Das    dritte  Entree    >Les    devins    de    la   Place   Saint  Marc«   ist 
eine   Zigeunerszene.     Zelia,    ein    Vornehmes   Mädchen,    ist  unter   die 
Zigeuner  gegangen,   um   ihrem   Geliebten   wahrsagen   und   ihn   aus- 
forschen zu  können.     Dabei  erfährt  sie,  daß  er  untreu  gewesen  ist. 
Die  Hauptsache  ist  eine  sehr  geistreiche  Musik,  deren  Kosten  haupt- 
sächlich das  Orchester  trägt.    Jeder  Satz  der  Wahrsagerin  wird  von 
den  Instrumenten  lebendig  und  breit  kommentiert.     Es  handelt  sich 
also   um   launige  Anwendung    des  Recitativo  accompagnato,    ja,  um 
ein   im   modernsten    Sinne    dramatisches    Orchester.      Als    Zelia    ihre 
Maske  abnehmen   und   sich    dem  Geliebten    entdecken  will,  spielt  es 
zu  den  Rezitativen  des  Paares  leise  die  ganze  Wahrsagerszene  noch 
einmal    an.      Das    andere    Stück,     »L'Amour    Saltimbanque« , 
führt   zu    einer  Seiltänzerbande.     Leonore    hat   eine   eingeladen,   um 
im  Trubel   der   zuschauenden  Menge   bequem    zu   einem  Stelldichein 
mit  ihrem  Florindo    zu   kommen.     Sie    darf  aber   nicht   ohne    eine 
Gesellschaftsdame  ausgehen.  Der  Kontrast  zwischen  Leonorens  Munter- 
keit und  dem  larmoyanten  Pathos  dieser  Begleiterin,  die   immer  in 


Die  Nachfolger  Lullys  123 

demselben  Tone  mahnt:  >Songez  ä  vous  defendre«,  »Denk  an  deine 
Ehre«,  ist  der  Kern  des  Stückes.  Märsche  und  Chöre  der  Seiltänzer, 
Harlekins,  Polichinellos  geben  den  lustigen  Rahmen.  Das  Ende  der 
»Festes  Venitiennes«  bildet  ein  fünftes  Entree:  »L'opera«  betitelt. 
Ein  neapolitanischer  Graf  liebt  eine  Opernsängerin  und  schleicht 
sich  als  Sänger  ihr  nach  und  mit  auf  die  Bühne.  Wieder  wie  im 
»Bai«  sind  musikalische  Verhältnisse  der  Inhalt  des  Entrees:  Sing- 
stunde, Sängerkünste,  die  verschiedene  Art  dramatischen  Gesanges, 
.die  Aufgaben  der  Komposition  in  Liebesarien,  in  Seestürmen,  in 
Naturszenen  mit  Bach  und  Vogelgezwitscher  werden  launig  vorge- 
führt. Den  »Festes  Venitiennes«  stand  ein  zweites  Camprasches 
Ballett:  »L'Europe  galante«  an  Beliebtheit  nur  wenig  nach. 
Die  andern  Haupstücke  der  Gattung  sind:  »Les  Muses«,  »Le  Car- 
naval  et  la  folie«,  »L'amour  charlatan«,  »Les  fetes  de  l'ete« ,  »Les 
Plaisirs  de  la  Paix«.  Alles  dramatisch  äußerst  lose  und  lockere 
Gebilde.  Gleichwohl  eroberten  sie  sich  nicht  bloß  an  der  Academie 
royale  einen  festen  Platz,  sondern  sie  durchbrachen  auch  das  Mono- 
pol des  königlichen  Instituts  und  riefen  muskalische  Nebenbühnen 
ins  Leben.  Ein  Beweis,  daß  die  Renaissanceoper  auch  in  Frank- 
reich keine  rechte  Herzenssache  werden  wollte,  sondern  daß  sie  hier 
noch  mehr  als  in  Italien  nur  künstlich  gehalten  werden  konnte. 
Obgleich  die  Opernaufführungen  dank  der  Zuschüsse  des  Königs  der 
Direktion  durchschnittlich  nicht  mehr  als  4500  Franken  kosteten, 
so  waren  doch  im  Jahre  1712  unter  der  Verwaltung  Gagenets  die 
Schulden  der  Academie  schon  wieder  auf  400000  Franken  ge- 
stiegen. Beständig  suchte  man  das  Institut  zu  heben.  Im  Jahre 
1713  erschienen  neue  Reglements,  die  Ausbildungsschulen  für  Solo- 
gesang, für  Tanz,  für  Instrumentalmusik  einführten  und  ein  tüch- 
tiges Personal  in  diesen  Fächern  sichern  sollten,  die  Einnahmen  der 
Komponisten  wurden  vermehrt,  für  die  ersten  zehn  Vorstellungen 
je  100,  für  die  nächsten  zwanzig  je  50  Franken  als  Gratifikationen 
eingeseszt,  den  Sängern  wurden  bei  Alter  und  Dienstunfähigkeit 
Pensionen  statutarisch  bewilligt.  Umsonst!  Von  allen  neuen  großen 
Opern  fiel  die  Hälfte  durch,  viele  so  energisch,  daß  man  sogar  vom 
Druck  absah.  Als  aber  im  Jahre  1714  in  einem  neuen  Ballett  die 
Frauen  zum  ersten  Male  statt  in  antiken  Gewändern  in  französischer 
Tracht  auftraten,  brachte  es  dieses  Stück  —  »Les  fetes  de  Thalie« 
—  zu  80  Vorstellungen  hintereinander.  Bei  den  meisten  dieser 
nach  Lullys  Tode  geschriebenen  Balletts  handelt  es  sich  nicht  bloß 
um  den  einfachen  Gegensatz  vom  Volkstheater  zur  gelehrten  Kunst, 
sondern  diese  im  Volksgeschmack  gehaltenen  Balletts  zeigen  ein- 
ausgesprochene Neigung  für  italienisches  Wesen.  Die  »Festes  Venie 
tiennes«  mit  den  lustigen  venezianischen  Szenen  sind  für  die  Hälfte 
dieser  Ballettdichtungen  typisch. 

und   wie    mit   der  Dichtung,  steht  es   ähnlich  mit  der  Musik  der 
französischen    Oper  unter  den  Nachfolgern  Lullys.     Ihre   Zahl    ist, 


124  Französische  Oper 

mit  der  venezianischen  Schule  verglichen,  beschränkt.  Es  konnte 
sich  eine  solche  Fruchtbarkeit  und  ein  gleicher  Reichtum  an  Talenten 
wie  in  Venedig  in  Frankreich  nicht  entwickeln.  Denn  zunächst  war 
die  französische  Oper  auf  Paris  beschränkt,  und  in  Paris  herrschte 
das  Monopol  der  Academie.  Die  im  Repertoire  hervorragendsten 
Komponisten  sind  der  Zeit  nach  Pascal  Collasse,  Henri  Des- 
marets,  Andre  Campra  und  Andre  Destouches.  In  zweiter 
Reihe  stehen  die  beiden  Söhne  Lullys,  Louis  und  Jean  mit  Vor- 
namen, Marin  Marais,  durch  seine  Gambenkompositionen  noch  heute 
bekannt  und  bedeutend,  Marc' Antoine  Charpentier,  Elisabeth" 
Claude  de  Laguerre,  Michel  de  Labarre,  Rebel^,  Bertin, 
Lacoste,  Batistin  Struck,  Salomon,  Joseph  Mouret,  Michel 
Monteclair,  Colin  de  Blamont,   Brissac. 

Alle  diese  Komponisten  halten  sich  streng  an  das  Lullysche  Ge- 
rüst, die  ersten  folgen  ihm  auch  im  Ausbau  ganz  sklavisch.  Collasse  ^ 
war  zwölf  Jahre  lang  Lullys  Schüler  gewesen  und  von  ihm  zu 
Nebenarbeiten,  zur  Ausfüllung  der  Chorsätze,  zur  Instrumentierung 
herangezogen,  nach  dem  Tode  des  Meisters  von  der  Academie  mit 
der  Vollendung  von  Lullys  letzter  Oper  »Achille  et  Polixfene«,  von 
der  nur  der  erste  Akt  fertig  war,  beauftragt  worden.  Er  gehört 
mit  Desmarets  zu  den  schwächeren  Talenten.  Wo  sie  sich  von 
ihrem  Vorbilde  unterscheiden ,  sind  es  Mißgriffe.  Bei  Desmarets 
klingen  Klagegesänge  gelegentlich  fidel,  dämonische  Stellen  gemüt- 
lich. Nur  mit  der  Passacaglia  im  fünften  Akte  von  »Venus  und 
Adone«  (1697)  hat  er  der  LuUyschen  Schule  Ehre  gemacht.  Colasse 
steigert  die  Ärmlichkeit  des  LuUyschen  Gesangstiles  ins  Gewöhn- 
liche. Seine  Chöre  singen  von  Freud  und  Leid  in  demselben  Tone, 
im  Tone  der  Marschmusik.  Mit  Destouches  erst  beginnt  eine 
Weiterentwicklung  des  LuUyschen  Stiles.  Seine  »Isee«  und  seine 
»Matthesie«  gehören  zu  den  besten  Werken  der  französichen  Oper 
in  der  mageren  Zeit  zwischen  LuUy  und  Rameau.  Noch  bedeuten- 
der ist  Campra  3,  ein  dem  LuUy  musikalisch  weit  überlegenes 
Talent,  die  stärkste  Stütze  der  französischen  Oper,  in  den  kritischen 
Jahren  derjenige  Komponist,  der  das  Interesse  an  der  Academie 
immer  wieder  wach  erhielt.  Den  Werken  dieser  beiden  Männer 
verdankt  die  französische  Oper  zwei  neue  Elemente  im  Stil:  erstens 
eine    dramatisch    bedeutungsvollere    Verwendung    der    Instrumental- 


1  L.  de  la  Laurencie:  »Une  dynastie  musicienne  au  XVII^  etXVIII« 
sifecle.     Les  RebeU  (Sbd.  d.  IMG  VII  S.  253  ff.). 

2  Vgl.  Chefs- d'ceuvre  de  Topera  frangais:  Les  saisons,  Thetis  et  Pelee. 

3  L.  de  la  Laurencie:  »Notes  sur  lajeunesse  d' Andre. Campra«  (Sbd. 
d.  IMG  X,  S.  Iö9ff.);  Neudrucke  Campras  in  les  chefs-d'oeuvre  de  l'opera 
frangais:  les  Festes  Venitiennes,  TEurope  galante  und  Tancrede,  —  Kurt 
Dulle:  »Destouches«.   Leipzig  (ohne  Jahresangabe). 


Die  Lullysche  Schule  125 

musik,   zweitens:    einen   fließenderen,   reicheren  Gesang.     Lullys  In- 
strumentalsätze   laufen   neben    der  Handlung   her,    sind  mit  den  zu- 
gehörigen Chören  entbehrlich.     Tatsächlich   kommt   es   auch  in  den 
Partituren    der   LuUyschen    Schule   vor,    daß    die   Komponisten    ver- 
nünftigerweise  Kürzungen    der   sogenannten    Divertissements    an   die 
Hand  geben,   z.  B.  in  Salomons   »Thesee«.      Künstler  wie  Destou- 
chesi   kamen    aber   bald   auf  den    Monteverdischen   Gedanken,    daß 
die  vom  Ballett  in  die  Oper  hereingetragene  Instrumentalmusik  nicht 
bloß    episodenmäßig,    sondern    für   die   Hauptszenen    der    Handlung 
verwertet   werden    könne.     Die    alte    französische  Neigung   zur  Ton- 
malerei gab  da  die  ersten  Fingerzeige.    Die  Szenen,  wo  eine  Natur- 
schilderung   am    Platze    war,    wurden    für    die    Orchestermusik    in 
Beschlag  genommen.  Sind  sie  friedlicher  Natur,  so  gibts  Instrumental- 
idyllen, die  Singstimme  liefert  den  erklärenden  Text   und:  wird  auf 
den  Orchestersatz  draufgeschrieben,  bald  singend,  bald  deklamierend, 
oder  aber  sie  konzertiert  mit  einem  Soloinstrument,  mit  einer  Flöte 
z.  B.,   die  die  Nachtigall  vertritt.     So  hat  es  Händel  den  Franzosen 
gerne  nachgemacht.    Spielen  die  Szenen  aber  vor  wilder  und  schau- 
riger Natur,  so  entfesselt  jetzt  die  französische  Oper  die  volle  Ton- 
kraft   und    die    rhythmischen    Schrecken    ihres   Orchesters.     In    der 
LuUyschen  Zeit   klingt   die   wogende  See   in   den  Instrumentalsätzen 
gerade   so   wie    ein  Schäferchor,   wenn   aber  jetzt  'der  Wald  braust, 
wenn's    schauert,    wenn  Dämonen  nahen,  da  hört  man  neue  Klänge, 
den  Naturelementen  abgelauscht.    Als  Marais  im  Jahre  1706  in  der 
»Alcyone«    einen  Seesturm  fand,   da  reiste   er   eigens   ans   Meer   zu 
Naturstudien,  und  der  »Tempeste«,   zu  dem  er  sich  am   Strande  die 
Inspiration   und   die   Noten    geholt    hatte,    rettete    die    ganze   Oper. 
Seitdem  wurden  wenige   französische  Musiktragödien    aufgeführt,    in 
der  die  französischen  Dichter  nicht  einen  Seesturm  anbringen  mußten. 
Eine   der   großartigsten    Tempestes   kommt   in    Campras   »Idomenee« 
vor.     Auch  Mozarts   »Idomeneo«,   obwohl   er   eine   italienische  Oper 
ist,  hat   doch   den    Seesturm   des   französischen   Vorbildes   wohl  be- 
achtet; auch  die   »Jahreszeiten«   Haydns,  auch  Beethovens  Pastoral- 
sinfonie   haben   Sturm    und    Gewitter    aus    der    französischen   Oper. 
Aber  nicht  bloß,  wo  sie  selbständig  sein  kann,  auch  da,  wo  sie  sich 
dem  Gesang  unterzuordnen  hat,  wird  mit  Destouches  die  Instrumen- 
talmusik  der   französischen    Oper    dramatisch    wertvoller.      Der  Ge- 
danke, den  Instrumenten  die  Zunge  zu  lösen,  sie  zwischen  die  Zeilen 
des  Gesangtextes   sprechen   zu   lassen,    war    allen  Musikern  des  aus- 
gehenden 17.  Jahrhunderts   gekommen.     Er  trieb   Schütz   zu    seinen 
geistlichen  Konzerten,   er  führte  Scarlatti  zu  der  obligaten  Begleitung 
der  Arien,  er  half  das  Recitativo  accompagnato  weiter  bilden.    Die  Fran- 


1  Neugedruckt  sind  von  Destouches:  Omphale  und  Iseee,   von  La= 
lande  et  Destouches:  Les  elements. 


126 


Französische  Oper 


zosen  verwirklichen  ihn  in  mannigfacher  Weise.  Im  Rezitativ  fällt  ihr 
Orchester  in  den  Cembaloton  ein  und  verweist  im  Heroldsdienst  auf 
kommende  Personen  und  Dinge,  so  wie  es  Haydn  in  der  »Schöpfung« 
noch  tut.     In  seiner  »Arethuse«   charakterisiert  Campra  die  Höllen- 


szenen mit  dem  Orchestermotiv :  =£^— »^— j^     J.    ^^ 


die  freundlichen  Gefilde  mit: 


^^^ 


Destouches   läßt   in    der   >Matthesie«    die  Amazonen   in    den  Instru- 


menten immer  mit  dem  Reitmotiv 


^ 


begleiten, 


in  derselben  Oper  entnimmt  er  einem  Empörungschor  die  Inter- 
valle des  verminderten  Dreiklanges  und  gibt  sie  in  der  nächsten 
Szene  den  Orchesterbässen,  um  die  Empörung  der  Natur  elementar 
zu  malen.  Das  System  der  Weberschen  Wolfsschlucht  ist  schon  in 
dem  Orchester  der  Nach-Lullyschen  Zeit  da,  es  sind  ganz  moderne 
Verhältnisse  in  der  Verwendung  der  Instrumente  da.  Namentlich 
bei  Destouches.  Er  hat  Sologesänge  eingeführt,  die  im  wesentlichen 
Orchesterstücke  waren,  instrumentale  Idyllen  und  Schauerbilder,  zu 
denen  die  darübergelegte  Singstimme  die  Erklärung  gibt.  Es  ist 
im  Grunde  dieselbe  Methode,  die  in  unserer  Zeit  durch  Wagner  zu 
neuer,  glänzender  Verwendung  gekommen  ist.  Destouches  ist  also 
für  die  Geschichte  der  Oper  im  allgemeinen  sehr  wichtig,  am  wich- 
tigsten allerdings  für  die  französische  dramatische  Musik.  In  der 
Tragedie  lyrique  steht  Rameau  auf  dem  System  des  Destouches, 
noch  stärker  arbeitet  die  komische  Oper  der  Franzosen  in  den  be- 
rühmten Erzählungen  und  Schilderungen,  die  von  Duni  bis  Boieldieu 
immer  wiederkehren,  mit  den  Mitteln  und  Ideen  des  Destouches. 
Und  doch  sind  bis  heute  die  Verdienste  dieses  Komponisten  selbst 
bei  den  Franzosen  verschwiegen  worden.  Warum?  Weil  Grimm 
im  Jahre  1752  (drei  Jahre  nach  dem  Tode  des  Destouches)  seine 
»Omphale«  in  einer  witzigen  und  brillant  geschriebenen  Kritik  ver- 
nichtet hat.  Diese  »Omphale«  war  als  Ausstattungsstück  so  be- 
rühmt, daß  sie  auch  nach  Deutschland  kam.  Schott  glaubte  im 
Jahre  1727  mit  ihr  noch  einmal  die  Hamburger  Oper  retten  zu 
können.  Musikalisch  gehört  sie  jedoch  zu  den  schwächeren  Arbeiten 
des  Destouches.  Trotzdem  lebt  in  der  neueren  Literatur  über  die 
französische  Oper  in  der  Zeit  nach  Lully  unser  Destouches  nur  als 
»Omphale «-Komponist.  So  tief  ist  der  Unfug  eingewurzelt,  die 
Geschichte  statt  nach  Noten  nach  Literaturmärchen  darzustellen. 


Die  Lullysche  Schule 


127 


Der  andere  Teil  der  Stilneuerung,  die  Reform  des  Gesanges  in  der 
französischen  Oper,  hat  zum  Hauptträger  Andre  Campra;  zur  Voraus- 
setzung den  Einfluß  italienischer  Musik.  Schon  bei  Cambert  war 
diese  mit  der  Übergabe  der  Royale  Academie  an  Lully  von  der 
Oberfläche  verschwunden,  aufgehört  hatte  ihre  Einwirkung  nicht, 
nach  LuUys  Tod  wird  sie  wieder  äußerlich  deutlicher.  Die  »Festes 
Venitiennes«  und  die  Menge  ihnen  ähnlicher  Balletts  spielen  nicht 
bloß  mit  Vorliebe  in  Italien,  sie  enthalten  auch  echte  und  nach- 
gebildete italienische  Arien,  die  ersteren  sogar  mit  italienischem  Text. 
Auch  in  den  Musiktragödien  zeigen  Campra,  Destouches,  Salomon 
den  wohltätigen  Einfluß  der  italienischen  Schule.  Das  sind  ganz 
andere  Rezitative  als  die  Lullyschen;  wenn  es  jetzt  Schreck,  Ent- 
setzen auszudrücken  gibt,  da  ist  nicht  bloß  im  allgemeinen  der  Ton 
richtig  getroffen,  sondern  die  Töne  leben  alle,  jeder  ein  sprechender 
Zug  im  Bilde.  Die  Form  der  Sologesänge  —  jetzt  läßt  sie  sich 
auf  Studien  Cavallis  und  die  Venezianer  wirklich  zurückführen,  am 
deutlichsten  in  dem  schroffen  Wechsel  von  AUegro  und  Lento. 
Sogar  die  italinische  Volksmusik  wird  benutzt.  Campra  ist  der  erste, 
der  Sizilianos  in  die  französische  Oper  bringt.  Im  >Idomenee«  ist 
eins  mit  einem  Thema,  das  wörtlich  in  Händeis  »Acis«  wiederkehrt: 


;^^^^^^ 


Dicht   daneben   steht  fran- 


zösisches Ballettgut  bei  ihm,   reizendste  Stücke,   besonders  in  seiner 
»Aröthuse«,  z.  B.  eine   »Air  des  Bergers«   im  Musettenton: 


die  mit  einer  »Air  des  Najades« 


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^^ 


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_^_^_^_^-._H: 


alterniert. 

Aber  auch  außerhalb  der  Oper  stärkt  sich  die  französische  Musik 
an  italienischen  Stücken  für  die  Gesangskomposition.  Fran9oisLalouette 
schreibt  schon  im  Jahre  1689  während  eines  römischen  Aufenthaltes 
italienische  Kantaten.    Ihm  folgen  von  1707  ab  italienische  Kantaten 


J28  Französische  Oper 

von  Nicolas  Bernier,  Jean  Baptiste  Morin,  später  Henry  Dumont  mit 
150  Psalmen  im  italienischen  Stile  (1721  im  Haag  veröffentlicht).  Den 
wichtigsten  Beitrag  zu  dieser  Kantatenarheit  bildet  Bacheliers  »Recueil 
de  cantates«  vom  Jahre  1728.  Da  wird  in  der  Vorrede  auch  der  ganze 
Sologesang  der  französischen  Oper  kritisiert.  Nur  die  kleinen  »Airs 
detachees«  heißt's  da,  waren  bisher  beliebt.  Das  Parterre  verlangte 
sie,  weil  es  sie  allein  verstand  und  nichts  duldete,  als  was  es  selbst 
mit-  und  nachsingen  konnte.  Über  diese  Stufe  suchte  man  sich  durch 
italienische  Hilfe  mit  edelstem  Eifer  hinaufzuschwingeri.  Italienische 
Musik  war  die  allgemeine  Parole.  Als  Philidor  der  Ältere  im  Jahre 
1725  seine  Concerts  spirituels  eröffnete,  hatte  das  Programm  Corellische 
Konzerte  und  italienische  Musik  an  der  Spitze.  Seit  1708  war  eine 
italienische  Truppe  in  Paris  und  parodierte  die  neuen  französischen 
Opern;  unter  dem  Eegenten,  Herzog  Philipp  von  Orleans,  der  selbst 
Opernkomponist  und  ihr  sehr  geneigt  war,  trat  sie  immer  mehr  in 
den  Vordergrund,  namentlich  als  sie  in  ihren  Intermezzis  franzö- 
sische Konzessionen  machte,  Tänze,  gelegentlich  auch  einmal  ein 
Feuerwerk  einlegte.  Die  Literaten  machten  die  Bewegung  gefährlich. 
Mit  der  Übertreibung,  in  die  Dilettanten  im  ästhetischen  Streit  so 
gerne  verfallen,  begnügten  sie  sich  nicht,  die  italienische  Musik  als 
Muster  hinzustellen,  da,  wo  es  angebracht  war,  sondern  sie  verwarfen 
die  französische  Musik  gleich  ganz  und  gar.  Das  ist  der  Grundton 
einer  Broschüre  des  Abbe  Fran9ois  Raguenet,  die  im  Jahre  1702 
mit  dem  Titel  »Parallele  des  Italiens  et  des  Fran^ois  en  ce  qui  regarde 
la  musique  et  les  operas«,  d.  i.  »Vergleich  der  französischen  und 
italienischen  Musik,  insbesondere  der  Oper«,  erschien.  Im  Jahre  1704 
antwortet  Lecerf  de  Vieville  mit  einer  »Comparaison  de  la  musique 
italienne  et  de  la  musique  fran9aise«,  die  die  nationale  Musik  der 
Franzosen  verteidigt  und  Lully  als  das  Ideal  hinstellt.  Sie  war  der 
Ausgangspunkt  eines  langen  Kampfes  zwischen  einer  italienischen  und 
einer  französischen  Musikpartei  in  Paris,  der  sich  bis  zum  Auftreten 
Glucks  hinzieht,  und  in  dem  Jean-Jacques  Rousseau  einer  der  ärgsten 
Schreier  gewesen  ist.  Die  französische  Partei  wäre  unterlegen  und 
die  Geschichte  der  französischen  Oper  jedenfalls  unterbrochen  worden, 
wenn  ihr  nicht  praktische,  positive  Hilfe  durch  einen  nationalen  Kom- 
ponisten ersten  Ranges  geleistet  worden  wäre.  Jean  Philipp  Rameau^ 
war  es,  der  die  Existenz  und  Selbständigkeit  der  französischen  Oper 
auf  LuUys  Grundlagen  noch  einmal  feststellte.  Schon  ein  Menschen- 
alter früher  hatte  Saint-Evremond  in  seinen  > Reflexions  sur  l'opera« 
die  neue  französische  Musikträgödie   einfach   als  eine  Dummheit  be- 


1  Louis Laloy:  »Rameau«  (Paris  1908) ;  L.  delaLaurencie:  »Rameau« 
(Paris  1908).  Neugedruckt  sind  in  den  Chefs-d'oeuvre:  Castor  et  PoUux, 
Hippolyte  et  Aricie,  Zoroastre,  Dardanus,  Les  Indes  galantes,  Les  festes 
d'Hebe,  Piatee. 


Jean  Philipp  Rameau  129 

zeichnet:  »une  sotisse  changee  de  musique,  de  danses  et  de  musique« 
lauten  seine  Worte.  Im  Anschluß  hieran  verwirft  Raguenet  die 
französische  Oper  vollständig,  geht  aber  über  Saint  Evremond  hinaus, 
dadurch,  daß  er  die  italienische  Oper,  nämlich  die  kleinen  Musik- 
possen, die  von  den  Italienern  nach  Paris  gebracht  waren,  als  das 
Richtige  und  Wahre  bezeichnet.  Da  war  nun  Widerspruch  unver- 
meidlich. 

Unter  allen  Opernkomponisten  der  älteren  Zeit  ist  Rameau  der- 
jenige, der  für  die  allgemeine  Musikgeschichte  die  größte  Bedeutung 
hat.  Er  ist  der  Vater  der  heutigen  Harmonielehre.  Auch  die,  die 
seinen  Namen  nicht  kennen,  genießen  die  Früchte  seiner  theoretischen 
Arbeit,  eine  wesentliche  Vereinfachung  des  Akkordsystems.  Erst  seit 
Rameau  gelten  ceg  und  eg  c  für  Varianten  desselben  Dreiklanges, 
erst  durch  ihn  hat  die  Schule  gelernt,  Stammakkorde  und  ihre  Um- 
kehrungen als  zusammengehörig  zu  betrachten  und  zu  behandeln.  Als 
Komponist  ist  Rameau  zuerst  wieder  mit  seiner  Klaviermusik  der 
Gegenwart  zugeführt  worden,  Farrenc  nahm  in  seinen  »Tresor  des 
pianistes«  die  ersten  beiden  Bücher  der  »Piöces  de  Clavecin«  auf, 
und  ihm  sind  deutsche  und  italienische  Herausgeber  gefolgt.  Delsarte 
hat  dann  in  seinen  »Archives  du  Chant«  eine  Reihe  Arien  und  Ensem- 
bles aus  Opern  Rameaus  gebracht;  in  neuerer  Zeit  sind  Orchester- 
sätze aus  Rameauschen  Ballettszenen  in  Paris  und  Leipzig  neugedruckt 
worden,  und  endlich  ist  seit  wenigen  Jahren  diesen  kleinen  Versuchen 
eine  französische  Gesamtausgabe  der  Werke  Rameaus  unter  Leitung 
von  Saint-Saens  gefolgt. 

Rameau  ist  ein  Zeitgenosse  unseres  Händel  und  Bach  (geb.  1683), 
und  zwar  ein  ebenbürtiger,  am  größten  als  Opernkomponist. 

Rameau  war  ein  Fünfziger,  als  er  im  Jahre  1733  mit  seiner  ersten 
Oper:  >Hippolyte  e t  Ar icie«,  hervortrat.  Seine  dramatische  Karriere 
hatte  aber  eine  lange  Vorgeschichte;  sie  begann  um  1721  mit  seiner 
Übersiedelung  nach  Paris.  Da  schrieb  er  fleißig  für  die  Jahrmarkts- 
theater, die  sich  das  Jahr  über  etliche  Wochen  in  St.  Germain  und 
St.  Laurent  auftaten  und  unter  dem  Monopol  der  Academie  um  ihr 
Leben  zu  kämpfen  hatten.  Geeignete  Stücke  aus  diesen  Possen  und 
Divertissements  sind  in  seine  Klavierstücke  von  1731  (»Nouvelle  suite 
de  piöces  de  clavecin«)  übergegangen,  sein  Geschick  für  die  dramati- 
sche Komposition  machten  sie  nur  in  sehr  engem  Kreise  kund.  Nie- 
mand wollte  Rameau  ein  Opernbuch  anvertrauen,  auch  La  Motte  wies 
ihn  ab.  Erst  die  Vermittelung  eines  Gönners,  des  reichen  Bankiers 
de  la  Popeliniöre,  bewog  den  Abbö  Pellegrin  im  Jahre  1731,  sich 
mit  Rameau  in  Verbindung  zu  setzen.  Aber  auch  Pellegrin  über- 
ließ seinen  »Hippolyte«  nur  gegen  eine  Kaution  von  500  Franken, 
war  aber  anständig  genug,  sie  nach  der  ersten  Probe  der  Oper  dem 
Komponisten  zurückzugeben.  Doch  stand  da  der  Dichter  mit  seiner 
guten  Meinung  zunächst  auf  der  Seite  einer  Minderheit,  unter  den 
Musikern  von  Fach  war  es  nur  Campra,  der  den  Wert  des  Kompo- 

Kl.  Handb.  der  Musikgescli.    VI.  9 


130  Französische  Oper 

nisten  gleich  erkannte.  Aus  diesem  einen  »Hippolyte«  ließen  sich 
zehn  Opern  machen,  sagte  er  den  Fragern,  und  dieser  Rameau  würde 
alle  andern  verdrängen.  Der  ganze  Anhang  Lullys  war  zunächst 
gegen  Rameau,  es  regnete  Pasquille,  eines  von  J.  J.  Rousseau  nennt 
ihn  einen  »Akkorddestillateur«.  Erst  allmählich  gewöhnten  sich 
Sänger,  Spieler  und  Publikum  an  Rameaus  Stil.  Bemerkenswert  wird 
die  Änderung  erst  von  1752  ab,  als  die  italienische  Buffotruppe  in 
Paris  eintraf  und  nun  den  Kampf  um  Italienisch  und  Französisch 
wieder  entfachte.  Da  trieb  der  Patriotismus  die  Lullysten  auf  die 
Seite  Rameaus,  und  nun  war  er  der  Abgott  aller  national  gesinnten 
Opernfreunde  für  die  nächsten  25  Jahre.  In  den  Jahren  1748  und 
1749  gab  die  Academie  hintereinander  fünf  Arbeiten  Rameaus:  >Zais«, 
»Les  fötes  de  l'Hymen  et  de  l'Amour«,  »Pygmalion«,  »Piatee«,  »Nais«. 
Das  war  noch  keinem  französischen  Komponisten  passiert.  Bis  zum 
Jahre  1760,  wo  er,  vier  Jahre  vor  seinem  Tode,  sich  zurückzog, 
gab  er  der  Academie  royale  22  große  Werke.  Auch  unter  ihnen  ist 
eine  Reihe  von  Opera-ballets  und  Comedie-ballets,  und  in  einzelnen 
von  ihnen,  wie  in  »Les  fetes  de  l'Hymen  et  de  l'Amour«,  hat  sich 
sein  Talent  am  reichsten  entfaltet,  sie  haben  die  Pariser  zuweilen 
am  stärksten  angezogen.  »Piatee«  z.  B.,  ein  musikalisches  Lust- 
spiel mit  einer  sehr  originellen  Ouvertüre,  wurde  in  zehn  Tagen 
siebenmal  aufgeführt.  Aber  der  Schwerpunkt  von  Rameaus  drama- 
tischen Arbeiten  liegt  in  seinen  Tragödien.  Sie  retteten  die  Gattung. 
Die  bedeutendsten  unter  ihnen  sind  »Castor  et  Pollux«,  »Dar- 
danus«   und   »Zoroastre«. 

Wie  auch  Rameau  dichterisch  weit  ungünstiger  als  Lully  gestellt 
war,  das  sieht  man  an  einem  Beispiel,  an  »Castor  und  Pollux«,  das 
die  Franzosen  zur  Zeit,  wo  es  neu  war,  für  die  vollkommenste 
Operndichtung  erklärten.  Und  doch  hat  Cahuzac,  der  Librettist, 
nicht  den  Mut  gehabt,  seine  Handlung  aus  dem  Motiv  der  Freund- 
schaft zu  entwickeln,  er  schaltet  eine  Querliebe  des  Pollux  zu  Telaire, 
der  Braut  des  Gastor,  ein,  die  dem  Charakter  des  Pollux  alles  Er- 
freuliche nimmt. 

Musikalisch -architektonisch  ruhen  Rameaus  Werke  auf  der  An- 
lage, die  Lully  der  französischen  Oper  gegeben  hatte,  soweit  es  die 
prinzipielle  Berücksichtigung  der  Ballettraditionen  betrifft.  Aber  Ra- 
meau ist  mit  Aufzügen  und  Massenszenen,  mit  den  kleinen  Airs  de- 
taches  und  Couplets  sparsamer  und  geschmackvoller,  zieht  sie  enger 
an  das  Drama  heran,  und  vor  allem  ist  er  im  inneren  Stile  seiner 
Musik  ein  ganz  anderer  als  Lully,  er  zeigt,  was  ein  Meister,  eine 
wirkliche  musikalische  Größe  aus  jenem  Schema  machen  kann.  Ra- 
meau hat  nur  in  früher  Jugend  eine  kurze  Zeit  sich  in  Mailand  auf- 
gehalten und  italienische  Musik  nur  wenig  gekannt.  Deshalb  tritt 
der  italienische  Einfluß,  der  bei  Campra  und  seiner  Umgebung  sich 
stark  zeigt,  nur  in  geringen  Spuren  hervor.  Koloraturen  und  Figuren- 
elemente   sind   es,   die   seine  Chöre,  weniger  die  Sologesänge,    melo- 


Jean  Philipp  Rameau  131 

disch  geschmeidig  machen.  Seine  Rezitative  kennen  das  italienische 
Verfahren  des  ruhenden  Basses  nicht,  seine  geschlossenen  Gesänge 
nicht  das  System  der  Variation.  Er  bildet  aus  eigener  Kraft  einen 
ganz  neuen  Stil  französischer  Musik  aus;  die  gewohnten  äußeren  For- 
men behält  er.  Der  erste  beste  Tanz,  eine  Gavotte,  ein  Menuett  ist 
bei  Rameau  etwas  vollständig  anderes,  höheres  als  bei  LuUj.  Keine 
Spur  mehr  von  der  steifen  Gleichmäßigkeit,  dafür  ein  lebendiger, 
reicher,  überraschender  Rhythmus,  eine  meisterliche,  wundervolle  Har- 
monie, die  auch  das  Gewöhnliche  mit  Dissonanzen  hebt,  für  alle  Auf- 
gaben des  Ausdruckes  eigene  Wendungen  bereit  hat  —  eine  Instru- 
mentierung, die  in  der  Freiheit  des  Farbenwechsels  und  des  Solospiels 
ihrer  Zeit  vorauseilt.  Alles  erscheint  neu  bei  Rameau  —  auch  der 
Aufbau  der  Sologesänge.  Da  weiß  er  mit  schönen  Orchestermotiven 
zu  teilen  und  dazwischen  zu  spielen,  wie  es  noch  keiner  gekonnt 
hat,  Gedanken,  die  ihn  fesseln,  nutzt  er  aus  durch  Umstellungen, 
Nachahmungen,  mit  allen  Künsten  des  Kontrapunktes,  die  er  spielend 
beherrscht,  wie  das  außer  Scarlatti  in  der  Oper  noch  kein  zweiter 
getan  hat.  Kaum  gibt  es  leere,  inhaltslose  Stellen  bei  Rameau;  wo 
die  Erfindung  schwächer  ist,  da  reizt  seine  Kunst.  Ihre  volle  Stärke 
entfalten  beide  Teile  seiner  Meisterschaft  in  den  großen  Szenen,  wo 
die  Hauptpersonen  mit  einem  Chor  zusammenwirken.  Die  Leichen- 
feier im  ersten  Akt  von  »Castor  und  PoUux«,  die  Ankunft  der  Dä- 
monen im  dritten  Akte  dieser  Oper,  die  Nilanbetung  im  dritten  Akte 
von  »Les  fetes  de  l'Hymen«,  das  sind  Szenen,  die  zum  Gewaltigsten 
gehören,  was  die  dramatische  Musik  besitzt.  An  dieses  Stück  hat 
Gluck  in  seiner  »Alceste«  angeknüpft,  da,  wo  das  Volk,  den  Ober- 
priester an  der  Spitze,  für  die  Rettung  des  Admet  betet,  dort  Händel 
für  die  Totenfeier  Sauls  und  Samsons.  Und  keiner  seiner  Nachfolger 
hat  das  Rameausche  Muster  in  der  Kraft  und  Steigerung  des  Auf- 
baues, der  unendlich  einfach  beginnt,  und  nicht  im  Reichtum  und 
in  der  Mannigfaltigkeit  der  zusammentrefi'enden  Gefühle  erreicht. 
Diese  Beispiele  gehören  ins  Gebiet  der  ernsten,  dramatisch  großen 
Situationen.  Für  sie  war  seine  angeborene  Begabung  am  stärksten 
und  eigentümlichsten:  mit  den  einfachsten  Noten  stellt  er  eine  er- 
habene Stimmung  fest,  mit  immer  wachsender  Kraft  malt  er  eine 
tiefe  Erregung.  Dem  Ausdruck  der  Freude  bleibt  er  die  höchsten 
Grade  schuldig,  der  Jubel  eines  liebenden  Herzens,  der  Dank  eines 
Geretteten  klingen  bescheiden  und  zurückhaltend  wie  bei  allen  fran- 
zösischen Komponisten  seiner  Zeit,  der  große  und  freie  Ton  fehlt 
noch.  Doch  sind  »Acanthe  et  Cephise«,  > Pygmalion«  und  die  Mehr- 
zahl seiner  ballettartigen  Opern  voll  der  reizendsten  Erfindung  und 
der  sinnreichsten  Arbeit,  Quellen  feinsten  Genusses.  Von  dieser  Seite 
her  hat  Rameau  zuerst  seine  Zeit  gewonnen,  und  von  ihr  aus  ver- 
tritt er  sie  für  die  Gegenwart  als  Muster  frgfnzösischen  Wesens  und 
französischer  Bildung. 

Hiermit  mußten  Rameaus  Opern  auch  das  Ausland  interessieren 

9* 


132 


Französische  Oper 


Doch  finden  wir  nur  spärliche  Aufführungen:  >Zoroastre«  in  Dresden 
1751,  einen  andauernden  Rameaukultus  nur  in  Parma.  Aber  die 
großen  Musiker  der  italienischen  Schule  lassen  das  Studium  Rameaus 
erkennen,  durch  ihn  kommen  sie  von  der  Monotonie  des  bloßen  Solo- 
gesanges ab,  am  deutlichsten  Jommelli  und  Traetta.  Seit  Rameau 
tritt  eine  Reform  in  Sicht. 


^' 


Das  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper' 

Eine  wissenschaftlich  vollbefriedigende,  eischöpfende  und  in  allen 
Einzelheiten  unanfechtbare  Darstellung  der  ältesten  Geschichte  der 
deutschen  Oper  ist  zurzeit  noch  nicht  möglich;  trotzdem  erscheint 
eine   Übersicht,    die   das   Feststehende    zusammenfaßt,    nicht   unnütz. 


1  J.  Mattheson:  >Der  vollkommene  Kapellmeister  usw.«,  1739;  der- 
selbe: »Grundlagen  einer  Ehrenpforte«,  1740.  F.  W.  Marpurg:  ^^Historisch- 
kritische  Beiträge«,  1754- 62.  O.C.Gottsched:*Nöthiger  Vorrat«, 1757-65. 
L.  Schneider:  »Geschichte  der  Oper  u  des  Königl.  Opernhauses  in  Berlm<, 
1852.  J.  F.  Schütze:  > Hamburgische  Theatergeschichte *,  Hamburg  1794. 
E.  Otto  Lindner:  »Die  erste  stehende  deutsche  Oper«,  1855.  E.  Pasque: 
»Geschichte  der  Musik  am  Hofe  zu  Darmstadt  1559—1710«,  1856  (im 
»Museum«).  M.  Fürstenau:  »Geschichte  der  Musik  und  des  Theaters  am 
Hofe  zu  Dresden«,  1861.  Fr.  Chrysander:  »Geschichte  der  Braunschweig- 
Wolfenbüttelschen  Capelle  und  Oper«,  1863  (Jahrbuch  für  Musikwissen- 
schaft I).  F.  Rudhardt:  »Geschichte  der  Oper  am  Hofe  zu  München«,  1865. 
L.  Köchel:  »Die  kaiserliche  Hofmusikkapelle  zu  Wien  von  1543-1867«, 
1868.  Mentzel:  »Geschichte  der  Oper  in  Frankfurt«,  1881.  E.O.Teubner: 
»Geschichte  des  Theaters  in  Prag«,  1883.  J.  0.  Opel:  »Die  ersten  Jahr- 
zehnte  der  Oper  in  Leipzig«,  1884  (Neues  Archiv  für  Sächsische  Ge- 
schichte und  Altertumskunde  V).  H.  Weber:  »Die  Geschichte  der  Oper 
in  Deutschland«,  Zürich  1890.  J.  Sittard:  »Geschichte  der  Musik  und  des 
Theaters  am  Württemberger  Hofe«,  Stuttgart  1890/91.  Fr.  Zelle:  »Bei- 
träge zur  Geschichte  der  ältesten  deutschen  Oper«,  Berlin  1889,  1891  und 
1893,  Programm  des  Humboldt-Gymnasiums.  W.Kleefeld:  »Das  Orchester 
der  Hamburger  Oper  1678-1738«,  1900  (Sammelbände  der  Internationalen 
Musikgesellschaft  I,  219ff.).  Georg  Fischer:  »Musik  in  Hannover«,  Han- 
nover 1903.  W.  Kleefeld:  »Landgraf  Ernst  Ludwig  von  Hessen-Darm- 
stadt und  die  Deutsche  Oper«,  Berlin  1904.  R.  Krauß:  »Das  Stuttgarter 
Hoftheater  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Gegenwart«,  Stuttgart  1908. 
L.  Schiedermair:  »Bayreuther  Festspiele  im  Zeitalter  des  Absolutismus«, 
Leipzig  1908;  derselbe:  *Die  Anfänge  der  Münchener  Oper«  (Sbd.  d.  IMG  Y, 


134  I^3^s  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

Außer  den  untengenannten  Arbeiten  ^  sind  hierfür  auch  kleinere  Theater- 
chroniken und  Zeitungsaufsätze  berücksichtigt  worden,  die  an  Ort 
und  Stelle  angeführt  werden  sollen. 

Deutschland  ist  den  Franzosen  mit  dem  ersten  Anlauf  zu  einer 
nationalen  Oper  fast  um  fünf  Jahrzehnte  vorausgekommen,  aber  es 
hat  das  Ziel  erst  sehr  spät  erreicht.  Vor  dem  19.  Jahrhundert  gibt 
es  keine  allgemein  anerkannte  deutsche  Oper,  man  kann  für  das 
17.  und  18.  Jahrhundert  nur  eine  Geschichte  der  Oper  in  Deutsch- 
land aufstellen,  und  diese  Geschichte  ist  im  großen  ganzen  nichts 
als  ein  Anhang  zur  Geschichte  der  italienischen  Oper. 

Wohl  aber  hat  es  an  Versuchen,  dem  italienischen  Musikdrama 
ein  selbständiges  deutsches  gegenüberzustellen  und  die  für  die  ganze 
deutsche  Musik  beschämende  und  mit  tiefgehenden  Schäden  ver- 
knüpfte Fremdherrschaft  zu  brechen,  nicht  gefehlt.  Die  Geschichte 
dieser  Versuche  im  Zusammenhange  zu  geben,  ist  eine  Aufgabe,  der 
sich  bis  heute  noch  niemand  unterzogen  hat,  obgleich  sie  es  wert 
ist.  Wenn  nichts  anderes,  stellt  sie  einen  reichen  Ertrag  an  Kultur- 
bildern  in  Aussicht.  Nur  die  Hamburger  Oper,  die  mit  ihren  deut- 
schen Bestrebungen  am  meisten  hervortritt,  ist  eingehender  behandelt 
worden  von  E.  0.  Lindner.  Doch  ist  Hamburg  nur  eine  Etappe. 
Überall  im  Norden  und  Süden  wie  in  der  Mitte  des  Deutschen 
Reiches  war  es  dem  naiven  Sinne  das  Nächstliegende  und  Natür- 
liche, die  neue  Erfindung  der  Italiener  mit  dem  heimischen  Theater 
in  Verbindung  zu  bringen:  biblische  Geschichten  in  erster  Linie, 
patriotische  Ereignisse  und  Charaktere,  zu  denen  man  unwillkürlich 
griff;  die  Welt  der  Griechen  und  Römer  lag  augenscheinlich  den 
Deutschen  noch  viel  ferner  als  den  Venezianern,  die  sie  nach  ihrem 
'Geschmack  ummodelten.  Ganz  unbefangen  knüpfte  man  an  Myste- 
rium und  Schulkomödie,  an  Ritterspiel  und  Wirtschaften  an,  die 
Vorgeschritteneren  mengten  gelegentlich  Religion  und  Opernschäferei 
nach  römischem  Vorgang  zusammen  und  stellten  Christus  in  den 
Olymp  hinein.  War  die  Unbrauchbarkeit  der  gewohnten  Poesie  er- 
wiesen, half  man  sich  mit  Übersetzungen  ausländischer  Originale. 
Dabei  wird  zwischen  italienischem  Musikdrama  und  französischem 
Ballett  in  der  Regel  geschwankt.  Das  Ende  des  Verlaufes  bildet 
die  unbedingte  Herrschaft  der  italienischen  Oper.  Von  den  Haupt- 
plätzen der  Oper  in  Deutschland  hat  allein  München  die  ersten  beiden 
Stufen  der  Einführung  übersprungen,    es  beginnt   sofort  italienisch. 

442 ff.);  derselbe:  »Zur  Geschichte  der  frühdeutschen  Oper«  (Jahrbuch  Peters 
1910).  Curt  Sachs:  »Musik  und  Oper  am  Kurbrandenburgischen  Hofe«, 
Berlin  1910.  E.  Reifschläger:  >Schubaur,  Danzi  und  Poissl  als  Opern- 
komponisten«, Berlin  1911.  Joseph  G.  Daninger:  >Sage  und  Märchen 
im  Musikdraraa«.  Eine  ästhetische  Untersuchung  an  der  Sagen-  und 
Märchenoper  des  19.  Jahrhunderts;  Prag  1916. 

1  Der  wesentliche  Teil  dieses  Kapitels  ist  bereits  in  Sammelbände  d. 
IMG  m,  S.  370  ff,  veröffentlicht  worden. 


Die  deutsche  Oper  in  der  älteren  Zeit  135 

In  Wien  zeigen  sich  die  deutschen  Spuren  darin,  daß  in  die  italieni- 
schen Opern  deutsche  Arien  und  Lieder  eingelegt  werden.  Etliche 
dieser  Einlagen,  Arbeiten  des  Kaisers  Leopold,  sind  in  den  Kaiser- 
werken Adlers  mitgeteilt.  Auch  der  kursächsische  Hof  fängt  mit 
einer  deutschen  Oper  wenigstens  an.  Nachhaltiger  treten  für  das 
deutsche  Element  die  kleineren  Residenzen  und  die  bürgerlichen 
Kreise  ein.  Die  Städte,  in  denen  große  Messen  gehalten  werden, 
gehen  voran:  Nürnberg,  Braunschweig,  Leipzig,  Naumburg;  am 
meisten  tut  sich  das  reiche  Hamburg  hervor.  Die  kleineren  Höfe, 
die  eine  deutsche  Oper  pflegen,  gehören  in  der  Mehrzahl  zu  den 
sächsischen  Nebenlinien:  Magdeburg  als  Sitz  des  Administrators  Her- 
zogs August  eröffnet  1658  die  Reihe,  Philipp  Stolle  ist  hier  der 
Hauptkomponist.  Dann  folgt  1671  Altenburg  mit  Großer,  Stolz el 
und  dem  Schuldirektor  Wenzel,  der  seine  Opern  auch  selbst  dichtet. 
Von  Altenburg  führt  der  Weg  nach  Eisenberg  und  nach  Meiningen,  wo 
von  1692  bis  1704  Römhild  wirkt.  Von  weiteren  Residenzen  greifen 
noch  Bayreuth  seit  1662  und  Onolzbach  (Ansbach)  seit  1678  mit  in 
die  Pflege  einer  deutschen  Oper  ein.  Mit  dem  Anfange  des  18.  Jahr- 
hunderts wird  die  deutsche  Arbeit  an  allen  diesen  Stellen  eingestellt. 
Aber  der  Glaube  an  ein  nationales  Musikdrama  scheint  nie  ganz  er- 
loschen zu  sein.  Als  Hamburg  und  der  Norden  verloren  ist,  tauchen 
seine  Hauptvertreter  Cusser  und  K  eis  er  in  Süddeutschland  auf. 
In  Nürnberg  wird  angeklopft,  in  Stuttgart  kommt  es  zu  einem  ge- 
legentlichen Versuch,  in  Durlach  zu  einer  letzten  längeren  Probe 
unter  Schweitzelsperger.  Mit  diesen  Durlacher  Arbeiten,  die  um 
1720  fallen,  hängt  es  wohl  zusammen,  daß  nach  fast  fünfzigjährigem 
Schlummer  die  deutsche  Oper  zuerst  wieder  auf  badischem  Boden 
auflebt,  in  Mannheim  unter  Schweitzer  und  Holzbauer. 

Das  sind  die  Grundlinien,  auf  denen  sich  die  Geschichte  der  deut- 
schen Oper  in  der  älteren  Zeit  bewegt  hat.  Will  man  das  Bild  ihrer 
Entwicklung  genauer  ausführen,  so  muß  von  vornherein  auf  Voll- 
ständigkeit des  musikalischen  Teiles  verzichtet  werden.  Denn  der 
größere  Teil  der  Partituren  ist  verloren  gegangen;  reicheres  Noten- 
material besitzen  wir  nur  von  der  Hamburger  Oper,  insbesondere  voll- 
ständige Partituren  Keisers,  Telemanns  und  Matthesons,  von  ihren 
Nebenmännern  Ariensammlungen.  In  Druck  gekommen  sind  in  der 
Entstehungszeit  Bruchstücke  von  Keisers  Opern,  von  denen  des 
Nürnbergers  Löhner,  des  Weißenfelser  Johann  Philipp  Krieger. 
In  Neudruck  liegen  vor  Keisers  »Crösus«,  Sätze  aus  »l'inganno  felice«i, 
der  größte  Teil  seines  >  Jodelet«,  und  K eis  ersehe  Arien  (heraus- 
gegeben von  E.  0.  Lindner);    Kriegersche  hat  Eitner  herausgegeben. 

Besser  steht  es  mit  den  Textbüchern;  die  Hamburger  sind  ziem- 
lich vollständig  in  der  Weimarschen,  die  Braunschweiger  in  der 
Wolfenbüttler  Bibliothek  erhalten.     Aus  diesen  Quellen  haben  Lind- 


1  Denkmäler  d.  Tonkunst.    Erste  Folge  Bd.  37  und  38, 


136  Das  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

ner  und  Ghrysander  ihre  Darstellungen  geschöpft.  Über  den  Ver- 
bleib der  sächsischen  und  süddeutschen  Textbücher  fehlen  noch  ab- 
schließende Untersuchungen.  Dann  und  wann  taucht  ein  zu  dieser 
Gruppe  gehöriges  Stück  wieder  auf  und  macht  uns  mit  verschollenen 
Talenten  bekannt:  die  österreichischen  Kaiserwerke  z.  B.  stellen  uns 
in  Rudolf  Alb  recht,  Sittards  Mitteilungen  über  Stuttgart  ^  in 
Michel  Schuster  (Tübinger  Student)  stattliche  Dichter  vor. 

Auch  über  den  geschäftlichen  Teil  des  alten  deutschen  Opern- 
betriebes, über  wichtige  Personen,  die  beteiligt  waren,  sind  noch 
reichere  Nachrichten  zu  erwarten,  wenn  alle  in  Betracht  kommenden 
Archive  darauf  untersucht  werden. 

Die  erste  deutsche  Opernaufführung,  von  der  wir  überhaupt 
wissen,  fand  am  9.  Oktober  1627  zu  Torgau  statt  als  Festvorstellung 
zur  Vermählung  der  sächsischen  Prinzessin  Luise  mit  dem  gelehrten 
und  musikalischen  Landgrafen  Georg  von  Hessen-Darmstadt.  Sie 
heißt  >Dafne«,  war  gedichtet  von  Martin  Opitz,  komponiert  von 
Heinrich  Schütz.  Die  beiden  berühmtesten  Männer  ihres  Faches, 
das  Haupt  der  Schlesischen  Dichterschule  und  der  vielseitigste,  be- 
deutendste Komponist  Deutschlands  hatten  sich  zur  Einführung  des 
Musikdramas  vereinigt.  Nur  die  Arbeit  Opitzens  besitzen  wir  noch. 
Sie  liegt  außer  in  den  älteren  Ausgaben  seiner  Werke  auch  in  einem 
Neudruck  vor,  den  Otto  Taubert  im  Jahre  1879  unter  dem  Titel 
»Dafne,  das  erste  deutsche  Operntextbuch«  veröffentlicht  und  glos- 
siert hat.  Im  wesentlichen  hat  Opitz  nur  die  >Dafne«  des  Rinuc- 
cini  übersetzt.  Eingefügt  hat  er  die  Figur  des  Cupido,  die  Er- 
zählung statt  der  Botin  einer  Reihe  von  Hirten  gegeben,  einzelne 
Chöre  auch  durch  Soli  ersetzt,  andere  in  ihrer  dramatischen  Kürze 
abgeschwächt.  Während  beim  Rinuccini  das  Volk  unmittelbar  um 
Befreiung  vom  Drachen  bittet,  schickt  es  mit  schlesischer  Umständ- 
lichkeit bei  Opitz  erst  eine  längere  Anrede  an  Apollo  voraus,  in  der 
alle  Ämter,  die  der  Gott  bekleidet,  alle  Verdienste,  die  er  sich  er- 
worben hat,  aufgezählt  werden.  Der  Anlage  der  Dichtung  nach  muß 
Schützens  Musik  der  des  Peri  und  Gagliano  ähnlich  gewesen  sein: 
Choroper.  Die  Komposition  ist  spurlos  verloren  gegangen.  Dra- 
matischen Geist  muß  sie  besessen  haben,  denn  davon  hat  Schütz  in 
seinen  Historien  genügende  Beweise  gegeben,  die  schönsten  in  der 
Szene  von  der  Vision  des  Saul  und  in  der  Klage  Davids  um  den 
Tod  Absalons.  Die  Form  aber  dürfen  wir  uns  etwas  schwerfällig 
denken,  denn  obwohl  Schütz  mit  Prätorius  der  erste  war,  der  in 
Deutschland  die  Monodie  vertrat,  blieb  er  dabei  doch  immer  etwas 
in  den  Banden  des  Chorsatzes. 

Die  Königliche  Bibliothek  in  Dresden  besitzt  ein  »Ballett  von 
Zusammenkunft  und  AVirkung  der  sieben  Planeten«,  das  Schütz  zu- 
geschrieben wird.     Es  ist  zwar  erst  im  Jahre  1678  aufgeführt  worden. 


1  Jos,  Sittard:  »Geschichte  der  Oper  am  Hofe  ?u  Stuttgart«,  1890/91. 


Heinrich  Schützens  »Dafne«  137 

aber  es  zeigt  in  einzelnen  Bemerkungen,  die  die  Besetzung  bestim- 
men, z.  B.  die  der  Frauenpartien  mit  Kapellknaben,  nach  der  Mei- 
nung genauer  Kenner,  wie  Moritz  Fürstenau,  Schützens  Handschrift. 
Auch  die  natürliche  breite  Melodik  des  Prologs  sieht  ihm  sehr  ähn- 
lich. In  der  Hauptsache  ist  dieses  Ballett  Instrumentalkomposition ; 
in  jedem  seiner  sieben  Akte  sind  Charaktertänze  eingelegt,  während 
deren  sich  Nebenfiguren,  ein  Arzt  und  ein  Spitzbube,  ein  Kavalier 
und  eine  Kupplerin  pantomimisch  unterhalten. 

Das  Stück  ist  ein  Beleg  für  die  französischen  Neigungen  in  den 
deutschen  Residenzen  des  17.  Jahrhunderts.  Obwohl  Dresden  schon 
seit  1662  sich  für  die  Italiener  erklärt,  italienische  Sänger  und  Kom- 
ponisten in  Dienst  hatte,  werden  immer  wieder  Balletts  eingeschoben. 
Aber  auch  deutsche  Opern  kommen  noch  vor;  allerdings  wieder  nur 
Übersetzungen  italienischer  Originale.  So  wird  bis  1679  noch  mehr- 
mals die  »Dafne«  aufgeführt,  jetzt  aber  nicht  mehr  mit  Schützens 
Musik,  sondern  von  Bontempi  komponiert,  in  einem  Stil,  der  zwi- 
schen Monteverdi  und  Cavalli  die  Mitte  hielt.  Der  Textdichter,  der 
nach  einem  venezianischen  Original,  vielleicht  Aureli,  gearbeitet  haben 
muß,  hat  die  Zahl  der  Personen  auf  fünfundzwanzig  gebracht.  Der 
halbe  Olymp  ist  herbeigezogen,  Volksfiguren  sind  reichlich  drein- 
gemischt: ein  Sackpfeifer,  des  Sackpfeifers  Liebste,  zwei  tolle  Bauern, 
eine  Bäuerin,  ein  Jäger,  der  die  Dafne  liebt,  also  mit  Apollo  kon- 
kurriert. Der  erste  Akt  beginnt  mit  einer  Götterszene,  erst  in  der 
zweiten  erscheinen  die  Hirten.  In  der  dritten  tritt  der  Jäger  auf 
und  singt  Lieder,  in  der  vierten  kommen  die  Bauern,  der  eine 
Urban,  mit  einer  Mistgabel,  Brose  mit  einem  Dreschflegel,  Gretha 
die  Bäuerin  mit  einer  Stange,  sie  wollen  den  Drachen  totschlagen. 
Ehe  in  der  sechsten  Szene  Apollo  den  Kampf  durchführt,  ist  noch 
der  Sackpfeifer  mit  Liedern  eingeschoben.  So  schlingen  sich  durch 
alle  die  dramatisch  notwendigen  Szenen  ganz  nach  venezianischem 
Muster  vergnügliche  Possen.  Deutsch  sind  die  Unflätigkeit  in  der 
Unterhaltung  des  Bauers  mit  seiner  Tochter,  deutsch  einige  Anklänge 
ans  Kirchenlied.  Ovid,  der  den  Prolog  vorträgt,  steht  neben  der 
Gruft,  der  er  eben  entstiegen  und  singt:  »Ich  bin  jetzt  Staub  und 
Asche«.  Die  Musik  dieser  > Dafne«  interessiert  durch  ihren  Reich- 
tum an  Liedern  und  dadurch,  daß  sie  nur  für  das  untere  Volk  Lied- 
weisen anschlägt,  für  den  Sackpfeifer  sind  es  lustige,  temperament- 
volle Tanzmelodien. 

Gleichzeitig  mit  der  Torgauer  *  Dafne«  wird  in  Prag  im  Jahre 
1627  eine  »Pastoralkomödie«  aufgeführt.  Nähere  Angaben  über  die 
Nationalität  dieses  ersten  Musikdramas  und  den  weiteren  Fortgang 
fehlen.      1680  herrscht  in  Prag  die  italienische  Oper. 

Wien  beginnt  1631  mit  Opemaufführungen  und  sofort  mit  italieni- 
schen Kräften.  Bald,  kaum  hat  die  venezianische  Oper  sich  bemerk- 
lich gemacht,  sichert  sich  der  kaiserliche  Hof  die  ersten  Meister  aus 
dieser  Schule:  Cftva-lli^  Cesti,  den  älteren  Zi an i.     Daß  man  aber 


138  Das  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

auch  hier  auf  eine  deutsche  Oper  hoffte,  ergibt  sich  aus  der  Tat- 
sache, daß  die  deutschen  Übersetzungen,  die  man  bei  den  Auffüh- 
rungen verteilte,  das  Metrum  der  italienischen  Originale  beibehielten. 
Freilich  sind  sie  oft  genug  sinnlos.  In  Draghis  »Monarchia  la- 
tina  trionfante«   z.  B.  ist  die  Arie: 

Campagna  fertili    wiedergegeben  mit:  Der  Felder  Trächtigkeit 
Fiamme  distruganno  Zehre  der  Flammen  Brand 

A  terra  cadano  Schönheit  und  Pracht  deß  Land 

Pompe  e  Belta  Ward  nicht  errett! 

Nicht  einmal  den  Titeln  und  Gattungsbezeichnungen  waren  die 
Hofpoeten  gewachsen.  Festa  musicale  oder  dramma  in  musica  finden 
wir  überall  mit  > gesungener  vorofestellt«  verdeutscht;  ein  Dresdner 
Dichter  überträgt  1667  beim  *Teseo^  des  Moniglia  die  Bezeich- 
nung  Festa  teatrale  mit  »Theatrumsfroh«. 

Bei  solchen  Erfahrungen  mußten  die  Versuche  mit  deutschen 
Übersetzungen  eingestellt,  die  Gedanken  an  eine  nationale  Oper  auf- 
gegeben werden.    In  Wien  fällt  diese  Wendung  gegen  das  Jahr  1650. 

Einen  besseren  Verlauf  nahm  es  eine  Zeitlang  im  Norden  Deutsch- 
lands. Hier  traten  Braunschweig,  Weißenfels,  Hannover,  Hamburg, 
Leipzig  der  Reihe  nach  für  eine  deutsche  Oper  ein,  standen  teilweise 
miteinander  in  Fühlung  und  Verbindung  und  setzten  das  Werk  fort, 
das  Heinrich  Schütz  in  Torgau  begonnen  hatte.  Mittelbar  und  un- 
mittelbar zeigt  sich  seine  Mitarbeit  in  Rat  und  Förderung.  In  Braun- 
schweig-Wolfenbüttel  war  Schütz  Kapellmeister  »von  Haus  aus«, 
Weißenfels  war  seine  zweite  Heimat,  Hamburg  war  ihm  durch  Schüler 
lieb  und  vertraut  geworden. 

1639  beginnen  die  Braunschweiger  Aufführungen  in  der  Form 
von  Festvorstellungen  am  Hofe  und  kommen  allmählich  so  gut  in 
Gang,  daß  1690  ein  öffentliches  Opernhaus  errichtet  wird,  das  Bert- 
hold Feind  in  seinen  deutschen  Gedichten  das  vollkommenste  aller 
norddeutschen  Opemtheater  nennt.  Es  war  wie  das  Hamburger  nach 
venezianischem  Muster  eingerichtet  und  verwaltet,  faßte  2500  Per- 
sonen in  Parterre  und  fünf  Rängen  und  stand  jedem  offen,  der  an- 
ständig gekleidet  war  und  ein  Eintrittsgeld  von  10  Silbergroschen 
und  dazu  die  Platzgebühr  bezahlte.  Sie  schwankte  zwischen  fünf 
Silbergroschen  für  einen  Parterresitz  bis  zu  fünf  Talern  für  eine  erste 
Rangloge.  In  der  Messe  fanden  20  Vorstellungen  statt,  bei  denen 
der  Herzog  UMch,  der  den  ganzen  Plan  entworfen  hatte,  auf  8000 
Taler  Einnahme,  3700  Taler  Ausgabe,  also  auf  einen  Reingewinn  von 
4300  Talern  rechnete.  Den  Stamm  der  Mitwirkenden  lieferte  die 
Herzogliche  Kapelle,  als  Hilfskräfte  kamen  Sängerinnen  aus  Weißen- 
fels, Helmstedter  Studenten,  der  Zellerfelder  Organist  mit  Chor- 
knaben und  Bergleute  vom  Harz.  Der  Betrieb  im  Großen  änderte 
aber  den  Charakter  der  Braun  seh  weiger  Oper.     Solange  es  sich  um 


Die  Braunschweiger  Opernauffiihrungen  139 

Hoffeste  gehandelt  hatte,  waren  die  Opern  deutsch:  Originale  oder 
Nachbildungen.  Der  Herzog  Ulrich  selbst  hatte  eine  Reihe  geist- 
licher Singspiele  gedichtet:  »Amelinde«,  »Jakobs  Heirat«,  »Daniel«, 
»Jonathan«;  Hauptkomponist  war  der  von  Schütz  empfohlene  Kapell- 
meister Löwe,  ein  aus  der  Geschichte  des  deutschen  Liedes  be- 
kannter Thüringer,  der  aus  Wien  kam.  Ein  Festspiel  aus  dem  Jahre 
1652,  »Glückwünschende  Freudendarstellung«,  ist  von  der  Prinzessin 
Elisabeth  komponiert,  das  einzige  aus  der  früheren  Periode,  dessen 
Musik  sich  in  Wolfenbüttel  noch  vorfindet.  Als  nun  aber  regel- 
mäßige Vorstellungen  gegeben  wurden,  da  strengen  sich  Bressand, 
der  Hofdichter,  und  Cusser^,  der  Kapellmeister,  vergebens  an,  den 
Bedarf  mit  eigenen  Werken  zu  decken.  In  erster  Linie  wendet  man 
sich  zur  Aushilfe  an  deutsche  Kräfte:  Erlebach,  Phil.  Krieger, 
Bronner,  Keiser  treten  auf.  Aber  es  reicht  nicht.  Es  müssen 
Lullysche  Opern  und  venezianische  übersetzt  und  eingerichtet  werden, 
und  das  Ende  sind  Italiener  in  braunschweigischen  Diensten:  Pa- 
ri setti  als  Dichter,  Alveri,  Fredrizzials  Komponisten.  Mit  dem 
neuen  Kapellmeister  Sc  hü rm  an  n 2  erhebt  sich  das  deutsche  Element 
noch  einmal:  es  beginnt  die  zweite  Glanzzeit  der  Braunschweiger 
Oper.  Wie  früher  Keiser,  so  machen  jetzt  Hasse  und  Graun  hier 
ihre  erste  Schule  durch,  man  bevorzugt  unter  den  italienischen  Wer- 
ken die  von  Deutschen  komponierten,  Händeische  Opern  erscheinen 
häufig.  Aber  die  Italiener  nehmen  einen  immer  breiteren  Platz  ein: 
Cavalli,  Scarlatti,  Pollarolo,  Bononcini,  Lotti,  Caldara 
bürgern  sich  ein. 

Der  Ausgang  des  Kampfes  bleibt  unentschieden.  Im  Jahre  1735 
löst  der  neue  Herzog  Ferdinand  Albrecht  Oper  und  Kapelle  auf. 

Die  Chrysandersche  Arbeit  über  die  Braunschweiger  Oper  ist 
durch  einen  Aufsatz  von  Albert  Mayer-Rein  ach  ergänzt  worden, 
der  Heinrich  Graun  als  Opernkomponisten  behandelt  und  über  sein 
Wirken  in  Braunschweig  Näheres  mitteilt. 

Über  die  Weißenfelser  Oper  waren  wir  die  längste  Zeit  auf  die  Mit- 
teilungen beschränkt,  die  sich  in  Marpurgs  »Historisch-kritischen  Bei- 
trägen« von  1774  und  in  Gottscheds  »Nöthigem  Vorrat«  (1757—65, 
2  Bände)  finden:  trockene  Aufzählung  von  Titeln,  nur  ganz  aus- 
nahmsweise Angaben  von  Dichter  und  Komponist.  Zunächst  hat  sie 
Opel  ein  wenig  vermehrt  auf  Grund  einiger  alter  Textbücher,  die 
sich  in  der  Halleschen  Stadtbibliothek  gefunden  haben  und  dann 
A.  Werner  auf  Grund  neuer  Forschungen  ^  zum  Abschluß  gebracht. 
Weißenfels  wurde  1657  Residenz,  aber  der  neue  Herzog  residierte 
lieber  in  Halle.     Erst  sein  Nachfolger,  Joh.  Adolf,  hielt  wirklich  in 


1  H.  Scholz:  »S.  Kusser«,  Leipzig  1901. 

2  Gustav  F.  Schmidt:  »Georg  Kaspar  Schürmann«,  München  1913. 

3  A.Werner:  »Gescbicbte.der Musikpflege  in  Weißenfels«  (Leipzig  1912). 


;[40  I^^-s  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

Weißenfels  Hof,  und  erst  von  seinem  Antritt  1680  ab  beginnt  die  Ge- 
schichte der  Weißenfelser  Oper.  Von  der  Mitte  der  achtziger  Jahre 
bis  1732  finden  regelmäßige  Vorstellungen  statt,  in  guten  Jahren  drei, 
vier  neue  Werke,  im  Durchschnitt  eins.  Die  Texte  sind  in  deutscher 
Sprache  verfaßt,  aber  deutschen  Inhalt  haben  unter  86  Stücken  doch 
nur  zwei:  »Das  entsetzte  Wien«  von  1683  und  »Die  thüringische 
Hertha«  von  1684.  An  allen  andern  zeigen  die  bloßen  Titel  die 
italienische  oder  französische  Abkunft:  es  sind  mythologische  Dramen 
oder  Balletts.  Bei  einzelnen  kann  man  die  bestimmte  venezianische 
oder  Pariser  Quelle  angeben,  etliche  wenige  sind  aus  Dresden,  Braun- 
schweig, Hamburg  bezogen.  Dichterisch  *hat  demnach  Weißenfels  zur 
Entwicklung  einer  eigenen  deutschen  Oper  nichts  beigetragen.  Musi- 
kalisch ruhte  die  ganze  Arbeit  auf  Philipp  Krieger  aus  Nürnberg, 
von  1725  ab  auf  seinem  Sohn:  Johann  Gotthelf  K.  Kriegers  Ar- 
beiten, soweit  sie  erhalten  sind,  zeigen  uns,  wie  schwer  es  den  deut- 
schen Musikern  wurde,  sich  in  die  Monodie  zu  finden.  Er  versuchts 
mit  einem  durch  Koloraturen  modernisierten  Motettenstil  für  den 
Aufbau  der  Form,  im  Ausdruck  etwas  eintönig  und  allzusehr  zum 
Munteren  geneigt,  ganz  wie  sein  Zittauer  Bruder,  der  Liederkomponist 
Job.  Krieger. 

Da  aber  die  Weißenfelser  nur  für  den  Bedarf  des  Hofes  zu  arbeiten 
hatten  und  nicht  gedrängt  wurden,  konnten  sie  ruhig  bei  den  deutschen 
Zielen  ausharren,  und  wurden  eine  moralische  Stütze  für  die  natio- 
nalen Bestrebungen.  K  eis  er  stammt  aus  Teuchern,  aus  Weißenfelser 
Gebiet,  Schieferdecker  in  Lübeck,  der  Hamburger  Forts ch  wurden 
hier  gebildet,  einige  von  den  wenigen  dramatischen  Versuchen  Bachs 
sind  auf  seine  Stellung  als  Weißenfelser  »Kapellmeister  von  Haus  aus« 
zurückzuführen.  Auch  Händel  hat  als  Knabe  seine  ersten  großen 
Eindrücke  von  Musik  in  Weißenfels  empfangen.  Die  Weißenfelser 
Oper,  die  1746  aufhörte,  hat  andern  sächsischen  Höfen  ein  Beispiel 
gegeben.  Unter  ihnen  tritt  der  Altenburger  am  meisten  durch 
Selbständigkeit  hervor.  Hier  und  in  Eisenberg  sind  in  der  Zeit  von 
1671  bis  1728  allerdings  nur  12  Opern  entstanden,  aber  bis  auf 
einen  »Orpheus«,  »Herkules«,  eine  »Irene«  und  einen  »Adonis«  sind 
sie  ganz  unabhängig  von  fremden  Mustern.  Eine  hat  einen  vater- 
ländischen Stoff:  »Das  glücklich  aufgegangene  Anhaltsche  Bären- 
gestirn«, eine  Hochzeitsoper  von  1697.  Die  andern  schlagen  ins 
komische  Fach:  »Der  Ursprung  des  bürgerlichen  Glückes«,  »Der 
Ursprung  des  Zankes«,  »Die  drei  Hauptbeherrscher  menschlicher  Be- 
gierden: Reichtum,  Ehre,  Weisheit«,  »Die  ungleich  geratene  Kinder- 
zucht«. Das  war  also  Oper  in  vollständigem  Anschluß  an  die  alte 
Schulkomödie.  Aufgeführt  wurden  die  Stücke  beim  Gregoriusfest 
und  andern  herkömmlichen  Musikterminen,  und  zwar  durch  die  Stu- 
dierenden des  Lizeo.  Der  Rektor  Dr.  Wenzel  war  der  Dichter, 
gelegentlich  lieferte  er  auch  die  Musik.  Die  Hauptkomponisten  waren 
die  einheimischen  Kapellmeister  Großer  und  StölzeL 


Die  Oper  in  Meiningen,  Hannover,  Hamburg  141 

An  Altenburg  schließt  Meiningen  an,  das  unter  der  Regierung 
Herzog  Heinrichs  in  den  Jahren  1692 — 1704  neben  Übersetzungen 
dramatische  Kantaten  mit  lokal  gefärbten  Texteo,  auch  zwei  Opern 
bringt:  »Die  Römhildsche  Frühlingslust«,  »Die  hochfürstlich  Thema- 
rische Maienlust«.     Komponist  ist  Römhild. 

Hannover  war  durch  Braunschweig  zur  Oper  gekommen.  Wichtig 
wurde  es  durch  Agostino  Steffani^,  der  1685  aus  München  hierher 
kam.  Steflfani  ist  einer  der  größten  Musiker  des  17.  Jahrhunderts, 
berühmt  namentlich  durch  seine  Kammerduette,  an  denen  sich  Händel, 
der  Steffanis  wegen  in  Hannover  Stellung  nahm,  gebildet  hat.  StefFanis 
Opern  führten  die  Braunschweiger  und  Hamburger  zu  einem  höheren 
Stil,  über  das  Schwanken  zwischen  schwerfälliger  Motettenanlage  und 
dürftigstem  Lied  hinweg.  Trotz  der  italienischen  Musik  hielt  aber 
Hannover  zur  deutschen  Sache,  zu  vaterländischen  Stoffen  wie 
»Heinrich  der  Löwe«.  Ein  prächtiges  Opernhaus  lenkte  durch  seine 
Maschinenwunder  die  Aufmerksamkeit  der  ganzen  Musikwelt  auf  sich. 
Es  hätte  eine  feste  Stütze  einer  nationalen  Oper  weiden  können.  Da 
begab  sich  Steffani  unter  die  Diplomaten,  im  Jahre  1714  ging  der 
Hof  nach  London.     Damit  schied  Hannover  aus  der  Bewegung  aus. 

Ihren  größten  Aufschwung  hat  die  deutsche  Oper  des  17.  Jahr- 
hunderts in  Hamburg  erreicht.  Schon  seit  1658  hatte  man  hier 
dann  und  wann  eine  italienische  Oper  versucht,  denn  die  Kunde  von 
der  neuen  italienischen  Kunst  war  durch  die  großen  Kaufherren  bald 
von  Venedig  hergetragen  worden.  Das  Braunschweiger  Institut  reizte 
unmittelbar  zur  Konkurrenz.  Musiker  gab's  in  den  norddeutschen 
Freistädten  überall  in  Hülle  und  Fülle,  der  Dreißigjährige  Krieg  hatte 
sie  aus  den  kleinen  Städten  weggetrieben.  Auch  an  Dichtern  fehlte 
es  nicht,  und  die  Hamburger  Schulen  waren  durch  ganz  Deutschland 
berühmt.  So  war  die  Hansestadt  seit  den  vierziger  Jahren  der  Haupt- 
sitz des  deutschen  Liedes  geworden,  der  Weg  zu  einer  deutschen 
Oper  schien  damit  angebahnt.  Der  reiche  Ratsherr  Gerhard  Schott 
beschloß  den  Gedanken  ins  Werk  zu  setzen,  zog  den  Lizentiaten 
Lütjens  und  den  weit  angesehenen  Organisten  Jan  Adam  Reinken 
mit  herzu  und  versicherte  sich  vor  allem  der  Zustimmung  der  Ham- 
burger Geistlichkeit.  Das  war  ein  Schritt,  der  die  deutschen  Ver- 
hältnisse eigentümlich  beleuchtet.  Die  Italiener  taten  mit  der  Oper 
einen  unverhohlenen  Schlag  gegen  Kirche  und  Mittelalter,  den  Deut- 
schen war  das  Musikdrama  von  dieser  Seite  einfach  unverständlich. 
Das  geistliche  Ministerium  hieß  den  Plan  Schotts  gut,  auf  dem 
Gänsemarkt  an  der  Alsterstraße,  da  wo  heute  Lessings  Denkmal 
steht,  entstand  ein  eigenes  Opernhaus,  im  Jahre  1678  wurde  es  mit 
einem  geistlichen  Singspiel,  »Der  erschaffene,  gefallene  und  wieder 
aufgerichtete    Mensch«     eröffnet.      Der    Dichter    war    der    kaiserlich 


1  Arthur  Neißer :  »Agostino  Steffani<,  München  1905.  —  A. Untersteiner: 
»Agostino  Steffani«,  Rivista  musicale  XIV,  S.  609 ff. 


142  ^^^  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

gekrönte  Poet  Richter,  der  Komponist  Johann  T heile,  ein  Schüler 
von  Schütz.     In  den  nächsten  Jahren   folgten  noch  etliche  biblische 
Opern:    »Michal  und  David«,   »Die  makkabäische  Mutter«,   »Esther«, 
»Die  Geburt  Christi«,   auch   eine   allegorische  Oper    »Cherubine,    die 
göttlich  Geliebte«    schließt  sich  an.     Es  sind  wertvolle  Dichtungen, 
rein  in  der  Sprache  und  in  der  Gesinnung;  in  der  freien  Erfindung, 
der  Einstellung  von  Wirten,  Hausknechten  und  andern  Volksfiguren 
realistisch,    aber  bis   auf  vereinzelte  Ausnahmen,    wie    der  gefräßige 
Jude  in   der    » Makkabäischen  Mutter«,  taktvoll.     Sehr  wohl  könnte 
der  Prediger  Elmenhorst,  wie  angenommen  wird,  sie  verfaßt  haben. 
Hier  bewegte  sich  die  Phantasie  der  gebildeten  Kreise,  das  sieht  man, 
auf  sicherem  Boden,   und   es    war   ein  Weg  eingeschlagen,   auf  dem 
man  zu  einem  ganz  vorzüglichen  deutscheu  Oratorium  hätte  kommen 
müssen.     Ohne  viel  Suchen,  in  aller  Einfalt  war  das  Richtige  getroffen. 
Leider  aber  begnügte  man  sich  nicht  damit.    Die  welterfahrenen  und 
weitgereisten  Schöngeister,  der  durch  die  ganze  Musikwelt  dringende 
Ruf  Ca  valiischer,   Cestischer,  Lullyscher  Opern  setzten  auch  in  Ham- 
burg  eine    Renaissancerichtung   durch.      Namentlich    der   Komponist 
Adam  Strungk^,   der  aus  Dresden  kam,  scheint  dafür  tätig  gewesen 
zu  sein^    daß  Stijcke  von  Minato  und  Corneille  übersetzt  und  nach- 
gebildet wurden.     Der  Ratsherr  und  spätere  Bürgermeister  Lukas  von 
Bostel    fühlte   auf   diesem  Feld   einen   neuen  Beruf  und  ward   der 
Führer   der  Modernen.     In    seinem    »Cara  Mustapha,    der  glückliche 
Großvezier«    ging   er   1682   sogar  über   seine  Vorbilder  hinaus  und 
nahm    einen  Stoff  aus  der  jüngsten  Vergangenheit.     Die  Roheit  der 
Sprache,  die  Plumpheit  der  frei  nach  Quinault  eingestreuten  Liebes- 
szenen brachte  aber  die  Hamburger  Oper  zum  ersten  Male  in  ernste 
Lebensgefahr.      Die   Geistlichkeit   erhob   Einsp;:uch,   verdammte,    der 
Prediger  von    St.  Jakobi,    Magister    Reiser,    an   der  Spitz«,   von   der 
Kanzel  herab  das  Musikdrama  als  ein  Werk  der  Finsternis  und  konnte 
erst    durch  die  Gutachten  der  juristischen  und  theologischen  Fakul- 
täten von  Rostock  und  Wittenberg  beschwichtigt  werden,   die  etliche 
der  von  den  Parteien  eingereichten  Stücke,  nämlich  die  nach  Quinault 
gearbeiteten   Dichtungen    von    »Alceste«    und    »Theseus«    wegen   der 
heidnischen  Götter  und  Buhlereien,  Bostels   »Cara  Mustapha«   wegen 
Anstößigkeit  m  puncto  pii   et  honesti  verwarfen,   sich   aber  grund- 
sätzlich  für    die    Singspiele    aussprachen.      Der   Streit    dauerte    zwei 
Jahre   und   rief  eine   umfangreiche  Literatur   von  Flugschriften   und 
Broschüren  hervor,  aus  der  Elmenhorsts  *Dramatologia<  von  1688, 
die  das  Schlußwort  bildet,  hervorzuheben  ist.    Elmenhorst  betont  den 
Nutzen  der  Opern   für  Fortbildung  von  Poesie  und  Musik,    verwirft 
aber  die  Mythologie.    Mit  der  letzteren  Ansicht  war  er  in  der  Minder- 
heit.   Nach  dem  Zwischenfall  mit  dem  »Cara  Mustapha«  verschwindet 


1  F.  Zelle:   »J.  Theile  und  N  A.  Strungk«,  Berlin  1891  (Programm  des 
Humboldtgymnasiums). 


Die  Hamburger  Oper  ]^43 

niclit  die  Mythologie,  sondern  die  Bibel  von  der  Hamburger  Bübne. 
Es  kommen  nocb  eine  beilige  Eugenia  und  der  Märtyrer  Polyeuct. 
Das  sind  Legendenstücke  aus  der  Azione  sacra  der  Italiener  gelieben; 
von  den  einbeimiscben  Dicbtern  liefert  nur  Bostel  nocb  einen  >Kain 
und  Abel«.  Von  1690  ab  berrscbt  auf  lange  Zeit  die  Mythologie 
im  Bunde  mit  der  profanen  Historie.  Mit  den  Dicbtern  bat  die 
Hamburger  Oper  Unglück.  Bressand,  der  von  Braunscbweig  her- 
gezogen wird,  ist  der  einzige,  der  eine  Handlung  geschmackvoll  und 
den  Forderungen  der  Musik  entsprechend  zu  entwickeln  versteht. 
Die  andern  stehen  tief,  tief  unter  den  niedrigsten  Venezianern.  Wir 
Deutsche  haben  für  Philologie  und  Altertumswissenschaft  ausgezeich- 
nete Gelehrte  gestellt,  in  Poesie  und  praktischer  Bildung  aber  hat 
kein  Kulturvolk  das  Renaissanceexaraen  so  schlecht  bestanden  wie 
das  deutsche.  Der  Takt  war  in  der  langen  Kriegszeit  abhanden  ge- 
kommen, in  die  vorhandene  Gedankenwelt  schob  sich  die  Antike  nur 
verwirrend  ein,  verschmolz  nicht,  setzte  keine  Ideen  ab,  sondern  ver- 
führte nur  zum  Tändeln  mit  Namen  und  Anekdoten  und  zur  Frivo- 
lität. Das  Ärgste  in  diesem  Mißbrauch  alter  Kultur  ist  von  den 
Hamburger  Librettisten  geleistet  worden.  Unter  ihnen  gab  Christian 
Postel  den  Ton  an.  Als  Dramen  sind  seine  Stücke  liederlich  und 
widerlich,  um  die  Handlung  ist's  ihm  kaum  Ernst,  seine  Sprache 
würzt  den  Bombast  der  Schlesiscben  Schule  durch  Zoten.  Postel  ist 
aber  ein  gewandter  Reimer  und  sichert  sich  den  Erfolg  durch  eine 
Menge  Liedereinlagen,  die  die  Lebensweisheit  und  die  Tagesinteressen 
des  gemeinen  Mannes  geschickt  in  Verse  fassen.  Der  anspruchslose 
Kleinbürger  nahm  aus  diesen  Opern  immer  etwas  für  den  Haus- 
gebrauch mit  heim,  und  sei  es  ein  schlüpfriges  Couplet,  wie  in 
»Venus  und  Adonis«  das  Lied  des  Schäfers  Gelon,  in  der  »Ariadne« 
das  Lied  des  Scherenschleifers. 

Noch  schlimmer  war  Balthasar  Feind.  Mit  ihm  beginnt  in  der 
Hamburger  Oper  die  Herrschaft  der  lustigen  Person,  die  bald  un- 
entbehrlich mrd: 

Und  sind  die  Opern  noch  so  schön, 

wenn  Arlechino  nicht 

sein  Amt  dabei  verriebt, 

so  können  sie  doch  nicht  bestehn, 

ein  Tor  muß  seinesgleichen  sehn 

und  sind  die  Opern  noch  so  schön 

heißt's  in  Feinds  eigenem   »Antiochus«. 

Es  war  nicht  bloß  die  lustige  Person,  durch  die  Feind  der  Ham- 
burger Oper  schadete,  sondern  noch  mehr  tat  er  es  durch  den  un- 
sittlichen, unmoralischen  Geist  in  der  Auffassung  der  Fabeln.  Mit 
Feind  schwindet  aus  den  Handlungen  der  Ernst,  die  Hamburger  Oper 
geht  unwillkürlich  auf  Karikatur  und  Parodie  aus.  Auch  den  furcht- 
barsten Geschicken  sucht  sie  geistreich  oder  dumm  einen  Scherz,  eine 


144  l^as  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

witzige  Wendung  abzugewinnen.  Feinds  »Lucretia«  schließt  mit  den 
Versen : 

Hab  Dank,  Lucretia,  deiner  Ehr 
hinfort  ersticht  sich  keine  mehr. 

In  Durlach,  wo  diese  »Lucretia«  1719  in  Bearbeitung  erscheint,  ist 
dieser  Schluß  noch  mundgerechter  gemacht  worden: 

Diese  starb  für  ihre  Ehr, 
heut  ersticht  sich  keine  mehr. 

Was  die  Hamburger  sich  als  Komik  bieten  ließen,  sieht  man  aus 
Hunolds^  :»Salomon«  (1709).  Da  trifft  die  lustige  Person  des  Stückes, 
Heses  mit  einem  Schneidergesellen  zusammen,  beredet  ihn  mit  ihm 
die  Kleider  zu  vertauschen  und  sich  mit  verbundenen  Augen  auf 
einen  Ball  lühren  zu  lassen.  Die  nächste  Szene  aber  zeigt  das  glühende 
Bild  Molochs,  Salomon  soll  eben  ein  Opfer  bringen,  und  dieses  Opfer 
wird  der  unglückliche  Schneidergeselle.  Dem  Götzen  in  die  Arme 
gelegt,  schreit  er  von  Brandwunden  entsetzt:  »Au  weh!  Wie  heißt 
das  Ding?«  Heses  erwidert:  »Sing  nur,  Herr  Schneider,  sing!«  Der 
Oberpriester  aber  schließt  den  greulichen  Vorgang  mit: 

Großer  Moloch,  sieh  doch  an, 
was  die  Andacht  hat  getan. 

Hunold  hält  in  der  Vorrede  seines  Stückes  diesen  widerlichen  Einfall 
für  ein  Meisterbeispiel  des  Komischen.  Ulrich  König,  der  nach- 
malige Dresdner  Hofpoet,  tritt  mit  höherer  Gesinnung  in  die  Reihe 
der  Hamburger  Operndichter,  er  ist  aber  zu  matt  und  langweilig, 
um  erziehen  zu  können. 

Im  Jahre  1701  wurde  eine  Oper  aufgeführt  »Störtebecker  und 
Gödge  Michaelis«  mit  Musik  von  Keiser,  den  Text  hatte  ein  Sänger 
namens  Holt  er  verfaßt.  Der  Störtebecker  war  ein  Räuberhaupt- 
mann, der  das  Hamburger  Land  lange  Zeit  unsicher  gemacht  hatte 
und  jüngst  geköpft  worden  war.  Den  hatte  man  nun  mit  möglichster 
Naturtreue  dramatisiert,  das  ganze  Stück  durch  floß  wirkliches  Blut, 
Kälberblut  aus  Schweinsblasen,  die  die  Sänger  unter  ihre  Kleider 
gebunden  hatten.  Auch  die  Hinrichtung  ward  in  dieser  Weise  vor 
den  Augen  der  Zuschauer  vollzogen.  So  weit  war  es  mit  der  Roheit 
gekommen.  Das  Stück  machte  beim  gewöhnlichen  Publikum  großes 
Glück,  verzog  sich  jedoch  bald  ohne  Musik  auf  die  kleinen  Bühnen 
der  Stadt.  Die  Oper  behielt  aber  von  ihm  als  ein  häufig  gebrauchtes 
Requisit  die  Schweinsblase.  Enthauptungen  auf  der  Bühne  waren 
sehr  beliebt,  Klistiere  wurden  verabreicht,  vertierte  Menschen  rannten 
brüllend  umher;  bald  spielte  das  liebe  Vieh,  Kamele,  Pferde,  Esel, 
Affen,  selbst  mit.  Und  doch  knüpft  an  jenen  »Störtebecker«  eine 
gesunde  Wendung  in  der  Hamburger  Oper  an:  Ungeklärt  lebt  schon 


1  H.  Vogel:  »Gh.  F.  Hunold«  (Menantes),  Lucka  v.  J.  A. 


Die  Hamburger  Oper  145 

in  Posteis  lustiger  Person  mehr  als  eine  Nachahmung  der  Venezianer, 
noch  deutlicher  zeigt  sich  in  den  Liedern  seiner  andern  Personen, 
die  die  Moral  und  den  Klatsch  der  Gasse  in  Reime  bringen,  das  Be- 
streben, mit  der  Zeit  und  mit  dem  Volke  Fühlung  zu  nehmen.  Der 
>StÖrtebecker«  geht  nun  auf  dieses  Ziel  im  großen  los  mit  der  ganzen 
Handlung  und  bedeutet  so  eine  Absage  an  Renaissanze  und  Antike, 
sucht  sie  durch  zeitgemäße,  volkstümliche  Dichtung  zu  ersetzen. 
Diese  Richtung  ist  von  den  Hamburgern  mit  einigen  Stücken  weiter 
verfolgt  worden.  1700  kommt  eine  Oper,  die  die  Leipziger  Messe 
zum  Gegenstand,  Studentenszenen  zum  Hauptinhalt  hat,  1725  wird 
ein  Stück,  »Hamburger  Jahrmarkt«,  und  ein  anderes,  »Hamburger 
Schlachtzeit«,  aufgeführt.  Es  sind  Bilder  und  Intermezzi  aus  dem 
Hamburger  Leben,  Figuren  aus  dem  niederdeutschen  Volke  heraus- 
gegriffen. Dienstmädchen,  Bergedorfer  Gemüsefrauen,  Marschbauern 
spielen  die  Hauptrolle.  Es  wird  viel  Plattdeutsch  gesprochen.  Von 
dieser  Seite  hat  die  Hamburger  Oper  in  neuerer  Zeit  einen  Bewun- 
derer in  Theodor  Gaedertz  (»Das  niederdeutsche  Drama«)  gefunden. 
Sie  sind  keine  Meisterwerke,  aber  gelungene  Anläufe  zu  einer  Volks- 
oper, zu  einer  komischen  Oper.  Sie  gehören  mit  den  biblischen 
Stücken  der  Elmenhorstschen  Periode  zu  den  selbständigen,  berech- 
tigten und  gesunderen  Leistungen  der  Hamburger  Oper.  Leider  kam 
es  nicht  mehr  zu  einer  Ausgestaltung  der  neuen  Gattung,  das  ge- 
bildete Hamburg,  auch  Mattheson  darunter,  verwarf  sie.  Man  war 
im  Wirrwarr  nervös  geworden  und  hatte  den  Maßstab  für  das  der 
Oper  Zuträgliche  ganz  verloren.  Das  deutsche  Ideal  kam  dabei 
immer  schlechter  weg.  Die  Originalarbeiten  traten  immer  mehr 
hinter  den  Übersetzungen  zurück  —  darunter  sehr  geschickte  der 
Steffanischen  Opern  durch  Fideler.  Bald  macht  sich  Mischung 
verschiedener  Sprachen  immer  breiter.  Schon  in  Händeis  »Almira« 
findet  man  italienische  Arien  eingelegt,  bei  andern  auch  französische; 
ja  Feind  dichtete  in  seine  deutschen  Texte  selbst  freiwillig  italienische 
Episoden.  Das  Ende  ist  der  Einzug  der  italienischen  Oper  in  Ham- 
burg. 1738  wird  das  schöne  Haus  auf  dem  Gänsemarkt  auf  den 
Abbruch    verkauft. 

Am  meisten  bleibt  bei  diesem  Schicksal  des  Hamburger  Unter- 
nehmens die  Arbeit  der  Musiker  zu  bedauern.  Denn  die  hat  sich 
in  einem  erfreulichen  Crescendo  entwickelt,  das  durch  die  Namen 
Theile,  Strungk,  Wolfg.  Franck*,  Förtsch,  Conradi,  Kusser, 
K eis  er  gebildet  wird.  Als  Gäste  von  auswäi-ts  treten  in  diese  Reihe 
Bronner,  Krieger,  Händel^  sehr  oft  besonders  Steffani  herein. 
Theiles  Oper  liegt  in  Upsala  bisher  noch  unbenutzt,  Strungk  ist  ver- 
loren.    Das    Bild    der    Hamburger    Opernmusik    der    ersten    Periode 


1  Fr.  Zelle:  >Joh.  Wolfg.  Franck«,  Berlin  1889  (Programm  des  Hum- 
boldtgymnasiums); A.  Werner:  > Briefe  von  J.  W.  Franck,  die  Hamburger 
Oper  betreffend*  (Sammelbände  d.  IMG  VII,  S.  125  ff.). 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.     VI.  10 


^46  I^^s  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

müssen  wir  uns  in  der  Hauptsache  aus  den  Franckschen  Werken 
suchen:  »Vespasian«,  »Aeneas«,  »Diocletian«,  »Kara  Mustapha«,  von 
denen  die  Mehrzahl  der  Arien  gedruckt  sind.  Arien  sind  es  der  Form 
nach  gar  nicht,  sondern  Lieder,  wie  sie  in  der  Ristschen  Schule  ge- 
schrieben wurden,  einzelne  steif,  die  Mehrzahl  aber  talentvoll,  eigen, 
namentlich  gemütreich.  An  die  Musik  machten  die  Hamburger  allem 
Anscheine  nach  zunächst  keine  großen  Ansprüche.  Die  Hauptsache 
war  die  Ausstattung  der  Opern.  Schott  war  selbst  ein  tüchtiger 
Mechaniker,  verstand  sich  auf  Maschinen  und  legte  einer  lebenswahren 
Szenerie  einen  bedeutenden  poetischen  Wert  bei.  Hierfür  wandte  er 
bedeutende  Summen  auf,  einen  Salomonischen  Tempel  mit  Stiftshütte, 
der  zunächst  für  eine  einzige  Oper  bestimmt  war,  hat  er  sich  einmal 
15  000  Taler  kosten  lassen.  Was  wir  bloß  aus  Textbuch  und  Parti- 
tur von  dieser  Seite  der  Hamburger  Aufführungen  erfahren,  ist  er- 
staunlich genug.  Nirgends  sonst  ist  so  viel  in  der  Luft  mit  Flug- 
apparaten, nicht  bloß  für  einzelne  Götter  und  Genien,  sondern  für 
ganze  Züge  von  Najaden  und  Märchenpersonen  gespielt,  nirgends  so 
viel  mit  Wassermassen  auf  der  Bühne,  mit  laufenden  Flüssen,  mit 
Meeresprospekten  und  Schiffen  gearbeitet  worden.  Maler  und  Ballett- 
meister Schotts  waren  ersten  Ranges,  und  ihre  Leistungen  wurden 
von  den  verwöhnten  Parisern,  wie  dem  Dichter  Regnard,  der  im 
Jahre  1680  eine  aus  dem  Französischen  übersetzte  »Alceste«  in  Ham- 
burg sah,  bewundert.  Daran  hielten  die  Hamburger  durch  alle  Bankrotte 
und  Wechsel  ihrer  Operndirektion  fest  ^  Als  man  1727  zum  letzten 
Male  mit  einem  Subskribentenvereine  —  auf  den  Kopf  25  Tal  er  — 
eine  Rettung  und  Hebung  des  Institutes  versuchte,  setzte  man  in  der 
Ausstattung  ein:  die  »Omphale«  von  Destouches  wurde  als  das  erste 
Stück  des  neuen  Regiments  gewählt,  weil  sie  an  Dekorationen,  Ma- 
schinerien und  Tänzen  besonders  reich  war,  und  für  den  Helm,  den 
darin  Gensericus  trug,  legte  man  100  Taler  an.  Das  größte  Sänger- 
honorar in  dieser  freigebigen  Periode  beträgt  dagegen  1000  Taler, 
in  der  Schottschen  Zeit  kam  man  mit  dem  Zehntel  von  dieser  Summe 
aus.  Der  Komponist  erhielt  für  seine  Arbeit  50  Taler  2.  Während 
in  Italien  und  an  den  großen  deutschen  Residenzen,  selbst  in  Braun- 
schweig und  Hannover,  längst  das  Kastratensystem  herrschte,  begnügte 
man  sich  in  Hamburg,  als  die  Oper  ins  Leben  trat,  mit  reinen  Natur- 
sängern. Die  gebildetste  Kraft,  die  Schott  zur  Verfügung  stand,  war 
der  Buffotenor  Magister  Rauch,  ein  aus  Würzburg  entlaufener  Jesuit. 
Neben  ihm  wirkten  Schuster-  und  Schneidergesellen,  in  den  Frauen- 
partien Blumenmädchen  und  andere  Personen,  die  im  öffentlichen  Ver- 
kehr die  Schüchternheit  sich  abgewöhnt  hatten.  Wohl  auch  falset- 
tierten  gelegentlich  einmal  Männer.     Mattheson   rühmt  sich  seiner 


1  Fr.  Chrysander:  >Über  theatralische  Maschinen  um  1700«  (Allgemeine 
musikalische  Zeitung  1882.) 

•^  Vgl.  E.  0.  Lindner  (a.  a.  0.) 


Sigmund  Kusser,  Reinhard  Keiser  147 

Darstellung  der  Cleopatra,  insbesondere  des  Geschickes,  mit  dem  er 
deren  Selbstentleibung  vollzogen  habe.  Von  der  Gesangskunst  hatten 
die  Hamburger  ersichtlich  zunächst  nur  kleinstädtische  Begriffe.  Die 
Hauptsache  war  ihnen  eine  gute  Stimme  und  die  blieb  noch  lange  für 
Wahl  und  Gunst  das  Entscheidende.  Als  die  Demoiselle  Conradi, 
die  Tochter  eines  Dresdner  Barbiers,  im  Jahre  1700  angestellt  wurde, 
die  man  später  mit  Faustina  Hasse  verglich,  kannte  sie  nach  Mat- 
thesons  Bericht  nicht  einmal  die  Noten,  und  die  Rollen  mußten  ihr 
jahrelang  durch  Vorsingen  eingetrichtert  werden.  Später  allerdings 
besaß  die  Hamburger  Oper  in  den  Damen  Schober,  Rischmüller, 
Keiser,  in  dem  Tenor  Dreger  und  dem  Bassisten  Riemenschnei- 
der Virtuosen,  die  mit  dem  Namen  oder  den  Leistungen  über  das 
Weichbild  der  Stadt  hinausdrangen,  Riemenschneider  z.  B.  nach  Dres- 
den und  London.  Keiser  durfte  in  seinen  Opern  Arien  schreiben, 
die  wie  die  der  Anagilda  in  seiner  -»Forza  della  virtu^  das  Äußerste 
an  Koloraturschwierigkeiten  und  an  Forderungen  des  Ausdrucks  ent- 
halten, was    es   in  der  Geschichte  des  Musikdramas   überhaupt  gibt. 

Die  Wendung  über  die  bloße  Liedermusik  hinaus,  die  Annäherung 
an  italienischen  Stil  datiert  vom  Jahre  1682,  von  dem  >Diocletian« 
Wolfgang  Francks,  seiner  bedeutendsten  Oper.  Bald  versucht  man 
sich  an  den  übersetzten  Werken  italienischer  Meister,  Cestis  und 
Pallavicinis  z.  B.  Dann  erscheint  Sigmund  Kusser,  nimmt  das 
Personal  der  Hamburger  Oper  in  die  Schule  und  führt  die  musi- 
kalischen Leistungen  des  Instituts  auf  die  Höhe  der  Zeit.  Von  Kussers 
eigenen  Opern,  die  sehr  beliebt  waren,  hat  sich  einiges  erhalten  — 
eine  Reihe  Arien  aus  seinem  »Erindo«  von  1695  in  Schwerin  — ;  als 
Dirigenten  hat  ihm  Mattheson  im  > Vollkommenen  Kapellmeister« 
ein  Denkmal  gesetzt.  Besonders  scheint  er  die  Opern  Steffanis  ge- 
schätzt zu  haben,  die  zwischen  deutschem  und  italienischem  Stil 
vorzüglich  vermitteln,  einfache  Lieder  und  Sologesänge  Cavallischen 
Schlages  enthalten,  in  den  begleiteten  Rezitativen  und  in  der  Auf- 
stellung obligater  Instrumente  in  den  Arien  Dinge  versuchen,  die 
sich  bei  keinem  seiner  Zeitgenossen  finden.  Besonders  beachtenswert 
ist  »7/  trionfo  del  Fato^. 

Auf  Kusser  aber  folgte  Reinhard  Keiser^,  und  mit  ihm  beginnt 
musikalisch  die  Glanzzeit  der  Hamburger  Oper;  seine  Werke  sind 
das  Größte  und  Erfreulichste,  was  überhaupt  die  deutsche  Oper  des 
17.  Jahrhunderts  geleistet  hat.  In  geordnete  Verhältnisse  gestellt, 
würde  Keiser  heute  in  der  Geschichte  in  gleicher  Reihe  mit  Männern 
wie  Scarlatti,  Rameau,  Händel,  Bach  stehen.  An  unfertige  Poeten, 
an  ein  Publikum  von  niedrigem  Geschmack  gewiesen,  hat  er  sich 
nicht  voll  entwickeln  können  und  ist  in  der  Größe  seiner  Leistungen 


1  H.  Leichtentritt:  *R.  Keiser  in  seinen  Opern«  (Berlin  1901)  und 
M.  Schneider:  >Vorwort  zu  Keisers  ,Crösus'«  (Denkmäler  deutscher  Ton- 
kunst, Bd.  37/38). 

10* 


1^48  ^^s  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

bis  heute  noch  nicht  zu  seinem  Kecht  gekommen.  Chrysander,  der 
ihn  im  ersten  Bande  seines  »Händel«  ausführlicher  behandelt,  Dommer, 
der  in  seinem  »Handbuch  der  Musikgeschichte«  dieser  Chrysander- 
schen  Charakteristik  folgt,  erkennen  Keisers  Talent  an,  bemängeln  aber 
seine  Bildung  und  seinen  Charakter.  Freilich  war  Keiser  ein  leichtes 
Blut,  ein  Weltmann  im  Sinne  der  galanten  Zeit;  so  verfloß  sein 
äußeres  Leben  wie  ein  Roman,  er  hat  allen  Glanz  und  alles  Elend 
eines  Künstlerlaufes  durchkostet,  ist  als  Grandseigneur  mit  eigener 
Equipage  und  Bedienten  »in  Auroralivree«  durch  Hamburgs  Straßen 
gefahren  und  hat  sich  vor  Gläubigern  flüchten  und  verstecken  müssen, 
wie  ein  Zigeuner  und  fahrender  Gesell.  Seine  öffentliche  Wirksam- 
keit beginnt  am  Theater,  schließt  an  der  Kirche  und  verläuft  mit 
so  viel  Lücken  und  so  viel  Dunkel,  daß  in  dem  Gesamtbild  bis  vor 
kurzem  die  wichtigsten  Daten,  Geburt  und  Heimat,  fehlten.  Erst 
seit  1890  haben  wir  eine  vollständige  Darstellung  seines  Lebens  von 
F.  A.  Voigt  1.  Aber  wenn  der  künstlerische  Ertrag  einer  solchen  Exi- 
stenz in  120  Opern  besteht,  da  handelt's  sich  doch  um  mehr  als  einen 
begabten  Sausewind.  Von  diesen  120  sind  noch  18  Werke  enthalten 
in  der  Preuß.  Staatsbibliothek  zu  Berlin;  sie  genügen  zu  einem  Urteil, 
in  dem  der  Tadel  ganz  hinter  die  Bewunderung  tritt.  Man  kommt 
unwillkürlich  mit  Mattheson,  von  dem  wir  die  ersten  Nachrichten 
über  Keiser  haben,  zusammen,  wenn  er,  der  für  den  Menschen  sich 
hämische  Bemerkungen  nicht  versagen  kann,  vom  Künstler  ausruft: 
y>Il  est  le  plus  grand  komme  du  monde.«  Scheibe,  der  immer 
tadelt,  stimmt  ihm  bei,  auch  Tele  mann;  Hasse  2  nennt  ihn  noch 
nach  40  Jahren  den  größten  Meister  der  Welt  und  glaubt,  daß  man 
seine  Melodien  zu  allen  Zeiten  in  die  neuen  Werke  einmischen  könnte, 
ohne  daß  es  jemand  merke.  Noch  Reichardt  spricht  mit  Begeiste- 
rung von  Keiser,  und  Fetis  berichtet  über  den  tiefen  Eindruck,  den 
in  seinen  historischen  Aufführungen  Bruchstücke  aus  Keisers  Werken 
hervorgerufen  haben.  Bach,  Hasse  und  Graun  haben  aus  Keiser 
gelernt  und  geschöpft,  Händel  hat  einige  seiner  schönsten  Stücke 
von  ihm  entlehnt,  z.  B.  die  Gavotte  im  »Josua«:  »Wenn  der  Held 
nach  Ruhme  dürstet«  aus  der  Arie  »Amor  macht  mich  zum  Tyrannen« 
in  *La  forza  della  virtu^,  das  schöne  Arioso:  »Ach,  es  geht  die  Zeit« 
in  »Agrippina«,  das  im  »Trionfo  del  Tempo*  und  im  »Messias«  wieder- 
kehrt, stammt  aus  Keisers  »Octavia«,  aus  der  Arie  des  Seneca:  »Ruhig 
sein,  sich  selbst  gelassen«. 

Keiser  war  ein  ganz  enormes  Talent,  die  Ideen  strömten  ihm  so 
zu,  daß  er,  wenn  die  Feder  angesetzt  war,  zu  arbeiten  kaum  nötig 
hatte.  Wie  oft  ist  er  mit  einem  Stück  in  der  Partitur  ziemlich  fertig. 
Da  streicht  er  es  aus  und  setzt's  noch  einmal  ganz  anders,  w^eil  ihm 
eine  bessere  Auffassung  des  Textes  einfällt  oder  weil  er  daran  denkt, 


1  Viertelj.  f.  M.  W.  1890.     S.  1890. 

2  Burney,  »The  present  state  of  music  in  Germany  1773«. 


Reinhard  Keiser  149 

daß  es  für  den  Sänger,  für  den  es  bestimmt  ist,  zu  schwierig  war. 
In  der  »Octavia«  setzt  er  einmal  zu  einer  Arie  mit  vier  Fagotten 
an,  die  er  sehr  zu  lieben  scheint  und  überall  in  Kopenhagen,  in  Stutt- 
gart gerade  wie  in  Hamburg  in  Menge  aufbietet  i.  Er  schreibt  ds^r- 
nhev  ä  quatiro,  scheints  dann  aber  kaum  gemerkt' zu  haben,  daß  die 
Fagottbegleitung  ein  Quintett  geworden  ist,  Mattheson  hat  es  sehr 
betont,  daß  Keisers  Stärke  in  der  Wiedergabe  galanter,  erotischer 
Szenen  liege.  In  der  Tat  findet  sich  kein  zweiter  Deutscher,  der 
nach  dieser  Seite  in  dem  Grade  wie  Keiser  ein  Vorläufer  Mozarts 
genannt  werden  kann.  Nur  er  hat  Stücke,  die  dem  Champagnerlied 
im  »Don  Juan«,  den  Cherubim- Arien  im  »Figaro«  ähneln,  schon  am 
Anfange  des  18.  Jahrhunderts  geschrieben,  nur  er  hat,  wenn  auch 
nicht  so  elegisch,  doch  so  süß  und  anmutig  von  der  Liebe  gesungen 
wie  Mozart.  Aber  man  darf  sich  durch  Mattheson  nicht  verleiten 
lassen,  Keisers  Kraft  auf  dieses  Gebiet  beschränken  zu  wollen.  Gerade 
von  den  galanten  Arien  Keisers,  die  das  Entzücken  seiner  Zeitgenossen 
bildeten,  bleibt  für  heute  nur  ein  Rest  hübscher  und  reizender  Mo- 
tive —  seine  dauerhafteste  dramatische  Arbeit  liegt  in  den  leiden- 
schaftlichen und  tragischen  Aufgaben,  in  Stücken,  wie  der  Wahu- 
sinnsszene  des  Nero  in  der  »Octavia«,  oder  der  Szene,  wo  die  Kaiserin 
die  Untreue  des  Gatten  erfährt.  Für  solche  Leistungen  waren  aber 
leider  die  Hamburger,  die  Textschreiber  wie  die  Zuhörer,  wenig 
gestimmt. 

Keiser  kann  scherzen,  kann  trösten  und  wüten  —  alles  gelingt 
ihm  gleich  mit  derselben  Sicherheit  und  Leichtigkeit.  Und  ebenso 
universell  wie  seine  Begabung  ist  seine  Bildung.  Von  den  Franzosen 
hat  er  Ballett  und  Chor,  die  Kunst  musikalischer  Situationsmalerei, 
von  den  Deutschen  das  Lied  und  die  Neigung  zu  kunstvollen  Be- 
gleitungen, das  meiste  verdankt  er  aber  doch  der  italienischen  Schule. 
Auf  ihrem  Boden  steht  er  in  der  Auffassung  des  Musikdramas,  sieht 
seine  Hauptaufgabe  in  der  naturwahren  Schilderung  bedeutender  Seelen- 
zustände.  Den  Italienern  folgt  er  auch  vorwiegend  in  der  Form. 
Zwar  treten  bei  ihm  die  großen  Monologe  hinter  der  Menge  kleiner 
Solostücke  zurück,  aber  auch  in  ihnen  baut  er  am  liebsten  im  Schema 
der  dreiteiligen,  der  Dacapoarie.  Leicht  macht  sich's  Keiser  häufig 
im  Secco-Rezitativ,  da  schwankt  seine  Aufmerksamkeit  und  sein  Stil, 
nicht  beachtet  hat  er  die  Anregungen,  die  Scarlatti,  Lully,  Campra 
für  den  Entwurf  der  Musik  in  größeren  Bogen,  für  motivische  Ver- 
bindung getrennter  Szenen  gegeben  haben.  Er  hat  der  Oper  keine 
neue  Form  und  keinen  neuen  Geist  gegeben,  keine  Keisersche  Epoche 
begründet.  Es  ist  aber  zweifelhaft,  ob  man  dafür  seinen  Charakter 
oder  die  Hamburger  Verhältnisse  verantwortlich  zu  machen  hat.  Jeden- 
falls geht   seine  Begabung   über  die    eines  Nachahmers  weit   hinaus. 


1  Er  hatte  unter  anderm  eine  Suite  für  8  Fagotts  —    eine  Schnarrmusik 
nennt  ers  —  komponiert. 


J50  I^^s  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

Es  gibt  keinen  zweiten  Komponisten,  auch  unter  den  Italienern  nicht, 
dessen  Werke  so  viele  ganz  neae  und  ganz  eigene  stilistische  Ein- 
fälle enthalten.  Sie  betreffen  die  Form  mit  urwüchsigen  Mischungen 
von  Gesang  und  Rezitativ,  mehr  aber  noch  die  Färbung,  die  Wahl 
der  Mittel,  den  Reichtum  und  die  Originalität  seines  Akkompagne- 
ments.  Der  unbegleitete  Sologesang  in  der  Oper,  den  in  der  Gegen- 
wart Wat^ner  wieder  wirkungsvoll  verwendet  hat,  ist  zuerst  syste- 
matisch von  Keiser  eingeführt  worden;  auch  die  Meyerbeersche  Idee, 
ohne  Akkorde  mit  einem  einzigen  figuiierenden  und  konzertierenden 
Orchesterin stimment  begleiten  zu  lassen,  geht  auf  Keiser  zurück.  Wo 
er  voll  begleitet,  hat  er  die  ungewöhnlichsten  Kombinationen,  drei- 
stimmio-e  Oboensätze  und  ähnliche  Feinheiten,  die  auf  Bach  und  Händel 
ersichtlich  eingewirkt  haben.  Bach  bewegt  sich  in  Keisers  Spur  z.  B. 
in  »Herr,  gehe  nicht  ins  Gericht«,  Händel  in  »Esther«,  besonders 
auch  in  »Acis  und  Galathea«.  Das  Muster  der  Sopranarie  »Fort,  du 
süße  Sängerschar«  mit  der  schönen  Begleitung  von  Flöte  und  Violine 
ist  in  Keisers   »Octavia«  II,  6  die  Arie    »Wallet  nicht  zu  laut«. 

Von  den  erhaltenen  Opern  Keisers  sind  die  fürs  Studium  wich- 
tigsten, als  die  reichsten:  »Octavia«  und  »Crösus«,  als  eine  der 
frischesten  ist  »La  for%a  della  virtu<  zu  empfehlen,  »Pomona«  inter- 
essiert als  Vorfahr  der  durch  die  italienischen  Veristen  wieder  in  Auf- 
nahme gekommenen  Einakter.  Gedruckt  wurden  zu  Keisers  Lebzeiten 
die  Arien  aus  seinem  s^Vinganno  fedele<^.  In  Neudruck  hat  Eitner 
Keisers  »Jodelet«  ^  vorgelegt,  eine  schlechte  Wahl,  weil  diese  Oper 
nicht  Keisers  Wesen  und  Können,  sondern  den  Verfall  der  Ham- 
burger Oper  widerspiegelt.  Keiser  hat's  hier  mit  der  Musik  so  ge- 
macht, wie  Feind  mit  der  Poesie,  er  nimmt  nichts  mehr  ernst,  son- 
dern geht  aufs  Travestieren  aus.  Eine  gute  Auswahl  ist  dagegen  in 
den  Deutschen  Denkmälern  getroffen. 

Unter  den  Komponisten,  die  neben  Keiser  wirkten,  istMattheson 
der  bekannteste.  Seine  Opern  sind  aber  viel  geringer  als  seyie  Kirchen- 
musiken, gelungen  nur  in  den  Gassenhauern  und  Couplets.  Musik- 
geschichtlich interessieren  sie  am  meisten  durch  die  Zumutungen  an 
die  Chorsoprane,  für  die  das  dreigestrichene  c  unter  die  gewöhnlichen 
Töne  gehört. 

Nach  Keiser  ist  der  bedeutendste  Komponist  der  Hamburger  Oper 
Telemann'^.  Seine  Stärke  liegt  in  den  komischen  Szenen  und  bei 
den  pathetischen  namentlich  in  Trennungs-  und  Abschiedsarien.  Seine 
Liebesszenen  und  erotischen  Einlagen,  zu  denen  die  Verlegenheit  der 
Hamburger  Dichter  dem  Ende  zu  immer  eifriger  greift,  sind  matt 
und  ermangeln  alle  der  Leichtigkeit,  durch  die  Keiser  über  solche 
Aufgaben  hinwegkam.     In  der  Form  Telemanns  zeigt  sich  der  fran- 


1  Herausgegeben  von  Friedrich  Zelle  als  18.  Band  der  Publikationen 
der   Gesellschaft  für  Musikforschung  (Leipzig,  Breitkopf  u.  H'artel,  1892). 

2  K.  Otzenn:  »Telemann  als  Opernkomponist«,  Berlin  1902. 


Die  deutsche  Oper  in  Leipzig  151 

zösische  Einfluß  mit  reicheren  Chören.  Telemann  war  neben  Keiser 
der  einzige,  dessen  Opern  über  Hamburg  hinauskamen.  Sein  »Galan 
in  der  Kiste«  —  im  Text  eine  Nachbildung  von  Ayrers  »Mönch 
im  Nachtkorb«  ist  in  Berlin  und  Dresden  als  »Komödie  von  der 
singenden  Kiste«   aufgeführt  worden. 

Nach  1678,  dem  Eröffnungsjahr  des  Hamburger  Institutes,  ist  in 
Norddeutschland  nur  noch  ein  Versuch  zu  einer  deutschen  Oper  ge- 
macht worden:  in  Leipzig.  Zum  ersten  Male  wurde  in  Leipzig 
1685  eine  Oper  aufgeführt:  »Das  bezwungene  Ofen«,  möglicherweise 
ein  Weißenfelser  Stück.  1689  ließ  nun  Nikolaus  Adam  Strungk*, 
der  von  Hamburg  wieder  nach  Dresden  zurückgekehrt  war,  auf  dem 
Brühl  ein  eigenes  Opernhaus  erbauen.  Darin  ist  von  1693  bis  1720 
an  den  Oster-  und  Michaelismessen  ununterbrochen  gespielt  worden, 
zuweilen  sechs  Stücke  im  Jahr.  Abweichend  von  Braunschweig  und 
Hamburg  hat  die  Leipziger  Oper  weder  biblische  noch  vaterländische 
Stoffe  verwendet,  das  gelehrte  Element  nimmt  von  Anfang  an  die 
Führung  zugunsten  von  Mythologie  und  Renaissance.  Die  erste  Oper, 
mit  der  das  Strungksche  Haus  eröffnet  wurde,  ist  eine  »Alceste«, 
das  letzte  Stück  im  Jahre  1720  eine  »Berenice«.  Und  wie  für  diese 
beiden,  so  sind  für  die  Mehrzahl  der  in  Leipzig  aufgeführten  Opern 
die  Texte  aus  der  venezianischen  Schule  entnommen  und  übertragen 
worden.  Gelegentlich  benutzte  man  Übersetzungen  oder  deutsche 
Originalstücke  aus  Braunschweig,  Weißenfels,  Hamburg,  wahrschein- 
lich auch  gleich  mit  der  Musik.  Die  »Ariadne«  von  1712  wird  so 
die  Kussersche  gewesen  sein,  der  »Narcissus«  von  1701  der  »Echo 
und  Narcissus«  von  Bressand  und  Bronner,  die  »Schäferin  Cloris« 
Kriegers  »Getreue  Cloris«,  die  »Athanagilda«  aus  demselben  Jahre 
Keisers  *Forza  della  virtu*.  Von  bedeutenden  italienischen  Kompo- 
nisten lernten  die  Leipziger  den  Pallavicino  (1693  ^Nero^)  und 
den  A.  Scarlatti  {»Pirro  e  Demetrio^    1696)  kennen. 

Die  Bedeutung  der  Leipziger  Oper  liegt  darin,  daß  sie  eine  Zeit- 
lang als  Pflanzschule  einheimischer  Talente  diente.  Im  ersten  Augen- 
blick scheint  man  sogar  darauf  gehofft  zu  haben,  daß  die  berufs- 
mäßigen Vertreter  des  Humanismus  die  Oper  zur  eigenen  Sache 
machen  würden.  Die  erwähnte  und  später  öfters  wiederholte  Eröff- 
nungsoper »Alceste«  war  von  dem  Konrektor  der  Thomasschule  Paul 
Thiemich  gedichtet,  an  der  Ausführung  der  von  Strungk  kompo- 
nierten Musik  beteiligten  sich  im  Orchester  und  auf  der  Bühne  viele 
Studenten,  die  Hauptrolle  aber  sang  Thiemichs  Frau.  Frau  und  Herr 
Thiemich  und  Gesinnungsgenossen  scheinen  allerdings  vor  der  Klein- 
städterei bald  zurückgewichen  zu  sein*^,  aber  die  Studenten  waren 
und  blieben  jahrzehntelang  als  Instrumentisten,  Sänger,  Dichter  und 
Komponisten   Stützen    des  Institutes.     Die    meisten   kamen   aus   dem 


1  Fritz  Bereiid:  »Nikolaus  Adam  Strungk«,  München  1915. 

2  Blümner:  »Geschichte  des  Theaters  in  Leipzig«.    1818. 


j^52  I^^s  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

Thomanerchor.  Joh.  Kuhn  au,  der  Vorgänger  Seb.  Bachs,  hat  sich 
in  einer  Eingabe  an  den  Rat  am  17.  März  1709  über  den  Schaden 
beschwert,  den  die  Oper  der  Kirchenmusik  zufüge.  Da  waren  ein 
guter  Sopranist  Peschel  und  ein  Bassist  Petzold,  durch  Opern- 
unternehmer verlockt,  nach  auswärts  entlaufen.  Zur  Messe  aber 
kamen  sie  nach  Leipzig  zurück^  sangen  auf  der  Oper  und  erschienen 
den  ehemaligen  Mitschülern  als  beneidenswerte  und  verführerische 
Größen. 

»Die  andern  aber  —  fährt  Kuhnau  fort  — ,  welche  mit  Frieden  di- 
mittirt  werden,  nachdem  man  ihnen  zwar  viel  durch  die  Finger  sehen 
müssen,  machen  es  nicht  viel  besser.  Denn  anstatt  daß  sie  zur  Dank- 
barkeit vor  die  grroße  auf  sie  gewandte  Mühe  dem  Ghoro  Musico  ferner 
Dienste  leisten  sollten,  so  gerathen  sie  gleichfals  bald  unter  die  Operisten. 
Und  wie  es  freilich  lustiger  zugeht,  wo  man  Operam  spielt,  in  öfient- 
lichen  Cafifehäusern  auch  zu  der  Zeit,  da  die  Musik  verboten  ist  und 
des  Nachts  auf  den  Grassen  oder  sonst  immer  in  fröhlichen  Compagnien 
musiciret,  als  wo  dergleichen  nicht  geschehen  kann.  Also  leisten  sie 
auch  folgentlich  lieber  einander  (und)  ihres  Gleichen  in  der  Neuen  Kirche 
Gesellschaft,  als  daß  sie  unter  denen  Stadtpfeifern  und  Schülern  stehen 
und  dem  .  .  .   Ghoro  Musico  beiwohnen  sollten. < 

Es  blieb  aber  dabei,  daß  die  alten  Thomaner  als  Studenten  für 
den  Thomanerchor  nicht  mehr  zu  haben  waren.  Sie  sammelten  sich 
in  einem  neuen  studentischen  Gollegium  musicum ,  das  Tele  mann 
gegründet  hatte.  Daß  der  Rat  und  die  maßgebenden  Kreise  den 
hier  vertretenen  Bestrebungen  sehr  hold  waren,  ergibt  sich  daraus, 
daß  Telemann  zum  Organisten  und  Musikdirektor  der  neuen  Kirche 
ernannt  wurde.  Hierher  folgten  ihm  seine  Studenten,  und  die 
Kirchenmusik  der  Neuen  Kirche  trat  unter  ihm  und  auch  unter 
Melchior  Hof  mann,  der  als  Student  einer  der  gefeiertsten  Opern- 
komponisten war,  und  den  weiteren  Nachfolgern  zu  der  der  Tho- 
maner in  emen  Gegensatz.  Die  öffentliche  Meinung  stand  auf  ihrer 
Seite;  hier  war  Opernluft  und  neue  Zeit.  Erst  Bach  brach  der 
Gefahr  durch  geschickte  Politik  die  Spitze  ab:  bei  einer  unerwar- 
teten Vakanz  brachte  er  die  Direktion  des  ehemaligen  Telemannschen 
Gollegium  musicum  an  sich.  In  dieser  Stellung  hat  er  die  beiden 
letzten  Orchestersuiten  und  seine  weltlichen  Chorkantaten,  die  den 
bezeichnenden  Titel  dramma  in  musica  führen,  geschrieben.  Eine 
wirkliche  Versöhnung  der  Parteien  gelang  ihm  indessen  nicht.  Das 
italienische  Fahrwasser,  in  dem  die  Leipziger  Operisten  trotz  des 
deutschen  Textes  segelten,  war  ihm  nicht  vertraut.  Schon  zu  Leb- 
zeiten Bachs  bestimmte  ihm  der  Rat  in  Gottlob  Harrer,  einem 
Musiker,  der  den  italienischen  Stil,  wenn  auch  nur  in  der  aller- 
flachsten und  trivialsten  Weise,  vertrat,  einen  Nachfolger.  So  ver- 
lief also  die  Entwicklung  der  deutschen  Oper  in  Leipzig  ganz  wider 
die  ursprünglichen  Absichten.  1727  wird  das  Strungksche  Opern- 
haus abgebrochen^  es  folgt  eine  Lücke   in  der  Geschichte   der  Oper 


G.  Ph.  Telemann  153 

in  Leipzig,  1744  zieht  eine  italienische  Truppe  im  Reithaus  ein. 
Aus  der  Reihe  der  ehemaligen  Leipziger  ist  aber  eine  Anzahl  von 
Komponisten  hervorgegangen,  die  sich  an  den  auswärtigen  Ver- 
suchen einer  deutschen  Oper  hervorragend  beteiligten.  Keiser, 
Grunewald,  Graupner^,  Telemann  in  Hamburg,  Stölzel  in 
Altenburg,  Boxberg^  in  Ansbach  sind  Leipziger  Studenten  ge- 
wesen. Als  Sänger  sind  Bender  in  Wolfenbüttel,  Petzhold  in 
Hamburg,  als  Instrumentisten  Pisendel  in  Dresden  und  Johann 
Böhm  in  Darmstadt  berühmt  geworden. 

Mit  Leipzig  war  der  letzte  Posten  im  Schützschen  Revier  gefallen. 
Neben  ihm  kommen  nur  noch  einige  in  Süddeutschland  für  eine 
deutsche  Oper  unternommenen  Versuche  in  Betracht.  Ihr  Hauptsitz 
ist  Nürnberg^. 

Es  ist  nicht  allgemein  bekannt,  daß  das  schöne  Nürnberg,  in 
dem  noch  heute  die  Steine  von  der  Blüte  und  dem  Glanz  alter 
deutscher  Kunst  erzählen,  auch  musikalisch  jahrhundertelang  obenan 
gestanden  hat.  Für  die  Periode  des  unbegleiteten  einstimmigen 
Gesanges  hat  R.  Wagner  mit  seinen  »Meistersingern  von  Nürnberg« 
wieder  daran  erinnert,  für  die  Zeit  des  Chorliedes  und  die  Jugend 
der  Orchestersuite  tritt  seine  Bedeutung  aus  dem  noch  erhaltenen 
Material  hervor.  Die  ganz  überwiegende  Masse  ist  in  Nürnberg 
gedruckt  und  verlegt,  eine  Anzahl  der  hervorragendsten  deutschen 
Komponisten  der  älteren  Zeit  von  Konrad  Paumann  bis  zu  Leo 
Hassler  sind  Nürnberger  Kinder,  oder  sie  haben  vorübergehend  in 
der  Stadt  Hans  Sachsens  und  Peter  Vischers  gewirkt.  Da  kam  der 
Dreißigjährige  Krieg  und  stürzte  Nürnberg  geistig  so,  daß  es  sich 
bis  heute  vom  Fall  noch  nicht  w^ieder  erholt  hat.  In  Musik  und 
Theater  ist  es  nie  wieder  über  die  Provinzstufe  herausgekommen, 
auch  das  geschichtliche  Interesse  für  die  Leistungen  der  guten 
Zeiten  ist  zu  spät,  erst  in  dem  Augenblick  erwacht,  wo  Dokumente 
und  alle  Quellen  vernichtet  waren.  Was  insbesondere  sich  über  die 
Oper  in  Nürnberg  erfahren  ließ,  ist  in  einem  Büchel  von  Hyssel 
zusammengetragen,  das  als  »Geschichte  der  Oper  in  Nürnberg«  im 
Jahre  1860  erschienen  ist.  Erst  in  allerneuester  Zeit  sind  diese 
Mitteilungen  durch  Sandberger  in  bezug  auf  die  Löhnersche  Zeit 
erweitert  worden.  Nürnberg  hat  sich  das  Musikdrama  in  den  vier- 
ziger Jahren  anzueignen  gesucht  und  dabei  das  nationale  Prinzip 
vertreten.  Aus  den  Bürgerkreisen  und  aus  den  Kirchen chören  nahm 
man  die  ausführenden  Kräfte,  Dichter  und  Komponisten  waren  aus- 
schließlich Nürnberger.    Die  Aufführungen  waren  in  der  ersten  Zeit 


1  Friedrich  Noack :  »Christoph  Graupners  Kirchenmusiken«,  Leipzig  1916. 

2  H.  Mersmaan:   »Beiträge  zur  Ansbacher  Musikgeschichte«,  Eieleben 
1916. 

3  A.  Sandberger:  »Zur  Geschichte  der  Oper  in  Nürnberg  usw.«  (Archiv 
für  Musikwissenschaft.    I,  S.  84. 


154  Das  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

Kunstfeste,  an  denen  die  ganze  Stadt  teilnahm,  und  sie  fanden  nur 
selten  statt.  Der  Mehrzahl  nach  waren  die  aufgeführten  Opern  bib- 
lische Stoffe,  Theaterstücke,  wie  man  sie  von  alters  her  aus  den 
Aufführungen  der  Gewerke,  aus  den  Schulkomödien,  Moralitäten 
gewohnt  war.  Noch  strenger  als  in  Braunschweig,  Weißenfels, 
Hamburg,  Leipzig,  als  im  Schützschen  Gebiet,  hielt  man  sich  von 
Griechen  und  Römern  fern;  die  Nürnberger  ignorieren  die  Renais- 
sance noch  vollständiger  als  die  Altenburger.  Das  einzige,  was  sie 
von  der  neuen  Kunst  interessiert,  was  sie  nachzubilden  suchen,  ist 
die  musikalische  Vertonung  des  ganzen  Gedichts,  die  Musik  als 
Mittel  einer  feierlicheren  Wirkung,  als  Verklärung  von  Poesie  und 
Drama.  Sie  setzen  (nach  Hyssel)  im  Jahre  1643  mit  einem  Stück 
ein,  dessen  Inhalt  die  Verherrlichung  der  Musik  selbst  bildet.  Es 
heißt:  »Entwurf  des  Anfangs,  Fortgangs  und  der  Veränderung,  des 
Brauchs  und  Mißbrauchs  der  edlen  Musica<.  Das  muß  eine  Art 
historischen  Konzerts,  ein  Zyklus  dramatisierter  Bilder  aus  der  Musik- 
geschichte gewesen  sein.  Es  beginnt  vor  der  Erschaffung  der  Welt 
mit  dem  Gesang  der  heiligen  Engel,  die  Gott  loben,  führt  dann  in 
22  Teilen  vom  Himmel  zur  Erde  und  in  die  Hölle,  wo  durch  Vokal- 
musik und  Kontrapunkt  das  Zetergeschrei  der  Verdammten  wieder- 
gegeben wird,  und  schließt  mit  einem  Hymnus,  der  mit  allen  In- 
strumenten musiziert  wird.     Zuletzt  —  sagt   die    alte  Beschreibung 

—  »blasen  die  Trompeten  dreimal  auf  und  die  Heerpanken  schla- 
gen drein«. 

Im  Jahre  1668  müssen  die  Opern  Vorstellungen  häufiger  geworden 
sein.  Bis  dahin  hatte  man  nur  am  Tage  Theater  gespielt,  jetzt  ist 
ein  Nachtkomödienhaus  da,  in  dem  Aufführungen  bei  Lampenbeleuch- 
tung veranstaltet  werden.  Der  Volksmund  aber  nennt  es  Opern- 
haus, und  in  dieses  Opernhaus  scheint  allerdings  die  Renaissance 
eingedrungen  zu  sein.  Hyssel  nennt  einen  »Arminius«  als  Eröff- 
nungsstück, unter  anderm  muß  da  auch  ein  »Theseus«  aufgeführt 
worden  sein.  Denn  aus  diesem  »Theseus«  hat  der  Komponist,  der 
Nürnberger  Organist  Joh.  Löhner,  bekannt  durch  seine  Arien  und 
seine  Tafelmusik,  im  Jahre  1688  44  Arien  drucken  lassen,  was 
Hyssel  unbekannt  geblieben  ist.  Aus  Marpurg  wissen  wir  ferner, 
daß  1687  der  »Gerechte  Seleucus«,  aus  dem  Italienischen  übersetzt, 
mit  Musik  von  Löhn  er  aufgeführt  worden  ist.  Die  biblische 
Richtung  hat  sich  aber  daneben  immer  behauptet.  1685  zeigt  sie 
sich  in  dem  »Beneideten  und  doch  unverhinderten  Eheglück  Jakobs« 

—  Fischer  ist  der  Komponist  — ,  1696  in  einem  Singspiel  »Die 
Eroberung  Jerichos«  1698  in  einem  Stück  »Die  glücklich  wieder 
erlangte  Harmonie«.  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  günstige  Zu- 
fälle und  Bibliotheksforschungen  diese  Mitteilungen  doch  noch 
weiter  vervollständigen.  Aus  der  Anfangszeit  der  Nürnberger  Oper 
haben  wir  mittlerweile  einen  »Seelewig«  von  1644  kennen  gelernt, 
und  zwar  wissen  wir  von  ihm  nicht  bloß  den  Titel,    sondern  er  ist 


Die  deutsche  Oper  in  Nürnberg,  Ansbach,  Durlach  155 

in  Tex't  und  Musik  erhalten  i.  Der  Dichter  ist  Harsdörfer,  der 
Komponist  der  durch  Chorwerke  und  Suiten  bekannte  Gottlieb 
Staden.  Der  »Seelewig«  gehört  zu  den  Moralitäten,  zu  den  vielen 
christlichen  Variationen  über  das  alte  Motiv  vom  »Herkules  am 
Scheidewege«.  Die  Komposition  zeigt  uns,  daß  die  Nürnberger  auch 
musikalisch  originell  sein  wollten  und  sich  um  Italienisch  nicht  ge- 
kümmert hatten.  Sie  wußten  also  nichts  vom  Rezitativ:  alle  Er- 
zählungen und  Gespräche  sind  in  einem  taktmäßigen  melodischen 
Liederstil  gesetzt,  ähnlich,  wie  die  Florentiner  die  kleinen  Prologe 
ihrer  Opern  komponierten.  Auf  den  Charakter  des  Textes  nehmen 
^ie  Erfindungen  des  Komponisten  wenig  Rücksicht,  sein  Werk  hat 
rührende  Züge,  aber  in  der  Hauptsache  ist  es  zurückgebliebene 
Biedermannskunst. 

Auch  davon  ist  Hyssel  nichts  bekannt  geworden,  daß  die  Nürn- 
berger Oper  nach  andern  süddeutschen  Städten  Absenker  lieferte. 
Die  Verbindung  mit  Ansbach  (oder  Onolzbach)  stellt  Löhner  her, 
in  den  neunziger  Jahren  vertritt  Boxberg,  den  wir  von  Leipzig 
her  kennen,  zuletzt  das  deutsche  Element,  aber  schon  von  Pistocchi 
und  andern  Italienern  umgeben.  Noch  früher  als  Ansbach,  schon 
1662,  hatte  die  andere  Brandenburgische  Nebenlinie,  die  Kulmbacher, 
in  ihrer  neuen  Residenz  Bayreuth  mit  deutscher  Oper  eingesetzt. 
Sie  "hält  bis  1726  daran  fest,  obwohl  zwischendurch  italienische 
Werke  von  Pistocchi,  Conti,  Pollarolo  neben  solche  von 
Stölzel  gesetzt  werden.  1708  schreibt  Zeno  für  Bayreuth  seinen 
»Narcisso^.  1747  stellt  der  prachtliebende  Markgraf  Friedrich  ein 
neues  prächtiges  Opernhaus,  noch  heute  eins  der  größten  Theater- 
gebäude in  Deutschland,  in  den  Dienst  einer  italienischen  Truppe. 
Dagegen  glänzt  Stuttgart,  wo  unter  Karl  Eugen  die  italienische  Oper 
ständig  wird,  mit  dem  Besitz  eines  Jommelli.  Am  längsten  bat 
Berlin  gezögert,  erst  1740  gestattet  sich  der  preußische  Hof  den 
Luxus  einer  Oper,   dann  aber  auch  sofort  einer  italienischen. 

Aber  die  Nürnberger  selbst  scheinen  noch  im  Anfange  des  18.  Jahr- 
hunderts an  einer  deutschen  Oper  festgehalten  zu  haben.  Wie  wir 
aus  einem  Briefe  R.  Keisers  wissen,  standen  sie  mit  diesem  Haupt- 
vertreter der  deutschen  Oper  im  Jahre  1720  in  Verbindung  2. 
Keiser  hielt  sich  damals  von  1717  ab  drei  Jahre  lang  in  Süddeutsch- 
land auf,  hauptsächlich  in  Ludwigsburg.  Für  den  dort  residierenden 
Württembergischen  Hof  hat  er  eine  kleine  Oper,  »Der  Luststreit«, 
komponiert,  deren  Text  sich  noch  erhalten  hat.  Indessen  gelang 
es  ihm  nicht,  Stuttgart  für  die  deutsche  Oper,  die  hier  vorher 
Kusse r  vertreten  hatte,  zu  retten. 


1  Das  Original  im  Germanischen  Museum  zu  Nürnberg;  Auszüge  gibt 
A.  Reißmann:  »Musikgeschichte«;  einen  teilweisen  Neudruck  bringen  Eitners 
Monatshefte  für  Musikgeschichte  XIII,  S.  53ff, 

2  Sittard  (a.  a.  0.  I,  108.). 


j^56  Das  erste  Jahrhundert  der  deutschen  Oper 

Die  letzte  süddeutsche  Stütze  der  deutschen  Interessen  war  Dur- 
lach, die  Residenz  der  Markgrafen  von  Baden,  das  spätestens  1684 
eingesetzt  haben  muß.  Auch  hier  wurden  Keisers  Opern  aufge- 
führt, und  Keiser  selbst  hatte  gehofft,  als  die  Hoffnungen  in  Stutt- 
gart zerrannen,  hier  eine  Zuflucht  zu  finden.  Von  einheimischen 
Durlacher  Komponisten  ist  Schweitzelsperger  bekannt,  von  seinen 
Arbeiten  eine  »Lucretia«.  Sie  liefert  einen  weiteren  Beweis  für 
die  Minderwertigkeit  der  deutschen  Kunst  im  Musikdrama.  Auch 
Durlach  ging  verloren. 

Vom  Jahre  1730  ab  ist  es  mit  der  deutschen  Oper  zu  Ende; 
überall  herrschen  die  Italiener.  Obenan  stehen  mit  ihren  Leistungen 
Wien  und  Dresden.  Wien  hatte  die  stärkste  Kapelle,  sicherte  sich 
jederzeit  die  berühmtesten  Kompositionen,  wenn  es  die  Komponisten 
nicht  selbst  haben  konnte;  alle  Größen,  auch  der  Neapolitanischen 
Schule,  Scarlatti,  Hasse,  Perez,  Traetta,  Jommelli  haben  für 
Wien  eigene  Opern  komponiert;  die  ersten  Virtuosen  der  italieni- 
schen Bühne  vom  Pompeo  Sabbatini  bis  auf  Guadagni  haben 
in  Wiener  Diensten  gestanden.  Mitten  in  der  schwersten  Kriegsnot 
hatten  die  Kaiser  Zeit  für  ihre  Oper,  komponierten  selbst  mit,  Hof 
und  Adel  lebten  im  Musikdrama.  Dresden  hat  das  Glück  gehabt, 
einige  der  ersten  italienischen  Meister  zu  Kapellmeistern  zu  ge- 
winnen: Pallavicino,  Lotti,  Hasse  wirkten  dort  nacheinander. 
München  hat  mehr  Wert  darauf  gelegt,  mit  eigenen  italienischen 
Kräften  als  mit  den  besten  vorhandenen  zu  arbeiten. 

Volksfreunde  und  Patrioten  haben  diesen  Gang  der  Dinge  immer 
wieder  beklagt,  und  die  großen  Ausgaben,  die  die  deutschen  Fürsten 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts  für  eine  fremde  und  vielfach  zweifel- 
hafte Kunst  machten,  auf  Verschwendungssucht,  auf  eitle  Nach- 
ahmung Ludwigs  XIV.  zurückgeführt.  Ludwig  XIV.  muß  da  aus- 
geschaltet werden,  denn  die  Mehrzahl  der  deutschen  Opernversuche 
setzt  früher  ein  als  die  Tätigkeit  der  französischen  Academie  de 
musique.  Die  Ausgaben  waren  allerdings  oft  riesengroß,  unver- 
hältnismäßig, unbesonnen,  von  einem  unverantwortlichen  Ehrgeiz 
diktiert.  Wir  hören  aus  Wien  und  Dresden  von  100000  Talern  und 
von  400000  Talern,  auf  einen  einzigen  Opernabend  gewendet  und 
auch  der  übliche  Kostendurchschnitt,  in  Wien  10—20000  Gulden 
für  eine  Aufführung,  dünkt  uns  noch  hoch  genug.  Wir  hören  von 
Sängergehalten,  die  auch  heute  noch  märchenhaft  klingen.  Aber 
alle  diese  Ausschreitungen  dürfen  niemanden  darüber  beirren,  daß 
die  Oper  als  ein  notwendiger  Kulturaufwand  erschien,  daß  die  Opfer 
unvermeidlich  waren,  wenn  Deutschland  im  Kunstverkehr,  der  im 
17.  Jahrhundert  ohne  Bahn  und  Telegraph  einen  regeren  inter- 
nationalen Charakter  trug  als  in  der  Gegenwart,  mit  Schritt  halten 
wollte.  Wie  uns  der  Humanismus  die  gelehrten  Schulen  und 
Universitäten  gebracht  hatte,  so  mußten  wir  uns  auch  mit  der 
letzten   Tat   der   Renaissance,    der  Reform    des   Theaters    durch    das 


Das  Ende  der  deutschen  Oper  im  18.  Jahrhundert 


157 


Musikdrama,  abfinden.  Da  unsere  einheimischen  Dichter  und  Musiker 
hiebei  versagten,  so  blieb  nichts  übrig,  als  nach  den  Originalen  zu 
greifen  und  die  italienische  Invasion  zu  dulden.  Was  man  von  der 
Oper  erwartete,  hat  sie  in  Deutschland  am  allerwenigsten  geleistet. 
Doch  aber  hat  sie  auch  bei  uns  verhindert,  daß  das  Theater  ganz 
der  Staatsaktion  und  der  Roheit  verfiel.  Den  größten  Nutzen  aber 
zog  von  ihr  die  deutsche  Musik.  Sie  ward  durch  die  Italiener  ge- 
schmeidig, und  von  der  Oper  her  verbreitete  sich  die  Liebe  und 
Lust  zur  Musik  auf  neuen  Wegen  und  in  neue  Kreise.  Die  Ent- 
wicklung auch  der  deutschen  Instrumentalmusik  ging  von  der  Oper 
aus;  den  Musikreichtum  Böhmens,  Österreichs,  Süddeutschlands  und 
damit  unsere  Wiener  Klassiker  verdanken  wir  der  Opernliebe  der 
österreichischen  Kaiser. 


Italienisclie  Oper  unter  den  Neapolitanern 

Während  der  Zeit,  in  welcher  in  der  französischen  Oper  und  in 
der  deutschen  neue  Seitenlinien  erblühten  oder  verdarben,  stand  das 
italienische  Musikdrama  in  seiner  Entwicklung  nicht  still. 

Was  den  dichterischen  Teil  betrifft,  so  war  diese  weitere  Ent- 
wicklung eine  günstige.  Es  gelang  zunächst  das  Drama  wieder  von 
den  possenhaften  Elementen  zu  befreien,  die  bei  Beginn  der  vene- 
zianischen Periode  als  Zugeständnisse  an  das  zahlende  Volk  einge- 
fügt worden  waren.  Daß  dieses  komisehe  Unkraut  nicht  die  ganze 
Oper  zu  Falle  brachte,  daß  der  Verlauf  anders  wurde  als  in  Ham- 
burg, das  war  das  Verdienst  des  Silvio  Stampiglia,  des  Hof- 
poeten am  kaiserlichen  Hofe  zu  Wien,  der  in  den  letzten  Jahrzehnten 
des  17.  Jahrhunderts  unter  den  italienischen  Librettisten  in  den 
Vordergrund  trat.  Er  war  es  auch,  der  an  die  Stelle  des  äußer- 
lichen Schauwesens,  der  Jagd  disparater,  zusammenhangloser  Szenen 
wieder  bedeutungsvolle  Handlungen  zu  setzen  suchte,  Handlungen, 
in  denen  einfach  menschliche,  allgemein  verständliche,  vom  Wechsel 
der  Zeit  unabhängige  Verhältnisse  die  Herzen  der  Zuschauer  in  Be- 
wegung setzten  und  tiefer  ergriffen.  Ein  solches  wirkliches,  schönes 
Drama,  frei  von  den  Unarten  des  damaligen  Theaters,  ist  nament- 
lich Stampiglias  »Mario  fugitivo^^  ein  Stück,  das  das  Motiv  der 
aufopfernden  Gattenliebe  in  Wendungen  und  in  einer  Auffassung 
durchführt,  die  ziemlich  genau  mit  dem  »Fidelio«  übereinstimmen. 
In  der  schönen  Komposition  des  Giov.  Bononcini  wurde  dieser 
>  Mario  fugitivo^  eine  der  verbreitetsten  Opern  in  den  ersten  Jahr- 
zehnten nach   1700. 

Befestigt  und  weitergeführt  wurden  die  Reformen  des  Stampiglia 
durch  Apostolo  Zeno^,    seinem  Nachfolger   als  kaiserlichem  Hof- 


1  M.  Fahr:  »Apostolo  Zeno  und  seine  Reform  des  Opemtextes«.    Zürich 
1912;    A.  Wotquenne:    »Alphabetisches  Verzeichnis   der  Stücke  in  Versen 


Apostolo  Zeno  159 

poet.  Zeno,  ein  nicht  unbedeutender  Gelehrter,  der  auch  das  Amt 
des  Historiographen  am  kaiserlichen  Hofe  bekleidete,  eine  ernste 
und  edle  Natur,  riß  das  Musikdraraa  mit  einem  Rucke  aus  den 
Bahnen  anekdotischer  Unterhaltung  empor,  in  die  es  in  Venedig  ge- 
raten war.  Die  accidenti  verissi'ini  oder  stranissimi^  in  deren  Er- 
findung die  Aureli  und  Minato  ihren  höchsten  Stolz  gesetzt  hatten, 
schränkte  er  ein,  befreite  sie  von  Anachronismen  und  hielt  sich 
streng,  pedantisch  fast,  an  die  Überlieferung  der  alten  Quellen. 
Sein  Schillersches  Hauptziel  war :  durch  Vorführung  edler  Charaktere 
das  Musikdrama,  das  Theater  überhaupt  zu  einer  Schule  der  Tugen- 
den zu  machen.  Scharfsinn  und  Reife  des  Urteils  in  kritischen 
Lagen,  Großmütigkeit  gegen  Beleidigung  und  gegen  Feinde,  Maß 
im  Glück,  Tapferkeit  im  Unglück,  Beständigkeit  der  Freundschaft, 
treue  Gattenliebe,  starke  Hilfe  den  Unschuldigen  geleistet,  Erbarmen 
gegen  Elende,  Wohltun,  Gerechtigkeit  —  das  waren  die  Eigen- 
schaften, die  das  Volk  an  den  Helden  Zenos  lernen  sollte.  Freilich, 
ein  wirklich  dramatisches  Genie  besaß  Zeno  nicht.  Fast  keines 
seiner  Dramen  kommt  ohne  die  landesüblichen  Notbehelfe  der  Ver- 
kleidung und  Verwechslung,  ohne  die  starken  Drucker  der  Gifttasse 
und  dergleichen  Krücken  zu  Ende,  und  dem  Edelmut  seiner  Helden 
ist  zuweilen  ein  starker  Teil  Übertreibung  und  Unnatur  beigemischt. 
Aber  durch  die  Größe  seiner  Absichten  und  sittlichen  Ziele,  durch 
die  Reinheit  und  Strenge,  mit  der  er  sie  durchführte,  verdient  er 
sich  einen  Ehrenplatz  unter  den  dramatischen  Dichtern  seiner  Zeit. 
In  der  Geschichte  der  Oper  braucht  man  nicht  anzustehen,  ihm  die 
erste  Stelle  einzuräumen.  Sein  ^ Lucio  Verot  —  »Rodelinda«  bei 
Händel  — -,  sein  ^Temisiocle^j  seine  »Merope^^  -»Ifigenia  in  Äiilide*^ 
-»Scipione  neue  Spagne«  ^  seine  >Nitocri<  gehören  zu  den  besten 
Opemdichtungen,  die  wir  bis  heute  besitzen.  Man  kann  sie  mit 
Genuß  lesen ;  der  Musik  kommen  sie  durch  den  knappen,  energischen 
Rhythmus  der  Sprache  entgegen.  Die  Bedeutung  dieses  Dichters 
ist  in  Italien  noch  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  in  einer  Gesamt- 
ausgabe seiner  sämtlichen  Musikdramen  zum  Ausdruck  gekommen. 
Sie  umfaßt  unter  dem  Titel  ^Poesie  drammatiche  di  Ap.  Zeno«, 
Torino   1795,  12  Bände;  in  ihnen  47  Opern  und  12  Oratorien. 

Die  Italiener  haben  dem  Zeno  einen  andern  vorgezogen,  seinen 
Nachfolger  Pietro  Metastasio^.  In  italienischen  Literatur- 
geschichten, Theaterchroniken  usw.  findet  sich  der  Name  des 
Metastasio  allen  Ernstes  neben  den  des  Homer  gestellt.  Die  Ita- 
liener halten   ihn   für    einen    der   größten  Dichter   aller  Zeiten,  und 


aus  den  dramatischen  Werken  von  Zeno,  Metastasio  und  Goldoni«.  Leipzig 
1905;  L.  Pistorelli :  »Le  melodrammi  inediti  di  Apostolo  Zeno  <.  (Riv.  mus. 
m,  S.  261  fif.) 

1  Angelo  de  Gubernatis:    »Pietro  Metastasio«.     Seria  di  lezioni  fatte 
neir  Universitä  di  Roma  1909—1910  (Triest  1910). 


160  Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 

1898  wurde  im  ganzen  Lande  der  200jäkrige  Geburtstag  dieses 
Mannes  mit  einer  Begeisterung  begangen,  wie  wir  Deutsche  kaum 
unsem  Schiller  und  Goethe  feiern.  Nun,  wer  in  einer  der  vielen 
Gesamtausgaben  der  Werke  des  Metastasio,  vielleicht  in  der  vier- 
zehnbändigen  Turiner  vom  Jahre  1822,  seinen  *Ättilio  Regolo«  auf- 
schlägt, wird  ihm  die  Anerkennung  nicht  versagen  können,  daß  er 
ein  bedeutender  Dramatiker  war,  in  dem  ein  Hauch  Sophokleischen 
Geistes  lebt.  Aber  dieser  Ȁttilio*j  dieses  Hohelied  der  Seelen- 
größe, ist  doch  mehr  eine  Ausnahme  unter  den  Werken  Metastasios. 
Für  uns  Deutsche  ist  er  zu  schwach,  zu  schmachtend  und  zu  sehr 
Manierist,  zu  sehr  ein  Kind  einer  verliebten  italienischen  Periode. 
Zeno  ist  ernster  und  männlicher.  Wenn  trotzdem  seine  Landsleute 
den  Metastasio  vorzogen,  so  beruht  das  darauf,  daß  die  Dichtungen 
des  Metastasio  so  effektvoll  in  der  Sprache  waren;  Metastasio  ist 
ein  Virtuos  der  Sentenz,  ganz  und  gar  das  Produkt  und  damit  der 
geborene  Führer  einer  empfindsamen  Zeit,  ein  Labsal  für  schöne 
Seelen,  die  über  Gemeinplätze  in  Rührung  und  Andacht  geraten, 
w^enn  sie  in  gute  Verse  gekleidet  sind.  Noch  reicher  fast  als  an 
Sentenzen  ist  Metastasio  an  vergleichenden  Bildern;  Gutzkow  hätte 
ihn  für  sein  Pamphlet  über  den  Schwulst  in  der  Poesie  benutzen 
müssen,  wenn  er  ihn  gekannt  hätte.  Es  sind  dieselben  Bilder  vom 
Schiffer  im  Sturm,  von  dem  girrenden  Täubchen,  die  bei  jeder 
Regung  von  Fried  und  Freud  immer  wiederkehren.  Man  begreift 
eine  Zeit  nicht,  die  dieser  Trivialitäten  nicht  müde  wurde.  Aber 
der  Wohlklang  war  es,  der  es  den  Lesern  antat  und  die  Haupt- 
sache: dieser  blendende  Zierrat  ließ  sich  musikalisch  so  gut  ge- 
brauchen. 

Man  kann  die  Frage,  ob  Metastasio  bedeutender  war  als  Zeno  oder 
nicht,  auf  sich  beruhen  lassen.  Genug,  die  Zeitgenossen  schwärmten 
für  ihn.  Maria  Theresia  bezeichnete  es  als  einen  der  größten  Glücks- 
umstände  ihres  Lebens,  den  großen  Metastasio  zu  besitzen;  eine 
andere  Wiener  Dame  setzte  ihn  zu  ihrem  Universalerben  ein.  Da 
war  aber  M.  anständig  und  vernünftig  genug,  die  Erbschaft  zu- 
gunsten des  hinterlassenen  Mannes  und  der  Kinder  zurückzuweisen. 
Calsabigi  stellt  ihn  in  der  Vorrede  zur  Turiner  Ausgabe  von  1751 
über  Corneille  und  Racine,  und  noch  dreißig  Jahre  später  schien 
er  unserm  Joh.  Ad.  Hiller  Sophokles  und  Euripides  übertroffen  zu 
haben.  Hundert  verschiedene  Ausgaben  beweisen  die  Verbreitung 
der  Werke  Metastasios,  und  unter  den  italienischen  Komponisten  um 
die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ist  wohl  keiner,  der  nicht  Dichtungen 
dieses  Mannes  komponiert  hätte.  Namentlich  Metastasios  »Olym- 
piade« wurde  das  übliche,  dramatische  Pensum,  an  dem  die  Kräfte 
fast  gerade  so  regelmäßig  gemessen  wurden,  wie  in  der  Kirchen- 
musik an  dem  Text  der  Messe.  Neben  dieser  und  dem  ^Attilio<^  sind 
als  Hauptopern  Metastasios  noch  zu  nennen  der  :» Ärtaserse*  ^  ^Ädri- 
ano  in  Siria « ,  » Demetrio « ,  >  Ezio « ,  » Didone  abbmidonata « ,   » Siroe « , 


Pietro  Metastasio  161 

»Catone  in  Utica*,  ^Demofoonte^j  ^ Älessmidro  nelT  Indien ^  -»Giro  ri- 
conosciuto*.^  » Temistocle<i ,  •»Semiramide^^  »II  Ee  Pastore*,  *Il  Sogno 
di  Scipione«.  Im  ganzen  sind  57  Operndichtungen  von  ihm  gedruckt 
worden. 

So  gewiß  nun  die  Arbeiten  Metastasios  und  namentlich  die  des 
Zeno  eine  Reform  und  einen  Fortschritt  darstellen,  wenn  wir  sie 
gegen  die  Operndichtung  der  Venezianer  und  Hamburger  halten,  so 
gewiß  sie  im  Gefühlsgehalt  selbst  den  französischen  Werken  über- 
legen sind,  so  wenig  entsprechen  sie  doch  den  Anforderungen  an 
ein  gutes  Drama  im  allgemeinen.  Dem  Inhalte  nach  bilden  sie  fast 
alle  dasselbe  Einerlei  von  Staatsaktion  und  Liebelei,  die  Form  aber, 
in  der  sie  ihre  dürftigen  Probleme  entwickeln,  ist  unfrei  und  mecha- 
nisch, mehr  Schablone  als  Form.  Die  Führung  der  Handlung  folgt 
fremden  Gesetzen,  Gesetzen,  die  nicht  aus  der  Natur  der  Charaktere 
und  Ereignisse  entspringen.  Den  Dichtern  ist  die  Darstellung  eines 
großen  und  merkwürdigen  Schicksales  weniger  Hauptsache,  als  viel- 
mehr ein  Vorwand,  ein  Mittel  eine  Reihe  vorher  fertiger,  herge- 
brachter und  üblicher  Theaterefifekte  auszubreiten.  Hatten  die  Dichter 
früher  in  der  venezianischen  Schule  ihre  Stärke  in  den  accidenti 
verissimi  gesucht,  in  der  Erfindung  von  allerhand  ergötzlichen  und 
erstaunlichen  Episoden,  so  verlegten  sie  jetzt  ihre  Kraft  darauf,  aus 
der  Handlung  einen  reichen  lyrischen  und  didaktischen  Ertrag  zu 
ziehen.  Jede  Szene,  gleichviel,  ob  bedeutend  oder  unbedeutend, 
schloß  mit  gefühlvollen  und  schwungvollen  Versen,  die  geringfügig- 
sten Wendungen  endeten  mit  großen  Betrachtungen;  der  Reflexion, 
der  Selbstbespiegelung  und  Empfindsamkeit  war  kein  Ende.  Die 
Handlung  stand  still,  die  Hauptziele  kamen  außer  Sicht,  nur  damit 
alle,  auch  die  letzten  Nebenpersonen,  passend  oder  nicht,  ihr  Herz 
ausschütten  konnten. 

Durch  die  Reform,  die  durch  die  Namen  Stampiglia,  Zeno  und 
Metastasio  vertreten  ist,  war  der  Operndichtung  der  demokratisch 
vulgäre  Charakter,  den  sie  in  der  venezianischen  Oper  angenommen 
hatte,  wieder  abgestreift.  Die  Spaßmacher  und  die  komischen  Szenen 
waren  über  Bord  geworfen,  an  die  Stelle  des  bunten  Wirrwarrs  war 
eine  ruhigere  und  vornehmere  Führung  der  Handlung  getreten,  das 
Musikdrama  hatte  sich  dem  antiken  Vorbilde  wieder  mehr  genähert, 
zeigte  wieder  einen  ernsteren  und  edleren  Geist.  Es  tat  aber  in 
dieser  Richtung  zuviel.  Namentlich  Metastasio  ging  in  dem  Streben 
gedankenreich  und  gefühlvoll  zu  sein,  über  das  rechte  Maß  weit 
hinaus,  zerstörte  mit  seiner  Überschwenglichkeit  an  Betrachtungen 
und  Bildern,  an  lyrischen  Ruhepunkten  die  Ökonomie  der  Dramen, 
und  verwischte  den  Unterschied  zwischen  Haupt-  und  Nebenszenen, 
zwischen  bedeutenden  und  unbedeutenden  Vorgängen,  Ja  schlimmer 
noch,  er  zieht  den  Vorwand  zu  Herzensergüssen  künstlich  herbei. 
Dafür  finden  sich  in  allen  Dichtungen  des  Metastasio  Beispiele  in 
Hülle  und  Fülle;  mit  einem  der  stärksten  beginnt  gleich  sein  Haupt- 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.     VI.  H 


162  Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 

werk,  der  »Attilio  Regolo^.  Attilia  ist  von  Karthago,  wo  der  Vater 
seit  fünf  Jahren  als  Geißel  gefangen  sitzt,  heimlich  nach  Rom  ge- 
eilt, um  seine  Befreiung  zu  betreiben.  Da  trifft  sie  den  Licin,  ihren 
Geliebten,  und  macht  ihm  heftige  Vorwürfe,  daß  er  noch  nichts  für 
den  Mann  getan,  dem  er  alles  dankt.  Sie  will  nun  selbst  den  Kon- 
sul stellen,  und  mitten  in  der  Volksmenge  erwartet  sie  ihn.  Es  ist 
ein  Augenblick  voll  Spannung.  Aber  seine  Wirkung  wird  vernichtet. 
Denn  die  hochpolitische  Szene  schließt  mit  einer  Liebesarie.  Als 
Attilia  den  Konsul  erblickt,  sagt  sie  zum  Licin: 

»Nun  geh!« 

Licin:    »Ach,  nicht  eines  Blickes  würdigst  du  mich?« 

Attilia:   »Jetzt  bin  ich  Tochter  und  nicht  Liebhaberin«. 

Licin:  »Du  bist  Tochter;  ich  auch  preise  die  Erinnerung  an  den 
Vater;  aber  denke  du,  mein  Alles,  dann  und  wann  nur  auch  an 
mich.  —  Deines  schönen  Herzens  Tugend  wird,  Geliebte,  nicht 
beleidigt,  wenn  du  dich  der  Treue  erinnerst  dessen,  der  für  dich 
nur  lebt.« 

An  dieser  Stelle  die  Handlung  aufzuhalten,  ist  doch  ganz  ver- 
kehrt. Aber  noch  ärger  ist  es  fast,  daß  durch  die  Verse  des  Licin 
der  ganzen  Szene  ein  falscher  Stempel  aufgedrückt  wird.  Denn  darin 
war  nicht  von  Liebeshändeln  die  Rede,  sondern  von  politischen. 

Und  so  wie  in  diesem  Beispiele  ist  es  in  der  Hälfte  aller  Fälle 
überall  in  den  Opern  des  Metastasio,  die  Musik  unterstützt  die  Hand- 
lung nicht,  sondern  sie  bricht  ihr  die  Spitze  ab,  läuft  bestenfalls 
neben  ihr  her. 

Das  fällt  heute  jedermann  als  ein  Grundgebrechen  an  den  Arbeiten 
des  Metastasio  auf.  Wir  fragen  verwundert,  wie  konnte  das  dem 
gescheiten  Mann  und  seiner  Zeit  entgehen?  Das  entging  ihm,  weil 
die  gebildete  Welt  des  18.  Jahrhunderts  ganz  unter  dem  Zeichen  der 
Empfindsamkeit  stand.  Die  heroischen  Elemente  ruhten,  insbesondere 
in  den  südlichen  Ländern.  Erst  von  Norden  her,  in  Karl  XH.  von 
Schweden,  in  Peter  dem  Großen  und  namentlich  in  dem  Alten  Fritz 
traten  wieder  große  Männer  auf  und  setzten  die  Volksseele  in  kräf- 
tige Erregung.  Das  war  die  Zeit  der  schönen  Seelen;  der  confessions 
und  Bekenntnisse,  die  Zeit  des  Rokoko,  die  den  Wert  des  Zierlichen 
und  Kleinen  überschätzte,  eine  Zeit,  die  in  dem  notwendigen  und 
ehrenvollen  Kampf  gegen  eingerissene  Roheit  ins  Extrem  verfiel  und 
mit  den  Talenten  des  Feingefühls,  der  Herzenszartheit  und  Einfalt  einen 
eitlen  Kultus  trieb.  In  der  Geschichte  der  deutschen  Lyrik  ist  diese 
Geschmacksverirrung  durch  die  zahlreichen  Lieder  der  Güntherschen 
Schule,  die  die  Genügsamkeit  feiern,  die  Schwärmereien  über  die 
Tasse  Kaffee,  eine  Pfeife  Tabak,  über  die  Reize  des  Kanapees  nach 
der  einen  Seite  festgelegt,  nach  der  andern  durch  die  Schäferpoesien 
der  Frau  Gottsched,  der  Mariane  von  Ziegler  und  durch  Freund- 
schaftslieder wie  Klopstocks  »Ebert,  mich  scheucht  ein  trüber  Ge- 
danke«, mit  seiner  krankhaften  Sentimentalität.      In  der  dramatischen 


Pietro  Metastasio  163 

Dichtung  bildeten  die  Metastasioschen  Opernbücher  den  stärksten 
Auswuchs  jener  empfindsamen  Zeit.  Mit  ihnen  nimmt,  wie  einst  in 
der  Florentiner  Periode,  die  Aristokratie  wieder  Besitz  vom  Musik- 
dräma;  aber  wie  die  venezianische  Herrschaft  ihre  Spaße  und  ihren 
plebejischen  Geschmack  hineintrug,  so  bringt  das  neue  Regiment  in 
der  Oper  seine  Gefühlsseligkeit  zur  Geltung. 

Zum  Teil  w^irken  in  den  Fehlern  der  Metastasioschen  Dichtungen 
die  Sünden  der  venezianischen  Schule  weiter  fort.  Denn  sie  hatte 
das  dramatische  Gewissen  eingeschläfert  und  alle  daran  gewöhnt,  das 
Interesse  an  der  Haupthandlung  hinter  Nebendingen  zurückzusetzen. 
Die  Musik  hatte  in  den  venezianischen  Opern  mit  den  häufigen  Lied- 
einlagen ihre  alte  Neigung  zur  Selbstherrlichkeit  wieder  einmal  durch- 
gesetzt, und  man  schritt  auf  dieser  Bahn  weiter  und  machte  dem 
Sologesang  immer  größere  Zugeständnisse,  je  stattlicher  er  sich  selbst 
entwickelte  und  an  innerem  Gehalt  wie  an  äußerem  Reiz  gewann. 
Die  Vernachlässigung  des  Dialogs,  die  gleich  nach  Cavalli  schon  be- 
merkbar wurde,  nahm  immer  mehr  zu.  Das  sogenannte  Rezitativ 
ward  zum  Stiefkind  der  Komposition,  der  Beiname  Secco-Rezitativ, 
den  es  erhielt,  bezeichnet  das  Verhältnis.  Nur  ausnahmsweise  be- 
mühten sich  die  Musiker  hier  etwas  zu  bieten  und  ausdrucksvoll  zu 
sein.  Ihre  ganze  Kraft  wendeten  sie  den  lyrischen  Stellen  zu  und 
der  Ausbildung  der  Gesangformen,  in  die  sie  eingekleidet  wurden. 
Es  kam  infolgedessen  zu  einer  vollständigen  Scheidung  in  der  Musik 
der  Opern  zwischen  Rezitativ  und  Arien;  man  hatte  eine  Musik 
ersten  Grades  in  letzteren  und  eine  Musik  zweiten  Grades  in  ersterem. 
Die  Komponisten  schrieben  oft  für  das  Rezitativ  die  Noten  gar  nicht 
hin,  sondern  nur  die  Worte,  andermal  bloß  die  Noten  ohne  Worte ; 
kopierte  man  eine  Partitur,  ließ  man  die  Rezitative  ganz  weg.  In 
dieser  Fassung  finden  sich  viele  Opern  des  18.  Jahrhunderts  in  den 
Bibliotheken.  Das  Publikum  hörte  den  Arien  zu,  während  der  Re- 
zitative plauderte  es,  und  diese  Gewohnheit  hat  sich  in  Italien  bis 
auf  den  heutigen  Tag  erhalten.  Gluck  hat  dagegen  nichts  vermocht; 
vielleicht  gelingt  es  Wagner. 

Metastasio  rechnete  nun  mit  diesem  Unfug  als  mit  einer  Tatsache. 
Die  Mehrzahl  seiner  Szenen  ist  sq  angelegt,  daß  das  Rezitativ  be- 
ginnt und  eine  Arie  schließt.  In  der  Regel  ergießt  sich  der  Arien- 
segen über  alle  Szenen  gleichmäßig,  ob  sie  bedeutend  sind  oder  nicht. 
Wenn  der  Vorgang  selbst  nicht  natürlich  zu  einem  lyrischen  Er- 
guß drängt,  so  wird  die  Gelegenheit  dazu  gewaltsam  geschafi'en,  so 
wie  es  oben  das  Beispiel  aus  ■»Attilio  Regolo«-  gezeigt  hat.  Manch- 
mal fehlt  einer  Szene  die  Arie,  dafür  haben  andere  deren  mehrere ; 
oft  gestattet  die  Situation  am  Eingang  einen  geschlosseneu  Gesang, 
Träumern  und  Trauernden  eine  Arie,  aufgeregten  Personen  ein  be- 
gleitetes Rezitativ. 

Metastasio  selbst  und  seine  Lobredner  haben  in  dieser  Anwendung 
der  Arie  einen  rühmlichen  und  vollkommenen  Ersatz  des  griechischen 

11* 


164  Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 

Chores  erblickt.  Als  ob  bei  Äschylos  und  Sophokles  der  Chor  je- 
mals störte  und  sich  als  fremdes,  äußerliches  Element  aufdrängte! 
Der  Mangel  an  dramatischem  Takt,  mit  dem  bei  Metastasio  die  Arie 
so  oft  eintritt,  wird  dadurch  noch  verschärft,  daß  er  für  seine  Arien 
immer  dieselbe  Form  wählt.  Es  sind  stets  zwei  Vierzeiler;  der  zweite 
stellt  sich  im  Inhalt  in  einen  bald  stärkeren,  bald  gelinderen  Gegen- 
satz zum  ersten.  Diese  Anlage  entspringt  einer  musikalischen  Rück- 
sicht; sie  ist  auf  die  sogenannte  Dacapoarie  zugeschnitten,  eine 
Form  des  Sologesanges,  die  wir  schon  bei  Cavalli  treffen.  Sie  paßt 
für  Situationen,  wo  ein  gefaßter  Entschluß  von  Zweifeln  gestreift, 
eine  Hauptempfindung  zur  Klärung  gebracht  wird.  Jetzt  wird  die 
Dacapoarie  ohne  Rücksicht  auf  die  Situation  eingeführt.  Sie  drängte 
im  Laufe  der  Zeit  alle  andern  Formen  mehr  und  mehr  zurück  und 
erlangte  eine  nur  selten  bestrittene  Alleinherrschaft,  hauptsächlich 
deshalb,  weil  sie  dem  Sänger  in  dem  Schlußteile,  dem  dritten  Teile, 
der  im  wesentlichen  eine  Wiederholung  des  ersten  war,  Gelegenheit 
gab,  seine  Kunst  im  Variieren  zu  zeigen.  Metastasio  hat  aber  durch 
seine  Dichtung  wesentlich  dazu  beigetragen,  die  Dacapoarie  in  der 
Gunst  des  Publikums  zu  befestigen.  Denn  seine  Vierzeiler  sind 
Meisterstücke,  anmutige,  zuweilen  bedeutende  Gedanken  mit  der 
Kürze  und  Prägnanz  des  Sprichwortes  in  die  Zeilen  gedrängt. 

Überhaupt  ist  dieser  Dichter  ein  Virtuos  der  Sprache,  und  be- 
sonders einer  Sprache,  wie  sie  der  Musiker  braucht,  auch  im  Dialog. 
Gleichmäßig  beherrscht  er  die  Affekte,  immer  findet  er  die  rechten 
anschaulichen  Worte,  und  immer  ist  er  klar.  Auch  als  dramatischer 
Erfinder  ist  Metastasio  bedeutend,  kühn  in  der  Darstellung  von 
Seelengröße,  wie  in  der  *Statira<^,  rührend  in  der  Schilderung  von 
Freundschaftsverhältnissen,  wie  im  ^Arminio*,  in  der  •» lper77iestra  <i . 
Ein  Kind  seiner  Zeit  und  seines  Landes  bleibt  er  in  der  Charakte- 
ristik; seine  Tyrannen,  der  Artabano  im  *Ärtaserse«.  z.  B.,  lassen 
alle  Teufel  in  der  Grausamkeit  hinter  sich,  in  der  Motivierung  und 
Wahl  der  Mittel,  in  der  Lösung  der  Konflikte.  Varus  unterhandelt 
nicht  direkt  mit  Armin,  sondern  schickt  seine  Schwester,  die  Marzia, 
vor,  durch  eine  Liebschaft  den  Boden  zu  bereiten;  der  Meuchelmord 
blüht,  und  der  alte  Deus  ex  machina  feiert  Triumphe.  Am  Schlüsse 
der  drei  Akte  überstürzen  sich  die  Ereignisse  in  Metastasios  Opern. 
Segest  will  die  eigene  Tochter  töten,  nur  aus  Haß  gegen  den  Armin. 
Zur  rechten  Zeit  kommen  Armins  Gefährten  und  entwaffnen  das 
Scheusal.  Nach  fünf  Minuten  ist  dann  aber  die  allgemeine  Versöh- 
nung fertig.  In  '»Ipermestra<(~  will  Darvo  den  Linceo  ermorden.  Da  er- 
tönt's von  draußen:  *Moro  il  tiranno^  und  die  Tochter  schützt  den 
unnatürlichen  Vater.  Der  wird  darüber  gerührt,  und  mit  einem 
»Seid  glücklich!«  ist  die  Oper  aus.  In  dieser  Sucht  auszugleichen 
und  die  Handlungen  ohne  alle  Schatten  zu  schließen,  spricht  sich  in 
den  Metastasioschen  Dichtungen  ein  äußerer  Einfluß  aus.  Sie  waren 
als  Festopern   für   die    Höfe   gedacht.      Nur   bei    der   ^Didöm<^  und 


Alessandro  Scarlatti  J^ß5 

einigen  andern  hat  er  sich  ein  Ende  in  Trauer  oder  Resignation 
erlaubt. 

Der  Boden,  auf  den  diese  Dramatik  des  Metastasio  die  Kompo- 
nisten verwies,  war  sehr  ungünstig.  Die  venezianische  Oper  hatte 
ihnen  den  Chor  genommen;  das  Musikdrama  der  Wiener  Hofpoeten 
beschränkte  sie  auch  im  Sologesang.  Die  Texte  der  Dichter  und  die 
Gewöhnung  des  Publikums  entzogen  den  Dialog  so  gut  wie  ganz  der 
eigentlichen  musikalischen  Kunst.  Die  Arbeit  im  Rezitativ  war  un- 
möglich oder  unfruchtbar,  die  Tonsetzer  waren  vorwiegend  nur  Arien- 
komponisten. In  der  Arie  aber  mußten  sie  ihre  Kunst  an  drama- 
tisch nichtige  und  unsinnige  Aufgaben  verschwenden;  sie  waren  in 
ihr  an  ein  und  dieselbe  Modeform  gebunden,  die  Dacapoarie,  und 
sie  waren  drittens  nicht  einmal  in  dieser  Dacapoarie  frei,  sondern 
sie  mußten  nicht  bloß  mit  den  Kräften  der  verfügbaren  Sänger  ver- 
nünftig rechnen,  sondern  auch  ihrem  Ehrgeiz,  ihrer  Eitelkeit  ent- 
gegenkommen. 

Bedenkt  man  diese  Schwierigkeiten,  diese  Schranken  und  Hemm- 
nisse, so  kann  man  nur  darüber  staunen^  was  die  Musiker  auf  diesen 
Grundlagen  doch  geleistet  haben.  Aus  der  Summe  der  italienischen 
Opernpartituren  des  18.  Jahrhunderts  tritt  dann  nicht  das  äußerliche 
Blendwerk,  das  Triviale  und  das  ganz  Verfehlte  in  den  Vordergrund, 
sondern  der  reiche  Schatz  an  Meisterstücken  des  Ausdrucks,  den  sie 
für  alle  Lagen  des  Gemütslebens  bieten. 

Der  Rückzug  aus  der  reicheren  und  freieren  Formenwelt  Monte- 
verdis  und  Cavallis  beginnt  deutlich  schon  in  dem  dritten  Abschnitt 
der  venezianischen  Periode  bei  Lotti,  Caldara,  bei  Pallavicini  und 
Pollarolo.  Noch  entschiedener  als  sie  steuern  Domenico  Freschi, 
Domenico  Gabrieli  und  Alessandro  Stradella  auf  einen  neuen  Stil, 
auf  die   Trennung   von   Rezitativ   und  geschlossenen  Sologesang  los. 

Der  vollständige  Bruch  vollzieht  sich  von  dem  Zeitpunkte  ab,  wo 
die  Süditaliener  einsetzen  und  die  neapolitanische  Schule  in  der  Füh- 
rung der  Oper  an  die  Stelle  der  Venezianer  tritt.  Neapel  war  um 
die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  mit  300  000  Einwohnern  die  größte 
Stadt  Italiens,  der  Sitz  eines  Königshauses,  das  an  Glanz  keinem 
Fürstenhofe  nachstehen  wollte.  Ganz  natürlich  fand  hier  die  junge 
Oper  schnell  Beachtung,  in  Francesco  Provenzale  auch  bald  einen 
einheimischen  Vertreter  von  Bedeutung.  Der  Künstler  aber,  der  eine 
Neapolitanische  Schule  ins  Leben  rief,  die  die  Entwicklung  des  Musik- 
dramas auf  ein  halbes  Jahrhundert  bestimmte,  war  Alessandro 
Scarlatti.  ^ 

Die  Musikgeschichte  steht  diesem  Meister  gegenüber  immer  noch 
vor  mancher  Lücke.  Es  ist  noch  nicht  lange  her,  daß  die  Zeit 
seiner  Gebui't   und    seines  Todes    festgestellt    worden  ist,    und   zwar 


lEd.Dent:  »The  operas  of  Alessandro  Scarlattic  (Samm  elbände  d.  IMG 
IV,  S.  143 ff.);  derselbe:  »Alessandro  Scarlatti«.    London  1905. 


166  Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 

durch  Francesco  Florimo,  dem  wir  eine  spezielle  Geschichte  der 
neapolitanischen  Schule  verdanken.  Sie  erschien  unter  dem  Titel 
»La  scuola  musicale  di  Napoli*  vier  Bände  stark  im  Jahre  1882. 
Über  die  Ausbildung  Scarlattis,  über  die  Zahl  seiner  Werke  sind 
wir  erst  jüngst  durch  Dent  unterrichtet  worden.  Ganz  unerhört 
war  seine  Fruchtbarkeit.  Nach  Burney,  der  auf  mündlichen  Über- 
lieferungen fußte,  soll  er  jeden  Tag  seine  Kantate  geschrieben  haben. 
Opern  sind  von  ihm  weit  über  hundert  nachweisbar ;  sein  » Trionfo 
deir  onore<  vom  Jahre  1718  trägt  die  Bemerkung  opera  170,  seine 
*  Oriselda«-  von  1720,  die  sich  als  Autograph  im  British  Museum 
zu  London  befindet,  ist  als  114.  opera  bezeichnet.  1725  starb  Scar- 
latti.  Die  reichliche  Hälfte  seiner  Musikdramen,  nämlich  64,  ist 
noch  erhalten.  British  Museum  besitzt:  »La  Rosmira*,  in  zwei 
verschiedenen  Handschriften,  -»Oriselda*.^  »Vamor  generoso*^  *La 
caduta  de^  Decemviri«^  ^  -»Scipione  neue  Spagne*  ^  *Il  trionfo  deW 
onore<^^  den  *Ätiüio  Begolo«- ;  die  Konservatoriumsbibliothek  in  Neapel 
hat  den  -»Pirro*^  den  *Prigioniero  fortunato«-^  die  ^Caduta  dei  decem- 
viri*^^  den  y>Tito  Sempronio <i- ^  den  •»Tigrane*  und  ^  Cambise*  \  Modena 
den  -»Clearco  in  Negi'oponte*  und  »V Honesta  negli  araori\  München 
den  zweiten  Akt  von  »Oe?iuinda«,  die  ^Ämazona  Guerriera*.  und 
die  -»Serenata^  von  1716.  Mit  je  einem  Stück  sind  Hamburg, 
Dresden,  Bologna  vertreten.  Die  *Bosaura«.  vom  Jahre  1690  ist 
im  Druck  erschienen  und  zwar  als  14.  Band  der  »Publikationen  der 
Gesellschaft  für  Musikforschung«.  Die  Wahl  dieses  Werkes  hat 
Chrysander  veranlaßt  in  der  irrigen  Meinung,  daß  hier  die  Wiege 
des  begleiteten  Rezitativs  liege.  Die  Oper,  der  eine  Liebesgeschichte 
nach  dem  Prinzipe  der  Wahlverwandtschaften  zugrunde  liegt,  ist 
aber  wohl  geeignet,  ein  Bild  vom  Wesen  und  von  der  Kunst  Scar- 
lattis zu  geben.  Da  empfiehlt  es  sich,  ihn  zunächst  einmal  in  der 
ersten  Szene  des  zweiten  Aktes  aufzusuchen,  da,  wo  Lesbo,  der  alte 
Diener  der  Rosaura,  sie,  die  über  die  Untreue  des  Geliebten  un- 
tröstlich ist,  aufzuheitern  sucht.  Sie  klagt  in  edlem  Schmerze: 
iPeno,  ne  son  gradita*^  er  singt  ihr  dazwischen  die  Romanze  von 
»La  hella  Margherita «^  ^  ein  Volksstückchen,  das  die  Trauernde  an 
glückliche  Stunden  ihrer  Kindheit  erinnern  soll.  Das  ist  der  sin- 
nige Zug  in  Scarlattis  Natur,  der  alle  seine  Opern  durchdringt.  Er 
hat  Scarlatti  in  der  Formengebung  besonders  glücklich  geleitet. 
Seine  Duetten  zeigen  das  am  schönsten,  wenn  er  die  zweite  Stimme 
im  Augenblicke,  wo  man  es  nicht  erwartet,  nach  Rezitativen  und 
langen  Unterbrechungen  Motive  und  Themata  der  ersten  Stimme 
aufnehmen  läßt.  Im  y>Ämor  voluhile<!-  fragt  eine  Freundin  die  El- 
mira:  »Woran  denkst  du?«  Elmira  weicht  aus.  Da  stimmt  das 
Orchester  das  Thema  einer  Liebesarie  an,  die  Elmira  lange  vorher 
gesungen  hat.  Gewissermaßen  ist  das  System  der  Leitmotive  in 
Scarlattis  Oper  schon  da.  Anmut  und  Liebenswürdigkeit  sind  das 
Hauptmerkmal    seiner   Musik.     Aber    es   fehlt    ihm    keineswegs   die 


Alessandro  Scarlatti 


167 


Fähigkeit  große  Leidenschaften  darzustellen.  Was  Größe  betrifft, 
da  kommt  in  der  :»Bosaura<  die  achte  Szene  des  dritten  Aktes  in 
Betracht:  Rosaura  will  sterben  und  diesen  Entschluß  machen  die 
trüben,  müden  und  verzweifelten  Töne  Scarlattis  begreiflich.  Der 
wilde  und  trotzige  Osmano  in  der  y>  Teodora  Äugusta<  (1693)  ist 
ein  Hauptbeispiel  für  Scarlattis  Kraftfiguren.  Wie  er  sich  auf  Glanz 
und  Pracht  versteht,  das  zeigen  seine  » Oriselda«.  und  sein  •»Attilio 
Begolo^.  Da  wird  die  Ankunft  einer  Flotte  mit  pompösen  Orchester- 
stücken gefeiert;  aus  der  Ferne,  von  den  ansegelnden  Schiffen  her- 
über, tönt  Hornmusik.  Besonders  -»Tigrane^  (1715)  ist  an  Ver- 
wendung von  Festmusik  so  reich,  daß  man  an  die  französische  Oper 
erinnert  wird.  In  der  vierten  Szenß  wirkt  das  Orchester  in  einem 
Satze  mit,  den  man  ein  Doppelkonzert  nennen  darf. 

Den  Ausgang  Scarlattis  von  der  venezianischen  Schule  kann  man 
in  einer  ganzen  Reihe  seiner  früheren  Opern  verfolgen.  ^Vonesta 
neir  a?7iore^  (seine  erste  1680),  sein  -»Clearco  in  Negroponte<^^  sein 
»Amor  volubile<s-  tragen  alle  venezianische  Spuren  in  den  Trom- 
petenarien und  namentlich  in  der  Bevorzugung  kleiner  Formen  und 
in  der  reichen  und  beweglichen  Mischung  von  Rezitativ  und  Ge- 
sang. .  Seine  ganze  dramatische  Richtung  erinnert  an  Monteverdi 
durch  die  Lebendigkeit  und  den  beständigen  Fluß  der  Form,  durch 
die  Unabhängigkeit  von  jeglicher  Schablone  und  die  ürsprünglich- 
keit  und  den  Reichtum  der  Gestaltung.  Der  Wert  Scarlattischer 
Opern  liegt  in  der  Lidividualität  des  Künstlers,  der  dahinter  steht. 
Gleichwohl  ist  er  für  die  neapolitanische  Schule  einflußreich  gewor- 
den und  kann  als  ihr  Gründer  bezeichnet  werden.  Die  Bevor- 
zugung der  Dacapoarie  geht  auf  ihn  zurück.  Zweitens  aber  ist 
er  der  Vater  eines  leidenschaftlichen  Stiles,  der  mit  den  Neapoli- 
tanern zum  ersten  Male  im  Musikdrama  auftritt.  Es  ist  ein  anderer 
als  der  Monteverdische.  Dieser  stützt  sich  auf  dissonante  Harmonie 
und  auf  rasche,  rbythmische  Bewegung,  der  Scarlattische  ruht  auf 
breiten,  imposanten  Rhythmen  und  auf  dem  Gebrauch  großer  Inter- 
valle in  den  Themen.  Damit  zeichnet  er  den  Ausbruch  einer  er- 
regten Stimmung,  wie  von  vulkanischem  Grunde  her,  in  großen 
Bogen  wie  im  -»Attilio  Regolo«-  : 

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mach   diesem   grandiosen    Ansatz    macht    sich    das   bewegte   Herz    in 
Nächtigen    Koloraturen    Luft.      Scarlattis    •»Camhise«-    (1719),    vor 


168 


Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 


allem  die  Arie  der  Mirena:  -»Perche  infido  non  le  credo^  ist  die 
Heimat  dieses  neuen  Stiles,  der  mit  seiner  mächtigen  Gestikulation 
für  das  Theater  und  seine  großen  Räume  wie  geschafiPen  war. 


Perchein-fi-do  non  le    cre-do 

Alle  italienischen  Komponisten  griffen  zu  diesem  Stil;  wenn  ihnen 
gar  nichts  einfiel,  eine  Bravourarie  mit  den  breiten  Noten  und  den 
pathetischen  Attitüden  war  immer  zur  Hand  und  ihrer  Wirkung 
sicher.  Das  Rezept  lautete  einfach:  nimm  ein  Thema  mit  breiten 
Rhythmen  und  großen  Intervallen  und  schicke  einen  Koloratursturz 
hinterdrein  etwa  nach  dem  Schema: 


-:$: 


:^ 


1^1; 


I^ 


I^Fgg 


sg^a^^g^ 


i 


^^=^- 


^ 


tJiii: 


:#=P= 


Der  Typus  hat  sich  bis  auf  Mozart,  der  in  der  Rachearie  des  >Don 
Juan«  ein  eindringliches  Beispiel  gibt,  und  noch  länger  in  der  italie- 
nischen Oper  erhalten.  Dem  feurigen,  schnell  exaltierten  Wesen  der 
neapolitanischen  Künstler  lag  er  von  Natur  nahe. 

Ähnlich  wie  vor  sechzig  Jahren  bei  den  Venezianern,  kam  auch 
jetzt  am  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  in  der  Oper  der  neapolita- 
nischen Schule  ein  heimatlicher  Zug  zum  Ausdruck.  Schon  Scar- 
latti  hat  im  y^Amor  volubile<^  lustige  Gesänge  im  Dreiachteltakt, 
deren  Herkunft  von  den  neapolitanischen  Villanellen  und  Frottolen 
unverkennbar  ist. 

Im   »Prigioniero  fortunato«   zeigt  sie  das  Duett: 


d'on  -  de 


;fa^^^ 


in  Sextenparallelen. 

Im   »Tigrane«   findet  sich  in  dem:  a  modo  di  Zingarese 


ein  Thema,  das  seiner  Rhythmik  nach  aus  einei*  Volksquelle  stammt. 


Leonardo  Vinci  und  Giov.  B.  Pergolesi 


169 


Scarlattis  persönlicher  Stil  tritt  dann  wieder  in  Stellen  wie  in 
der  Arie  des  Cambise  im  Spiel  um  kleine,  intime  Motive  hervor: 
»Quando  vedrai  so  repentita« 


i 


W-- 


-M 


'^ 


do 


re  -  pen  -  ti 


ta! 


Seine  Neigung  für  Nationalmusik  zeigt  sich  in  dem  reicheren  Ge- 
brauch des  sogenannten  Siziliano,  einer  Arienform  im  ^'^/^  Takt,  die 
von  Anmut  und  Humor  ausgehend,  sich  sehr  verwandlungsfähig  er- 
wies und  deshalb  bald  in  der  ganzen  europäischen  Vokalmusik  mit 
Vorliebe  verwendet  wurde.  Die  Händeischen  Oratorien  sind  voll 
solcher  Sizilianos,  einer  der  bekanntesten  ist  der  im  Messias  auf  den 
Text  >Er  weidet  seine  Herde«.  Bach  verwendet  ihn  unter  anderm 
für  das  Pastorale  seiner  Weihnachtssinfonie. 

Die  bei  Scarlatti  schon  bemerkbare  Hinneigung  zu  Provinzialismen, 
zu  Anklängen  an  die  heimatliche  Volksmusik  wird  bald  zu  einem 
Hauptmerkmale  der  neapolitanischen  Schule.  Insbesondere  sind  es 
Leonardo  Vinci  und  Giov.  Battista  Pergolesi^,  die  diesen 
Zug  stärker  ausbilden  und  auf  ihm  einen  wesentlichen  Teil  ihrer 
Erfolge  gründen.  Er  äußert  sich  am  auffälligsten  darin,  daß  die 
Themen  keine  Rücksicht  auf  die  Situation  nehmen: 
So  singt  die  Semiramis  wenig  königlich 


piu   t'a-ccen  -  di 


Von  dem  Helden  Poro  hören  wir 


ques-ta     quel-la 


Ve  -  drai     con tue     per     -     i  -  glio 

g} — SJ         *—^-'—ä— 


I 


di    ques  -  ta    spa-da  il  lam-po 
Die  Themen  zeigen  häufig  rhythmische  Provinzialismen: 


^ 


:pcÄ 


i::?: 


prez-  ZG     leg  -  gi    -     e  -  ro 


1   Gr.  Radiciotti:  »Giovanni  Battista  Pergolesi«,  Roma  1910;  M.  Fehr: 
»Pergolesi  und  Zeno«  (Sammelbände  d.  IMG  XV,  166  fiF.) 


170 


Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 


d'un  sa  -  dri  -  to      il  san  -  gue 

Die  folgende  Melodie  soll  das  plötzliche  Aufflammen  eines  Hoff- 
nungsstrahls veranschaulichen. 

^ 


^ 


7N  .       _     N  I> 


un      rag  -  gio     di       spe  -  me     di      legn  -  a     l'af  -   fa  -  nno 

Besonders  oft  bestimmt  ein  tändelnder  Zug  die  Erfindung,  wo 
die  dramatische  Lage  Ernst  fordert.  Siface  singt  im  Augenblick, 
wo  er  vor  einem  großen  Entschluß  steht: 


mm^ 


cor      non 


SOS    -   pi 


per  -  che 


i^.w^f-r^=f=v^. 


deL 


si   -  a. 


Am  ärgsten  zeigt  sich  die  Rücksicht  auf  äußerliche  Wirkung  in 
den  Schlüssen  der  Melodien  und  in  der  Behandlung  des  Reimes. 
Das  Normale  und  Altübliche  ist,  solche  Stellen  durch  breitere  Noten 
hervorzuheben,  die  neapolitanische  Volksmusik  verfährt  aber  gern 
entgegengesetzt.  Sie  verwendet  an  den  Schlüssen  mit  Vorliebe 
kurze,  stürmische,  stark  akzentuierte  Rhythmen,  halb  drollig,  halb 
unartig,  immer  frappant,  von  grimassenhafter  Wirkung.  Es  sind 
dieselben  Formeln,  mit  denen  heute  noch  die  Zigeunermusik  im 
Czardas  und  ähnlichen  Sätzen  arbeitet,  Äußerungen  eines  heiß- 
blütigen, ungezügelten  Temperaments,  eines  ausgelassenen,  über- 
mütigen, der  Parodie  und  dem  Spotte  zugetanen  Sinnes.  Die 
Heimat  solcher  kecken  Wendungen  ist  die  Frottole,  das  Scherzlied, 
das  Schnaderhüpfel  der  Neapolitaner.  Sie  von  da  in  elegische  und 
ernste  Situationen  überzupflanzen,  war  eigentlich  eine  Geschmack- 
losigkeit, die  Zurückweisung  verdient  hätte.  Dem  Vinci  wurde  sie 
nicht  bloß  nachgesehen,  sondern  als  ein  Vorzug  angerechnet.  Um 
das  zu  verstehen,  muß  man  die  große  Empfänglichkeit  in  Betracht 
ziehen,  die  dem  Italiener  für  volkstümliche  Züge  in  der  Kunst 
eigen  ist.  Das  ist  eins  der  Erbteile  alter  Kultur  bei  ihm.  Die 
Kunst  ruht  in  Italien  noch  heute  nicht  auf  der  Teilnahme  der 
höheren  Stände  allein,  sondern  das  Interesse  daran  durchdringt  alle 
Schichten.  Die  Allgemeinverständlichkeit  ist  die  erste  Forderung, 
nach  der  der  Wert  der  einzelnen  Leistungen  und  ganzer  Richtungen 


Leonardo  Vinci  und  Griov.  B.  Pergolesi  171 

gemessen  wird,  und  die  Künstler  sind  die  Lieblinge  aller,  deren 
Schöpfungen  Zusammenhang  mit  dem  Leben  des  Volkes  aufweisen. 
Darum  hat  der  Realismus  in  der  Plastik  bis  heute  in  Italien  seinen 
klassischen  Boden,  in  der  Musik  hat  die  gemütvolle  Bezugnahme 
auf  volkstümliche  Klänge  und  Formen  den  ßellini  groß  gemacht, 
die  Liebe  zu  Verdi  beruhte  in  der  Zeit,  wo  seine  Kunst  schwach 
war,  auf  derselben  Erscheinung,  und  die  Veristen  trägt  ebenfalls  die 
nationale,  heimatliche  Wurzel  ihrer  Kunst. 

Die  Wirkung  dieses  Verfahrens  mußte  im  18.  Jahrhundert  noch 
viel  stärker  sein.  Die  Anlehnung  an  die  heimischen  Weisen,  an 
den  musikalischen  Volksschatz  brachte  die  Oper,  das  stolze  Kind 
des  Florentiner  Hofes,  mit  einem  Male  dem  Herzen  des  Volkes 
nahe.  In  dieser  Einkleidung  waren  ihm  die  Gestalten  aus  der  alten 
Welt  der  Römer  und  der  Griechen  verständlich.  Nach  der  histo- 
rischen Echtheit  des  musikalischen  Gewandes  fragte  es  bei  den  Opern 
ebensowenig  wie  bei  den  Heiligenbildern  seiner  Maler. 

Es  kam  hinzu,  daß  Vinci  und  Pergolesi,  die  beiden  Hauptver- 
treter der  national-neapolitanischen  Richtung  in  der  Oper  noch  ein 
tüchtiges  Pfund  eigenen  Wertes  in  die  Wagschale  zu  werfen  hatten. 
Bei  Vinci  ist  es  eine  feurige  Empfindung,  die  sich  auch  formell  oft 
ursprünglich  und  originell  äußert,  namentlich  in  begleiteten  Rezita- 
tiven.  Einzelne  seiner  großen  Arien  fesseln  durch  Freiheit  und 
Neuheit  der  Form.  Seine  -»EJindiai^^  seine  ■»Astianattef^  seine  •»  Ca- 
duta de'  Decemviri^  sind  Opern,  bei  denen  der  innere  Gehalt  über- 
wiegt. Allerdings  waren  gerade  sie  nicht  die  Träger  seines  Ruhmes; 
der  *Silla*y  der  ^Siface«^  der  >Artaserse<^,  seine  -»Semiramide«  und 
sein  > ÄlessaTidro «  gefielen  mehr  trotz  der  Ungleichmäßigkeit,  der 
Bequemlichkeit,  mit  der  sie  erfunden  und  gearbeitet  sind.  Sie  ge- 
fielen, obwohl  aus  ihnen  häufig  ein  ganz  gewöhnlicher  Geist  spricht 
und  die  Absicht  auf  äußere  Wirkung  durch  bloße  Sängerkünste  und 
durch  banale,   marschartige  Themen  offen  vorliegt. 

Den  größten  Mangel  an  dramatischem  Ernst  beweisen  seine 
Ouvertüren.  Die  zur  -»Semiramide^^  einem  sehr  ernsten  Drama,  be- 
ginnt folgendermaßen: 


EEEfeE£ 


^^ 


ß        p        ß  f  P 

111  I  1 

An  Stelle  eines  musikalischen  Prologs  gibt  er  einen  seichten, 
gespreizten  Klingklang,  und  die  Mehrzahl  der  Neapolitaner  folgt 
ihm  darin.  So  gleich  Pergolesi.  Als  er  seine  -»Olymjyiade«.  im 
Jahre  1735  geschrieben  hatte,  setzte  er  dieser  eine  Ouvertüre  voran, 
die  er  einige  Jahre  vorher  zu  dem  Oratorium  -»San  Ouglielmo 
d'' Äquitania*  geschrieben  hatte.  Sie  paßte  zu  dem  einen  Werk  so 
wenig    wie  zum  andern.      Wie  in  seinem  bekannten  »Stabat  mater<i- 


172 


Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 


ist  auch  in  Pergolesis  Opern  die  Weichheit  der  Empfindung,  eine 
edle,  liebenswürdige,  schwärmerische  Sentimentalität  der  Grundzug. 
Aus  seiner  Musik  spricht  der  naive  Kindersinn  des  Süditalieners,  sie 
klingt  unschuldig  und  rührend  herzlich.  Plötzlich  schlägt  dann  aus 
den  Tönen  Glut  und  eine  Leidenschaft,  die  nahe  daran  ist,  sich  zu 
überschreien.      Ein    Hauptbeispiel    findet   sich   in   der    :» Olympiade €-. 


f*» 


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5 


feSE 


-ß-0- 


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Qual  del  -  trier  che  all  al  -  ber  -  go  e  vi  -  ci  -  no  all  al  -  ber  -  go  e  vi- 


s 


is 


p^^^- 


ci  -  no    Piu    ve  -   lo  -  ce  s'ajff-retta,  s'afif-  re  -  tta  nel  cor  -  so 

Pathetischen    Situationen    wird   Pergolesi    durch   S carlattischen    Stil 
gerecht: 


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-#— f- 


Su  -  per-ba    di. 


^^^^^=a^^^ 


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stes  -  so      di_ 


-V-/ 


^^— Q^ 


stes  -  so      an  -  dro      pos  -  tan  -  do  in  fron  -  te 

In  keines  andern  Tonkünstlers  Werken  fand  das  Volk  das  eigene 
Wesen  so  getreu  und  so  reichlich  wieder.  Pergolesi  ward  der  aus- 
gesprochene Liebling  seiner  Landsleute  und  ist  es  bis  zum  heutigen 
Tage  geblieben.  Zieht  man  aus  seinen  dramatischen  Arbeiten  den 
nationalen  Gehalt  ab,  so  bieten  sie  immer  noch  durch  die  Beweg- 
lichkeit der  Phantasie  und  den  großen  Vorrat  an  eigenen  Wendungen 
Stoif  genug  zur  Bewunderung.  Eine  menschliche  und  musikalische 
Original natur  steht  dahinter. 

Neben  der  Anlehnung  an  heimatliche  Musik  und  an  heimatliches 
Wesen  hat  noch  ein  anderer  Charakterzug  das  Gepräge  der  neapoli- 
tanischen Oper  bestimmt:  ihre  Neigung  für  virtuose  Gesangleistungen. 
Diese  Neigung  gehört  mit  in  den  Organismus  italienischer  Kunst- 
anschauung. Der  Italiener  betont  das  Faßliche  nicht  bloß  stärker 
als  der  Deutsche,  er  bevorzugt  es  auf  Kosten  eines  tieferen  und 
reicheren  Gehaltes.  In  dieser  Tendenz  liegt  eine  Mission  der  italie- 
nischen Kunst.  Ihr  verdanken  wir  einen  Palestrina,  ihr  verdanken 
wir  die  Monodie  und  die  neue  Musik,  die  sich  aus  ihr  entwickelte. 
Nach  dieser  Seite  geht  sofort  die  Ausbildung  jedes  neuen  Kunst- 
zweiges, und  das  war  das  Schicksal  der  Opernarie  in  der  neapolita- 
nischen Schule.     Die  Scarlattischen    Arien    sind   der  Mehrzahl  nach 


Nicolo  Porpora  173 

noch  kontrapunktisch.  Die  Singstimme  teilt  sich  in  den  Vortrag 
mit  einem  Soloinstrument;  die  Harmonie  hat,  durch  Dissonanzen- 
gebunden  und  reich  belebt,  einen  wesentlichen  Teil  am  Ausdruck. 
Schon  aber  bei  Vinci  und  Pergolesi  tritt  der  Sänger  allein  hervor; 
die  Instrumente  werden  mehr  und  mehr  in  die  Ritornells  verwiesen, 
die  Modulationen  vereinfacht,  durch  schärfere  akkordische  Mittel 
ersetzt.  Die  volle  künstlerische  Kraft  wird  der  Ausbildung  der 
Gesangmelodie  gewidmet,  sie  soll  bedeutend,  eigen  sein,  fesselnd, 
wenn  nicht  durch  inneren  Gehalt,  so  durch  äußere  Reize.  Und 
diesen  Reiz  fand  man  im  Figurenwerk,  in  der  Koloratur.  Sie,  die 
ursprünglich  dem  Ausdruck  der  Freude,  der  Entrüstung  und  anderer 
erregter  Stimmungen  dienen  sollte,  wird  nun  ein  selbständiges  Ele- 
ment in  den  Arien,  die  Komponisten  rechnen  mit  seiner  sinnfälligen 
Wirkung:  ein  neuer  Schmarotzer  am  Drama.  Zu  dieser  Entwertung, 
diesem  Mißbrauch  der  Koloratur,  haben  die  Opern  Porporas  viel  bei- 
getragen. Nicolo  Porpora  ist  der  Meyerbeer  der  neapolitanischen 
Schule,  ein  scharf  berechnendes  Talent,  das  dem  Charakter  der 
Situation  die  Töne  wohl  anzupassen  wußte,  ein  für  die  Grund- 
themen glücklicher  Erfinder,  besonders  für  Zorn  und  Abscheu,  die 
neapolitanischen  Hauptseiten  des  Ausdrucks.  Aber  Porpora  bringt 
hübsche  Spielarten.  In  ^Semiramide«-  z.  B.  weist  Irano  (I,  6)  eine 
Drohung  mit  folgender  Wendung  ab: 


CiLr  ß  1^-^^^=?clq>zy-r-r-£^^^-E 


m^ 


0-^ 


-V-i-1 


Mag-gior   fol  -  li  -  a  maggior    non  v'e     che  per go    -    des    -  der 

Aber  die  Inspiration  reicht  in  der  Regel  nie  weit  über  den  Anfang 
seiner  Arien  hinaus.  Da  er  selbst  ein  großer  Meister  des  Gesanges 
war,  lag  es  ihm  nahe,  die  Kunst  des  Gesanges  zur  höchsten  Geltung 
in  der  Komposition  zu  bringen;  er  verwendete  sie  aber  auch,  um 
den  Mangel  an  Kraft  und  aus  den  Dramen  geschöpften  Ideen  zu 
verdecken  und  gewöhnte  sich  das  Staunenswerte  mit  dem  Bedeu- 
tenden zu  verwechseln.  Mit  der  Durchführung  neuer  und  interes- 
santer technischer  Motive  in  der  Singstimme  vereinen  sich  auch 
hübsche,  pikante  Orchestereffekte;  ganz  leer  geht  der  Kenner  bei 
Porporas  Opern  selten  aus.  Sein  Vorgang  und  sein  Erfolg  förderten, 
wie  hervorragende  Beispiele  das  in  der  Kunst  immer  tun,  die 
virtuose  Richtung  in  der  Arienkomposition  ganz  ungemein.  Der 
Sologesang  der  neapolitanischen  Schule  bietet  von  ihm  ab  ein  ähn- 
liches Bild  der  Entwicklung,  wie  auf  instrumentalem  Gebiete  die 
Konzertliteratur  seit  dem  Eingreifen  Mozarts.  Auch  hier  stellte 
sich  das  Virtuosenwerk  selbständig  neben  den  geistigen  Gehalt  der 
Musik  und  behauptete  sich  in  seinen  unberechtigten  Ansprüchen  bis 
auf  unsere  Tage. 

Mit  Porpora  werden  einfache  Stücke,  die  auf  den  Figurenschmuck 


174  Italienisclie  Oper  unter  den  Neapolitanern 

verzichten,  in  der  neapolitanischen  Schule  mehr  und  mehr  Selten- 
heiten. Ein  schlichtes  Lied  anstatt  einer  richtigen  Dacapoarie  mit 
gehörigen  Bravourstellen  —  das  ließ  sich  ein  Sänger  von  Bedeutung 
nicht  bieten.  Als  Händel  der  Signora  Cuzzoni  für  ihren  Auftritt  im 
•iOttone^  die  kleine  Kanzone  t Falsa  imagine*  zuwies,  kam  es  zu 
einer  Szene,  die  damit  endigte,  daß  der  jähzornige  und  riesenstarke 
Komponist  die  Sängerin  ans  Fenster  trug,  um  sie  hinauszuwerfen. 
In  der  Regel  gaben  aber  die  Komponisten  nach,  und  zwar  von  vorn- 
herein. Die  Sänger  kommandierten  die  Oper.  Das  sprach  sich  auch 
in  den  Honorarverhältnissen  aus.  Sie  hatten  das  Publikum  hinter 
sich,  aber  auch  den  hohen  Stand  ihrer  Kunst.  Es  war  eine  zweite 
Blütezeit  der  Gesangstechnik  in  Italien  angebrochen,  die  das,  was 
man  in  den  Tagen  Peris  und  Caccinis  gehört  und  angestaunt  hatte, 
bei  weitem  übertraf.  Was  damals  eine  Signora  Archilei,  ein  Signor 
Rasi  als  Ausnahmen  konnten,  das  leistete  jetzt  der  Durchschnitt.  In 
Neapel,  Rom,  Bologna,  Venedig  —  überall  waren  Sängerschulen  ent- 
standen ,  in  denen  mit  einer  Gründlichkeit  gelernt  wurde,  die  wir  heute 
kaum  fassen  können.  Bontempi  hat  in  seiner  ^Storia  della  musica*. 
(1695)  den  Lehrgang  der  römischen  Schule  beschrieben:  10  bis  12  Jahre 
Studium  und  ein  Unterricht,  der  auf  eine  harmonische  allgemeine  Aus- 
bildung hinzielte.  Noch  heute  haben  von  daher  die  italienischen  Kon- 
servatorien, wenigstens  im  Prinzip,  die  litterae  mit  in  ihrem  Lehrplan. 
Im  eigentlichen  Technischen  ein  ganz  raffiniertes  System:  Übungen 
im  Freien,  an  lärmigen  und  geräuschvollen  Stellen  und  an  andern, 
wo  ein  Echo  den  Schüler  kontrollierte.  Zwischen  den  einzelnen  Schulen 
entwickelte  sich  ein  Wettbewerb,  aus  dem  die  von  Neapel  und  von 
Bologna  als  Sieger  hervorgingen.  Dort  unterrichtete  Porpora,  hier 
Pistocchi,  jene  entsandte  den  Carlo  Broschi  (Farinelli)  diese  von 
Bernacchi  ab  eine  lange  Reihe  von  Künstlern,  die  bis  auf  den  Mozart- 
sänger Anton  Raaf  f  reicht  und  in  der  Kunst  des  Ausdrucks  sich  immer 
hervortat.  Von  Venedig,  wo  Gasparini  und  Lotti  die  Schule  leiteten, 
kamen  die  Tesi,  die  Faustina  Bordoni.  Namen  von  gleichem 
Klang  in  der  musikalischen  Welt  des  18.  Jahrhunderts  besaßen  unter 
den  Sängerinnen  die  Ouzzoni,  die  Francesa  Durastante,  Teresa 
Mingotti,  unter  den  Kastraten  Siface,  Senesino^  Nicolini,  Caf- 
farelli,  Carestini,  Guadagni.  Bässe  und  TenÖre  galten  nicht 
viel,  wenn  sie  auch  das  Außerordentlichste  leisteten.  Die  Londoner 
Journale  beschrieben  bei  Ankunft  neu  engagierter  Truppen  die 
Soprane  und  Alte  mit  Hingabe  und  in  den  Superlativen,  die  heute 
noch  in  Komödiantensachen  üblich  sind;  als  aber  der  bedeutende 
Bassist  Riemenschneider  eintraf,  heißt's  ohne  Namensnennung:  »eine 
Baßstimme  aus  Hamburg«. 

Über  die  Leistungen  dieser  Virtuosen  erfahren  wnr  manches  aus 
der  Memoirenliteratur  des  18.  Jahrhunderts,  besonders  aus  den  eigenen 
Lebensbeschreibungen  hervorragender  Musiker  wie  Quantz.  Wir  er- 
sehen daraus,   daß  das  Publikum  jener  Zeit  doch  Ansprüche  an  das 


a.  F.  Handel  175 

Darstellungsvermögen  der  Sänger  erhob;  Senesinos  Spiel  genügte  nicht, 
die  Cuzzoni  war  groß  in  Männerrollen,  Nicolini  zeichnete  sich  im  Re- 
zitativ aus.  Vom  eigenartigen  Zustande  des  Gesanges  veranschaulichen 
aber  auch  die  Partituren  manchen  Zug.  Sie  erzählen  uns  von  Riesen- 
stimmen: für  den  Bassist  Boschi  sind  Partien  geschrieben  worden, 
die  vom  Kontra- J.  bis  zum  eingestrichenen  ä  reichen.  Stimmen  von 
zwei  und  einer  halben  Oktave  Umfang  sind  keine  Seltenheit  in  jener 
Zeit.  Auch  außerordentliche  Tonstärke  und  Atembeherrschung  wird 
durch  Anekdoten  und  Notenbeispiele  belegt.  Das  Hauptgewicht  der 
damaligen  Sangeskunst  lag  aber  ersichtlich  in  der  Elastizität  der 
Stimmen,  in  der  technischen  Leichtigkeit,  in  der  Mannigfaltigkeit  und 
Sicherheit  des  Ausdrucks.  Dadurch  beugten  diese  Virtuosen  Sinne 
und  Seelen  der  gebildeten  Welt  unter  ihre  Macht,  und  dadurch  kam 
das  Schicksal  der  Oper  in  ihre  Hände.  In  einer  ganz  andern  Weise 
als  heute  hing  der  Erfolg  einer  Arie  von  dem  Sänger  ab.  Denn  zu 
allem,  was  schon  der  Komponist  für  ihn  tat,  besaß  er  nicht  bloß 
die  Erlaubnis,    sondern    er   war    auch  verpflichtet,    frei    zu  gestalten. 

Diese  Verhältnisse  brachten  es  mit  sich,  daß  geringe  Opern  gehalt- 
vollen vorgezogen  wurden,  und  daß  bedeutende  Komponisten  nicht 
bloß  ausnahmsweise  hinter  solche  zurückgesetzt  wurden,  die  den  ge- 
wohnten und  beliebten  Ton  einhielten.  So  ging  es  Francesco  Feo, 
so  dem  großen  Leonardo  Leo  und  so  auch  unserm  Georg  Friedrich 
Händel.  Feo  ist  mit  seinem  »Siface*,  einer  großen,  an  patheti- 
schen Stücken  reichen  Arbeit,  mit  der  geringeren  -»Andromedai  und 
dem  ^Amor  tiranno<^  im  Repertoire  vertreten,  ebenso  Leo,  von  dessen 
Opern  die  Bibliothek  in  Berlin  den  größten  Teil  besitzt,  mit  seinem 
»Demofoonte<j  seinem  yTrionfo  di  Camilla*,  dem  *Ciro  riconosciuto^ 
und  dem  -»Siface*..  Aber  keineswegs  in  dem  Grade,  der  ihrer  Be- 
deutung entspricht.     Am  wenigsten   kam  Händel  zu  seinem  Rechte. 

Er  hat  gegen  vierzig  Opern  geschrieben,  in  seinen  Wanderjahren 
drei  deutsche  für  Hamburg,  die  »Agrippina«  für  Venedig,  die  »Rode- 
linda<i.  für  Florenz,  die  übrigen  alle  für  London  ^  Dort  erfuhren  sie 
die  Auszeichnung  in  den  Arien,  zum  Teil  auch  mit  den  Ouvertüren, 
gedruckt  zu  werden.  Aber  bis  auf  wenige  Ausnahmen  drangen  sie 
über  London  nicht  hinaus  und  hatten  an  Ort  und  Stelle  gegen  den 
Widerstand  einer  italienischen  Partei  zu  kämpfen.  Ihr  wich  Händel 
endlich  als  der  Klügere  noch  in  der  Fülle  seiner  Kraft,  als  fünfund- 
fünf zigjähriger  Mann.  Er  war  der  erste  Musiker  von  europäischer 
Bedeutung,  der  das  italienische  Lager  verließ,  der  gegen  die  Unnatur 
und  Schablone  des  neapolitanischen  Musikdramas  einen  tatsächlichen 
Protest  erhob  und  zur  Reform  schritt,  während  die  meisten  rings  um 
ihn  die  Krone  zeitgenössischer  Kunst  noch  in  dieser  Oper  sahen, 
Händeis  Reform  war  sein  Oratorium.     Das  war  ursprünglich  für  die 


1  Georg  Ellinger:   >Händels  Admet  und  seine  Quelle*.     (Vierteljahrs- 
schrift f.  M.  W.  1885). 


176  Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 

Bühne  bestimmt.  Seine  > Esther«^  mit  der  er  in  die  Gattung  eintrat, 
nannte  er  ^7nasque<i,  das  ist  die  englische  Volksbezeichnung  für  das 
Musikdrama,  und  im  Gegensatz  zum  alten  zweiaktigen  Oratorium  der 
Italiener  hielt  er  bis  ans  Ende  seine  Oratorien  dreiaktig,  also  in  der 
Form  der  Opern.  Was  ihm  vorschwebte,  waren  Opern  auf  Grund 
volkstümlicher  und  großer  Begebenheiten.  Daher  die  biblischen  Stoffe, 
Opern,  in  denen  die  Musik  ihre  volle  Macht  entfaltete.  Männer- 
stimmen und  Chöre  hat  er  außerhalb  der  Kirche  zuerst  wieder  in 
ihre  Rechte  eingesetzt.  Das  ist  die  Natur  der  Händeischen  Oratorien, 
von  denen  man  sich  allerdings  nicht  nach  dem  > Messias«  den  Begriff 
bilden  darf.     Denn  dieser  ist  ein  Ausnahmewerk. 

Was  nun  die  Händeischen  Opern  selbst  betrifft,  so  sind  sie  alle  in 
Chrysanders  Händelausgabe  gedruckt,  alle  mit  Ausnahme  zweier  Ham- 
burger, die  verloren  scheinen.  Man  kann  sie  also  bequem  studieren 
und  sich  an  ihnen  zugleich  einen  lebendigen  Begriff  vom  Mechanismus 
und  vom  Wesen  der  italienischen  Oper  in  der  neapolitanischen  Schule 
bilden.  Denn  ihr  gehört  Händel  in  der  Hauptsache  an;  einzelne  sti- 
listische Züge  entnahm  er  aber  den  Venezianern,  so  die  mehrstim- 
migen Rezitative  und  die  elegischen  Gesänge  im  Barkarolentakt.  Auch 
Händeis  Opern  bestehen  aus  nichts  als  einfachen  oder  begleiteten  Rezi- 
tativen  und  aus  Arien.  Sie  machen  dem,  der  diesen  Komponisten 
nur  als  Meister  der  Chöre  kennt,  zunächst  einen  dürftigen  Eindruck. 
Das  wird  aber  anders,  sobald  man  sich  in  diese  Sologesänge  vertieft. 
Händel  in  seiner  vollen  Größe  als  Melodiker  zu  würdigen,  muß  man 
ihn  in  seinen  Opern  kennen.  Sie  enthalten  Gesänge  von  einer  ruhi- 
gen Größe  der  Form  und  des  Ausdrucks,  wie  sie  in  der  Musik  seiner 
Zeit  und  später  nur  selten  vorkommt.  Wo  wirklich  große  Leiden- 
schaften darzustellen  sind  und  tiefe  Empfindungen,  wo  ein  Mensch 
im  Unglück  oder  vor  einem  schweren  Entschlüsse  steht,  da  ist  Händel 
nie  übertroffen  worden.  Unter  den  wenigen,  die  ihm  nahestehen,  ist 
Leonardo  Leo  hervorzuheben.  Bei  solchen  Szenen,  nicht  bloß  bei 
den  Arien  daraus,  muß  man  ihn  aufsuchen.  Händel  selbst  vertrat  nicht 
alle  seine  Arien.  Seine  musikalische  Kraft  steigt  und  fällt  mit  dem 
Gange  der  Dichtung.  Das  ist  ein  Zeichen  seiner  gesunden  Künstler- 
natur. Sie  versagt  manchmal.  Liebeständeleien,  Arien  über  Gemein- 
plätze wie  Freundschaft  und  Zufriedenheit  hat  er  oft  nachlässig  behan- 
delt, und  alles  in  allem  wird  man  zuzugeben  haben,  daß  Händel  den 
besten  Italienern,  Scarlatti,  Leo,  keineswegs  überall  überlegen  ist.  Ja 
auch  Geringere,  wie  Vinci,  übertreffen  ihn  an  äußerlicher  theatralischer 
Wirkung  beim  Ausdruck  feuriger  Empfindung,  glühender  Sinnlich- 
keit, weicher,  liebenswürdiger  Grazie.  Aber  an  dramatisch  kritischen 
Stellen  ist  Händel  immer  groß,  und  wenn  irgendwo  ein  Largo  oder 
Recitativo  accompagnato  vorgeschrieben  steht,  so  kann  man  sicher  sein, 
einem  Meisterstück  der  Seelenmalerei  zu  begegnen.  Im  •>  Rinaldo  <s- ^ 
im  »Radamisto^,  in  ^  Rodelinda  ^  zeigt  er  sich  am  größten.  Will  man 
sehen,  wie  er  Gestalten   über  die  Linien  des  Dichters   hoch  hinaus- 


G.  F/ Händel  177 

führt  und  ihnen  durch  seine  Musik  Charakter  und  ein  Wesen  einflößt, 
das  sich  dem  Zuschauer  fest  einprägt,  wird  man  am  besten  seinen 
»Teseo^  aufschlagen.  Hier  hat  Händel  die  Figur  der  Medea  mit 
Hoheit  und  Schrecken  umgeben,  durch  die  einfachsten  und  wirk- 
samsten musikalischen  Mittel  ins  Übernatürliche  gehoben,  zu  einer 
Erscheinung  ausgebildet,  die  Entsetzen,  Ehrfurcht,  Mitleid  in  wunder- 
barem Gemisch  erregt. 

Nach  den  pathetischen  Szenen  zeichnen  sich  in  Händeis  Opern 
am  meisten  die  Schlummerszenen,  die  Szenen  im  Park,  beim  Mond- 
schein, am  Bache  aus.  Das  sind  reizende  Gebilde  träumerisch  sinniger 
Schwärmerei,  in  denen  Händel  als  Musiker  seine  elementare  Begabung 
für  Tonmalerei,  seine  Meisterschaft  als  Instrumentalkomponist  äußert. 
Aus  der  Fülle  von  Idyllen,  die  Händeis  Opern  enthalten,  spricht  der 
große  Naturfreund,  spricht  auch  der  Deutsche.  Ist  Händel  im  Stil 
seiner  Opern  ganz  italienisch,  im  Fühlen  und  Empfinden  ist  er  es 
nicht.  Es  gibt  Seiten,  in  denen  er  hinter  den  Italienern  zurück- 
bleibt, aber  bedeutender  sind  die,  wo  er  sie  zurückläßt.  Und  eine 
der  bedeutendsten  ist  Händeis  Verhältnis  zur  Natur.  Der  Italiener 
liebt  sie  nur,  soweit  sie  die  Spuren  menschlicher  Herrschaft  zeigt 
und  kultivierte  Form,  der  Germane,  wie  sie  ist,  unverfälscht,  und 
er  liebt  sie  mit  aller  Innigkeit  des  Herzens.  Diesen  deutschen  Zug 
findet  man  musikalisch  nirgends  schöner  als  in  Händeis  Opern.  Man 
darf  sich  aber  durch  die  Bewunderung  vor  den  Schönheiten  der  Händei- 
schen Opern  nicht  zu  der  Hoffnung  verleiten  lassen,  daß  man  sie  wieder 
aufführen  könnte.  Dafür  ist  seinerzeit  Burney  eingetreten,  insbeson- 
dere für  die  »Rodelinda^,  aber  ohne  Erfolg.  Bei  einer  festlichen 
Gelegenheit  ausnahmsweise  mag  mal  ein  Versuch  gelingen.  Aber 
sie  sind  durch  die  Nichtsnutzigkeit  der  Dichtungen  heute  zum  Tode 
verurteilt,  gerade  so  gut  wie  die  Werke  Scarlattis,  Leos  und  alles 
das  Beste  der  neapolitanischen  Schule  überhaupt. 

Auch  als  Händeis  Opern  jung  waren,  sind  sie  über  London  zwar 
hinausgedrungen,  aber  nirgends  haben  sie  festen  Fuß  gefaßt.  In  Italien 
kommt  Händel  noch  in  Neapel  vor,  und  zwar  ebenfalls  mit  *Agrip- 
pina*  1713.  Sie  ist  auch  in  Wien  1719  aufgeführt  worden.  Ham- 
burg hat  ebenfalls  in  der  Keiserschen  Zeit  Händeische  Opern  gegeben, 
viele  sind  in  Rheinsberg,  als  Friedrich  der  Große  dort  als  Kronprinz 
residierte,  gespielt  worden,  aber  ohne  Sänger.  In  München  dagegen 
ist  Händel  nicht  vertreten,  ebensowenig  in  Dresden.  Hier  hat  sich 
Händel  1719  selbst  aufgehalten,  um  den  Senesino  und  die  Durastante 
für  seine  Londoner  Oper  zu  engagieren,  1727  bringt  der  Kastrat 
Annibali  aus  London  englische  Nationallieder  mit,  aber  Händeische 
Opern  nicht.  Daß  sich  die  italienische  Bühne  solchen  Werken  ver- 
schloß, war  bedenklich,  es  war  ein  Zeichen,  daß  die  Einseitigkeit  des 
Geschmacks  sich  der  Verblendung  näherte.  Wie  er  zur  gleichen 
Zeit  immer  leichtfertiger  wurde  und  die  dramatischen  Ansprüche  an 
die   musikalische   Komposition    immer  weiter  hintansetzte,    das  zeigt 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.     VI.  12 


178  Italienisclie  Oper  unter  den  Neapolitanern 

die  Tatsache,  daß  um  das  zweite  Jahrzehnt  des  18.  Jahrhunderts  die 
sogenannten  Pasticcios  immer  häufiger  werden.  Pasticcio  —  d.  i. 
Gemisch,  Pastete,  Törtchen  —  nannte  man  die  Opern,  bei  denen 
jeder  Akt  von  einem  andern  Komponisten  geschrieben  war.  Sie 
scheinen  in  London  ganz  besonders  beliebt  gewesen  zu  sein.  Gewiß 
reizten  sie  und  unterhielten  das  Publikum  mit  Vergleichen,  und  der 
Ruhm  manches  Komponisten  knüpft  an  die  gelungene  Leistung  in 
einem  solchen  Pasticcio.  Aber  die  Einheit  in  der  Auffassung  von 
Charakteren,  der  Ernst  in  der  StelluDg  zum  Drama  überhaupt  mußte 
dabei  leiden. 

Natürlich  kam  unter  diesen  Umständen  unbefangenen  Köpfen  der 
Respekt  vor  der  Oper  allmählich  abhanden.  Gegen  1720  —  das 
Datum  steht  nicht  ganz  fest  —  erschien  ein  Pamphlet,  das  den  Titel 
führte :  »  Teatro  alla  moda  ossia  metodo  sicuro  e  facile  par  ben  com- 
porre  ed  esequire  le  opere  in  77iusica^,  Der  Verfasser  ist  nicht  ge- 
nannt, als  Druckort  ist  angegeben  Broglio  di  Bellinsania  (Gipfel  der 
Verrücktheit),  als  Verkaufsstelle  la  porta  del  palazzo  d'Orlando  (das 
Torhaus  zum  Schloß  des  rasenden  Rolands).  Es  ist  also  eine  Satire, 
aber  im  ganzen  doch  eine  ziemlich  zahme  Verspottung  der  verschie- 
denen Arten  von  Unnatur,  die  sich  im  Musikdrama  eingebürgert 
hatten.  Sie  war  von  Benedetto  Marcello,  dem  berühmten  Psalmen- 
komponisten. Burney  führt  das  Buch  auf  das  Unglück  zurück,  das 
Marcello  in  der  Oper  gehabt  hat.  Jedenfalls  ist  es  nicht  bedeutend. 
Den  Dichtern  wirft  Marcello  ihre  Schlummerszenen  vor,  in  denen  die 
Personen  immer  in  dem  Augenblick  einschlafen,  wo  eine  andere  kommt, 
ihre  ewigen  Lieder  vom  Täubchen,  von  der  Nachtigall,  vom  Nachen 
auf  stürmender  See,  ihre  Tiger  und  Löwen,  den  Unsinn,  daß  in  den 
Abschiedsszenen,  wenn  der  Mann  sich  anschickt  zu  sterben,  die  Frau 
eine  Arie  auf  fröhliche  Worte  singt,  damit  nur  ja  der  Zuhörer  nicht 
traurig  wird  und  sicher  bleibt,  daß  alles  nur  Spaß  ist,  daß  Ver- 
schwörungen, Hinterhalte  beschlossen  werden,  obwohl  Scharen  von 
Bauern  dabeistehen,  die  alles  hören  müssen.  Marcello  tadelt  Un- 
schicklichkeiten wie  die,  daß  in  königlichen  Gemächern  Tänze  von 
Gärtnerinnen  stattfinden.  Er  rät  den  Dichtern  ironisch,  nie  mehr 
als  sechs  Personen  in  die  Oper  zu  bringen  und  dann  so,  daß  drei 
wegbleiben  können.  Sie  sollen  dafür  sorgen,  daß  der  Tyrann  oder 
der  fürstliche  Vater  immer  vom  Kastraten  gegeben  wird,  daß  den 
Tenören  und  Bässen  nur  die  Kapitäne  der  Leibgarde  und  die  Hirten, 
Boten  und  das  untergeordnete  Personal  zufallen.  Den  Plan  und  den 
Inhalt  ihrer  Handlung  sollten  sie  vorher  immer  der  Primadonna  oder 
.jemandem  von  deren  Familie  erzählen.  Das  zweite  Kapitel  wendet 
sich  an  die  Komponisten.  Für  sie,  sagt  Marcello,  sei  es  schädlich, 
wenn  sie  viel  könnten,  das  äußerste,  was  sie  in  der  Harmonie  wagen 
dürften,  sei  gelegentlich  ein  Terzvorhalt.  Sie  möchten  ja  immer  die 
Sänger  fragen,  was  sie  gern  haben  wollten,  ob  sie  Freunde  von  Arien 
ohne  Baß  seien,  ob  sie  Tanzliederchen    (di  Furlanette,   di  Rigadoni) 


B.  Marcellos  »Teatro  alla  moda<  179 

liebten.  Am  gescheitesten  sei  es,  wenn  sie  die  Musik  ohne  Worte 
schrieben,  die  könne  ihnen,  wenn  es  soweit  sei,  der  Dichter  allemal 
draufschreiben.  Vorteilhaft  wäre  es,  auf  eine  lustige  Arie  immer 
eine  pathetische  und  umgekehrt  folgen  zu  lassen  ohne  Rücksicht  auf 
Situation,  und  vor  allem  auf  gute  Passagen  zu  sehen.  Besonders 
wirkungsvoll  seien  solche  auf  Worte  wie  Pa  .  .  .  Pa  .  .  .  Pa  .  ,  .  Padre^ 
auf  Eigennamen  und  überall  da,  wo  sie  früher  verpönt  gewesen  seien. 
Hauptpflicht  des  Komponisten  sei  Höflichkeit  und  Unterwürfigkeit 
gegen  die  Sänger,  der  geringste  von  ihnen  würde  doch  in  der  Oper 
leicht  ein  General,  wenn  nicht  mehr.  Am  bittersten  geht  Marcello 
mit  den  Musicis  um,  das  sind  die  Sopranraänner,  und  mit  den  Sänge- 
rinnen. Jenen  wirft  er  ihre  Eitelkeit,  Dummheit,  Titelsucht,  ihr  an- 
spruchsvolles Benehmen  auf  der  Bühne  und  in  der  Gesellschaft  vor, 
den  Damen  ihren  argen  Mangel  an  Bildung,  der  sich  schon  in  ihrer 
gewöhnlichen  Sprache  verrate,  ihre  Launenhaftigkeit  und  künstlerische 
Nachlässigkeit.  Zum  Schlüsse  werden  in  einem  entsprechenden  Tone 
die  Impresarii  angesprochen  und  in  ihrer  Abhängigkeit  von  den  Vir- 
tuosen, von  den  Primadonnenmüttern  insbesondere,  lächerlich  gemacht. 
—  Diese  drei  letzten  Kapitel  geben  im  einzelnen  mancherlei  Aus- 
kunft über  Mißbräuche,  Gewohnheiten  und  Formalismus  im  Opern- 
wesen des  18.  Jahrhunderts.  Auf  ihnen  beruht  der  Wert  des  Buches. 
Den  Kern  des  Übels  trifft  die  Satire  Marcellos  nicht.  Daß  das  Buch 
trotzdem  sehr  viele  Auflagen  gefunden  hat,  zeigt  aber,  daß  die  Miß- 
stimmung über  die  Entwicklung  des  Musikdramas  von  einem  großen 
Kreis  von  Kunstfreunden  geteilt  wurde.  Dieser  Kreis  beschränkte 
sich  aber  nicht  bloß  auf  Italien.  In  Frankreich,  Deutschland,  Eng- 
land, überall  hatte  das  Eindringen  der  italienischen  Kunst  die  natio- 
nalen Instinkte  wachgerufen  oder  geschärft;  überall  betont  man  den 
einheimischen  Musikbesitz  mit  frischem  Nachdruck.  Der  französische 
Widerstand  äußert  sich  am  deutlichsten  in  den  Werken  Rameaus, 
der  deutsche  in  den  Passionen  Bachs,  die  die  Bibel  und  den  volks- 
tümlichen Choral  in  den  Vordergrund  stellen.  Die  Johannespassion 
und  die  Matthäuspassion  fallen  beide  in  die  Zeit  des  Marcelloschen 
Pamphlets.  Am  entschiedensten  und  am  mannigfachsten  kam  aber 
die  Erbitterung  gegen  die  italienische  Renaissanceoper  und  ihre  Un- 
natur in  England  zum  Ausdruck.  Literarisch  in  zwei  bedeutenden 
Werken:  Jonathan  Swifts,  »Reisen  Gullivers  zu  verschiedenen 
fremden  Völkern«  [Gullivers  travels^  1726),  und  Alex.  Popes  Dun- 
ciade  (1728,  3  Bücher).  Ihnen  zur  Seite  ging  ein  kleiner  Krieg  in 
den  Zeitungen,  die  jeden  Skandal,  der  aus  der  Gesellschaft  der  Ope- 
risten  bekannt  wurde,  patriotisch  ausbeuteten.  Der  Hauptschlag  gegen 
die  Italiener  wurde  aber  mit  einem  Theaterstück  geführt,  das  sich 
die  Oper  des  Bettlers,  TheBeggar's  Opera^^  betitelt.    Den  Text  schrieb 


1  G.  Calmus:  »Die  Beggars  Opera  von  Gay  undPepusch«  (Sbd.  d.  IMG 
VIII,  S.  286fif.);  dieselbe:  »Zwei  Opernburlesken  aus  der  Rokokozeit :.Tele- 

12* 


180  Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 

John  Gray,  der  Dichter  von  Händeis  »Acis  und  Galathea«.  Bettlers 
Oper  heißt  das  Stück,  weil  es  angeblich  von  einem  Bettler  verfaßt 
ist.  Der  Held  ist  ein  Räuberhauptmann,  ein  Ausbund  von  Laster 
und  Verschlagenheit;  er  hat  gleichzeitig  sechs  Weiber,  lebt  vom 
Straßenraub  und  steht  dabei  im  Dienste  der  Polizei;  schließlich  wird 
er  gehängt.  »Dieses  Stück  —  sagt  der  Bettler  im  Prolog  —  wurde 
geschrieben  zur  Hochzeit  von  Jakob  Bänkelsänger  und  Molly  Ballade, 
zwei  höchst  ausgezeichneten  Straßensängern.  Alle  Dinge,  die  sich  in 
Ihren  gefeierten  Opern  finden,  habe  ich  auch  in  der  meinigen:  die 
Schwalbe,  die  Biene,  das  Schiff,  die  Blume  und  dergleichen.  Auch 
habe  ich  eine  Kerkerszene,  welche  für  die  Damen  doch  immer  so 
reizend  pathetisch  zu  sein  pflegt.  Die  Rollen  anlangend,  habe  ich 
gegen  unsere  beiden  ersten  Sängerinnen  eine  so  schöne  Unparteilich- 
keit beobachtet,  daß  Widersetzlichkeit  von  einer  derselben  durchaus 
nicht  zu  befürchten  steht.  Ich  hoffe,  es  möge  mir  verziehen  werden, 
daß  ich  meine  Oper  nicht  ganz  so  unnatürlich  angelegt  habe,  als  die 
Tagesopern,  denn  bei  mir  fehlt  das  Rezitativ;  dieses  abgerechnet, 
muß  man  mir  aber  zugestehen,  daß  es  eine  regelrechte  Oper  ist,  die 
weder  Vorspiel  noch  Nachspiel  hat.«  Gay  hatte  es  also  auf  eine 
Verspottung  der  Oper  im  großen  und  kleinen  abgesehen,  er  begnügte 
sich  nicht  wie  Marcello  damit,  auf  ihren  Mechanismus  und  ihre  Re- 
quisiten zu  sticheln,  er  parodierte  sie  und  karikierte  sie.  Die  Musik 
hatte  Joh.  Christoph  Pepusch  geschrieben,  als  schlagfertiger  Kopf 
schon  aus  der  Geschichte  mit  dem  Konzert  für  die  sechs  Fagotten 
und  dem  Alten  Fritz  bekannt,  und  diese  Musik  gab  für  den  Erfolg 
der  »Bettlers  Oper«  den  Ausschlag.  Sie  bestand  aus  Tänzen,  Märschen, 
Gassenhauern;  in  erster  Linie  traten  aber  die  einfachen  Balladen- 
melodien hervor,  an  denen  noch  heute  die  englische  und  schottische 
Volksmusik  besonders  reich  ist.  Das  Volk  nannte  deshalb  das  Stück 
a  hallad-opera. 

Die  erste  Aufführung  fand  am  29.  Januar  1728  statt,  am  20.  März 
war  sie  schon  sechsunddreißigmal  gegeben  worden.  In  den  nächsten 
zwölf  Jahren  entstanden  (nach  Chrysander)  mehr  als  hundert  Stücke 
ähnlichen  Schlages  von  denen  ungefähr  die  Hälfte  noch  gedruckt  er- 
halten ist.  Die  italienische  Oper  in  London  kam  durch  die  »Beggar's 
Opera*  zeitweilig  zum  Sturz.  Handels  Academy  löste  sich  zunächst 
auf,  und  wenn  auch  bald  eine  neue  gegründet  wurde  und  Händel 
noch  bis  zum  Jahre  1740  immer  noch  Opern  komponierte,  so  scheint 
er  doch  von  der  Zeit  der  »Begga7'''s  Opera «^  ab  innerlich  mit  dem 
italienischen  Musikdrama  gebrochen  zu  haben. 


maque,  Parodie  von  Lesage« ;  >The  Beggar's  opera  von  Gay  und  Pepusch« 
(Berlin  1912j;  dieselbe:  >Drei  satirisch-kritische  Aufsätze  von  Addison  über 
die  italienische  Oper  in  England  (London  1710,«,  in  den  Sbd.  d.  IMG  IX, 
S.  131  ff.  und  448  ff.  C.  Forsyth:  »Music  and  nationalism,  a  study  of 
English  opera  (London  1911). 


Die  neapolitanische  >Opera  bufifa«  181 

Noch  vor  der  ^Beggar^s  Opera  <  und  vor  Marcellos  ^Teatro  alla 
moda*  hatte  man  in  Italien  selbst  angefangen,  der  Renaissanceoper 
den  Boden  abzugraben.  Der  Gegensatz  zwischen  den  heroischen 
Namen  der  Personen  des  Musikdraraas  und  ihrer  charakterlosen  Auf- 
führung hatte  die  Parodie  schon  bei  den  Venezianern  herausgefor- 
dert. Sie  hatten  in  die  Akte  komische  Szenen  des  dienenden  Volkes 
eingeschoben,  die  den  Gang  der  Haupthandlung  kurzweilig  unter- 
brachen. Die  alte  commedia  di  arte,  die  Stegreifposse,  hatte  ihren 
Anteil  an  der  neuen  monodischen  Kunst  verlangt  mit  demselben 
Rechte,  das  ihr  in  der 'Zeit  des  Motetten-  und  Madrigalstiles  mit 
Orazio  Vecchis  » Ä7ifiparnasso «  eingeräumt  worden  war.  Cavalli  und 
andere  Musiker  seines  Schlages  hatten  es  nicht  unter  ihrer  Würde 
gefunden,  solche  Szenen  zu  komponieren  und  an  den  Festes  Venir- 
tiennes  der  Pariser  Academie  Royale  de  Musique  hatte  dieser  Seiten- 
zweig des  Musikdramas  seine  besondere  Lebenskraft  bewiesen.  In 
Neapel  gelangte  er  bald  zu  einer  unerwarteten  Bedeutung,  aus  dem 
dramato  dei  servi,  den  Dienerstückchen,  wird  allmählich  die  opera 
buffa,  das  musikalische  Lustspiel,  das  von  der  Posse  zum  bürger- 
lichen Schauspiel  aufsteigt  und  schließlich  das  ganze  Kartenschloß 
der  Renaissanceoper  mit  ihrem  Gewirre  verliebter  Heroen  und  Götter, 
Königen  und  Königinnen,  Prätendenten  und  Generälen  ins  Wanken 
und  ihren  Herzenserguß  von  Empfindsamkeit  und  Phrasen  zum  Schwei- 
gen bringt.  ^ 

Die  erste  Periode  dieser  neapolitanischen  opera  huffa  fällt  in  die 
Jahre  1709  —  1730.  Die  Dichter  sind  Martoscelli,  Gianni,  TulUo, 
Piscopo,  die  Stücke  alle  im  neapolitanischen  Dialekt  geschrieben. 
Darin  zeigen  sich  also  die  Neapolitaner  von  vornherein  entschiedener 
als  die  Venezianer  und  Hamburger,  die  in  ihre  Intermezzi  und  in 
ihre  Opern  die  Volkssprache  nur  gelegentlich  einmischen.  Sie  greifen 
nach  jeder  Beziehung  herzhaft  ins  wirkliche  Leben.  Schauplatz  ist 
das  Neapel  des  Vizekönigs  mit  seinen  engen  Straßen,  in  denen  die 
Öllampe  vor  den  Läden  brennt,  mit  seinen  Madonnenbildern  und 
Schenken,  mit  den  armenischen  Kaufleuten  und  spanischen  Kavalie- 
ren, mit  dem  lauten,  lachenden  Volk,  das  so  gerne  Serenaden  bringt 
und  Feste  feiert,  in  die  gelegentlich  ein  Überfall  türkischer  Horden 
hineinplatzt.  Ein  Spaß  jagt  den  andern,  der  Spott  hört  nicht  auf, 
übt  sich  mit  Vorliebe  an  Fremden.  In  den  meisten  Stücken  erscheint 
ein  Toskanier,  der  immer  mißverstanden  wird.  Die  einheimische  Be- 
völkerung liefert  stehende  Typen  in  dem  alten  Kapitän,  der  nach 
langer  Fahrt  sieh  zur  Ruhe  gesetzt  hat,  in  der  alten  Amme,  Kam- 
merfrau, die  etwas  wahrsagt  und  Zauberei  treibt  —  Tita  ist  ihr 
Titel  —  in  dem  dottore,  der,  ein  Marktschreier,  Ignorant,  immer  mit 


1  N.  d'Arienzo:  >Die  Entstehung  der  komischen  Oper«,  Leipzig  1902; 
E.  Istel:  »Die  komische  Oper«,  Stuttgart  1906;  M.  Scherillo:  >Storia 
letteraria  delP  opera  buffa  napoletana  etc.«.    Napoli  1883, 


182  Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 

lateinischen  Brocken  um  sich  wirft,  nnd  in  dem  faulen  Diener, 
Cianniello  geheißen,  der  beständig  nach  Frühstück,  nach  Tabak  und 
guten  Sachen  verlangt. 

Viel  Handlung  ist  nicht  in  diesen  Stücken  und  nur  ein  geringer 
Aufwand  von  Erfindung  und  kunstvoller  Durchführung.  Es  sind 
Liebes-  und  Heiratsgeschichten  mit  kurzer  Intrige,  meistens  wird 
ein  alter  geiziger  Vormund  geprellt,  das  Müudel  flieht  mit  ihrem 
Liebsten,  oder  ein  alter  Seefahrer,  den  alle  Welt  längst  für  tot  hält, 
kehrt  in  dem  Augenblick  zurück,  wo  seine  Frau  einem  jungen  Laffen 
die  Hand  reichen  will.  Als  Nekromant,  als  Zauberer  verkleidet,  tritt 
er  dazwischen.  Selten,  daß  einmal  ein  ernster  Konflikt  gestreift  wird, 
wie  in  Piscopos  *  V omhroglio  d^amore«,  wo  ein  junger  Mann,  den 
die  Türken  als  Kind  geraubt  haben,  von  einem  alten  Seekapitän  zu- 
rückgebracht und  zum  Erben  eingesetzt,  sich  in  ein  schönes  Mädchen 
verliebt  —  das  er  aber  schließlich  als  die  eigene  Schwester  erkennt. 
Die  Lust  am  tollen  Schwank  und  am  Singen  ist  die  Seele  dieser 
Stücke.  Aber  auch  in  den  Gesängen  herrscht  der  Spott  und  Über- 
mut —  es  sind  Couplets  und  Refrains,  an  denen  der  Chor  teilnimmt; 
Matarella  ist  die  technische  Bezeichnung.  In  ihnen  kommt  zuerst 
die  Spitze,  die  diese  musikalische  Volksposse  gegen  die  Oper  richtet, 
in  der  Gestalt  von  Wortverstümmelungen  und  Silbenwiederholungen 
zum  Ausdruck.  Denn  das  war  die  Hauptseite,  durch  den  die  Kunst- 
arie den  Spott  der  Menge  auf  sich  zog,  daß  sie  unter  Umständen 
mit  dem  Text  nicht  von  der  Stelle  kommt.  Der  Volksgesang  geht 
immer  mit  Versen  vorwärts,  und  wo  er  der  Empfindung  breiteren 
Ausdruck  geben  will,  greift  er  zu  Interjektionen,  zu  onomatopoeti- 
schen Bildungen  und  Naturlauten.  Bald  aber  üben  diese  neapolita- 
nischen Stücke  ihren  Witz  an  der  Oper  weiter:  Saverio  Mattei, 
der  schon  vor  Marcello  auftrat,  und  Tommaso  Mariani  sind  die 
ersten,  die  ihre  Handlungen  in  den  Kreis  des  musikalischen  Theater- 
gewerbes verlegen  und  die  Gewohnheiten  und  Schwächen  der  Sänger 
und  Sängerinnen,  der  Kapellmeister  und  Impresarii  geißeln.  Da  ver- 
liebt sich  der  Impresario  in  die  Zofe  der  Primadonna  und  verlangt 
nun  vom  Dichter  und  vom  Komponisten,  daß  sie  auch  für  diese  ganz 
unwissende  Person  in  der  neuen  Oper  eine  Partie  herrichten,  oder 
eine  Sängerin  erwartet  den  Impresario,  der  eben  von  den  Kanarischen 
Inseln  oder  sonst  einer  weltweiten  Gegend  zurückkehren  soll,  und 
vertreibt  sich  einstweilen  die  Zeit  am  Spinett,  Arien  probierend.  Die 
eine  ist  zu  schwer,  die  andere  zu  altvaterisch,  ohne  Zeichen  und  Ver- 
zierungen usw. 

Die  Wirkung  der  im  ganzen  sehr  harmlosen  Dramatik  dieser 
Volksstücke  erfuhr  durch  die  Musik  eine  wesentliche  Nachhilfe.  Am 
Anfang  waren  die  Komponisten  in  der  Mehrzahl  unbekannte  junge 
Leute  —  am  häufigsten  wird  Antonio  Orefice  genannt  — ,  aber 
die  angesehenen  Künstler  schlössen  sich  nicht  aus,  Scarlatti  nicht 
und   L.  Leo,  ja   Leouardo   Vinci   und  Pergolesi   wurden   bald 


Die  neapolitanische  »Opera  buffa« 


183 


die  Führer  in  der  opera  huffa^  und  die  Stellung,  die  sie  bei  ihren 
Zeitgenossen  und  in  der  Musikgeschichte  einnahmen,  beiniht  zum 
Hauptteil  auf  ihren  Leistungen  auf  diesem  Gebiete. 

An  Vincis  mythologischen  Opern  nimmt  man  häufig  Anstoß,  an 
seinen  neapolitanischen  lustigen  Operchen  nicht.  Da  ist  alles  an- 
mutig und  natürlich,  ein  reiches  Talent  am  rechten  Platz.  Eine 
solche  vorzügliche  opera  buffa  Vincis  ist  seine  »Li  Zifn  Galera< 
(die  Alte  im  Gefängnis).  Köstlich  ist  darin  namentlich  der  Siziliano 
verwendet,  liebenswürdig  und  witzig;  mit  einem  Humor,  der  aus 
dem  wirklichen  Leben  kommt,  hat  er  da  in  die  naiv  zarten  Melo- 
dien eine  zweite  Person  mit  fröhlichem  Lachen  einfallen  lassen. 

Noch  bedeutender  ist  Pergolesi  als  Buflfokomponist,  formenreicher 
und  eigener.  Auch  bei  ihm  ist  der  Siziliano  der  Grundstock  der  ge- 
schlossenen Gesangpartien.  Aber  er  dramatisiert  ihn  und  belebt  den 
Volkston  mit  unerwarteten  Wendungen.  So  fängt  sein  »Lo  frate  inna 
morato^  (Der  verliebte  Klosterbruder)  stilgerecht  folgendermaßen  an: 


Pa-ssa      Ni-no     da  _       co' -  a 


NB. 


e     me  fä     lo 


^ 


7=P=?: 


ze 


nna-ri   -  el  -  lo        for  -  far    tö  -  re 


^ 


mall  -  ze  -  no  -  e 


Ih^ — #— #=3— # — *^ — 0 — *^ 


-N^iS-jN- 


~V 


-0:^^«- 


■-i4z 


tu     io    or  suoivuoi  que-sti  paz-zi  -  a     tu    co-mi-co      vuoipazzia 

beim  ersten  Schimpfwort  (beim  NB  )  mischt  er  aber  heftige  Töne  ein, 
die  der  Gattung  des  Siziliano  fremd  sind.  In  gleicher  Weise  liebens- 
würdig, munter,  volkstümlich  und  doch  der  Situation,  dem  einzelnen 
Wort  "immer  mit  treffenden  Einfällen  angepaßt,  fließt  die  Musik  des 
ganzen  Stückes  hin.  Bei  Vinci  wie  bei  Pergolesi  liegt  der  entschei- 
dende Zug  der  Musik  in  der  reichen  und  geschickten  Verwendung 
von  Volksmusik.  Namentlich  durch  den  Siziliano  wurde  die  opera 
buffa  über  die  Posse  hinausgehoben  und  zu  einer  Kunst,  die  zwar 
nicht  besonders  tief  und  erschütternd  in  die  Seele  griff,  die  aber  er- 
freulich, drollig,  traulich  und  frei  von  Unnatur  war.  Kastraten  waren 
in  der  opera  buffa  nur  selten  zu  hören,  im  übrigen  war  ihr  musi- 
kalischer Apparat  stattlicher,  als  der  des  Musikdramas,  denn  es  gab 
da  Duette  und  andere  Formen  des  Ensemblegesanges  mit  Einschluß 
des  Chores,  die  die  große  Oper  aus  Einseitigkeit  und  Bequemlichkeit 
hatte  fallen  lassen.  Das  Volk  stellte  sich  auf  die  Seite  der  opera 
buffa,  das  war  für  Privattheater  wichtig.  Burney  berichtet  von 
London,  daß  es  um  1720  ohne  Intermezzi  gar  nicht  ging,  aber  auch 


184  Italienische  Oper  unter  den  Neapolitanern 

in  Residenzen  wie  Dresden  erscheinen  um  diese  Zeit  häufiger  musi- 
kalische Komödien:    *Calandro€  und   ^Un  pazzo  ne  fa  cento  owero 
Do?i   Ghischiotti.€     Pallavicini,    dem  der  Stil  vielleicht  fern  lag,  hat 
die  Musik  dazu  schreiben  müssen.     In  München   läßt  man  1722  Gäste 
aus  Darmstadt  kommen,  um  Intermezzi  zu  hören.     Auf  den  italieni- 
schen Bühnen  verbreitete  sich  natürlich  die  opera  huffa  unter  vielerlei 
Titeln,    wie   divertimento  Jn  musica^    comedia   in  musica  erst  recht. 
In  Amsterdam  wurde  1723  eine  Sammlung  von  solchen  kleinen  Inter- 
mezzos gedruckt,  und  allmählich  merkte  man  nun  die  Gefahr  für  die 
Renaissanceoper.     Der  Engländer  Wright  wendet  sich  1730  in  seinem 
Buche   ^Travels  into  Italy^    heftig   gegen   die  musikalischen  Possen. 
Das  hinderte  aber  nicht,  daß  die  Beliebtheit  der  opera  huffa  immer 
mehr  wuchs,  beim  Publikum  und  bei  den  Komponisten.     Hasse  hat 
eine  große  Menge  solcher  kleiner  Musikschwänke  komponiert  und  mit 
ihnen  die  erste  Zuneigung  der  Italiener  gewonnen.     Eine  Hauptstütze 
der  Gattung  wurde  Rinaldo  di  Capua.  i     Das  Werk,  mit  dem  sich 
die  opera  huffa   endlich   das   allgemeine  Bürgerrecht  auf  allen  euro- 
päischen  Musikbühnen    errang,    ist    Pergolesis    »Serva   padrona^^ 
ein  harmloses  Intermezzo  für  zwei  singende  und  eine  stumme  Person, 
eigentlich  ohne  viel  Handlung:    Eine  lustige,  lebensfrische  Haushäl- 
terin bringt  einen  alten,   mürrischen  Hypochonder  zur  Vernunft,    er 
heiratet  sie    —    eine  Folge   von   lächerlichen  Hausstandsszenen,    die 
man  zu  lesen   oder   zu  sehen  wie  sie   sind,   kaum  die  Geduld  haben 
würde.     Aber  wie  sie  Pergolesi   ausgeführt  hat,    sind   es  Charakter- 
studien und  psychologische  Bilder,  bei  denen  des  Ergötzens  über  den 
Reichtum,   die  Feinheit  oder  die  Drastik  lebenswahrer  Züge  kein  Ende 
ist.      Diese   *Serva  padrona^  ist  ein  Meisterstück   scharfer  Beobach- 
tung und   ein  Triumph   für   die    eindringliche  Schilderungskraft  der 
Musik.      Das    kleine    Werk   ist    zunächst   in    Neapel    mit    ähnlichen 
Stücken  so  vorbeigegangen.      Erst    als  es  1752  reisende  BufPonisten 
nach  Paris  brachten,  machte  es  Aufsehen  und  führte  eine  wahre  Re- 
volution in  der  französischen  Oper   herbei.      Es   kam    durch  herum- 
ziehende Truppen  in  alle  Länder.    Gretry  lernte  es  in  Lüttich  durch 
eine  Gesellschaft  des  Direktors  Re9a  kennen,  Dittersdorf  auf  dem 
Schlosse  des  Prinzen  von  Hildburghausen.     In  Italien  ist  es  nie  von 
der  Bühne  verschwunden  und    in  neuerer  Zeit   auch  in  Deutschland 
wieder  hervorgesucht  worden.     Leider  geben  wir  es  ohne  Rezitativ. 
In   der   Senflfschen   »Sammlung   alter  Opern«    erschien    es  unter  dem 
Titel   >Die  Magd  als  Herrin«. 


1  Ph.  Spitta:  »Rinaldo  di  Capua<.     Vierteljahrsschr.  f.  M.  W.  1887. 


Von  Hasse  bis  Gluck/ 

Daß  die  opera  huffa  so  schnell  in  der  Gunst  des  Publikums  vor- 
rückte, kam  mit  daher,  daß  die  Renaissanceoper  an  überragender] 
Meistern  vom  Schlage  Scarlattis  und  Leos  arm  war.  Die  Kompo- 
nisten, die  Venedig,  Bologna,  die  die  italienische  Schule  in  Deutsch- 
land zu  stellen  hatte,  die  Buini,  Orlandini,  Porta  waren  altvaterisch 
oder  arbeiteten  in  der  Richtung  Vincis  und  Porporas,  ohne  diese 
Vorbilder  an  lebendiger  Wirkung  zu  erreichen,  Zu  Anfang  der 
dreißiger  Jahre  setzen  aber  in  der  opera  seria  eine  Reihe  höherer 
Talente  ein,  die  das  Interesse  an  der  Gattung  wieder  mächtig  auf- 
frischen und  den  Sieg  der  opera  huffa  aufhalten.  Der  erste  dieser 
Meister  ist  Johann  Adolf  Hasse^,  geb.  25.  Mai  1699  zu  Bergedorf 
bei  Hamburg.  Daß  einmal  der  zweihundertjährige  Geburtstag  dieses 
Mannes  ganz  unbeachtet  vorbeigehen  würde,  das  hätte  im  18.  Jahr- 
hundert niemand  geglaubt.  Denn  soweit  die  italienische  Schule 
herrschte,  war  Hasse  einer  ihrer  gefeiertsten  Namen  von  Petersburg 
bis  Madrid,  von  London  bis  Warschau.  Bei  den  Italienern  heißt  er 
nur  der  caro  Sassone^  auf  ihren  Bühnen  wurden  die  Hasseschen 
Opern  aufgeführt  als  musica  di  Sassone.  Noch  heute  hängt  in  der 
Bibliothek  des  Konservatoriums  zu  Neapel  Hasses  Bild  unter  den 
Häuptern  der  neapolitanischen  Schule  an  der  ersten  Stelle.  Er  war 
der  musikalische  Liebling  Friedrichs  des  Großen,  der  Stolz  der 
Dresdner  Hofoper,  die  er  auf  ihre  höchste  Höhe  hob  und  galt  in 
sächsischen  Landen  als  eine  Spitze  der  Kunst,    weit  über  Bach  und 


1  H.  Kretzschmar:  »Aus  Deutschlands  italienischer  Zeit c.  Jahrbuch 
Peters  1901.  Über  die  Textdichtung  der  Periode  unterrichtet  A.  Schatz: 
»Giovanni  Bertati«  (Vierteljahrsschr.  f.  M.  W.  1889). 

2  C.  Mennicke:  »Joh.  Ad.  Hasse<  (Sbd.  d.  IMG  V,  S.  230  ff.  u.  469  ff.); 
B.  Zeller:  »Das  Rezitativo  accompagnato  in  den  Opern  J.  A.  Hasses«,  Halle 
1911;  Biographie  von  J.  Ad.  u.  Faustina  Hasse.  41.  Neujahrsstück  der 
Allg.  Musikgesellschaft  in  Zürich  1853. 


186  Von  Hasse  bis  Grluck 

alle  Zeitgenossen  hinausragend.  Hassesche  Musik  aufführen  zu  können, 
vielleicht  eines  seiner  »Tedeums«,  war  eine  besondere  Genugtuung 
ausgezeichneter  Kantoren.  Und  heute  das  Urteil  über  Hasse  and 
Hasses  Opern!  »Sie  sind«,  schreibt  C.  H.  Bitter,  »durchweg  eine 
Inkarnation  des  italienischen  Opernstiles  seiner  Zeit,  der  keinen  andern 
Zweck  hatte,  als  den  Zuhörern  angenehme  Eindrücke  zu  hinterlassen, 
nie  deren  Leidenschaften  aufzuregen,  nie  auf  die  tieferen  Empfin- 
dungen der  Seele  einzuwirken  .  .  .  Über  diese  Zwecke  ist  Hasse  nie- 
mals hinausgekommen,  Anläufe  zu  dramatischer  Gestaltung  sind  bei 
ihm  kaum  erkennbar«,  und  da  Bitter  immer  alles  besser  weiß  als 
andere,  fügt  er  im  Gegensatz  zu  Burnej  noch  hinzu:  »Daß  Hasse 
kontrapunktische  Kenntnisse  und  Übung  in  der  ernsteren  Schreibart 
hatte,  erkennt  man  aus  seinen  Opern  nicht. «  Aber  auch  Fürstenau, 
der  zu  einem  gerechteren  Urteil  befähigt  war,  spricht  Hasse  wesent- 
lich nur  formelle  Vorzüge  zu,  und  gar  für  W.  Riehl  ist  er  ledig- 
lich ein  Paradigma,  die  blendende  Hohlheit  der  Hofoper  des  18.  Jahr- 
hunderts zu  belegen.  Wie  ist  so  eine  Verkennung  nur  möglich,  und 
was  für  Schaden  richtet  sie  an!  Von  den  weit  über  hundert  Opern, 
die  Hasse  komponiert  hat,  darunter  alle  Texte  Metastasios  meistens 
zweimal,  einzelne  noch  öfter,  sind  heute  gegen  80  noch  erhalten.  Wer 
eine  davon  mit  einiger  geschichtlichen  Vorbereitung  aufschlägt,  der 
muß  sofort  darüber  klar  werden,  daß  hier  mehr  als  Durchschnittsgüte 
vorliegt.  Das  zeigen  schon  die  sogenannten  Seccorezitative  durch 
den  Ton  tiefer  Erregung,  der  die  Harmonien  und  Modulationen  belebt. 
Ein  Scarlattischer  Geist  handhabt  die  hergebrachten  Formen  und 
Mittel  und  bringt  sie  nach  Bedarf  und  Inspiration  zu  neuen  Bil- 
dungen und  Wirkungen.  Eine  solche  Stelle  ist  z.  B.  der  Anfang 
seiner  »Didone  abbandonata*  (1742),  wo  die  Verwirrung  des  Eneas 
dargestellt  wird.  Da  schwanken  —  »Dovrei  —  ma  —  no  —  Vamor*. 
—  Rezitativ  und  Arienform  in  einer  ganz  neuen  Art  durcheinander, 
die  Deklamation  ist  ein  Stammeln,  und  der  einfache  Musiksatz  wird 
zu  einem  aufregenden,  realistischen  Seelengemälde.  Die  Größe  Hasses 
liegt  aber  in  seiner  Behandlung  der  Arie,  in  dem  dramatischen  Fluß, 
den  er  ihr  gibt.  Bei  Vinci  erfährt  man,  wenn  man  das  Thema  kennt, 
in  der  Regel  nichts  Neues  mehr,  Hasse  entwickelt  frei,  man  muß 
seine  Arien  von  Anfang  bis  zu  Ende  studieren,  er  trägt  immer  wei- 
tere Züge  zu  dem  psychologischen  Bilde  herbei,  das  er  geben  will. 
Die  Dichtungen  und  das  Opernwesen,  wie  es  geworden  war,  brachten 
es  mit  sich,  daß  auch  bei  Hasse  immer  eine  Reihe  konventioneller 
Nummern  mit  unterläuft,  in  denen  er  nur  elegant  oder  brillant  ist. 
Aber  in  der  Mehrzahl  sind  seine  Sologesänge  Meisterstücke  der  dra- 
matischen Charakteristik.  Man  sehe  nur,  wie  er  die  Reue  der  Dido 
mit  der  Arie  -»Ombra  carai.  und  dem  Rezitativ  obligato,  das  dazu 
gehört,  gezeichnet  hat,  oder  den  Ausdruck  rauher  Entschlossenheit,  den 
er  in  der  •»Iper7nestra<i-  dem  Darvos  gibt,  als  dieser  mit  *0r  del  tuo 
ben*  die  Tochter  verstößt.     Soll  man  aus  der  Menge  der  Hasseschen 


Johann  Adolf  Hasse  187 

Opern  einzelne  herausheben,  so  müssen  es  zuerst  *Arminio<  (in 
der  Bearbeitung  von  1753)  und  ^SoUmmio^  (1753)  sein.  Der 
trotzige  Arminio,  der  von  Lebenslust  überschäumende  Segest,  der 
stolze,  wortkarge  Varo  sind  Figuren,  die  niemand  wieder  vergißt. 
Im  Wesen  des  Arminio,  der  immer  stolzer  wird,  je  größer  sein 
Unglück,  faad  Friedrich  der  Große  etwas  Verwandtes,  der  ^Är- 
minio*-  war  die  Oper,  zu  der  er  immer  wieder  zurückkehrte.  Sie 
hat  Züge  von  Größe  und  Pathos,  die  an  Gluck  erinnern,  ja  die 
Szene,  wo  Segest  (zweiter  Akt:  *Sento  a  dispeUo<i.]  beim  Abschied 
von  der  Tochter  im  Zorn  beginnt,  in  Milde  und  Rührung  schließt, 
hat  am  Ende  Töne  und  Harmonien,  die  uns  fast  wörtlich  in  Glucks 
»Alceste«  beim  Gebet  des  Priesters  wieder  begegnen.  Wie  schon  in 
der  Dichtung,  so  ist  t> Arminio <<'  auch  in  der  Musik  diejenige  Oper 
Hasses,  in  der  deutsches  Empfinden  doch  deutlicher  zu  bemerken  ist, 
nämlich  im  volleren,  zwanglosen  Ausdruck  des  Schmerzes,  in  den 
tieferen  Beiklängen  der  Zärtlichkeit.  Auch  die  Musik  des  »Solimano« 
weist  auf  Geliert  und  Klopstock  hin.  Seine  Stärke  liegt  aber 
erstens  in  der  Wiedergabe  orientalischer  Herrschernatur,  in  der  er- 
schrecklichen Wildheit  des  Rusteno,  zweitens  in  der  Pracht  des  musi- 
kalischen Apparates.  Ein  Doppelorchester  geht  durch  diese  Oper: 
auf  der  Bühne  spielt  dazu  noch  in  einer  großen  Anzahl  von  Szenen 
türkische  Musik.  Der  »Soliman«  zog  die  Besucher,  hohe  und  niedere, 
wie  Fürstenau  erzählt,  von  weit  her  nach  Dresden,  und  er  hat  eine 
ganze  Gattung  Türkenopern,  die  namentlich  die  opera  huffa  fleißig 
ausnutzte,  mit  begründen  helfen. 

Auf  die  Stufe,  zu  der  Hasse  die  dramatische  Charakteristik 
geführt  hatte,  stellen  sich  nun  eine  Reihe  hervorragender  Talente; 
die  bedeutendsten  sind:  David  Perez,  Domenico  Terra- 
dellas,  Francesco  di  Majo,  Nicolo  Jommelli  und  Tom- 
maso   Traetta. 

Es  ist  wohl  nicht  zufällig,  daß  die  Mehrzahl  dieser  Männer  dem 
einseitigen  Einfluß  der  neapolitanischen  Schule,  nachdem  sie  sie  ab- 
solviert hatten,  entzogen  wurden.  Hasse  war  Deutscher,  Perez  und 
Terradellas  sind  Kinder  spanischer  Eltern,  Jommelli  verbrachte  einen 
großen  Teil  seines  Lebens  in  Stuttgart,  di  Majo  und  Traetta  kamen 
frühzeitig  nach  Mittel-  und  nach   Oberitalien. 

Auch  Perez  wurde  zuerst  durch  komische  Opern  bekannt,  die 
erste,  1740  aufgeführt,  heißt  ^  Travestimenti  amorosi*.\  die  zweite 
^UÄmor  pittore<t.  führt  in  der  Überschrift  die  interessante  Bezeich- 
nung * co7nponimento  drammatico  civile«,  interessant  deshalb,  weil  sie 
das  höhere  Ziel  der  opera  buffa,  den  Gegensatz  einer  bürgerlichen 
Oper  zur  Renaissanceoper,  offen  ausspricht.  Mit  dem  »Siroe  re  di 
Persia^  betritt  Perez  das  Gebiet  der  großen  Oper  zum  ersten  Male 
und  mit  raschem  Erfolg.  Schon  1749  finden  wir  ihn  in  Wien,  bald 
darauf  in  Rom  und  Turin.     1752  siedelt  er  nach  Lissabon  über,  wo 


188  Von  Hasse  bis  Gluck 

er  mit  35000  Franken  und  wie  ein  König  geehrt  26  Jabre  lang  als 
Hofkapellmeister  gewirkt  und  die  Lissaboner  Oper  zu  einem  der 
ersten  Institute  seiner  Art  gemacht  hat.  Nur  einmal  ist  er  von  hier 
im  Jahre  1755  weggegangen,  um  in  London  seinen  »Ezio*  zu  schrei- 
ben und  aufzuführen.  In  London  sind  1774  auch  Trauerchöre  [Re- 
sponsorj  de^  morti)  von  Perez  gedruckt  worden;  in  einer  neuen 
Partiturausgabe  haben  wir  von  ihm  nur  ein  einziges  Stück,  und 
zwar  auch  Kirchenmusik;  es  steht  in  der  bekannten  Brauneschen 
Sammlung.  Mit  den  Anfangsworten  Media  nocte  gibt  es  die  Erzählung 
von  den  törichten  Jungfrauen  in  einer  sehr  ernsten  und  spannenden 
Darstellung.  Dreiundzwanzig  Opern  hat  Perez  nachweislich  geschrie- 
ben. Davon  sind  noch  fünf  in  der  Bibliothek  des  Konservatoriums 
zu  Neapel  erhalten:  SiroS,  Demetrio,  l'Isola  disabitata,  Solimano, 
Artasere,  etwas  ungleich  untereinander  und  ungleich  in  sich,  am 
schwächsten  der  »Siroe*,  den  auch  die  Bibliothek  von  San  Marco  in 
Venedig  besitzt,  aber  keine  ohne  bedeutende  Züge.  Schon  die  Ouver- 
türen zeigen  einen  höheren,  an  dem  Muster  Hasses  gebildeten  Geist, 
die  ganze  Instrumentalbehandlung  steht  im  Gegensatz  zu  Vinci  und 
seinem  bequemen  Stil.  Die  Sorgfalt,  die  ihr  gewidmet  ist,  spricht 
sich  schon  in  der  genauen  Vortragsbezeichnung  aus.  Wenn  behauptet 
wird,  erst  die  neuere  Zeit,  etwa  von  der  Mannheimer  Schule  ab, 
kenne  ein  dynamisch  abgestuftes  Orchesterspiel,  so  kann  dagegen  mit 
auf  Perez  verwiesen  werden;  nicht  bloß  die  gewöhnlichen  Schattierungs- 
grade piano,  crescendo j  forte  stehen  überall  in  seinen  Partituren,  er 
hat  auch  ganz  eigene  Angaben.  So  schreibt  er  z.  B.  einmal  in  sei- 
nem *  Solimano '^  über  eine  Arie  (des  Zanghire  in  der  zehnten  Szene 
des  ersten  Aktes)  Ällegro  teairale,  d.  h.  also:  die  Lebendigkeit  der 
Bewegung  soll  etwas  stark  aufgetragen  sein.  Über  den  Violinen 
stehen  immer  die  eingehendsten  Bemerkungen  für  den  Ausdruck; 
einmal  verlangt  er  von  ihnen,  sie  sollen  flebile  spielen.  Überall 
sprechen  bei  Perez,  auch  wo  es  ihm  sonst  weniger  geglückt  ist, 
die  Instrumente  dramatisch  mit.  Im  »Soliman«  ist  eine  Arie  des 
Osmin  >Ah  se  un  figlio  sventurato  «^ ,  da  zuckt  immer  im  Orchester 
ein  heftiger  Schmerz  auf,  der  Sänger  unterdrückt  ihn  und  will 
in  Wort  und  Ton  den  Anschein  der  Ruhe  und  Fassung  erwecken. 
Hie  und  da  bekundet  Perez  seine  Liebe  zur  Instrumentalmusik 
durch  selbständige  Orchestersätze;  brillante  Märsche  sind  häufig  in 
seinen  Opern.  Am  poetischsten  hat  er  der  Neigung  zur  Instru- 
mentalmusik in  seinen  begleiteten  Bezitativen  Ausdruck  gegeben. 
Durch  Festhalten  und  Variieren  von  Hauptmotiven  haben  sie  eine 
Einheit  und  Dramatik,  die  sie  unter  die  besten  Leistungen  der  ita- 
lienischen Schule  stellt. 

Die  Lissaboner  haben  unter  den  Opern  des  Perez  den  -»Demetrio*^ 
und  den  •»Solimano<^  am  höchsten  geschätzt,  sie  sind  unaufhörlich 
aufgeführt  worden.  Beim  > Demetrio^  erklärt  siöh  das  aus  der  äußer- 
lichen Wirkung,    dem  Feuer  und  Temperament   seiner  Musik.     Der 


Domenico  Terradellas  189 

»Solimano«  gehört  unter  die  Meisterwerke,  von  denen,  wenn  einmal 
die  Oper  der  neapolitanischen  Schule  wieder  bekannt  sein  wird,  jeder 
Gebildete  etwas  wissen  muß.  Reichtum  der  Erfindung  und  der  Emp- 
findung, Ursprünglichkeit  der  Mittel  und  der  Gestaltung,  alles  ist 
darin,  was  eine  Kunst  groß  macht.  Schon  Solimans  Auftrittsszene 
*Pave7iti€^  wo  die  beiden  Fagotten  unterm  Gesang  die  dunkle  Glut 
in  der  Seele  des  Tyrannen,  wo  die  leisen  Trugschlüsse  das  furcht- 
bar Unheimliche  seines  Charakters  malen,  wo  trotz  des  kolossalen 
Umfanges  des  Stückes  jeder  Takt  frisch  ist,  und  jeder  einen  neuen 
Zug  zu  der  übernatürlichen  Gestalt  hin  zuträgt  —  schon  diese  einzige 
Szene  genügt,  zur  Bewunderung  von  Perez  zu  zwingen.  Wären  alle 
Opernkomponisten  der  neapolitanischen  Schule  vom  Schlage  dieses 
einen  gewesen,  dann  hätte  es  keinen  Gluck  gebraucht. 

An  Domenico  Terradellas  rühmt  Burney,  daß  er  besonders 
sorgfältig  für  die  schwächeren  Sänger  gearbeitet  habe.  Er  hatte  aber 
jedenfalls  noch  stärkere  Stützen  für  seinen  Ruhm.  Terradellas  ist  einer 
der  kühnsten  Komponisten  seiner  Zeit.  Wenn  er  einmal  eine  Szene 
der  Wut  auszuführen  hat,  da  erlebt  man  was.  In  seiner  ^Sesostri* 
z.  B.  rückt  in  der  Arie  der  Amaji  y>Tre7)iate  Mostri  di  Grudelta<^  an 
der  Stelle  eines  Ausbruchs  die  Harmonie  so  von  Cdur  nach  GmoU,  daß 
man  sich  in  die  Sphäre  Monteverdis  versetzt  glaubt,  und  nicht  selten 
wird  er  bei  solchen  Anlässen  vollständig  naturalistisch.  In  seiner 
*Me7'ope«  z.  B.,  in  der  Szene,  wo  die  Merope  sich  weigert,  dem  Poli- 
fonte  die  Hand  zu  reichen,  ist  ein  Fanatismus  in  Trillern  und  Ak- 
kordpassagen von  einem  unglaublichen  Eindruck.  Sein  Hauptmittel 
für  den  Ausdruck  bleibt  aber  immer  die  Modulation,  und  darin  zeigt 
er  den  Einfluß  Hasses.  Terradellas  ist  ungleich.  Sein  Hauptwerk  ist 
der  »Ärtase?-S6^;  in  ihm  ist  die  Gestalt  des  Titelhelden  außerordent- 
lich reich  ausgeführt  und  in  allen  Lagen,  in  zornigen,  klagenden, 
schmachtenden  und  fröhlichen  Momenten  immer  mit  derselben  schöpfe- 
rischen Erfindungskraft  und  klar  im  Charakter  getroffen.  Von  den 
acht  Opern  Terradellas,  die  sich  in  der  Statistik  nachweisen  lassen, 
sind  drei  erhalten.  -^Ärtaserse^  in  Wien,  Hofbibl.,  ^Merope*  in  Bo- 
logna (zweimal,  einmal  als  *Epitide^)  und  *Sesostri€  in  London, 
Brit.  Mus.  Terradellas  starb  schon  1751  in  Rom,  bald  nach  der  Auf- 
führung der  »Sesostri'!^.  Da  heißt  es  nun  in  der  Biographie  Jommellis, 
die  die  »Allgemeine  Musikalische  Zeitung«  Rochlitzens  brachte,  dieser 
solle  den  Terradellas  als  Nebenbuhler  haben  beseitigen  lassen.  Die 
Behauptung  ist  ungefähr  so  gut  beglaubigt  wie  die  Ermordung 
Mozarts  durch  Salieri.  Sie  zeigt  nur,  was  man  schließlich  im  Haß 
gegen  die  Italiener  für  Mittel  anwendete. 

Perez  sowohl  wie  Terradellas  gingen  an  die  Oper  erst  in  einem 
verhältnismäßig  reifen  Alter.  Francesco  di  Majo,  der  dritte  in 
der  Meisterreihe  aus  der  zweiten  Blütezeit  der  neapolitanischen  Oper, 
setzt  als  Wunderknabe  ein.  Mit  15  Jahren  war  er  (nach  Florimo) 
bereits  Hofkapellmeister  in  Neapel  und  führte  die  erste  Oper  *Cajo 


190 


Von  Hasse  bis  Gluck 


Fabricio<^  auf,  noch  im  selben  Jahre  1762  dann  seinen  *Artasers6<\ 
bis  zu  seinem  Tode,  —  er  starb  schon  1770  in  Eom — ,  entstanden 
15  Opern.  Unter  diesen  ist  ^Ipermestra*,  die  ins  Jahr  1768  fällt, 
die  bedeutendste.  Majo  zeichnet  sich  aus  im  Rührenden,  in  der 
Darstellung  des  Seelenschmerzes,  wo  er  außerordentlich  frei  mit  den 
Ausdrucksmitteln  verfährt.  Mit  einem  Beispiel  dafür  fängt  gleich 
die   »Ipermestra^   an:  Elpenices  Arie   »Pensa  che  figlia  seU: 


fig-lia     sei: 


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Was  für  verworren  wogende  Harmonien,  wie  schneidend  der  Einsatz 
der  Singstimme!  Auch  die  erste  Arie  der  Ipermestra  -»Ah  non  par- 
lar  cfamoreo^^  in  der  die  Erregung  durch  Pausen  in  der  Deklamation 
ausgedrückt  ist,  gehört  unter  die  großen  Stücke  Majos.  In  seiner 
Lebendiofkeit  und  in  der  Weichheit  ist  er  ein  Sohn  des  Südens,  die 
Schule  Hasses  zeigt  er  in  der  feinen  Detailarbeit;  geschichtlich  fort- 
gewirkt hat  er  auf  Mozart,  der  durch  den  Sänger  Raaff  zu  ihm  ge- 
führt wurde.  Es  besteht  zwischen  beiden  ersichtliche  Gefühlsver- 
wandtschaft. 

Jommelli^  ist  von  allen  den  großen  Vertretern  der  neapolitani- 
schen Schule  derjenige,  der  sich  in  der  Gegenwart  und  in  Deutsch- 
land am  längsten  und  am  festeten  erhalten  hat  durch  seine  Kirchen- 
musik, namentlich  durch  seine  Requiems.  Er  war  auch  im  18.  Jahr- 
hundert eine  Zeitlang  der  gefeiertste  aller  Opernkomponisten.  1714, 
in  demselben  Jahre  wie  Gluck  geboren,  ging  er  im  Jahre  1737, 
dreiundzwanzigjährig,  zuerst  in  der  Weise  seiner  Landsleute  mit  einer 
komischen  Oper  heraus.  Sie  heißt  -»Verrore  amoroso^^  aber  sein 
Selbstvertrauen  war  so  gering,  daß  er  als  den  Komponisten  einen 
gewissen  Valentini  nannte.  Am  Tage  nach  der  Aufführung  erst  trat 
er  mit  seinem  Namen  hervor,  der  bald  durch  ganz  Italien  in  Ansehen 
kam.  Jommelli  wurde  nach  Rom,  nach  Bologna  zur  Komposition  von 
Opern    bestellt.      Als    er  1741   in  Bologna   eintraf,   war  sein   erster 


1  H.  Abert:  »Nicole  Jommelli  als  Opernkomponist«.  Halle  1908.  Einen 
Neudruck  von  Jommellis  Fetonte  brachten  die  Denkmäler  deutscher  Ton- 
kunst als  Bd.  32/33. 


Nicolo  Jommelli  191 

Gang  zum  Padre  Martini.  Er  wollte  von  ihm  Stunden,  und  Martini 
hatte  Not  und  Mühe  ihm  das  auszureden;  solche  Bescheidenheit  ver- 
band sich  bei  Jommelli  mit  der  großen  Begabung.  So  hat  er  immer 
gelernt,  sich  Neues  angeeignet,  und  seine  Gediegenheit  wie  seine 
Erfolge  wuchsen  fortwährend  und  gleichmäßig.  Sein  Ruf  drang 
nach  außen,  1749  komponierte  er  für  Wien  seinen  »Achille  in  Sciro« 
und  die  »Didone«.  1754  bewarben  sich  zu  gleicher  Zeit  drei  Höfe 
um  Jommelli:  Lissabon,  Mannheim  und  Stuttgart.  Er  entschied  sich 
für  Stuttgart  und  blieb  da  bis  1769  in  angenehmer  und  glänzender 
Stellung.  Als  er  aber  dann  nach  Neapel  zurückkehrte,  war  er  bei 
den  Italienern  vergessen  und  vermochte  sie  nicht  mehr  zu  fesseln; 
die  Entwicklung,  die  er  in  Deutschland  genommen  hatte,  war  ihnen 
zuwider,  unbequem. 

Fetis  führt  44  Opern  von  Jommelli  auf,  von  ihnen  besitzt  das  Kon- 
servatorium zu  Neapel  27;  es  gibt  wohl  wenige  Bibliotheken  von 
Bedeutung,  auch  in  Deutschland,  die  nicht  einige  oder  mehrere  Musik- 
dramen Jommellis  aufzuweisen  hätten.  Sie  sind  mehr  als  andere 
durch  Abschriften  verbreitet  worden  und  in  Hände  von  Privatper- 
sonen auch  nach  Deutschland  gekommen.  Noch  im  Jahre  1783,  als 
Jommelli  schon  neun  Jahre  tot  war,  wird  in  »Cramers  Magazin« 
ernstlich  für  eine  Gesamtausgabe  seiner  Werke  geworben.  Er  ver- 
dient nicht  in  allen  seinen  Opern  verewigt  zu  werden,  denn  in  einem 
großen  Teile  der  früheren  haust  der  neapolitanische  Leichtsinn;  aber 
eine  gut  getroffene  Auswahl  würde  einen  erfreulichen  und  lehrreichen 
Blick  in  die  Entwicklungsfähigkeit  italienischen  Talents  gewähren. 
Von  Haus  aus  ist  Jommellis  Natur  und  Richtung  am  meisten  mit 
der  von  Perez  verwandt:  die  Neigung  zu  den  Instrumenten  treibt 
ihn  aber  noch  weiter,  zuweilen  ins  Äußerliche.  In  einer  berühmten 
Szene  seiner  »Olympiade*  z.  B.  (in  »Quel  destriere«)  malt  er  das  ganze 
Stück  hindurch  in  der  zweiten  Geige  den  Galopp  des  Pferdes.  Er 
sucht  beständig  seinen  Vorrat  an  musikalischen  Ausdrucksmitteln  zu 
vermehren  und  findet  dabei  ganz  ursprüngliche  und  neue.  Alle  seine 
Opern  enthalten  Stellen,  die  man  nicht  wieder  vergißt,  weil  sie  so 
eigen  den  Charakter  der  Situation  wiedergeben.  Oft  führt  ihn  die 
Natur  dabei  auf  die  einfachsten  Wege:  er  wirkt  mit  Pausen,  mit 
einzelnen  dahinklingenden  Tönen,  oft  ist  er  aber  raffiniert,  wie  es 
Porpora  war,  auf  Effekte  aus.  So  stellt  er  in  seinem  Ȁrtaserse* 
in  der  Arie  des  Arbaces  den  Moment  träumerischen  Besinnens  ein- 
mal folgendermaßen  dar: 


pal pi    -    ta 

In  dieser  Art  noch  sechs  Takte  fort.    Aber  schließlich  hat  doch  die 
Innerlichkeit   seiner  Natur   gesiegt,   und  diese  Entscheidung  kam  in 


192  ^on  Hasse  bis  Gluck 

Stuttgart.  Er  ist  noch  nicht  lange  dort,  da  traf  ein  Brief  Meta- 
stasios  ein,  dessen  persönliche  Freundschaft  er  während  seines  Wiener 
Aufenthaltes  erworben  hatte;  ein  Brief  mit  Warnungen:  ja  nicht  die 
italienische  Leichtigkeit  zu  verlieren.  Aber  es  half  nichts.  Jommellis 
Ziele  gingen  immer  entschiedener  auf  Tiefe;  der  italienische  Stil  und 
der  Gedanke  an  die  Leichtigkeit  gingen  ihm  vollständig  verloren. 
Den  Ausschlag  gab  für  ihn  die  Bekanntschaft  mit  der  französischen 
Oper.  Die  hatte  zwar  in  Deutschland  nirgends  eigentlich  festen  Fuß 
gefaßt;  aber  sie  war  doch  in  einzelnen  Residenzen  immer  wieder  ver- 
sucht worden:  in  Wien,  in  Dresden  zuerst.  Hier  in  Dresden  kommen 
»Castor  und  Pollux«,  kommt  »Dardanus«  und  eine  oder  die  andere 
Oper  Rameaus  immer  wieder  vor.  In  Wien  bildet  der  alte  Fux  die 
französische  Musik  trotz  der  italienischen  Texte  nach:  die  Chöre  in 
seiner  ^^Constanza«-^  und  in  seiner  *  Elisa*  zeigen  es.  Auch  in  Stutt- 
gart und  Ludwigsburg  stand  französische  Kultur  so  in  Gunst,  daß 
auch  das  französische  Musikdrama  probiert  werden  mußte.  Auf 
Jommelli  machte  es  einen  so  tiefen  Eindruck,  daß  er  nun  grund- 
sätzlich auf  die  Seite  trat,  nach  der  es  ihn  unbewußt  von  jeher  ge- 
zogen hatte,  auf  die  Seite  der  dramatischen  Musik  ohne  Konzessionen. 
Mit  seinem  »Fetontet-  ist  diese  Wendung  entschieden,  und  alle  seine 
folgenden  Opern  sind  nun  von  französischem  Geist  in  seiner  guten 
Art  berührt  und  zeigen  das  auch  oflfen  in  der  Form,  in  der  Auf- 
nahme von  Chören  und  Ensembles.  Die  bedeutendsten  sind  die  »Di- 
fZowß«  und  die  ^^ Armida  ahhandonata^.  Die  Italiener  schoben  die 
Neuerung  auf  die  Rechnung  der  deutschen  Kontrapunktisten ,  die 
daran  unschuldig  waren. 

Das  französische  Musikdrama  selbst  war  ihnen  hundert  Jahre  lang 
vollständig  fremd  geblieben.  Nur  an  einzelnen  kleineren  Höfen,  wie 
Modena,  hatte  man  es  gelegentlich  einmal  versucht.  Der  einzige 
Ort,  wo  man  sich  seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ernster  damit 
beschäftigte,  war  Parma.  Hier  war  Traetta  Kapellmeister,  und  in 
ihm,  in  Tommaso  Traetta^,  haben  wir  den  bedeutendsten  unter 
den  Komponisten,  die  als  Vorläufer  Glucks  bezeichnet  werden  können. 
Traetta  ist  Gluck  in  den  Formen  am  nächsten,  und  im  dramatischen 
Sinne  ist  er  ihm  sogar  überlegen  bei  der  musikalischen  Ausführung 
langer  Soloszenen.  Er  steht  aber  unter  ihm  an  Entschiedenheit  des 
Charakters,  er  macht  musikalische  und  dichterische  Konzessionen. 
In  Parma  hat  Traetta  ganz  speziell  die  Rameausche  Schule  durch- 
gemacht, Rameausche  Opern  nicht  bloß  aufgeführt,  sondern  auch  be- 


1  Die  Oper  liegt  im  Neudruck  vor  in  den  Denkmälern  der  Tonkunst 
in  Österreich,  17.  Bd. 

2  Ausgewählte  Szenen  aus  Traettas:  Farnace,  J.  Tantaridi,  Ifigenia  in 
Tauride,  le  feste  d'Imeneo;  Antigona  und  seine  Sofonisba  sind  in  den 
bayrischen  Denkmälern  der  Tonkunst  XIV,  2  u.  XVII  veröffentlicht. 


Tommaso  Traetta  193 

arbeitet  und  dabei  seinen  Blick  für  die  Poesie,  für  Ort  und  Zeit  im 
Drama  geschärft.  Traettas  Szenen  haben  von  da  das  romantische 
Element,  die  Töne  und  Farben  für  die  mitwirkende  Natur,  für  die 
äußere  Szenerie,  und  benutzen  alle  dekorativen  Mittel  der  Stimmung, 
die  sich  musikalisch  in  Instrumentalform  fassen  lassen.  Im  zweiten 
Akte  seiner  Ȁrmida^  hat  Traetta  Naturmalereien,  z.  B.  da,  wo  Ri- 
naldo  schläft,  die  zu  dem  schönsten  gehören,  was  das  Musikdrama 
in  dieser  Gattung  aufzuzeigen  hat.  Traetta  war  auch  in  der  opera 
huffa  ein  Meister;  hier  hat  er  die  liebenswürdige  Seite  seines  Talentes 
zuerst  bis  zur  Originalität  entwickelt  und  sich  eine  Leichtigkeit  im 
melodischen  Ausdruck  erworben,  die  ihm  auch  bei  den  großen  dra- 
matischen Aufgaben  zustatten  kam.  So  vereinigte  er  denn  in  der 
Zeit  seiner  Reife  die  Vorzüge  zweier  Schulen:  von  den  Franzosen 
hat  er  Quartette,  die  Ensembles,  die  meist  kurzen  Chöre,  die  reicheren 
und  freieren  Formen,  von  den  Italienern  die  Kunst  und  den  Gehalt 
seines  Sologesanges.  Und  das  italienische  Element  ist  doch  das,  worauf 
die  tiefsten  Wirkungen  in  seinen  Opern  zurückgehen:  der  Anfang 
seiner  ^Ifigenia  in  Taiiride«  mit  der  großen  Szene  des  Orestes: 
»Äh  tu  7ion  se?iU^,  oder  den  zweiten  Akt  der  ■»Äntigone«  mit  seinen 
Tönen  des  Schauers  vergißt  niemand  wieder.  Es  ist  da  ein  neuer 
Geist,  der  sich  aus  dem  bisherigen  Musikdrama  ungefähr  ähnlich 
abhebt,  wie  Schubert  mit  Gesängen  wie  der  -» Atlas ^  das  Lied  seiner 
Zeit  überholt. 

Von  Traettascher  Opernmusik  finden  sich  einige  Bruchstücke  in 
dem  schon  mehrmals  erwähnten  Buch  von  Bitter:  »Gluck  und  die 
Reform  der  Oper«.  Doch  sind  sie  zu  kurz  und  die  Ausführungen 
Bitters  hilflos  —  sie  geben  aber  Veranlassung,  hier  einmal  oder  noch 
einmal  das  Verhältnis  der  neueren  Zeit  zur  neapolitanischen  Schule 
zu  berühren.  Die  frühere  Schwärmerei  der  Heinse  und  Hiller  ist  in 
Abscheu  umgeschlagen,  dem  einen  Extrem  ein  anderes  gefolgt.  Das 
18.  Jahrhundert  sah  nicht,  wie  diese  Opern  im  ganzen  dramatisch 
schwach  waren,  das  19.  nicht,  wie  sie  in  einzelnen  Szenen,  in  den 
Monologen,  musikalisch-dramatische  Meisterstücke  in  Menge  enthalten. 
Unsere  Zeit  vergißt  diesen  Neapolitanern  gegenüber,  daß  es  eine  in 
jeder  Beziehung  vollkommene  Kunst  überhaupt  nicht  gibt.  Wer  ver- 
nünftig ist,  nimmt  bei  unsern  alten  deutschen  Wandmalereien,  nimmt 
auch  noch  bei  Dürer  die  schlechte  Perspektive  mit  in  den  Kauf  und 
hält  sich  an  den  Ausdruck  der  Köpfe.  So  sollte  man  auch  an  der 
neapolitanischen  Schule  nicht  bei  dem  Wust  konventioneller  Musik 
stehen  bleiben,  dessen  sie  bei  einzelnen  Komponisten  voll  sind, 
sondern  man  sollte  den  Teil  fest  ins  Auge  fassen,  in  dem  sie  Muster 
bieten.  Das  sind  die  Szenen,  in  denen  mit  den  Mitteln  des  Solo- 
gesanges innerstes  Seelenleben  naturwahr,  groß,  ergreifend,  oder  innig 
und  anheimelnd  dargestellt  wird.  Sie  sind  von  Scarlatti  ab  bis  auf 
Traetta  zahlreich  genug  und  scheinbar  in  denselben  Formen  gehalten, 
doch   äußerst   mannigfach    nach    der  Art   der  Affekte   unterschieden, 

Kl.  Handb.  der  Mnsikgescli.     VI.  13 


]^94  ^^°  Hasse  bis  Gluck 

verschieden    nach    der   Individualität    der    Komponisten.      Nach    den 
Mitteln,  die    sie  verwenden,    bilden   sie  deutlich   getrennte  Gruppen: 
einer  Zeit  der  übertriebenen  Einfachheit,   Vinci-Pergolesi,  folgt  eine 
aufsteigende,    die  mit  der  Verschmelzung  italienischen  und  französi- 
schen Stils  endet,   Hasse-Traetta.     Es  scheint  aber,   daß  unsere  Zeit 
diese  alten  Arien  nicht  mehr  zu  lesen  versteht,   sie  mit  einer  Brille 
studiert,     die    aus    einer    Zeit     berechtigten    Überdrusses    stammt. 
Wenigstens    trifft    diese   Beschuldigung    die    Mehrzahl    der    neueren 
Schriftsteller,     die     einzelne    Abschnitte     aus    der    neapolitanischen 
Schule  behandelt  haben.      Sie  gilt    für  Riehl    und  seine  Schilderung 
Hasses.     Riehls  Glaubwürdigkeit  wird  durch  den  Umstand  genügend 
gekennzeichnet,   daß   er  unter  den  drei  Komponisten,   die  er  aus  der 
großen   Menge    der   neapolitanischen  Opernmeister    hervorhebt,    auch 
den  Durante   nennt,    der   keine  Zeile   fürs  Theater  geschrieben   hat. 
Der  schlimmste  ist  aber  Bitter,  der  sich  auf  dem  Titel  seines  Buches 
als  ,Königlich  Preußischer  Finanzminister'  vorstellt.     Hoffentlich  hat 
er  das  getan,    um   sich  als  Dilettant   zu  entschuldigen.      Gewiß  sind 
Dilettanten  für  die  Mitarbeit  in  der  Musikgeschichte  sehr  willkommen, 
wenn   sie   sich   in  den  Grenzen   ihres  Urteilsvermögens  halten.     Das 
ist  aber   bei  Bitter   nicht  der  Fall,    er  täuscht   sich   und  die  Leser, 
meistert   alle,    die   vor   ihm    gearbeitet   haben,    ist    nicht    einmal    — 
ehrlich,  sachlich  aber  im  höchsten  Grade  befangen  und  unfähig.    Ihm 
genügen  zwei  Takte  in  Sechzehnteln,  da  ruft  er  entrüstet:  Bravour- 
arie, Konzertoper,    und   hat   keine  Ahnung,    daß   die  Koloratur   und 
der  Figurengesang  Ausdrucksmittel  sein  kann,    und  daß  die  Gegen- 
wart   in    seiner   Behandlung    durchschnittlich   nur   Karikatur    bietet. 
Der  einzige,  der,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wenigstens,  den  Nea- 
politanern Gerechtigkeit   hat   widerfahren    lassen,    ist  A.  B.  Marx   in 
seiner  Biographie  Glucks.    Wo  er  kleine  Szenen  oder  Arien  aus  den 
Werken  Pergolesis,  di  Majos,  Jommellis  analysiert,   da  faßt  und  be- 
wundert er  sie  in  ihrer  dramatischen  Bedeutung.    Leider  hat  er  nur 
viel   zu  wenig  von  dem   ganzen   Gebiet   kennen    gelernt.     Aber  ihm 
darf   man   in    der   Betrachtung   und   Auffassung   folgen,    und    es   ist 
sehr  wünschenswert,    daß  sich  zahlreiche  junge  Kräfte  in  der  Marx- 
schen  Art   in  die   hervorragenden  Komponisten  der   neapolitanischen 
Schule  vertiefen    und   unserer    Zeit   das   Bleibende   aus   ihrer   Kunst 
wieder  nahebringen.     Eine   Reihe   äußerst  lohnender  Spezialarbeiten 
bietet  sich  da,   von  Scarlatti  ab  wenigstens  ein  Dutzend  Meister,  von 
denen  jeder  eine  besondere  Behandlung  reichlich  verdient. 

Solche  Arbeiten  haben  nicht  bloß  ein  sogenanntes  historisches 
Interesse,  sondern  einen  eminent  praktischen  Wert.  Sie  allein^  sichern 
ein  richtiges,  ein  wirkliches  Urteil  über  bekannte  Größen.  Die  große 
Masse  nicht  bloß  der  Kunstfreunde,  sondern  auch  der  gewerbsmäßigen 
Kunstrichter  neigt  heute  zu  unbedingter  Verehrung  oder  ebenso  un- 
bedingter Ablehnung.  Ob  die  Objekte  nun  Beethoven  und  Wagner, 
oder   ob    sie   Bach   und  Gluck   heißen,    die   Methode   ist   immer   die 


Chr.  W.  aiuck  195 

gleiche,  sie  wirkt  verwirrend,  weil  Vorzüge  und  Öcliwäcben  mit 
demselben  Eifer  bewundert  werden  ^ 

In  seinem  vielgelesenen  Buch  » Die  moderne  Oper  ^ ,  einer 
Sammlung  von  Zeitungsreferaten,  hat  Eduard  Hanslick  Gluck  mit 
Lully  und  Rameau,  schließlich  auch  mit  Piccinni  und  zwar  gerecht 
abwägend  verglichen,  aber  von  Jommelli  und  Traetta  weiß  er  nichts. 
Eine  andere  Autorität  der  neuesten  Zeit,  Heinr.  Bulthaupt,  kommt 
in  seiner  »Dramaturgie  der  Oper«  (Leipzig  1902)  auf  dem  rein 
ästhetischen  Wege  einer  richtigen  Schätzung  Glucks  und  seiner  Re- 
formen zuweilen  ziemlich  nahe,  aber  wirklich  klar  sieht  er  ebenfalls 
nicht,  weil  er  den  historischen  Orientierungspunkt  nicht  findet.  Der 
erste  Gluckbiograph  Anton  Schmid  (Leipzig  1854)  hat  sich 
ziemlich  auf  das  äußere  Leben  des  Meisters  beschränkt,  die  Gluck- 
biographie von  Marx  (Berlin  1869)  geht  weiter,  aber  leider  war  der 
reichbegabte  Marx  kein  Freund  harter  Arbeit.  Was  ziemlich  offen 
lag,  das  hat  er  vorzüglich  geklärt,  z.  B.  die  Tatsache,  daß  die  Re- 
form Glucks  zum  Teil  der  einfache  Anschluß  an  die  französische 
Oper  ist,  aber  auf  schwieriger  festzustellende  Punkte  läßt  er  sich 
gar  nicht  ein.  So  übergeht  er  die  ganze  Jugend  Glucks,  in  der 
wahrscheinlich  schon  die  Komotauer  Zeit  bei  den  Jesuiten  ent- 
scheidende Eindrücke  gebracht  hat.  Er  gräbt  auch  andern  wich- 
tigen Fragen  in  der  Entwicklung  Glucks  nicht  tiefer  nach,  z.  B. 
nicht  den  Ursachen,  die  Gluck  gerade  auf  Calzabigi^  führten;  die 
sachlichen  Hauptpunkte  der  Gluckschen  Reform  jedoch  hat  die  Bio- 
graphie von  Marx  entschieden  richtig  gestellt.  Glucks  Reform 
besteht  aus  zwei  Teilen:  der  erste  ist  die  Reinigung  der  Opern- 
dichtung von  Intrigenmechanismus  und  empfindsamen  Ballast,  die 
dramatische  Korrektur  der  Textbücher;  der  zweite  ist  Bereicherung 
der  musikalischen  Mittel,  Anschluß  an  die  französische  Oper.  An 
dei-  Renaissanceoper  hielt  er  noch  fest,  aber  er  führte  sie  zurück 
auf  die  Ideen  der  Entstehungszeit,  ohne  Kenntnis  von  Rinuccini, 
Peri  und  Monteverdi,  rein  vom  Genius,  von  den  Gesetzen  des  ge- 
sunden Menschenverstandes  geleitet.  Die  übrigen  Punkte,  in  denen 
Gluck  außerdem  von  dem  bisherigen  Brauch  des  italienischen  Musik- 
dramas abwich,  sind  Nebensachen,  und  sie  sind  keineswegs  ohne 
weiteres  als  Verbesserungen  zu  betrachten. 

Es  muß  hier  einen  Augenblick  wegen  der  Autorität  ihres  Ver- 
fassers auf  die  Darstellung  eingegangen  werden,  die  Richard  Wagner 
in  seiner  Abhandlung  über  »Oper  und  Drama«  von  der  Reform 
Glucks  gibt,  weil  sie  eine  dieser  Nebensachen  für  die  Hauptsache 
ausgibt.     Es  heißt  da: 


1  Heranzuziehen  ist  noch:  H.  Kretzschmar:  >Zum  Verständnis 
Glucks«,  Jahrbuch  Peters  1903  u.  Stephan  Wortsmann :  »Die  deutsche 
Gluckliteratur«  1714-1787,  Nürnberg  1914. 

2  H.  Welti:  >Gluck  und  Calzabigi..    Vjschr.  f.  M.  W.  1891. 

13* 


196  Von  Hasse  bis  Gluck 

»Die  so  berühmt  gewordene  Revolution  Glucks,  die  vielen  Unkenntnis-» 
»vollen  als  eine  gänzliche  Verdrehung  der  bis  dahin  üblichen  Ansichten  von 
»dem  Wesen  der  Oper  zu  Gehör  gekommen  ist,  bestand  nun  in  Wahrheit 
»nur  darin,  daß  der  musikalische  Komponist  sich  gegen  die  Willkür  des 
»Sängers  empörte.  Der  Komponist,  der  nächst  dem  Sänger  die  Beachtung 
»des  Publikums  besonders  auf  sich  gezogen  hatte,  da  er  es  war,  der  diesem 
»immer  neuen  Stoff  für  seine  Geschicklichkeit  herbeischaffte,  fühlte  sich 
»ganz  in  dem  Grade  von  der  Wirksamkeit  dieses  Sängers  beeinträchtigt, 
»als  es  ihm  daran  gelegen  war,  jenen  Stoff  nach  eigener  erfinderischer 
»Phantasie  zu  gestalten,  so  daß  auch  sein  Werk  und  vielleicht  endlich 
»nur  sein  Werk  dem  Zuhörer  sich  vorstellte.  Es  standen  dem  Komponisten 
»zur  Erreichung  seines  ehrgeizigen  Zieles  zwei  Wege  offen:  entweder  den 
»rein  sinnlichen  Inhalt  der  Arie  mit  Benutzung  aller  zu  Gebote  stehenden 
»und  noch  zu  erfindenden  musikalischen  Hilfsmittel,  bis  zur  höchsten, 
»üppigsten  Fülle  zu  entfalten,  oder  —  und  dies  ist  der  ernstere  Weg,  den 
»wir  für  jetzt  zu  verfolgen  haben  —  die  Willkür  im  Vortrag  dieser  Arie 
»dadurch  zu  beschränken,  daß  der  Komponist  der  vorzutragenden  Weise 
»einen  dem  unterliegenden  Worttext  entsprechenden  Ausdruck  zu  geben 
»suchte.  Wenn  diese  Texte  ihrer  Natur  nach  als  gefühlvolle  Peden  han- 
»delnder  Personen  gelten  mußten,  so  war  es  von  jeher  gefühlvollen  Sängern 
»und  Komponisten  ganz  von  selbst  auch  schon  beigekommen,  ihre  Virtuo- 
»sität  mit  dem  Gepräge  dei-  nötigen  Wärme  auszustatten,  und  Gluck  war 
»gewiß  nicht  der  erste,  der  gefühlvolle  Arien  schrieb,  noch  seine  Sänger 
»die  ersten,  die  solche  mit  Ausdruck  vortrugen.  Daß  er  aber  die  schick- 
» liehe  Notwendigkeit  eines  der  Textunterlage  entsprechenden  Ausdrucks 
»in  Arie  und  Rezitativ  mit  Bewußtsein  und  grundsätzlich  aus- 
»sprach,  das  macht  ihn  zu  dem  Ausgangspunkt  für  eine  allerdings  voll- 
» ständige  Veränderung  in  der  bisherigen  Stellung  der  künstlerischen  Fak- 
»toren  der  Oper  zu  einander.  Von  jetzt  an  geht  die  Herrschaft  in  der 
»Anordnung  der  Oper  mit  Bestimmtheit  auf  den  Komponisten  über:  der 
»Sänger  wird  zum  Organ  der  Absicht  des  Komponisten,  und  diese 
»Absicht  ist  mit  Bewußtsein  dahin  ausgesprochen,  daß  dem  dramatischen 
»Inhalt  der  Textunterlage  durch  einen  wahren  Atisdruck  derselben  ent- 
»sprochen  werden  solle.  Der  unschicklichen  und  gefühllosen  Gefallsucht 
»des  virtuosen  Sängers  war  also  im  Grunde  einzig  entgegengetreten  worden, 
»im  übrigen  aber  blieb  es  in  bezug  auf  den  ganzen  unnatürlichen  Organismus 
»der  Oper  durchaus  beim  alten.  Arie,  Rezitativ  und  Tanzstück  stehen  für 
»sich  gänzlich  abgeschlossen,  ebenso  unvermittelt  nebeneinander  in  der 
»Gluckschen  Oper  da,  als  es  vor  ihr  und  bis  heute  fast  noch  immer  der 
»Fall  ist.* 

So  Wagner  und  so  weit  richtig,  als  er,  v^ie  namentlich  im 
Schlußsatz,  darauf  hinweist,  daß  auch  die  Glucksche  Reform  als 
Menschenwerk  unvollkommen  blieb  und  Bedenken  hatte.  Aber  in 
der  Begründung  und  in  den  einzelnen  Sätzen  haben  wir  es  da  nur 
mit  wortreicher  Umschreibung  der  Auffassung  Glucks  zu  tun,  die 
Fink  in  seiner  sogenannten  »Geschichte  der  Oper«  gibt,  und  diesem 
Fink  ist  AV agner  leider  in  allem  Historischen  seines  Buches  für  die 
ältere  Zeit  blind  gefolgt.  Finksche  Geschichtsklitterung  ohne  jeg- 
liche Quellenkenntnis  ist  bis  auf  alle  Einzelheiten  wiederzuerkennen, 


Chr.  W.  Gluck  197 

als  z.  B.  die  Eitelkeit  der  Komponisten,  namentlich  aber  das  Sänger- 
gespenst. Auch  Gluck  war  von  der  Furcht  vor  diesem  Sänger- 
gespenst besessen,  und  tatsächlich  war  im  Laufe  des  18.  Jahr- 
hunderts der  Sängerstand  entartet  und  von  der  hohen  Stufe,  auf  der 
ihn  die  Gesanglehren  der  älteren  Zeit  zeigen,  auf  der  er  u.  a.  noch 
in  Tosis  berühmtem  Werk  steht,  herabgeglitten.  Aber  Gluck  hat 
das  Kind  mit  dem  Bade  ausgeschüttet,  wenn  er  den  Sängern  aus 
Furcht  vor  Mißbrauch  die  Freiheit  nahm  und  den  Verfall  bloß  nach 
einer  andern,  vielleicht  gefährlicheren  Richtung  gedrängt,  den  Geist 
der  Gesangskunst  geknebelt. 

Ein  zweiter  von  den  Nebenpunkten  der  Gluckschen  Reform  ist 
die  Ausmerzung  des  Seccorezitativs  und  des  Cembalo.  Auch  das 
ist  eine  zweifelhafte  Verbesserung,  ein  Grund  für  die  Monotonie, 
deren  die  italienische  Schule  die  Gluckschen  Werke  mit  einem  ge- 
wissen Rechte  beschuldigt  hat. 

Auch  das  Überwiegen  kleiner  Formen  im  eigentlichen  Sologesänge 
Glucks  muß  unter  die  Schwächen  seiner  Werke  gerechnet  werden. 
Es  beruht  auf  einem  individuellen  Defekt  in  der  Natur  des  Refor- 
mators und  ist  vielleicht  unbewußt  der  Ausgangspunkt  seiner  Op- 
position gegen  das  italienische  Musikdrama  mit  gewesen.  Wie  denn 
häufig  auch  große  Reformen  ebenso  durch  persönliche  Vorzüge  wie 
durch  Mängel  im  Leistungsvermögen  ihrer  Urheber  mit  veranlaßt 
werden. 

Aber  die  Hauptsache  ist  und  bleibt,  daß  Gluck  die  Oper  auf 
ihre  ursprüngliche  Bestimmung  als  Musikdrama  wieder  nachdrück- 
lich hingoAviesen  und  durchgesetzt  hat,  daß  diese  Bestimmung  nicht 
bloß  in  einzelnen  Szenen,  sondern  in  der  ganzen  Anlage  der  Musik- 
dramen zum  Ausdruck  kam. 

Gluck  hat  die  italienische  Schule,  zu  der  er  schließlich  in  einen 
geschichtlich  so  wichtigen  Gegensatz  geriet,  gründlich  durchgemacht. 
Sein  Hauptlehrer  war  der  Mailänder  Giovanni  Battista  Sammartini, 
derselbe,  den  Haj^dn  bekanntlich  einen  »Schmierer«  genannt  hat.  Für 
Mailand  hat  Gluck  im  Jahre  1741  seine  erste  Oper,  den  »Ärtascise«, 
komponiert,  der  in  den  nächsten  fünf  Jahren  acht  weitere  folgen. 
Sie  sind  in  Venedig,  Turin,  Cremona  aufgeführt  worden  und  haben 
seinen  Ruf  in  Italien  begründet.  Den  meisten  liegen  Texte  Meta- 
stasios  unter,  und  die  Musik,  soweit  sie  noch  erhalten  ist,  hat  ganz 
den  italienischen  Stil.  Im  Jahre  1746  schreibt  Gluck  für  London 
»La  Caduta  dei  Giga^iti«,  den  Sturz  der  Giganten.  In  London 
lernt  er  Händel  kennen,  in  Paris  auf  der  Rückreise  Rameau's  » Gastor 
et  Pollux^  und  empfängt  von  beiden  Begegnungen  große  Eindrücke. 
Der  englische  Sänger  Mich.  Kelly  erzählt  in  seinen  »Erinnerungen«, 
daß  ihn  Gluck  noch  in  den  achtziger  Jahren  in  Wien  in  sein  Schlaf- 
zimmer vor  das  Bild  Händeis  geführt  habe,  das  über  dem  Bette 
hing.     Händel  scheint  sich  über  Glucks  Opern  abfällig  geäußert  zu 


198  Von  Hasse  bis  Gluck 

haben:  »Er  versteht  so  viel  vom  Kontrapunkt  wie  mein  Koch 
Waltz«,  lauten  die  Worte,  aber  dem  Komponisten  riet  er,  sich  nicht 
zu  viel  Mühe  um  das  Detail  zu  geben,  sondern  nach  schlagenden, 
großen  Wirkungen  zu  trachten.  Auf  der  Heimkehr  von  London 
nahm  Gluck  eine  Zeitlang  Stellung  als  Kapellmeister  bei  der 
Mingottischen  Gesellschaft  i.  Das  war  eine  jener  Wanderopern,  die 
um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  italienische  Opern  in  Ländern  und 
Städten  aufführten,  in  denen  das  Musikdrama  nicht  ständig  ver- 
treten v/ar.  Neben  der  Mingottischen  ist  von  diesen  Wandertruppen 
noch  die  Locatellische  bedeutend.  Gluck  hat  mit  Mingotti  Ham- 
burg, Prag,  Kopenhagen  besucht.  Eine  Zeitlang  wurde  auch  in 
Dresden  gespielt  und  die  Konkurrenz  mit  der  Hofoper,  die  Hasse 
leitete,  mit  dem  Prinzip  der  Geschäftsteilung,  aufgenommen:  die 
Hofoper  spielte  große  Renaissanceopern,  Mingotti  hauptsächlich  opera 
huffa  in  einem  kleineren ,  am  Zwinger  aufgerichteten  Theater. 
Während  dieses  Dresdner  Aufenthaltes  hat  Gluck  für  eine  Hochzeit 
am  Hofe  ein  kleines  Festspiel  komponiert,  »Le  iiozxe  d^Ercole  e 
d'Ebe^,  das  am  29.  Juni  1747  im  Schloßgarten  zu  Pillnitz  aufge- 
führt wurde.  Das  Werk  ist  Schmid  unbekannt  geblieben,  auch 
Marx  weiß  nur  von  seiner  Existenz.  Die  Partitur  lag  in  der  ehe- 
maligen Privatsammlung  des  Königs  von  Sachsen  und  ist  jetzt  mit 
in  die  Dresdner  Königliche  Bibliothek  übergegangen.  Ihre  Musik 
zeigt  Gluck  damals  beflissen,  sich  auf  dem  Hauptgebiet  der  Italiener 
hervorzutun:  im  lieblich  Erotischen.  Der  erste  Akt  schließt  mit 
einem  Duett  zwischen  Ercole  und  Ehe  ^Lasciami  in  pace«,  das  sich 
in  schwärmerischen  Figuren,  in  Ornamenten  und  reizenden  Details 
gar  nicht  genug  tun  kann,  es  ist  überschwänglich  an  Figuren  und 
Koloraturen,  ein  Musterbeispiel  für  die  Rokokokunst  in  der  Oper. 
Aber  es  hat  auch  einen  stark  innigen,  deutschen  Zug,  und  ähn- 
liche Spuren  eines  der  italienischen  Schule  fremden  Geistes  finden 
sich  in  dieser  Hochzeit  von  »Herkules  und  Hebe«  ziemlich  viele: 
kühne  Harmonien,  liegende  Stimmen,  Trugschlüsse,  ausdrucksvolle 
Bässe,  eifriges  Orchester,  schroffer  Tempowechsel  in  den  Arien. 
Sie  finden  sich  besonders  für  Naturmalereien  und  für  den  Aus- 
druck heftiger  Seelenbewegungen.  1748  kommt  Gluck  nach  Wien, 
wo  er  schon  zwölf  Jahre  früher  eine  Zeitlang  sich  aufgehalten  hatte. 

Der  Anteil  Wiens  an  der  Entwicklung  Glucks  muß  höher  ein- 
geschätzt werden,  als  das  bisher  geschehen  ist.  Die  AViener  Oper 
hat  von  Anfang  an  nach  Selbständigkeit  getrachtet.  Unter  Draghi 
schon  überbietet  sie  die  Leistungen  der  Venezianer  durch  eingelegte 
Orchesterüätze,  kleine  Solistenkonzerte,  durch  äußerlichen  musika- 
lischen Glanz;    wie  die  »Kaiserwerke«   G.  Adlers    zeigen,   hält  Wien 


*  Erich  Müller:  »Die  Mingottischen  OpernunternehmuEgen  1732—1756«, 
Dresden  1916. 


Chr.  W.  Gluck  199 

an  dem  Grundgedanken  der  Renaissance,  an  Einfachheit  und  Volks- 
tümlichkeit der  Musik  auch  dann  noch  entschieden  fest,  als  die 
Italiener  eine  neue  kunstvolle  Richtung  einschlagen,  es  beteiligt  sich 
an  den  Bemühungen  um  ein  deutsches  Musikdrama,  es  kommt  end- 
lich zur  Zeit  der  neapolitanischen  Schule  immer  wieder  auf  die  Chor- 
oper zurück.  Hauptvertreter  dieses  Widerstandes  gegen  die  Solooper 
waren  namentlich  Joseph  Fux  und  Carlo  Agostino  Badia.  Ihre  Werke 
hatte  Gluck  im  Jahre  1736  kennen  gelernt,  sie  hatten  still  in  seinem 
Innern  fortgeklungen,  während  er  für  die  Italiener  arbeitete;  sie 
hatten  wohl  wieder  lauter  zu  ihm  gesprochen,  als  er  Rameau  kennen 
lernte.  Auch  unter  der  sparsamen  Maria  Theresia  war  der  Wiener 
Oper  etwas  von  ihrem  alten  Sondergeist  geblieben,  sie  begünstigte 
solche  Neapolitaner,  die  von  der  Heerstraße  abwichen:  Jommelli, 
Perez,  Traetta.  Gluck  trat  zunächt  in  keine  amtliche  Stellung,  ist 
auch  später  (1774)  nur  Hofkompositeur,  nicht  Kapellmeister  ge- 
wesen ^  Aber  er  erhielt  sofort  (1748)  den  Auftrag  zu  einer  Oper; 
»Semiramide  riconosciuta«  heißt  sie,  der  Text  ist  von  Meta- 
stasio.  Ihre  Musik  steht  auf  einer  ähnlichen  Stufe  wie  das  Dresdner 
Festspiel.  Nur  in  einzelnen  Anläufen  auf  freie  Form  und  Entschie- 
denheit des  Ausdrucks  durchbricht  sie  die  Schranken  einer  gewöhn- 
lichen italienischen  Oper  mittlerer  Güte.  Daß  es  Gluck  mit  der 
dramatischen  Aufgabe  nicht  weiter  tief  nahm,  sieht  man  aus  der 
Ouvertüre.     Sie  beginnt: 


Jfjj  T-:  STi-  ^\ 


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Der  zweite  Satz  ist  gehaltvoller,  aber  noch  lange  nicht  so  bedeutend,  wie 
Marx  annimmt  2.  Dieser  »  Semiramide  riconuosciuto « folgt  im  Jahre  1749 
eine  Oper  »Tetis  oder  der  Götterzank«  für  Kopenhagen,  die  Gluck 
dort  am  9.  April  zur  Tauffeier  des  nachmaligen  Königs  Christian  VII. 
aufführt.  Auch  sie  hat  nichts  Ungewöhnliches.  Beachtenswert  ist 
die  nächste  Oper  Glucks:  ein  »Telemach«,  -^ TeUmacco ^ ^  den  er  im 
Jahre  1750  für  Rom  und  das  Teairo  Ärgentino  komponiert,  später 
umgearbeitet  hat.  Die  erste  Fassung  kennen  wir  nicht.  Nach 
Bitter  ist  der  Text  »natürlich«  von  Metastasio.  Trotzdem  hat 
Metastasio  keinen  *Telemach«  geschrieben.  Aber  der  Dichter  zeigt 
Metastasiosche  Schule:  die  schöne  Fabel  von  dem  Sohn,  der  den 
Vater   sucht   und   mit   ihm    zugleich   die   Braut   findet,    ist   in   einen 

1  L.  Stollbrock:  >Leben  und  Wirken  des  k.  k.  Hofkapellmeisters  und 
Hofkompositors  Joh.  Georg  Reuter  jun.«.    Viertelj.  f.  M.  W.  1892,  S.  289. 

2  A.  a.  0.  S.  26  des  Anhangs. 


200  Von  Hasse  bis  Gluck 

Knäuel  von  Intrigen  verwickelt  und  dann  wieder  in  einem  end- 
losen Einerlei  von  Szenen  aufgerollt,  die  effektsüchtig  und  tief  zu- 
gleich sein  wollen.  Den  Musiker  fangen  sie  in  die  bekannte  Girlande 
von  Seccorezitativen  und  Arien  ein.  Doch  hat  der  Dichter  mehr 
als  den  Metastasio  gekannt,  vielleicht  französische  Muster.  Das  zeigt 
sich  in  der  Zuziehung  von  Chören,  Tänzen  und  in  der  Anlage  dra- 
matischer Ensemblesätze. 

Die  Musik  fängt  mit  einer  französischen  Ouvertüre  an,  die  im 
Allegro  mehrmals  an  das  Ende  des  Stückes  erinnert,  Mitleid  mit 
dem  tragischen  Geschick  der  Circe  äußert.  Den  Schluß  bildet  ein 
Ballo,  der  direkt  in  die  Handlung  einführt.  Denn  diese  beginnt 
mit  Festen.  Circe  will  Hochzeit  halten,  Ulysses  ist  der  Bräutigam 
wider  Willen,  und  die  Musik  schildert  die  Feste  in  einer  Reihe  frei 
verbundener  Sätze,  Chöre,  Tänze,  ein-  und  mehrstimmiger  Solo- 
gesänge, in  einer  Introduktion,  wie  man  das  später  nannte.  Da 
kommt  aber  das  Orakel,  eine  ernste  Baßstimme  in  Rameaus  Art  auf 
einem  Ton  geführt,  so  wie  heute  jedermann  den  Komtur  im  Don 
Juan  kennt.  Eine  Geigenfigur  verbindet  diese  Orakelszene  mit  dem 
ersten  Chor  der  Introduktion.  Also  neue  Methode  des  formellen 
Aufbaues,  ein  Entwurf  in  größeren  Gruppen,  ein  sehr  reicher  Ge- 
brauch des  begleiteten  Rezitativs  und  drittens  neue  Töne,  die 
schönsten  und  eindringlichsten,  wenn  Gluck  die  Natur  sprechen 
läßt  in  ihren  Reizen  oder  in  ihren  Schrecken.  Zwei  Prachtstücke 
dieser  Art  stehen  in  den  Szenen,  wo  Teleraach  mit  seinem  Freunde 
Merione  in  den  Zauberwald_eintritt:   da  malt  Gluck  das  Echo: 

Viel.  Ob. 

die  andern,  wo  er  den  Geist  seines  Vaters  anruft.  Da  geht  in 
Hörnern   und  Oboen    wieder   in  Echoform    ein    breites  Motiv  durch: 


von  zitternden  Violinen  umspielt  zeigt  es  sich  wie  eine  Geisterhand 
hinter  Schleiern.  Das  ist  Gluck,  der  volle  Tonzauberer,  wie  ihn 
die  Welt  kennt  aus  dem  Furientanz  und  den  vielen  Stücken,  die 
uns  mit  einer  einzigen  Note,  mit  dem  dämonischen  Klang  eines  oft 
gehörten  Instrumentes  gefangen  nehmen.  Der  erste  Akt  schließt 
mit  einem  vollständigen  Finale,  einer  frei  gefügten  Kette  von  Sätzen 
über  ein  Hauptmotiv,  das  immer  gewaltiger  wird.  Das  bedeutendste 
darin  ist  ein  Klagechor   der  Gefährten    des  Ulysses.     Wie    denn    im 


Ohr.  W.  aiuck  201 

gauzeii  »Teleniach«,  im  ganzen  Gluck,  die  Stellen  des  Leides,  des 
Schmerzes  und  der  Trauer  immer  die  größten  und  erhabensten 
sind.  Im  Dunkeln  leuchtet  die  Seele  Gluckscher  Kunst  am  stärksten, 
auf  der  Schattenseite  des  Lebens  hat  sein  Genius  die  Kraft  gewonnen. 
Alles  Fröhliche  im  »Telemach«  ist  nicht  Gluckisch,  sondern  ita- 
lienisch. 

Zu  den  bedeutendsten  Stücken  des  »Telemach«  gehören  noch 
die  Vision,  wo  Ulysses  den  schlafenden  Sohn  weckt  und  dieser  im 
Wahne  die  Mutter  zu  hören  glaubt,  eine  ergreifende  Klagemusik: 
^Ah  non  turhi  ü  mio  riposo«,  und  die  beiden  Szenen  der  Circe, 
die  erste,  wo  sie  ihre  Geister  beschwört  >DaU'  orrido  soggiorno«, 
eine  freie  Folge  von  Rezitativen,  Arien  und  Chören  der  Larven, 
eigen  durch  Motive  in  chromatischen  Crescendis  geführt,  in  den 
Nachahmungen  von  schauerlichen  Hornklängen  und  Larvenstimmen 
von  einer  verwirrenden  Wirkung,  als  riefe  es  aus  allen  Winkeln, 
eine  Komposition  in  Cavallis  Geist.  Die  zweite  ist  der  Schluß- 
monolog der  Circe  »La  estingucr  non  basfafc<^,  wo  sie  zur  Selbst- 
vernichtung schreitet,  Palast  und  Garten  zerstört.  Li  dem  Wechsel 
von  erhabenen  Klagen  und  Ausbrüchen  dämonischer  Wut  ist  diese 
Szene  von  fürchterlicher  Wirkung;  unter  ihren  musikalischen  Mitteln 
ragen  die  tiefen  Unisonofiguren  des  Streichorchesters,  die  Kontra- 
bässe mit  den  Violinen  im  wirklichen  Einklang,   hervor. 

Der  Wert  der  einzelnen  Sätze  im  »Telemach«  wird  durch  die 
Tatsache  belegt,  daß  die  Mehrzahl  davon  in  andern  Opern  Glucks 
vorkommt  und  von  ihnen  aus  weltbekannt  geworden  ist.  Die  Alceste- 
Ouvertüre,  die  Einleitung  zur   »Iphigenie  in  Aulis: 


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der  Chor  in  »Alceste«:  »Welch  schreckliches  Orakel«,  die  schöne 
Gebetsszene  der  taurischen  Iphigenie:  »Je  t''im2'>lore  et  je  tremble^ 
—  alle  diese  Stücke  und  noch  viele  andere  berühmte  Glucksche 
Sätze  stammen  aus  dem   »Telemach«. 

Der  »Telemach«  in  der  späteren  Bearbeitung  zeigt  Gluck  auf  einer 
Höhe,  die  er  musikalisch  kaum  überschritten  hat,  der  Meister,  der  den 
»Orpheus«  geschrieben,  ist  hier  fertig.  Seiner  ersten  Fassung  folgt 
eine  Reihe  Opern,  die  mit  der  » Semiramide^  ungefähr  auf  gleicher 
Stufe  stehen:  1750  »Ezio^^  1751  eine  »Glemenza  di  Tito«,  11  bi 
»Le  Cinesi^j  beide  nach  Metastasio  und  für  Wien,  für  Rom  am  Ende 
dieses  Jahres  »II  trionfo  di  Camilla«  und  ^Äntigono«^  dann  1755 
wieder  für  Wien  zwei  Kleinigkeiten,  »La  danzat  und  »Vinnocenza 
giustificata« ,  die  von  allen  diesen  Werken  am  meisten  Gluckisch  ist. 
Dann  kommen  1756  »II  Re  Pastore*,  1760  die  »Tetide^,  Ende  1761 


202  ^on  Hasse  bis  Gluck 

»iZ  trionfo  di  Clelia^,  die  dann  1763  Gluck  auch  in  Bologna  auf- 
führte, vor  ihr  noch  die  Komposition  einer  Pantomime  »Don 
Juan«,  die  der  Fabel  vom  »steinernen  Gast«  ganz  genau  so  folgt, 
wie  sie  Da  Ponte  dann  für  Mozart  entworfen  hat.  Aus  ihr  stammen 
einige  der  bekanntesten  Sätze  Glucks,  u.  a.  der  Furientanz.  Und 
jetzt  erst  im  Jahre  1762  erscheint  das  Werk,  von  dem  ab  wir 
Glucks  Reform  der  italienischen  Oper  zu  datieren  pflegen,  sein 
»Orfeo«.  Am  5.  Oktober  1762  wurde  er  im  Hofburgtheater  zu 
Wien  zum  ersten  Male  mit  dem  Kastraten  Guadagni  in  der  Titel- 
rolle aufgeführt. 

Die  Seite,  auf  der  der  »Orfeo«  weit  über  den  »Telemach«  hin- 
ausgeht, ist  die  dichterische.  Das  Textbuch  ist  von  Rinuccinischem 
Schlage:  eine  große  Begebenheit  wird  in  wenigen,  einfachen,  aber 
stimmungsreichen  Bildern  dargestellt.  Das  war  also  der  schärfste 
Gegensatz  zu  der  Intrigenoper  Metastasios,  bei  der  die  großen  Züge 
einer  Handlung  unter  der  Hetzjagd  theatralischer  Nebeneffekte  und 
unter  der  aufdringlichen  Schönrederei  völlig  verschwanden.  Und  doch 
war  Raniero  da  Calzabigi,  der  Dichter  dieses  -» Orfeo  <i^^  auch  aus  der 
Reihe  der  Metastasioverehrer  hervorgegangen.  1715  zu  Livorno  ge- 
boren, widmete  er  sich  dem  Bankgeschäft,  das  ihm  Zeit  zu  ästheti- 
schen Studien  genug  ließ.  Er  gehörte  der  Akademie  zu  Cortona  an 
und  trat  1755  mit  einer  Ausgabe  der  Werke  des  Metastasio  von  Paris 
aus  an  die  literarische  Öffentlichkeit.  Diese  Ausgabe  wird  von  einer 
Abhandlung  eingeleitet,  die  einen  seltsamen  Verlauf  nimmt.  Sie 
beginnt  als  Lobrede  auf  die  Dichtungen  Metastasios  und  bekennt  sich 
am  Schlüsse,  wenn  auch  mit  Einschränkungen,  zur  französischen 
tragedie  lyrique^  also  zu  den  Grundsätzen  Quinaults  und  Luliys.  Im 
Jahre  1761  kam  nun  Calzabigi  als  Beamter  der  Niederländischen 
Rechnungskammer  nach  Wien.  Hier  war  abei'  das  Jahr  vorher  in 
Graf  Durazzo  ein  neuer  Hof-  und  Kammermusikdirektor,  ein  Inten- 
dant nach  heutiger  Bezeichnung,  berufen  worden,  den  es  geizte,  die 
Wiener  Musikzustände  zu  heben.  Er  scheint  Gluck  und  Calzabigi 
zusammengebracht  zu  haben. 

Die  Frage,  wem  von  den  beiden  Männern,  dem  Dichter  oder  dem 
Komponisten,  das  Verdienst  an  der  Opernreform  gebührt,  wer  von 
ihnen  die  Priorität  beanspruchen  darf,  ist  nicht  so  wichtig,  als  sie 
auf  den  ersten  Blick  erscheinen  kann.  Es  handelt  sich  dabei  um  die 
Frage:  Kam  der  Gedanke  aus  den  engeren  Fachkreisen,  oder  kam 
er  ähnlich  wie  seinerzeit  Monodie  und  Musikdrama  aus  dem  gebil- 
deten, kunstverständigen  Laientum?  Das  letztere  scheint  der  Fall 
zu  sein.  Die  Frage  ist  von  Spitta^,  nach  ihm  von  Welti  behandelt, 
aber  nicht  gelöst  worden,  da  für  eine  wirklich  diplomatische  Lösung 
die  vorhandenen  Dokumente  nicht  ausreichen.  Tatsache  ist,  daß  in 
der  ersten  Zeit  beide  Männer  einer  dem  andern  das  Verdienst  zuge- 


1  Ph.  Spitta:  »Paris  und  Helena«  im  »Zur  Musik«.    Berlin  1892. 


Ohr.  W.  Gluck  208 

schrieben  haben.  Nachdem  aber  zwischen  ihnen  in  späterer  Zeit  eine 
Spannung  eingetreten,  hat  es  jeder  für  sich  allein  in  Anspruch  ge- 
nommen. Calzabigi  ist  dabei  so  weit  gegangen,  daß  er  nicht  bloß 
den  neuen  Dichtungsplan,  sondern  auch  den  neuen  Ton  in  der  Musik 
für  sein  Eigentum  erklärt.  Für  die  Klarstellung  des  Verhältnisses 
ist  eine  Bemerkung  in  der  Vorrede  zu  G.  Naumanns  »Orpheus  und  Eu- 
ridike«  (Kiel  1785)  wichtig:  »Gluck  brachte  Calzabigi  darauf,  daß 
auch  die  Oper  etwas  mehr  als  Spielwerk  fürs  Auge  sei  usw.«  Hier 
werden  Calzabigi  und  Coltellini  als  die  einzigen  erklärt,  die  unter 
den  Italienern  als  ernste  Operndichter  gelten  können,  Metastasio  habe 
nur  singende  Marionetten  geliefert.  Und  so  wie  mit  Gluck  stand 
es  mit  den  Musikern  überhaupt.  Talente  für  das  reine,  höhere  Mu- 
sikdrama waren  genug  da:  Traetta,  Jommelli,  Perez,  aber  sie  stell- 
ten keine  dichterischen  Forderungen.  Das  Verdienst  Glucks  besteht 
darin,  daß  er  den  neuen  Weg  weiterschritt.  Dem  »Orpheus«  ließ 
er  die  »Alceste«  (am  16.  Dezember  1766)  folgen  und  der  »Alceste« 
im  Jahre  1769  »Paris  und  Helena«.  Als  der  Erfolg  nicht  den 
Erwartungen  entsprach,  gab  Gluck  Wien  auf,  aber  er  hielt  an  seinem 
Ziele  fest. 

Auch  »Alceste«  und  »Paris  und  Helena«  sind  Dichtungen  Calza- 
bigis,  ebenso  wie  der  »Orpheus«  darauf  gerichtet,  eine  ergreifende 
oder  merkwürdige  Geschichte  in  wenigen  gehaltvollen  Szenen  vor- 
zuführen. »Alceste«  ist  das  Gegenstück  zum  »Orpheus«.  Hier 
opfert  sich  der  Mann^  in  der  »Alceste«  geht  die  Frau  in  den  Tod^ 
um  das  Leben  des  Mannes  zu  retten.  Wenn  die  Venezianer,  Aureli 
z.  B.,  wenn  die  Dichter  der  neapolitanischen  Schule,  wie  Sografi,  die 
Alceste  als  Oper  behandeln,  begnügen  sie  sich  nicht  mit  der  Dar- 
stellung des  Euripides,  sondern  sie  halten  es  für  nötig,  der  Alceste 
eine  Nebenbuhlerin  zu  geben  oder  den  Herkules  in  die  Rolle  eines 
bedenklichen  Hausfreundes  zu  bringen.  Jedenfalls  wird  ein  Eifer- 
suchtsstück daraus.  Mit  diesen  Dichtern  verglichen,  ist  Calzabigi  also 
groß,  aber  er  ist  trotzdem  in  der  Durchführung  seiner  Auffassung 
nicht  ganz  glücklich  und  nicht  ganz  geschickt.  Der  Entschluß  Al- 
cestes  ist  schon  am  Ende  des  ersten  Aktes  gefaßt;  von  da  ab  steht 
die  Handlung  bis  ans  Ende  der  Oper  still.  Unter  einem  ähnlichen 
Mangel  leidet  »Paris  und  Helena«.  Hier  hat  dem  Calzabigi  ein  Ge- 
danke vorgeschwebt,  wie  ihn  Wagner  in  »Tristan  und  Isolde«  durch- 
geführt hat:  die  Liebe  als  Verhängnis.  Helena,  die  Braut  —  nicht 
die  Gattin  —  des  Menelaus  kämpft  gegen  ihre  Neigung  zu  dem  wer- 
benden Paris  und  unterliegt  endlich.  Aber  der  Ausführung  fehlt 
jeder  Gegensatz,  es  ist  ein  Drama  ohne  Handlung  und  Ereignisse; 
ein  rein  psychologischer  Prozeß  wird  breit,  bequem,  monoton  vor- 
geführt, es  ist  ein  erotisches  Crescendo  zweier  Stimmen.  Gluck  hat 
sich  gerade  zu  »Paris  und  Helena«  besonders  hingezogen  gefühlt. 
Ihn  reizte  da  eine  ethnologische  Aufgabe,  der  Gegensatz  zwischen 
Paris,  als  dem  weichen  Phrygier,    und   der  Helena,    als  der  Vertre- 


204  ^^on  Hasse  bis  Gluck 

teriu  des  strengen,  spröden  Spartauertums.  Diesen  Gegensatz,  von 
dem  die  Dichtung  eigentlicli  gar  nichts  weiß,  hat  er  musikalisch 
glänzend  zum  Ausdruck  gebracht,  und  darum  hat  ihn  die  kühle  Auf- 
nahme der  Oper  ganz  besonders  verdrossen.  Als  er  die  Partitur 
drucken  ließ,  begleitete  er  sie  mit  einer  an  den  Herzog  von  Bra- 
ganza  gerichteten  Zueignungsschrift,  in  der  er  gereizt  und  grollend 
sich  über  die  schlechten  Aufführungen  seiner  Oper,  über  die  Urteils- 
losigkeit des  Publikums  beklagt  und  die  Ursachen  der  Ablehnung 
überall,  nur  nicht  in  der  Schwäche  der  Dichtung  sucht. 

Auch  »Alceste«  wurde  mit  einer  Zueignungsschrift  —  an  den 
Großherzog  von  Toskana  —  gedruckt.  Sie  ist  als  historisches  Do- 
kument in  neuerer  Zeit  häufig  mitgeteilt  worden.  Von  ihr  stammt 
das  Mißverständnis,  daß  die  Hauptseite  der  Gluckschen  Reform  in 
der  Vinkulierung  der  Sänger  bestehe.     Sie  setzt  mit  diesem  Punkt  ein. 

Was  nun  die  Musik  dieser  drei  Opern  betrifft,  so  ist  ihr  ge- 
meinsamer Zug  die  Richtung  aufs  Große.  Unvergleichlich  ist  Gluck 
überall  in  pathetischen  Situationen.  Da  ist  ein  Hauptbeispiel  die 
Szene,  wo  Orpheus  mit  den  Gefährten  am  Grabmale  der  Euridike 
die  Totenklage  hält,  ein  anderes  die  Eingangsszene  zum  zweiten  Akt 
derselben  Oper,  wo  Orpheus  die  Furien  und  die  Geister  der  Unter- 
welt bittet  und  erweicht.  Geringer  beherrscht  er  die  Situationen, 
wo  eine  plötzliche  Erregung,  elementar  durchbrechende  Leidenschaft 
darzustellen  ist.  Den  Hauptbeleg  hierfür  bietet  die  Szene  des  dritten 
Aktes  im  »Orpheus«,  wo  Euridike  zum  zweiten  Male  gestorben  ist. 
Dieses  »Ach,  ich  habe  sie  verloren«,  bleibt  im  Anfang  der  Situation 
alles  schuldig.  Da  erwarten  wir  Schreck,  wilden  Aufschrei  des  Ge- 
wissens, denn  Orpheus  ist  jetzt  am  Tode  der  Gattin  schuldig,  weil 
er  das  Verbot  sich  umzusehen,  gebrochen  —  wir  erwarten  leiden- 
schaftliche Verwirrung,  und  wir  hören  eine  Melodie,  die  manche  be- 
wundern wollen  weil  sie  edel  sei  und  Resignation  ausspricht.  Da  ist 
aber  zunächst  keine  Resignation  am  Platze,  und  es  bleibt  nichts  übrig, 
als  diesen  edel  leierigen  Gesang  abzulehnen.  Vollständig  schwach 
ist  Gluck  da,  wo  der  Dichter  schwach  ist,  oder  wo  er  feurige 
Empfindungen  verlangt.  Den  ersten  Fall  belegen  die  sämtlichen 
Gesänge  des  Amor,  den  zweiten  namentlich  die  große  Szene  der 
ersten  Wiederbegegnung  zwischen  Orpheus  und  Euridike.  Da 
klingt  doch  die  Freude  nur  matt  an,  und  die  Szene,  wo  das  Paar 
die  Unterwelt  verläßt  und  Orpheus  den  großen  Kampf  zwischen 
Liebe  und  Gehorsam  kämpft,  kommt  musikalisch  überhaupt  nicht 
zur  Geltung. 

Wie  im  musikalischen  Gehalt  der  drei  Opern  die  persönliche 
Veranlagung  Glucks  sich  so  ganz  entschieden  in  Vorzügen  und  Schwä- 
chen geltend  macht,   so  auch  in  den  Formen  und  Mitteln. 

Seiner  Neigung  zum  Pathetischen  ist  das  Seccorezitativ  zum  Opfer 
gefallen.  Er  begleitet  nicht  mehr  mit  dem  Cembalo,  sondern  mit 
dem  vollen  Orchester,   Streichquartett  als  Norm,  weil  das  feierlicher 


Ohr.  W.  Gluck 


201 


klingt,  weil  dieser  feierliche  Klang  zur.  Grundstimmung  der  Dich- 
tung paßt.  Daß  er  dieses  Recitativo  aceompagnato  zur  Alltagsform 
des  Dialogs  macht,  hat  aber  noch  einen  andern  Grund.  Es  er- 
laubt ihm  in  jedem  Augenblick  zu  malen,  und  diese  Möglichkeit 
benutzt  er  aufs  ausgiebigste.  Man  denke  nur  an  die  Menge  der 
schönen  poetischen  Echos  im  »Orpheus«.  Noch  stärker  kommt  aller- 
dings dieses  malerische  Talent  in  den  geschlossenen  Formen  zum 
Ausdruck,  in  kleinen  Zügen,  wie  z.  B.  in  dem  Motiv,  wo  er  im 
Frauenchor  das  Bellen  der  Höllenhunde  andeutet,  am  schönsten  in 
ganzen  Szenen,  namentlich  in  der  aus  dem  >Telemach«  stammenden 
dritten  Szene  des  zweiten  Aktes,  wo  Orpheus  in  die  seligen  Ge- 
filde eintritt,  ^Ghe  puro  cieU,  »Welch  reiner  Himmel«.  Es  ist 
der  gehaltvollste,  gleichmäßig  schönste  aller  großen  Monologe, 
die  von  Gluck  vorhanden  sind.  Hier  hat  er  sich  auf  die  poetische 
Mitwirkung  der  Instrumente  gestützt.  Zu  andern  Zeiten  hilft  er  sich 
bei  solchen  Aufgaben  durch  Einschaltung  von  Chorstellen.  Dafür 
ist  das  Hauptbeispiel  in  der  ersten  Szene  des  zweiten  Aktes  vom 
»Orfeo^  der  Abschnitt,  wo  in  den  freundlich  rührenden  Bittgesang 
des  Orpheus  die  Furien  nach  Rameauschem  Muster  mit  ihrem  ent- 
setzlichen »Nein«  einfallen.  Eigentlich  große  Formen,  wie  wir  sie 
in  den  bedeutendsten  Soloszenen  der  Italiener  finden,  hat  Gluck  gar 
nicht.  Mit  dramatischem  Instinkt  hat  er  in  Fällen,  wo  sie  notwen- 
dig waren,  aus  der  Not  eine  Tugend  gemacht.  Die  meisten  Szenen 
des  *Orfeo*  sind  auf  kleine  liedförmige  Sätzchen,  wie  sie  bei  den  Italie- 
nern als  Kavatine,  Kanzonen  ausnahmsweise  vorkommen,  aufgebaut. 
In  der  ersten  Szene  ist  es  die  Melodie: 


Moderato. 


usw. 


0    wenn    in 


sen      dunk-len    Hai  -  nen 


In  der  zweiten: 

Andantino. 


^^E 


atj- 


^ 


So    klag    ich 


ih 


Tod. 


Sie  wiederholt  er  wörtlich  oder  erweitert  und  variiert  drei-,  vier- 
mal, aber  zwischen  die  Wiederholungen  schaltet  er  Instrumeutalsätze 
oder  freie  Rezitative  ein.  So  ergibt  sich  doch  ein  großes,  mannig- 
faltiges Ganzes,  das  nach  dem  Schulzeschen  Gesetz  vom  »Schein  des 
Bekannten«  leicht  übersichtlich  ist.  Dazu  nun  der  volle  Ausdruck 
in  den  günstigen  Fällen  für  die  Gedanken  im  großen,  der  deklama- 
torische Nachdruck    fürs   einzelne  Wort    —    der   enge   und  ehrliche 


206 


Von  Hasse  bis  Q-luck 


Anschluß  an  den  Gang  des  Dramas  —  das  gibt  zusammen  die  tiefe, 
eindringliche  Wirkung  der  Gluckschen  Opern,  wenigstens  für  alle 
diejenigen,  die  das  geistige  Element  über  das  sinnliche  setzen.  Ein- 
fachheit und  Einheitlichkeit  war  der  geschichtliche  und  der  blei- 
bende Gewinn  der  sogenannten  Gluckschen  Reform  für  das  Musik- 
draraa. 

Ein  rascher  Erfolg  wurde  der  Gluckschen  Reform  nicht,  sie  hat 
überhaupt  keinen  vollen  gehabt,  und  ist  schließlich  in  die  Praxis 
nur  entstellt  und  verdorben  eingedrungen.  Sie  traf  auf  zu  starke 
Gegenströmungen,  sie  fiel  in  eine  Zeit  des  Wirrwarrs. 


Gegenströnmiigen 


Wenn  man  die  Statistik  in  den  sechziger  Jahren,  in  der  Zeit, 
wo  *Orfco*^^  i^Alceste*^  -» Paris  und  Helena <i  entstanden  waren,  be- 
fragt, so  erscheint  die  Glucksche  Reform  als  ein  bloßes  Wiener  Lokal- 
ereignis. Die  Italiener  nehmen  zunächst  gar  keine  Notiz  davon  i. 
Erst  1771  wird  in  Bologna  der  ^Orfeo^^,  1778  die  Ȁlcestei^  ver- 
sucht. Sie  fiel  durch,  obwohl  Calzabigi  persönlich  die  Einstudie- 
rung überwachte  und  trotz  einer  glänzenden  Aufführung  mit  einem 
Orchester  von  gegen  80  Mann,  24  Violinen  darunter  und  die  besten 
Bläser,  die  sich  in  Italien  zusammenbringen  ließen.  In  Neapel  kommt 
der  y>Orfeo^  1774  aber  mit  Einlagen  von  Christian  Bach  im  Teatro 
San  Carlo j  im  Teairo  del  Fondo  die  ■»Älceste^  1785;  beide  einmal 
und  nicht  wieder.  Modena  bringt  1763  eine  kleine  komische  Oper: 
»I  tre  ama?iti*\  Parma,  wo  doch  Geistesverwandtschaft  vorhanden 
war,  1780  das  Wiener  Ballett  »Don  Juan*  als  »//  convitato  dt 
Pietra*.  In  Venedig  wird  1776  Calzabigis  -»Orfeo«  aufgeführt,  aber 
mit  Musik  von  Bertoni;  nebenbei  ist  das  eine  gar  nicht  schlechte 
Komposition,  nur  ohne  alle  Originalität,  Bertoni  hat  einfach  Gluck 
durchgepaust.  Die  einzige  Spur  dafür,  daß  die  Gluckschen  Reform- 
opern in  Italien  doch  einen  Augenblick  ein  tieferes  Interesse  erregt 
hatten,  finden  wir  in  einer  komischen  Oper  von  Traetta.  Sie  heißt 
»Le  cavaliere  errante<i^  und  ist  1777  für  Neapel  geschrieben.  Da 
tritt  ein  Verrückter  auf,  der  sich  für  den  Orfeo  hält  und  » Che  faro 
senza  Euridice<  singt.  Auch  noch  eine  Menge  anderer  Szenen  paro- 
dieren dieses  Stück;  man  kann  also  nicht  im  Zweifel  darüber  sein, 
daß  die  Italiener  die  Glucksche  Reformmusik  für  lächerlich  hielten. 
Was  sie  aber  über  die  Calzabigische  Dichtung  meinten,  das  spricht 
Arteaga  scharf  genug   aus.     Er   nennt    ihn   den  Hauptverderber   des 


1  F.  Vatielli:  »Riflessi  della  lotta  Gluckista  in  Italia«  (Riv.  inus.  XXT, 
S.  6.39  ff.). 


208  Gregenströmimgen 

neueren  musikalischen  Theaters  und  steht  mit  dieser  Ansicht  nicht 
allein;  sie  kehrt  im  Gegenteil  bei  italienischen  Literaturhistorikern 
bis  in  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  wieder,  zuletzt  noch  bei  Gher- 
landini.  Die  Italiener  suchen  im  Musikdrama  in  erster  Linie  die 
Schaubühne,  die  »Geschwindigkeit  der  Szenen«,  wie  sich  Arteaga 
ausdrückt,  ist  ein  Haupterfordernis.  Das  Theater  mit  Schiller  als 
moralische  Anstalt  zu  betrachten,  überlassen  sie  den  Völkern,  die 
mit  »einer  traurigen  Fühlbarkeit«  begabt  sind.  So  sind  denn  auch 
die  Versuche  von  Gesinnungsgenossen  Calzabigis,  wie  Coltellini  und 
Frugoni,  dessen  Texte  Traetta  komponierte,  nicht  weiter  gediehen. 
Über  die  Musik  Glucks  hat  Arteaga  ebenfalls  berichtet.  Sie  mußte, 
heißt  es,  notwendig  die  Geduld  der  italienischen  Zuhörer  ermüden, 
da  sie  an  eine  leichtere  und  ghänzendere  Harmonie  gewöhnt  sind. 
Auf  der  ganzen  italienischen  Linie  war  das  Urteil  ähnlich.  Burney 
erkennt  zwar  an,  daB  Gluck  ein  neues  Prinzip  vertritt,  aber  es  passe 
nur,  meint  er,  für  Länder  mit  schlechten  Sängern  und  begünstige 
den  Poeten  auf  Kosten  des  Sängers  und  Komponisten.  Da  haben 
wir  also  den  Vertreter  der  Musikmacherei  quand  meme,  die  reine 
Lust  an  der  Klingelbeutelei;   das  Drama  ist  Nebensache. 

Wie  aber  die  Aufnahme  Glucks  in  Deutschland  war,  auch  dafür 
haben  wir  ganz  präzise  Daten.  In  Dresden  sind  seine  Reformopern  erst 
unter  Ftichard  Wagner  bekannt  geworden,  München  hat  einmal  im 
Jahre  1773  den  »Ör/eo«  und  dann  nichts  weiter  versucht.  In  Berlin 
wurde  1788  der  »Orfeo«  Calzabigis,  aber  mit  Musik  von  Bertoni 
gegeben;  erst  1796  fassen  da  die  Opern  Glucks  unter  Reichardt 
festen  Fuß.  Auch  Prag  läßt  Gluck  für  die  Reformoper  im  Stich! 
Allerdings  wurden  Männer  wie  Rousseau,  Wieland  und  Klopstock 
Glucks  Verehrer,  sobald  sie  seine  Werke  liannten.  Aber  was  die 
Gilde  in  Deutschland  dachte,  das  hat  Forkel  in  der  berühmten  oder 
berüchtigten  Kritik  seines  Almanachs  ausgesprochen.  Die  Wiener 
nannten  die  »Alceste«  mit  witziger  Anspielung  ein  y>de  profundis<^ 
und  klagten  über  Langeweile.  Mozarts  Vater  schreibt  an  den  Sohn 
über    »die  traurige  Glucksche  Oper  ,Alceste'«. 

So  begriffen  also  die  Kreise,  die  das  nächste  Interesse  an  der 
italienischen  Renaissanceoper  hatten,  weder,  daß  Gluck  den  Abschluß 
der  Strecke  bildete,  die  mit  Hasse  begonnen  hatte,  noch  ahnten  sie, 
daß  seine  Reform  nur  eine  Reaktion  war,  eine  heilsame,  notwendige 
Reaktion,  eine  Rettung  und  nichts  weiter  als  die  Rückkehr  zu  den 
Idealen  der  Jugendzeit  des  Musikdramas,  zu  den  Grundsätzen  der 
Rinuccini  und  Monteverdi.  Das  Maß  der  Verblendung  voll  zu  machen, 
kam  aber  hinzu,  daß  die  Freunde  der  Renaissanceoper  über  dem 
Streit  im  eigenen  Lager  ganz  übersahen,  wie  ihr  wirklicher  und 
natürlicher  Feind  inzwischen  an  Macht  und  an  Boden  gewonnen 
hatte.  Dieser  Feind  war  die  Partei  der  opera  buffa,  der  lustigen 
neapolitanischen  Volksoper,  die  wir  bei  Pergolesis  >^Serva  ■padrona^ 
verlassen  haben. 


Die  Wandlungen  der  Opera  bulFa  209 

Aus  der  02')€'ra  huffa  war  allmählich  etwas  anderes  geworden.  Zu- 
eist vermehrt  sich  die  Gesellschaft  der  komischen  Stadtoriginale  in 
diesen  Stücken.  Zu  dem  lateinischen  Quacksalber  und  dem  emeri- 
tierten Seebären,  der  Zita  und  dem  schönen  Mündel  treten  weitere 
stehende  Figuren:  der  Winkeladvokat,  ein  Gemisch  von  Schufterei 
und  Gutmütigkeit,  dann  der  Abbe  und  der  Student  aus  der  Provinz, 
schließlich  die  verführerische  Seiltänzerin,  das  Urbild  der  Carmen. 
Darauf  aber  steckt  sich  die  opera  huffa  weitere  Ziele,  als  die  Oper 
zu  verspotten  und  neapolitanische  Lokalbilder  zu  geben;  der  Geist 
Moliöres  äußert  seinen  Einfluß.  Diese  Komödien  werden  Satiren  auf 
die  Geistlichkeit.  Trinchera  ist  der  Vater  dieser  Richtung,  sein 
Hauptwerk:  -»La  tavernola  aventorosa's..  Da  spielt  ein  gewisser  Uzzac- 
chino  den  Eremiten.  Das  verliebte  Volk  im  Doife  läuft  zu  dem 
frommen  Bruder,  der  unter  Salbadereien  seine  Lüsternheit  schlecht 
versteckt.  Rousseau  hat  nach  diesem  Muster  seinen  -»Devin  du  vil- 
lage*  gebildet.  Trinchera  nahm  das  Charlatanentum  in  jeder  Branche 
aufs  Korn.  Die  neapolitanische  Polizei  sperrte  ihn  ein,  und  da  be- 
ging er  Selbstmord. 

Wieder  eine  andere  Richtung  vertritt  Francesco  Cerlone,  ein 
Autodidakt,  der  in  Metastasios  Schule  mit  seriösen  Opern  anfing. 
Durch  die  spanischen  Dichter  kam  er  aufs  Romantische.  Seine  Stücke 
spielen  in  Zauberländern,  schöpfen  aus  »Tausend  und  eine  Nacht« 
und  aus  andern  Märchenquellen.  Cerlones  Hauptstück  ist  ^Uosteria 
di  Marechiaro <t .  Da  entflieht  ein  Graf  am  Morgen  seiner  Hochzeit, 
weil  er  sich  in  ein  Bauernmädchen  verliebt  hat,  und  versteckt  sich 
in  einem  Keller,  Im  Keller  hört  er  auf  einmal  eine  Stimme,  er  geht 
ihr  nach  und  findet,  daß  sie  einem  Geist  gehört,  der  in  eine  Flasche 
gebannt  ist.  Er  befreit  ihn  und  erhält  dafür  eine  Zauberrute,  mit 
der  er  sich  fortan  alle  unangenehme  Gesellschaft  vom  Leibe  hält. 
Am  Ende  des  Stückes  reist  er  auf  einer  Zauberwolke  mit  seiner 
Casarella  nach  Neapel.  Das  erinnert  schon  an  » Gil  Blas^  und  den 
>Diable  boiteux«.  Auch  Le  Sage  stand  unter  spanischem  Einfluß, 
und  auch  Le  Sage  wirkte  am  meisten  durch  seine  Vaudevilles  und 
seine  musikalischen  Texte.  Von  Cerlone  ab  hat  aber  die  Volksoper 
ihre  Verbindung  mit  Romantik  und  Zauberei  sehr  lange  festgehalten, 
und  zwar  in  allen  Ländern,  bei  uns  in  Deutschland  bis  auf  Mozarts 
»Zauberflöte«,  Kauers  »Donauweibchen«  und  bis  auf  den  »Freischütz«, 
mit  Zurückdrängung  des  Musikalischen  bis  in  Raimunds  »Verschwen- 
der«, »Alpenkönig  und  Menschenfeind«,  ja  bis  auf  »Flick  und  Flock« 
und  andere  Possen  Gustav  Räders.  Das  bloße  Photographieren  von 
Bildern  aus  dem  wirklichen,  täglichen  Leben  genügt  auf  die  Dauer 
nicht.  Die  Phantasie  des  Volkes  weist  die  Mythologie  der  Renais- 
sanceoper ab,  weil  sie  ihm  in  der  gespreizten  Form  so  unnatürlich 
ist;  zu  dem  Unwahrscheinlichen  und  Abenteuerlichen  an  sich  fühlt 
es  sich  hingezogen,  fühlt  sich  dadurch  poetisch  und  seelisch  ge- 
hoben. 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VI.  14 


210  Gregenströmungen 

Ein  anderer  bedeutender  Vertreter  dieser  romantischen  Richtung 
ist  Giambattista  Lorenzo,  ein  rasches  Talent,  in  der  commedia  delV 
arte  gebildet.  Als  Joseph  IL  in  Neapel  war,  gab  er  dem  Lorenzo 
ein  Thema;  in  zehn  Minuten  war  eine  kleine  Komödie  fertig.  Seine 
Hauptstücke  sind  ^>Fra  due  litiganti<s.  und  *Vidole  Cinese*.  China 
oder  gar  der  Mond  sind  beliebte  Schauplätze  für  die  neue  opera  huffa. 
Daneben  noch  »II  Socrate  immaginario  «■  ^  eine  Art  Umschreibung  des 
Don  Quixote.  Dieser  Sokrates  ist  ein  überstudierter  Spießbürger  in 
einer  Provinzialstadt,  der  alles  reformieren  will.  Seinen  Barbier  er- 
nennt er  zum  Plato,  seine  Frau,  die  ihn  streng  behandelt,  hält  er 
für  die  Xantippe.  Schließlich  wird  er  durch  eine  tüchtige  Dosis 
Opium  geheilt. 

Zur  romantischen  Richtung  gehört  auch  Goldoni.  Sein  Haupt- 
werk, -»La  Paese  della  Cuccagna« ,  ist  eine  Satire  auf  Rousseau  und 
die  sozialen  Träume  seiner  Zeit.  Cuccagna  ist  ein  Schlaraffenland, 
wo  jeder  essen  und  trinken  kann  ohne  zu  arbeiten.  Nur  eifersüchtig 
darf  er  nicht  sein.  Schließlich  wird  die  ganze  Gesellschaft  auf 
Cuccagna  von  einem  fremden  Kriegsheere  überfallen  und  in  die  Ge- 
fangenschaft geschleppt. 

Auch  Casti^  gehört  zu  diesen  Romantikern.  Sein  Hauptstück 
»II  Re  Teodora«-  war  eine  der  beliebtesten  komischen  Opern,  weil 
es  Dichtung  mit  einer  wahren  Geschichte  verschmolz,  die  auf  Korsika 
passiert  war. 

Als  eine  dritte  Richtung  haben  wir  dann  in  der  neuen  opera 
huffa  noch  die  Dorfidylle,  die  rührsame  Geschichten  aus  dem  Bauern- 
leben halb  ernst,  halb  scherzend  behandelt.  Auch  sie  geht  auf  Trin- 
chera  zurück  und  läßt  sich  ebenfalls  durch  alle  Länder  verfolgen. 
Bei   uns  hat   sie  sich  bis  auf  Weigls   »Schweizerfamilie«   behauptet. 

Aber  auch  musikalisch  war  die  opera  huffa  über  die  Stufe  bedeu- 
tend hinausgekommen,  auf  der  Pergolesis  »Serva  padrona«.  steht.  Die 
erste  Erweiterung  erfuhr  sie  durch  den  Palermitaner  Nicola  Logro- 
scino^,  der  das  sogenannte  Finale  einführte.  Diese  Finales  sind 
Schlußsätze  von  großem  Umfang  und  reicher  Gliederung.  Es  wechseln 
Solosätze  und  mehrstimmige,  sogenannte  Ensemblesätze  und  Chöre. 
Alles  ist  auf  Steigerung,  Kontrast,  auf  verblüffende  Wirkung  und 
auf  Entfaltung  musikalischen  Glanzes  angelegt.  So  viel  Leben,  als 
in  dem  Komponisten  steckt,  das  muß  er  in  dem  Finale  an  den  Mann 
bringen,  der  Zuhörer  bleibt  in  einem  Wirbel  von  Überraschungen 
und  in  freundlicher  Aufregung.  In  Logroscinos  Arbeiten  zeigt  sich 
die  Liebenswürdigkeit  Pergolesis  durch  eine  Menge  burlesker  Einfälle 
bereichert.     Da   geht    es    aus   gesungenen  Stellen   plötzlich   in  reine 


1  L.  Pistorelli:   »I  melodrammi  di  G.  B.  Casti«  (Riv.  mus.  U,  36  ff., 
449  ff,  IV,  635  ff,  VI,  473  ff.,  VII.  1  ff.) 

2  H.   Kretzschmar:     »Zwei    Opern  Nicola    Logroscinos«    (Jahrbuch 
Poters  1908). 


Nicola  Piccinnis  »Buona  figliuola  maritata«  211 

Deklamation  auf  Sechzehnteln  über  und  ein  hübsches  Motiv  stürzt 
über  das  andere.  Auf  dem  Logroscino  baute  Nicola  Piccinni^  weiter. 
Er  entschied  das  Geschick  der  opera  huffa  mit  seiner  »Buona  figliuola 
maritata^  oder  ^^Cecchina«.  Das  ist  die  Geschichte  eines  hoch- 
cfeborenen  Mädchens,  das  als  arme  Waise,  deren  Herkunft  niemand 
kennt,  auf  einem  italienischen  Schlosse  aufgenommen  worden  ist  und 
als  Aschenbrödel  behandelt  wird.  Der  junge  Graf  liebt  sie  und  darf 
sie,  als  sich  herausstellt,  wer  sie  eigentlich  ist,  natürlich  heiraten.  Daß 
Licht  in  das  Geheimnis  kommt,  ist  das  Verdienst  eines  herumziehenden 
alten  Soldaten,  des  Tagliaferro  (Eisenfresser  auf  deutsch),  des  miles 
gloriosus  des  Stückes.  Er  ist  ein  Deutscher  aus  österreichischen 
Landen,  läßt  sich  nie  Signore,  sondern  immer  »Main  Herr«  nennen, 
»trinken  wain«  und  »Tu  pist  ain  nor«  ist  sein  drittes  Wort;  eine 
Prachtfigur  von  einem  Buffo.  Das  war  eine  Dichtung  mit  lauter 
Natürlichkeit  in  den  Charakteren  und  in  den  Vorgängen.  Und  da 
konnte  nun  ein  Talent  wie  Piccinni  zeigen,  was  die  italienische  Musik 
konnte.  Alles  ist  echt  und  lebenswahr,  rührend,  erheiternd,  toll, 
auch  manche  große  Stelle  darin.  Man  muß  so  etwas  kennen,  um  zu 
verstehen,  was  von  dieser  »Buona  figliuola«-  ab  die  02Jera  huffa  im 
Kunstleben  des  18.  Jahrhunderts  bedeutete.  Für  die  Beliebtheit  dieser 
^ Buona  figliuola^  führt  Gretry  als  Beleg  die  Tatsache  an,  daß  sie  in 
Rom  auf  dem  Theater  Aliberti  zwei  Jahre  lang  ohne  Unterbrechung 
aufgeführt  wurde. 

^j  Mit  welcher  Lust  und  Liebe  die  Komponisten  bei  dieser  opera 
huffa  waren,  das  zeigt  sich  in  ihrer  Fruchtbarkeit.  Es  tat  sich  wieder 
ein  Reichtum  von  gleichzeitigen  Talenten  auf,  der  den  der  ersten  vene- 
zianischen Schule  noch  übertraf.  Und  er  dauerte  bis  ans  Ende  des 
Jahrhunderts.  Sind  sie  auch  in  den  Formen  einander  sehr  ähnlich, 
so  unterscheiden  sie  sich  doch  in  den  geistigen  Hauptzügen  ihrer 
Musik;  der  eine  hat  seine  Stärke  in  der  Heiterkeit,  der  andere  im 
Lmigen.  Man  kann  nur  die  wichtigsten  nennen:  B.  Galuppi^  (Bura- 
nello),  »L'amante  de  tutte*:,  Gazzaniga,  xinfossi,  Paisiello  (»La 
Molmara«  und  »Nina,  la  pazza  per  aniore«].  Letzterer  hat  beson- 
deren Einfluß  auf  Mozart  gehabt.  Unter  den  späteren  Vertretern 
dieser  ope^^a  huffa  haben  die  Italiener  dem  Cimarosa^  den  Preis 
gegeben,  der  ja  mit  seinem  »Matri7nonio  segreto«.  heute  noch  lebt. 
Für  ihn  halten  sie  alle  Superlative  bereit,  zählen  ihn  unter  die 
größten  Künstler  der  Geschichte.     Auch  Grillparzer  Uäßt  zum   Emp- 


1  H.  Abert:  >Piccinni  als  Buffokomponist«  [Jahrbuch  Peters  1913,; 
Alb.  Cametti:  Saggio  crouoiogico  delle  opere  teatraU  (1754-1791)  di 
Nicola  Piccinni  (ßiv.  mus.  VLLI,  75  ff.). 

-  A.  Wotquenne:  >Baldassare  Galuppi«  (Riv.  mus.  VI,  561  E),  F.  Pio- 
vauo:   >Bald.  Galuppi«  (ebenda  XIII,  676  0".,  XIV,  333  ff.). 

3  P.  Cambiasi:  »Notizie  sulla  vita  e  suUe  opere  di  Dom.  Cimaro6a< 
(Gazetta  musicale  di  Milano  1900—1901). 

14* 


212  Gegenströmungen 

fange  Beethovens    im  Himmel   neben  Bach,   Händel    und  Haydn  den 
Cimarosa  auftreten. 

Der  Gewalt,  die  die  opera  huffa  und  die  Wahrheit  ihrer  Kunst 
auf  die  Gemüter  übte,  beugten  sich  auch  die  Komponisten,  denen 
sie  die  volle  Entfaltung  ihrer  Gaben  nicht  ermöglichte.  Auch  die 
Meister  der  Renaissanceoper,  wie  Traetta,  Jommelli,  arbeiteten  für 
die  bürgerliche  Oper;  ja  auch  unser  Gluck  hat  in  Wien  mitten  in 
der  Reform  eine  ganze  Reihe  lustiger  Stücke,  zum  Teil  auf  fran- 
zösische Texte  komponiert,  die  sich  weit  mehr  verbreiteten  als  seine 
Reforraopern.  Die  bekanntesten  sind:  :»Le  Cadl  dupe*  und  »Cythere 
assiegee«.  Vom  Auftreten  Piccinis  ab  wird  auf  den  italienischen 
Hauptbühnen  die  Renaissanceoper  in  den  Hintergrund  gedrängt,  bei 
einzelnen  verschwindet  sie  jahrelang  vollständig,  auch  in  Deutschland. 
Überall  wird  über  den  schwachen  Besuch  der  italienischen  großen  Oper 
geklagt.  In  Stuttgart  werden  Soldaten  in  Zivil  in  die  Oper  kom- 
mandiert; in  Cassel  erscheinen  Spottgedichte.  Ope7'e  huffe  aber  ent- 
stehen jährlich  sechzig  bis  siebzig.  Man  holt  Komponisten,  die  sich 
auf  diese  Gattung  verstehen,  auf  die  deutschen  Kapellmeisterposten; 
so  kommt  1763  Fiorillo  nach  Kassel.  Das  Publikum  wird  nicht  satt, 
diese  Bilder  aus  einer  Welt  zu  sehen,  die  es  wirklich  kannte.  In 
Berlin  wird  die  »Buona  figliiiola^  Piccinnis,  als  sie  bekannt  wird,  in 
vierzehn  Tagen  siebenmal  gegeben;  in  München,  in  Dresden,  Nürn- 
berg sind  die  Galuppi,  die  Latilla,  die  Cocchi,  Lampugnani  mit  ihren 
Farsetten,  mit  ihren  heiteren  Opern  an  der  Tagesordnung".  Höchstens 
zum  Hoffest  oder  als  Ausnahme  im  Karneval  findet  noch  einmal 
eine  opera  seria  eine  Zuhörerschaft.  Die  Gattung  an  sich  war  so 
beliebt,  daß  man  nach  den  Komponisten  gar  nicht  fragte;  die  alten 
Verzeichnisse  nennen  sie  in  vielen  Fällen  gar  nicht;  nur  mühsam 
kann  man  heute  einen  Teil  davon  feststellen.  Wo  die  einheimischen 
Sänger  sich  nicht  in  den  leichten  Ton  der  neuen  Gattung  finden,  da 
kommen  flugs  italienische  Buffonisten  über  die  Alpen  und  lehren 
auch  bald  den  Vertretern  der  opera  seria  das  Wandern.  Locatelli 
und  Mingotti  errichten  ihre  Reisetruppen.  Die  Haupt  Wirkung  der 
opera  huffa  auf  Deutschland  war  aber  die,  daß  sie  uns  endlich  die 
eigene  deutsche  Oper  brachte,  wenn  auch  nur  in  der  bescheidenen 
Form  des  Singspiels.  Deutschland  war  vom  Anfange  des  18.  Jahr- 
hunderts ab  in  der  Oper  vollständig  zur  italienischen  Provinz  ge- 
worden. Hasse  war  keineswegs  der  einzige  Deutsche,  der  italienische 
Opern  schrieb.  Neben  ihm  ist  da  noch  Heinrich  Graun  ^  zu  nennen, 
der  Kapellmeister  Friedrichs  des  Großen ;  seine  bedeutendsten  Werke 
sind  der  ^  Lucio  Papirio<  und  die  •>  Bodelinda  <^ .  Die  Stärke  Grauns 
liegt  in  den  Rezitativen,  die  ungewöhnlich  schön  deklamieren;  in  der 
Wiedergabe    großer   Szenen   gelingen   ihm   am  besten  die  Bilder  aus 


1  A.Mayer-Reinach:  »Heinrich  Graun«  iSbd.  d.  IMG  1911,  S.  486  fif,). 
Im  Neudruck  ist  veröffentlicht  Grauns  Montezuma  ;Dd.  T.,  Bd.  lö]. 


Das  deutsche  Singspiel  213 

dem  Seelenleben  der  Frauen.  Solcher  Musterstücke  enthält  nament- 
lich die  •*  Rodelinda <(•  mehrere.  In  der  Form  zeigen  die  Opern  Grauns 
das  Bestreben,  in  größerem  Zug  zusammenzufassen.  Nach  Hasse  ist 
sein  Dresdner  Amtsnachfolger  Gottlieb  Naumann^  beachtenswert, 
weil  er  der  erste  ist,  der  sich  von  Gluck  tiefer  berührt  zeigt.  Wir 
haben  in  Deutschland  auch  eine  Zeit  der  Verstimmung  gegen  alle 
italienischen  Opern  durchgemacht,  eine  Verstimmung,  die  an  Mar- 
cellos *Teatro  alla  moda*  anknüpfte  und  namentlich  durch  Gott- 
sched'^ zum  Ausdruck  kam.  In  allen  diesen  Dingen  waren  wir  ganz 
getreue  Vasallen  gewesen;  jetzt,  unter  der  Einwirkung  der  opera 
buffa,  wurden  wir  plötzlich  selbständig.  Die  Natürlichkeit  und 
Schlichtheit  dieser  Kunst  ließ  keine  Scheu  und  Befangenheit  auf- 
kommen, sie  weckte  Mut  und  Lust  auch  bei  den  Komponisten,  die 
auf  die  Renaissanceoper  nur  mit  Beklommenheit  blickten. 

Den  Anfang  mit  dem  deutschen  Singspiel  macht  Berlin.  Hier 
komponiert  C.  Standfuß ^,  ein  Orchestermusiker  mit  großem  humo- 
ristischen Talent,  im  Jahre  1743  ein  Stück  mit  dem  Titel  »Der  Teufel 
ist  los«,  das  seine  Anregungen  allem  Anscheine  nach  aus  der  Lon- 
doner >Beggars  Ope7'a^  erhalten  hat.  Es  ist  eine  Ehestandsposse  im 
Vorstadtton,  die  lange  noch  auf  den  Hanswurstbühnen  hin  und  her 
gewendet  wird.  In  Wien  kommt  sie  in  Haydns  erster  Zeit  unter 
dem  Titel:  »Die  verwandelten  Weiber-  vor.  Schon  in  den  vierziger 
Jahren  setzte  sich  auf  Grund  von  Standfuß  in  Hamburg  ein  deut- 
sches Singspiel  fest.  Durch  die  Kochsche  Truppe,  bei  der  Standfuß 
in  Berlin  gespielt  hatte,  lernten  Joh.  Ad.  Hiller-*  und  Christian 
Felix  Weiße,  der  Freund  Lessings,  in  Leipzig  das  Stück  kennen, 
arbeiteten  es  um  und  eröffneten  eine  Blütezeit  des  Singspiels  in 
Deutschland,  die  von  1764  bis  in  den  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
gedauert  hat. 

Die  italienische  opera  huffa  hat  Rezitative  und  den  vollständigen 
Apparat  der  Oper;  sie  verfügte,  wenn  auch  nicht  über  Virtuosen 
höchsten  Ranges,  doch  über  tüchtig  geschulte  Sänger.    Das  deutsche 


1  A.G.  Meißner:  »Bruchstücke  zur  Biographie  G.  Naumanns«.  "Wien 
1814;  »Biographie  von  J.  Gottlieb  Naumann«  (31.  — 33.  Neujahrsstück  der 
Allg.  Musikgesellschaft  in  Zürich,  1843—45).  »Des  sächsischen  Kapell- 
meisters J.  G.  Naumann  Jugendgeschichte«,  Dresden  1844;  M.  J.  Nestler: 
>Der  kursächsische  Kapellmeister  J.  G.  Naumann  aus  Blasewitz«,  Dresden 
1901;  R  Engländer:   »J,  G.  Naumann  als  Opernkomponist«,  Leipzig  191H. 

2  E.  Reichel:    »Gottsched  und  Scheibe«.     Sbd.  d.  IMG  II,  S.  654  fl". 

3  G.  Calmus:  »Die  ersten  deutschen  Singspiele  von  Standtuß  und 
Hiller«,  Leipzig  1908;  J.  Bolte:  »Die  Singspiele  der  englischen  Komö- 
dianten und  ihre  Nachfolger  in  Deutschland«,  Hamburg  1893. 

4  Karl  Peiser:  » J.  A.  Hiller«  (Ein  Beitrag  zur  Musikgeschichte  des 
18.  Jahrhunderts),  Leipzig  1894;  H.  M,  Schletterer:  »Das  deutsche  Sing- 
spiel von  seinen  Anfängen  bis  auf  die  neueste  Zeit«,  Augsburg  1863  und 
J.  F.  Reichardt:    »Über  die  deutsche  komische  Oper«,   Hamburg  1774. 


214  Gegenströmungen 

Singspiel  dagegen  war  auf  Schauspieler  angewiesen.  Jedes  Mitglied 
der  Truppe,  das  etwas  Stimme  hatte,  mußte  auch  Partien  im  Sing- 
spiel gegen  eine  geringe  Entschädigung  übernehmen.  In  Rücksicht 
darauf  schrieb  Hiller  seine  Lieder  in  den  Singspielen  so  leicht  wie 
möglich.  Aber  damit  traf  er  unabsichtlich  auch  das,  was  das  Publi- 
kum wollte.  Gleich  aus  dem  ersten  Stück,  der  Neubearbeitung  des 
Werkes  von  Standfuß,  verbreitete  sich  das  Lied  der  Lene:  »Ohne  Lieb 
und  ohne  Wein«  durch  ganz  Deutschland,  es  wurde  auch  in  fremde 
Sprachen  übersetzt.  Als  Weiße  später  die  Texte  seiner  komischen 
Opern  herausgab,  schrieb  er  in  der  Vorrede:  »Alle  Gesänge,  die  bei  der 
Vorstellung  gefielen,  waren  bald  in  aller  Munde,  machten  einen  Teil 
des  gesellschaftlichen  Vergnügens  aus  und  gingen  zu  dem  gemeinen 
Volk  über.  Man  hörte  sie  auf  den  Gassen,  in  den  Wirtshäusern  und 
auf  den  Haui^twachen,  in  der  Stadt  und  auf  dem  Lande,  von  Bürger- 
und Bauernvolk  singen.«  Nie  vorher  und  nachher  ist  von  der  Bühne 
her  eine  so  starke  Einwirkung  auf  die  allgemeine  musikalische  Ent- 
wicklung erfolgt,  wie  durch  Hillers  Singspiele  in  Deutschland.  Erst 
durch  sie  bekamen  die  Bestrebungen  der  Berliner  Liederschule  ihren 
Halt,  und  durch  Hiller  ward  eine  Lust  am  Gesang  und  Lied  ent- 
facht, wie  sie  Deutschland  seit  der  Reformationszeit  nicht  wieder 
erlebt  hatte.  Der  gewaltige  Zug  zur  Einfachheit,  der  von  hier  aus- 
ging, erfaßte  auch  die  Instrumentalmusik  und  hat  nicht  unwesent- 
lich darauf  hingewirkt,  daß  Haydn  in  seinen  späteren  Sinfonien  den 
volkstümlichen  Ton  anschlug,  der  heute  noch  so  an  ihnen  gefällt. 
An  der  Verbreitung  des  Singspiels  haben  aber  auch  die  Weißeschen 
Dichtungen  ein  großes  Verdienst.  Es  sind  Bilder  aus  dem  Land- 
leben, rein  und  herzensgut,  ohne  Malice  und  Übertreibung.  Nur  in 
einem  Punkte  zeigen  sie  Tendenz:  In  vielen  dieser  Stücke  w^ird  einer 
Unschuld  vom  Dorfe  durch  den  Gutsherrn,  durch  seinen  Sohn,  oder 
durch  einen  Laffen  aus  der  Stadt  nachgestellt.  Sie  richten  also  eine 
starke  Spitze  gegen  den  Adel  und  seine  Sünden,  sie  sind  eine  wich- 
tige Illustration  zur  politischen  Geschichte  der  Zeit:  der  dritte  Stand, 
für  den  sie  geschrieben  waren,  legt  in  diesen  einfachen  Singspielen 
seine  Beschwerden  vor,  trifft  die  ersten,  leisen  Vorbereitungen  zur 
Emanzipation. 

Die  Musik  begnügt  sich  in  der  ersten  Zeit  mit  Einlagen ;  erst 
später  nähert  sie  sich  mehr  dem  Charakter  der  Oper.  Da  eröffnet 
denn  eine  Sinfonie  von  drei  Sätzen  das  Ganze.  Neben  den  volks- 
tümlichen Liedern  erscheinen  Duette,  Terzette,  die  Akte  schließen 
als  Nachahmung  der  italienischen  Finales  mit  Quodlibet-Chören.  Zur 
Charakteristik  der  Stände  bedient  sich  Hiller  zweier  Formen,  Lieder 
für  die  Bauern,  regelrechter  Arien  für  den  Adel.  Neben  dem  Talent 
für  das  Empfindsame,  das  die  Zeit  liebte,  besitzt  Hiller  noch  hervor- 
ragende Gaben  für  die  verschiedenen  Spielarten  des  Komischen.  Mit 
höheren  Anforderungen,  mit  dem  Maßstab,  aus  den  italienischen 
Meisterwerken    der  Hasseschen  Schule   genommen,    darf  man  jedoch 


Das  deutsche  Singspiel  215 

nicht  an  ihn  herantreten.  Die  beliebtesten  seiner  Opern  wurden 
»Lottchen  am  Hofe«,*  »Die  Liebe  auf  dem  Lande«,  »Der  Erntekranz«, 
»Die  Jagd«  ^  und  die  beste  Zeit  der  Singspiele  Hillers  kam,  als  in 
Leipzig  das  neue  Theater  am  Rannischen  Tore  auf  der  Bastei  er- 
öffnet wurde.  Das  geschah  am  10.  Oktober  1766.  Hier  hat  auch 
Goethe  die  Hillerschen  Operetten  gesehen. 

Mehr  Leidenschaft  und  Kraft  als  Hiller  besitzt  Georg  Ben  da, 
der  sogenannte  Gothaer  Benda.^  Seine  Hauptwerke,  denen  Dichtungen 
von  Gotter  zugrunde  liegen,  sind:  »Der  Dorfjahrmarkt«,  »Der  Holz- 
hauer«, »Romeo  und  Julia«.  Benda  hat  die  Italiener  studiert  und 
ist  ein  wirklich  dramatisches  Talent,  feurig,  energisch,  in  den  Formen 
frei  und  groß.  Der  »Dorfjahrmarkt«  mit  seinem  Leben  und  seiner 
Frische  würde  in  den  meisten  Szenen  heute  noch  lebensfähig  sein, 
»Romeo  und  Julia«  wirkt  in  den  schönen  Orchestermalereien  ganz 
modern-romantisch.  Noch  wäre  sein  »Walder«  zu  erwähnen  —  es 
ist  eine  ernsthafte  Geschichte  in  einem  Akt,  in  der  Art  der  »Caval- 
leria«,  nur  nicht  so  blutig.  Jedenfalls  ist  Benda  von  allen  Ver- 
tretern des  damaligen  Singspiels  in  Deutschland  der  bedeutendste, 
der  reichste  und  der  gebildetste.  Am  nächsten  kommt  ihm  unter 
den  Norddeutschen  Gottlob  Neefe^,  ein  direkter  Schüler  Hillers. 
Sein  bekanntestes  Werk  ist  »Der  Apotheker«,  sein  wichtigstes  »Adel- 
heid von  Veitheim«.  Es  gehört  zu  der  romantischen  Richtung,  der 
wir  bei  den  Italienern  seit  Cerlone  begegnen.  Schauerszenen  mit 
Melodramen  geben  ihm  seinen  Charakter.  Auch  Bendas  Berliner 
Neffe  Friedrich  ist  mit  seinen  Singspielen  bemerkenswert.  Sie  be- 
zeugen wie  die  des  Gothaer  Benda,  daß  die  Gattung  sich  über  Hiller 
zu  heben  suchte,  und  daß  die  Komponisten  mehr  und  mehr  die  ita- 
lienischen Buffokomponisten  zum  Muster  nahmen.  Neben  ihnen  sind 
noch  zu  nennen:  Schuster  in  Dresden,  Wolf  in  Weimar.  Wenn 
die  Beliebtheit  des  Singspiels  in  Norddeutschland  noch  eines  Beweises 
bedurfte,  würde  er  darin  zu  finden  sein,  daß  auch  Dilettanten  unter 
den  Komponisten  auftraten.  Von  ihnen  wurde  der  preußische  Leut- 
nant von  Baumgarten  besonders  beliebt. 

Durch  das  Interesse  Josephs  II.  fand  das  deutsche  Singspiel 
namentlich  in  Wien  einen  dankbaren  Boden.  Er  war  in  Brunn  auf 
das  Singspiel  aufmerksam  geworden  und  gibt  darauf  1777  sofort  die 
Weisung,    in  Wien  ein  deutsches  Singspiel  zu  errichten.     »Ich  will« 


1  Arme  Dilettanten  schreiben  »die  Jagd«  ab,  z.  B.  der  Vater  von  Kohl- 
rausch. Vgl.:  Fr.  Kohlrausch:  »Erinnerungen  aus  meinem  Leben«,  Han- 
nover 1863,  S.  6. 

2  R.  Hodermann:  »G.  Benda«,  Gotha  1895;  F.Brückner:  »G.  Benda 
und  das  deutsche  Singspiel«  (Sbd.  d.  IMG  V,  S.  571  ff.) 

8  E.  Segnitz:  »Goethe  und  die  Oper  in  Weimar«,  Langensalza  1908; 
E.Böttcher:  »Goethes  Singspiele  und  die  Opera  buffa«,  Marbur  1912. 
Heinr.  Lewy:  »Chr.  G.  Neefe«,  Rostock  1902. 


216  G-egenströmungen 

—  heißt  es  —  »versuchen,  wie  unser  Publikum  den  deutschen  Ge- 
sang aufnimmt.  Umlauf  hat  eine  kleine  Operette  komponiert,  suchen 
Sie  dieselbe,  sobald  Sie  können,  in  Szene  zu  setzen.  Sie  besteht 
nur  aus  vier  Personen  und  einigen  Choristen  —  die  Choristen  suchen 
Sie  aus  den  Kirchen  zusammen.  Halten  Sie  fleißig  Proben.«  So 
kommen  denn  am  16.  Januar  1778  Umlaufs  » Bergknappen «^  zur 
Aufführung,  bald  folgt  Benda,  ins  Jahr  1782  fällt  Mozarts  »Ent- 
führung«. Der  Hauptvertreter  wurde  Karl  Ditters  vonDitters- 
dorf.2  Durch  seinen  »Doktor  und  Apotheker«  kennt  die  Gegenwart 
die  Gattung  noch.  Dieses  Werk  ist  uns  als  Kulturbild  wertvoll,  es 
bildet  die  Ergänzung  zu  Goethes  »Hermann  und  Dorothea«  nach  der 
philiströsen  Seite.  Trotzdem  ist  Dittersdorf  doch  kein  recht  geeig- 
neter Vertreter  für  das  Wesen  des  deutschen  Singspiels,  weil  er  es 
nicht  ernst  nimmt  und  es  karikiert.  Mit  einer  Liebe  wie  Benda  hat 
er  sich  dieser  Welt  der  Kleinbürger  niemals  hingegeben ;  sein  Trachten 
ging  auf  die  große  italienische  Oper,  wie  das  Mozarts.  Unter  seinen 
rein  komischen  Singspielen  ist  noch  »Hieronymus  Knicker«  hervor- 
zuheben, am  interessantesten  sind  die,  welche  zur  Romantik  neigen: 
»Der  Betrug  durch  Aberglauben«,  der   »Schatzgräber«. 

In  Österreich  sinkt  das  Singspiel  sehr  schnell  und  gibt  alle 
höheren  Ziele  auf.  Nicht  Hebung  des  Yolksgeistes,  sondern  Befrie- 
digung der  niedrigsten  Instinkte  —  das  ist's,  worauf  diese  Dichter 
und  Komponisten  hinarbeiten.  Diese  Stufe  bezeichnet  am  schärfsten 
Wenzel  Müll  er  3.  In  seiner  »Teufelsmühle«,  in  seiner  »Zauber- 
zither« haben  wir  die  gewöhnlichste  ^auberposse  mit  Gassenhauern 
und  Schreckszenen,  die  im  Lächerlichen  enden.  Müller  besaß  ein 
frisches  Talent  und  eine  musikalische  Bildung,  die  für  große  Auf- 
gaben ausreichte,  er  war  aber  der  Mann,  sich  dieser  Vorzüge  gänzlich 
zu  entäußern. 

Die  Hoffnung  auf  eine  wirkliche  deutsche  Oper  war  in  einzelnen 
Geistern  immer  wach  geblieben.  1749  schreibt  Scheibe:  »Wir 
könnten  eine  so  gute  Oper  haben  wie  die  Italiener  und  Franzosen, 
wenn  tüchtige  Dichter  wirkliche  musikalische  Dramen  schreilDcn 
wollten.«  Er  schreibt  auch  gleich  eine  »Thusnelda«,  die  aber  keinen 
Komponisten  gefunden  hat.  Durch  die  Erfolge  des  deutschen  Sing- 
spiels erwachte  auch  der  Gedanke  an  eine  nationale  deutsche  Oper 
wieder.  Über  die  ersten  Versuche  ihn  zu  verwirklichen,  hat  uns 
der  Maler  Friedrich  Müller,  ein  bekannter  Vertreter  der  Sturm-  und 
Drangperiode,  in  einem  ziemlich  unbekannt  gebliebenen  Werkchen, 
das    den   Titel    führt    »Abschied   von   der    Schaubühne«,    mancherlei 


1  Neudruck  in  den  Denkmälern  d.  T.  in  Österreich,  XVIII,  1. 

2  e.V.  Dittersdorf:  »Lebensbeschreibung  seinem  Sohne  in  die  Feder 
diktiert«,  Leipzig  1801;  L.  ßiedinger:  »C.  v.  Dittersdorf  als  Opernkom- 
ponist«, Leipzig  und  Wien  1914. 

3  W.  Krone:  »Wenzel  Müller«,  1906. 


Vom  Singspiel  zur  Oper  217 

berichtet.  Eine  Dichtung  Müllers,  »Niobe« ,  die  er  als  lyrisches 
Drama  veröffentlicht  hat,  sollte  als  Oper  komponiert  werden.  Kein 
Wunder  darum,  daß  sie,  wie  das  Konversationslexikon  von  Brock- 
haus tadelnd  bemerkt,  auf  uns  opernhaft  wirkt.  Daniel  Schubart, 
der  Gefangene  vom  Hohenasperg,  hatte  ihn  dazu  veranlaßt:  »Du 
mußt  eine  Oper  machen  —  schreibt  er  1775  an  ihn  — ,  teutschen 
Inhalts  und  teutscher  Kraft.«  Das  ist  eine  Tatsache,  die  uns  einen 
Blick  öffnet  auf  einen  ganzen  Kreis,  in  dem  Hoffnungen  auf  die 
deutsche  Oper  gehegt,  und  die  Vorurteile,  die  Gottsched  eine  Zeit- 
lang aufgebracht  hatte,  begraben  wurden.  »Im  musikalischen  Drama 
—  schreibt  Müller  einmal  —  schließt  sich  das  Feld  für  die  Pflegung 
der  schönsten  und  nachhaltigsten  Kunstblüten  auf.  Gegenstände 
aus  der  Fabel-,  Heroen-  und  Patriarchenwelt  eignen  sich  am  besten 
für  den  Vortrag  im  musikalischen  Drama  .  •  .,  ^um  idealischen 
Vortrag,  dem  das  Wunderbare  der  Handlung  sich  genau  anschließt, 
überhaupt  Gegenstände,  bei  denen  der  Ausdruck  des  reinen  Natur- 
gefühls nicht  durch  Konventionelles  gestört  ist.« 

In  der  Ausführung  dieser  Pläne  gewann  Wieland  den  Vorsprung, 
obwohl  er  nicht  zu  den  Enthusiasten  gehörte  und  in  seinen  »Abde- 
riten«  die  Singspieldichter  arg  verspottet  hatte.  Noch  als  seine 
»Alceste«  schon  komponiert  war,  schreibt  er:  »Beinahe  erstaune  ich: 
eine  Oper  in  deutscher  Zunge,  in  der  Sprache,  worin  Kaiser  Karl  V. 
nur  mit  seinem  Pferde  sprechen  wollte,  von  einem  Deutschen  gesetzt, 
von  Deutschen  gesungen'  —  was  kann  man  Gutes  davon  erwarten!« 
Zugleich  aber  stieß  er  in  seinem  »Merkur«  von  1773  so  kräftig 
für  sein  Werk  in  die  Trompete,  daß  ihn  Goethe  mit  der  Farce 
»Götter,  Helden  und  Wieland«  abstrafte.  Auch  Herder  hat  ihm 
einen  Spottvers  gewidmet. 

Die  Anregung  zu  seiner  »Alceste«  scheint  Wieland  durch  die 
Herzogin  Amalie  von  Weimar  empfangen  zu  haben,  eine  warme 
Kunstfreundin  mit  selbständigem,  schöpferischem  Blick.  In  Weimar 
war  das  Singspiel  schon  in  den  vierziger  Jahren  heimisch  geworden, 
erst  durch  Schönemanns  Truppe,  die  es  aus  Hamburg  mitbrachte, 
dann  durch  Koch,  der  mit  seiner  Gesellschaft  das  meiste  für  die 
Einbürgerung  der  Gattung  in  Deutschland  getan  hat.  Der  Nach- 
folger Kochs,  Seyler,  kam  Ende  der  sechziger  Jahre  nach  Weimar, 
und  zu  ihm  stieß  im  Jahre  1769  ein  junger  Hildburghausener 
Musiker  Namens  Anton  Schweitzer 2  als  Musikdirektor.  Diesem 
wurde  die  Komposition  der  »Alceste«  übertragen.  1773,  am  28.  Mai, 
kam  die  Oper  zur  Aufführung,  nach  Wielands  Meinung    mit    einem 


»  Mara  (Schmehling),  die  später  berühmte  Berliner  Sängerin  wurde  in 
Kassel  zurückgewiesen,  weil  der  Kapellmeister  erklärte:  canta  come  una 
Tedesca. 

2  J.  Maurer:  >A.  Schweitzer  als  dramatischer  Komponist«,  Leipzig 
1912. 


218  G-egenströraungen 

beispiellosen  Erfolg.  In  der  Tat  scheint  das  Werk  Aufseilen  und 
Verlangen  erweckt  zu  haben.  Natürlich  genug  —  denn  seit  Fried- 
rich dem  Großen  verlangte  ein  neues  Nationalgefühl  auch  eine  neue 
Kunst,  die  der  ausländischen  mindestens  gleichstand,  es  verlangte 
neben  dem  bescheidenen  Singspiel  auch  ein  volles  deutsches  Musik- 
drama.  Die  »Alceste<:  hat  soviele  Aufführungen  nicht  erlebt,  wie 
Wieland  wenigstens  erwartet  hatte;  und  die  kleinen  Singspiele 
Schweitzers,  seine  »Dorfgala«  vor  allem,  haben  seinen  Namen  weiter 
verbreitet  als  diese  erste  deutsche  Oper,  wie  sie  stolz  genannt  wird. 
Aber  so  ganz  unbekannt  ist  sie  doch  nicht  geblieben,  als  Walter 
annimmt^.  Es  lassen  sich  nach  der  Weimarschen  noch  folgende 
Aufführungen  feststellen:  Gotha  1774,  Leipzig  1775,  Mannheim 
1775,  Dresden  1776,  Frankfurt  1777,  München  1779,  Berlin  1780. 
Das  bezeugt  doch  den  guten  Willen.  Wieland  stellte  die  Schweitzer- 
sche  Musik  über  die  von  Gluck  2.  Iffland  sagt  in  seiner  Selbst- 
biographie, die  Ouvertüre  dieser  Alceste  habe  ihn  zum  Dichter  ge- 
macht. Reichardt  dagegen  hat  die  Oper  1778  in  der  »Deutschen 
musikalischen  Bibliothek«  hart  verurteilt  und  Berlioz  hat  sich  ihm 
später  im  wesentlichen  angeschlossen.  Da  die  Partitur  1779  ge- 
druckt worden  ist,  um  diese  Zeit  eine  große  Auszeichnung,  der 
Klavierauszug  sogar  in  mehreren  Auflagen  vorliegt  (1774  erschien 
er  in  Leipzig  bei  Schwickert,  1786  ließen  ihn  Schweitzers  Freunde 
noch  einmal  in  Berlin  und  Libau  drucken  und  zwar  mit  einer 
Vorrede,  die  die  Reichardtsche  Kritik  das  Produkt  einer  verstimmten 
Clique  nennt),  kann  man  sich  leicht  ein  eigenes  Urteil  über  diese 
»Alceste«   bilden. 

Ein  richtiges  Wort  hat  Mozart  über  das  Werk  gesprochen;  er 
findet  den  Ausdruck  in  der  Musik  »übertrieben«.  Wieland  und 
Schweitzer  übertreiben  wegen  Mangel  an  Routine.  Wieland  sucht 
den  Metastasio  noch  mit  Bildern  zu  überholen :  »Nachen  in  empörter 
Flut,  zwischen  Klippen,  Donner  rollend,  aufgewühlte  Wogen  kochen« 
■ —  der  Leser  kann  diesem  Reichtum  an  Phantasie  kaum  folgen. 
Der  Dialog  ist  voll  Umständlichkeit,  gesucht  im  Ton  des  Herzlichen 
und  Zärtlichen,  die  Handlung  aber  ungeschickt  geführt.  Als  jeder- 
mann die  Alceste  schon  tot  glaubt,  kommt  sie  wieder,  um  mit  dem 
Admet  darüber  zu  streiten,  wer  von  beiden  sterben  soll.  Auch 
Schweitzer  übertreibt  in  der  Nachbildung  italienischer  Manieren.  In 
einer  Arie  der  Parthenia:   »Er  flucht  dem  Tageslicht«  läßt  er  hören: 


-(22- 


E 


^EÖEE 


ihm  Trost  zu        ge  -  ben  fand  ein     Gott,    ein     Gott     zu  schwach 


1  Friedr.  Walter:    »Gesch.    des  Theaters  und   der  Musik  am    kur- 
pfälzischen Hofe  in  Mannheim«,  Leipzig  1898. 

2  »Merkur«  1774. 


Albert  Schweitzers  >Alceste< 


219 


Das  ist  also  Ekstase,  die  Situation  ist  aber  die  der  Resignation. 
Das  auch  von  Mozart  gerühmte,  begleitete  Rezitativ:  »0  Jugend- 
zeit.« —  Jacoby  hat  es  sich  fünfmal  vorsingen  lassen  —  ein  schönes, 
weiches  Stück,  ist  über  das  Motiv: 


(=Ö=di 


i 


entwickelt. 
Schmerzen  < 


i^zj: 


i^ 


f 


Da    kommen   aber   die  Worte:    »der    schrecklichste  der 
und   wieder  verfällt  Schweitzer   in   südliche  Grimassen: 


K 


schreck-licli  -  ste      der  Schmerzen. 

Schweitzer  hat  seine  Schule  in  Baj^euth  bei  Kleinknecht  und  iii  der 
Provinz  gemacht  und  die  Italiener,  die  doch  eben  bei  allen  Fehlern 
und  Exzessen  die  einzigen  damals  vorhandenen  Muster  des  großen 
dramatischen  Gesangstils  waren,  nicht  genügend  kennen  gelernt. 
Als  Probe,  wie  weit  wir  auf  eigenen  Füßen  stehen  konnten,  war 
daher  die  »Alceste«  sehr  wichtig.  Der  Abstand  ist  bedeutend  ge- 
ringer geworden,  als  er  im  17.  Jahrhundert  zwischen  den  Liedern 
Alberts  und  den  Monodien  Caccinis,  zwischen  der  Hamburger  und 
der  venezianischen  Oper  war,  aber  er  ist  noch  nicht  ausgeglichen. 
Im  Instrumentalen  waren  wir  längst  im  Vorsiornng,  aber  im  Vokalen 
immer  noch  unfertig.  Gerade  wie  bei  Bach  und  Telemann  zeigt 
sich  auch  in  Schweitzers  Arien  Organisteneinfluß,  die  Instrumente 
drücken  die  Singstimme,  sie  wird  chormäßig  behandelt  oder  ver- 
wechselt Selbständigkeit  und  Gewalttätigkeit.  Das  Übermaß  des 
Ausdrucks,  an  dem  Mozart  Anstoß  nahm,  ist  uns  heute  sympathisch; 
Schweitzers  Rezitative  namentlich  berühren  uns  eminent  modern 
durch  die  bewegte  Modulation,  z.  B. : 
z.  B.     Alisse. 


-tf^f-'/ 


J:- 


-^E^ 


Re-de,     re  -  de,     bringst     du       Le-ben       o  -  der  Tod 


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Ruth. 

riz^,z_=- 

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Ach  Schwester            AVas    sagst  du, 

muß 

er    ster-ben? 

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220  Gregenströmungen 

In  den  geschlossenen  Sätzen  erfreut  eine  sehr  warme  Melodik, 
äußerlich  eigen  durch  die  vielen  Akkordfiguren.  Namentlich  Admet 
ist  sehr  schön  gezeichnet  als  eine  Jünglingsgestalt  in  der  Art  des 
Rinaldo  bei  Brahms  und  mit  denselben  Mitteln: 


i^^i^^r^^^f^f^Eiggi 


Wem  dank  ich  das  Le-ben,  wem  dank  ich  die  Won-ne     zum  zwei-ten 


m 


g^^ 


^m 


-/—''- 


Ma-le    ge  -  bo-ren,    ge  -  bo  -  ren     zu     sein. 

In  der  Wiedergabe  der  Grundstimmungen  ist  Schweitzer,  wo  dem 
Dichter  die  Szenen  gelungen  sind,  immer  bedeutend,  Gluck  sehr 
nahe.  Im  ganzen  kann  man  nur  sagen:  die  gebildeten  Laien,  die 
sich  auf  seine  Seite  stellten,  waren  im  Recht,  und  die  Musiker,  die 
ihn  verwarfen,  haben  ein  Talent  vernichtet  und  die  fJntwicklung  der 
deutschen  Kunst  aufgehalten. 

Von  den  obengenannten  Aufführungen  der  »Alceste«  ist  die 
Mannheimer  wichtig  geworden.  Mannheim  war  unter  Karl  Theodor 
und  Dalberg  ein  Hort  deutsch-nationaler  Bestrebungen  geworden. 
Karl  Theodor  bot  Lessing  die  Leitung  einer  deutsch -nationalen 
Schaubühne  in  Mannheim  an,  Lessing  aber  erklärte  ein  deutsch- 
nationales Theater  für  -eitel  Wind«.i  In  Mannheim  ist  Schiller 
entdeckt  worden.  Hier  fand  auch  Schweitzer  so  viel  Ermunterung, 
daß  man  an  eine  neue  große  Oper  ging.  Schon  1776  erhielt  Wie- 
land den  Auftrag  zu  einem  neuen  Text:  er  behandelteei  nen  Stoff 
aus  der  englischen  Geschichte.  Schweitzer  ging  gleich  an  die  Kom- 
position. Für  den  11.  Januar  1778  war  die  AufiÜhrung  dieser 
»Rosamunde«  bestimmt;  schon  waren  die  Proben,  denen  Mozart  mit 
großer  Befriedigung  beiwohnte,  im  Gange.  Da  starb  der  Kurfürst 
von  Bayern,  Karl  Theodor  wurde  der  Erbe,  die  »Rosamunde«  blieb 
liegen  und  ist  erst  1780  unter  wesentlich  veränderten  Verhältnissen 
aufgeführt  worden.  Die  Bedeutung  Mannheims  tür  das  Musikdrama 
Avar  mit  der  Übersiedelung  des  Hofes  nach  dem  undeutschen  Mün- 
chen zu  Ende.  Diese  Wendung  zerstörte  erfreuliche  Aussichten. 
Denn  schon  hatte  sich  neben  Schweitzer  ein  anderer  Komponist  mit 
einer  bedeutenden  Arbeit  in  den  Dienst  der  deutschen  Oper  gestellt, 
diesmal  eine  anerkannte  Autorität,  Ignaz  Holzhauer,  ein  Musiker, 
dessen  Werke  auch  in  Italien  bekannt  waren,  ein  gründlich  ge- 
schulter Meister. 

Auch  in  der  Wahl  des  Stoffes  war  dieser  »Günther  von 
Schwarzburg2«   ein  deutsches  Werk.    Ihr  Dichter,  Professor  Klein 


*  Brief  an  seinen  Bruder  Karl. 

2  Neudruck  in  den  Denkmälern  d.  T.  Bd.  8,9. 


Ignaz  Holzbauers  >Günther  von  Schwarzburg«  221 

in  Mannheim,  griff  keck  in  die  neuere  deutsche  Geschichte.  Der 
Held  ist  jener  bekannte  Graf  Günther  von  Schwarzburg,  den  die 
deutschen  Kurfürsten  Frankreich  und  dem  Papst  zum  Trotz  im  Jahre 
1349  zum  König  wählten.  Leider  ist  aber  die  Handlung  ganz  nach 
dem  alten  italienischen  Intrigenrezept  durchgeführt.  Schade  um 
die  Musik  Holzbauers,  die  man  wohl  ein  Meisterwerk  nennen  kann, 
allen  Empfindungen  gewachsen,  groß  besonders  an  Kraft,  klar  in 
den  Charakteren,  frei,  neu,  immer  lebendig  in  den  Formen,  mit  einer 
gewissen  VorlielDe  für  begleitete  Rezitative,  virtuos,  voll  Geist,  un- 
erhört reich  an  Details  in  der  Verwendung  der  Instrumente.  Mozart 
hat  diesen  Günther  wohl  in  sich  aufgenommen.  Der  Rudolf  dieser 
Mannheimer  Oper  ist  das  Vorbild  des  »Sarastro«,  und  auch  die 
Ouvertüre  zur  »Zauberfiöte«  hat  die  Anlage,  die  Unterbrechung  des 
Allegro  durch  ü/ae^^oso- Sätze  von  Holzbauer.  Im  Jahre  1793  hat 
Schröder  in  Hamburg  in  seinem  Konzert  zum  Besten  einer  Pensions- 
anstalt fürs  Theater  einzelne  Stücke  aus  dem  »Günther«  singen 
lassen.  Zur  Erinnerungsfeier  an  diese  Gründung  sang  man  1893 
eine  dieser  Arien  (es  ist  die  erste  der  Gräfin:  »Ihr  Rosenstunden«, 
und  keines  von  den  bedeutendsten  Stücken)  wieder  und  zwar,  wie 
die  Zeitungen  berichteten,  mit  »durchschlagendem  Erfolg«.  Zur 
ersten  Aufführung  des  »Günther«  waren  viele  Fremde  nach  Mann- 
heim gekommen,  die  Frankfurter  Kaufmannschaft  —  das  Stück 
spielt  in  Frankfurt  —  hatte  dem  Kurfürsten  2000  Gulden  für  den 
zweiten  und  dritten  Rang  geboten.  Er  ließ  melden,  die  Oper  würde 
unentgeltlich  gegeben.  Trotz  dieses  Interesses  hat  sie  sich  nicht 
weit  verbreitet;  sie  ist  in  Mannheim  ziemlich  zehn  Jahre  hindurch 
—  später  mit  ungenügenden  Kräften  —  wiederholt  worden,  auch 
Schiller  hat  1785  einer  Aufführung  beigewohnt;  sie  findet  sich 
außerhalb  des  Entstehungsortes  nur  in  Frankfurt,  München  und 
Kassel  (1785).  Zu  einer  vollen  Wirkung  hat  es  leider  der  Text 
nicht  kommen  lassen.  Der  Mannheimer  Anlauf  zur  großen  deutschen 
Nationaloper  ist  eine  Episode  geblieben:  erst  mit  Webers  »Euryanthe« 
hebt  sich  die  deutsche  Bühnenkomposition  bewußt  und  anhaltend 
über  die  Sphäre,  über  den  Stoff  und  die  Formen  des  Singspiels. 
Nicht  bloß  die  »Zauberflöte«,  auch  der  »Fidelio«  und  der  »Frei- 
schütz« gehen  noch  vom  Singspiel  aus.  Vor  diesem  Werk  haben 
wir  es  nur  mit  italienischen  Opern  deutscher  Komponisten  zu  tun, 
die  nachträglich  ins  Deutsche  übersetzt  sind.  So  Mozarts  »Idomeneo«, 
»Titus«,  »Don  Juan«,  »Figaro«,  »Cosi  fan  tutte«.  Schweitzers 
»Alceste«  und  Holzbauers  »Günther«  kamen  dem  Angriff'  zu  Hilfe, 
den  Gluck  auf  die  dichterische  Richtung  der  Italiener  gemacht 
hatte,  und  brachten  in  bezug  auf  diesen  Punkt  allmählich  ganz 
Deutschland  auf  seine  Seite.  In  der  Vorrede  zu  Naumanns  »Orpheus 
und  Euridike«,  die  1785  in  Kiel  im  Klavierauszug  gedruckt  wor- 
den ist,  heißt  es,  wie  bereits  erwähnt:  Coltellini  und  Calzabigi  seien 
die  einzigen    wahren  Operndichter   unter    den  Italienern;    Metastasio 


222  Gegenströmungen 

habe  den  Schauspielern  nur  singende  Marionetten  geliefert;  auch 
wird  da  ein  wahrer  Anteil  des  Chores  an  der  Handlung  gefordert. 
Aber  die  musikalischen  Ansichten  unserer  hervorragenden  Kompo- 
nisten blieben  noch  lange  die  der  italienischen  Schule.  Weder 
Gluck  noch  das  deutsche  Singspiel  waren  imstande,  einen  Ersatz  für 
die  großen  Formen  des  Sologesanges  zu  liefern,  welche  die  italie- 
nische Oper  für  die  dramatisch  bedeutenden  Szenen,  für  die  kriti- 
schen Augenblicke  des  Seelenlebens  ausgebildet  hatte.  Mozart, 
Dittersdorf,  ja  auch  W.  Müller  wollten  in  erster  Linie  als  Meister 
der  italienischen  Schule  angesehen  sein,  das  deutsche  Singspiel  war 
ihnen  Nebenarbeit.  So  hat  auch  Haydn^  in  seinen  alten  Tagen 
nichts  mehr  beklagt,  als  daß  seine  italienischen  Opern  nicht  viel 
über  Eisenstadt  und  Esterhaz  hinausgekommen  waren.  Diese  ita- 
lienischen Opern  Haydns  (im  ganzen  sind  es  über  ein  Dutzend)  ge- 
hören der  opera  seria,  der  Renaissanceoper  zur  kleinen  Hälfte,  der 
opera  huffa  zur  größeren  an.  Heute  sind  sie  in  der  Mehrzahl 
schwer  zugänglich,  denn  die  Fürsten  von  Esterhazy,  die  sie  im 
AutogTaph  besitzen,  gehören  zu  den  Sonderlingen,  die  aus  Furcht 
vor  Entwertung  ihre  Bibliothek  zuschließen.  Die  große  Menge 
muß  sich  begnügen,  Haydn  als  Dramatiker  aus  der  kleinen  Kantate 
»Ariadne  auf  Naxos«  zu  studieren,  die  neuerdings  dann  und  wann 
von  guten  Altstimmen,  wie  Hermine  Spies,  wieder  ins  Konzert  ge- 
bracht worden  ist,  und  das  Stück  genügt  zum  Respekt  vor  Haydns 
Begabung  für  dramatisch  große  Aufgaben.  Wer  etliche  seiner  vollen 
Opern  kennt,  wird  die  Klage  des  Komponisten  teilen.  Hervorzu- 
heben ist  unter  ihnen  sein  ^Orfeo*^  den  er  1794  für  London  ge- 
schrieben hat;  in  ihm  die  Partie  der  »Euridike«,  namentlich  ihre 
Sterbeszene.  Einfachheit  und  Energie  des  Ausdrucks  zeichnet  die 
Haydnschen  Opern  aus,  den  Komponisten  der  »Schöpfung«  und  der 
»Jahreszeiten«  merkt  man  aus  den  Tonmalereien  des  Orchesters  und 
aus  dem  Talent  für  drastische  Komik.  Darin  ist  sein  *  Orlando 
Paladino<^  [eroico-comico)  besonders  reich,  vielleicht  die  am  meisten 
Haydnsche  Oper  von  allen.  Ihre  Introduktion  mit  dem  mürrischen 
Mädchen,  dem  erschreckten  Vater  und  dem  hereindonnernden  und 
polternden  Eisenfresser  Radomonte,  der  den  versteckten  Orlando 
sucht,  ihre  Ouvertüre  mit  dem  Gegensatz  stolz  auffahrender  und 
schüchterner  Themen  gehören  zu  den  drolligsten  —  die  Zwischen- 
sinfonie, die  ein  wildes  Wetter  auf  Alcinens  Insel  schildert,  zu  den 
packendsten  Leistungen  aller  gleichzeitigen  Opernkunst. 

Dieser  »Orlando  Paladino«  ist  die  einzige  von  Haydns  Opern, 
die  in  den  neunziger  Jahren  häufiger  auf  den  deutschen  Bühnen 
erscheint;  als  »Rasender  Roland«  oder  »Ritter  Roland«,  in  deutscher 
Übersetzung  also,  findet  sie  sich  in  Kassel,  Mannheim.  In  Dresden 
wird   sie    italienisch   gegeben.     Daneben   kommt  noch   vereinzelt,  in 


•  L.  Wend schuh:  »Über  J.  Haydns  Opern«,  Halle  1896. 


Die  nationale  Oper  in  den  nordischen  Ländern  223 

Nürnberg  z.  B.,  »Der  krumme  Teufel«  vor  und  unter  dem  Titel 
»Ochsenmenuett«  ein  deutsches  Singspiel  des  Meisters.  Dieses 
»Ochsenmenuett«  ist  aber  keine  Originalkompositiou,  sondern  ein 
Pasticcio,  das  Georg  von  Seyfried  aus  beliebten  Werken  Haydns 
zusammengestellt  hat.  Diese  Unfreundlichkeit  gegen  Haydns  Opern 
steht  im  Widerspruch  zu  der  Beliebtheit,  die  Haydns  Sinfonien  und 
Quartette  sofort  fanden.  Sie  erklärt  sich  zu  einem  Teil  daraus,  daß 
Haydn,  obwohl  er  italienisch  komponierte,  in  Italien  selbst  unbe- 
kannt war,  die  Mühe  aber  seine  Texte  zu  übersetzen  nahm  man 
sich  nicht,  zum  Teil,  weil  sie  so  schwach  waren,  zum  andern,  weil 
man  durchs  deutsche  Singspiel  über  den  Bedarf  hinaus  gedeckt  war. 

Die  nationale  Bewegung,  zu  der  Schweitzer  und  Holzbauer  an- 
setzten, ist  in  den  neunziger  Jahren  nach  Skandinavien  getragen 
worden.  Ihr  Hauptvertreter  wurde  dort  Friedrich  Kunzen  aus 
Lübeck,  wo  die  Kunzens,  die  aus  Sachsen  stammten,  eine  musi- 
kalische Dynastie  bildeten,  die  auch  Mecklenburg  mit  beherrschte. 
Kunzen  hat  die  heutige  Stellung  der  Skandinavier  in  der  Musik 
mit  einem  Dutzend  Opern  begründet,  die  der  dänischen  Geschichte 
und  Sage  entnommen  sind.  Das  Hauptwerk  ist  sein  •» Holger  Danske< 
oder  »Oberon«,  die  Arbeit  eines  Musikers  von  wunderbarer  Selb- 
ständigkeit, eines  Tonsetzers,  den  man  den  nordischen  Cherubini 
nennen  kann.  Es  sind  Ideen  und  Melodien  darin,  die  in  jener  Zeit 
bei  keinem  zweiten  vorkommen.  Kunzen  verwendet  nationale  Balladen, 
er  gibt  dem  »Oberon«  ein  Leitmotiv,  er  schreibt  eine  Ouvertüre, 
die  das  ganze  Drama  vorausspiegelt  —  wie  in  Webers  »Oberon« 
ist  in  ihr  ein  langer,  geheimnisvoller  Hornton  der  bedeutsamste  Zug; 
er  ist  ein  Meister  des  Elegischen  und  der  romantischen  Sentimen- 
talität, ohne  alle  Manier,  der  interessanteste  und  edelste  unter  den 
Vertretern  der  damaligen  Märchenoper. 

Den  Dänen  schlössen  sich  die  Schweden  an;  sie  ließen  sich 
mangels  eigener  Kräfte  G.  Naumann  aus  Dresden  kommen.  Er  hat 
dort  seinen  »Gustav  Wasa«  und  seine  »Cora«  komponiert.  Diese 
»Cora«,  1780  zur  Eröffnung  des  neuen  Theaters  in  Stockholm  ge- 
schrieben, in  Klavierauszügen  über  den  deutschen  Norden  ungemein 
stark  verbreitet,  hat  seinen  späteren  Ruf  begründet,  obwohl  die 
sehr  spießbürgerliche  Musik  hinter  dem  bedeutenden,  an  großen, 
erschütternden  Szenen  reichen  Text  beträchtlich  zurücksteht. 

Ziemlich  um  dieselbe  Zeit,  wo  bei  uns  in  Deutschland  Hiller 
bedeutend  wird,  versuchen  auch  die  Engländer,  die  mit  ihrer  »Beg- 
gar's  Opera*  ja  das  erste  Signal  zur  Emanzipation  gegeben  hatten, 
energischer  das  Joch  der  italienischen  Oper  abzuschütteln.  Die 
Hauptführer  der  englischen  Bewegung  sind  Arne,  Dr.  Arnold,  Dib- 
din,  Storace,  Shield.  und  Bishop,  der  bedeutendste  unter  ihnen  ist 
Bishop,  die  erfolgreichsten  sind  Dibdin  und  Storace,  beide  Sänger  von 
Fach.  Namentlich  Dibdins  *  The  Maid  of  the  MilU  und  Storaces  *No 
song  no  supper^   haben  sich  sehr  lange  gehalten;  auch  die  Italiener 


224  Gegenströmungen 

scheinen  von  »iVb  song  no  supper ^  Notiz  genommen  zu  haben; 
man  findet  es  auf  italienischen  Bibliotheken.  Selbständig  sind  diese 
englischen  Opern  nicht;  nach  den  Dichtungen  teilen  sie  sich  in 
bürgerliche  Komödien,  Dorfidyllen  und  in  Zauberstücke.  Musika- 
lisch ähneln  sie  den  Hillerschen  Singspielen  mit  Benutzung  eng- 
lischer Balladen  und  mit  hübschem  Talent  für  Komik;  die  Abhängig- 
keit von  den  Vorbildern  der  opera  huffa  geht  bis  zur  Einmischung 
italienischer  Arietten.  Wie  im  wesentlichen  der  ranzen  ensflischen 
Kunst,  ist  auch  dieser  englischen  Oper  des  ausgehenden  18,  Jahr- 
hunderts die  Beschränkung  aufs  Gemeinverständliche  Segen  und 
Verderb  zugleich  gewesen.  Die  Komponisten  haben  es  ersichtlich 
tlarauf  angelegt,  mit  allen  geschlossenen  Nummern  zugleich  der 
Hausmusik  geeignete  Stücke  zu  bieten.  Das  gelang  ihnen  voll- 
ständig. Eine  Arie  -»Poor  Jacki.  aus  einem  Singspiel  Dibdins  ist 
einmal  aufs  erste  Angebot  in  17  000  Exemplaren  verkauft  worden. 
Aber  eine  höhere  dramatische  Entwicklung  der  englischen  Oper  war 
damit  ausgeschlossen  i. 

Die  wichtigsten  allgemeinen  Folgen  hat  der  Nationalitäten- 
kampf in  der  Oper  durch  den  Verlauf  gehabt,  den  er  in  Frank- 
reich nahm. 

Hier  in  Frankreich  ^  war  der  Renaissanceoper  am  frühesten, 
schon  am  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  ein  ernster  Widerstand  ent- 
gegengetreten. Da  sich  aber  dieser  Widerstand  auf  ausländische, 
leicht  wiegende  Musik  stützte,  auf  die  -»Fetes  Venetiennes  <i  und  an- 
dere Nachbildungen  der  Venezianischen  Intermedien,  hatte  ihn  ein 
Meister  wie  Rameau  leicht  gebrochen.  Nun  kamen  einheimische 
Versuche,  der  tragedie  lyrique  eine  musikalische  Komödie  entgegen- 
zusetzen. Sie  sind  vertreten  in  Monnets  »Ämours  de  Ragonde«-^ 
oder  in  seinen  »Soirees  de  Village«:,  durch  Clements  »La  Bohe- 
miemie<^,  durch  Rameaus  ■»Piatee«- ^  fanden  aber  nicht  viel  Beach- 
tung, weil  sie  zu  schwerfällig  waren.  Als  aber  jetzt  von  auswärts, 
dann  von  einheimischen  Schriftstellern  wie  Rousseau  und  Grimm 
soviel  über  die  neue  Kunst  der  neapolitanischen  opera  huffa  berichtet 
wurde,  kam  den  Parisern  die  Neugier,  und  sie  zwangen  die  Inten- 
dantur, sie  damit  bekannt  zu  machen.  So  wurde  denn  ein  Trupp 
italienischer  BufPonisten,  die-  eben  auf  der  Rückkehr  aus  Deutsch- 
land sich  Essen  und  Trinken  in  den  französischen  Provinzen  er- 
singend nach  Ronen  wandern  wollten,  aufgegriffen  und  engagiert. 
Dienstag  den  I.August  1752  traten  sie  zum  ersten  Male  in  der  feierlichen 
Äcademie  de  musique  auf  und  spielten  Pergolesis  »La  serva padrona* 


1  Vgl. :  J.  Bolte  a.  a.  0. 

2  A.  Soubies  et  Ch.  Malherbe:  >Histoire  de  Topera  comique«,  Paris 
1892;  A.  Font:  »Favart  l'opera  comique  et  la  coraedie  vaudeville  en  XVII 
et  XVIII  sifecle«,  Paris  1894;  E.  Hirschberg:  »Die  Enzyklopädisten  und 
die  französische  Oper  im  18.  Jahrhundert<,  Leipzig  1903. 


J.  J.  Rousseaus  »Devin  du  village«  225 

—  ohne  Erfolg.  Die  Italiener  waren  befangen,  dem  Publikum 
waren  die  Rezitative  zu  lang,  die  wundervollen  Charakterbilder  der 
Arien  verstand  man  nicht.  Die  Buffonisten  kürzten  dann,  und  da 
wuchs  der  Beifall  mit  jeder  Wiederholung,  bis  ganz  Paris  von  der 
opera  huffa  entzückt  war  und  nicht  genug  davon  hören  konnte. 
Die  Signora  Tonelli,  die  Herren  Monelli  und  Cosini  wurden  wie 
höhere  Wesen  gefeiert,  sie  mußten  die  Woche  dreimal  auftreten, 
Haus  und  Kasse  immer  voll,  und  das  ging  fast  zwei  Jahre  lang  so 
fort.  Den  Buffonisten,  die  sich  auf  zwei  Monate  eingerichtet  hatten, 
blieb  nichts  übrig,  als  auf  ganz  alte  Stücke,  auch  von  Leo,  zurück- 
zugreifen —  alles  gefiel.     Das  vollständige  Repertoire  gibt  Jansen  i. 

Pergolesis  »//  maestro  di  musica«  war  bei  der  Gelegenheit  ins 
Französische  übersetzt  worden.  Dies  brachte  Rousseau  auf  den  Ge- 
danken, so  eine  Musikkomödie  gleich  im  Französischen  zu  verfassen. 
Der  Philosoph  war  eine  musikalische  Natur,  hatte  von  früh  auf  viel 
gehört,  in  Zeiten  der  Not  sich  sein  Brot  als  Notenschreiber  ver- 
dient, auch  glückliche  Kompositionsversuche  aufzuweisen.  Mit  der 
neapolitanischen  Buffooper  war  er  besonders  vertraut,  er  erinnerte 
sich  der  -»Tavernola  aventorosa^  des  Trinchera  und  arbeitete  sie  zu 
seinem  >  Devin  du  village  ^^  um  und  schrieb  auch  gleich  die  Musik 
dazu.  Der  kleine  Einakter  wurde  schnell  in  dem  Freundeskreise 
Rousseaus  bekannt,  der  Hof  ließ  sich  ihn  einigemal  in  Fontainebleau 
und  im  Schlosse  Bellevue  vorspielen,  und  mit  den  Änderungen,  die 
sich  bei  dieser  Gelegenheit  als  vorteilhaft  erwiesen  hatten,  kam  er 
am  1.  März  1753  an  die  große  Oper.  Alles  war  hingerissen.  Rousseau 
zum  ersten  Male  in  seinem  Leben  ein  wohlhabender  Mann.  Der 
Erfolg  des  >  Devin  du  village  <i-  überstieg  den  der  italienischen  Vor- 
bilder, denn  Rousseau  hatte  mit  geschickter  Verwendung  von  Cou- 
plets, Vaudevilles  (Rundgesängen)  und  Romanzen  den  nationalen 
Musikton  angeschlagen.  Der  Ruf  des  ^ Devin  du  village«  drang  weit, 
Graf  Durazzo  schaffte  ihn  für  Wien  an ;  auf  der  französischen  Bühne 
hat  sich  das  Werk  bis  heute  erhalten.  Es  ist  nicht  die  Kunst  eines 
geschulten  Meisters  darin,  aber  eine  unverwüstliche  Einfachheit  und 
Naturtreue. 

Als  die  nächsten  Nachfolger  Rousseaus  sind  d'Auvergne  und 
Audinot  zu  bezeichnen.  D'Auvergne  sucht  in  seinen  *Les  Troc- 
queurs«  mit  dem  Ballast  der  Rameauschen  Schule,  von  dem  Rousseau 
frei  war,  heitere  volkstümliche  Musik  zu  geben.  Es  gelingt  ihm 
Kanons  und  Imitationen  spgühaft  zu  verwenden.  Sehr  geschickt 
würzt   er  mit  don,   don  und  den  andern  alten  Naturlauten,    die  die 


1  A.  Jansen:  >J.  J.  Rousseau  als  Musikerc,  Berlin  1884;  A.  Pougin: 
>J.  J.  Rousseau  musicien«,  Paris  1905;  J.  Tier  so  t:  » J.  J.  Rousseau«,  Paris 
1912. 

2  A.  Arnheim:  >Le  devin  du  village  von  J.  J.  Rousseau  und  die  Parodie: 
Les  amours  de  Bastien  et  Bastienne«  (Sbd.  d.  IMG  V,  S.  686  ff.). 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VI.  15 


226  Gegenströmungen 

französische   Musik  von  jeher  geliebt   hat.      Auch   das   alte   Ballett, 
darunter  sehr  hübsche  Tambourini,  verwendet  er  wirksam. 

Noch  weiter  gelangt  Audi  not  mit  seinem  »Tonnelier'«^  (1765)^ 
auf  dem  Eousseauschen  Wege  nach  einer  französischen  Musikkomödie. 
Bei  ihm  wirkt  neben  einer  Anzahl  von  hübschen,  echt  nationalen 
Eomanzen  und  Musetten  namentlich  die  nationale  Lebendigkeit,  mit 
der  er  die  Rezitative  behandelt.  Immer  weiß  er  zur  rechten  Zeit 
dem  Monolog  die  reizende  Form  eines  Duettes  zu  geben. 

Ans  Ziel  kamen  diese  Bestrebungen  durch  den  Neapolitaner 
Egidio  Romoaldo  Duni.  Duni  war  in  Italien  noch  jung  zu  großem 
Ruf  gelangt.  Sein  »Nerone«.  hatte  in  Rom  im  Jahre  1735  die 
»Olympiade«^  des  Pergolesi  in  den  Schatten  gestellt,  in  Parma  war 
er  der  erste,  der  Goldonis  -»Buona  figliuola«  in  Musik  setzte,  die  dann 
durch  Piccinnis  Komposition  so  große  Bedeutung  erlangte.  Bald  aber 
wandte  er  sich  hier  der  französischen  Oper  zu.  Er  schrieb  u.  a. 
1756  und  1757  *Ninette  ä  la  cour«  und  »Le  peintre  amoureux<^. 
Ende  1757  begab  er  sich  selbst  nach  Paris  und  brachte  den  Franzosen 
ihre  komische  Oper  —  wieder  einmal  kam  durch  einen  Ausländer 
die  Entscheidung!  Nach  Rousseaus  »Devin  du  village<i.  war  die  Haupt- 
stütze der  neuen  musikalischen  Komödie  der  Dichter  Charles  Favart 
geworden  und  zwar  dadurch,  daß  er  seinen  Stücken  eine  scharfe  po- 
litische Spitze  gab.  Sie  sind  voll  von  Ausfällen  auf  das  Hofleben 
und  von  Favart  haben  auch  die  Singspiele  Hillers  ihre  Tendenz  gegen 
den  Adel.  Denn  Weiße,  Hillers  Dichter,  benutzte  die  Komödien 
Favarts  als  Vorlagen  oft  ziemlich  unverändert.  Sein  »Lottchen  am 
Hofe«  ist  nichts  anderes  als  Favarts  »Ninette  d  la  cour^.  Favarts 
Frau  trug  zu  dem  Erfolg  wesentlich  bei;  sie  war  eine  Soubrette  von 
höchster  Begabung,  auch  als  Dichterin  sehr  geschickt.  Aus  ihrer 
*  Annette  et  Lubin«  hat  Weiße  für  Hiller  die  »Liebe  auf  dem  Lande« 
gemacht.  Die  Musik  in  diesen  Komödien  Favarts  war  sehr  bescheiden; 
er  wollte  sie  nicht  als  Opern  angesehen  wissen.  Sie  heißen  comedies 
melees  d'ariettes.  Das  Material  zu  diesen  Arietten  nahm  er  aus  be- 
kannten Werken,  sehr  reichlich  aus  Rameauschen  Balletten,  besonders 
geschickt  mischte  er  aber  Volksmusik  ein. 

Mit  diesem  Favart  verband  sich  nun  Duni.  Das  war  so  gut  wie 
eine  Versicherung  auf  Erfolg.  Dunis  Musik  war  aber  so  bedeutend 
und  traf  den  französischen  Nationalgeschmack  so  scharf,  daß  er  im 
Laufe  der  Zeit  die  Favartsche  Richtung  verlassen  konnte.  Unter 
den  23  kleinen  Opern,  die  Duni  für  die  Pariser  geschrieben  hat, 
überwiegen  die  Beiträge  zur  bürgerlichen  Komödie  und  die  Zauber- 
stücke. Unter  denen,  die  das  Leben  in  den  Kreisen  des  Mittelstandes 
und  des  Handwerks  schildern,  sind  »Le  peintre  amoureux«.  und  >Les 
moissoneurs<i^  die  bekanntesten  geworden,  unter  den  romantischen 
•»Visle   des   foux«    und    »La   Fee    Urgele^.      Die   Dichtungen   dieser 


Partitur  neugedruckt  bei  Leduc  (Paris,  ohne  Jahresangabe) 


Egidio  Romoaldo  Duni  227 

Zauberkomödien  sind  schwach  und  einfältig.  Trotzdem  sind  sie  der 
Anfangspunkt  für  eine  ganze  Periode  der  französischen  Opernpoesie, 
für  eine  lange  Reihe  von  Werken  geworden,  die  sich  auf  Märchen 
und  wunderbare  Sagen,  auf  schauerliche  Abenteuer,  auf  die  Lust  am 
Fremden  und  Übernatürlichen  stützen.  Komponisten  wie  Gretry  und 
d'illayrac  haben  sich  in  ihren  Dienst  gestellt.  Die  Richtung  geht 
im  letzten  Drittel  des  18.  Jahrhunderts  durch  alle  Länder,  am 
schnellsten  erlischt  sie  bei  den  Italienern,  bei  den  Deutschen  ist  sie 
durch  die  Singspiele  Dittersdorfs  und  W.  Müllers  vertreten.  Es 
spiegelt  sich  in  diesen  Opern  die  Zeit  eines  Cagliostro,  ein  wunder- 
liches Gemisch  von  Aufklärung  und  Aberglauben.  Dunis  Stärke 
liegt  nicht  auf  dem  phantastischen  Gebiete,  er  schenkt  ihm  kaum 
Aufmerksamkeit.  Die  historische  Wirkung  seiner  Musik  liegt  in  der 
Verschmelzung  italienischen  und  französischen  Stils,  ähnlich  wie  bei 
Gluck.  Von  den  Italienern  brachte  er  den  großgeformten,  inhaltlich 
bedeutenden  Sologesang,  mit  dem  sich  die  kleinen  Arien  der  Rousseau, 
Favart  und  d'Auvergne  gar  nicht  messen  können.  Die  Szenen  der 
Narren  im  »Visle  des  foux^  sind  ihm  nichts  als  Stoff  zu  scharfen 
Charakterbildern;  für  den  Prahler,  für  den  Geizhals,  für  den  Ver- 
schwender, für  die  tollen  Weiber  hat  er  Melodien  von  unübertreff- 
licher Anschaulichkeit.  Es  sind  Karikaturen,  die  zum  Lachen  zwingen, 
mit  der  ganzen  Leichtigkeit  und  Grazie  der  neapolitanischen  Meister 
durchgeführt.  Der  französischen  Musik  hat  er  aber  sofort  das  Beste 
abgesehen  und  voll  entwickelt,  was  in  den  Werken  Favarts  und  der 
andern  einheimischen  Komponisten  sich  im  kleinen  zeigt.  Alle  die 
späteren  Vertreter  der  opera  comique,  Boieldieu,  Auber,  ganz  be- 
sonders Bizet,  gehen  auf  Duni  zurück.  Er  hat  sie  auf  den  Schatz 
provenzalischer  Volksmusik,  deren  poetischer  Ursprünglichkeit  nur 
die  der  Russen  und  Norweger  gleichkommt,  verwiesen.  Die  Quinten- 
bässe und  die  interessanten  Dudelsackharmonien  der  neufranzösischen 
ojyera  comique  bringt  zuerst  Duni.  Eine  Menge  Typen,  der  Sene- 
schal  Boieldieus,  sein  George  Brown  in  der  > Weißen  Dame«  —  alle 
hat  Duni  zuerst  aufgestellt.  Er  ist  der  Vater  der  französischen  Kunst 
die  Prosa  des  Alltagslebens  poetisch  zu  verklären  und  ganz  gewöhn- 
liche Dinge  so  lebendig  zu  schildern,  daß  der  Zuhörer  in  atemlose 
Spannung  gerät.  Ein  Hauptbeispiel  davon  steht  in  der  »Fee  Urgelet-\ 
es  ist  die  Szene,  wo  der  Stallmeister  Lahire,  eine  Mischung  von 
Figaro  und  Leporello,  von  den  Worten  »Ze  maudit  animaU  ab  er- 
zählt, wie  ihm  das  Pferd  durchgeht.  Ein  Meisterstück  von  Komik 
und  Malerei.  Das  atemlose  Laufen  von  Pferd  und  Reiter,  wie  das 
immer  wieder  ausreißt,  sein  Wiehern,  alle  Details  stehen  darin,  und 
nichts  ist  gesucht  und  aufdringlich! 

Dem  Duni  folgen  nun  französische  einheimische  Musiker  von 
großem  Talent  und  unterstützt  durch  Dichter,  die  den  Favart  und 
alle  Librettisten  des  Duni  weit  überragen.  Der  bedeutendste  unter 
diesen  Dichtern  ist  Sedaine.     Von  den  Komponisten  sind  die  hervor- 

lö* 


228  Gegenströmungen 

ragendsten  Monsigny,^   Philidor  und  Grötry.^    Eigentlich  J^eues 
bat  keiner   von   ihnen   hinzugehracht,  ja   auch  der  nationale  franzö- 
sische  Zug   wird  in  ihrer  Musik   schwächer,   als   er  bei  Duni   war. 
Sie   führen  die  musikalische  Entwicklung  bald  an  einen  Punkt,   wo 
sie  mit  den  Italienern  und  den  Deutschen  zusammentreffen.    Im  Sen- 
timentalen   gleichen    sich  jetzt   Monsigny,    Benda    und   Paisiello    so 
ziemlich,  und  auch  zwischen  den  einzelnen  Vertretern  derselben  Nation 
ist  da  wenig  Unterschied.     Sie  sprechen  alle  denselben  Ton  oft  spieß- 
bürgerlicher   Empfindsamkeit,    den   wir  bei   Hiller,    Dittersdorf  und 
Naumann  finden,  die  auch  aus  manchem  Andante  Mozarts  und  Haydns 
herausklingt,    die    die   Poesie   und    die    ganze   Kunst   am  Ende   des 
18.  Jahrhunderts  färbt.    Diese  Opern  sind  ein  Beweis,  daß  die  natio- 
nalen  Unterschiede   den   Kern   des  Menschen   im   Grunde   unberührt 
lassen;    sie  haften   wesentlich   an   den  Sitten,   und   da  ist  unter  den 
drei  Meistern  der  opera  coniiqiie  Philidor  wohl  der  am  meisten  franzö- 
sische durch  seine  Lust  am  Malen:    Das  Blasen  des  Windbalgs,  das 
Zuschlagen  der  Weinfässer,  das  Schmiedegehämmer,  Glockengeläute, 
Peitschenknallen,  Eselsgeschrei   —   das   findet   sich    alles   in    seinem 
»Marechal  Ferrant«    und    im    »Sorcier«    mit   einem  gewissen   hand- 
greiflichen  Humor  wiedergegeben.     Natürlich   auch    Seestürme!     In 
der  Kunst  zu  schildern  waren  die  Franzosen  unsern  Deutschen  weit 
überlegen,   und  deshalb  haben  sie  auch  die  deutschen  Bühnen  jahr- 
zehntelang beherrscht  und  die  Hiller  und  Dittersdorf  verdrängt.  Auch 
kleine    Talente    drangen   herüber:  Champein,  Domenico  della  Maria, 
Martini,  Catel,   Gossec,  Solle  und  Gaveaux.     Die  zwei  letzten  —  beide 
waren  Sänger  —  sind  am  meisten  gespielt  worden,  von  Jean  Pierre 
Solle    »Le  Secret^^   von   Pierre  Gaveaux    »Le  petit  matelot<^.      Eine 
andere  Oper  von  Gaveaux  ist  noch  wichtiger  geworden:  seine  ^Leo- 
nore  ou  Vamour  conjugaU.      Ihren  Text,    den  Bouilly  verfaßte,   hat 
Treitschke  für  Beethovens  »Fidelio«  benutzt,  im  wesentlichen  ist  der 
Fideliotext   nichts    als    eine    wörtliche  Übersetzung  der  Bouillyschen 
y>LeonoreA<.    Aber  auch  Beethoven  hat  ohne  Zweifel  die  Musik  Gaveaux 
gekannt  und  einzelne  seiner  Einfälle  frei  verwertet: 
bei  Beethoven  singt  Rocco: 


ä±^^ 


hat  man   nicht  auch  Gold  da  -  ne  -  ben 
bei  Gaveaux: 


Sans    un    peu   d'or,   un    peu    de    chan  -  ce 


*  A.  Pougin:  »Monsigny  et  son  tempsc.    Paris  1908. 
2  M.  Brenet:  »Gretry,  sa  vie  et  ses  oeuvres«,  Paris  1884.     Gesamtaus- 
gabe von  Gretrys  dramatischen  Werken  bei  Breitkopf  &  Härtel. 


Die  bürgerliche  Oper  229 

Das  Klopfmotiv  ist  bei  Gaveaux,  ist  in  der  ganzen  französischen 
opera  comique  da.  Auch  Gaveaux  leitet  Leonorens  große  Szene  mit 
Hornmelodien  ein. 

Gaveaux  -»Leonore  fällt  ins  Jahr  1791,  also  schon  in  die  Revo- 
lutionszeit. Sie  gehört  wie  Cherubinis  »Wasserträger«  zu  einer  Klasse 
der  opera  comique^  in  der  die  Schrecken  der  Zeit  der  Guillotinen- 
herrschaft stark  genug  zum  Ausdruck  kommen.  Die  Umbildung  der 
Gattung  von  der  Posse  zur  bürgerlichen  Oper  war  schon  viel  früher 
vollendet;  am  reinsten  zeigt  sie  sich  in  zwei  Werken,  die  gleichfalls 
in  Deutschland  jahrzehntelang  heimisch  waren:  Monsignys  ^ Deserteur «^ 
und  Gretrys  »Richard  Löwenherz«  aus  den  Jahren  1765  und  1784. 
Für  solche  Werke  paßt  der  Titel  opera  comique  gar  nicht  mehr. 
Der  gesprochene  Dialog  durch  Rezitativ  ersetzt  —  und  sie  würden 
der  großen  Oper,  der  tragedie  lyrique^  zur  höchsten  Ehre  gereicht 
haben.  Alles  was  in  den  Grenzen  des  Reinmenschlichen  das  Musik- 
drama bieten  kann  an  starker  Leidenschaft  und  tiefstem  Gefühl,  das 
war  in  dieser  Art  von  Oper  erreicht,  das  war  eine  Kunst,  die  an 
seelischem  Gehalt  viel  reicher  war  als  der  Durchschnitt  der  franzö- 
sischen Renaissanceoper,  sie  vor  allem  an  Gesundheit,  unmittelbarer 
Lebenswahrheit  weit  hinter  sich  ließ.  Solche  Schicksale,  wie  sie  hier 
dargestellt  wurden,  hatten  die  Zuschauer  selbst  erlebt,  das  waren 
Dramen  ganz  aus  der  Zeit  heraus,  zum  Teil  aus  Vorfällen  entwickelt, 
die  sich  eben  ereignet  hatten.  »De  te  fabula  narratur«,  sagte  sich  die 
Mehrzahl  der  Zuhörer.  Nach  verschiedenen  Richtungen  enthält  die 
französische  bürgerliche  Oper  jener  Zeit  das  Ideal  einer  Operndichtung, 
zu  dem  irgend  eine  Zukunft,  vielleicht  mit  trübbewegtem  Herzen, 
auch  wieder  einmal  zurückkehren  wird. 

Hätten  die  Franzosen  eine  große  Oper  nach  dem  Zuschnitt  des 
Metastasio  gehabt,  so  würden  sie  wahrscheinlich  so  vernünftig  ge- 
wesen sein,  sie  einfach  fallen  zu  lassen  und  diese  bürgerliche  Oper 
an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Ihre  tragedie  lyrique,  den  Geist  der  Quinault, 
Lully  und  Rameau  glaubten  sie  nicht  opfern  zu  dürfen,  und  zwar 
mit  Recht.  Es  ist  kurzsichtig,  wenn  der  Kampf,  den  die  Royale 
academie  de  musique  jetzt  gegen  die  bürgerliche  Oper  aufnahm,  zurück- 
geführt wird  auf  ein  Festhalten  an  alten,  liebgewordenen  Formen, 
auf  einen  Götzendienst  mit  nationalen  Traditionen,  mit  den  Chören, 
Balletts,  den  Festen,  dem  Wunderapparat  und  dem  großen  äußeren 
Pomp  der  alten  französischen  mythologischen  Oper.  Nein,  da  lag 
doch  ein  tieferer  Grund  vor.  In  den  Genien  und  Dämonen  der  alten 
französischen  Musiktragödie  lebte,  wenn  auch  in  häufig  kindischer 
Gestalt,  das  religiöse  Element  der  griechischen  Tragödie,  der  Gedanke 
an  das  Walten  höherer  Mächte  hob  sie  über  den  Geist  auch  der 
besten  bürgerlichen  Oper.  Dieses  religiöse,  übernatürliche  Element 
scheint  sich  das  Musikdrama  nicht  nehmen  zu  lassen,  zu  keiner  Zeit 
und  bei  keinem  Volk.  Als  die  mythologische  Oper  fiel,  trat  die 
romantische  in  die  Lücke. 


230  Gregenströmungen 

Lange  Zeit  hat  dieser  Kampf  gespielt,  ohne  daß  es  den  Parteien 
klar  war,  worüber  sie  stritten.  Scheinbar  lag  nur  ein  nationaler 
Gegensatz  vor:  Buifo  und  Antibuffo.  Die  Anhänger  der  Buffonisten 
stellte  die  Philosophenpartei:  Diderot,  d'Alembert,  Grimm,  Holbach, 
Marmontel,  zum  Teile  stand  auch  Rousseau  auf  ihrer  Seite;  sie 
scharten  sich  im  Opernhause  unter  der  Loge  der  Königin;  ihnen 
gegenüber  unter  der  Loge  des  Königs  nahmen  die  Verehrer  Rameaus 
Platz  als  Antibuffonisten.  Man  plänkelte  mit  Spottgedichten  und 
ging  dann  mit  gelehrten  Waffen  vor,  eine  enorme  Literatur,  die  in 
Elementarfragen  wühlte,  entstand.  Die  Partei  der  Rameauisten  ge- 
riet immer  mehr  in  Nachteil,  weil  ihr  Witz  und  Geist,  vor  allem, 
weil  es  ihr  an  bedeutenden  Komponisten  fehlte.  Da  kam  ihr  Maria 
Antoinette  zu  Hilfe.  Sie  berief  Gluck,  der  sich  in  Deutschland  schon 
lange  nicht  mehr  wohl  fühlte  und  gern  Wien  mit  Paris  vertauschte. 
Wie  er  an  Fürst  Kaunitz  1769  schreibt,  hatte  er  als  Unternehmer 
des  Burgtheaters  sogar  sein  und  seiner  Frau  Vermögen  »verbrockt«. 
Mit  »Iphigenie  in  Aulis«,  zu  der  Du  Roullet  auf  Grund  der  Racine- 
schen  Dichtung  den  Text  geschrieben  hatte,  trat  er  zum  ersten  Male 
am  19.  April  1774  vor  die  Franzosen.  Statt  den  Bundesgenossen 
sahen  sie  in  ihm  aber  den  Ausländer,  stellten  ihm  zunächst  ihren 
Gretry  entgegen ;  als  das  nicht  hilft,  vereinigen  sich  die  alten  Feinde, 
die  verbündeten  Franzosen  und  Italiener  heben  den  Piccinni^  auf  den 
Schild.  Die  Geschichte  dieses  ganzen  Wirrwarrs  ist  deshalb  sehr  un- 
erquicklich, weil  sich  die  Gegner  unausgesetzt  um  Nebensachen  er- 
hitzen. Gluck  selbst  hat  die  schwierige  Lage  mit  großem  diplomati- 
schem Geschick  beherrscht.  Die  Dokumente  für  seinen  Anteil  an 
dem  Kampf  finden  sich  bequem  beisammen  in  den  Veröffentlichungen 
Siegmeyers 2  und  Grimms^.  Aus  ihnen  ersieht  man,  daß  Gluck  den 
kleinen  Zeitungskrieg  selbst  schürte  und  sich  besonders  um  die  Gunst 
Rousseaus  bewarb.  Der  Kampf  endete  mit  dem  Sieg  Glucks.  Die 
Academie  übertrug  ihm  nach  der  Aulischen  Iphigenie  noch  zwei  neue 
Opern.  Auf  den  alten  Quinaultschen  Text,  der  seinerzeit  zu  einem 
Hauptwerk  Lullys  gedient  hatte,  schrieb  er  seine  ;> Armide«,  die  am 
23.  September  1777  aufgeführt  wurde.  Ihr  folgte  am  18.  Mai  1779 
die  »Iphigenie  in  Tauris«.  Der  Pariser  Schriftsteller  Guillard  hatte 
dazu  eine  Dichtung  Calzabigis  übersetzt  und  bearbeitet.  Zwischen- 
durch führte  die  Academie  aber  auch  die  alten  Reformopern  Glucks 


1  G.  Desnoiresteres:  La  musique  fraii9aise  au  XVIII  siecle:  Gluck 
et  Piccinni  1774-1800«,  Paris  1872  u.  1875. 

2  J.  Gr.  Siegmeyer:  >Über  den  Ritter  Gluck  .  .  .  Briefe  von  ihm  und 
andern  berühmten  Männern  seiner  Zeit«,  Berlin  1837.     (Zweite  Ausgabe.) 

^  Fr.  Grimms:  »Correspondance  Gluck  litteraire,  philosophique  et  cri- 
tique  depuis  1753— 1790«.  Neuausgabe  von  Tourneux.  Paris  1878,  16  Bände. 
Siehe  auch:  H.  Kretzschmar:  Die  Correspondance  litteraire  als  musik- 
geschichtliche Quelle.     Jahrbuch  Peters  1903. 


Die  Verschmelzung  französischer  und  italienischer  Schule        231 

»Orfeo«,    »Alceste«,   auch  »Cythfere  assiegee«  und  »Echo  und  Narziß« 
auf;   »Orfeo«   umgearbeitet. 

Unter  den  neuen  Opern  nimmt  die  »Iphigenie  auf  Tauris« 
den  ersten  Rang  ein.  In  keinem  andern  Werke  hat  sich  das  Talent 
Glucks  mit  dem  Wesen  der  Dichtung  so  vollkommen  gedeckt,  und 
bei  keiner  zweiten  seiner  Opern  hat  er  darum  über  eine  gleiche  Fülle 
von  musikalischer  Inspiration  verfügt.  Die  Rezitative  des  Pylades 
und  des  Orest  gehören  zu  den  ausdrucksvollsten,  die  die  dramatische 
Musik  besitzt,  die  Chöre  der  Eumeniden,  die  Szene,  wo  Orest  von 
dem  Schicksal  der  Eltern  erzählt  und  Iphigenie  mit  der  Arie  ein- 
fällt »0  laß  mich,  Tiefgebeugte,  weinen«,  die,  wo  Orest  und  Pylades 
streiten,  wer  sterben  soll,  wo  Iphigenie  ihren  Traum  beschreibt,  sind 
und  bleiben  unvergleichliche  Leistungen.  Lebendigste  dramatische 
Bewegung  in  einfachster,  natürlichster  Form!  Wenn  überhaupt 
mit  dem  Ideal  antiker  Musik  gerechnet  werden  darf,  hier  ist  es  er- 
reicht. 

Die  drei  Pariser  Opern  gleichen  sich  im  tiefsinnigen  Anteil,  den 
überall  das  Orchester  an  der  Darstellung  nimmt.  Mit  welcher  Macht 
verscheucht  da  Gluck  durch  einen  einzigen  Ton  wilde  Geister,  als 
Agamemnon  in  der  Aulischen  Iphigenie  feierlich  eintritt,  das  Opfer 
zu  vollziehen.  Wie  spricht  er  überall  durch  die  Instrumente  das 
unsagbare  aus!  Neu  ist  in  den  Pariser  Opern  auch  der  Reichtum 
eingänglicher  Melodik,  eine  Frucht  der  Mühen,  die  Gluck  in  seiner 
Wiener  Zeit  der  leichteren  Muse  und  dem  deutschen  Lied  gewidmet 
hatte.  Es  ist  nicht  Zufall,  daß  die  zahlreichen  Spuren  Gluckscher 
Gesänge,  die  wir  bei  Mehul,  bei  Beethoven,  bei  Schumann,  bei  Kreutzer 
und  noch  neueren  Komponisten  finden,  nicht  auf  den  »Orpheus«  und 
die  »Alceste«,  sondern  auf  die  beiden  »Iphigenien«  und  auf  die 
»Armide«  zurückführen.  »Armide«  hat  unter  den  drei  Pariser  Opern 
die  größte  geschichtliche  Bedeutung  erlangt.  Sie  macht  den  modernsten 
Eindruck.  Die  moderne  sogenannte  große  Oper  steht  auf  dem  Bei- 
spiele, das  hier  Gluck  mit  der  Schlußszene  des  ersten  Aktes  gegeben 
hat:  der  Szene,  wo  an  den  Hof  der  Armide  die  Nachricht  gelangt, 
daß  Rinaldo  ganz  allein  die  Gefangenen  befreit  hat.  Auf  die  Grund- 
linien Lullys  und  Rameaus  ist  das  Finale  der  Oper  aufgebaut. 

Das  Ergebnis  des  Gluckschen  Sieges  war:  daß  nun  von  Paris  aus 
sich  die  VerschmelzuDg  französischer  und  italienischer  Schule,  der 
schon  Traetta  und  Jommelli  zustrebten,  für  die  Gluck  im  »Orfeo« 
und  in  der  »Alceste«  so  nachdrücklich  eingetreten  war,  auch  wirk- 
lich vollzog,  aber  so,  daß  dabei  die  Italiener  um  ihre  Meinung  eben- 
falls gefragt  wurden.  Der  Mittelsmann  der  Italiener,  Niccolo  Piccinni , 
der  Komponist  der  y>Buona  ßgUuola<<,  betrat  die  Academie  de  musique 
zuerst  am  27.  Januar  1778  mit  »Roland«  i.  Den  Text,  von  Mar- 
montel  nach  Quinault  bearbeitet,  hatte  auch  Gluck  schon  in  Angriff 


1  Neudruck  in  Chefs^d'ceuvre  classiques  de  Topera  frangais. 


232  (xegenströmungen 

genommen,  und  darüber  war  die  Feindschaft  der  beiden  Parteien 
wieder  hell  aufgelodert.  Der  arme  Piccinni  war  darüber  arg  be- 
kümmert. In  der  Widmung  der  Partitur  wendet  er  sich  an  Marie 
Antoinette:  »Einsam  in  ein  Land  verpflanzt«,  sagt  er,  »wo  mir  alles 
fremd  ist,  eingeschücbtert  durch  tausend  Schwierigkeiten,  habe  ich 
allen  Mut  verloren.«  Mit  der  Absicht  gleich  am  andern  Tage  nach 
Neapel  zurückzureisen,  mit  der  Sorge,  ob  ihm  nicbt  etwa  ein  Leid 
angetan  würde,  ging  er  ins  Theater  und  erlebte  einen  glänzenden 
Triumph.  Dieser  »Roland«  hatte  ihn  verdient,  allein  schon  durch 
die  zweite  Szene  des  dritten  Aktes,  in  der  das  Bild  einer  enttäuschten 
Seele  mit  einem  Reichtum  und  einer  Gewalt  entworfen  und  durch- 
geführt ist,  die  jeden  Versuch  zum  Zweifel,  ob  hier  ein  Meister  vor 
uns  steht,  bricht.  Träumerisch  fängt  sie  an:  Roland  wartet  im 
schattigen  Hain  auf  die  geliebte  Angelique.  Das  Orchester  wirft  eine 
Idylle  von  Vogelgezwitscher  und  Quellenrauschen  hin,  über  die  Ro- 
land sehnende  Melodien  inniger  Liebe  singt.  Da  liest  er  über  einer 
Grotte  Worte,  die  ihm  mitteilen,  daß  das  Herz  der  Geliebten  einem 
andern,  dem  Medor,  gehört.  Schreck  —  Beschämung  —  Zweifel, 
ein  Motiv  aus  dem  Liebesduett  der  vorigen  Szene  klingt  an  —  dann 
löst  sich  die  ganze  Erregung  in  einer  mächtigen  Arie,  Wut  ihr  Haupt- 
satz, in  der  Mitte  tiefe  Trauer,  wunderbar  rührend  und  musikalisch 
ganz  originell  ausgesprochen.  Auf  dieses  Meisterstück  folgt  gleich 
ein  anderes.  Hirten  und  Schäfer  ziehen  heran  und  bringen  mit  ihren 
lustigen,*  naiven  Gesängen,  mit  ihren  reizenden  Musetten  den  toben- 
den Roland  erst  zum  Schweigen,  dann  zur  Ruhe.  Wie  seine  grollen- 
den Monologe  die  Tanzweisen  unterbrechen,  wie  er  die  Hirten  er- 
schreckt, wie  sie,  ganz  Mitleid  und  Interesse,  ihn  zu  trösten  suchen  — 
das  ist  dramatisch  lebendig  und  unübertrefflich  schön,  geistvoll  und 
poetisch,  gehört  unter  das  beste,  was  in  der  Opernkunst  zu  finden 
ist.  Nebenbei  erinnert  die  Situation  dieser  Hauptszenen  an  den  »Hans 
Helling«.  Die  Charaktere  des  Dramas  sind  außerordentlich  scharf 
und  voll  in  der  Musik  gegeben;  eine  Originalfigur  ist  namentlich  der 
Roland  geworden;  ungestüm,  ungeschlacht,  grotesk,  dämonisch,  über- 
menschlich. Das  war  eine  Aufgabe  für  den  italienischen  Stil,  und 
da  hat  auch  Piccinni  den  Vorrat  fanatischer  Wendungen,  den  seine 
Landsleute  ausgebildet  hatten,  glänzend  verwendet.  Aber  er  hat  auch 
eine  Anpassungsfähigkeit  an  die  Vorzüge  fremder  Kunst  bewiesen, 
die  bei  einem  Komponisten  von  seiner  Vergangenheit  in  Erstaunen 
setzt.  Wie  neuerdings  Verdi  sich  an  Wagner  umgebildet  hat,  so  tat 
das  hundert  Jahre  früher  Piccinni  an  Gluck  und  den  Franzosen  — 
uud  ebenfalls  nicht  als  Nachahmer,  sondern  in  freiem,  selbständigem 
Anschluß  an  das  Prinzip.  Die  Musik  dieses  »Roland«  ist  nach  Glucks 
Gebot  dramatisch  entworfen,  im  großen  Bogen,  nicht  mehr  nach  Num- 
mern, sondern  szenenweise.  Ihr  ganzer  Gang  ist  zusammengerafft, 
die  Ritornells  und  alles,  was  zur  Schablone  gehört,  ist  beiseite  ge- 
worfen,   im   selbständigen  Fluß  wechseln  Rezitativ  und  geschlossene 


Die  Verschmelzung  französischer  und  italienischer  Schule         233 

Form,  und  die  Formen  sind  mannigfach,  ein  Produkt  von  Situation 
und  Empfindung. 

Piccinni  blieb  also  in  Paris  und  bekam  weitere  Aufträge.  Da  ihm 
aber  die  französische  Sprache  schwierig  war  und  der  neue  Stil  sorg- 
fältiges Durchdenken  des  Dramas  forderte,  entstanden  seine  neuen 
Pariser  Opern  nur  langsam.  1780  kam  der  »Atys«,  1781  eine 
»Iphigenie  in  Tauris«,  1783  eine  »Dido«.  Dazwischen  hinein  wurden 
zahlreiche  von  seinen  alten  komischen  Opern  aufgeführt,  unter  ihnen 
natürlich  die   -»Buona  figliuola*. 

Von  jetzt  ab,  von  der  Bekehrung  Piccinnis,  datiert  die  Ausbreitung 
der  Gluckschen  Reform. 


Die  Schule  Glucks.^ 

Die  Glucksche  Schule  hält  an  Dichtungen  fest,  die  ihre  Hand- 
lungen der  Antike  entnehmen,  aber  die  Metastasiosche  Methode  ist 
abgetan,  in  ihren  Motiven  und  im  Aufbau  sind  die  Opernbücher 
folgerichtige,  ernsthafte  Dramen.  Die  Musik  ist  ebenfalls  auf  die 
dramatische  Wirkung  gerichtet,  verzichtet  auf  Sonderzwecke  und 
schöpft  Mittel  und  Formen  aus  dem  Gesamtschatz  der  Tonkunst  der 
Zeit.  Die  reinen  Gluckisten  neigen  dabei  zu  kleinen  Formen,  stehen 
unter  dem  Einfluß  des  neuen  Liedes  und  der  Instrumentalmusik,  die 
italienischen  Anhänger  Glucks  suchen  noch  an  den  großen  Formen 
des  alten  Sologesanges,  namentlich  an  der  dreiteiligen  Arie  fest- 
zuhalten. 

Der  Hauptsitz  dieser  Gluckschen  Schule  ist  Paris.  Zuerst  wird 
sie  hier  durch  zwei  französische  Komponisten  vertreten:  Le  Moyne 
und  Gosse c.  Beide  traten  im  Jahre  1782  in  der  Academie  zuerst 
auf,  Jean  Baptiste  Le  Moyne  mit  einer  »Electra«,  Fran9ois  Joseph 
Gossec  mit  einem  »  Thesee<^.  Le  Moyne  ist  der  bedeutendere.  Während 
Gossec  allzu  französisch  um  Malerei  der  äußeren  Situation  bemüht 
ist,  dringt  Le  Moyne  ins  Seelenleben.  Von  seinen  späteren  Opern 
ist  namentlich  ^Phedre«  beachtenswert  durch  die  Soloszenen  der 
düsteren,  majestätischen  Heldin,  durch  die  Feinheit  mit  der  visionäre, 
die  Kraft  und  Freiheit,  mit  der  alle  dramatisch  erregten  Situationen 
wiedergegeben  sind.  Außer  dem  Gluckschen,  zeigen  Le  Moynes 
Arbeiten  auch  deutlich  den  Einfluß  der  Italiener,  Piccinnis  insbe- 
sondere.    Ihre  Schwäche  liegt  in  der  Ungleichheit. 

Eine  wirkliche  Stütze  fand  die  Glucksche  Schule  in  Paris  durch  die 
Arbeiten  von  Antonio  Maria   Gasparo  Sacchini^  und  Antonio 


1  J.  Hermann:  »Les  drames  lyriques  en  France  depuis  Gluck  jusqu'a 
nos  jours:  Paris  1878«;  L.  Schieder mair:  »Beiträge  zur  Geschichte  der 
Oper  um  die  Wende  des  18.  und  19.  Jahrhunderts«,  Leipzig  1907. 

2  Sacchinis  Chimene  und  Renaud  sind  neugedruckt  in  Chefs-d'ceuvre  usw. 
Salieris  Les  Danaides  und  Tarare  ebenda. 


Die  Vertreter  der  Gluckschen  Oper  in  Paris  235 

Salieri*.   Sacchini,  in  seiner  Heimat  durch  große  und  komische  Opern 
bekannt,  von  denen  die  y> Olympiade«   auch  nach  London  drang,  hatte 
sich  in  Paris   mit   einer  musikalischen    Komödie    »La   Golonie«    ein- 
geführt,   die   dem   gerade   anwesenden  Kaiser  Joseph  II.   sehr  gefiel. 
Auf   seine    Empfehlung   wurde    er   an   die  Große  Oper   berufen,   für 
die  er  1783  und  1784  die  drei  Opern  »Renaud«,  »Chimene«,  »Dar- 
danus«   schrieb;   einen  mächtigen  Erfolg  errang  er  erst  im  Jahre  1787 
mit  »Oedipe  ä  Colone«.    Das  ist  eine  von  den  Opern  mit  schwachem 
Anfang,    der    erste  Akt   ein    entbehrliches   Zugeständnis    an   die   alt- 
französischen  Traditionen,    an  die  Vorliebe   für  Feste  und  Feierlich- 
keiten  im   Musikdrama.     Wie    Piccinni    im    Roland,    hat   sich    auch 
Sacchini  den  Helden  (Bariton)  für  den  zweiten  Akt  aufgespart,  und 
von  dem  Erscheinen  des  Ödipus  ab    ist  das  Werk  ein  kaum  wieder 
unterbrochenes  Crescendo  großer  und  erschütternder  Eindrücke,  eine 
fortwährende    Handlung,    eine   Musik    im  hohen   Tone    Glucks,    aber 
mit   neuen,   mit   grausigen    und   dämonischen  Akzenten.     Die  Szene, 
wo  Ödipus   im   zweiten  Akte   die  Eumeniden   zu   hören   glaubt,    wo 
er   rast   und    durch    den    innigen   Zuspruch    der  Antigone    zur  Ruhe 
gebracht  wird,   die,  wo  er  den  heiligen  Bezirk  betreten  hat  und  vom 
Volk  bedroht   wird,    eine    dritte,    wo  Polynice   sich   vor    dem  Vater 
auf  die  Knie  wirft  und  außer  sich  vor  Schmerz,  die  Stimme  auf  dem 
hohen  g  festgenagelt,   um    den  Tod  bittet,    vergißt  niemand  wieder. 
Sacchini  hat  die  Aufführung  seines  Ödipus  nicht  mehr  erlebt.      Bis 
zum    Jahre  1802    fand    das    Werk   316    Vorstellungen;    es   hat   auf 
französischen  Bühnen    bis    1830  in  der  vordersten   Reihe   gestanden. 
Von  den  beiden  Hauptopern  Salieris,  »Les  Danäides«  und  »Tarare«- 
ist  die  zweite  die  schwächere,  nichtsdestoweniger  aber,  unter  dem  Titel 
Ȁxur  re  d''Ormus^  umgearbeitet,    die  verbreitetere  geworden.     Die 
Dichtung  ist  von  Beaumarchais,  wie  sein   »Figaro«  ein  Stück  politi- 
scher Poesie,   es  gilt  abermals  den  Kampf  gegen  Tyrannen  und  Könige. 
Dieser  Axur  ist  ein  Theaterwüterich  ganz  nach  italienischer  Schablone, 
ersticht    Sklaven    zum    Zeitvertreib    und   schwört    allen   Dienern    den 
Tod,  so  oft  er  einen  Auftrag  gibt.     Die  Musik  Salieris,  dem  Gluck 
als  seinem  eigenen  Schüler   die   »Danaiden«   wie  den   »Tarare- Axur« 
abtrat,  ist  äußerst  routiniert,  aber  bedeutend  nur  in  den  Abschnitten, 
die  ins  Gebiet  der  komischen  Oper   fallen.     Mit  Sacchini  ist  Salieri 
nicht  zu  vergleichen.     Gleichwohl  war  er  außerhalb  Frankreichs  an- 
gesehen.     Mit  seinem   »Axiir«^   hat  Mozarts   »Don  Juan«   zu  kämpfen 
gehabt,    er   drang   in    die  Konzerte   ein  (Wien,  Leipzig,  Mainz  1810 
bis  20),    und    der   Einfluß    seiner  Chöre    läßt    sich    bis    in    Webers 
Schwertlieder  verfolgen. 

Der  nächste  Vertreter  der  Gluckschen  Oper  in   Paris  ^  ist  wieder 


1  A.  Jullien:  >L'opera  sous  Louis  XVI«,  Paris  1878. 

2  Max  Dietz:   »Geschichte  des  musikalischen  Dramas  in  Frankreich 
von  1780-1795«,  Wien  1886. 


236  Die  Schule  Glucks 

ein  Ausländer,  diesmal  ein  Deutscher  ans  Nürnberg,  Namens  Johann 
Christoph  Vogel.  Mit  Schwierigkeiten  erhielt  er  Zutritt  zur  Aka- 
demie, »La  toison  (To?'«  wurde  1786  aufgeführt,  seine  zweite  Pariser 
Oper  lebt  heute  noch  durch  ihre  Ouvertüre;  es  ist  •» Demophon«- ^ 
15.  September  1798  zum  ersten  Male  aufgeführt,  eine  Oper,  die 
durch  die  Menge  düsterer  Situationen  schon  auf  den  Gluckschen  Ton 
weist  und  noch  heute  durch  eine  große  Menge  herzlicher,  eigener 
Einzelheiten  fesselt.  Musikalisch  beachtenswert  ist  in  ihrer  Instru- 
mentierung die  obligate  Verwendung  der  Posaunen.  In  der  Regel 
sind  sie  in  den  Opern  jener  Zeit  mehr  ins  Belieben  gestellt  und  in 
die  Partitur  nicht  eingearbeitet,  höchstens  als  Anhang  beigegeben. 
Dichterisch  alter  zeigt  dieser  ^Dernophon*  ähnlich  wie  Salieris  »Axur^ 
bereits  wieder  einen  Abfall  von  der  Gluckschen  Reform.  Die  Hand- 
lung beruht  auf  einem  altvenezianischen  Motiv:  Vertausch  von  Kin- 
dern in  der  Wiege. 

Nach  Vogel  kommen  nun  endlich  auch  wieder  einmal  drei  wirk- 
liche Franzosen:  Etienne  Nicolas  Mehul^,  Charles  Simon  Catel 
und  Jean  Lesueur^.  Von  Mehuls  Opern  kommen  hier  •}> Stratonice^ 
und  '»Ariodant<s.  in  Betracht,  als  Werke  von  der  Einfachheit  und 
vom  Pathos  Glucks  berührt,  aber  in  der  Wurzel  auf  altfranzösischem 
Boden  heimisch.  Im  Romantischen  haben  sie  ihre  stärksten  Stellen 
durch  Chöre  und  Tänze,  die  die  Poesie  neuer  Klänge  belebt,  geheim- 
nisvoll verhallende  Schlüsse,  Echos,  Wechselgesänge,  ungewohnte 
Farben,  satt  und  dunkel  aus  der  Zusammenstellung  von  Hörnern 
und  Cellis,  aus  eigenen  Instrumentenverbindungen  gewonnen.  Mehul 
sinnt  auf  neue  Mittel  des  Ausdrucks,  namentlich  durch  ungebrauchte 
Harmonie,  übermäßige  Dreiklänge,  durch  Modulationen,  die  seiner 
Zeit  bizarr  erschienen.  Für  die  Verknüpfung  der  Formen,  Charakte- 
ristik der  Personen  bedient  er  sich  geistreich  des  Leitmotivs.  So 
oft  in  »Ariodant«  der  Otho  erscheint,  oder  von  ihm  die  Rede  ist, 
meldet  ihn  das  Orchester  mit: 


i 


•>F^r'-i-^^=i^- 


Heute  lebt  Mehul  noch  mit  seinem  »Joseph  in  Ägypten«.  Diese 
Oper  ist  ein  Ausnahmewerk  nicht  bloß  des  18.  Jahrhunderts;  durch 
den  biblischen  Stoff  und  den  Verzicht  auf  Frauen  zeugt  es  für  den 
Einfluß  Glucks  stärker  als  andere  Opern  Mehuls,  namentlich  die  Arie 
»Ich  war  Jüngling«  und  die  große  Szene  Simons  und  der  Brüder 
-»Non^    non^    VEternel«    sind   Gluckisch,    Mehuls    besonderes  Talent 

1  R.  Brancour:  »Mehul<,  Paris  1912;  A.  Pougin:  »Mehul,  sa  vie,  son 
genie,  son  caractere«,  Paris  1889. 

2  F.  Lamy:  »J.  F.  Lesueur«,  Paris  1912;  W.  Buschkötter:  » J.  F. 
Lesueur«  (Sbd.  d.  EMG.  XIV,  S.  58  ff.).  Lesueurs  Ossian  ist  neugedruckt 
in  Chefs-d'oeuvre  usw. 


Gasparo  Spontini  237 

offenbart  sie  weniger.  Catels^  Hauptwerk  ist  seine  »Semiramis«, 
bedeutend  in  allen  düsteren,  heimlichen  Abschnitten,  in  den  Orakel- 
szenen, da  wo  Verschvv^orene  böses  spinnen,  trivial  leider  in  den 
dramatisch  entscheidenden  Stellen.  Catel  ist  in  unserer  heutigen 
Musik  zuweilen  noch  mit  der  Ouvertüre  zu  dieser  »Semiramis«,  eine 
trefflich  erfundene  und  gedachte,  aber  zu  umständlich  entwickelte 
Arbeit,  vertreten.  Ganz  unbekannt  geworden  ist  Lesueur,  der 
Lehrer  Berlioz'.  Seine  Hauptoper,  die  »Barden«  ist  vielleicht  das 
charaktervollste  und  reichste,  namentlich  an  neuer  Situationsmusik 
originellste  Musikdrama,  das  die  französische  Bühne  in  der  Periode 
der  Gluckschen  Schule  hervorgebracht  bat.  Der  Glucksche  Stil  ge- 
rät durch  diese  französische  Komponisten  in  eine  Umbildung:  der 
nationale  Ton  und  damit  der  romantische  Charakter  drängt  sich  vor. 
Eine  Reihe  kleinerer  Talente,  Rudolf  Kreutzer  au  der  Spitze,  setzen 
diesen  Weg  fort,  der  musikalische  Ideengehalt  verringert  sich,  von 
den  Werken  Piccinnis  und  Sacchinis  ist  jede  Spur  verwischt.  Da 
erscheint  abermals  ein  großer  italienischer  Meister:  Cherubini^ 
führt  im  Jahre  1788  am  12.  Dezember  in  der  Äcademie  royale  seinen 
»Demopho7i^  auf,  ein  Werk,  dessen  Ouvertüre  das  höchste  Musik- 
stück im  erhabenen  Stil  ist,  das  seit  Gluck  gehört  wurde,  ein  Werk, 
das  von  Erfindung  schäumt.  Aber  leider  dringt  er  nicht  durch, 
vielleicht  weil  ein  Rest  alter  trivial-italienischer  Arbeit  das  Ganze 
beeinträchtigt.  Cherubini  ist  fortan  mit  seinem  Ernst  und  seiner 
Tiefe  auf  die  opei'a  comique  verwiesen.  Auch  da  leidet  er  mit 
seiner  »Lodoisca«^  mit  seinem  » Anacreon«.  und  der  Mehrzahl  seiner 
Werke  unter  dem  Niedergang  der  französischen  Dichtung.  Dieser 
Niedergang  war  bereits  bei  Salieris  *  Tarare«  zu  bemerken,  er  ist 
von  da  ab  unaufhaltsam  und  immer  bedenklicher  geworden ;  wiederum 
wollen  die  Ideen  einer  bewegten  Zeit  sich  nicht  in  die  Bilder  einer 
fernab  liegenden,  verschwundenen  Welt  fügen.  Noch  einmal  gelingt 
die  Reaktion  durch  Gasparo  Spontini  und  seine  »Vestalin«.  Ein 
Schüler  Piccinnis,  an  den  italienischen  Bühnen  durch  Buffoopern  be- 
kannt geworden,  kam  Spontini  1803  nach  Paris,  wo  er  sich  ohne 
viel  Erfolg  ebenfalls  mit  kleinen  Opern  leichterer  Gattung  einzu- 
führen suchte.  Eine  davon,  »Milton«,  ein  Einakter,  zeichnet  sich 
durch  die  breiteren  Vorlagen  aus,  auf  denen  die  Musik  entworfen  ist, 
und  durch  Episoden,  (eine  Hymne  Miltons,  ein  Quintett,  in  dem  der 
blinde  Sänger  ein  Gedicht  diktiert,  darunter)  die  einen  Meister  für 
höhere  Töne  bekunden.  Der  Dichter  dieses  Einakters,  Jouy,  brachte 
nun    Spontini   den  Text   der  »Vestalin«,    eine  Begebenheit   aus    der 


1  Von  Catel  ist  neugedruckt:  Les  Bayaderes  in  Chefs-d'oeuvre  usw. 

2  R.  Hohenemser:  »L.  Cherubini,  sein  Leben  und  seine  Werke«, 
Leipzig  1913;  H.  Kretzschmar:  >Über  die  Bedeutung  von  Cherubinis 
Ouvertüren  und  Hauptopern  für  die  Gegenwart«,  Jahrbuch  Peters  1906; 
Ed.  Bellasis:  »L.  Cherubini«,  London  1874. 


238  Die  Schule  Glucks 

römischen  Greschichte,  die  sich  in  der  italienischen  Oper  schon  seit 
Draghis  *Fuoco  Vestale«  oft  bewährt  hatte.  Es  handelt  sich  um 
den  alten  Konflikt  zwischen  Pflicht  und  Liebe,  und  diesen  Konflikt 
hat  Joay  meisterhaft  dargestellt.  Die  Szene  des  zweiten  Aktes,  wo 
Julia,  die  Vestalin,  gegen  den  Gedanken  an  Licinius  in  Schmerz, 
Leidenschaft  und  Gebeten  kämpft,  und  nach  diesem  Sturm  der  Ge- 
fühle, wo  der  Sieg  gesichert  scheint,  der  Geliebte  unbemerkt  in  den 
Tempel  eintritt,  diese  Szene  wird  niemand  unerschüttert  lesen  und 
sehen.  Das  ist  tragische  Poesie.  Und  nun  die  Musik  Spontinis  zu 
diesem  Drama!  Es  ist  manches  Schnörkelhafte  in  dieser  Partitur, 
es  sind  unreife,  von  Anfang  an  veraltete  Stellen  darin,  Spontini  ver- 
trägt die  Ruhe  nicht  gut.  Aber  was  will  das  sagen  gegen  die  Menge 
Glanznummern,  die  im  dramatischen  Feuer  geschmiedet  sind,  gegen 
diese  gewaltige  Wiedergabe  stürmischer  Leidenschaft,  gegen  die  ür- 
sprünglichkeit  und  Lebendigkeit  des  Aufbaues  dieser  Musik  im 
kleinen  und  großen!  Darin,  wie  diese  Musik  Form  und  Geist  aus 
der  Handlung  schöpft,  ist  sie  ganz  Gluckisch,  aber  keine  Nach- 
ahmung. Noch  keiner  hat  das  schlummernde  Unheil  mit  solchen 
blitzenden  Baßmotiven  des  Orchesters  gezeichnet,  noch  keiner  soviel 
neue  Wendungen  der  Tonsprache  gewagt,  wie  sie  gleich  von  der 
Ouvertüre  ab  in  den  freien  Septimenvorhalten  uns  entgegentreten, 
keiner  so  sinnig,  so  eng  die  Szenen  mit  leitenden  und  erinnernden 
Motiven  verbunden.  Auch  im  Klang  alles  neu  und  kühn,  zum  ersten 
Male  ein  Tamtamschlag  im  Finale  des  zweiten  Aktes,  am  Höhepunkt 
der  ganzen  Oper.  Den  Franzosen  kommt  Spontini  entgegen  mit  den 
Rameauschen  Donnerwettern,  mit  den  schönen,  fertigen  Instrumental- 
stücken, in  die  der  Chor  hineingeschrieben  ist;  in  weichen  Situationen 
ist  er  ganz  Italiener,  Neapolitaner.  Man  hört  schon  die  süßen 
Terzengänge  Bellinis.  Seit  Sacchinis  »Ödipus«  war  eine  solche 
tragedie  lyrique  nicht  dagewesen.  Das  war  ein  modernisierter,  in 
der  Beweglichkeit  übertroffener  Gluck.  Spontini  war  fortan  mit  dem 
imposanten,  festen,  herrlichen  und  reichen  Aufbau  das  Muster  der 
französischen  Oper. 

In  Deutschland  können  wir  von  einer  Gluckschen  Schule  nicht 
reden.  Es  sind  bei  uns  keine  Opern  im  Stile  und  Geist  des  »Orfeo«, 
der  »Alceste«,  der  beiden  »Iphigenien«  geschrieben  worden;  wir 
haben  keinen  Komponisten  aufzuweisen,  der  wie  Piccinni,  wie  Sacchini 
sich  mit  Werken  wie  »Roland«  und  »Ödipus«  oder  wie  Spontini 
mit  der  »Vestalin«  selbständig  und  erweiternd  auf  Glucks  Seite 
stellte.  Die  einzigen  Spuren,  in  denen  Glucks  Reformen  in  Deutsch- 
land zur  Wirkung  kommen ,  bestehen  darin ,  daß  die  antike  Oper 
auch  bei  uns  den  Chor  in  seine  Rechte  einsetzt,  daß  in  feierlichen 
Szenen  der  ernste  Ton  Glucks  in  Wendungen  erklingt,  die  seinen 
Werken  getreu  nachgebildet  oder  entnommen  sind.  In  Berlin  wen- 
det sich  Friedrich  IL  von  dem  Augenblick  an  von  der  Oper  ganz  ab, 
als    die   Unruhe   der   Reformen    kommt,    in  München   fällt  Sacchinis 


Glucks  Reformen  in  Deutschland  239 

»Ödipus«  durch  —  die  ganze  opera  seria  führt  in  Deutschland  jahr- 
zehntelang ein  höchst  kümmerliches  Dasein,  die  großen  Pariser 
Kämpfe  bleiben  vollständig  unbeachtet. 

Das  wenige,  was  aus  der  Produktion  deutscher  Komponisten 
jener  Periode  heute  noch  genannt  wird,  beschränkt  sich  auf  zwei 
Werke  Wolfgang  Mozarts  i,  auf  seinen  »Idomeneus«  und  seinen 
»Titus«.  Es  sind  die  schwächsten  unter  den  sieben  Opern,  die  sich 
von  Mozart  noch  auf  der  Bühne  gehalten  haben,  man  führt  sie  nur 
noch  auf  aus  Pietät  gegen  den  großen  Namen,  aus  historischem 
Interesse,  wie  man  meint  und  sagt.  Nur  wenige  ahnen,  wie  wenig 
sich  gerade  diese  Mozartschen  Renaissanceopern  dazu  eignen,  die 
Geschichte  ihrer  Gattung  zu  vertreten  —  wie  weit  sie  davon  ent- 
fernt sind,  ein  Bild  vom  Besten  zu  geben,  was  in  Mozarts  Zeit  auf 
diesem  Gebiete  geleistet  wurde.  Man  muß  das  mit  einer  gewissen 
Härte  betonen,  weil  0.  Jahn  in  seiner  Biographie  Mozart  ohne 
weiteres  über  Gluck  und  die  Italiener  gestellt  hat.  Ihm  nach  sieht  fast 
der  ganze  Troß  der  musikalischen  Literaten  in  Mozart  ohne  weiteres 
den  »Messias«,  der  die  Absichten  Glucks  erst  vollendet  hat,  und 
zugleich  ein  Opfer  der  italienischen  Kunstverderbnis.  Denn  was 
schwach  ist  in  Mozarts  Opern,  die  Koloraturarien  des  Ottavio  und 
der  Elvira  in  »Don  Juan«  z.  B.,  das  wird  alles  der  italienischen 
Schule  auf  Rechnung  gesetzt  und  soll  angeblich  immer  noch  viel 
höher  stehen  als  die  Leistungen  der  wirklichen  Italiener.  Das  ist 
eine  gutgemeinte  Geschichtsfälschung,  die  in  dem  Kampf  gegen 
Wagner  ihre  Schuldigkeit  reichlich  getan  und  die  Verwirrung  in 
den  Auseinandersetzungen  über  Wesen  und  Berechtigung  des  neuesten 
Musikdramas  ungeheuer  vermehrt  hat.  Aber  halten  läßt  sie  sich 
nicht;  bei  aller  Liebe  und  Bewunderung  für  Mozarts  musikalische 
dramatische  Begabung  können  wir  seine  Opern  nicht  zum  Ideal  der 
Gattung  erheben,  am  allerwenigsten  wollen  wir  sein  Verhältnis  zu 
den  Italienern  auf  den  Kopf  stellen. 

Das  Ausland  hat  sich  den  Mozartschen  Werken  lange  verschlossen, 
in  Paris  erscheint  der  »Don  Juan«  erst  1834,  von  italienischen 
Städten  haben  Triest  und  Mailand  durch  ihre  Beziehungen  zu  Wien 
zuerst,  nämlich  im  Jahre  1815,  den  »Figaro«  und  »Don  Juan« 
kennen  gelernt.  »Don  Juan«  taucht  1828  noch  in  Parma,  1838  in 
Turin  auf.  Im  ganzen  haben  die  Mozartschen  Opern  ebensowenig 
wie  die  Reformen  Glucks  für  die  italienischen  Bühnen  existiert. 
Heinse,  der  schwärmerische  Anhänger  der  Italiener,  kennt  Mozart 
in  seiner  »Hildegard«  nur  als  Klavierkomponisten.  Aber  Mozarts 
Opern  haben   in  Italien  mittelbar   und  merkwürdig  auf  die  Kompo- 


1  0.  Jahn:  »W.  A.  Mozart«.  Vierte  Auflage  bearbeitet  von  H.  Deiters, 
Leipzig  1905  und  1907;  H.  Kretzschmar:  »Mozart  in  der  Geschichte  der 
Oper«.  (Jahrbuch  Peters  1905);  Janos  Linon:  »Die  Orchesterbeliandlung in 
Mozarts  Oper  von  Idomcüeo  bis  zur  Zauberflöte«  (Die  Musik  XIV,  S.3ff.,61ii'.). 


240  Die  Schule  Glucks 

nisten   eingewirkt  und    von   da   aus   schließlich   zur  Meyerbeerschen 
Richtung  geführt. 

Wenn  wir  die  großen  italienischen  Opern  Mozarts,  seinen 
»Idomeneo«  und  »Titus«  heute  prüfen,  finden  wir  die  Formen  darin 
zum  großen  Teile  mit  Recht  veraltet.  Sie  waren  aber  von  Anfang 
an  veraltet  d.  h.  mangelhaft,  und  Mozart  hat  in  ihnen  nicht,  wie 
Jahn  meint,  seine  Vorgänger  und  Nebenbuhler  überholt  und  ge- 
schlagen, er  hat  sie  auch  nicht  von  fern  erreicht.  Ihm  fehlte  der 
richtige  Ausgangspunkt.  Mozart  kam  zur  Oper  in  den  Knabenjahren 
ohne  Lebenserfahrung  und  ohne  Kenntnis  der  großen  musikalischen 
Meister,  an  denen  Gluck  sich  zu  schulen  wenigstens  versucht  hatte. 
Mozarts  Quellen  aber  waren  einseitig  das  neue  deutsche  Lied,  die 
opera  huffa  und  die  Instrumentalmusik.  Wie  er  mit  den  Hilfsmitteln, 
die  er  hieraus  schöpfte,  in  seinen  Jugendopern  verunglückte,  das  hat 
Chrysander^  nachgewiesen,  und  dieses  Unglück  begleitete  ihn  durch 
seine  späteren  Opern.  Was  im  »Idomeneo«  und  »Titus«  besser  isc 
als  im  »Mitridate«,  das  verdankt  Mozart  der  menschlichen  Reife  und 
den  Eindrücken  seiner  Pariser  Zeit.  Er  hatte  den  Kämpfen  zwischen 
Gluckisten  und  Piccinnisten  als  Augenzeuge  beigewohnt.  Aber  ein 
Meister  der  eigentlichen  großen  Oper  ist  er  niemals  geworden,  er 
hat  dieses  Gebiet  möglichst  gemieden.  In  der  Mehrzahl  der  Arien 
des  »Idomeneo«,  gleich  den  ersten  der  Ilia  und  des  Idamante  finden 
wir  eine  Fülle  von  Motiven,  jugendlich,  frisch,  von  ursprünglicher 
musikalischer  Empfindung,  aber  einen  verwunderlichen,  unruhigen, 
unablässigen  Wechsel  in  Gedanken  und  Stimmung.  Es  fehlt  der 
große  Zug,  die  Konzentration,  die  energische  und  sichere  Vertiefung 
in  die  Form.  Die  Musik  bohrt  an,  bald  hier,  bald  da,  spielt  inter- 
essant mit  Einfällen,  aber  sie  fesselt  nicht  ernsthaft  und  reißt  nicht 
fort.  Es  sind  Skizzen  mit  schönen  Einzelheiten,  die  ins  durch- 
komponierte Lied  gehören,  aber  es  ist  keine  Spur  vom  großen 
Theaterstil,  der  sich  mit  wenigen,  aber  lapidaren  Grundgedanken  be- 
gnügt, sie  aber  fest  einprägt.  Wo  Mozart  ihn  nachbildet,  wird  er 
äußerlich.  Die  heutigen  schlechten  Begrifi'e  von  italienischer  Kolo- 
ratur gehen  auf  Mozart  zurück.  Der  Periodenbau  verstößt  wider 
die  Logik  des  Textes,  die  Erfindung  im  Gesang  erinnert  an  Violin- 
und  andere  Instrumentalfiguren.  Unter  den  Soloszenen  nehmen  nur 
die  Arien  eine  höhere  Stufe  ein,  die  Rachegefühl,  Haß  und  Wut 
auszudrücken  haben.  Bei  den  andern  spricht  Mozarts  herrliches 
Talent  nur  aus  Nebensachen.  Die  Ensembleszenen  sind  durchschnitt- 
lich alle  bedeutender,  das  Finale  des  zweiten  Aktes  des  »Idomeneo«, 
wo  zum  Opfer  geschritten  werden  soll,  ist  ein  dramatisches  Meister- 
stück. Genau  so  ist  das  Verhältnis  im  »Titus«,  aber  mit  dem  Ab- 
zug, daß  hier  auch  der  Text  gering  ist.     Nur  das  erste  Finale  mit 


1  Fr.  Chrysander:  »Mitridate,  italienische  Oper  von  Mozart«.     AUg. 
Musik-Ztg.  1882. 


W.  A.  Mozarts  Opern  241 

dem  Kapitolbrand  erhebt  sich  hoch  aus  dem  Ganzen;  es  ist  eins  der 
wenigen  Stücke,  aus  denen  ein  Einfluß  Glucks  ersichtlich  wird. 

Die  Bedeutung  und  der  Ruhm  Mozarts  ruht  auf  seinen  übrigen 
Opern:  »Cosi  fan  tutte<^,  »Figaros  Hochzeit«,  »Don  Juan«,  auf  der 
»Entführung«  und  der  »Zauberflöte«.  Die  drei  ersten  gehören  zur 
opera  buffa,  »Entführung«  imd  »Zauberflöte«  zum  deutschen  Sing- 
spiel. Es  würde  Mozarts  Größe  nichts  fehlen,  wenn  t  Cosi  fan  tutte«. 
ungeschrieben  geblieben  wäre  und  niemand  sieht  dieser  Oper  an,  daß 
sie  zwischen  »Don  Juan«  und  »Zauberflöte«  entstanden  ist,  man  hält 
sie  für  ein  Werk  aus  der  Zeit  der  ersten  Versuche.  Sie  hat  ein 
paar  gute  Nummern  im  Elegischen,  aber  im  allgemeinen  ist  sie  mit 
Brosamen  vom  Tisch  der  Italiener  und  aus  »Figaro«  und  »Don 
Juan«  genährt.  Mozart  kommt  hier  selten  in  Zug  und  Schwung, 
und  zahlreiche  Stellen  zeigen,  daß  er  sich  gequält  hat,  daß  ihm  das 
Stück  zuwider  gewesen.  Das  Motiv  der  Komödie,  die  Treulosigkeit 
der  Frauen,  geht  ja,  wie  Shakespeares  »Cymbeline«  zeigt,  im  Schau- 
spiel weit  zurück;  es  ist  namentlich  in  der  komischen  Oper  des 
18.  Jahrhunderts  gern  und  erfolgreich  behandelt  worden:  in  Martins 
»Cosa  rara<!.  und  Paisiellos  y>Sposa  fedele«  z.  B.  Aber  das  Buch, 
in  dem  es  für  Mozart  zurecht  gemacht  wurde,  ist  jämmerlich.  — 
Ganz  anders  steht  es  nun  mit  »Figaro«  und  »Don  Juan«^  mit  »Ent- 
führung« und  »Zauberflöte«.  Die  überragen  alles,  was  in  diesen 
Gattungen  geleistet  worden  ist  dermaßen,  daß  sie  uns  überhaupt  wie 
höhere  Arten  erscheinen.  Die  Gegenwart  muß  sich  erst  durch  einen 
Blick  auf  die  alten  Theaterzettel  überzeugen,  daß  der  »Don  Juan« 
wirklich  den  Zeitgenossen  Mozarts  als  opei-a  huffa^  die  »Zauberflöte« 
als  Singspiel  vorgeführt  worden  ist.  Ähnlich  wie  Goethe  mit  dem 
»Faust«,  hat  hier  Mozart  aus  lustigen,  tollen  Unterhaltungsstücken 
Kunstwerke  gebildet,  die  in  die  Tiefe  der  Seele  dringen,  aus  denen 
das  Erhabene  zu  uns  spricht.  Die  Gestalten  aber,  die  den  Ideen- 
kreis des  »Don  Juan«  und  der  »Zauberflöte«  erst  adeln,  dort  der 
Komtur,  hier  der  Sarastro  —  sie  sind  ganz  und  gar  die  Geschöpfe 
Mozarts,  Produkte  seiner  persönlichen  Auffassung.  Die  wunderbare 
Mischung  von  keckster,  naivster  Lebenslust  und  von  überirdischem 
Tiefsinn  ist  es,  die  der  Mozartschen  Kunst  ihr  Gepräge  gibt.  In 
einer  leichteren  Lösung  durchzieht  sie  auch  die  »Hochzeit  des  Figaro«, 
hier  namentlich  die  Gestalt  des  Pagen  Cherubim.  Das  ist  bei 
Beaumarchais  nur  ein  drolliger  Wildfang,  bei  Mozart  ein  edler, 
schwärmerischer  Jüngling  in  der  Rosenzeit.  So  mischt  Mozart  in 
die  Schwanke  seiner  Dichter  einen  elegischen,  in  ihre  gemeinen 
Szenen    einen    vornehmen  Ton.    —   Nicht    in   den  Formen   und   im 


1  F.  Chrys ander:  »Die  Oper  Don  Giovanni  von  Gazzaniga  und 
Mozartc.  (Vierteljahrsschrift  für  M.  W.  1888);  H.  Boas:  »L.  da  Ponte 
als  Wiener  Theaterdichter«  (Sbd.  d.  IMG.  XV,  S.  325  ff.),  A.  Marchesan: 
»Delle  vita  e  delle  opere  da  L.  da  Ponte«.    Treviso  1900. 

Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VI.  16 


242  JDie  Schule  Glucks 

drastischen  Ausdruck  der  dichterischen  Motive  übertrifft  er  die  Ita- 
liener —  die  würden  im  Gegenteil  die  Lustigkeit  und  Verwirrung 
der  Szenen  oft  noch  toller  und  lebendiger  wiedergegeben  haben  — 
aber  in  einem  Zug  zum  Höheren,  den  er  aus  seinem  eigenen  Wesen 
in  die  großen  und  kleinen  Aufgaben  der  Stücke  hineinträgt.  Gerade 
im  »Figaro«  gibt's  Stellen,  in  denen  Mozart  über  seine  Zeit  und 
den  Dichter  des  Stückes  dazu  in  wenigen  Takten  eine  Kritik  aus- 
gesprochen hat,  deren  Schärfe  Beaumarchais  mit  seinen  fünf  Akten 
nicht  erreicht  hat.  So  eine  ist  im  Finale  des  ersten  Aktes  beim 
Erscheinen  der  Susanne.  Da  enthüllt  das  Orchester  mit  wenigen 
ernsten  Tönen  die  ganze  Scham,  die  in  diesem  Augenblick  der  lüsterne 
Graf  und  der  Dichter,  der  ihn  in  diese  Szene  geführt  hat,  empfinden 
sollten.  Ja  die  Reinheit  und  Vornehmheit  der  eigenen  Seele  hat 
Mozart  einmal  in  demselben  »Figaro«  zu  einem  Irrtum  verleitet. 
Das  ist  in  der  berühmten  Gartenarie  der  Susanne:  »0  säume  länger 
nicht«  {Deh  vieni).  Die  dramatische  Situation,  die  italienischen 
Worte  »^  furti  miei«  und  auch  der  Anfang  der  Musik  lassen  keinen 
Zweifel,  daß  hier  karikiert  werden  soll.  Wenn  Mozart  sonst  von 
echter  Liebe  singen  will,  so  tut  er  es  nicht  in  Melodien,  die  auf 
Akkordintervalle  hinauslaufen.  Das  ist  hier  absichtliche  Armut  und 
Banalität,  und  mit  derselben  Absichtlichkeit  stehen  sie  dicht  neben 
Wendungen  eines  übertriebenen  Ausdrucks,  b  fis  g^  Phrasen  der  zärt- 
lichen Ekstase,  die  jeden  Kenner  Paisiellos  und  der  Italiener,  die 
auch  den  ersten  Hörern  des  »Figaro«  ganz  geläufig  waren.  Die 
Parodie  steht  also  im  Anfang  dieser  Gartenszene  außer  Zw^eifel  und 
ist  vorzüglich  gelungen  —  aber  im  zweiten  Teile  ist  er  aus  der 
Rolle  gefallen,  hat  die  Worte  ernsthaft  genommen,  und  daher  lassen 
sich  alle  Susannen  verleiten,  das  Ganze  ernsthaft  zu  nehmen. 

Wenn  man  an  den  Komtur  denkt,  so  steht  man  zugleich  an  dem 
Punkt  der  Mozartschen  Opern,  wo  sie  von  Gluckschem  Geist  be- 
rührt sind.  Vom  ernsten  Ton  dieses  Meisters  ist  etwas  in  sie  herüber- 
gegangen   uud  klingt  an  Stellen  wieder,    wo  wir  es  nicht  erwarten. 

In  Deutschland  ist  von  den  Opern  Mozarts  nur  der  »Idomeneo« 
so  gut  wie  gänzlich  unbeachtet  geblieben;  er  findet  sich  um  1802 
in  Nürnberg;  der  »Titus«  ist  häufiger  bei  Hoffesten  gegeben  worden, 
außerhalb  der  Residenzen  wußte  man  mit  antiken  Opern  allmählich 
nichts  mehr  anzufangen.  So  wird  aus  Nürnberg  geklagt,  daß  die 
Römer  im  »Titus«  mit  geschmierten  Aufschlagstiefeln  auf  der  Bühne 
herummarschierten.  Die  andern  haben  sich  für  die  Verhältnisse  der 
Zeit  schnell  und  weit  verbreitet,  die  »Entführung«  gleich  nach  der 
Entstehung.  Schon  1782  kommt  sie  in  Hamburg  vor  als  »Belmonte 
und  Constanze«;  »Cosi  fan  tutte«-  erscheint  seltener,  »Figaro«  wieder 
häufig,  im  Anfang  und  im  Verlauf  der  neunziger  Jahre  bringen  ihn 
alle  Stadttheater,  die  es  irgendwie  können  und  zuw^eilen  mit  dem 
Vermerk  »von  dem  beliebten  Herrn  Mozart«.  Die  oft  behauptete 
Verkennung  Mozarts   und   des  Wertes   seiner  Opern   in   Deutschland 


Glucks  Opern  auf  den  deutschen  Bühnen  243 

wird  durch  die  Statistik  hinfällig.  Nur  muß  man  in  Betracht  ziehen, 
daß  ihre  Einführung  Schwierigkeiten  bereitete.  In  Berlin  z.  B. 
wurden  »Figaro«  und  »Don  Juan«  1770  am  Nationaltheater  von 
Schauspielern  gesungen,  trotzdem  konnte  »Don  Juan«  in  zehn  Tagen 
fünfmal  wiederholt  werden.  Viel  verloren  und  verlieren  diese  Werke 
heute  noch  durch  die  deutschen  Übersetzungen.  Den  Italienern  aber 
die  sie  hier  und  da,  in  Dresden  z.  B.,  brachten,  machten  sie  einen 
fremden  Eindruck  gerade  durch  die  Elemente,  mit  denen  sie  über 
die  Gattung  emporragten.  Auch  die  Deutschen  fanden  sich  mit  dem 
»Don  Juan«  nicht  gleich  zurecht.  Die  Theaterdirektoren  beuteten 
die  Höllenfahrt  aus,  mit  der  er  in  der  ursprünglichen  Fassung 
schließt;  überall  wird  auf  den  Zetteln  aufmerksam  gemacht,  daß  es 
am  Schluß  Spektakel  gibt,  daß  der  Erdboden  sich  öffnet.  Flammen 
hervorbrechen  usw.  In  Bern  kamen  bei  der  ersten  Aufführung,  die 
sich  bis  zum  Jahre  1810  verspätete,  zu  den  sechs  bezahlten  und 
bestellten  Teufeln  ein  siebenter  und  erregte  solche  Bestürzung,  daß 
alles  in  wilde  Flucht  ausbrach.  Zwei  arme  Teufel  verunglückten. 
In  München  verbot  die  Zensurbehörde  die  Aufführung,  weil  sie  Ärger- 
nis geben  würde.  Ein  Spezialbefehl  des  Kurfürsten  war  nötig.  Da 
gefiel  die  Musik,  den  Text  aber  fand  man  abgeschmackt. 

Erst  im  Gefolge  Mozarts  drangen  jetzt  in  den  neunziger  Jahren 
auch  die  Opern  Glucks  auf  den  deutschen  Bühnen  vor:  Bremen, 
Mannheim,  Hamburg,  Weimar,  Berlin;  nur  in  Berlin  hielten  sie  sich 
länger.  Neben  Gluck  kommen  auch  seine  Schüler,  Sacchini  mit  den 
»Danaiden«  und  Salieri  mit  »Axur«  und  »Palmyra«.  Die  übrigen 
Komponisten,  die  neben  ihnen  in  Deutschland  die  große  Oper  ver- 
treten, zeigen  alle  den  Einfluß  Mozarts:  Reichardt  in  seinem 
»Brenno«,  Righini  in  seiner  »Armida«.  Auch  der  bedeutendste 
dieser  Komponisten,  Ferdinand  Paer,  gleichfalls  ein  Italiener,  ist  in 
seinen  späteren  Hauptwerken,  in  »Sargino«  und  »Achill«  von  Mozart 
stark  berührt.  Sie  mischen  alle  in  Mozartscher  Weise  in  den  Strom 
ihrer  Musik  elegische,  ernste  und  feierliche  Ideen  ein;  vom  »Figaro« 
entnehmen  sie,  ähnlich  wie  die  Neuen  aus  Wagners  »Meistersingern« 
den  Humor  fürs  Orchester,  besonders  aber  erinnern  sie  direkt  und 
häufig  an  die  Sarastroklänge  Mozarts.  Die  »Zauberflöte«  hat  auch 
aufs  Publikum  den  größten  Eindruck  gemacht.  Selbst  in  Mannheim, 
wo  Mozart  einen  besonders  schwierigen  Stand  gehabt  zu  haben  scheint, 
erlaubte  sie  eine  Reihe  von  Aufführungen  bei  erhöhten  Preisen, 
brachte  den  Darstellern  eine  Extraentschädigung  von  100  Dukaten^. 
Beck  schreibt  in  seinem  Tagebuch  zuerst:  »Die  Zauberflöte  gefiel, 
so  sublim  man  sie  gab,  manchem  Esel  nicht«;  nach  der  dritten 
Aufführung:  »Jetzt  kommen  sie  besser  dahinter:  widerlich  ist 
das  Geschrei  von  den  paar  Schulmeistern  in  Sarastros  Ge- 
folge«.    In   Lübeck    wird   sie   in    acht   Tagen   sechsmal   gegeben,    in 

1  Die  Jagemann  sang  die  Pamina. 

16* 


244  Die  Schule  Glucks 

Königsberg,  in  Berlin  und  anderen  Städten  Abend  für  Abend  wieder- 
holt. Aus  Hamburg  heißt  es:  »Die  Virtuosen  und  Virtuosinnen  in 
den  Familien  spielten  schon  lange  zuvor  die  bezaubernden,  hinreißend 
schönen  Arien  und  Duette  dieses  Mozartschen  Schwanengesanges«. 
Doch  machte  die  Aufführung  von  der  Bühne  herab  die  erwartete 
und  erhoffte  Sensation  erst,  als  neue  Dekorationen  angefertigt  waren. 
Auch  die  italienischen  Truppen  in  Deutschland  machten  sich  die 
»Zauberflöte«  als  -»Flauto  magico<^  zu  eigen.  Zum  Anfange  des 
19.  Jahrhunderts  wurde  es  gebräuchlich,  zu  besonders  beliebt  ge- 
wordenen Opern  oder  Singspielen  einen  zweiten  Teil  zu  schreiben. 
Diese  Ehre  ist  z.  B.  dem  »Donauweibchen«,  der  »Teufelsmühle», 
der  »Sonnenjungfrau«,  dem  »Wasserträger«  widerfahren.  Da  hat 
die  »Zauberflöte«  gleich  mehrere  Fortsetzungen  erhalten,  auch  be- 
kanntlich eine  von  Goethe  gedichtet;  am  meisten  verbreitet  haben 
sich  darunter  P.  Winters  »Pyramiden  zu  Babylon«.  An  die  »Zauber- 
flöte« schließt  sich  auch  eine  Mozartsche  Komponistenschule  an.  Ihre 
Hauptvertreter  sind  Joseph  Weigl^,  der  mit  seiner  »Schweizerfamilie« 
Mozart  hier  und  da  verdrängte,  und  Franz  Süßmayer 2.  Das  ist 
derselbe  Süßmayer,  der  Mozarts  Requiem  so  schön  vollendet  hat. 
Es  gibt  heute  noch  vermeintliche  Kritiker,  die  diese  ganz  fest  ver- 
bürgte Mitarbeit  Süßmayers  glauben  bezweifeln  zu  können.  Die 
Opern  dieses  Komponisten,  sein  »Soliman  IL«  und  sein  »Spiegel  von 
Arkadien«  könnten  sie  belehren,  daß  er  ein  großes  Talent  war.  Eine 
richtige  Vorstellung  von  der  Zeit  und  vom  Wert  der  Klassiker  be- 
kommt niemand,  der  nicht  die  Umgebung  Haydns,  Mozarts,  Beet- 
hovens mit  kennen  lernt.  Die  Dittersdorf,  Wölffl,  Eberl  zeigen  auf 
den  Reichtum  von  Begabung  und  Schule,  aus  denen  die  großen 
Meister  hervorwuchsen,  und  in  diesem  Kreis  nimmt  auch  Süßmayer 
einen  ehrenvollen  Platz  ein. 

Soweit  es  sich  bei  der  Gluckschen  Reform  um  die  Wiederher- 
stellung des  Chores  in  der  italienischen  Oper  handelt,  kann  man 
auch  in  Italien  von  einer  Gluckschen  Schule  sprechen.  Cimarosa 
gehört  in  seinen  »Horatiern  und  Curatiern«,  in  seiner  »Artemisia« 
und  in  andern  antiken  Opern  zu  ihren  Vertretern.  Neben  ihm 
Bertoni,  Anfossi.  Daß  sie  aber  nicht  das  Publikum  für  sich  hatte, 
beweisen  Werke  wie  Giuseppe  Sartis^  » Giulio  Sabino«y  der  im 
Jahre  1781  von  Venedig  aus  jahrelang  als  Hauptoper  auf  allen  ita- 
lienischen Bühnen  heimisch  war.  Er  ist  durchaus  Solooper  mit 
schöner  und  poetischer  Musik  für  zärtliche  Situationen,  für  Trauer- 
und Abschiedsszenen.     So  wie  Sarti  bleibt  ein  großer  Teil  der  neueren 


1  A.  de  Eisner-Eisenhof:  »Giuseppe  Weigl«    (Riv.  mus.  XI,  3  ff.). 

2  G.  P.  L.  Sievers:  »Mozart  und  Süßmayer«,  Mainz  1829. 

3  C.  Thrane:   »Sarti  in  Kopenhagen«   (Sbd.  d.  IMG.  III,  S.  528 ff.); 
P.  Lindo:  »Der  Chevalier  Sarti  oder  Musikalische  Zustände  Venedigs  im 


18.  Jahrhundert«,  Dresden  18ö8. 


Die  Glucksche  Schule  in  Italien  245 

Talente,  Nasolini,  Zingarelli  bei  der  alten  Anlage.  Die  Choroper 
und  die  modifizierte  Glucksche  Form  setzt  sich  erst  durch  mit  den 
Werken  Simon  Mayrs^  Dieser  Simon  Mayr,  ein  Deutscher  aus 
Mosdorf  bei  Regensburg,  hat  auf  die  Entwicklung  der  italienischen 
Oper  und  von  da  aus  der  Oper  aller  Länder  einen  Einfluß  gewonnen, 
der  weit  über  die  Bedeutung  seines  Talentes  hinausging.  Er  ist  ein 
verständiger,  kluger  Musiker,  der  bei  Gluck  gelernt  hat  gut  und 
ausdrucksvoll  zu  deklamieren.  In  Mozart  taucht  er  tiefer  hinab  bis 
zu  Plagiaten.  Das  Largo  seiner  Einleitung  zur  Oper  »Adelasia«  z.  B. 
entnimmt  er  wörtlich  der  »Don-Juan« -Ouvertüre;  als  geborener 
Eklektiker  trifft  er  aber  auch  bei  Gelegenheit,  wie  bei  Sterbeszenen, 
den  weichen  italienischen  Ton  vorzüglich.  In  der  Form  sind  seine 
Opern  noch  heute  interessant,  besonders  durch  das  Geschick,  mit 
dem  er  die  Kavatinen  und  die  andern  geschlossenen  Sätze  durch 
Rezitativ,  durch  plötzliche  Handlung  unterbricht.  Für  die  Freunde 
der  alten  Oper  hat  er  die  Seccorezitative  und  den  Kastratengesang, 
der  sich  durch  Mayrs  Opern  noch  bis  an  die  vierziger  Jahre  in 
Italien  behauptet.  Aber  mit  einer  unwiderstehlichen  Gewalt  packt 
er  alle  Parteien  beim  sinnlichen  Element.  So  viel  Neues  hat  kein 
zweiter  den  Italienern  am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  geboten. 
Alles,  was  in  der  deutschen  Musik  reif  geworden  ist,  und  was  sich 
eben  entwickeln  will,  das  bringt  Mayr  den  Italienern  in  seinen  Opern 
in  wohlberechneten,  wirksamen  Dosen:  den  Liedertafelchor,  die  neue 
selbständige  Orchestermusik  vor  allem.  Da  kommen  Sätze  im  kirch- 
lichen Stil,  dann  wieder  Episoden  mit  Konzert  zwischen  Trompeten 
und  Hörn,  mit  englischem  Hörn  und  andern  noch  nie  gehörten  In- 
strumenten. Da  nehmen  Mittelstimmen  und  Bässe  des  Akkompagne- 
ments  die  Aufmerksamkeit  in  Anspruch,  er  entwickelt  äußerst  kapriziös 
kleine  eingängliche  Gedanken  mit  frappanten  Intervallen  und  Mo- 
dulationen, unterbricht  und  kontrastiert  fortwährend,  zuweilen  mit 
wirklich  poetischem  Sinn.  Kurz,  es  ist  eine  Musik,  die  das  Ohr 
mit  modernen  Effekten  überschüttet,  und  damit  erreicht  Mayr,  was 
weder  Gluck  noch  Mozart  gelungen  ist,  er  macht  die  Italiener  willig 
für  einen  neuen  Stil.  Von  seiner  »  Ginevra  di  Sozzia*  ab,  die  1801 
in  Triest  zuerst  aufgeführt  wird,  ist  er  der  erste  Meister  auf  den 
italienischen  Bühnen.  Eine  neue  Oper  von  Mayr  macht  das  ganze 
Land  mobil.  Auch  in  Deutschland  wird  er  mit  Spannung  verfolgt, 
die  Belege  finden  sich  in  Goethes  Briefwechsel  mit  Zelter.  Er  findet 
bei  uns  auch  Mitarbeiter  in  Peter  Winter,  dem  Komponisten  des 
»Unterbrochenen  Opferfestes«,  der  »Calypso«,  ebensowenig  wie  Mayr 
ein  Genie,  aber  der  Repiäsentant  einer  Tüchtigkeit  und  eines  Zunft- 
durchschnitts,  von   dem    aus   die  Meister   den   Gipfel   näher   hatten. 


1  H.  Kretzschmar:  >DiemusikgeschichtlicheBedeutung  von  S.  Mayr«, 
Jahrbuch  Peters  1904;  L.  Schiedermair:  »S.  Mayr,  Beiträge  z.  Geschichte 
der  Oper,  I  u.  11«,  Leipzig  1907  und  1910. 


246  Die  Schule  Glucks 

Und  ein  solcher  Meister  war  Spontini,  der  Komponist  der  »Vestalin«. 
Leider  ging  aber  die  weitere  Entwicklung  der  ernsten  Oper  nicht 
in  der  Richtung  der  »Vestalin«  vor  sich,  sondern  sie  wurde  von 
den  Schülern  Mayrs  mit  aller  Wucht  auf  die  Anwendung  der  neuen, 
äußerlichen  musikalischen  Mittel  und  Effekte  hingeleitet.  In  den 
Werken  des  Lehrers  waren  die  Blasinstrumente  so  eindrucksvoll 
hervorgetreten,  die  Schüler  gründeten  darauf  ein  System.  Fast  scheint 
es,  als  sollten  die  Posaunen  die  Träger  des  Orchesterklanges  werden; 
es  lärmt  in  diesen  Opern  der  Mayrschen  Schule  mörderisch;  Klari- 
netten, Fagotten  kommen  immer  in  Quartettweise,  jede  Oper  führt 
neue  Listrumente  ein,  zu  dem  Orchester,  das  die  Sänger  begleitet, 
wird  ein  zweites,  am  liebsten  ein  Militärmusikchor,  oben  auf  die 
Bühne  gestellt.  Dem  Trachten  nach  reichen,  neuen  Klängen  weicht 
jede  andere,  höhere  dramatische  Absicht,  und  die  besten  Talente 
verderben  daran.  Ein  solches  von  Natur  höher  angelegtes  Talent 
ist  Mercadante,  der  Führer  der  Mayrschen  Schule,  ein  Musiker 
von  vielseitiger  Bildung,  auch  an  Mozart  und  andern  deutschen  Meistern 
geschult,  von  seinen  Landsleuten  als  der  italienische  Beethoven  ge- 
feiert. Seine  Hauptwerke  sind  »Elisa  e  Claudio^,  »TZ  Bravo«,  *Il 
giuramento^.  Die  beiden  letzteren  gehören  auch  dichterisch  zu  einer 
neuen  Richtung,  die  die  Antike  aufgibt  und  sich  Ideen  der  Zeit  zu- 
wendet. Romantische  Probleme  sind  es,  die  diese  italienische  Oper 
aufsucht,  den  Edelmut  in  den  Klassen  der  Verworfenen;  Menschen, 
die,  um  die  Kränkung  eines  Vaters  zu  rächen,  unter  Mörder  und 
Räuber  gehen,  sind  die  Helden.  Die  Größe  der  poetischen  Ver- 
irrung  merkte  man  nicht,  weil  Dichter  vom  Geiste  Victor  Hugos 
der  Geschmacklosigkeit  ein  Quantum  Tiefsinn  hinzufügten,  das  die 
Verwandtschaft  dieser  Dramen  mit  Spieß  und  Gramer  verdeckte.  Die 
Richtung  hat  sich  bei  den  Italienern  lange  genug  gehalten,  noch 
Verdis  »Troubadour«  gehört  ihr  an,  bei  uns  Deutschen  eine  Anzahl 
Marschnerscher  und  Lindpaintnerscher  Opern,  von  französischen  Werken 
»Robert  der  Teufel«.  Die  Musiker  schwelgten  in  diesem  Taumel 
von  Empfindsamkeit  und  Roheit,  er  lockte  durch  Kontraste,  setzte 
scheinbar  das  Talent  im  ganzen  Umfang  in  Bewegung,  die  feinsten 
und  die  stärksten  Kräfte.  Die  Mehrzahl  der  italienischen  Komponisten 
trat  auf  die  Seite  Mercadantes;  Generali,  Pacini,  Vaccai;  auch  Rossini 
mit  vielen  seiner  früheren  Opern.  Der  Stil  der  Mayrschen  Schule 
drang  über  die  Oper  hinaus,  in  der  Sinfonie  ward  Berlioz  ein  Opfer. 
Er  bemächtigte  sich  vor  allem  auch  der  französischen  Oper.  Spontini 
geriet  mit  seinem  »Ferdinand  Cortez«  ,  mit  seiner  »Olympia« 
unter  den  Einfluß  dieser  neuitalienischen  Lärmoper.  Glucks  Geist 
war  aus  dem  Musikdrama,  aus  der  Choroper,  die  er  wieder  in  ihre 
Rechte  eingesetzt,  vollständig  gewichen.  Die  Ausläufer  seiner  Schule 
waren  bei  der  Karikatur  angelangt.  In  diesem  Augenblick  wird 
Deutschland  entscheidend.  Zum  ersten  Male  hält  es  eine  unselige 
Entwicklung  auf  durch  Karl  Maria  von  Weber. 


Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

Mit  der  Mayrschen  Schule  sind  wir  am  Ende  der  Renaissance- 
oper angelangt.  Die  Glucksche  Reform  hatte  einen  letzten,  kurzen 
Aufschwung  gebracht.  Jetzt  stirbt  die  Griechen-  und  Römeroper 
rasch  ab.  Nur  noch  einige  Nachzügler,  in  Deutschland  z.  B.  eine 
»Dido«  von  Bernhard  Klein,  eine  zweite  von  Reissiger;  dann 
ein  letzter  Versuch  der  Wiederbelebung  in  Mendelssohns  »Antigone« 
und  »Ödipus«,  vorher  noch  ein  halber  Erfolg  in  Spontinis  »Olympia«. 
Diese  »Olympia«  ist  ein  Meisterwerk  im  dramatischen  Aufbau  der 
Szenen  nach  französischem  Muster,  im  Ineinanderschieben  und  Kon- 
trastieren, auch  neue  Töne  hat  sie  für  den  Ausdruck  der  schau- 
ernden Seele  z.  B.  Aber  der  Geist  der  Oper  ist  brüchig,  die  Effekt- 
sucht der  Mayrschen  Schule  hat  ihn  berührt,  wo  sie  nicht  mit 
Massenwirkungen  arbeitet,  läßt  diese  »Olympia«  kalt;  ihre  Arien 
sind  trivial,  matt,  die  Erfindung  klebt  mit  Marschrhythmen,  ver- 
minderten Septakkorden  an  der  Schablone;  an  die  Stelle  der  In- 
spiration ist  die  Manier  getreten.  So  war  denn  die  Renaissance 
im  Musikdrama,  also  an  der  Stelle,  von  der  sie  am  stärksten  das 
moderne  Leben  beherrschen  und  veredeln  sollte,  tot,  von  der  Bühne 
verwiesen,  an  den  Anfang  vom  Ende  angekommen.  Nur  mühsam 
brennt  heute  noch  das  letzte  Flämmchen  in  den  Gelehrtenschulen, 
und  nur  das  hier  genährte  antiquarische  Interesse  und  antiquarische 
Spekulation  haben  in  unserer  Zeit  ab  und  zu  noch  Musiker  dazu 
verleitet,   antikes  Leben  in  Konzertoratorien  wieder  zu  galvanisieren. 

Indes  dachte  bei  dem  Absterben  der  Renaissance  niemand  daran 
das  Musikdrama  zu  beseitigen.  Frisch  erfunden  hätte  es  das  19.  Jahr- 
hundert nicht;  aber  es  war  ihm  unentbehrlich  und  darum  längst 
einem  ganz  veränderten  Geistesleben  angepaßt  worden.  Doch  war 
die  Erbschaftsregulierimg  nicht  so  einfach.  Zwei  Hauptrichtungen 
kamen  für  die  Nachfolge  in  Frage :  die  historische  und  die  roman- 
tische Oper.  Beide  waren  illegitimen  Ursprungs,  waren  Kinder  der 
alten  opera  huffa. 


248  Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

Die  ersten  Ansätze  zur  historischen  Oper  finden  sich  schon  in 
der  venezianischen  Schule,  auch  mitten  unter  den  antiken  Dich- 
tungen der  Zeno  und  Metastasio,  in  »Wenceslav« ,  in  »Arminio« 
und  anderen  Bastards  vor,  die  der  Geschichte,  ja  sogar  der  neueren, 
angehören.  Doch  sind  das  Ausnahmen.  Das  Interesse  für  die  Be- 
gebenheiten aus  der  Nähe  wächst  erst  von  dem  Augenblick  ab,  wo 
die  Neapolitaner  für  ihre  Musikpossen  sich  Figuren  aus  dem  Orient 
holen.  Da  entsteht  auch  in  dem  seriösen  Musikdrama  eine  Gruppe 
von  Türkenopern;  Hasses  »Soliman«,  Händeis  »Bajazet«  sind  Haupt- 
stücke daraus.  Viel  üppiger  gedeiht  diese  Türkenoper,  diese  Oper 
des  Orients,  in  der  opera  huffa  und  in  der  opera  coniique  der  Fran- 
zosen, durch  Kadis,  Kalifen,  Muftis  und  Chinesen  von  den  Werken 
Gretrys  ab  bis  zu  Boieldieu  reich  vertreten.  Hier  verquickt  sie 
sich  sehr  schnell  mit  den  romantischen  Neigungen  der  Zeit  und 
wird  von  ihnen  bald  ganz  überwuchert.  Am  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts pflegt  nur  die  opera  huffa  der  Italiener  noch  bürgerliche 
Dichtung  und  Posse,  die  opera  comique  der  Franzosen,  das  Sing- 
spiel der  Deutschen,  tritt  immer  ausschließlicher  in  den  Dienst  der 
Zauberpoesie.  Das  hat  einen  starken  musikalischen  Grund  mit, 
die  Erfindung  des  Melodrams. ^  Wir  verstehen  unter  Melodram 
eine  Verbindung  von  Instrumentalmusik  und  gesprochenem  Wort. 
Bei  dieser  Verbindung  hat  aber  die  Musik  den  Hauptteil,  sie  malt, 
was  in  der  Seele  der  Handelnden  und  was  auf  der  äußeren  Szene 
vorgeht,  in  der  Regel  aber  nicht  mit  langen,  ausgeführten  Sätzen, 
sondern  mit  kurzen,  schlagenden  Glossen.  Diese  Kunst  der  an- 
schaulichen, eindringlichen  Geberdensprache  hatte  die  Instrumental- 
musik in  der  italienischen  Oper,  in  den  begleiteten  Rezitativen 
erworben.  So  ist  das  Melodram  eine  Weiterbildung  des  recitativo 
accompagnatOj  eine  Anwendung  seines  Prinzips  im  Großen.  Rousseau, 
der  es  erfunden  hat,  dachte  sich  das  Melodram  als  einen  Ersatz 
des  recitativo  accompagnato ,  eines  ganz  spezifischen  Stückes  italie- 
nischer Kunst,  für  die  Franzosen.  »Überhaupt  —  sagt  er 2  —  da 
die  französische  Sprache,  da  sie  aller  Akzente  bar  ist,  sich  durch- 
aus nicht  für  die  Musik  und  vornehmlich  nicht  für  das  Rezitativ 
eignet,  so  ersann  ich  eine  Gattung  von  Drama,  in  dem  der  Text 
und  die  Musik,  anstatt  zusammenzugehen,  sich  nacheinander  ver- 
nehmen lassen  und  worin  die  gesprochene  Phrase  durch  die  musi- 
kalische Phrase  auf  eine  gewisse  Art  angezeigt  und  vorbereitet 
wird.«  Rousseaus  »Pygmalion«  ist  das  erste  Werk  der  Klasse, 
nach  Jansen  war  es  schon  im  Jahre  1762  fertig.  Rousseau  hat 
aber  nur  den  Text  veröff'entlicht  mit  Angaben  darüber,  was  die 
Musik  an  den  einzelnen  Stellen  auszudrücken  habe  und  wie  lange 
sie   dauern    soll.      Ob  er  es  selbst  auch,   ganz  oder  teilweise,  kom- 


1  Ed.  Istel:  »Studien  zur  Greschichte  des  Melodramasc,  Leipzig  1901. 

2  6.  Band  der  Gesamtwerke  S.  226. 


Melodram  in  Singspiel  und  opera  comique  249 

poniert  hat,  ist  streitig.  Aber  verschiedene  andere  Komponisten 
haben  zu  diesem  »Pygmalion«  und  nach  Rousseaus  Vorschriften 
eine  Musik  geschrieben,  1772  Franz  Asplmayr  in  Wien.  Die  bedeu- 
tendste Komposition  ist  die  von  Georg  Benda,  ausgezeichnet  durch 
den  ganz  modernen  Ton  ihrer  Ouvertüre.  Dem  »Pygmalion«  ließ 
Benda  eine  »Ariadne  auf  Naxos«,  eine  »Medea«  folgen.  Neefe  kam 
mit  einer  »Sofonisbe«,  Gotthilf  von  Baumgarten  mit  einer  »Andro- 
meda«,  auch  Scheibe  mit  einer  »Ariadne«.  Schnell  war  das  Melo- 
dram beliebt.  Große  Schauspieler,  wie  Iffland,  gefielen  sich  darin 
um  so  mehr,  als  sie  die  Szene  allein  beherrschten,  denn  in  der  Regel 
waren  diese  Stücke  nur  Monodramen,  höchstens  eine  zweite  Person 
kam  dazu,  wie  im  »Pygmalion«.  Mit  solchen  Monodramen  und  Duo- 
dramen ließ  sich  schön  reisen.  Unter  andern  waren  der  Schau- 
spieler Brandes  und  noch  die  bekannte  Händel-Schütz  viel  bewun- 
derte Spezialisten  des  Melodrams.  Wieland,  Herder,  Goethe  —  in 
seiner  späteren  Zeit  —  waren  Anhänger  der  Gattung,  nur  Schiller  sah 
in  ihr  etwas  Fratzenhaftes.  Von  Musikern  war  ihm  Mozart  zugetan; 
er  hat  es  bekanntlich  auch  in  der  Musik  zum  »König  Thamos«  im 
Bendaschen  Stil  angewendet.  Bis  gegen  1820  hielt  es  sich  in  Deutsch- 
land. Eine  größere  Bedeutung  wie  als  selbständige  Kunst  hat  das 
Melodrama  durch  die  Verbindung  mit  der  Oper  erhalten.  Der  erste, 
der  diese  Verbindung  versucht  hat,  ist  Neefe  in  der  »Adelheid 
von  Veitheim«  1781.  Diese  »Adelheid«  ist  ein  Türkenstück,  auf 
einer  ganz  ähnlichen  Fabel  aufgebaut  wie  Mozarts  »Entführung«. 
Am  Anfang  des  zweiten  Aktes,  in  der  Szene,  wo  Karl,  der  Geliebte, 
als  Türke  verkleidet  eintritt,  um  Adelheid  zur  Flucht  abzuholen, 
da  setzt  Neefe  mit  dem  Melodram  ein,  und  von  da  ab  hat  das 
Melodram  im  Singspiel  der  Deutschen  und  in  der  französischen 
opera  comique  jahrzehntelang  seinen  festen  Platz.  Überall,  wo  es 
unheimlich  und  schauerlich  wird,  wo  Geistermacht  zu  spüren  ist, 
dunkle  Ahnungen  mächtig  walten,  wo  es  sich  entscheidet,  ob  Leben 
oder  Tod,  an  den  Wendepunkten  zwischen  Gut  und  Bösem  —  da 
setzt  das  Melodram  ein.  Es  gibt  auch  freundliche  Melodramen,  bei 
Traumerscheinungen;  bei  Cherub ini  kommt  einmal  eins  in  einer 
Szene  vor,  wo  Äpfel  an  Kinder  verteilt  werden;  aber  das  sind  Aus- 
nahmen. Das  Melodram  ist  die  Musik  für  die  Momente  des  Schau- 
derns  und  Entsetzens,  es  wurde  eine  poetische  Macht  für  die  Oper 
am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts,  ähnlich,  aber  stärker,  wie  es  für 
die  Venezianer  des  17.  Jahrhunderts  die  Geister-  und  Schattenszenen 
mit  den  langen,  mystischen  Violinenklängen  gewesen  waren.  Es 
behauptete  sich  nicht  bloß,  es  wuchs  vielmehr  an  Bedeutung,  als 
sich  die  komische  Oper  der  JFranzosen  mit  der  Revolutionszeit  einer 
realeren  Richtung  zuwendete. 

Wie  der  Name  Favart  beweist,  hatte  die  opera  comique  zu  den 
politischen  und  gesellschaftlichen  Zuständen  Frankreichs  von  jeher 
engere  Fühlung  genommen,  und  in  diesem  Verhältnis  lag  ein  Teil 


250  Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

der  Kraft,  die  sie  über  die  Gemüter  gewann.  Sie  hielt  mit  der 
nachfolgenden  Bewegung  nicht  bloß  Schritt,  sie  spiegelt  ihre  ein- 
zelnen Wendungen  wieder,  sie  wirft  zuweilen  den  Zündstoff  in  die 
Parteien.  So  gewann  z.  B.  Gretrys  »Richard  Löwenherz«  eine  über 
Musik  und  Kunst  weit  hinausgehende  Bedeutung.  An  dieser  Oper 
belebten   sich   zum  letzten   Male   die   Hoffnungen   der  Königstreuen. 

Vom  Jahre  1793  ab  —  kann  man  sagen  —  bestimmt  der 
Gang  der  politischen  Dinge  vollständig  den  Charakter  der  alten 
französischen  opera  comique.  Das  sind  ernste,  düstere  Dramen  in 
der  Dichtung,  die  Musik  wird  mehr  und  mehr  auf  den  tiefen, 
schweren  Ton  Glucks  gestimmt.  Den  Übergang  von  der  leichten, 
anmutigen,  sinnigen  Beweglichkeit  der  Duni  und  Philidor  bildet 
Mehul  mit  »Euphrosine«,  mit  ^Phrosine  et  Melidore«^  mit  *  Helene«, 
den  vollendeten  Umschwung  bezeichnet  Lesueur  mit  seiner  »Ca- 
verne«.  Diese  »Gaverne<^,  deren  Handlung  mit  Schillers  »Räubern« 
große  Ähnlichkeit  aufweist,  ist  vielleicht  dasjenige  Kunstwerk,  das 
uns  den  tiefsten  Blick  auf  Geist  und  Herz  der  Schreckenszeit  ge- 
stattet. Es  gibt  keine  zweite  Oper  mit  solcher  dumpfängstlichen 
Stimmung,  solcher  fieberhaften  Erregung  und  solcher  wilden  Ener- 
gie. Da  äußert  sich  alles  originell  und  groß,  viel  zu  ungewöhnlich 
und  neu  in  Formen  und  Mitteln.  Das  mag  der  Grund  sein,  warum 
Lesueur  weder  in  seiner  Zeit  noch  in  der  Geschichte  die  Anerken- 
nung gefunden  hat,  die  er  wegen  dieses  "Werkes  und  wegen  seiner 
»Barden«  verdient.  In  Deutschland  ist  die  ^Caverne*  als  »Die 
Höhle  bei  Kairo«  und  als  »Die  Räuberhöhle«  in  Wien,  Berlin  und 
in  kleineren  Orten  noch  um  1812  aufgeführt  worden.  Da  verstand 
man  ihren  Zusammenhang  mit  der  Revolutionszeit  nicht  mehr,  fand 
sie  tumultuarisch.  Aber  auch  in  Frankreich  war  die  Wirkung  nicht 
nachhaltig.  Einmal  nicht,  weil  Lesueur  selbst  mit  seinem  ^Paul 
et  Virginie«  die  Richtung  wieder  verließ,  zum  andern,  weil  sich 
menschenfreundlichere  Vertreter  fanden.  Ihre  Spitzen  sind  Nicolas 
D'Alayrac  und  Luigi  Cherubini. 

Der  Name  D'Alayrac  ist  der  heutigen  Zeit  fremd  geworden,  am 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  war  er  viel  bekannter  als  der  Mozarts. 
Auch  in  Deutschland  waren  seine  Werke  überall  eingebürgert  und 
einzelne  von  ihnen  so  beliebt  wie  dreißig  Jahre  vorher  die  Hiller- 
scben  Singspiele.  Jedermann  kannte  seine  »Les  deux  Savoyards*, 
seinen  »Giulistan«.  Seine  Hauptwerke  sind  aber  ^Lehemann  ou  la 
tour  de  Neustadt«  und  sein  -»Raoiil  de  Crequi«.  Das  sind  Opern, 
die  zur  Schreckenszeit  gehören,  Dramen  über  das  Problem  mensch- 
liche Grausamkeit  und  Gotteshilfe.  Zum  Tod  verurteilte  Gefangene 
werden  gerettet.  Was  D'Alayrac  von  Lesueur  unterscheidet,  das 
ist,  daß  er  außer  düsteren  Farben  doch  auch  helle  einzufügen  weiß, 
daß  er  die  Zuhörer  nicht  ganz  und  gar  aus  ihrem  gewöhnlichen 
Dasein  heraus,  nicht  bloß  in  ein  Leben  voller  Schrecken  und  Ent- 
setzen wirft.    Den  Bildern  der  Greuel,  der  Todesangst,  der  Nieder- 


Revolutions-  und  Schreckensoper  251 

tracht  und  List  stehen  in  seinen  Opern  Szenen  der  bürgerlichen 
Ruhe,  des  Familienglücks,  der  Freundschaft  und  Aufopferung,  des 
Heldensinns  gegenüber;  sie  sind  frei  von  der  persönlichen  Einseitig- 
keit Lesueurs.  Die  Musik  ist  geistreich  mit  einfachen  Mitteln,  na- 
mentlich im  Unheimlichen  spannend,  lebendig,  poetisch  und  vor 
allem  national.  D'Alayrac  ist  neben  Boieldieu  der  vorzüglichste 
Vertreter  der  Romanze  in  der  französischen  Oper. 

Die  Opern  Cherubinis,  die  ins  Gebiet  der  Revolutions-  und 
Schreckensoper  gehören,  sind:  > Elisa  ou  le  voyage  aux  glaciers  du 
Moni  Bernard«,  »Les  deux  journees«  (»Der  Wasserträger«)  und 
»Faniska<s..  Auch  die  ^ Elisa«  ist  ein  Rettungsstück.  Die  Gefahr 
droht  aber  diesmal  nicht  von  Menschen  und  politischen  Gewalt- 
habern, sondern  von  der  wilden  Natur.  Die  Oper  spielt  im  und 
am  Hospiz  des  großen  St.  Bernhard.  Gesänge  der  Brüder,  die  den 
schönen  Tag  begrüßen,  eröffnen  sie  und  klingen  später  in  dem 
Augenblick  wieder,  wo  Elisa  und  Laura  im  wilden  Gebirge  verirrt, 
den  Tod  erwarten.  Eigen:  Cherubini  auf  einem  Gebiet  kennen  zu 
lernen,  wo  er  die  musikalischen  Inspirationen  aus  der  Erhabenheit, 
der  Reinheit  und  Naivität  der  Alpennatur  holt. 

Die  -»Faniska«  ist  unter  Cherubinis  Beiträgen  zur  Schreckens- 
oper der  bedeutendste,  seine  originellste,  gewaltigste  Leistung.  Von 
hier  aus  hat  er  am  stärksten  auf  Beethoven  und  auf  Weber  einge- 
wirkt, die  Gestalten  der  Leonore  und  des  Lysiart  ihnen  vorgebildet. 
Leider  ist  der  Text  auch  dieser  Oper  sehr  schwach.  Zamowsky 
gehört  unter  die  Bösewichter  mit  schönen  Seelen,  die  im  *  Bravo« 
und  im  ^  Gmra7nento  «■  Mercadantes,  im  »Vampyr«  Marschners  und 
in  andern  Bravourstücken  unserer  romantischen  Oper  die  Helden 
vertreten.  » Faniska«  ist  zugleich  das  Endstück  der  Gattung.  Zwei 
Jahrzehnte  lang  beherrscht  sie  die  französische  Oper  dermaßen,  daß 
daneben  nur  einzelne  Produkte  der  Empfindsamkeit  und  Rührung, 
die  im  Seelenleben  der  Zeit  ja  motiviert  waren,  zum  Vorschein 
kommen,  ohne  sich  zu  behaupten.  In  diese  Klasse  gehört  ein 
»Romeo  et  JuHette«  von  dem  Pianisten  Steibelt  —  eine  böse  Ver- 
wässerung  Shakespeares  mit  einer  sehr  gewöhnlichen,  gefallsüchtigen 
Musik,  die  aber  deshalb  Beachtung  verdient,  weil  sie  zeigt,  daß 
Gluck  mit  der  Verdrängung  des  recitativo  secco  auf  den  Sinn  für 
Deklamation  verwüstend  gewirkt  hat.  Diese  entsetzliche  Stilver- 
mischung zwischen  Dialog  und  geschlossener  Form,  die  Schumanns 
Oper  und  seinen  Oratorien  zum  Verderb  geworden  ist,  die  die  Ope- 
retten von  Johann  Strauß  so  gefährlich  und  unerträglich  macht  — 
sie  beginnt  mit  Steibelt.  Er  ist  einer  der  ersten,  der  seine  Ge- 
schmacklosigkeit und  seine  Unfähigkeit,  Erzählung  und  Rede  sinn- 
gemäß zu  scheiden,  hinter  Melodien  verbirgt. 

Die  Schreckensoper  hat  über  Frankreich  hinaus  gewirkt.  Die 
Mayrsche  Schule  in  Italien  lehnt  an  sie  mit  den  Texten,  auch  mit 
einem  Teil  der  musikalischen  Effekte  an.     In  Deutschland   hat   sie 


252  Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

ein  Meisterwerk  hervorgerufen:  Beethovens  »Fidelio«,  und  durch 
diesen  »Fidelio«  lebt  sie  allein  noch  in  der  Gegenwart.  Nur  we- 
nige von  den  Bewunderern  dieses  Werkes  wissen  etwas  von  der 
Gattung,  zu  dem  es  gehört.  Im  besonderen  musikalischen  Stil  steht 
es  den  Werken  Cherubinis  am  nächsten.  Es  gehört  mit  zu  Beet- 
hovens Wesen,  daß  ein  Text  wie  der  des  »Fidelio«  ihn  anzog. 
Auch  für  Goethe  waren  »Fidelio«  und  »Wasserträger«  das  Ideal  der 
Operndichtung.  Beethoven  aber,  so  viel  er  auch  suchte  und  wieder 
plante,  hat  nur  den  einen  »Fidelio«  komponiert.  Grillparzers  »Melu- 
sine« und  was  ihm  sonst  noch  von  romantischen  Texten  unterbreitet 
wurde,  nichts  fesselt  dauernd  und  ernstlich  den  großen  Rationalisten. 
Beethovens  Stellung  zur  Oper,  seine  Bemerkungen  über  »Figaro« 
und  andere  Opern  seiner  Zeit  kennen  zu  lernen,  ist  wichtig  für  die 
volle  Kenntnis  seiner  geistigen  Persönlichkeit;  über  seine  Stellung 
in  der  Oper  muß  man  unterrichtet  sein,  um  das  Schicksal  des 
»Fidelio«  zu  verstehen.  Scheinbar  hat  auch  hier  wieder  die  Mit- 
welt ein  Unrecht  begangen.  »Fidelio«  ist  bekanntlich  im  Jahre 
1805  zuerst  in  Wien  aufgeführt  worden;  aber  erst  später  verbreitet 
er  sich:  Kassel  1814^  Berlin  1815,  Hamburg  1816,  Königsberg  1819, 
München  1821,  Dresden  1823,  Hannover  1824,  Mannheim  1827, 
Darmstadt  1830,  Würzburg  1831,  Koburg  1832,  Nürnberg  1832, 
Lübeck  1835.  Noch  mehr  verwundert  es  uns  zu  hören,  daß  er 
meistens  nicht  eben  gefällt  und  sich  nicht  im  Repertoire  hält.  Doch 
erklärt  sich  das  alles  einfach.  Beethoven  zog  nach  der  ersten  Wiener 
Aufführung  den  »Fidelio«  zurück  und  arbeitete  ihn  um.  In  der 
neuen  Gestalt  erschien  er  aber  erst  1814  wieder  und  nun  allerdings 
als  Fremdling,  als  Vertreter  einer  Richtung,  die  von  der  Zeit  nicht 
mehr  verstanden  wurde.  Auch  D'Alayracs  und  Cherubinis  Opern 
lebten  jetzt  für  die  Bühne  nicht  mehr,  die  ganze  Gattung  der  Revo- 
lutions-  und  Schreckensoper  war  bereits  wieder  vergessen.  Sie  war 
nur  eine  Episode  in  der  Entwicklung  der  romantischen  Oper,  aber 
ein  durch  Ernst,  Kraft  und  Natürlichkeit  bedeutender  Abschnitt,  das 
wichtigste  und  gehaltvollste  Stück,  das  die  Franzosen  zur  Geschichte 
der  Oper  beigetragen  haben. 

Um  die  Zeit  des  Wiener  Kongresses,  dieselbe  Zeit  also,  wo 
Beethoven  seinen  »Fidelio«  in  umgeänderter  Gestalt  vorlegte,  tritt 
in  der  Oper  aller  Länder  eine  Wendung  ein,  die  der  romantischen, 
die  überhaupt  jeder  ernsteren  Richtung  ungünstig  ist.  »Die  Völker 
waren  nach  den  Erschütterungen  der  Revolutionszeit  und  der  Na- 
poleonischen Kriege  müde  geworden.  Niedergedrückt  von  den 
Greueln,  die  man  erlebt,  vertraut  geworden  mit  allem  Elend,  suchte 
man  nun  Erheiterung  in  den  gröblichst  erfrischenden  Kunstlüsten. 
Das  Theater  ward  zum  Guckkasten,  in  dem  man  gemächlich  eine 
Szenenreihe  vor  sich  abspielen  ließ,  zufrieden  durch  Spaße  oder 
Melodien  gekitzelt,  oder  durch  Gewaltstreiche  jeglicher  Art  ge- 
blendet.   Nur  das  Frappante  tat  noch  Wirkung.«     Das  sind  Worte 


Aufschwung  der  K.omischen  Oper  253 

K.  M.  V.  Webers.  Die  nächsten  Jahre  nach  der  Schlacht  von  Waterloo 
sind  in  Italiens  ernster  Oper  die  Glanzzeit  der  Mayrschen  Schule, 
in  Deutschland  hat  sie  in  Peter  Winter  mit  seinem  »Unterbrochenen 
Opferfest«  einen  talentvollen  Parteigänger,  neben  dem  sich  nur  noch 
die  bürgerliche  Idyllenoper  in  Weigls  »Schweizerfamilie«  behauptet. 
In  Frankreich  hört  jahrelang  die  große  Oper  vollständig  auf  oder 
sie  fristet  sich  durch  Wiederholung  alter  Werke  weiter.  Eine  Folge 
der  Unbestimmtheit  des  Weges  ist  der  Mangel  an  Talenten! 

Dagegen  erlebt  in  dieser  Zeit  die  komische  Oper  in  allen  Län- 
dern wieder  einen  Aufschwung,  der  die  Erfolge  des  18.  Jahrhunderts 
noch  übersteigt.  Der  gefeiertste  Komponist  auf  italienischen  und 
deutschen  Bühnen  wird  Joachim  Rossini.  ^  Es  genügt  durchaus 
nicht,  diese  Tatsache  ironisch  zu  behandeln  und  auf  Rechnung  einer 
verlodderten  Zeit  zu  setzen,  wie  es  z.  B.  W.  Riehl  (im  2.  Bande 
seiner  »Musikalischen  Charakterköpfe«)  tut.  Rossini  war  mehr  als 
ein  Spekulant  auf  schlechte  Instinkte,  ein  Künstler  von  einem 
Bildungsdrang,  der  bis  zu  Beethoven  ging,  wie  seine  Oper  »Elisa- 
beth« beweist.  Das  ist  für  einen  Italiener  vom  Jahre  1815  nicht 
gewöhnlich.  Ja,  er  hat  sich  in  seinen  alten  Tagen,  als  er  von  der 
Öffentlichkeit  längst  zurückgetreten  war,  noch  mit  Bach  beschäftigt 
und  sein  Beitritt  zu  der  Bachgesellschaft  hätte  manchen  unserer  deut- 
schen hochgestellten  Musiker,  die  für  eine  Gesamtausgabe  der  Werke 
Bachs  kein  Verständnis  hatten,  beschämen  können.  Aber  Rossini 
war  vor  allem  ein  Komponist,  der  für  die  komische  Oper  eine  ele- 
mentare Begabung  mitbrachte.  Der  Witz  und  die  Lebendigkeit  der 
alten  opera  huffa  ist  bei  Rossini  durch  einen  Zug  des  Spottes  und 
der  komischen  Übertreibung  gesteigert,  der  den  Boden  vorbereitet 
hat,  auf  dem  Heinrich  Heines  Erfolge  wuchsen.  Sein  Humor  und 
seine  gute  Laune  unterscheiden  sich  von  der  der  Piccinni  und 
Paisiello  durch  die  Vorliebe  für  possenhafte  Elemente,  durch  einen 
Zusatz  von  modernen  Pessimismus.  Er  schildert  mit  derselben 
Virtuosität  wie  seine  Vorgänger,  aber  es  wird  ihm  schwer,  sich 
ehrlich  wie  sie  mitzufreuen.  Sagen  einmal  die  Sänger  ein  paar 
ruhige  Worte,  so  fährt  gleich  das  Orchester  mit  einem  tollen  Ge- 
lächter darein.  Gemüt  und  Herz  sind  bei  ihm  schwach  entwickelt, 
er  besitzt  Gaben  für  den  Ausdruck  dunkler  Leidenschaften,  sogar 
fürs  Tragische,  und  wer  sich  davon  an  einem  Stücke  überzeugen 
will,  mag  den  dritten  Akt  des  »Othello«  aufschlagen.  Aber  er  ist 
arm  im  Innigen  und  kann  nicht  fröhlich  sein,  ohne  einige  Bock- 
sprünge zu  machen.  Seine  Kunst  gleicht  einem  Staat,  in  dem  der 
Mittelstand  fehlt  und  wo  der  Plebejer  mit  Übergriffen  droht!  Das 
zeigt  noch  die  »Teil «-Ouvertüre.  Da  setzt  ein  sinniger,  ein  großer 
Poet  ein;  Dieser  Kuhreigen,  der  Sturm,  wie  schön  das  alles,  wie 
neu    in   den   Klängen    der  vier    Cellos!    Nun   aber,    wo    wir    einen 

1  Alfred  Tectoni:  >a,  Rossini«,  Bologna  1909. 


254  Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

Schluß  erwarten,  eine  Jubelhymne  im  Stil  der  Beethovenschen 
»Egmont «-Ouvertüre  —  da  kommt  diese  impertinente  Gaminmusik. 
Das  ist  das  Bild  von  Rossinis  Künstlerperson!  Ein  Talent,  das  viel 
Frische  und  Freude,   aber  auch  sehr  viel  Verwirrung  gebracht  hat! 

Riehl  setzt  Rossini  unter  die  Romantiker.  Darauf  hat  er  nur 
mit  einigen  Werken,  wie  »Donna  del  lago^^  wie  »Mathilde  di  Sabran« 
Anspruch.  Man  könnte  ihn  auf  Grund  seiner  »Armide«,  seiner 
»Semiramis«,  seines  »Moses«  ebensogut  für  die  Glucksche  Schule 
beanspruchen.  Fetis  und  nach  Fetis  Gumprecht  schreiben  ihm  eine 
Menge  Verdienste  um  die  Weiterentwicklung  der  Form  in  der  Oper 
zu.  Er  soll  das  Seccorezitativ  beseitigt,  eine  beweglichere  und 
reichere  Harmonie  eingeführt  haben.  Das  sind  aber  Neuerungen, 
die  entweder  auf  Gluck  oder  auf  die  Mayrsche  Schule  zurückgehen. 
An  Mayr  knüpft  seine  Entwicklung  tatsächlich  an.  Durch  Rossini 
lernten  die  Deutschen  zuerst  das  Piccolo  und  die  große  Trommel, 
die  Banda  der  Mercadante  und  Pacini,  den  Pomp,  das  Gift  und  die 
Gemeinheit  des  neuitalienischen  Orchesters  kennen.  Die  grobsinn- 
lichen und  raffinierten  Eft'ekte,  die  der  Gegenwart  an  Meyerbeers 
Instrumentierung  geläufig  sind,  finden  sieh  lange  vorher  beim  Rossini 
des  »Tancred«  und  des  »Grafen  Ory«.  Von  der  Mayrschen  Schule 
nahm  Rossini  auch  die  frommen  und  feierlichen  a  cappeUa-S3itze^  er 
nahm  von  hier  vor  allem  das  Prinzip,  den  Stil  auf  sinnliche  Effekte 
zu  stellen,  er  kopierte  von  Mayr  das  Konzert  in  der  Oper,  er  brachte 
es  aber  in  der  Form  des  Vokalkonzerts.  Was  für  Mayr  und  seine 
Schüler  der  Bläserklang,  das  ist  für  Rossini  die  virtuose  Gesang- 
technik. Das  ganz  unsinnige  Koloraturfieber,  das  die  Unwissenheit 
unter  die  Kennzeichen  der  italienischen  Schule,  der  alten  insbe- 
sondere, rechnet,  ist  eine  Erfindung  Rossinis.  Die  schönsten  unter 
seinen  älteren  Opern,  wie  »Die  Italienerin  in  Algier«  oder  »Der 
Türke  in  Italien«,  sind  noch  ziemlich  frei  davon;  aber  von  der 
^Cenerentola«  ab  bringen  die  Werke  Rossinis  eine  förmliche  Kanarien- 
zucht  auf  die  Bühne.  Ohne  alle  Rücksicht  auf  Charakter,  von 
Situation  und  Text  sehwirren,  trillern,  fliegen  und  laufen  in  diesen 
Melodien  die  Töne.  Spaß,  Staunen,  Ohrvergnügen  sind  die  Ziele 
dieses  Vokalstils,  Form  und  Geist  des  Wortes  werden  mißhandelt. 
Rossini  wird  zum  gefährlichen  Verderber  des  musikalischen  Ge- 
schmacks, eine  wahre  Verheerung  des  dramatischen  Sinnes  in  der 
Oper  ist  die  geschichtliche  Hauptspur  seines  Wirkens.  Nach  Rossinis 
Beispiel  wird  der  Ausdruck  bedeutender  Situationen  und  Empfin- 
dungen für  die  Bühnenmusik  Nebensache,  der  Leierkastenmann  die 
entscheidende  Instanz.  Bis  heute  ist  der  Schaden,  den  Rossini  bei 
Komponisten  und  beim  Publikum  angerichtet,  noch  nicht  wieder 
ausgeglichen. 

Die  Hauptzeit  der  Rossinischen  Herrschaft  ist  das  Jahrzehnt 
von  1815  bis  1825.  In  Italien  und  in  Deutschland  ist  da  niemand, 
der  ihm  die  Wage  irgendwie  halten  könnte,   und  alle  Komponisten 


K.  M.  von  "Webers  »Freischütz«  255 

der  beiden  Länder  zusammen  bringen  es  nicht  auf  die  Hälfte  der 
Aufführungen,  die  auf  Rossinis  Werke  fallen.  Aber  diese  üossini- 
sche  Zeit  ist  trotzdem  der  letzte  Akt,  das  Ende  oder  das  Nachspiel 
der  italienischen  Vorherrschaft  im  Musikdrama.  1826  löst  München 
seine  italienische  Oper  auf,  1828  Wien,  1832  verlassen  die  Italiener 
auch  ihren  letzten  Posten,  Dresden.  Schon  1818  schreibt  Weber 
von  da  an  Lichtenstein:  »Unsere  italienische  Oper  siecht  an  Alters- 
schwäche.« Kassel  war  schon  1785,  Berlin  1806  verloren  worden. 
Wenn  bei  uns  der  Götzendienst  um  die  Werke  Rossinis  schneller 
aufhörte,  als  das  zu  erwarten  war,  so  gebührt  das  Verdienst  unserm 
Karl  Maria  von  Weber.  ^  Mit  Webers  »Freischütz«  wird  nicht 
bloß  Rossini,  es  wird  die  komische  Oper  auch  in  ihren  franzö- 
sischen Vertretern,  Isouard,  Boieldieu,  bei  uns  zurückgedrängt.  Die 
romantische  Richtung  in  der  Oper,  2  die  durch  die  Schreckensoper 
auf  einen  Nebenpfad  abgeschwenkt  war,  lenkt  wieder  in  den  Haupt- 
weg ein  und  strebt  nach  dem  frei  gewordenen  Platz  der  ehemaligen 
Renaissancoper,  sie  macht  Anstalt  die  Führung  im  Musikdrama 
höheren  Stils  zu  übernehmen.  Mit  dem  »Freischütz«  tut  Deutsch- 
land den  entscheidenden  Schritt  in  der  Geschichte  der  Oper;  es 
beginnt  eine  Bewegung,  die  mit  Richard  Wagner  und  mit  der  Vor- 
herrschaft deutschen  Geistes  im  internationalen  Musikdrama  endet. 
Der  Erfolg  des  »Freischütz«  ist  einer  der  größten,  den  die  ge- 
samte Theatergeschichte  kennt.  Keine  vorhergehende  Oper,  auch 
kein  Schillersches  Stück  hat  sich  so  schnell  und  so  weit  durch 
Deutschland  verbreitet,  wie  Webers  »Freischütz«.  In  Berlin  am 
18.  Juni  1821  zum  ersten  Male  aufgeführt,  war  er  nach  drei 
Jahren  an  keinem,  auch  nicht  dem  kleinsten  der  Orte  mehr  un- 
bekannt, wo  man  sich  überhaupt  ans  Singspiel  traute.  Er  wirkte 
als  Erlösung  auf  die  große  Zahl  unserer  besten  Geister,  die  an 
Deutschlands  Zukunft  glaubten,  er  war  ein  Erfrischungstrunk  für 
alle  politische  Romantik,  gleichviel  in  welcher  Form,  für  die  feurige 
Jugend,  die  in  der  Burschenschaft  sich  auf  Kämpfen  und  Leiden 
vorbereitete  ebensowohl  wie  für  die  Männer,  die  in  Werken  von 
Kunst  und  Wissenschaft  die  deutsche  Vergangenheit  wiederbelebten, 
um  die  Gegenwart  zu  ermutigen  und  zu  kräftigen.  Deutsches 
Wald-  und  Jägerleben,  fröhliches  Volk  an  der  Dorfschenke,  Preis- 
schießen, Tanz  unten  der  Linde,  Fiedel-  und  Klarinettenklang,  die 
Abendglocken  —  als  Mittelpunkt  dieser  traulichen  Heimatsbilder 
eine  jener  Sagen,  in  denen  der  alte  Kampf  zwischen  Kirche  und 
Heidentum  volkstümlich-dramatisch  gefaßt  ist.  Der  Kugelsegen,  die 
Ahnungen,    die    Geistererscheinungen,    die   verwunschene    Schlucht, 


1  Max  Maria  von  Weber:  »Karl  Maria  von  Weber«,  3  Bde.,  Berlin 
1864-66  (1.  Auflage). 

2  M.  Ehrenstein:    »Die   Operndichtung    der   deutschen  Romantik« 
Breslau  1918. 


256  ^i®  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

der  grausige  Spuk  um  Mitternacht,  die  Jungfrau  im  frommen  Gebet, 
der  ehrwürdige  Eremit,  der  Fürst,  vor  dessen  Gerechtigkeit  sich 
alles  beugt  —  da  haben  wir  das  äußere  und  innere  Deutschland 
der  Weberschen  Zeit  in  einem  vollständigen,  ganz  lebensgetreuen 
Abriß!  Das  traf  alles  auf  offene  Herzen,  aber  wie  drang  es  durch 
die  Webersche  Musik  tief  ein!  Auch  der  »Freischütz«  ist  musi- 
kalisch nichts  als  ein  Singspiel,  aber  er  bietet  in  dessen  beschei- 
denen Formen  mehr,  als  das  vorher  jemals  ein  deutscher  Tonsetzer 
getan  hat.  Nach  der  romantischen  Seite  insbesondere  ist  er  eine 
Leistung,  der  die  ganze  vorhergegangene  Oper,  auch  in  den  reichsten 
französischen  Werken,  nichts  an  die  Seite  zu  setzen  hat.  Weber 
war  ein  geborenes  Theatergenie.  Das  sieht  man  schon  daraus,  daß 
seine  dramatischen  Arbeiten  immer  hoch  über  seinen  gleichaltrigen 
Instrumentalkompositionen  stehen ;  er  hatte  seine  Musik  hauptsäch- 
lich beim  Theater  gelernt.  Als  er  sein  erstes  Singspiel,  den  »Peter 
Schmoll«  schrieb,  da  war  er,  nach  dem  Autograph,  noch  unbeholfen 
im  Notenschreiben  und  ahmte  hauptsächlich  Franzosen  und  Italiener 
nach.  Das  zeigt  noch  seine  »Silvana«;  selbst  im  »Freischütz«  kann 
man  die  Spuren  von  Rossinis  Einfluß  in  Menge  feststellen.  Aber 
schon  als  halbes  Kind  ist  er  musikalisch  eigen.  Wie  merkwürdig 
diese  Behandlung  der  Fagotte  in  »Peter  Schmoll«!  In  der  »Silvana« 
dann  die  düster  glühenden  Baßmelodien,  die  den  Adelhardt  be- 
gleiten, die  originelle  Idee,  dem  stummen  Mädchen  in  einem  obli- 
gaten Cello  die  Sprache  zu  geben!  Eigen  ist  er,  aber  arm  an 
eigentlich  deutschen  Elementen,  unser  Lied  tritt  ganz  zurück  hinter 
der  französischen  Romanze.  Zum  Nationalkomponisten  haben  ihn 
erst  die  großen  Zeiten,  die  Befreiungskriege,  gemacht.  Durch  seine 
Chöre  zu  Körners  »Leier  und  Schwert«  ward  er  der  musikalische 
Liebling  aller  Patrioten;  die  Entschiedenheit,  mit  der  er  in  Dres- 
den seine  Rechte  gegen  die  Italiener  wahrte,  steigerte  noch  die 
Hoffnungen,  die  auf  ihn  als  Vertreter  deutscher  Kunst  gesetzt 
waren.  Aber  niemand  hatte  das  erwartet,  was  er  nun  im  »Frei- 
schütz« wirklich  brachte.  Schon  die  Ouvertüre  zeigte  den  Kom- 
ponisten als  eine  Originalkraft  ersten  Ranges.  Gleich  die  Waldmusik 
der  Hörner  in  den  ersten  Zeilen  war  etwas  Neues;  neu  war  in 
ihrem  verwirrenden,  aufregenden  Eindruck  die  Teufels-  und  Schauer- 
musik des  Allegros.  Wie  merkwürdig  klang  da  das  Gebet  der  Klari- 
nette hinein,  ein  Hilferuf  und  ein  Bannspruch  zugleich,  wie  einfach 
und  doch  dämonisch  diese  verminderten  Septakkorde  mit  den  nach- 
klopfenden Bässen  —  was  für  ein  lebendiges  und  mächtiges  Kolorit 
in  den  Instrumenten!  Alle  Einzelheiten  so  packend  und  naturge- 
waltig, das  Ganze  ungewohnt,  scheinbar  ungeordnet  in  der  Form, 
ein  Potpourri  —  und  doch  ein  vollendetes  Bild  des  Dramas.  Kein 
Wunder,  daß  so  viele  die  Programmouvertüre  erst  von  Weber  ab 
datieren!  Und  so  in  der  Oper  weiter.  Die  Realistik  dieses  Viktoria- 
chors, diese  Imitationen  mit  dem  naturgetreuen  Durcheinander,  dieses 


K.  M.  von  Webers  > Freischütz«  257 

Gelächter,  das  das  flott  bewegliche,  in  Natürlichkeit  sich  drehende 
Lied  Kilians  beschließt,  die  Klarheit  der  Charaktere  in  dem  ersten 
Terzett  —  ein  Treffer  nach  dem  andern!  Selbst  wo  die  Musik  zum 
Anfang  anlehnt,  nimmt  sie  bald  eine  ungewohnte  Wendung.  So 
ist  es  mit  Maxens  »Durch  die  Wälder,  durch  die  Auen«.  Diese 
Szene  spricht  erst  in  Mehuls,  in  Rossinis  Zunge;  aber  vom  Er- 
scheinen Samiels  ab  wird  sie  dramatisch  meisterlich;  die  Verzweif- 
lung hat  vorher  kein  deutscher  Komponist  so  heftig  und  mit  solchem 
dämonischen  Farbenspiel  wiedergegeben.  Nun  tritt  Kaspar  auf: 
»Hier  im  ird'schen  Jammertal«.  Was  hat  da  Weber  für  eine  Flut 
von  Wildheit  in  die  paar  Zeilen  gefaßt.  Und  nun  Agathens  *Wie 
nahte  mir  der  Schlummer«  —  das  Musterstück  einer  modernen, 
frei  entwickelten  Szene,  die  Form  der  natürliche  Erguß  der  Seelen- 
bewegung! Das  Eigentümlichste  kommt  aber  noch  in  der  Wolfs- 
schluchtsszene. Schon  die  Idee  eines  Duettes,  in  dem  der  eine  singt, 
der  andere  spricht!  Samiel  konnte  aber  gar  nicht  greller  heraus- 
gehoben werden  als  durch  diesen  Sprechton.  Wie  geistreich  ist 
diese  Szene  mit  den  früheren  Vorgängen  verbunden  durch  das 
Samielmotiv  mit  den  nachschlagenden  Bässen,  durch  die  Zeilen  des 
Trinkliedes,  durch  die  Reminiszenz  aus  dem  Lachchor.  Dann  das 
Melodram  beim  Kugelguß  —  die  verminderten  Dreiklänge  fürs 
wilde  Heer  darin,  die  impertinenten  Flötenpfiffe  und  alle  die  Blitze 
einer  musikalischen  Originalphantasie!  Wie  weit  bleiben  gegen  diesen 
Reichtum  die  Seestürme  und  Donnerwetter  der  Franzosen  zurück  — 
das  war  ein  gewaltiger  Schritt  in  die  romantische  Tiefe  der  Musik 
hinein.  —  Manches  im  »Freischütz«  ist  gemacht,  besonders  im 
Humor  und  in  der  Munterkeit  des  Ännchens.  Es  gefiel  aber  den 
ersten  Hörern,  weil  es  an  beliebte  Muster  erinnerte,  und  teilweise 
hat  Weber  alte  Traditionen  des  Singspiels  höchst  glücklich  erneuert, 
z.  B.  im  Chor  der   »Brautjungfern«. 

Der  Kunstwert  des  »Freischütz«  ist  unabhängig  von  seinem  natio- 
nalen Element.  So  haben  ihn  denn  die  Franzosen  schon  im  Jahre 
1822  sich  zu  eigen  gemacht,  er  kam  da  auf  dem  O de on- Theater 
als  »Eobi7i  de  Bois^  in  einer  Einrichtung  von  Castil-Blaze  zur  Auf- 
führung. Berlioz  hat  uns  darüber  mancherlei  erzählt,  was  auf  die 
Aufführung  Licht  wirft.  »Bei  der  sechsten  oder  siebenten  Vor- 
stellung —  berichtet  B.  —  saß  ein  rotköpfiger  Einfaltspinsel  neben 
uns  im  Parterre,  der  sich  einfallen  ließ,  die  ,Arie'  der  Agathe  im 
zweiten  Akt  auszupfeifen.  Er  behauptete,  das  sei  , verrückte  Musik' 
und  überhaupt  sei  an  der  ganzen  Oper  nichts  mit  Ausnahme  vom 
Walzer  und  Jägerchor.  Daß  dieser  Kenner  zur  Tür  hinausfliegen 
mußte,  versteht  sich  von  selbst.«  Im  Jahre  1841  kam  dann  der 
»Freischütz«  als  »Le  Frey  schütz^  auf  die  Große  Oper  mit  Rezi- 
tativen  von  Berlioz  und  eingelegten  Tänzen.  Über  diese  Aufführung 
hat  R.  Wagner  belustigt  und  empört  zwei  Aufsätze  geschrieben,  die 
im    ersten   Band    der    »Gesammelten  Schriften«    aufgenommen  sind. 

Kl.  Handb.  der  Musücgescb.    VI.  17 


258  -Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

Die  Italiener  haben  den  > Freischütz«  zwar  nirgends  aufgeführt,  aber 
er  ist  doch  ins  Italienische  übersetzt  worden;  in  einer  Ausgabe  von 
Schlesinger  (in  Berlin)  heißt  er  »//  Franco  Arciero^^,  in  einer  zweiten 
bei  Ricordi  (in  Mailand)  »H  B6rsagliere<^.    Der  ^> Freischütz«  brauchte 
keine    nationalen   Stützen,    aber   daß    er   in  eine  Zeit  hochgehender 
nationaler  Bewegung,  in  die  heiße  Jugend  unserer  politischen  Ro- 
mantik fiel,  hat  auf  sein  Schicksal  und  auf  seine  Wirkungen  doch 
bedeutenden    Einfluß    gehabt.      Der    Sturm   vaterländischen    Stolzes, 
den  er  entfesselte,  richtete  sich  nicht  bloß  gegen  Rossini    und    die 
schlechten  Früchte  ausländischer  Musik,   sondern  gegen  den  fremd- 
ländischen Einfluß  überhaupt.    Der  Komponist,  der  den  ganzen  Zorn 
der  Weberschen,   der  deutschen  Partei  auf  sich   lud,    war   unglück- 
licherweise  Spontini.    Nun  war  Spontini  allerdings  seit  dem   »Fer- 
dinand Cortez«    in  seinem  Streben  nach  Massenwirkung  äußerlicher, 
in  seiner  Erfindung  einseitig  militärisch  und  darum  ein  besonderer 
Liebling   der   Wachtparaden   geworden.     Aber    es   war  doch  immer 
ein    Künstler    von    ernster    Richtung,   ein  Bundesgenosse  gegen  die 
Frivolität   Rossinis.     Es   müssen   da   ganz    persönliche,    noch   nicht 
aufgeklärte  Ursachen   mitgewirkt   haben,    um   aus    dem    Unterschied 
im    Wesen    der   Weberschen    Oper    und    der    Spontinischen    bis    zu 
großen,  volksgeschichtlichen  Gegensätzen  zu  treiben.    Spontini,  der, 
wie  er  seit  dem   »Milton«   allem,  was  an  opera  comique  und  opera 
buffa    erinnerte,    ausgewichen   war,    auch    dem    deutschen    Singspiel 
verständnislos,  grundsätzlich  abgeneigt  gegenüberstand,  war  in  seinen 
Urteilen  hart,  rücksichtslos,  Weber  außerordentlich  reizbar  und  emp- 
findlich.   Grund  hatte   er  dazu,   das  lehren  uns  die  Hauptmannschen 
Briefe   an  Hauser.     Mit  Staunen   überzeugt  man    sich    da,    daß    die 
musikalischen    Zünftler   Weber   als    einen    Dilettanten   behandelten, 
gerade  so,   wie  sie  es    eine  Generation    später    wieder    mit  Wagner 
taten.      Auch  Spohr  will  in  seiner  Selbstbiographie  nicht  viel  vom 
»Freischütz«    wissen,   am   allerwenigsten   von   dem,    was   daraus    ins 
Volk  gedrungen.     >Wenn  solche  Melodien  den  Ruhm  eines  Werkes 
trügen,   dann  —  sagt  er  —  müßten  Wenzel  Müller  und  Kauer  die 
begabtesten  und  glücklichsten  Komponisten  sein.«    Weber   konnten 
die  Erfolge    seines    »Freischütz«    über    solche    Kränkungen    trösten. 
Als  das  Werk  in  Nürnberg  zuerst  (19.  August  1822)  gegeben  wurde 
—  äußerte     es     keine    Zugkraft.      Als    aber    »Jungfernkranz«    und 
»Jägerchor«    auf  den  Gassen  zu  hören  waren,   füllte    sich    das  The- 
ater, und  in  der  zweiten   Woche  gab  man  den    »Freischütz«    sechs 
Tage    hintereinander.      Von     20    Stunden     weiten    Orten    eilten    die 
Fremden  herbei.    Es  gab    »Freischützbier«,  »Freischützschärpen  und 
-hüte,  Damenkleider  ä  la  Freischütz«    usw.     Und    doch  müssen  die 
Aufführungen    miserabel    gewesen    sein.      Denn    man    hatte    keinen 
Frauenchor  und  gewaltsam  einige  Schauspielerinnen  für  Sopran  und 
Alt  gepreßt.    Ähnlich  in  Augsburg.    Da  legten  die  Musiker  in  der 
Probe  die  Violinen  weg,   solch  Zeug  könne  man  nicht  spielen;   auch 


K.  M.  von  Webers  >Euryanthe«  259 

hier  war  der  Chor  jämmerlich,  durch  ein  paar  Schauspieler  mar- 
kiert. Aber  der  »Freischütz«  wurde  elfmal  hintereinander  gegeben. 
Fünfzig  Berliner  Aufführungen  innerhalb  eines  Jahres  brachten  allein 
Weber  das  für  jene  Zeit  hübsche  Honorar  von  1700  Talern.  Aber 
die  Äußerungen  der  Gegner  machten  trotzdem  Eindruck  auf  Weber 
und  spornten  ihn  dazu  an,  den  Beweis  zu  geben,  daß  er  mehr  war 
als  ein  Singspielkomponist.  Den  Einsichtigen  war  das  ja  klar,  denn 
der  »Freischütz«  ragte  über  die  Gattung  noch  viel  weiter  empor, 
als  die  > Zauberflöte«  —  aber  eine  wirkliche  Oper  ernsten  Stils  bot 
doch  noch  höhere  Aufgaben  und  entband  von  den  Zugeständnissen 
an  den  Volksgeschmack,  wie  sie  Weber  im  »Freischütz«  nicht  immer 
gern  und  nicht  immer  glücklich  gewährt  hat.  Die  Sehnsucht  nach 
einem  Operntext  im  großen  Stil  muß  bei  Weber  zur  Leidenschaft 
geworden  sein.  Nur  von  einer  solchen  Stimmung  aus  begreift  es 
sich,  daß  er  auf  die  »Euryanthe«  der  Frau  Helmine  von  Chezy  ein- 
ging. Der  Anlaß  kam  von  Wien,  wo  der  »Freischütz«,  obwohl 
man  ihn  ohne  Samiel  gab  und  ohne  Kugelgießen,  wie  überall  ein- 
geschlagen hatte.  Er,  der  hochgebildete  kritische  Literaturkenner, 
der  eben  noch  gefragt  hatte:  »Glaubt  ihr  denn,  daß  ein  ordentlicher 
Komponist  sich  ein  Buch  in  die  Hände  stecken  läßt  wie  ein  Schul- 
junge den  Apfel?«  nahm  nun  einen  Text,  bei  dem  der  Kern  der 
ganzen  Verwicklung  ein  »Geheimnis«  ist,  und  nannte  das  Gedicht 
»ein  höchst  ausgezeichnetes«  (Brief  an  Lichtenstein,  31.  Mai  1822). 
So  gewaltige  Gestalten  Weber  in  den  beiden  Bösewichtern  der 
»Euryanthe«,  in  Eglantine  und  Lysiart  geschaffen,  so  bewunderns- 
wert die  Einheit  im  Aufbau  des  Werkes,  so  reich  es  an  schönen 
musikalischen  Ideen  jeder  Art  ist  —  der  Mühe  hat  die  Wirkung 
nicht  entsprochen,  Die  Albernheit  der  Dichtung  hat  Weber  ge- 
hemmt und  zu  einer  Überspannung  d^  Ausdrucks  getrieben,  die 
am  stärksten  bei  den  Aufgaben  hervortritt,  wo  Naivität  am  Platze 
ist.  Das  »Glöcklein  im  Tale«,  »Ich  bau  auf  Gott  und  meine  Eu- 
ryanth«  und  andere  Beispiele  einer  gesuchten  und  gewaltsamen 
Schlichtheit,  sind  Früchte  nicht  des  Weberschen,  sondern  jenes 
falschen  romantischen  Geistes,  der  in  der  Dichtung  jener  Zeit  die 
gekünstelte  Natürlichkeit  Ludwig  Tiecks  erzeugt  hat.  So  ist  denn 
»Euryanthe«,  obgleich  sie  nach  Schweitzers  »Alceste«  und  Holzbauers 
»Günther  von  Schwarzburg«  zum  ersten  Male  wieder  eine  große 
deutsche  Oper  brachte,  und  zwar  in  dankbar  und  mit  Spannung 
wartender  Zeit,  unfruchtbar  geblieben.  Auch  durch  den  »Oberon«, 
trotz  der  neuen  romantischen  Saiten,  die  in  der  Elfenmusik  und  Wasser- 
musik hier  angeschlagen  sind,  trotz  der  Szene  der  Rezia,  »Ozean,  du 
Ungeheuer«,  deren  dramatisch  freie  Größe  erst  wieder  im  Monolog 
von  Wagners  »Holländer«  (»Schon  wieder  um  sind  sieben  Jahr«) 
ein  Seitenstück  findet  —  auch  im  »Oberon«  ist  Weber  nicht  der 
Gründer  der  deutschen  Oper  geworden,  wie  es  sein  »Freischütz« 
hoffen  ließ.     Wiederum  hatte  sich  der  Dichter  nicht  gefunden,  der 

17* 


620  Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

nötig  war.  Aber  Webers  »Freischütz«  allein  hatte  eine  Bahn  für 
die  deutsche  Oper  gebrochen.  An  Webers  Seite  schritt  ein  Lands- 
mann dahin,  der  um  das  Jahr  1820  in  der  deutschen  Musik  als 
der  strengste  und  am  besten  geschulte  unter  den  Romantikern  galt: 
Ludwig  Spohr.  ^  Seine  Opernpläne  beginnen  schon  1806  mit 
einem  kleinen  Stück:  »Die  Prüfung«,  dann  folgt  eine  »Alruna«, 
1811  »Der  Zweikampf«  ;  für  das  Theater  kommt  Spohr  erst  ernst- 
hafter vom  Jahre  1813  in  Betracht,  als  er  in  Wien  Operndirektor 
wird.  Da  bestellt  er  bei  Theodor  Körner  einen  »Rübezahl«.  Körner 
ging  zu  Lützow,  und  Spohr  komponierte  den  Bernardschen  »Faust«, 
die  erste  von  den  romantischen  Opern  Spohrs,  die  wirklich  auch 
aufgeführt  wurden.  »Zemire  und  Azor«,  »Der  Berggeist«,  »Pietro 
von  Albano«,  »Der  Alchymist«,  »Die  Kreuzfahrer <'  sind  ihre  Titel. 
Über  Kassel  hinaus  ins  Repertoire  ist  außer  dem  »Faust«  nur 
»Jessonda«  gedrungen;  sie  hat  sich  auf  den  größeren  Bühnen  bis 
in  die  siebziger  Jahre  behauptet.  Heute  sind  sie  vergessen  —  und 
es  besteht  keine  Aussicht,  sie  wieder  zu  beleben.  Dem  Studium 
darf  man  sie  aber  empfehlen,  nicht  bloß  wegen  des  historischen 
Interesses.  Sie  zeigen,  wie  in  der  Periode,  der  Spohr  angehörte, 
auch  so  eine  ernste  und  in  sich  geschlossene  Individualität  unter 
der  Menge  sich  kreuzender  Einflüsse  irre  werden  konnte.  Ihr  mu- 
sikalischer Gehalt  leidet  unter  einer  zu  großen  Gleichmäßigkeit. 
Im  ganzen  hat  Spohr  starke  dramatische  Begabung,  aber  nur  ein 
schwaches  Theaterauge,  und  dieses  hindert  ihn,  die  Situation  aus- 
zunutzen und  stört  die  Ökonomie.  Die  Musik  der  Spohrschen  Opern 
ist  sehr  reich  an  eigenen,  ausgesprochen  modernen  Elementen;  in 
den  Rezitativen  und  der  Deklamation,  in  der  Ausbildung  des  Leit- 
motivs ist  er  direkt  auf  dem  Wege  zu  Richard  Wagner. ^ 

Der  dritte  Vertreter  der  romantischen  Oper  in  Deutschland, 
Heinrich  Marschner  ^^  ist  ein  Meister  im  Volkstümlichen,  in 
Genreszenen  ;  aber  er  ist  bereits  durch  die  weitere  Entwicklung  der 
Oper  im  Ausland  von  den  Wegen  Webers  und  Spohrs  abgedrängt. 
Die  Entwicklung  der  deutschen  Oper  und  des  deutschen  Einflusses 
wird  durch  Marschner  nicht  gesteigert  oder  beschleunigt,  sondern 
aufgehalten  und   unterbrochen. 

Zur  selben  Zeit,  wo  in  Deutschland  Weber  eingreift,  wird  in 
Italien  die  Ausgelassenheit  der  Rossinischen  opera  huffa  durch  die 
ernsten  Klänge  Vincenzo  Bellinis'*  unterbrochen.  Ihn  kann  man 
mit    Recht     einen    Romantiker    nennen :     in    seinem    musikalischen 


1  L.  Spohrs  Selbstbiographie,  2  Bde.,  Kassel  und  Göttingen  1860—61. 

2  "Wagner  nennt  sich  in  einem  Brief  an  Spohr  vom  22.  April  1843 
(N.  Ztschr.  f.  M.  1904,  Nr.  42)  dessen  >bewunderungsvollen  Schüler«. 

3  H.  Gaartz:  »Die  Oper  Heinrich  Marschners«,  Leipzig  1912. 

4  Pietro  Baltrame:  »Biografia  di  Vincenzo  Bellini«,  Venezia  1836; 
A.  Pougin:  »Bellini,  sa  vie  et  ses  oeuvres«,  Paris  1868;  Michael  Sche- 
rillo:  *V.  Bellini«,  Ancona  1882. 


Vincenzo  Bellini  261 

Wesen  liegen  dieselben  Elemente  wie  in  unserm  Schubert  und 
Spohr.  Seine  Opern  verherrlichen  dichterisch  das  Pathologische, 
den  moralischen  und  sozialen  Auswurf,  Verbrechen  und  krankhafte 
Entwicklung.  Bei  diesem  Stück  verkehrter  Arbeit  hat  die  roman- 
tische Schule  gerade  bei  den  Romanen  die  eifrigste  Unterstützung 
gefunden,  die  Oper  ist  von  Mercadante  bis  zu  Verdis  »Rigoletto« 
stark  mitbeteiligt  und  sehr  gewichtig  durch  Bellinis  Werke,  Will 
man  Bellini  gerecht  werden,  so  muß  man  seine  Musik  in  Gegen- 
satz zur  Mayrschen  Schule  und  zu  ihrer  Gewalttätigkeit  bringen. 
Die  Reaktion,  zu  der  sie  herausforderte,  vertrat  Bellini  mit  einem 
starken  Naturtalent,  ganz  ersichtlich  aus  volkstümlichen  Quellen  ge- 
nährt. Die  rührende,  liebenswürdige  Herzlichkeit,  die  überquellende 
Wärme  des  Gefühls,  die  im  italienischen  Volk,  namentlich  in  den 
unteren  Klassen,  lebt,  kommt  in  den  Bellinischen  Opern  zum  Aus- 
druck;  sie  kleidet  sich  teilweise  in  Formen,  die  im  Süden  des 
Landes  seit  alters  heimisch  sind.  Die  zweistimmigen  Melodien  in 
Terzen-  und  Sextenparallelen,  die  Bellini  gern  noch  mit  dem  dicken 
Trompetenton  unterstreicht,  sind  alte  Bekannte  aus  Vincis  Zeit,  aus 
der  Jugend  der  oi^era  huffa.  Die  Bellinische  Oper  bildet  demnach 
eine  Parallelbewegung  zu  der  Entwicklung,  die  zur  selben  Zeit  in 
Deutschland  Weber  mit  dem  »Freischütz«  vertritt.  Er  bildet  den 
Volkston  glücklich  weiter :  die  frei  einsetzende  Septime  zum  Aus- 
druck überschwenglicher  Empfindung  ist  seine  Erfindung.  Nur  war 
Bellinis  Begabung  einseitig  aufs  Weiche  gerichtet;  die  verminderten 
Intervalle  und  die  chromatischen  Durchgänge  sind  die  Hauptzüge 
seiner  Melodik.  Im  »Piraten«,  der  seine  Stellung  begründete, 
kommen  ganz  originelle  Stellen  tragischen  und  dämonischen  Cha- 
rakters vor:  da  wiederholt  er  kurze  Motive,  die  zuerst  froh  und 
laut  eintraten,  leise  in  Moll,  so  daß  sie  nun  wie  Grabesstimme 
klingen,  da  hat  er  Einfälle,  die  Schule  gemacht  haben.  Der  Trom- 
peteneinsatz in  Wagners  »Rienzi«  ist  so  ein  Bellinisches  Produkt, 
die  plötzlichen,  fremden  Töne  eines  Soloinstrumentes  wirken  in 
seinem  Orchestersatz  wie  Gespenster.  Er  ist  ein  Poet  in  seinen 
ersten  Opern;  in  der  ^Straiiiera^  ist  die  Stelle  der  Trauungsszene, 
wo  Isoletta  schwankt,  als  sie  das  Jawort  geben  soll  und  das  Or- 
chester leise  den  Hochzeitsmarsch  in  einer  ganz  verworrenen  Um- 
bildung anschlägt^  ein  Hauptbeispiel  seiner  sinnigen  Anlage.  Aber 
mit  jedem  neuen  Werk  verarmt  er  mehr  und  wird  bequemer,  glatter 
und  matter;  immer  noch  bleibt  er  bedeutend  im  Zärtlichen,  Ele- 
gischen, besonders  als  Komponist  von  Liebesmusik.  Traurig,  wer 
die  Schönheit  seiner  Opern  nicht  mitempfindet,  aber  schwer  macht 
er's  durch  die  Trivialität,  der  er  immer  mehr  verfällt,  durchs  Ab- 
nutzen außerordentlicher  Effekte.  Dahin  gehören  die  Gebete  in 
den  Bellinischen  Opern,  dahin  die  Arieneinleitungen  durch  ein  Or- 
chester, das  den  Gitarrenklang  nachahmt.  An  Bellini  zeigt  sich's, 
wie  eine  schlechte,  unsichere  Richtung  die  Talente  verdirbt. 


262  Die  moderne  Oper  biß  zu  Wagner 

Das  nächste  Opfer  des  Verfalls  nach  Bellini  war  Gaetano 
Donizetti,^  ein  Talent  von  starker  allgemein  künstlerischer,  wie 
besonders  musikalischer  Begabung.  Sie  zeigt  sich  am  besten  in 
seinen  komischen  Opern;  am  reinsten  nicht  in  der  noch  heute  viel 
gespielten  »Regimentstochter«,  die  durch  französische  Muster  ver- 
derbt ist,  sondern  in  seinem  »Lieb estrank«,  einem  Werk,  in  dem 
die  Kunst  der  Guglielmi  und  Piccinni  noch  einmal  in  ihrer  ganzen 
Frische  und  Feinheit  auflebt.  Dieser  »Liebestrank«  hat  das  italie- 
nische Feuer  und  den  großen  Zug  der  alten  italienischen  Melodien. 
Leider  ist  er  nicht  gleichmäßig  gearbeitet,  der  zweite  Akt  muß 
später  entstanden  sein,  er  fällt  im  Stil  und  zeigt  den  Kossinischen 
Einfluß  im  sinnwidrigen,  äußerlichen  Kolorieren.  Donizettis  Be- 
gabung war  auch  für  die  Aufgaben  der  ernsten  Oper  bedeutend. 
Seine  Hauptleistung  ist  hier  die  >>Lucia  di  Lammermoor <^ .  Die 
Szene  des  Liebesschwurs  im  ersten  Akt:  *Qui  disposa  eterna  fedet 
(»Schwöre  als  Gattin  ew'ge  Treue«),  wo  uns  Donizetti  mit  den 
einfachsten  Mitteln  —  Sextenparallelen  und  Unisonostellen  —  Herz- 
klopfen macht,  die  andere,  am  Schluß  der  Oper,  wo  Lucias  Wahn- 
sinn eine  Mischung  von  Grauen  und  Rührung  erregt  —  die  zeigen, 
was  Donizetti  eigentlich  gekonnt  hätte.  Im  Drang  der  Vielschreiberei 
und  unter  dem  Geist,  der  die  italienische  Oper  beherrschte,  wurde 
er  flüchtig,  tat  Mißgriffe  über  Mißgriffe  im  Ausdruck  und  wirft 
seine  Perlen  in  eine   Flut  von  Trivialität. 

Der  Import  neuer  Stilelemente  durch  Mayr  hatte  vollständige 
Verwirrung  bei  den  Italienern  hervorgerufen.  Ein  einfaches,  bedeu- 
tendes Ziel,  Darstellung  seelischer  Zustände  durch  die  Kunst  des 
Sologesanges,  war  aufgegeben,  an  dem  neuen  Gluckschen  Ideal  be- 
griff man  nicht  das  Wesen,  die  Forderung:  die  dramatische  Situation 
der  einzelnen  Szenen,  den  Grundcharakter  der  ganzen  Handlung 
tiefer,  reicher,  strenger  und  einheitlicher  wiederzugeben,  sondern 
man  hielt  sich  ans  Äußere,  an  den  größeren  musikalischen  Eöekt, 
an  die  Mannigfaltigkeit  der  Mittel.  Bei  der  Mayrschen  Schule  und 
bei  Rossini  war  die  gleiche  Losung:  neue  Klänge,  Freiheit  der  Musik! 
Das  dramatische  Gewissen  ward  durch  die  Bekanntschaft  mit  der 
neuen  Kunst  nicht  geschärft,  sondern  verdorben;  die  italienische 
Oper  geriet  jahrzehntelang  in  beständiges  Sinken.  Erst  mit  aus- 
wärtiger Hilfe  hat  sie  in  den  letzten  Werken  Verdis,  wieder  be- 
gonnen sich  zu  heben. 

Eine  solche  Säule  der  Kunst,  wie  es  die  alte  italienische  Re- 
naissanceoper war,  fällt  und  stürzt  nicht,  ohne  daß  die  Erschütte- 
rung weit  und  lange  gespürt  wird.  Bei  den  Italienern  selbst  brachte 
die  Katastrophe  Verwirrung  und  eine  dauernde  Verarmung  des  musi- 
kalischen Talentes  im  Lande;   sie  hat  überall  der  Vokalkomposition 


1  Filippo  Cicconetti:    »Vita   di   Gaetano  Donizetti«,    Roma  1864. 


Nicolo  Isouard  und  Adrien  Boieldieu  263 

geschadet.     Bei  uns  in  Deutschland  sieht  man  das   fast  noch  mehr 
als    in    der    Oper    im    Lied    und    im    Oratorium,    bei   Mendelssohn 
und  seiner  Schule  an  der  Mißhandlung  der  Sprache  und  Deklama- 
tion in  Form  und  Geist.     Auch  in  Frankreich  knüpft  an  den  Sturz 
der    alten    italienischen    Oper    eine    Periode    des   Verfalls    an.     Nur 
zeigt   sich    das  Werk   der  Zerstörung   nicht   so    schnell  als  bei  den 
Italienern.      Ja,    in  der  komischen  Oper  der  Franzosen  beginnt  zur 
Zeit,   wo  die  Mayrsche   Schule  und  Rossini   jenseits  der  Alpen  die 
Herrschaft  an  sich  bringen,   eine  Periode  neuen  und  echten  Glanzes. 
Die  Träger  dieses  Glanzes  sind  Niccolo  Isouard,^  oder  wie  er  sich 
auch   nennt  Nicolo  di  Malta,    und  Francois  Adrien  Boieldieu. 
Dieser  Isouard  ist  wie  Duni  ein  Italiener  und  hat  der  französischen 
opera  comique  auch  einige  italienische  Elemente  eingemischt,  flüssige 
Melodik  namentlich,  zuweilen  in  außerordentlich  schwierigen  Formen. 
Wenn   von   guten  Sängerinnen    ausgeführt,    sind  diese  Isouardschen 
Lustspiele   sehr  wirksam;   Schönheit   des  Klanges   und  Leichtigkeit 
und  Lebendigkeit  des  Tones  ist  drin,   wie  im  Vogelgesang,   graziöse 
Koketterie  ist  ihr  prächtiger  Hauptzug.     ^Joconde*.  und  »  Cendrillon*- 
waren  die  Hauptstücke,   auch  in  Deutschland  noch  zu  Webers  Zeit 
überall  verbreitet.     Boieldieu 2  hat  in  seinen  ersten  Werken  —  es 
sind   Türkenopern    —   dem   Isouard   den   leichten,    blühenden   Ton 
nachzubilden  gesucht;   seine  eigene  Art  fand  er  erst  mit  dem  »Johann 
von  Paris«,   dessen  Stärke  in  der  romantischen  Beschreibungsmusik, 
in  der  verklärenden  Schilderung  gemeinen  Lebens  liegt.    Diese  durch 
Duni  begründete  Kunst  hat  durch  Boieldieu  einen  bedeutenden  Fort- 
schritt   gemacht.      Auch   nach   dieser  Seite    ist    die   »Weiße  Dame« 
Boieldieus  Hauptwerk,    man    denke   nur   an  die  Auktionsszene;    sie 
zeigt  aber  auch  auf  eine  zweite  starke  Gabe  Boieldieus,  seinen  Sinn 
für  Volksmusik.     Durch   ihn   gehört   er   auf  die   Seite   der  Roman- 
tiker, rückt  mit  in  die   Gruppe:  Weber-Bellini  ein. 

Nach  einzelnen  Richtungen  zeigt  auch  Boieldieu  Zeichen  des 
Verfalls.  Gerade  wie  bei  Bellini  finden  wir  außerordentliche  poe- 
tisch-dramatische Mittel  zur  Sicherung  eines  Effektes  abgenutzt. 
Die  Gebetsszene,  die  »j^riere«,  gehört  bei  ihm  schon  halb  zu  den 
Requisiten.  Dann  würzt  er  mit  Kontrasten,  die  ebenfalls  von  außen 
geholt  sind.  In  seinem  »Beniowsky«  folgt  z.  B.  einem  feierlichen 
Gebet  ein  Kanonenschlag.  Drittens  entzieht  er  sich  der  Aufgabe 
gut  zu  deklamieren  hier  und  da  dadurch,  daß  er  nach  dem  Vorbild 
Steibelts  die  Rede  in  einen  Tanzsatz  kleidet.  Dieses  Verfahren  ist 
scheinbar  nur  ein  leichter  Verstoß  gegen  die  Grammatik,  ein  Ver- 
stoß,  für   den    man   sich   auf  die   Finales   der    opera  huffa   berufen 


1  E.  Wahl:  »Niccolo  Isouard,  sein  Leben  und  sein  Schaffen  auf  dem 
Gebiet  der  Opera  comique  c,  München  1911. 

2  A.  Pougin:  »A.  Boieldieu,  sa  vie,  ses  oeuvres,  son  caractere,  sa  corre- 
spondance«,  Paris  1875. 


264  Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

kann,  in  denen  Rezitativtext  melodisch  und  motivisch  wiedergegeben 
wird.  Da  handelt  es  sich  aber  um  eine  Ausnahme  zum  höheren 
Zweck,  um  den  Ausdruck  tollen  Humors.  Wo  man  aber  sonst  im 
Musikdrama,  in  der  Vokalkomposition  überhaupt,  beginnt  sich  über 
scheinbare  grammatische  Formalitäten,  über  die  Natur  von  Wort, 
Satz  und  Gedanken  hinwegzusetzen,  da  ist  auch  allemal  der  Anfang 
vom  Ende  da.  Und  an  diesen  Punkt  kommen  wir  in  der  franzö- 
sischen Oper  schnell  genug  mit  Daniel  Auber.i  Seine  Opern, 
ungefähr  fünfzig  an  der  Zahl,  zerfallen  in  drei  Gruppen.  Die  erste, 
von  1812 — 1820,  umfaßt  Werke  der  Entwicklung,  in  denen  sich 
Auber  hauptsächlich  an  die  Meister  der  französischen  Spieloper, 
D'Alayrac,  Boieldieu  und  namentlich  auch  an  den  geistreichen  Gretry 
anlehnt;  die  Romanze  tritt  im  musikalischen  Grundstock  hervor. 
Die  zweite  Gruppe  reicht  bis  1848,  y>La  neige  ^^^  »Le  concert  ä  la 
cour«^  »Le  magon<i^  •» Fra  Diavolo « ^  »Le  Philire«,  » Le  domino  noir <^ , 
»  Carlo  Broschi<  sind  die  bedeutendsten  Leistungen  darin.  Stilistisch 
zeigen  die  früheren  Stücke  dieser  zweiten  Gruppe  Hinneigung  zu 
Isouard  und  zu  Rossini,  die  späteren  zum  Manirierten  und  Pikanten. 
Fürs  Aparte  zahlt  er  jeden  Preis  und  sucht  es  in  den  niedrigsten 
Regionen;  Rhythmen  der  gemeinsten  Volksmusik,  freche  Dissonanzen 
sind  die  frivolen  Mittel,  durch  die  er  aus  dem  Gewöhnlichen  heraus- 
zutreten sucht.  Die  komische  Oper  schlägt  eine  Krücke  von  der 
Charaktermusik  zum  Tanzboden,  zu  Quadrille,  Cancan  und  den  Lust- 
barkeiten des  Pöbels.  Was  nach  1848  noch  folgt,  bildet  eine  dritte 
Gruppe  der  ärmlichsten  Nachlese.  Dieser  jämmerliche  Niedergang 
der  Gattung  beruht  zum  Teil  auf  einer  dichterischen  Rückbildung. 
Man  sieht  es  an  den  Fabeln  der  Stücke  Aubers,  daß  die  komische 
Oper  die  Fühlung  mit  den  Ideen  der  Zeit  und  alle  festen  Ziele 
verloren  hat.  In  Türkenstücken,  in  den  alten  Impresario-  und 
Sängerpossen,  in  der  Romantik  der  edlen  Mordbrenner  —  überall 
sucht  sie  innerlich  nichtig  und  leer  neue  Stofie  zur  Unterhaltung. 
Und  wie  der  Dichter  im  Grund  interessenlos,  ohne  wirklichen  gei- 
stigen Anteil,  so  arbeitet  der  Komponist  bequem.  In  der  Tat  ist 
Auber  immer  nur  mit  dem  halben  Talent  dabei,  nirgends  Feuer 
und  Anspannung;  er  bietet,  wie  das  Bizet  sehr  hübsch  gesagt  hat, 
statt  einer  Musik  eine   »musiquette«. 

Ein  einziges  Werk  macht  eine  gewaltige  Ausnahme.  Das  ist 
die  »Stumme  von  Portici«,  eine  Arbeit,  die  man  dem  Auber  der 
Spieloper  kaum  zutraut.  So  viel  kommt  aber  beim  Musikdrama 
auf  die  Dichtung  und  die  Macht  der  Grundgedanken  an.  Indes 
gehört  auch  die  »Stumme«  keineswegs  unter  die  Werke  von  ge- 
schichtlicher   Bedeutung.      Neu    war    sie    für   die  Franzosen  nur  in 


*  B.  Jouvin:  »D.  F.  E.  Auber,  sa  vie  et  ses  oeuvres«,  Paris  1864; 
A.  Pougin:  »Auber,  ses  commencements,  les  origines  de  sa  carriere«, 
Paris  1873. 


Daniel  Auber  265 

der  musikalischen  Behandlung  einer  stummen  Person,  der  Fenella, 
eine  Aufgabe,  die  in  der  deutschen  Oper  schon  Keiser  und  Weber 
glücklich  durchgeführt  haben.  Auber  hat  dazu  das  Melodram  bis 
weit  hinaus  über  die  natürlichen  Grenzen  seiner  Leistungsfähigkeit 
benutzt.  In  allem  übrigen  ist  Auber  in  seiner  »Stummen«  ein 
Nachahmer  Spontinis  und  zwar  vielfach  rein  äußerlich  und  über- 
treibend. Durch  die  Massenwirkungen  seines  Vorbildes  angelockt, 
setzt  er  Finales  hin,  wo  sie  die  Situation  verbietet,  z.  B.  ans  Ende 
des  ersten  Aktes;  die  Hälfte  des  ganzen  Werkes  ruht  auf  Marsch- 
musik. Die  größte  eigene  Schönheit  und  die  Hauptkraft  des  Kom- 
ponisten liegt  in  der  Trauungsszene,  im  Fischerchor,  in  der  Friere 
des  dritten  Aktes,  in  einer  Reihe  von  Barkarolen,  also  in  Stücken 
konventioneller  Herkunft,  Stücken,  die  dramatisch  betrachtet  Schma- 
rotzer bilden.  Das  leuchtet  tief  und  hell  hinein  in  den  neuen  Geist, 
in  die  Oper  der  Auberschen  Zeit.  Denn  für  die  Pariser  Oper  war 
diese  »Stumme  von  Portici«  ein  Ereignis,  wie  seit  der  »Vestalin« 
keins  zu  verzeichnen  war.  Von  ihrer  Aufführung  ab  datiert  für 
sie  wieder  eine  große  Zeit.  Das  nächste  Jahr  1829  bringt  flos- 
sinis  »Teil«,  1831  eine  Aufführung  von  Webers  »Euryanthe«. 
Dann  kommt  1831  Meyerbeer  mit  »Robert  der  Teufel«,  1835 
Halevy  mit  der  »Jüdin«,  1838  H.  Berlioz^  mit  »Benvenuto 
Cellini«.  Etwas  verspätet  ist  aus  der  Saat  Spontinis  doch  noch 
eine  stattliche  Ernte  gewachsen  und  gereift.  Der  reinste  im  Cha- 
rakter unter  diesen  Jüngern  Spontinis  ist  Berlioz;  aber  auch  die 
Opern  von  Berlioz  haben  ihren  Schwerpunkt  in  der  Situationsmusik, 
nicht  in  der  Seelenschilderung;  das  französische  Element  überwiegt: 
die  bedeutendste  Leistung  seines  »Cellini«  ist  die  Schilderung  des 
römischen  Maskenfestes,  das  Finale  des  zweiten  Aktes.  Berlioz  fiel 
bekanntlich  durch,  denn  sein  Musiktalent  war  spröde,  schwankt  zwi- 
schen Originalität  und  Anlehnung,  unter  anderem  an  Bellini.  Noch 
imposanter  als  Berlioz  ist  Halevy,  eine  finstere,  leidenschaftliche, 
alttestamentarische  Künstlergestalt,  voll  Glut,  Wärme,  ein  Meister 
aus  strenger  Schule.  Was  würde  ein  solches  Talent  in  der  Zeit 
Glucks  geworden  sein,  an  den  sein  Dialog  in  der  Freiheit  und 
Knappheit  vielfach  erinnert.  Aber  auch  ihn  haben  Auber  und 
Rossini  aus  der  geraden  Bahn  abgedrängt.  Die  ganze  Figur  der 
Eudoxia  in  seiner  »Jüdin«  ist  eine  einzige  Stilunreinheit,  der  Kardinal 
ein  Bastard.  Ferdinand  Herold^^  der  Komponist  des  »Zampa«, 
beweist  ebenfalls,  wie  reich  diese  Spontinische  Schule  an  außergewöhn- 
lichen Talenten  war.  Aber  sie  bedurfte  eiües  Führers,  der  über 
den  kleinen  Verlockungen  der  Mode  stand  und  dem  Geschmack 
des  Publikums  die  konventionellen  Liebhabereien  abzugewöhnen 
entschlossen    war,     einen   Mann    von    überragender    Begabung,     aber 


1  J.  Tiersot:  »H.  Berlioz  et  la  societe  de  son  temps«,  Paris  1904. 

2  A.  Pougin:  »Herold«,  Paris  1906. 


266  I^i®  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

noch  mehr  von  Mut  und  Festigkeit.     Und  nun  trat  Jakob  Meyer- 
b  e  e  r  1  an  ihre  Spitze ! 

Meyerbeer  gehört  zu  den  Naturen,  die  das  Mißverhältnis  zwischen 
Ehrgeiz  und  Begabung  nicht  zum  Abschluß  der  Persönlichkeit  kommen 
läßt.  In  der  Regel  nehmen  sie  am  Charakter  Schaden  und  werden  in 
ihrer  künstlerischen'  Arbeit  Eklektiker.  Nun  gibt  es  naive  Eklektiker 
—  Simon  Mayr  war  ein  solcher  —  und  es  gibt  raffinierte  Eklektiker : 
zu  ihnen  gehört  Jakob  Meyerbeer.  Im  Grundriß  ist  Meyerbeer  früh- 
zeitig fertig  gewesen,  in  den  ersten  Opern  schon,  die  er  als  Hospi- 
tant der  Mayrschen  Schule  in  Italien  geschrieben  hat.  Ihre  Haupt- 
stücke, y)Emma  di  Roxhurga  und  y>Il  crociato  in  Egittoa,  die  1819  und 
1824  von  Venedig  aus  auf  den  deutschen  Bühnen  lange  Zeit  festen 
Fuß  faßten,  zeigen  schon  die  ganze  prächtige,  oft  originelle  Erfindungs- 
gabe und  die  ganze  Geschmacklosigkeit,  die  sich  in  Meyerbeer  so 
eigentümlich  vereinigen.  Wunderhübsche  und  verzerrte  Einfälle,  selbst- 
ständige hohe  Bildung  und  niedrige  Nachahmungen  Mayrscher  und 
Rossinischer  Elemente  bunt  durcheinander.  Sie  sind  eine  durch  frap- 
pante und  kecke  Einzelheiten  gewürzte  Enzyklopädie  aller  Stillosigkeit 
der  Oper  ihrer  Zeit.  Diejenigen  machen  sich  ein  ganz  falsches  Bild 
von  der  Entwicklung  Meyerbeers,  die  seine  italienische  Periode  für 
eine  Zeit  der  Unsicherheit,  des  verzeihlichen  Schwankens  der  Anfänger- 
schaft, für  künstlerisch  geringer  halten.  Sie  ist  musikalisch  weniger 
amüsant,  weniger  mannigfach  und  reich  —  aber  sie  ist  charaktervoller, 
dramatisch  ergiebiger.  Italien  kommt  ins  Hintertrefi'en,  Deutschland 
bietet  außer  Weber  nichts  —  Meyerbeer  wählt  also  Paris  und  wird  da 
Franzose.  Er  wächst  hier  an  Selbständigkeit  insofern,  als  nun  der 
musikalische  Geschäftsmann  mit  seiner  Heftigkeit  und  seiner  Über- 
stürzung, mit  seinem  Tüfteln  und  schlauen  Spekulieren  musikalisch 
deutlicher  wird.  Selbständiger  ist  er  auch  in  dem  edleren  Teile  seiner 
Gaben,  in  seinem  Blick  für  soziale,  sittliche  und  politische  Probleme, 
in  der  Glut  und  Schärfe  der  Phantasie,  in  der  Energie  und  im  Feuer 
des  Ausdrucks,  des  Aufbaues.  Der  Gesamt  ein  druck  der  Meyerbeer- 
schen  Opern  wird  aber  immer  ärgerlicher,  je  bedeutenderes  sie  in  ein- 
zelnen Zügen  oder  in  ganzen  Abschnitten  bieten.  Diese  ewige 
Mischung  von  Trinklied  und  Gebet,  von  bacchantischer,  dämonischer 
und  weinerlicher,  kindischer,  von  feierlicher  und  lächerlich  geputzter 
Musik,  dieser  ewige  Gegensatz  von  Lärm  und  Leere,  von  ärgster 
Sondersucht  und  übertriebenster  Einfachheit,  nur  um  zu  spannen  und 
zu  reizen,  ohne  innere  Ursache  und  Notwendigkeit  ist  das  Frivolste, 
ist  die  abstoßendste  Mißhandlung  von  Kunst,  die  die  Geschichte  der 
Oper  kennt.  Wer  an  den  vierten  Akt  der  »Hugenotten«,  an  die  Szene 
unterm  Manzanillabaum  in  der  »Afrikanerin«  denkt,  kann  nicht  daran 


1  H.  de  Curzon:  »Meyerbeer«,  Paris  1910;  A.  Pougin:  »Meyerbeer, 
Notes  biographiques«,  Paris  1864;  J.  Schucht:  »Meyerbeers  Leben  und 
Bildungsgang  usw.«,  Leipzig  1869. 


Jakob  Oflfenbach  267 

zweifeln,  daß  Meyerbeer  ein  heri'liclies  Talent  für  die  große  Oper  be- 
saß.   Aber  eins  fehlte  ihm:  »ein  waches  künstlerisches  Gewissen«  und 
ein  vornehmer  Geschmack.   Dadurch  ist  er  seiner  Zeit  zum  Fluch  ge- 
worden.    In  Meyerbeers  Opern  strömten  alle  Elemente  der  Entartung 
zusammen;  wohin  sie  kamen,  brachten  sie  Gift.    Wir  loben  mit  Recht 
Scribe  als  einen  Operndichter,  der  die  Theatertechnik  virtuos  beherrscht. 
Ursprünglich  war  er  mehr.     Das  Textbuch,   das  er  für  Rossinis  »Teil« 
schrieb,  beweist,   wie  er  die  Ideen  der  Zeit  verstand  und  zu  benutzen 
wußte.     Meyerbeer  machte  ihn   zum  Anekdotenmann,   trieb   ihn  von 
einer  Richtung  in    die   andere.     Die  Romantik    des    »Freischütz«    zu 
überbieten,    wird  im  »Robert«   die  fromme  Jungfrau   mit   dem  Teufel 
zusammengemischt,  etwas  Faust,  etwas  Don  Juan  und  Zampa    zuge- 
setzt,   bis  der  unentwirrbarste  Brei  von  Lüsternheit  und  Mystizismus 
fertig  ist.     Die  »Hugenotten«   führen   uns   mitten  in   die  kirchlichen, 
der  »Prophet«  in  die    sozialen  Kämpfe   des    16.  Jahrhunderts,    in  be- 
deutende Geschichtsvorgänge,   die  in  die  bewegte  Stimmung  der  vor- 
märzlichen Zeit  tief  eingreifen  konnten.    Aber  zu  welchem  tollen  Gaukel- 
spiel sind  sie  geworden  I      Und  wie  die  Dichtung  verdarb  Meyerbeers 
seelenlose  Opernpolitik  auch  die  Komponisten.  In  Frankreich  Adolphe 
Ada  ml,   der  Komponist  des  »Postillon«,  bei  uns  Marschner  —  überall 
wurden   durch   sein  System   gute  Talente  verführt.     Das  Musikdrama 
ward  zu  einem  musikalischen  Menü ;   das  Publikum  verlangte  mit  Be- 
rufung auf  den  Meister  Meyerbeer  seine  bestimmten  Gänge,    so,  wie 
Suppe,  Rinderbrust  —  mußte  ein  Gebet  kommen,  am  liebsten  a  cappella 
und  mit  orientalischen  Melismen,    dann   ein  Trinkchor,  Verführungs- 
szene, Schwerter-  oder  Bannerweihe,  jedenfalls  auch  ein  Gang  fremd- 
ländische Volksweisen.     Das  Opernwesen  wurde  durch  Meyerbeer  mehr 
als  zu  Marcellos  Zeit  reif  für  ein  neues  y>teatro  alla  modaa.    Niemand 
schrieb    es;    die    ganze   Kritik    lag    auf  den  Knien   vor   dem   großen 
Jakob!     Aber  wenigstens  eine  Art  y^Beggars  Operai(  lebte  wieder  auf, 
eine  ganze  Suite  von  praktischen  Parodien  auf  diesen  Meyerbeerschen 
Opernkram  kam  auf  die  Bühne.    Es  war  ebenfalls  ein  Jakob,   der  die 
Pritsche   gegen   den    großen   Götzen    schwang:    Jakob    Offenbach2. 
Dies  Verdienst  wollen  wir  dem  lustigen  Spötter  nicht  vergessen.    Er 
ist  seit  Rossini  und  Donizetti   der   erste,    der  in  der  komischen  Oper 
wieder  Witz  und  Geist  gezeigt  hat,   ein  neuer  Lucian,   ein  zersetzen- 
des Talent  erster  Klasse,   eine  prächtige  Sumpfpflanze  1    Unseres  guten 
Lortzings3   wollen   wir  uns   immerhin  freuen,   er  gehört  zu  unserer 
Liedertafelseligkeit,  und  trotz  des  starken  Beisatzes  von  Dilettantismus 
behalten  seine  komischen  Singspiele  den  Wert  eines  Ausschnittes  aus 
der  vormärzlichen   Philisterseele.     Aber   daß   man    sich    hat    verleiten 


1  A.  Pougin:  >Adolphe  Adam<,  Paris  1877. 

2  Paul  Bekker:  *J.  Offenbach«,  Berlin  191L 

3  Ph.  Düringer:    »Albert  Lortzing,  sein  Leben  in  seinen  Werken«, 
Leipzig  1851. 


268  Die  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

lassen  Offenbach  fallen  zu  lassen  gegen  die  Operetten  von  Joh.  Strauß 
—  das  ist  ein  starkes  Stück.  Angeblich  im  Interesse  der  Tugend  — 
aber  wenn  Offenbach  auf  Augenblicke  obszön  ist,  diese  Wiener  Musik- 
possen sind's  im  Grund  und  durch  und  durch  sittlich  locker! 

Offenbach  hat  das  Einreißen  vorzüglich  und  vergnüglich  vorbereitet, 
den  Meyerbeerschen  Opernpalast  ins  Schwanken  und  Wackeln  ge- 
bracht. Gefallen  ist  er  durch  Richard  Wagner^,  und  Richard 
Wagner  hat  an  seiner  Stelle  eine  neue  und  echtere  Kunst  aufgebaut. 

Unter  den  großen  Meistern,  die  der  Oper  ihrer  Zeit  neue  Gesetze 
aufgezwungen  haben,  gibt  es  nur  einen,  den  man  mit  Richard  Wagner 
vergleichen  kann :  das  ist  Claudio  Monteverdi.  Glucks  Reform  tritt 
dagegen  zurück,  er  versöhnte,  vereinte  zwei  getrennte  Schulen,  stützte 
sich  auf  vorhandene  Grundlagen.  Monteverdi  und  Wagner  schufen 
neu  von  Grund  aus.  Der  Italiener  gab  dem  Musikdrama  den  inneren 
Stil,  die  Sprache  der  Leidenschaft,  Mittel  des  seelischen  Ausdrucks, 
so  kühn  und  gewaltig,  daß  niemand  gewagt  hat,  sich  ihrer  zu  be- 
dienen. Wagner  aber  befreite  die  Oper  aus  den  Banden  des  Forma- 
lismus, setzte  das  Drama  in  seine  Rechte  und  in  die  Möglichkeit  die 
musikalische  Gestaltung  nach  innerem  Bedarf  zu  Avandeln.  Das  Ent- 
scheidende an  der  Wagnerschen  Reform  ist  ihr  dichterischer  Ausgangs- 
punkt. Nicht  Theaterstücke  voll  von  Verwicklung  und  Überraschungen, 
sondern  Dramen  will  er,  wie  Gluck  sie  wollte,  Dramen,  die  ernste 
ethische  Ideen  in  einfach  großen  Bildern  entwickeln.  Und  für  diese 
Entwicklung  eine  musikalische  Ai'chitektur,  die  beweglich  und  zu- 
gleich einheitlich  war.  In  dieser  zweiten  Forderung  liegt  die  Schwierig- 
keit und  die  Größe  seiner  Leistungen.  Wagner  ging  in  seinem  Neu- 
bau rein  auf  die  Elemente  der  Musik  zurück:  Arien,  Ensembles  — 
alles,  w^as  die  alte  Oper  von  geschlossenen  Formen  bot,  verschmähte 
er.  Vom  ganzen  Apparat  behielt  er  nur  das  Rezitativ,  aber  nicht  das 
Seccorezitativ,  sondern,  wie  Gluck  und  aus  ähnlichen  Gründen  wäe 
dieser,  das  begleitete  Rezitativ.  Das  begleitete  Rezitativ  ist  bei  Wagner 
der  Träger  und  die  Seele  der  musikalischen  Form ;  den  selbständigen 
Gesang  beschränkt  er  äußerlich  und  innerlich.  Äußerlich,  indem  er 
ihn  nur  an  den  Punkten  zuläßt,  wo  das  Drama  ein  Verweilen,  einen 
breiteren  Ausdruck  der  Empfindungen  der  handelnden  Personen  ver- 
langt; innerlich  durch  eine  Melodik,  die  nur  durch  rhythmisch  und 
harmonisch  gefärbte  und  gestützte  Intervalle  spricht,  auf  den  Ausdruck 
durch  Figuren   und   reichere  Melismatik    verzichtet.     Das  völlig  Neue 


1  C.  F.  Glasenapp:  »Das  Leben  R.  Wagners  in  6  Büchern  dar- 
gestellt«, Leipzig  1894—1907;  H.  St.  Chamberlain:  »Das  Drama  R.  Wag- 
ners«,  Leipzig  1892;  derselbe:  R.  Wagner.  München  1896;  G.  Adler: 
»R.  Wagner,  Vorlesungen  an  der  Universität  Wien«,  Leipzig  1904.  Eine 
ausführhche  Zusammenstellung  der  Literatur  über  R.  Wagner  bietet  u.  a. 
der  Katalog  der  Musikbibliothek  Peters;  H.  Kretzschmar:  >Über  das 
Wesen,  Wachsen  und  Wirken  R.  Wagners <,  Jahrbuch  Peters  1912. 


Richard  "Wagner  269 

und  Wesentliche  am  begleiteten  Rezitativ  Wagners  ist  aber,  daß  er 
es  aus  der  szenischen  Isolierung  löst.  Das  motivische  Material  der 
Instrumente  wechselt  nicht  wie  in  der  früheren  Oper  von  Fall  zu  Fall, 
wird  nicht  für  jede  Szene  frisch  erfunden  und  wieder  weggeworfen, 
sondern  es  besteht  aus  einer  Reihe  von  Grundtypen,  die  vom  Anfange 
bis  zum  Ende  der  Oper  immer  wiederkehren,  durch  charakteristische 
Umbildungen  ihres  Rhythmus  und  ihrer  Harmonie  im  Wesen  oft  völlig 
verwandelt,  in  der  Form  verkürzt,  verlängert,  sich  dem  Gang  des 
Dramas  in  jedem  Augenblick  aufs  Vollkommenste  anpassen.  Der 
Wiederholung  bedeutender  Motive  zur  Verbindung  von  Anfang  und 
Ende  derselben  Szene,  zur  Verbindung  getrennter  Szenen  hat  sich  be- 
reits Monteverdi  bedient,  nach  ihm  Scarlatti.  Häufiger  und  häufiger 
erscheint  dieses  Mittel  poetisch-dramatischer  Reminiszenz,  je  weiter 
wir  in  der  modernen  Oper  vorschreiten,  je  größer  die  Macht  und  der 
Einfluß  der  Instrumentalmusik  wird.  Aber  keiner  hat  vor  Wagner  das 
Leitmotiv  zum  Stilprinzip  erhoben.  Das  ist  die  schöpferische  Haupttat 
Wagners  im  musikalischen  Teil,  im  Formenbau  der  Oper.  Er  zer- 
schlug den  alten  Apparat,  der  bis  zur  Demoralisierung  verknöchert 
war,  und  stellte  einen  neuen  auf,  der  dem  dramatischen  Geist  eine  freie 
Herrschaft  sicherte.  Dreierlei  war  dadurch  gewonnen  :  Erstens  Einheit- 
lichkeit des  Musikdramas,  zweitens  Bereicherung  und  Vertiefung  des 
Phantasie-  und  Gemütsgehalts,  drittens  straflTere  und  ungestörte  Füh- 
rung der  Handlung.  Diese  Einheitlichkeit  der  Form,  diese  enge  Ver- 
knüpfung getrennter  Teile  durch  die  gleichen  Motive  war  nicht  bloß 
ein  äußerer,  sondern  ein  noch  viel  stärkerer  innerer  Gewinn.  Auch 
Vorgänger  von  Wagner,  am  bekanntesten  Gluck,  haben  es  erstrebt 
und  verstanden  die  Grundstimmung  ihrer  Dramen  stark  durchklingen 
zu  lassen.  Aber  ihre  Mittel  verhalten  sich  zu  denen  Wagners  wie 
Dämmerung  zum  hellen  Tag.  Dort  eine  allgemeine,  ferne,  ungewisse 
Einwirkung  aufs  Gemüt;  hier  bei  Wagner  leibhaftige  Tongestalten, 
die  die  Phantasie  mit  unwiderstehlicher  Gewalt,  mit  Hartnäckigkeit 
zwingen,  die  die  leitenden  Ideen  des  Dramas  in  die  Erinnerung  un- 
verlöschlich  eingraben.  Und  selbst  bei  unmusikalischen  Zuhörern  ist 
diese  Vertiefung  des  Gesamteindrucks  da,  die  Wagners  che  Methode 
wirkt  auf  sie  unbewußt,  physisch.  Der  zweite  Teil  von  Wagners 
Neuerung,  die  Beseelung  des  Bühnenvorganges  in  jedem  einzelnen 
Schritt,  setzt  geschulte  Hörer  voraus  —  aber  er  erzieht  wohl  auch  die, 
die  es  noch  nicht  sind.  Er  ist  das  köstlichste  Stück  der  Wagnerschen 
Reform,  der  Wagnerschen  Kunst  überhaupt,  in  ihm  ist  der  Anspruch 
des  Musikdramas,  das  Normaldrama,  die  Krone  und  die  Spitze  aller 
dramatischen  Gattungen  zu  sein,  begründet.  Wagner  hat  in  »Oper 
und  Drama«  das  Orchester  seiner  Musikdramen  als  Ersatz  des  Chors 
der  griechischen  Tragödie  bezeichnet.  Das  ist  außerordentlich  be- 
scheiden. Denn  sein  Orchester  ist  doch  weit  mehr;  es  ist  der  grie- 
chische Chor  in  Permanenz,  es  zieht  nicht  bloß  die  Moral  und  löst 
dem  Zuschauer   den  Druck   der  Seele   an   den  Hauptpunkten,  es  hilft 


270  I^iö  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

ihm  sehen,  deckt  das  innere  Gewebe  der  Handlung  auf;  es  ist  auch 
das  Ausdrucksorgan  der  handelnden  Personen,  sagt  in  jedem  Augen- 
blick das  Unausgesprochene,  das  dem  Worte  Unaussprechliche  und 
zeigt  das  Ungesehene,  dem  Auge  Unsichtbare.  Durch  den  fortlaufen- 
den Kommentar,  den  es  zu  den  inneren  und  äußeren  Vorgängen  gibt, 
ermöglicht  es  auch  die  Natürlichkeit  in  der  Führung  der  Handlung. 
Es  hilft  dem  Gefühl,  der  hochgespannten  Stimmung  zum  Ausdruck 
ohne  Arien  und  ohne  jegliche  Vergewaltigung  des  schönen  Scheins 
der  Lebenswahrheit. 

Die  neuen  Gedanken  Wagners  waren  so  folgerichtig  aus  der  Ent- 
wicklung der  modernen  Musik  hervorgegangen,  ihr  ästhetischer  Erfolg 
war  so  zwingend,  daß  sie  schnell  über  das  Musikdrama  hinausdrangen. 
Franz  Liszt  hat  sie  schon  in  den  fünfziger  Jahren  in  die  Sinfonie,  bald 
auch  in  das  Oratorium  eingeführt.  Zunächst  und  jahrzehntelang  be- 
gegneten sie  aber  einem  Widerstand,  wie  ihn  heftiger  Gluck  und  Monte- 
verdi  nicht  gefunden  hatten.     Wie  ist  das  zu  erklären? 

Zuerst  aus  der  Art,  wie  Wagners  Reform  ins  Leben  trat:  stück- 
weise und  allmählich  nämlich.  Man  braucht  die  »Feena  und  das 
»Liebesverbot«  gar  nicht  zu  kennen;  der  »Rienzi«  allein  beweist  hin- 
reichend, daß  auch  Wagner  ursprünglich  auf  der  falschen  Seite  saß. 
Wie  Gluck  bei  den  Italienern,  so  hat  Wagner  in  der  Spontinischen 
Schule,  an  der  Seite  Meyerbeers  eifrig  mitgearbeitet,  ehe  ihm  die  Situa- 
tion, der  Zustand,  in  den  das  Musikdrama  geraten  war,  klar  wurde. 
Noch  im  »Fliegenden  Holländer«  bezieht  er  den  Hauptteil  seiner  musi- 
kalischen Formen  und  Ideen  aus  dem  alten  Lager ;  nur  dichterisch  ist 
er  sich  klar  und  hat  für  die  Romantik  entschieden.  Mit  »Tannhäuser« 
und  »Lohengrin«  wird  es  deutlicher  und  deutlicher,  daß  ein  neues 
System  vorliegt,  auch  seine  musikalische  Eigentümlichkeit  entfaltet  sich 
immer  ursprünglicher,  kühner,  glänzender  und  voller.  Aber  es  hat 
doch  ziemlich  lange  gedauert,  bis  die  ganze  Fülle  von  Wagners  Be- 
gabung, bis  Ziel  und  Wesen  seiner  Absichten  allgemein  erkennbar 
wurden.  Die  »Meistersinger«  erschienen  auch  einem  Teil  seiner  Freunde 
als  eine  prinzipielle  Rückkehr  zur  Oper.  Da  war  der  Stabreim  auf- 
gegeben, da  waren  wieder  Chöre  und  Ensembles  da.  Als  Bülow  am 
Klavierauszug  von  »Tristan  und  Isolde«  arbeitet,  schreibt  er  an  Liszt, 
dieses  Werk  halte  er  nicht  für  lebensfähig,  das  sei  eine  Literaturoper. 
Liszt  ist  vielleicht  unter  allen  Freunden  Wagners  der  einzige  geweseü, 
der  Wagners  Bedeutung  von  Anfang  an  übersah,  und  ihm  haben  wir 
es  allein  zu  danken,  daß  Wagner  und  seine  Reform  nicht  zugrunde 
gingen. 

Zur  weiteren  Entschuldigung  von  Wagners  Gegnern  dient  es,  daß 
Wagners  Schriften  ihn  selbst  wohl  über  seine  Ziele  geklärt,  aber  die 
Auseinandersetzungen  darüber  nur  erweitert  und  erbittert  haben.  Sie 
müssen  auch  heute  noch  zum  großen  Teile  abgewiesen  werden.  Es 
sind  Streitschriften  von  ganz  subjektiver  Einseitigkeit,  voreilig  persön- 
liche Neigungen  zum  allgemeinen  Gesetz  erhebend,  vollständig  schief 


Richard  "Wagner  271 

in  der  Beobachtung  der  Gegner,  voll  Unwissenheit,  wo  sie  historische 
Begründung  versuchen.  Wertvoll  allein  ist  die  Aufstellung  einer  Reihe 
ästhetischer  Grundansichten  über  Musikdrama  und  Kunst,  einer  edlen 
und  idealen  Weltanschauung  entsprungen.  Um  das  Übel  noch  ärger 
zu  machen,  gesellte  sich  zu  den  Wagnerschen  Büchern  eine  Literatur 
von  Freundesschriften,  die  bis  zum  heutigen  Tag  immer  noch  wächst. 
Zum  großen  Teil  besteht  sie  aus  bloßen  Paraphrasen  von  Wagners 
Theorien,  aus  transzendentalen  Übertreibungen.  Das  gebildete  Laien- 
tum  hat  das  große  Verdienst,  Wagners  Werke  gegen  die  Zünftler 
durchgesetzt  und  gehalten  zu  haben;  als  Träger  der  Wagnerliteratur 
ist  es  aber  allmählich  gefährlich  geworden,  weil  die  lautesten  Wort- 
führer zwar  in  Nebensachen,  in  Literatur  und  Germanistik  wohl  unter- 
richtet, in  den  Hauptfragen  aber,  der  Technik  und  der  Geschichte  der 
Musik,  schwach  sind  und  ihren  einzigen  Halt  in  einem  blinden  Autori- 
tätsglauben an  Wagners  Ansichten,  auch  den  ungeprüften  und  irrigen, 
besitzen. 

Aber  auch  mit  den  Gegnern  Wagners  ist  kein  Staat  zu  machen. 
Nicht  einmal  das  kann  man  ihnen  bescheinigen,  daß  sie  die  wirklichen 
Schwächen  des  Wagnersystems  erkannt  und  zum  Mittelpunkt  ihres 
Widerspruchs  gemacht  haben.  Wo  ihr  Angriff  tiefer  ging,  klammerte 
er  sich  an  Punkte,  die  zu  den  Vorzügen  der  Wagnerschen  Kunst  ge- 
hören. Das  war  insbesondere  der  moderne,  oder  wie  es  bei  Hanslick, 
Gumprecht,  Reißmann,  Scholz  heißt,  der  nervöse  Charakter  seiner 
Musik.  Gerade  darin  hängt  Wagner  mit  seiner  Zeit  am  festesten  zu- 
sammen, gerade  darin  ist  seine  Musik  ein  Produkt  der  Zeit.  Ob  man 
diese  Erscheinung  rühmt  oder  beklagt  —  den  Künstler  trifft  man  da- 
mit nur  mittelbar.  Ein  zweiter  beachtenswerter  Vorwurf  der  Gegner 
richtet  sich  gegen  die  Wagnerschen  Dichtungen,  gegen  ihren  Mangel 
an  wahrem  Heldentum,  an  männlicher  Größe.  Er  läßt  sich  nicht  ab- 
weisen, genügt  aber  keinesfalls  zur  gänzlichen  Verwerfung  von  Wagners 
Werk.  Im  übrigen  war  die  Feindschaft  gegen  Wagner  ein  Wehklagen 
der  aus  der  Ruhe  gescheuchten  Gewohnheit.  Hinter  unklaren,  bom- 
bastischen Redensarten  von  geheiligten  und  ewig  gültigen  Formen 
treten  sie  für  die  alten,  geliebten  Utensilien  ein,  verlangten  dem  Revo- 
lutionär und  Zerstörer  gegenüber  ihre  Introduktionen,  ihre  Duette, 
Ensembles,  ihre  Chöre,  Finales,  ihre  Gebete  und  Trinkchöre.  All  ihr 
Zorn  bewies  nur,  daß  Wagner  im  Recht  war,  daß  der  dramatische 
Geist  des  Opernpublikums  zur  Freude  an  der  leeren  Schale  entartet  war. 

Im  pro  und  contra  bleibt  dieser  Streit  um  Wagner  ein  unrühm- 
liches Stück  deutscher  Kunstgeschichte,  unerquicklich,  wie  es  der  Kampf 
für  und  gegen  Gluck  gewesen  ist. 

Wie  sehr  Wagner  durch  sein  Wirken  die  Luft  gereinigt  hat,  das 
vermag  das  heutige  Geschlecht  gar  nicht  genügend  zu  ermessen.  Da 
muß  man  die  alten  Zeiten  mit  erlebt  haben  und  ihre  Kleinlichkeit. 
Dem  Partikularismus,  der  Goethe,  Schiller,  Beethoven  und  Bach  für 
einen  Schnitt   ins  Fleisch  des  preußischen  Nachbars  gern  hingegeben 


272  ^^^  moderne  Oper  bis  zu  Wagner 

hätte^  dem  das  Interesse  um  fürstliche  und  höfische  Angelegenheiten 
über  alle  Not  und  alles  Wohl  des  Volkes  ging  —  dieser  ideenlosen 
Kleinkrämer  ei  entsprachen  auch  die  literarischen  und  künstlerischen 
Interessen.  Ein  neuer  Roman  von  Gutzkow  und  Spielhagen  waren 
Ereignisse,  mit  Spannung  wartete  Deutschland,  wartete  Europa  auf 
eine  angekündigte,  jahrelang  vorposaunte  Oper  von  Meyerbeer  und 
Auber.  Und  wenn  sie  nun  kamen,  war's  eine  »Dinorah«,  waren' s  die 
»Krondiamanten«.  Wie  viele  begabte  Männer  verbrauchten  ihren  ganzen 
Geist  im  Studium  und  Anpreisen  von  Sängern  und  Virtuosen !  Wenn 
heute  mit  dem  politischen  auch  der  künstlerische  Puls  wieder  kräftiger 
schlägt,  so  danken  wir  das  auch  Kichard  Wagner,  der  in  eine  große 
Zeit  auch  eine  große  Kunst  hineingestellt  hat.  Die  Bewunderung  kann 
nur  wachsen,  wenn  wir  wahrnehmen,  daß  Wagner  in  einer  feindlichen 
Welt  völlig  allein  stand,  ohne  Vorgänger,  ohne  Genossen,  wie  sie 
Gluck  hatte.  Sache  der  Zukunft  wird  es  nun  sein  für  eine  Schule 
Wagners  zu  sorgen.  Sie  hat  bis  heute  warten  lassen.  Unter  allen 
den  deutschen  Musikern,  die  sich  Wagner  in  der  Oper  angeschlossen 
haben,  ist  bis  heute  kein  entscheidendes  Talent  aufgetreten.  Die  besten, 
Götzi,  Cornelius  2,  Humperdinck,  Pfitzner,  Klose  haben  eine  freie 
Beherrschung  des  Wagnerschen  Stiles  nur  angebahnt.  Nachahmer 
Pv.  Wagners,  anspruchslose  und  anspruchsvolle,  wird  es  noch  viele 
geben;  Schüler,  schöpferische,  frei  und  weiterbildende  Schüler  erst 
dann,  wenn  die  Meinungen  über  das  Wesentliche  und  Unwesentliche 
der  Wagnerschen  Kunst  besser  geklärt  sind.  Wesentlich  ist,  daß  Ernst 
mit  dem  Drama  gemacht  wird,  in  der  Dichtung  und  in  der  Musik. 
Wesentlich  ist  der  Verzicht  auf  jegliches  Konventionelle,  auf  voraus 
fertige  Musikformen,  die  auch  im  neuen,  im  Wagnerschen  Stile  mög- 
lich sind,  in  der  Form  von  Erzählungen  über  ausgehaltenen  Baß,  als 
unbegleitete  Sololieder  schon  sich  einzunisten  beginnen.  Wesentlich 
ist  ein  Orchester,  das  beseelt  und  verbindet,  wesentlieh  ein  Komponist, 
der  über  Geist  und  Poesie  verfügt.  Unwesentlich  ist  Romantik  und 
Sage,  trotz  Wagners  eigener  Versicherung.  So  war  er  eben,  daß  ihm 
jede  persönliche  Neigung  zu  einem  allgemeinen,  begeistert  bewiesenen 
Gesetz  wurde.  In  seiner  romantischen,  oft  hyperromantischen  Rich- 
tung ist  Wagner  das  Kind  einer  Zeit,  die  weit  hinter  uns  liegt.  Und 
wenn  die  Gegenwart  sich  die  abenteuerliche  Ausgeburt  einer  Kundry 
gefallen  läßt,  so  tut  sie  es  aus  Ehrfurcht  vor  Wagner.  Es  ist  aber 
Befangenheit,  wenn  eine  Wagnersche  Schule  dem  Meister  in  dieser 
Richtung  glaubt  folgen  zu  müssen.  Unwesentlich  sind  die  Wagner- 
schen Harmonien  und  ein  großer  Teil  der  internen  Ausdrucksmittel, 
unwesentlich  wie  der  Unterschied  zwischen  Oper  und  Musikdrama  ist 


1  W.  Kreuzhage:  »Hermann  Götz,  sein  Leben  und  sein  Werk«,  Leipzig 
1913. 

2  A.  Sandberger:  »Leben  und  Werke  des  Dichtermusikers  Peter  Cor- 
nelius«, Leipzig  1887. 


Eine-  Wagner-Schule.  273 

seine  prinzipielle  Verwerfung  des  Seccorezitativs.  Mit  diesem  Punkt 
ist  die  Seite  berührt,  wo  die  Zukunft  sich  wird  vom  Vorbild  Wagners 
trennen  müssen.  Gewiß  sind  die  Partien  seiner  Oper  die  schönsten 
mit,  wo  seine  Musik  zur  dramatischen  Sinfonie  wird;  aber  Wagner 
hat  die  Macht  der  Instrumentalmusik  auch  vielfach  überschätzt  und 
hat  mit  ihr  musikalischen  Geist  auch  solchen  Szenen  abzutrotzen  ge- 
sucht, die  keinen  ergeben,  die  nicht  breit,  sondern  kurz  und  flüchtig 
behandelt  sein  wollen.  Er  hat  das  natürliche  Verhältnis  zwischen 
Sänger  und  Orchester  häufig  umgekehrt,  bis  zu  dem  Grade,  daß  lange 
Strecken  eines  ins  Orchester  hineingezwängten,  unsangbaren  Vokal- 
satzes in  seinen  Opern  nur  von  denen  verstanden  werden  können,  die 
sie  auswendig  wissen.  Alles  in  allem:  das  Wagnersche  System  er- 
laubt und  verlangt  Korrekturen ! 

Da  ist  es  nun  sehr  wichtig,  daß  die  Wagnerschen  Werke  inzwischen 
ins  Ausland  gedrungen  sind.  An  der  zu  erwartenden  Schule  Wagners 
wird  Frankreich,  wird  Italien  mitarbeiten,  das  Musikdrama  der  Zu- 
kunft wird  in  Wagners  Geist  dramatische  Einheit,  dramatische  Be- 
seelung durchs  Orchester  zum  Richtstern  haben,  aber  die  Ausführung 
dieses  Gesetzes  wird  international  und  mannigfaltig  ausfallen.  In 
Deutschland  kamen  zu  Wagners  Lebzeiten  Nebenmänner  nicht  ernst- 
lich in  Frage.  Flotow  als  Vertreter  der  französischen  opera  comique, 
Neßler,  ein  derber  Mischling  von  Lortzing  und  Auber;  Rubinstein^, 
Goldmark,  der  »Folkungera-Kretschmer,  drei  Nachfolger  Meyer- 
beers,  das  waren  alle  willkommene  Repertoirekomponisten^,  aber  keine 
Talente  von  programmatischer  Bedeutung.  Anders  stand  es  in  Frank- 
reich, anders  in  Italien!  In  der  französischen  Oper  war  in  Charles 
Gounodi  eine  Kraft  von  europäischem  Ansehen  aufgetreten.  Wir 
sind  mit  Recht  von  seiner  Auffassung  Goethes  und  Shakespeares  nicht 
allenthalben  erbaut.  Aber  jedenfalls  war  er  ein  geistvoller,  sinniger, 
edel  gerichteter  Künstler,  dem  eigentümlich  elegische  Töne  zu  Gebote 
standen.  Mit  seinen  Werken  hat  er  für  Frankreich  eine  Mission  voll- 
führt, von  Meyerbeer  abgelenkt  und  Wagner  vorbereitet.  Nur  die 
älteren  Komponisten,  Saint-Saens,  Masse,  Massenet  vertreten 
heute  noch  die  alten  Opern«ffekte,  die  junge  Generation,  Chabrier 
und  Charpentier  an  der  Spitze,  hält  zum  Wagnerschen  Musikdrama, 
andere,  wie  Debussy,  gehen  bereits  über  ihn  hinaus  und  betrachten 
die  Oper  als  Versuchsfeld  für  eine  miove  musiche,  für  neue  musika- 
lische Elementarwirkungen.  Ihnen  hat  sich  unter  den  Deutschen 
R.  Strauß  eine  Zeit  lang,  mit  seiner  »Salome«,  seiner  »Elektra«  an- 
geschlossen. Seine  neuesten  Werke,  der  »Rosenkavalier«  und  »Ariadne« 
zeigen  diese  bedeutende  Kraft  wieder  auf  gesunden  Wegen. 

Italien  war  in  der  Periode  Rossinis,  Bellinis  und  Donizettis  trotz 
der  äußeren  Erfolge  dieses  Trios  dem  Bankrott  immer  näher  gekommen. 
Nur  die  Macht  der  Gewohnheit  und  der  Mechanismus  der  eingebürgerten 


1  L.  Pagnerre:  »Charles  Gounod,  sa  vie  et  ses  oeuvres«,  Paris  1890. 
Kl.  Handb.  der  Musikgesch.    VL  18 


274  I^ie  moderne  Oper  bis  zu  Wagner. 

Musikbühnen  hielt  die  Oper  noch  am.  Leben.     Dichterisch  fehlte   ihr 
jede  Verbindung   mit   dem   geistigen  Leben   der  Nation  und  jede  Be- 
rechtigung.    Die  Verarmung  des  musikalischen  Talents  zeigt  sich  am 
stärksten  in  der  komischen  Oper.     Während  sich  hier  am  Anfang  des 
Jahrhunderts  die  begabten  Geister  noch  drängten,   war  jetzt  der  ganze 
Bedarf  auf  ein  schwaches  Brüderpaar,   auf  Luigi  und  Friderici  Ricci 
gewiesen.    Nur  eine  starke  Kraft  war  da,  Giuseppe  Verdi i.    Er  allein 
hielt  noch  die  Ehre  des  italienischen  Namens  aufrecht  und  glich  einiger- 
maßen die  Schande  wieder  aus,   daß  die  italienischen  Bühnen  seit  den 
dreißiger  Jahren   hauptsächlich  von  französischen  Werken  existierten. 
Verdis  Opern  drangen  schon  Anfang  der  vierziger  Jahre  ins  Ausland. 
Den  Italienern   waren   sie   mehr   als   ein  Stolz;    sie  wurden  ihnen  die 
Quelle   und   der  Hort    neuer  vaterländischer  Hoffnungen.     Es  ist  all- 
gemein  bekannt,    wie  jahrzehntelang   der  Name  Verdi   das  Stichwort 
der  italienischen  Patrioten  war  —  als  Anagramm  der  Losung:    Fittore 
jEmanuele  Re  di  /talia !     Das  erklärt  sich  einmal  daraus,  daß  die  ersten 
Opern  Verdis   alle   eine    oder   mehrere  Nummern   haben,    die  Heimat, 
Vaterland   und  Volk   in  gewaltigen  Tönen   feiern,   ähnlich,   aber  noch 
viel  demonstrativer  als  das  Wagner  im  Landgrafen    des  »Tannhäuser« 
und  im  König  des  »Lohengrin«  tut.     Die  patriotische  Bedeutung    der 
Verdischen  Musik  lag  aber  noch  viel  tiefer.    Auch  sie  hatte  die  Weich- 
heit, Innigkeit,   die  Klarheit  und  Einfachheit,   die  der  Vorzug  der  ita- 
lienischen Kunst   von  jeher   gewesen   war,    aber   sie  buhlte  nicht  wie 
die  Oper  der  letzten  Periode.     Ein  Ton  männlicher  Kraft  beseelte  und 
durchzog   sie,    sie   brachte  Eisen  und  Stahl  in  das  entnervte  Gemüts- 
leben.    Es   bleibt   ein  Ruhm'   für   die  Italiener,    daß    sie   diesen  Wert 
Verdis  gleich  in  seinen  ersten  Opern  erkannten,   denn  er  äußerte  sich 
noch   lange   hart,   roh   und   unreif.     In  Wien   und   überall   außerhalb 
Italiens   fiel  deshalb  sein   ))Nabucodonoson(.   durch;    die  modernen  Ele- 
mente in  den  Ausdrucksmitteln,   die  kühnen  chromatischen  Führungen 
und  Modulationen,  die  Feierlichkeit  und  der  Ernst  dieser  Musik  stießen 
geradeso  ab  wie  bei  Wagner,  mit  dem  er  diese  neuen  Erscheinungen 
gemein  hat.     Außerordentlich  litt  Verdi  unter  dem  Verfall  der  Dich- 
tung.    Bei  Werken  wie  ))Rigoletto(.(.,  )->2raviata(.(.  ist   der  Haupteindruck 
beklemmend,  Schrecken  über  die  Leere  einer  Zeit,  die  in  solcher  krank- 
haften Richtung   nach  Poesie   sucht,  Bedauern    über   das  musikalische 
Talent,  das  an  dergleichen  ekelhafte  Geschichten  hinausgeworfen    ist. 
Wie    die  Romantik   eine  Geistesgefahr  ist,   das  sieht  man  in  der  Ge- 
schichte der  modernen  Operl    An  den  nichtigen  Texten  brach  sich  die 
Kraft  Verdis,   sein  dramatischer  Sinn  wird  schwächer.    Er  macht  Kon- 
versationsmusik wie  Auber  und  arbeitet  mit  Musikeffekten  wie  Meyer- 


1  E.  Chezzi:  >G.  Verdi«,  Firenze  1901;  A.  Base  vi:  >  Studio  nelle 
opere  di  Gr.  Verdi«,  Firenze  1859;  C.  Ricci:  >G.  Verdi  e  Tltalia  musicale 
aU'estero«,  Bologna  1889;  H.  Kretzschmur:  >Q-.  Verdi«,  Jahrbuch  Peters 
1913. 


Giuseppe  Verdi.  275 

beer.  Noch  im  »Troubadour«  führt  der  Weg  zum  Herrlichsten,  was 
die  moderne  romantische  Oper  besitzt  —  die  Romanze,  die  Stretta  des 
Manrico,  die  Zigeunerszene,  der  Sterbechor  mit  der  Totenglocke,  das 
Wiegenlied,  das  Schlußduett  des  Liebespaares  —  durch  eine  Sphäre 
von  Trivialität.  Mit  der  y^Forza  del  destino<f.,  deren  Text  von  Piave 
ist,  tritt  die  Wendung  ein.  Hier  zeigt  sich  zum  ersten  Male  der  Ein- 
fluß Wagners  stärker  im  architektonischen  Plan  der  Oper;  in  »Aida^^ 
blicken  die  Elsaszenen  des  »Lohengrin«  deutlich  durch.  Hier  steht 
Verdi  zugleich  auf  dem  Gipfel  der  ihm  eigenen  Begabung,  es  ist  das 
an  charaktervoller  Melodik  reichste  Werk  der  ganzen  neueren  Opern- 
geschichte. Das  Band,  das  ihn  mit  den  Franzosen  verknüpft,  hat 
Verdi  hier  bis  auf  einen  letzten  dünnen  Faden,  der  nach  der  »Afri- 
kanerin« hinführt,  zerschnitten.  Im  »Othello«  und  »Falstaff«  ist  der 
alte  Meister  mit  einem  rührenden  Eifer  ein  Schüler  Wagners  geworden ; 
leider  hat  er  die  Frische  und  Glut  darüber  eingebüßt.  Aber  Italien 
ist  durch  ihn  der  neuen  Kunst  gewonnen  und  wird  in  der  Zukunft 
der  Oper  wieder  wichtig  sein. 

Die  guten  Kräfte  aller  Länder  haben  sich  heute  um  das  Ideal  Wagners 
geschart.  Die  Zeichen  für  die  fernere  Entwicklung  des  Musik dramas 
stehen  günstig.  Immer  wird  sie  vom  Wechsel  der  allgemeinen  poli- 
tischen und  musikalischen  Strömungen  mit  abhängig  sein.  Möge  es 
der  Oper  nie  an  Freunden  fehlen,  die  bei  allem  Wandel  des  Geschmacks 
daran  festhalten,  daß  sie  ein  hohes  dramatisches  Ziel  hat.  Das  einzige 
Kennzeichen  für  Wert  und  Unwert,  das  uns  die  Geschichte  lehrt,  ist 
die  dramatische  Ehrlichkeit.  Eine  Oper  ist  gut,  wenn  die  Musik  dient, 
sie  ist  schlecht,  sobald  sie  selbstherrlich  wird.  Von  diesem  Grundsatz 
aus  kann  auch  das  Publikum,  die  Neuerscheinungen  prüfend,  an  einer 
heilsamen  Entwicklung  der  Oper  mitarbeiten. 


18* 


GS 


Register. 


Abbatini,  Antonio  Maria  105. 
Abert,  Hermann  7.  190.  211 A. 
Accidenti  verissimi  85. 
Adam,  Adolphe  129.  267. 
Adam  de  la  Haie  11. 
Addison  180. 

Adler,  Guido  135.  198.  268  A. 
Agazzari,  Agostino  51ff.  (Emnelio). 

55. 
Agostini,  Pietro  Simone  105. 
d'Alayrac,  Nicolas  227.  259f.  264. 
Albert,  Heimich  219. 
Albinoni  88. 
Albrecht,  Rudolf  136. 
»Alceste«  218  ff.  (Schweitzer). 
Aldobrandini  50. 
d'Alembert  230. 
Alfonso  della  Viola  14. 
Algarotti,  Graf  8. 
Allacci  5.  6.  48.  71  A. 
Allegorienoper  45.  46. 
Altenburg  135.  140. 
Alveri  139. 
Amadino  55. 

Amalie,  Herzogin  von  Weimar  217. 
Ambros,  Wilhelm  8.  11.  27.  46.  51. 

63.  79. 
Amerika  6. 

d'Ancona,  Alessandro  26  A. 
Anfossi  211.  244. 
Ansbach  155. 
Apolloni  86. 
Arcadelt  23. 

Archilei,  Vittoria  30.  33.  48. 
»Arianna«  63ff.  (Monteverdi). 
d'Arienzo,  Nicolo  27  A.  181  A. 
Aristoteles  52. 


Aristoxenos  23. 

Arne  223. 

Arnheim    Amalie  225  A. 

Arnold  223. 

Arteaga,  Stefano  8.  11.  26.  30.  43. 

54.  208. 
Artusi  66. 

Äschylos  44.  81.  164. 
Asplmayr,  Franz  249. 
Ästhetik  der  Oper  1.  10  (Gegner  der 

Oper). 
Atto  109. 

Auber,  Daniel  227.  264f. 
Audinot  226. 
Aumont,  A.  6. 
Aureli  86.  137.  159.  203. 
d'Auvergne  225.  227. 
Ayrer  151. 

Bach,  Christian  207. 

—  Christoph  64. 

—  Johann  Sebastian  53.  87.  102. 
104.  117.  118.  129.  148.  150.  152. 
169.  179.  185.  219. 

Bachelier  127. 

Badia,  Carlo  Agostino. 

Badoaro,  Giacomo  62. 

Baif,  Antoine  108. 

Ballett  114  ff.  (französisches). 

Baltrame,  Pietro  260  A. 

Barberini  78. 

Bardella  18. 

Bardi,  Johann  (Graf  von  Vernio)  17. 

19.  23. 
Basevi,  A.  274. 
Bassani  86. 
V.  Baumgarten  215. 


Register. 


277 


Bayreuth  5.  135.  155. 

Beaujoyeulx  27.  115. 

Beaumarchais  235.  242. 

Bechstein,  Ludwig  12. 

Beck  243. 

Beethoven,  Ludwig  van  125. 228. 252. 

Bekker,  Paul  267  A. 

Bellasis,  Ed.  237  A. 

Bellini,  Vincenzo  103.  260. 

Ben  da,  Friedrich  215. 

—  Georg  215.  228.  249. 

Bender  153. 

Berend,  Fritz  151. 

Berlin  2.  5.  155. 

Berlioz,  Hector  218.  246.  257.  265. 

Bernacchi  174. 

Bernabei  7.  88. 

Berni  86. 

Bernier,.  Nicolas  127. 

Bertali,  Antonio  106. 

Bertati,  Giovanni  185  A. 

Bertholezzi  109. 

Bertin  124. 

Bertoni  207.  208.  244. 

Berwin,  Adolf  2A. 

Bishpp  223. 

Bissari  86. 

Bitter,  C.  H.  186.  193.  199. 

Bizet,  Georges  118.  227. 

Blamont,  Colin  de  124. 

Blümner  151. 

Boas,  Hans  241  A. 

Boetius  23. 

Böhm,  Johann  153. 

Boieldieu,  Fran^ois  Adiien  126.  227. 

248.  263.  264. 
Boileau  112. 

Bologna  2.  3.  5.  8.  49.  54.  62. 104. 174. 
Bolte,  J.  224. 
Bonarelli  86. 
Bonini  63. 
Bononcini,  Giovanni  106.  107.  139. 

158. 
~  Marc' Antonio  106. 
Bontempi  86.  101.  137. 
Boretti,  Claudio  103. 
Boschi  175. 

Bostel,  Lukas  von  142.  143. 
Böttcher,  E.  215  A. 
Bottura    G.G.  5. 


Bouilly  228. 

Boxberg,  Christian  Ludwig  7.  153. 

155. 
Brancour,  R.  236  A. 
Brandes  249. 
Brandi,  Antonio  33.  48. 
Braunschweig  135.  138f. 
Brenet,  Michel  228  A. 
Bressand  139.  143.  151. 
Brissac  124. 
Bronner  139.  145.  151. 
Broschi,  Carlo  174. 
Brunetti,  Domenico  80. 
Brüssel  2. 

Buffonisten  in  Paris  224f. 
Buini  185. 

Bülow,  Hans  von  10.  270. 
Bulthaupt,  Heinrich  195. 
Buranello  siehe  Galuppi. 
Burney,  Charles  8.  IL  148  A.  166. 

177.  178.  183.  186.  189.  208. 
Buschkötter,  W.  236  A. 
Busenello,  Giovanni  Francesco  62. 

87.  88.  96. 

Caccini,  Francesca  71. 

—  Giulio  18.  19.  20.  21.  29.  49  (Euri- 
dice).  50.  78.  79.  219. 

—  Maria  71. 
Caffarelli  174. 
Cahuzac  130. 
Caldara  139.  165. 
Calmus,  G.  179  A.  213  A. 
Calzabigi  160.  195.  202ff.  221.  230. 
Cambert,  Robert  109 ff.  126. 
Cambiasi,  P.  5.  211  A. 
Cametti,  Alb.  211  A. 

Campra,  Andre  113.  123.  124.  125. 

126.  127.  130.  131.  149. 
Carestini  174. 
Carissimi  65  A.  98.  100. 
Cassel  5.  212. 
Casti,  G.  B. 

Castil-Blaze  8.  13.  108  A.  257. 
Catel,  Charles  Simon  228.  236 ff. 
Cavalieri,  Emilio  del  15.  16.  30.  31. 

50  f.  (Rappresentazione).  72. 
Cavalli,  Francesco  1.  3.  26.  31  A.  32. 

47.  57.  65.  81 A.  88.  91  ff.  (Didone). 

98.  99. 102. 105. 109. 111. 115. 119. 

137.  139.  142.  147.  163.  181. 


278 


Register. 


Cecconelli,  Pietro  71. 

Celler,  L.  108  A. 

Cerlone,  Francesco  209. 

Cesichin,  Vsevolod  6. 

Cesti,  Marc'  Antonio  81 A.  88.  98.  99. 

100.  137.  142.  147. 
Chabrier  273. 

Chamberlain,  H.  St.  268  A. 
Champein  228. 
Charpentier  273. 

—  Marc  Antoine  124. 
Cherubini,   Liiigi    110.    229.    237. 

249  ff. 
Chezy,  Helmine  von  259. 
Chezzi,  E.  274  A. 
Chiabrera,  Gabriel  45.  50.  71.  73. 
Chiappelli,  A.  5. 
Choral  23. 

Choroper  44.  47.  59.  71.  79.  117.  199. 
Chouquet,  G.  108. 
Christian  VII.  199. 
Christine  von  Schweden  78. 
Chrysander,  Friedrich  26  A.  133  A 

136. 146  A.  148. 166. 176. 180.  240 

241  A. 
Cicconetti,  Filippo  262  A. 
Cicognoni  86. 
Ciellis  86. 

Cimarosa,  Dom.  211.  244. 
Claude  de  Laguerre,  Elisabeth  124. 
CUment,  Felix  6. 

—  (Komponist)  224. 
Cocchi  212. 

Co  Ilasse,  Pascal  124. 
Coltellini  203.  208.  221. 
Conti  155. 
Conradi  (Komponist)  145. 

—  (Sängerin)  147. 
Coppini  63. 
Corelli  128. 

Corneille,  Pierre  112 ff.  142.  160. 

Cornelius  272. 

Corradi  86. 

Corsi,  Jacopo  19.  21.  32. 

Curzon,  de  266  A. 

Cosini  225. 

Couperin  118. 

Cupeda  86. 

Cuzzoni  174.  175. 

Cyprian  de  Rore  23.  21 


Dahlgren  6. 

Dalberg  220. 

Danchet,  Antoine  121. 

Dänemark  6. 

Daninger,  Joseph  G.  134  A. 

Dante  Alighieri  18. 

Danzi  134  A. 

Da  Ponte,  Lorenzo  202. 

Dassori,  Carl  7. 

Debussy,  Claude  273. 

Dekorationswesen  46. 

de  la  Haye'l09.  119. 

de  la  Popelini 6re  129. 

Delsarte  129. 

Dent,  Edward  7.  28.  165  A.  166. 

Desarbres,  Neree  6. 

Desmarets,  Henri  124. 

Desnoiresteres,  G.  230  A. 

Destouches,  Andre  124.  125.  126. 

127.  146. 
Destranger,  E.  6. 
Deutsche  Oper  133ff. 
Dibdin  223. 
Diderot  230. 
»Didone«  91  ff.  (Cavalli). 
Dietz,  Max  235  A. 
Dittersdorf ,  Karl  von  184.  216.  222. 

227.  228.  244. 
Domenico  della  Maria  228. 
Dommer,  Arrey  von  11.  27.  148. 
Doni,  Giov.  Battista  11.  14ff.  22.  23. 

24.  26.  29.  30.  41.  46.  54  A.  63. 
Donizetti,  Gaetano  262. 
Draghi,  Antonio  3.  75.  88.  138.  198. 
Dramma  per  musica  31. 
Dreger  147. 

Dresden  2.  5.  101.  132.  137.  156. 
Duboulay  121. 
Du-Casse,  A.  108. 
Dulle,  Kurt  124  A. 
Dumont,  Henry  127. 
Duni,  Egidio  Romoaldo  216.  226 ff. 

250. 
Dur  ante,  Ottavio  79. 
Durastante,  Francesca  174.  177. 
Durazzo  (Graf)  202.  225. 
Düringer,  Ph.  267  A. 
Durlach  5.  135.  144.  156. 
Du  Roullet  230. 
Dvorak,  Anton  118. 


Register. 


279 


Eberl  244. 

Eccard,  Johannes  24. 
Ecorcheville,  Jules  108  A. 
Ehrenstein,  M.  255  A. 
Einstein,  Alfred  5. 
Eisenach  12. 
Eisenberg  135.  140. 
Eisner-Eisenhof,  A.  von  244  A. 
Eitner,  Karl  101.  135.  150.  155  A. 
Elisabeth,    Prinzessin   von   Braun- 
schweig 139. 
Ellinger,  Georg  175  A. 
Elmenhorst  142. 
Engländer,  Richard  213  A. 
Englische  Oper  179  ff.  223 f. 
Entstehung  der  Oper  15  ff. 
Epilog  73. 
Erlebach  139. 
»Eumelio«  51  (Agazzari). 
»Euridice«  31  (Peri). 
Euripides  160. 

Fatti  storici  85. 

Faustini  86.  99. 

Farinelli  siehe  Broschi. 

Farrenc  129. 

Favart,  Charles  226.  249. 

Fehr,  Max  158  A. 

Feind,  Balthasar  143. 

Feo,  Francesco  175. 

Ferrara  14. 

Ferrari,  Benedetto  82.  83. 

—  P.  E.  5. 

Fetis  7.  78  A.  119.  148.  191. 

Fidate,  Oberto  54. 

Fideler  145. 

Filippo  de  Monte  23. 

Finale  210. 

Fink,  G.  W.  8.  196. 

Fiorillo  212. 

Fischer,   Georg  (Schriftsteller)  133. 

—  (Komponist)  154. 
Flechsig,  E.  46. 

Florenz  2.  5. 15.  23.  29.  30.  31.  49.  63. 

71.. 
Florimo,  Francesco  5.  166. 
Flotow  273. 
Font,  A.  224  A. 

Forkel,  Johann  Nikolaus  8.  208. 
Forsyth,  C,  180  A, 


Förtsch  140.  145. 
Franeeschini  103. 
Franck,  Joh.  Wolfgang  145. 146. 147. 
Französische  Oper  2.  6.  108.  224.  234. 

263.  273. 
Fredrizzi  139. 
»Freischütz«  255  (Weber). 
Fr  es  Chi,  Domenico  65.  88.  107.  165. 
Friedrich  der  Große  162.  185.  187. 

212.  218.  238. 
Friedrich,  Markgraf  von  Bayreuth 

155. 
Frugoni  208. 

Fundorte  von  Opernpartituren  2. 
Fürstenau,  Moritz  5. 133  A.  137. 186. 
Fux,  Joseph  199. 

Gaartz,  H.  260  A. 

Gabrieli,  Domenico  88.  107.  165. 

—  Johannes  11.  71. 

Gaedertz,  Theodor  145. 

Gagliano,  Marco  Antonio  7.  13.  21. 

32.  46.  48.  63.  68  ff.  (Dafne).  75  ff. 

(La  Flora).  80.  97.  103.  136. 
Galilei,  Vincenzo  17.  18.  23.  24.  26. 
Galuppi,  Bald.  (Buranello)  211.  212. 
Galvani,  Livio  5.  83. 
Gandini,  Alessandro  5. 
Gandolfi  21  A.  105. 
Gasparini  174. 
Gaveaux,  Pierre  228. 
Gay,  John  179  A.  180. 
Gazzaniga  211.  241  A. 
Geliert  187. 
Generali  246. 
Giacobbi,  Hieronymo  70. 
Gianettini  106. 
Gianni  181. 
Gibot  121. 
Gilbert  110. 
Giordani,  Gaetano  62. 
Giovanni  Battista  del  Violino  32. 
Giustiniani,  Vincenzo  23. 
Glasenapp,  C.  F.  268  A. 
Gluck,  Christoph  Willibald  1.  2.  4.  6. 

7.  8.  41.  78.  99.  110.  119.  121.  128. 

163.  187.  192.  195  ff.  212.  220.  227. 

230ff.  268. 
Goedecke  12. 
Goethe,  Joh.  Wolfgang  von  160.  215, 

244.  245.  249,  273. 


280 


Register. 


Goldmark  273. 

Goldoni  159A.  210.  226. 

Goldschmidt,  Hugo  63  A.  81  A.  105. 

Gombert  24. 

Gonassi  38. 

Gonzaga  49.  55. 

Gosse c  228.  234. 

Gotha  5. 

Göttingen  8. 

Gottsched,  0.  C.  5.  133  A.  139.  213. 

217. 
Götz,  Hermann  272. 
Gounod,  Charles  273. 
Graun,  Heimich  7.  139.  148.  212. 
Graupner,  Christoph  153. 
Greff,  Joachim  12. 
Gregoir,  Edouard  6.  108  A.  109  A. 

112  A. 
Gretry  184.  211.  227.  228ff.  248.  250. 

264. 
Grieg,  Edward  118. 
Grillparzer,  Franz  211.  252. 
Grimm,  Fr.  126.  230. 
Groppo  5. 
Grosser  135.  140. 
Grossi,  Carlo  107. 
Grunewald  153. 
Guadagni  156.  174.  202. 
Guarini  30.  44.  45. 
Gubernatis,  Angelo  de  159. 
Guidi,  G.G.  31. 
Guidiccioni,  Laura  30.  51. 
Guidiotti,  Alessandro  30.  50. 
Guillard  230. 
Gumprecht  271. 
Gutzkow  160.  272. 

HaUvy  265. 

Hamburg  1.  2.  5.  126.  134.  135.  141ff. 

Händel,  Georg  Friedrich  1.  88.  97. 

102.  103.  116.  117.  118.  119.  125. 

127.  129.  131.  139.  140.  141.  145. 

148. 150. 169.  174. 175  ff.  197  (über 

Gluck).  248. 
Händel-Schütz  249. 
Hannover  141. 

Hanslick,  Eduard  1.  195.  271. 
Harr  er.  Gottlob  152. 
Harsdörfer  155. 
Hasse,  Faustina  (Bordoni)  147.  174. 

185  A. 


Hasse ,  Johann  Adolf  7. 121. 139. 148. 

156.  184.  185  ff.  248. 
Hassler,  Hans  Leo  153. 
Hawkins  57  A. 

Haydn,  Joseph  125.  214.  222.  228. 
Hegendorff  12. 

Heinrich,  Herzog  von  Meiningen  141. 
Hellenisten  14.  23.  24.  25.  26.  46.  108. 
Heüderson,  W.  F.  27  A. 
Herder  249. 
Hermann,  J.  234  A. 
H6rold  265. 
Hess,  Heinz  106  A. 
Heuss,  Alfred  55  A.  81  A.  102. 
Hiller,  Joh.  Adam  160.  213 ff.  226. 

228. 
Hirschberg,  E.  224  A. 
—  H.  5. 

Historische  Oper  247. 
Hodermann,  R.  215  A. 
Hof  mann,  Melchior  152. 
Hogarth  8. 

Hohenemser,  R.  237  A. 
Holbach  230. 
Holter  144. 

Holzbauer,  Ignaz  135.  220.  259. 
Homer  52.  85.  159. 
Hugo,  Victor  246. 
Humperdinck,  E.  272. 
Hunold,  Ch.  F.  144. 
Hyssel  153.  154. 

Iffland  218.  249. 

»Incoronazione  di  Poppea «  88  (Monte- 

verdi). 
Intermedien  27 ff.  60.  63.  66.  121. 
Intrigenpastorale  45. 
Isouard,  Nicolo  263. 
Istel,  Edgar  181  A.  248. 
Ivanovich  86. 

Jage  mann  243  A. 

Jahn,  Otto  239. 

Jannequin  24. 

Jansen,  A.  225. 

Jesuitenspiele  13, 

Jomelli,  Nicolo  3.  7.  132.  156.  187. 

189.  190ff.  199.  212. 
Jouvin,  B.  264  A. 


Register. 


281 


Jouy  237. 

Joseph  IL  216.  235. 

Jullien,  A.  235  A. 

Kantate  98. 
Karl  IX.  108. 

—  XII.  162. 

—  Alexander  von  Polen  78. 

—  Eugen  von  Württemberg  155. 

—  Theodor  220. 

—  von  Toskana  71. 
Katharina  von  Medici  108.  115. 
Kauer  209.  258. 

Kaunitz  (Fürst)  230. 
Keiser,  Reinhard  7.  135.  139.  140. 
144.  145.  147ff.  151.  153.  155.  156. 
Kelly,  Mich.  197. 
Kiesewetter,  Raph.  G.  11. 
Kleefeld,  Wilh.  133 A. 
Klein  (Dichter)  220. 

—  Bernhard  247. 

—  J.  J.  11.  27  A.  44. 
Klopstock  162.  187.  208. 
Klose  272. 

Koburg  5. 

Köchel,  L.  133  A.    • 

Kochsche  Truppe  213. 

Kohlrausch,  Friedrich  215  A. 

Komische  Oper  77.  105.  145.  249. 

König,  Ulrich  144. 

Kopenhagen  6. 

Körner,  Theodor  260. 

Kraus s,  R.  133  A. 

Krehbiel,  H.  Edward  6. 

Kretschmer  273. 

Kretzschmar,  Hermann  81  A.  lOlA. 

185  A.  195  A.  210  A.  230  A.  237  A. 

239  A.  245  A.  268  A.  274  A. 
Kreutzer,  Rudolph  237. 
Kreuzhage,  W.  272. 
Krieger,  Johann  140. 

—  Johann  Gotthelf  140. 

-—  Johann  Philipp  135.  139.  140.  145. 

151. 
Krone,  W.  216  A. 
Kuhn  au,  Johann  152. 
Kulturgeschichtliche    Bedeutung    der 

Operngeschichte  2.  4. 
Kunzen,  Friedrich  223. 
Kusser,  Sigismund  (Cusser)  7.  135. 

139.  145.  147.  151.  155. 


Lampugnani  212. 

Lamy,  F.  236  A. 

Latilla  2.  212. 

Labarre,  Michel  de  124. 

»La  Catena  d'Adone«  73  (Mazzocchi). 

Lacoste  124. 

Ladislaus  Sigismund  von  Polen 

71. 
La  Fontaine  121. 
Lalande  125  A. 
Lalouette,  Fran^ois  127. 
Laloy,  Louis  128. 
La  Motte  121.  129. 
Landi,  Stefano  74.  77. 
Langlois,  E.  11  A. 
Lapi,  Giovanni  32. 
La  Rochois  119. 
Lasso,  Orlando  di  23.  30. 
Laurencie,  L.  de  la  108  A.  124  A. 

128  A. 
Lavoix,  Henri  118  A. 
Lef^bre,  B.  6. 

Legrenzi,  Giovanni  2.  88.  104. 
Leichtentritt,  Hugo  8,  147  A. 
Leipzig  135.  151ff. 
Le  Moyne  234. 
Lenardini  103. 

Leo,  Leonardo  7.  175.  176.  182.  225. 
Leopold  L  101.  135. 
Lereis,  A.  de  109  A. 
Le  Sage  209. 

Lessing,  Gotth.  Ephr.  112.  213.  220 
Lesueur,  Jean  FranQois  236.  250. 
Lewy,  Heinrich  215  A. 
Lichtenstein  259. 
Liederspiele  11. 
Lille  6. 
Lindner,  Ernst  Otto  133  A.  134. 135. 

146. 
Lindo,  P.  244  A. 
Linon,  Janos  239  A. 
Liszt,  Franz  270. 
Liturgisches  Drama  13. 
Locatelli  198.  212. 
Logroscino,  Nicola  210. 
Löhner  135.  153.  154.  155. 
Löwe  139. 

London  8.  37  A.  175.  183. 
Lorenzo,  Giambattista  210. 
Loreto,  Vittori  77. 


282 


Register. 


Lortzing  267. 

Lotti,  Antonio  83.  139,  156. 165. 174. 

Ludwig  XIII.  111.  117. 

—  XIV.  2.  46.  99.  109.  110.  111.  112. 
113.  156. 

—  XVI.  235  A. 

Lully,    Jean   Baptiste    7.    8.    97  A. 

108  A.  UOff.  128.  130.  139.  142. 

149.  202.  229. 
Lütjens  141. 
Luzzo  103. 
Lynker,  B.W.  5. 

Madrigal  24  f.  30. 
Magdeburg  135. 
Mailand  5. 
Mainz  5. 

Majo,  Francesco  di  7.  187.  189 f. 
Malherbe,  Charles  224  A. 
Malvezzi,  Christofano  19.  29.  30.  60. 
Manelli,  Francesco  63. 
-Manera  106. 
Mantua  49.  55.  62.  65.  68. 
Marais,  Marin  124.  125. 
Marazzoli,  Marco  78. 
Marcello,  Benedetto  178. 
Marchesan,  A.  241  A. 
Marenzio,  Luca  19.  29. 
Margarete  von  Toscana  75. 
Maria  Antoinette  230. 

—  Theresia  160.  199. 

—  von  Medici  108. 
Mariani,  Tommaso  182. 
Marino,  Giambattista  72. 
Marmontel  230. 

Marpurg,  Friech:.  Wilh.  5. 133  A.  139. 

154.  262. 
Martini  (Padre)  8.  191.  228. 
Martoscelli  181. 
Marschner,  Heinrich  41.  251.  280. 

267. 
Marx,  Adolf  Bernhard  194.  195.  198. 

199. 
Mascardi  78. 
Masse  273. 
Massenet  273. 
Matt  ei,  Saverio  182. 
Mattheson,     Johann    100.     115  A. 

133  A.  135. 145. 146.  147. 148. 149. 

150. 
Maurer.  J. 


Mayer -Reinach,  Albert  139.  212  A. 

Mayr,  Simon  7.  245.  247.  261. 

Mazarin  111. 

Mazzi  106. 

Mazzocchi,Domenico32.  70.  72. 105. 

Medici  49. 

Mehul,  Etienne  Nicolas  236.  250. 

Meienreis,  M.  11  A. 

Meiningen  315.  141. 

Meissner,  A.  G.  213  A. 

Melani,  Jacopo  105. 

Melisma  52. 

Melodram  248. 

Menantes  siehe  Hunold. 

Mendelssohn,  Felix  263. 

Menestrier  109. 

Mennicke,  C.  185  A. 

Mentzel  133. 

Merimee,  H.  6. 

Mercadante  246.  251.  261. 

Mersmann,  Hans  7.  153  A. 

Metastasio,  Pietro  43.  159ff.  192. 
199.  248. 

Meyerbeer,  Giacomo  110.  265.  266 f. 
270. 

Milego,  J.  6. 

Minato,  Nicolo  86.  87.  142.  159. 

Mingotti  174. 

—  (Gebrüder)  198.  212. 

Mocenigo,  Girolamo  62.  67.  82. 

Modena  2.  3.  5.  27.  88.  106. 

Moliere  115. 

Monelli  225. 

Moniglia  86.  138. 

Monnet  224. 

Monsigny  228. 

Montalvo,  Grazio  32. 

Monteclair,  Michel  124. 

Monteverdi,  Claudio  1.  7. 13.  20.  22. 
31.  41.  48.  55 ff.  (Orfeo).  63  ff.  (La- 
mento). 67  ff.  (Ballo  deir  ingrate). 
69.  71.  72.  80.  82.  88  ff.  (Incoro- 
nazione  di  Poppea).  96.  101.  102. 
117.  118.  125.  137.  167.  189.  208. 
268.  269. 

Morales,  Christobal  24. 

Moralitäten  llff. 

Morelli  86. 

Morin,  Jean  Baptiste  127, 

Morley  28. 


Register. 


283 


Morphy,  G.  25. 

Mouret,  Joseph  124. 

Mozart,  Wolfg.  Amad.  125.  149.  168. 

173.  189.  202.  209.  211.  216.  218. 

221.  222.  228.  235.  239  ff.  249. 
Muffat  118. 
Müller,  Friedrich  (Maler)  216. 

—  Wenzel  216.  222.  227.  258. 
München  2.  6.  30.  134.  238. 
Mysterien  13.  51.  134. 

Naumann, Gottlieb  203.213.  228.228. 

Naumburg  135. 

Nantes  6. 

Neapel  3.  5.  23  (Villanellen).  158  ff. 

Neapolitanische  Oper  158 ff. 

Neefe,  Gottlob  215.  249. 

Neisser,  A.  7. 

Neri,  Filippo  50. 

Nestler,  M.  J.  213  A. 

Neuburg  5. 

Nicolini  (Buchdrucker)  7. 

—  (Kastrat)  174.  175. 
Noack,  Friedrich  153  A. 
Nuitter,  Ch.  6.  108  A.  111. 
Nordische  Oper  223. 
Noris  86. 

Nürnberg  135.  153  ff. 

Odoardo  Farnese  72.  75. 
Oeverskou  6. 
Offenbach,  Jacques  267. 
Opel,  J.  0.  133  A.  139. 
Opera  buffa  105.  181.  209 ff.  247. 
Operntheater  82  ff.  104.  110.  138. 
Opitz,  Martin  136. 
Oratorium  65  A.  67. 
Orefice,  Antonio. 
»Orfeo «  55  ff.  (Monteverdi). 
Orlandini  185. 
Otzenn,  K.  150. 
Ouvertüre  56.  71.  74.  118. 

Pacini  246. 

Padua  49. 

Paer,  Ferdinand  243. 

Pagliardi  104. 

Paglizzi,  A.,  —  Brocci  5. 

Pagnerre,  L.  273  A. 

Paisiello  211.  228.  242. 

Palantrotti,  Melchior  33. 

Palestrina,  Pierluigi  1.  23.  24.  25. 


Pallavicini,  Carlo  88.  107.  147.  156. 

165.  184. 
Pallavicino  67.  151. 
Paris  2.  6.  109  ff.  234  ff. 
Parisetti  139. 
Parma  5.  132. 
Pasqu6,  E.  133  A. 
Pasquini,  Bernardo  106. 
Passion  14.  67. 
Pasticeio  178. 
Pastorale  30.  109. 
P  au  mann,  Konrad  153. 
Pellegrin  129. 

Pepusch,  Joh.  Christoph  179  A.  180. 
Perez,  David  156.  187.  199. 
Pergolesi,  Giov.  Battista  7.  27  A. 

169  ff.  182.  184. 194.  224.  225.  226. 
Peri,  Jacopo  13.  19.  20.  21.  22.  39ff . 

54.  60.  61.  64.  65.  68.  69.  70.  72 . 

76.  81.  97.  108.  136. 
Perrin,  Pierre  109.  110.  111. 
Persiani  86. 

Perti,  Antonio  88.  106. 
Pesca  y  Goni  6. 
Peschel  152. 
Peter  der  Große  162. 
Peth,  J.  5. 
Petzhold  153. 
Petzold  152. 
Pfitzner,  Hans  272. 
Philidor  127.  228.  250. 
Philipp  von  Orleans  128. 
Piccinni,   Nicola  7.  110.  195.  211. 

212.  230  ff.  235. 
Pindar  85. 
Pisa  49. 
Piscopo  181. 
Pisendel  153. 
Pistocchi  106.  155.  174. 
Pistoja  5. 

Pistorelli,  L.  210. 
Plato  68. 
Plejaden  108. 
Plutarch  23. 
Poissl  134  A. 
Politiano  30.  34. 
Pollarolo,  Carlo  Francesco  88.  107. 

139.  155.  165. 
Pope,  Alexander  179. 
Porpora,  Nicolo  1731  185. 


284 


Register. 


Porta  185. 

Postel,  Christiaji  143. 

Pougin,  A.  6.  110.  129.  225.  228  A. 

236  A.  260  A.  263  A.  264  A.  265  A. 

266  A.  267  A. 
Prag  5.  137. 
Prätorius  136. 
Prolog  33.  70.  71. 
Provenzale,  Francesco  165. 
Pruuiöres,  H.  108  A. 
Psalter  23. 

Quagliati,  Paolo  54.  80. 

Quantz  174. 

Quellen  zur  Operngeschichte  2  (Par- 
tituren). 4  (Textbücher). 

Quinault,  Philipp  von  112ff.  142. 
202.  229.  230. 

Raaff,  Anton  174.  190. 

Racine  160. 

Räder,  Gustav  209. 

Radiciotti,  G.  5.  7.  169  A. 

Raimund  209. 

Rameau,  Jean  Philippe  7.  119.  121. 

126.  128  ff.  179.  192.  224.  225.  226. 

229.  230. 
Raguenet,  FranQois  128. 
Rasi,  Francesco  33.  174. 
Rauch  (Magister)  146. 
Rebel  124. 
Rebhun,  Paul  12. 
Reca  184. 
Regnard  146. 
Reichard  243. 
Reichardt,   Joh.  Friedr.   148.   208. 

213.  218. 
Reichel,  E.  213  A. 
Reif  Schläger,  E.  134  A. 
Reinken,  Jan  Adam  141. 
Reiser  142. 
Reissiger  247. 

Reissmann,  August  155  A.  271. 
Reuchlin,  Joannis  12. 
Reuter,  Joh.  Georg  (junior)  199. 
Rezitativ  13.  14  (liturgisches).  15  (bei 

Cavalieri).  16  (nach  Cavalieri).  32 

(bei  Peri).  47.  48.  70  (Mazzocchi). 

75    (Gagliano).    88    (Monteverdi). 

96  (Venetianer).  119  (Lully).  127 

(französisches    nach    Lully).    131 

(Rameau).  163. 165  (Neapolitaner). 

185  A.  (Hasse).  205  (Gluck). 


Ricci,  Corrado  5.  274  A. 

—  Luigi  und  Friderici  274. 
Richter  (Hambm-g)  142. 
Riedinger,  L.  216  A. 
Riehl,  W.  120.  186.  194.  253. 
Riemenschneider  147. 
Righini  243. 

Rinaldo  da  Capua  2.  184. 

Rinck  101. 

Rinuccini,  Ottavio  19.  20.  21.  30. 

31.  32.  34.  36.  43.  44.  45.  55.  62. 

66.  68.  108.  112.  136.  208. 
Rischmüller  147. 
Rist  146. 
Rivani  121. 
Rochlitz,  Friedr.  189. 
Rolland,  Romain 8. 11. 27. 97  A.  105. 
Rom  2.  45.  49.  50.  51.  55.  70.  72.  78. 

106. 
Romantische  Oper  247. 
Römhild  135.  141. 
Rospigliosi,  Giulio  79.  105. 
Rossi,  Luigi  3.  32  A.  88.  98. 105. 109. 

111. 

—  Michelangelo  77.  78. 
Rossini,  G.  246.  253ff.  265. 
Rousseau,   Jean- Jacques  128.  208. 

209.  225  ff.  230.  248. 
Rovettino  88.  97.  99.  100. 
Rubinstein  273. 
Rudhart,  F.  M.  5.  30.  133  A. 
Rußland  6. 

Sabbadini,  Bernardo  105. 
Sabbatini,  Antonio  88. 

—  Pompeo  156. 

Sacchini,    Antonio   Maria    Gasparo 

110.  120.  234ff.  238. 
Sachs,  Curt  5.  134  A. 

—  Hans  153. 

Sacrati,  Paolo  88.  103.  109.  111 . 
Saint-Evremond  128. 
Saint -Saens,  Camille  129.  273. 
Salieri,  Antonio  189.  234ff.  237. 
Salomon  124.  127. 
Salvadori,  Andrea  75. 
Sammartini,  Giovanni  Battista  197. 
Sandberg  er,  Adolf  153  A. 
Sängerschulen  174. 
Saracinelli,  Ferdinando  71. 


Register. 


285 


Sarti,  Giuseppe  244. 

Sartorio,  Marc  Antonio  88.  99. 

Sbarra  86. 

Scarlatti,  Alessandro  7.  8.  61.  97  A. 

102.  107.  125.  131.  139.  149.  151. 

156.  165ff.  172. 176.  182.  193.  269. 
Schatz,  Albert  6.  185  A. 
Scheibe  148.  213  A.  216. 
Scherillo,  Michael  181  A.  260  A. 
Scherr,  Johannes  11. 
Schiedermair,  Ludwig  5.  7.  133  A. 

234  A.  245  A. 
Schieferdecker  140. 
Schiller,  Friedrich  10.  159.  160.  208. 
Schletterer,  Hans  Michael  11.  12. 

13.  213. 
Schmehling  (Mara)  217  A. 
Schmid,  Anton  195.  198. 
Schmidt,  Gustav  F.  7.  139. 
Schneider,  L.  133  A. 

—  Max  147  A. 
Schober  147. 
Scholz,  H.  7.  139  A. 
Schott,  Gerhald  126.  141.  146. 
Schubart,  Daniel  217. 
Schubaur  134  A. 
Schucht,  J.  266. 
Schulkomödien  llff.  51.  134. 
Schürmann,  Georg  Kaspar  7.  139. 
Schuster  (Dresden)  215. 

—  Michel  136. 

Schütz,  Heinrich  1.  14.  125.  136ff. 
Schütze,  J.  F.  133  A. 
Schweden  6. 

Schweitzelsperger  135.  156. 
Schweitzer,  Anton  135.  217.  259. 
S6daine  227. 
Segnitz,  Eugen  215  A. 
Senesino  174.  175.  177. 
Sercamanan  109. 
Shakespeare,  William  1.   10.  241. 

273. 
Shield  223. 
Siegmeyer,  J.  G.  230. 
Sievers,  G.  P.  L.  244  A. 
Siface  174. 
Signorelli  8. 
Singspiel  212  ff.  249. 
Sittard,  Jos.  133  A.  136  A.  155  A 
Siziliano  102.  169.  183. 


Sografi  203. 

Solerti,  A.  11.  14  A.  48.  50  A.  81  A. 

Solle,  Jean  Pierre  228. 

Sologesang  22.  25ff.  48.  92. 127f.  (fran- 
zösischer). 150  (unbegleiteter). 

Solooper  87.  199. 

Sonneck,  O.G.  6.  31  A. 

Sophokles  43.  81.  160.  164. 

Soubies,  A.  224  A. 

Souterliedekens  23. 

Spanien  6. 

Spielhagen  272. 

Spitta,  Philipp  184.  202. 

Spohr,  L.  258.  250. 

Spontini,  Gasparo  110.  237.  248.  258. 
270. 

Stade n.  Gottlieb  155. 

Stampiglia,  Silvio  158.  161. 

Standfuß,  C.  213. 

Statistik  der  Oper  6.  7.  207  (Gluck). 

Steffani,  Agostino  7.  141.  145.  147. 

Steibelt  251. 

Stockholm  6. 

Stollbrock,  L.  199  A. 

Stolle,  Philipp  135. 

Stölzel,  Heinrich  135.  140.  153.  155. 

Storace  223. 

Stradella,  Alessandro  88.  106.  165. 

Strauss,  Johann  268. 

—  Richard  273. 
Striggio,  Alessandro  23.  55. 
Strozzi,  Giulio  62.  86. 

—  P.  29.  62. 
Struck,  Batistin  124. 
Strungk,  Adam  142.  145.  151. 
Süßmayer,  Franz  244. 
Swift,  Jonathan  179. 

Tappert,  W.  IIA. 

Tasso,  Torquato  30.  44.  64.  67. 

Taubert,  Otto  136. 

Tectoni,  Alfred  253. 

»Telemach«  199  ff.  (Gluck). 

Telemann  135.  148.  150.  152.  153. 

219. 
Tempobezeichnungen  37  A. 
Terenz  12. 

Terradellas,  Domenico  187,  189. 
Tesi  174. 
Teubner,  E.  0.  5.  133  A. 


286 


Register. 


Textbücher  4  (Wert  füi*  die  Opern- 
geschichte). 135  (deutsche). 

T heile,  Johann  142.  145. 

Thiemich,  Paul  151. 

Thoinan,  Erneste  6.  108  A.  111. 

Thrane,  C.  244. 

Tiersot,  Julien  IIA.  225  A. 

Toledo  6. 

Tonelli  225. 

Torchi,  Luigi  31. 

Torelli  46. 

Torgau  136. 

Tosi  197. 

Tournet  119. 

Towers,  John  6. 

Traetta,  Tommaso  7.  132.  156.  187. 
192  ff.  199.  212. 

Treitschke  228. 

Tridentiner  Konzil  25. 

Triest  5. 

Tremolo  68  (bei  Monteverdi). 

Trinchera  209.  225. 

Trompetenarie  102. 

Troncaschi,  Ottavio  72.  73. 

Tullio  181. 

Turin  49. 

Türkenoper  248.  263. 

Ulrich,    Herzog   von  Braunschweig 

138.  139. 
Umlauf  216. 
Urbino  5.  49.  103. 

Vaccai  246. 

Valencia  6. 

Valle,  Pietro  della  54. 

Vatielli,  F.  207  A. 

Vecchi,  Orazio27.  28f.  31.  105.  181. 

Vendramin,  Paolo  62. 

Venedig  2.  3.  5.  44.  62.  63.  67.  81ff. 

174. 
Verdelot  24. 

Verdi,  Giuseppe  67.  261.  274. 
Verkleidungsmotiv  72.  78. 
Viadana,  Lodovico  26.  79. 
Vicenza  49. 

Vieville,  Lecerf  de  128. 
Vigarani  121. 
Villanellen  23. 
Vinci,  Leonardo  169ff.  176.  182. 185. 

186.  194. 


Vischer,  Peter  153. 
Vogel,  Emil  7.  60.  63. 

—  Johann  Christoph  236. 
Voigt,  F.  A.  148. 
Voltaire  10. 

Vorarbeiten  zur  Operngeschichte  7. 
Vorgeschichte  der  Oper  10. 

Wagner,  Richard  1.  4.  8.  61. 115. 120. 

126.  153.  163.  195 ff.  (über  Gluck). 

203.  208.  257.  260.  261.  288ff. 
Wahl,  E.  263  A. 
Walter,  Friedrich  5.  218. 
Washington  6. 
Weber,  Carl  Maria  von  126.  246.  253- 

255  ff.  265. 

—  H.  133  A. 

Weckerlin,  J.  B.  110.  112. 
Weigl,  Joseph  244  A.  253. 
Weise,  Christian  12. 

Weisse,  Christian  Felix  213ff.  226. 

Weißenfels  139. 

Wellesz,  Egon  100  A. 

Welti,  H.  195  A.  202. 

Wendschuh,  L.  222  A. 

Wenzel  135.  140. 

Werner,  Anton  139.  145  A. 

Wiel,  Taddeo  3.  5.  63. 

Wieland  208.  217.  249. 

Wien  2.  5.  72.  87.  88.  100.  101.  135. 

137.  156.  198. 
Winter,  Peter  von  244.  245.  253. 
Winterfeld,  Carl  von  11. 43. 
Wolf  (Weimar)  215. 
Wölffl  244. 

Wortsmann,  Stephan  195  A. 
Wotquenne,  A.  158  A.  211  A. 
Wright  184. 

Zacconi,  Lodovico  26  A. 

Zarlino,  Giuseppe  25. 

Zelle,  Friedrich  133  A.  142  A.  145  A. 

150  A. 
Zeller,  B.  185  A. 
Zeno,  Apostolo  155.  158ff.  248. 
Ziani,  Marc'  Antonio  (der  Jüngere) 

7.  88.  99. 

—  Pietro    Andrea    (der    ältere)    88. 
101  f.  137. 

Ziegler,  Mariane  von  162. 
Zittau  12. 


Hermann  Kretzschmar 

FÜHRER 

DURCH    DEN 

KONZERTSAAL 


I.  Abteilung:  Band  1/2 

Sinfonie  und  Suite 

Geheftet  25  Mark    ::  ::  ::  :;    gebunden  32  Mark 


IL  Abteilung:  Band   1 

Kirchliche  Werke 

Passionen 
Messen-Hymnen-Motetten-Kantaten 

Geheftet  20  Mark    ::  ::  ::  ::    gebunden  26  Mark 


II.  Abteilung:  Band  2 

Oratorien 
und  weltliche  Chorwerke 

Geheftet  20  Mark    ::  ::  ::  ::    gebunden  26  Mark 


Verlag  von   Breitkopf  &  Härtel  in  Leipzig 


Geschichte  des 
Meuen  deutschen  Liedes 

I.  Teil:  Von  ALBERT  bis  ZELTER 

von 

Hermann  Kretzschmar 

Geheftet  12  Mk.  -  Gebunden  16  Mk. 


Der  erste  von  Heinrich  Albert  bis  zur 
Berliner  Schule  reichende  Teil  dieser 
neuen  Geschichte  des  modernen  deut- 
schen Liedes  behandelt  das  17.  Jahr- 
hundert auf  Grund  eines  umfassenden, 
zum  größten  Teil  bisher  unbenutzt  ge- 
bliebenen Quellenmaterials  und  gibt 
über  die  verschiedenen  Liederschulen 
der  Zeit,  ihre  Ziele  und  Leistungen 
einen  Aufschluß,  bei  dem  unbekannte 
Künstler  ans  Licht  gezogen  werden  und 
bestimmte  Liedarten  zu  einer  unge- 
ahnten Bedeutung  gelangen.  Für  das 
18.  Jahrhundert  bietet  das  Buch  eine 
zuverlässigeOrientierungüberdieGe- 
sichtspunkte,  nach  denen  sich  die  Ent- 
wicklung des  Liedes  richtete  und  über 
die   Hauptmeister    und   Hauptwerke. 


Verlag  von  Breitkopf  &  Härtel  in  Leipzig 


Library  Bureau  Cat.  No.  1137 


3  5002  00172  3688 


Kreuschmar,  Herman 
Geschichte  der  Oper 


ML  1700  .K73 


Kretzschmar^  Hermann^  1848 
1924. 

Geschlch-te  der  Oper