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Full text of "Geschichte des medicinischen Unterrichts von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart"

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http://www.archive.org/details/geschichtedesmedOOpusc 


GESCHICHTE 


DES 


MEDICINISCHEN  UNTERRICHTS. 


Verlag   von   VEIT  &   COMP,  in  Leipzig. 


Geschichte 

des 

gelehrten  Unterrichts 

auf  den  deutschen  Schulen  und  Universitäten 

vom  Ausgang  des  Mittelalters  bis  zur  Gegenwart. 

Mit  besonderer  Kücksicht 
auf  den  klassischen  Unterricht. 

Von 

Friedrich  Paulsen, 

Professor  an  der  Universität  Berlin, 
gr.  8.     1885.     geh.  16  J6.  s 

„Dieser  Utraquismus  unserer  Gymnasien,  die  mit  dein  hergebrachten  Unter- 
richt in  den  alten  Sprachen  den  Unterricht  in  den  neuen  Wissenschaften  und  in 
den  modernen  Sprachen  verbinden  wollen,  ist  auf  die  Dauer  nicht  zu  halten. 
Eine  Rückbildung  in  der  Richtung  der  alten  Lateinschule  hat  sich  als  unmög- 
lich erwiesen,  und  so  bleibt  nur  die  Umbildung  auf  Kosten  der  alten  Sprachen. 
Lateinisch  zu  verstehen  wird  zwar  unentbehrlich  bleiben,  aber  das,  was  man 
gegenwärtig  „klassische  Bildung"  nennt,  wird  einmal  für  die  Mehrzahl  unserer 
Gelehrten  aufhören,  die  Grundlage  ihrer  wissenschaftlichen  Bildung  zu  sein." 

Der  Verfasser  gelangt  zu  dem  Resultat:  „Die  geschichtliche  Entwickelung 
in  den  letzten  drei  Jahrhunderten  läßt  sich  als  allmähliche  Loslösung  einer 
selbständigen  und  eigentümlichen  modernen  Kultur  von  der  antiken  Kultur  be- 
schreiben; wie  die  reifende  Frucht  von  dem  Stamme  sich  löst,  auf  dem  sie  ge- 
wachsen ist,  so  ist  die  geistige  Bildung  der  abendländischen  Völker  in  stetigem 
Fortschritt  aus  dem  Altertum  hervor-  und  herausgewachsen.  Der  gelehrte  Unter- 
richt ist  der  allgemeinen  Kulturentwickelung  beständig,  wenn  auch  in  einigem 
Abstände  gefolgt.  Wenn  diese  Deutung  der  historischen  Thatsachen  nicht  gänz- 
lich fehlgeht,  so  wäre  hieraus  für  die  Zukunft  zu  folgern,  daß  der  gelehrte 
Unterricht  bei  den  modernen  Völkern  sich  immer  mehr  einem  Zustande  annähern 
wird,  in  welchem  er  aus  den  Mitteln  der  eigenen  Erkenntnis  und  Bildung  dieser 
Völker  bestritten  werden  wird." 

Berger,  Hugo,  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkunde  bei 

den  Griechen.     Erste  Abtheilung.    Die  Geographie  der  Jonier. 
gr.  8.     1887.     geh.  4  M. 

Hirschberg,   J.,    Professor   a.  d.  Univ.  Berlin.    Wörterbuch    der 

Angenheilkunde.    gr.  8.     1887.    geh.  5  Ji. 

Dieses  Wörterbuch  ist  für  alle  Diejenigen,  welche  sich  für  die  Geschichte 
der  Medicin  interessieren,  sowie  für  Philologen  von  ebensolcher  Wichtigkeit,  wie 
für  Augenärzte. 

Magnus,  Hugo,  Professor  a.  d.  Univ.  Breslau,  Die  Anatomie  des 

Auges  bei  den  Griechen  und  Römern,  gr.  8.  1878.  geh.  2^40^. 

Die  geschichtliche  Entwickelung  des  Farbensinnes,    gr.  8. 

1877.     geh.  1  Ji  40  $r. 

Geschichte  des  grauen  Staares.   Mit  1  lithographirten  Tafel. 


gr.  8.     1876.     geh.  8  Ji. 

Meyer,  Ernst  von,  Professor  a.  d.  Univ.  Leipzig,  Geschichte  der 

Chemie  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Gegenwart.  2jugleich 
Einführung  in  das  Studium  der  Chemie,    gr.  8.   1889.   geh.     9  Ji. 


GESCHICHTE 


DES 


MEDICINISCHEN  UNTERRICHTS 


VON  DEN  ÄLTESTEN  ZEITEN  BIS  ZUR  GEGENWART. 


Von 


Dr.  med.  THEODOR  PUSCHMANN, 

O.   Ö,    PROFESSOR   AN   DER    UNIVERSITÄT    ZU    WIEN. 


LEIPZIG, 
VERLAG   VON   VEIT  &  COMP. 

1889. 


n**7 


Druck  von  Metzger  &  Wittig  iu  Leipzig. 


Vorwort. 


Die   vorliegende  Arbeit   ist   der   erste  Versuch   einer   zusammen- 


'ö 


hängenden  Darstellung  der  Geschichte  des  medicinischen  Unterrichts. 
In  der  Literatur  wurden  bisher  nur  Bruchstücke  derselben  niedergelegt, 
welche  die  Entstehung  und  Entwickelung  einzelner  medicinischer  Schulen 
und  Anstalten,  die  Lehr -Meinungen  und  Unterrichts -Methoden,  die 
dabei  wirkenden  Personen  und  ihre  Leistungen  behandeln.  Diese  Nach- 
richten mussten  gesammelt,  geprüft  und  mit  einander  verglichen  werden, 
wenn  sie  als  haltbare  Stützen  des  Werkes  verwendet  werden  sollten. 
An  einzelnen  Stellen  fehlten  verlässliche  und  ausführliche  Mittheilungen; 
die  Documenta,  welche  darüber  Aufschluss  geben,  liegen  vielleicht  noch 
unerschlossen  in  den  Archiven  und  Bibliotheken.  Ich  muss  mich  be- 
schränken, darauf  hinzuweisen,  wo  die  Quellen  spärlich  fliessen  oder 
gänzlich  versiegen,  und  es  späteren  Forschungen  überlassen,  hier  den 
Boden  aufzugraben  und  das  Material  für  die  Lösung  der  Fragen  zu- 
sammenzutragen, welche  nicht  beantwortet  werden  konnten. 

Die  Geschichte  des  medicinischen  Unterrichts  hat  nicht  blos  für 
die  Geschichte  der  Heilkunde  und  des  Erziehungswesens,  sondern  für 
die  Culturgeschichte  überhaupt  eine  grosse  Bedeutung;  denn  sie  ergänzt 
sie  und  bildet  eigentlich  einen  zugehörigen  Theil  derselben.  Aus  diesem 
Grunde  habe  ich  mich  für  verpflichtet  und  berechtigt  gehalten,  die 
Beziehungen,  welche  mein  Thema  zur  allgemeinen  Cultur-Entwickelung 
hat,  sorgfältig  zu  verfolgen  und  darzulegen;  manche  Thatsache,  welche 
losgelöst  von  den  Bestrebungen  ihrer  Zeit  räthselhaft  und  wunderbar 
erscheint,  erhält  dadurch  eine  klärende  Beleuchtung. 

Wenn  ich  diese  Gelegenheit  benutzt  habe,  um  mehrere  Irrthümer, 
welche  sich  in  den  Lehrbüchern  der  Geschichte  der  Medicin  eingebürgert 


vi  Vorwort. 

haben,  zu  berichtigen,  und  einige  Thatsachen  hervorzuheben,  die  bisher 
unbeachtet  geblieben  sind,  so  wird  der  wissenschaftliche  Werth  meines 
Buches  dadurch  sicherlich  nicht  beeinträchtigt. 

Eine  angenehme  Pflicht  erfülle  ich,  indem  ich  den  Herren  Mini- 
sterial-Rath  Dr.  B.  von  David  und  Sektionsrath  Dr.  von  Kleemann 
in  Wien,  Geh.  Ober-Med.-Bath  Dr.  Keesandt  und  Geh.  Ober-Regierungs- 
Rath  Dr.  Althoef  in  Berlin,  Medicinal-Rath  Dr.  Geissler  in  Dresden, 
Regierungs-Rath  Dr.  Bumm  in  München,  Dr.  von  Riedel,  Leibarzt 
I.  M.  der  Königin  von  Spanien  in  Madrid,  Prof.  Dr.  Serra  de  Mirabeau 
in  Lissabon,  Prof.  Dr.  A.  Corradi  in  Pavia,  Prof.  Dr.  Albini  in  Neapel, 
Prof.  Dr.  Anagnostakis  in  Athen,  Prof.  Dr.  Felix  in  Bukarest,  Prof.  Dr. 
von  Wini warter  in  Lüttich,  Dr.  Daniels  in  Amsterdam,  Prof.  Dr. 
Petersen  in  Kopenhagen,  Prof.  Dr.  H.  Keiberg-  in  Christiania,  Prof.  Dr. 
Hedenius  in  Upsala,  Prof.  Dr.  Rauber  in  Dorpat,  Prof.  Dr.  Kollmann 
in  Basel,  Geh.  Rath  Prof.  Dr.  Hegar  in  Freiburg  i/Br.,  Geh.  Rath 
Prof.  Dr.  Schultze  in  Jena,  Prof., Dr.  Eckhard  in  Giessen,  Prof.  Dr- 
Oesterlen  in  Tübingen,  Prof.  Dr.  W.  Krause  in  Göttingen,  Prof. 
Dr.  Ueeelmann  in  Rostock,  Prof.  Dr.  G.  Ebers  in  Leipzig,  Prof.  Dr. 
Bühler  und  Heinzel  in  Wien,  sowie  den  Vorständen  und  Beamten 
der  Bibliotheken  zu  Paris,  London,  München  und  Wien  meinen  er- 
gebensten Dank  ausspreche  für  die  wohlwollende  Förderung  meines 
Unternehmens. 

Wien,  im  April  1889.  Der  Yerfasser. 


Inhalts -Übersicht. 


Seite 

Einleitung 1 

I.  Der  medicinisc he  Unterricht  im  Alterthum 6 

Indien 6 

Ägypten 15 

Bei  den  Israeliten 22 

Bei  den  Parsen 27 

Bei  den  Griechen  vor  Hippokrates 29 

Zur  Zeit  des  Hippokrates 40 

In  Alexandria 61 

Die  Medicin  in  Rom 70 

Der  medicinische  Unterricht  in  Eom 82 

Der  ärztliche  Stand  in  Eom 102 

IL  Der  medicinische  Unterricht  im  Mittelalter 113 

Der  Einfluss  des  Christenthums 113 

Die  arabische  Cultur 130 

Medicinische  Wissenschaft  und  medicinischer  Unterricht  bei  den  Arabern  137 

Die  Medicin  der  Germanen  und  der  Unterricht  in  den  Klosterschulen  156 

Die  Schule  von  Salerno 166 

Die  medicinische  Schule  zu  Montpellier 178 

Die  ältesten  Hochschulen  Italiens 185 

Die  ältesten  Hochschulen  in  Frankreich 190 

Die  übrigen  Universitäten  Europas  im  Mittelalter 194 

Die  Bildung  der  Arzte  im  Allgemeinen 199 

Der  Unterricht  in  der  Anatomie 203 

Der  Unterricht  in  der  Arzneibereitung  und  der  ärztlichen  Praxis       .  211 

Die  ärztlichen  Prüfungen 219 

Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe 223 

Der  ärztliche  Stand  und  die  medicinische  Literatur  jener  Zeit  .     .     .  232 

III.  Der  medicinische  Unterricht  in  der  Neuzeit 239 

Der  Charakter  des  16.  Jahrhunderts 239 

Die  Emancipation  vom  Autoritätsglauben  auf  dem  Gebiet  der  Medicin 

und  die  Fortschritte  der  Wissenschaft 247 

Die  Universitäten  im  16.  Jahrhundert 261 

Der  medicinische  Unterricht 268 

Der    ärztliche    Stand    und    seine  Stellung   zu    den    Bewegungen    des 

16.  Jahrhunderts 280 


viii  Inhalts  -  Übersicht. 


Seit« 
Die  experimentelle  Richtung  der  Naturwissenschaften,  der  Physik  und 

Chemie  während  des  17.  Jahrhunderts 285 

Die  mikroskopische  Forschung  in  der  Anatomie  und  das  Experiment 

in  der  Physiologie 294 

Die  Fortschritte  in  den  übrigen  Theilen  der  Heilkunde  während  des 

17.  und  18.  Jahrhunderts 306 

Der  Charakter  jener  Zeit  in  der  Kunst  und  Philosophie 317 

Die  gelehrten  Gesellschaften  und  Universitäten  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert    320 

Der  medicinische  Unterricht  in  den  theoretischen  Fächern,   sowie  in 

der  Anatomie,  Botanik,  Chemie  und  Arzneimittellehre    .     .     .     .  329 

Der  klinische  Unterricht  im  17.  und  18.  Jahrhundert 341 

Der  Unterricht  in  der  Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  .  347 
Der  medicinische  Unterricht  am  Schluss  des  18.  Jahrhunderts  und  der 

ärztliche  Stand 359 

IV.  Der  medicinische  Unterricht  in  der  neuesten  Zeit     ....  365 

Die  naturwissenschaftliche  Weltanschauung  des  19.  Jahrhunderts  .     .  365 

Physik  und  Chemie  in  den  letzten  hundert  Jahren 374 

Die  medicinischen  Systeme  und  die  Fortschritte  in  der  Anatomie  und 

Physiologie 382 

Diagnostik,   pathologische   Anatomie    und    experimentelle  Pathologie, 

Nosologie  und  Heilmittellehre 391 

Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  und  Staatsarzneikunde     .     .  399 

Der  medicinische  Unterricht  in  der  Gegenwart 409 

England.  —  Nord-Amerika 412 

Frankreich 433 

Österreich-Ungarn 448 

Die    deutschen    Mittel-    und    Kleinstaaten    vor    der   Gründung  des 

Deutschen  Reiches 463 

Preussen  und  das  jetzige  Deutsche  Reich 471 

Italien 482 

Spanien  und  Portugal 484 

Holland  und  Belgien 486 

Schweiz , 488 

Dänemark.  —  Norwegen.  —  Schweden 490 

Russland 492 

Griechenland  und  die  christlichen  Länder  der  Balkan-Halbinsel     .  493 

Schlussbetrachtungen 495 


Einleitung. 


Quis  nescit,  primam  esse  historiae  legem,  ne  quid 
falsi  dicere  audeat,  deinde  ne  quid  veri  non  audeat, 
ne  qua  suspicio  gratiae  sit  in  scribendo ,  ne  qua 
simultatis. 

Cicero,  de  oratore  II,  15. 

Die  historische  Entwicklung  des  medicinischen  Unterrichts  zeigt 
den  gleichen  Charakter  wie  die  Geschichte  der  Heilkunde  überhaupt. 

Die  Noth,  die  erfinderische  Lehrerin  der  Menschen,  gab,  wie  schon 
Hippokrates  l  sagt,  die  Veranlassung,  dass  die  ersten  Heilversuche  an- 
gestellt wurden.  Die  kampfeslustige  Lebensweise  der  rohen  Naturvölker, 
deren  Lieblingsbeschäftigung  die  Jagd  und  der  Krieg  waren,  führte 
Verletzungen  herbei,  gegen  welche  Hilfe  gesucht  wurde.  Mitleidige 
Freunde  und  Kampfesgenossen  brachten  Linderung  der  Schmerzen,  indem 
sie  die  Wunden  auswuschen  und  mit  kühlenden  Kräutern  bedeckten. 

Bald  begannen  Einzelne,  die  Heilkräfte  der  Pflanzen  zu  erforschen 
und  ihre  Erfahrungen  auf  diesem  Gebiet  zum  Besten  der  Angehörigen 
ihres  Volkes  zu  verwerthen.  Waren  sie  mit  der  Gabe  ausgestattet,  die 
Natur  zu  beobachten,  und  bot  sich  ihnen  die  Gelegenheit  dazu,  so 
werden  sie  vielleicht  den  Versuch  gemacht  haben,  das  Wiesen  der  Ver- 
letzungen, die  sie  zu  behandeln  wagten,  zu  ergründen.  Auf  diese  Weise 
bildete  sich  allmälig  eine  Art  von  Ärzten,  welche  sich  auf  empirischem 
Wege  eine  bemerkenswerthe  Gewandtheit  in  der  Heilung  äusserer  Schäden 
aneigneten. 

Bei  inneren  Leiden,  namentlich  aber  bei  Epidemien,  deren  Ursachen 
nicht  so  deutlich  zu  erkennen  sind,  wie  die  der  äusseren  Verletzungen, 
wandte  man  sich  an  Diejenigen  um  Kath,  die  in  jener  frühen  Cultur- 
periode   als  die  Vertreter  alles  Wissens2  galten,  an  die  Priester.     Von 


1  Hippokrates,  Ed.  Littre.    Paris  1839.    T.  I,  p.  574. 

2  „Das  Sanskritische  vaidja  von  vid,  wissen,  und  das  Lateinische  medicus 
von  inedh,  weise  sein,  zeigen  an,  dass  der  Arzt  seine  Benennung  von  seiner 
Einsicht  erhalten  hat,"  Ch.  Lassen:  Indische  Alterthumskunde ,  London  und 
Leipzig  1874,  Bd.  II,  S.  517.  —  Vergl.  Ad.  Pictet:  Etymologische  Forschungen 
über  die  älteste  Arzneikunst  bei  den  Indogermanen  in  der  Zeitschrift  für  ver- 
gleichende Sprachforschung,  Bd.  V,  S.  24  u.  ff.,  Berlin  1856. 

Puschmann,   Unterricht.  \ 


Einleitung? 


ihnen  erwartete  man  um  so  eher  Hilfe,  als  die  Entstehung  dieser 
Krankheiten,  weil  sie  dunkel  und  räthselhaft  war,  den  überirdischen 
Gewalten  zugeschrieben  wurde. 

Die  Priester  bemühten  sich,  durch  Gebete  und  Opferungen  den 
Zorn  der  Götter  zu  versöhnen  und  ihr  Wohlgefallen  zu  erringen.  Sie 
flössten  dadurch  den  Kranken  Hoffnung  und  Vertrauen  ein  und  wen- 
deten im  Übrigen  eine  exspectative  Behandlungsmethode  an.  Dabei 
konnte  ihnen  nicht  entgehen,  dass  die  Erfolge  nicht  immer  den  Er- 
wartungen entsprachen  und  häufig  gerade  dann  ausblieben,  wenn,  wie 
bei  verheerenden  Seuchen,  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  darauf  ge- 
richtet war.  Wollten  sie  die  Schwächung  ihres  Ansehens,  die  dadurch 
herbeigeführt  wurde,  vermeiden,  so  mussten  sie  trachten,  durch  diäte- 
tische und  medicamentöse  Verordnungen  einen  grösseren  Einfluss  aul 
den  Verlauf  der  Krankheiten  zu  gewinnen.  Dazu  bedurften  sie  medi- 
cinischer  Kenntnisse,  die  sie  sich  durch  die  sorgfältige  Beobachtung  der 
Krankheitserscheinungen  und  durch  die  Erforschung  ihrer  Ursachen  und 
Heilmittel  zu  erwerben  suchten.  Im  Verlauf  der  Zeit  sammelten  sie 
eine  Summe  von  Erfahrungen,  die  in  mündlicher  oder  schriftlicher  Über- 
lieferung auf  die  späteren  Geschlechter  gelangten  und  von  ihnen  mehr 
und  mehr  vervollständigt  wurden. 

Die  Ausübung  der  Heilkunst  geschah  nun  nach  bestimmten  Regeln, 
und  ihre  Erlernung  erfolgte  in  systematischer  Weise.  Die  Mediän 
wurde  eingereiht  in  die  Zahl  der  Unterrichtsgegenstände,  welche  in  den 
Tempelschulen  gelehrt  wurden,  und  die  Priester  sorgten  dafür,  dass  das 
errungene  ärztliche  Wissen  mit  den  religiösen  Vorstellungen,  welche 
den  Volksglauben  beherrschten,  derartig  verbunden  wurde,  dass  die  letz- 
teren als  massgebend  für  die  Behandlung  der  Krankheiten  erschienen. 
Dieselben  wurden  aber  zurückgedrängt,  als  die  fortschreitende  Erkenntniss 
dazu  aufforderte,  sie  ohne  jede  Voreingenommenheit  kritisch  zu  prüfen. 
Mit  ihrer  Beseitigung  vollzog  sich  die  Emancipation  vom  religiösen 
Einfluss  und  die  Entstehung  eines  selbstständigen  ärztlichen  Standes. 

Die  Vertreter  desselben  vereinigten  die  aus  den  Tempelschulen 
übernommenen  medicinischen  Kenntnisse  mit  den  ärztlichen  Erfahrungen 
der  Empiriker.  Sie  beschränkten  sich  nicht,  wie  die  Priester,  vorzugs- 
weise auf  die  Behandlung  der  inneren  Leiden,  sondern  befassten  sich 
auch  mit  der  Chirurgie  und  Geburtshilfe. 

Diese  Verschmelzung  der  inneren  und  äusseren  Medicin,  wie  sie 
von  den  Hippokratikern  und  überhaupt  von  den  Ärzten  der  griechisch- 
römischen Culturperiode  zum  Ausdruck  gebracht  wurde,  wirkte  auf  beide 
Richtungen  der  Heilkunde  anregend  und  fördernd  und  führte  zu  hervor- 
ragenden Leistungen.     Die  bewunderungswürdigen  Fortschritte,  welche 


Einleitung. 


die  Heilkunde,  namentlich  die  Chirurgie,  in  Alexandria  und  Rom  machte, 
gewähren  einen  Ausblick  auf  Das,  was  noch  erreicht  worden  wäre,  wenn 
die  politischen  Umwälzungen,  die  mit  dem  Zerfall  des  römischen  Reiches 
zusammenhingen,  die  weitere  Entwickelung  der  Medicin  wie  aller  übrigen 
Wissenschaften  und  Künste  nicht  gehemmt  hätten. 

Die  auf  einer  niedrigen  Culturstufe  stehenden  Völker,  welche  da- 
mals die  Weltbühne  betraten,  mussten  das  in  den  vorangegangenen 
Zeiten  errungene  Wissen  erst  in  sich  aufnehmen,  bevor  sie  daran  denken 
durften,  dasselbe  durch  eigene  Entdeckungen  und  Erfindungen  zu  ver- 
mehren. Während  des  nächsten  Jahrtausends  erfolgte  die  geistige  Ent- 
wickelung nicht  in  der  Höhendimension,  sondern  in  der  Breitendimen- 
sion; die  Summe  des  Wissens  wurde  nicht  wesentlich  vermehrt,  aber 
es  verbreitete  sich  über  eine  grössere  Fläche  der  bewohnten  Erde. 

Selbst  im  Orient,  wo  sich  die  Traditionen  verschiedener  Cultur- 
perioden  mit  dem  Thatendrang  eines  die  höchsten  Ziele  anstrebenden 
jugendfrischen  Volkes  verbanden,  hat  man  wenigstens  in  der  Heilkunde 
keine  Schöpfungen  hinterlassen,  welche  dauernd  waren  und  auf  die 
weitere  Gestaltung  dieser  Wissenschaft  einen  tiefgreifenden  Einfluss  aus- 
übten. Die  arabische  Medicin  ist  daher  nichts  weiter  als  eine  freilich 
grossartige  Episode  in  der  Geschichte  der  Heilkunde. 

Im  Abendlande  übernahmen  die  Priester  wiederum  das  Lehramt 
der  Medicin.  Die  romanischen  und  germanischen  Völker  wurden  zu 
dem  Glauben  bekehrt,  dass  die  christliche  Kirche  nicht  blos  die  Wahr- 
heiten des  himmlischen  Lebens,  sondern  auch  das  Wissen  dieser  Welt 
besitze  und  bewahre.  Der  Klerus  vereinigte  in  sich  alle  Gelehrsamkeit 
der  damaligen  Zeit,  und  die  Klöster  wurden  die  Schulen  der  Mensch- 
heit. Die  Ausübung  der  Heilkunst  hatte  für  die  Geistlichen  jedoch 
manche  Unzuträglichkeiten  im  Gefolge;  die  Rücksichten  auf  ihren 
Stand  verboten  ihnen  die  Ausführung  chirurgischer  Operationen,  weil 
durch  deren  Misslingen  der  Tod  der  Patienten  herbeigeführt  werden 
konnte,  und  hielten  sie  zurück  von  der  Behandlung  der  Frauen- 
krankheiten. 

Es  war  daher  begreiflich,  dass  sich  neben  ihnen  eine  Kategorie 
von  Ärzten  erhielt  und  weiter  entwickelte,  welche  nicht  dem  geistlichen 
Stande  angehörten.  Hierzu  zählte  man  auch  die  zahlreichen  jüdischen 
Ärzte,  welche  sich  in  den  christlichen  Ländern  niederliessen  und  wegen 
ihrer  mit  gründlichem  Wissen  *  verbundenen  praktischen  Tüchtigkeit 
sehr  geschätzt  waren,  ebenso  wie  jene  Elemente,  welche  im  europäischen 
Süden  mit  der  arabischen  Heilkunde  bekannt  geworden  waren.  Die 
letzteren  spielten  bei  der  ersten  Gründung  selbstständiger  ärztlicher 
Schulen,  zu  Salerno  und  Montpellier,  eine  hervorragende  Rolle,  während 


Einleitung. 


der  christliche  Klerus  auf  die  Entstehung    der    ältesten  Universitäten 
und  ihre  Einrichtungen  einen  massgebenden  Einfluss  ausübte. 

Die  Universitäten,  welche  fortan  als  Sammelpunkte  der  gelehrten 
Bildung  dienten,  rechneten  auch  die  ärztliche  Erziehung  zu  ihren  Auf- 
gaben; aber  sie  berücksichtigten  dabei  nur  die  theoretisch-wissenschaft- 
liche Seite  derselben  und  vernachlässigten  ihre  praktischen  Ziele.  Diese 
Lücke  der  ärztlichen  Bildung  musste  durch  den  Besuch  der  Spitäler 
oder  durch  die  persönliche  Unterweisung  eines  erfahrenen  Praktikers 
ergänzt  werden,  wenn  die  jungen  Doktoren  das  Vertrauen  ihrer  Kranken 
erlangen  wollten. 

Ausser  diesem  Umstände  hatte  der  geistliche  Ursprung  der  Uni- 
versitäten die  Folge,  dass  der  dort  erth eilte  medicinische  Unterricht 
vorzugsweise  die  inneren  Krankheiten  in  den  Kreis  der  Betrachtung 
zog.  Daraus  ergab  sich  die  Notwendigkeit,  dass  neben  den  gelehrten 
Ärzten  ein  Heilpersonal  bestand,  welches  sich  der  Chirurgie  und  der 
Behandlung  der  äusseren  Schäden  widmete.  Die  Ausbildung  dieser 
Wundärzte  war  eine  handwerksmässige  und  nahm  in  der  Barbierstube 
ihren  Anfang;  aber  sie  schuf  Ärzte,  welche  mit  den  Bedürfnissen  der 
Praxis  vertraut  waren  und  den  Kranken  zu  helfen  verstanden. 

Die  Chirurgen  und  Ärzte  trennte  Anfangs  eine  tiefe  sociale  Kluft, 
welche  jedoch  ihre  Berechtigung  verlor,  je  mehr  die  ersteren  bestrebt 
waren,  ihre  Allgemeinbildung  zu  erhöhen,  und  durch  originelle  Leistungen 
zur  wissenschaftlichen  Entwickelung  der  Heilkunde  beitrugen.  Einige 
derselben  haben  bahnbrechende  Arbeiten  geliefert,  welche  ihren  Namen 
in  der  Geschichte  der  Chirurgie  verewigt  haben.  Vorurtheilsfreie,  klar 
denkende  Ärzte  erkannten  die  Vorzüge,  welche  die  chirurgische  Bildung 
bot,  und  suchten  dieselbe  mit  ihrer  eigenen  zu  vereinigen.  Aber  sie 
waren  in  früheren  Jahrhunderten  nur  vereinzelte  Ausnahmen;  denn  die 
Scheidung  der  Ärzte  in  Chirurgen  und  Medianer  erhielt  sich  bis  in 
die  neueste  Zeit,  wenn  auch  die  socialen  Unterschiede  früher  ausgeglichen 
wurden. 

Dagegen  entwickelte  sich  allmälig  eine  höhere  und  eine  niedere 
Kategorie  des  Heilpersonals,  von  denen  die  erstere  die  graduirten  Ärzte 
und  Chirurgen,  die  letztere  die  sogenannten  Landärzte  und  niederen 
Wundärzte  umfasste.  Dieselben  bestehen  in  manchen  Ländern  noch 
jetzt,  während  in  anderen,  z.  B.  in  Deutschland  und  Österreich,  nur 
noch  eine  einzige,  die  verschiedenen  Zweige  gleichmässig  berücksich- 
tigende, die  höchste  medicinische  Bildung  besitzende  Klasse  von  Ärzten 
existirt. 

Die  Schicksale  des  ärztlichen  Standes  haben  eine  grosse  Bedeutung 
für  den  Inhalt  und  die  Formen  des  medicinischen  Unterrichts.     Die 


Einleitung. 


sociale  Stellung  der  Ärzte  bestimmt  das  Maass  von  Allgemeinbildung*, 
welche  von  ihnen  verlangt  wird. 

Die  Ansprüche,  welche  an  ihr  fachmännisches  Wissen  and  Können 
gestellt  werden,  sind  abhängig  von  der  Summe  der  Thatsachen  und 
Lehren,  die  den  Inhalt  der  Heilkunde  darstellen.  Sie  legen  ein  un- 
zweideutiges Zeugniss  ab  für  die  letzteren  und  berichtigen,  bestätigen 
und  ergänzen  dadurch  die  Geschichte  dieser  Wissenschaft. 

Die  Form  und  Methode  des  medicinischen  Unterrichts  richtet  sich 
eben  so  sehr  nach  den  allgemeinen  Culturverhältnissen,  als  nach  dem 
Zustande  der  Heilkunde.  Das  Zeitalter  der  Scholastik  verlangte,  dass 
die  medicinischen  Theorien,  welche  in  den  Hörsälen  vorgetragen  wurden, 
durch  die  Aussprüche  der  herrschenden  Autoritäten  gerechtfertigt  wür- 
den; auch  die  darauf  folgende  Periode  begnügte  sich  mit  historischen 
und  theoretischen  Auseinandersetzungen,  und  erst  im  17.  Jahrhundert 
trat  die  Beobachtung  der  Natur  und  die  eigene  Untersuchung  in  den 
Vordergrund.  Mit  dem  Aufschwünge  der  Naturwissenschaften,  besonders 
der  Chemie  und  Physik,  mit  der  Gründung  anatomischer  Lehranstalten, 
in  denen  die  Schüler  Gelegenheit  zur  Zergliederung  menschlicher  Leich- 
name erhielten,  mit  der  Einführung  des  klinischen  Unterrichts  in  den 
dazu  bestimmten  Krankenhäusern  und  der  Anleitung  der  Studierenden 
zu  eigenem  selbstständigen  Arbeiten  erfuhr  die  ärztliche  Erziehung  eine 
vollständige  Umgestaltung.  Die  praktischen  Demonstrationen  und  Ver- 
suche, welche  früher  gänzlich  gefehlt  oder  doch  nur  ausnahmsweise 
stattgefunden  hatten,  bildeten  nun  einen  wesentlichen  Theil  des  medi- 
cinischen Unterrichts.  Dadurch  erhielt  er  jene  breite  Grundlage,  welche 
zu  einer  harmonischen  Ausbildung  der  Ärzte  noth wendig  ist,  damit 
dieselben  sowohl  zur  Ausübung  der  Heilkunst,  als  zur  wissenschaftlichen 
Erforschung  derselben  befähigt  werden. 


L  Der  medicinische  Unterricht  im  Älterthum. 


Indien. 

Die  Wurzeln  unserer  Cultur  liegen  im  Osten.  An  den  Ufern  des 
Ganges,  in  der  Nil-Ebene  und  im  meerumflossenen  Griechenland  blühten 
schon  vor  Jahrtausenden  Künste  und  Wissenschaften  und  erreichten 
eine  bemerkenswerthe  Entwicklung.  Auch  die  Heilkunst  feierte  dort 
ihre  frühesten  Triumphe. 

Sie  wurde  in  Indien  Anfangs  von  den  Priestern  ausgeübt,  welche 
hier  wie  überall  als  die  Schatzhüter  alles  menschlichen  und  göttlichen 
Wissens  galten. 

In  den  ältesten  Schriften  der  Indier,  den  Veden,  deren  Entstehung 
in  die  Zeit  vor  600  v.  Chr.  fällt,  erscheinen  die  Krankheiten  als  Strafen 
erzürnter  Gottheiten  und  Geister  oder  als  Folgen  der  Zauberkünste 
böser  Menschen.  Zu  ihrer  Beseitigung  wurden  Gebete,  Opfer  und  Be- 
schwörungen angewendet.  Aber  schon  im  Rigveda1  wird  auf  die  Heil- 
kraft einiger  diätetischer  und  medicamentöser  Mittel  hingewiesen. 

Je  mehr  die  Summe  der  medicinischen  Kenntnisse  und  Erfahrungen 
wuchs,  desto  mehr  stellte  sich  das  Bedürfniss  heraus,  die  ärztliche 
Thätigkeit  nicht  blos  den  Priestern,  sondern  auch  den  Mitgliedern  an- 
derer Kasten  zu  gestatten,  wenn  sie  durch  ihr  Wissen  und  Können 
dazu  befähigt  erschienen.  So  entwickelte  sich  allmälig  ein  besonderer 
ärztlicher  Stand,  welcher  sich  aus  den  drei  höheren  Klassen  der  Ge- 
sellschaft ergänzte;  nur  die  verachteten  Sudra,  die  sich  durch  ihre 
Basse-Eigenthümlichkeiten  von  den  eingewanderten  Ariern  unterschieden, 
blieben  davon  ausgeschlossen.  Später  bewirkte  der  nivellirende  Einfluss 
des  Buddhismus,  dass  auch  diese  Schranke  einigermassen  gelockert  wurde. 

Ausführliche  Angaben  über  die  Erziehung  der  Ärzte  finden  sich 
in  den  beiden  Erklärungsschriften  zum  Ayur-Veda,  welche  von  Charaka 


1  Koth    in    der  Zeitschrift    der    deutschen    morgenländisclien    Gesellschaft, 
Bd.  24,  S.  301  u.  ff.  und  Bd.  25,  S.  645  u.  ff. 


Indien.  7 

und  Susruta  verfasst  sind  und  die  ältesten  medicinischen  Werke  der 
Sanskrit-Literatur  bilden. 

Charaka1  giebt  den  Jünglingen,  welche  die  Heilkunde  erlernen 
wollen,  den  Rath,  sich  einen  Lehrer  zu  suchen,  „dessen  Lehre  lauter 
und  dessen  praktisches  Geschick  erprobt  ist,  der  gescheidt,  gewandt, 
rechtlich  und  unbescholten  ist,  seine  Hand  zu  regieren  weiss,  die  nö- 
thigen  Hilfsmittel  und  alle  Sinne  hat,  vertraut  mit  den  normalen  Zu- 
ständen und  dem  Verfahren  bei  abnormen  Verhältnissen,  von  achtem 
Wissen,  ungeziert,  nicht  unfreundlich  und  aufbrausend,  geduldig  und 
liebreich  gegen  die  Schüler  ist." 

Für  sehr  tauglich  zum  Studium  der  Heilkunde  werden  diejenigen 
Schüler  erklärt,  „welche  aus  einer  Familie  von  Ärzten  stammen  oder 
mit  Ärzten  verkehren  und  kein  Glied  und  keinen  Sinn  zu"  wenig  haben." 

Bei  der  Aufnahme  ermahnte  der  Lehrer  den  Schüler,  „keusch  und 
enthaltsam  zu  sein,  die  Wahrheit  zu  reden,  ihm  in  allen  Dingen  zu 
gehorchen  und  einen  Bart  zu  tragen." 

Als  die  drei  wichtigsten  Mittel,  um  medicinische  Kenntnisse  zu 
erwerben,  werden  genannt:  die  Lektüre  ärztlicher  Schriften,  die  persön- 
liche Unterweisung  des  Schülers  durch  den  Lehrer  und  der  Verkehr 
mit  anderen  Ärzten. 

„Wenn  der  Arzt",  sagt  Charaka,  „von  einem  bekannten  und  zum 
Eintritt  berechtigten  Mann  begleitet,  die  Wohnung  des  Kranken  betritt, 
soll  er  wohl  gekleidet,  gesenkten  Hauptes,  nachdenklich,  in  fester  Hal- 
tung und  mit  Beobachtung  aller  möglichen  Rücksichten  auftreten.  Ist 
er  drinnen,  so  darf  Wort,  Gedanke  und  Sinn  auf  nichts  anderes  ge- 
richtet sein,  als  auf  die  Behandlung  des  Patienten  und  was  mit  dessen 
Lage  zusammenhängt."  „Niemals  darf  selbst  der  Kenntnissreichste", 
fährt  er  fort,  „mit  seinem  Wissen  gross  thun.  Viele  ziehen  sich  auch 
von  einem  Fähigen  zurück,  wenn  er  zu  prahlen  liebt.  Und  die  Me- 
dian ist  wahrlich  nicht  so  leicht  zu  erlernen.  Darum  übe  sich  Jeder 
darin  sorgfältig  und  unaufhörlich!  Über  das  Verfahren  und  die  Voll- 
kommenheiten des  Praktikers  kann  man  auch  bei  Andern  zu  lernen 
suchen;  denn  die  ganze  Welt  kann  eine  Lehrerin  Jdes  Verständigen 
heissen,  und  nur  dem  Thoren  ist  sie  feind.  Mit  Rücksicht  darauf  darf 
er  sogar  vom  Rath  des  Feindes  Wohlstand,  Ehre  und  Leben  erwarten 
und  darnach  handeln." 

Dringend  empfiehlt  er  den  Umgang  mit  anderen  Ärzten.  „Denn 
die  Unterredung   mit   einem  Fachgenossen    vermehrt    die  Kenntnisse, 


1  Samhita  III,  8,  nach  R.  Roth's  Übers,  in  der  Zeitschr.  der  deutschen  morgen- 


länd.  Ges.  1872,  Bd.  26,  S.  445  u.  ff. 


8  Der  medioinisehe   Unterricht  im  Alterthum. 

macht  Vergnügen,  fördert  die  Erfahrung,  giebt  Redegewandtheit  und 
verschafft  Ansehen.  Wer  über  Erlerntes  unsicher  ist,  dessen  Zweifel 
werden  durch  die  wiederholte  Belehrung  gehoben,  wer  jene  Unsicher- 
heit und  Zweifel  nicht  hat,  dessen  Urtheil  wird  befestigt.  Auch  be- 
kommt man  oft  etwas  zu  hören,  was  man  bisher  nicht  wusste.  Mancher 
Lehrer  kann  sich  hinreissen  lassen,  ein  zurückgehaltenes  Wissen,  das 
er  sonst  dem  Zögling  nur  allmälig  mittheilt,  bei  Gelegenheit  eines 
solchen  Redeaustausches  mit  einem  Male  preiszugeben." 

Bei  Susruta1  (Cap.  2)  heisst  es,  dass  der  Arzt  als  Schüler  den 
Sohn  eines  Brahmanen,  sowie  eines  Ksatrya  oder  Vaisya  (Adeligen 
oder  Bürgers)  von  guter  Familie  annehmen  dürfe,  wenn  derselbe  16  Jahr 
alt  sei,  ein  anständiges  Betragen  zeige,  Reinlichkeitsliebe,  körperliche 
Kraft  und  Stärke,  Verstand,  ein  tüchtiges  Gedächtniss  und  den  Wunsch, 
zu  lernen  und  sein  Ziel  zu  erreichen,  besitze.  „Er  muss  eine  feine 
Zunge,  schmale  Lippen,  regelmässige  Zähne,  ein  edles  Antlitz,  wohlge- 
formte Nase  und  Augen,  ein  heiteres  Gemüth  und  feinen  Anstand  haben 
uud  fähig  sein,  Mühen  und  Schmerzen  zu  ertragen.  Wer  andere  Eigen- 
schaften besitzt,  soll  nicht  zum  ärztlichen  Beruf  zugelassen  werden."  — 

Die  Aufnahme  des  Schülers  erfolgte  an  einem  Glückstage,  und 
die  damit  verbundene  Feierlichkeit  wurde  am  Abend,  wenn  der 
Mond  und  die  Sterne  am  Himmel  standen,  vollzogen.  Sie  begann 
damit,  dass  die  Götter  auf  einem  Altar,  der  aus  einem  4  Ellen  nach 
jeder  Seite  messenden,  nach  Osten  oder  Norden  gelegenen  Erdwall  be- 
stand und  mit  Kuhdünger2  und  Kusa-Gras  (Poa  cynosuroides)  bedeckt 
wurde,  durch  Opfer  von  Reis,  Blumen  und  Edelsteinen  verehrt  wurden, 
während  die  Brahmanen  und  Ärzte  Geschenke  empfingen.  Hierauf 
zeichnete  der  die  Ceremonie  leitende  Brahmane  eine  Linie  auf  der 
Erde,  besprengte  die  Stelle  mit  Wasser  und  liess  den  Adepten  der 
Heilkunde  an  seiner  rechten  Seite  sitzen.  Vor  ihnen  wurde  ein  Feuer 
angemacht,  in  welchem  nach  den  religiösen  Vorschriften  das  Holz  von 
Khadira  (Acacia  catechu),  Palasa  (Butea  frondosa),  Devadaru  (Cedrus 
deodara)  und  Vilva  (Aegle  marmelos),  oder  von  Vata  (Ficus  Benga- 
lensis),  Jaina  dumbara  (Ficus  glomerata),  Asvattha  (Ficus  religiosa)  und 
Madhuka  (Bassia  latifolia)  verbrannt  wurde,  nachdem  es  in  geronnene 
Milch,  Honig  und  abgeklärte  Butter  getaucht  worden  war. 

Nach  der  Beendigung  des  Opfers  führte  der  Lehrer  seinen  Schüler 
dreimal  um  das  Feuer  herum  und  sprach  zu  ihm,  indem  er  die  Gott- 


1  The  Susruta  Samhita  ed.  by  Udoy  Chand  Dutt,   Calcutta  1883  (Biblio- 
theca  Indica,  fasc.  490.  500). 

2  Die  Kuh  galt  als  heilig. 


Indien.  9 

heit  des  Feuers  zum  Zeugen  anrief:  „Lege  nun  ab  alle  Begierden,  den 
Zorn,  die  Habsucht,  Thorheit,  Eitelkeit,  den  Stolz  und  Neid,  die  Roh- 
heit,  Betrügerei,  Falschheit,  Trägheit  und  alles  tadelnswerthe  Verhalten. 
Deine  Haare  und  Deine  Nägel  wirst  Du  jederzeit  kurz  geschnitten 
tragen,  ein  rothes  Kleid  anlegen,  ein  reines  Leben  führen,  wollüstigen 
Verkehr  vermeiden  und  Deinem  Vorgesetzten  gehorchen.  Du  sollst 
dableiben,  umhergehen,  Dich  niederlegen  oder  niedersetzen,  essen  und 
studieren,  wenn  ich  es  befehle,  und  immer  bereit  sein,  mein  Wohl- 
ergehen zu  fördern.  Wenn  Du  dies  versäumst,  wirst  Du  eine  Sünde 
begehen,  und  alles  Wissen  ist  Dir  unnütz  und  werthlos.  Wenn  aber 
ich  schlecht  gegen  Dich  handele,  während  Du  Deine  Pflicht  erfüllst, 
so  begehe  ich  eine  Sünde,  und  meine  Kenntnisse  werden  keine  Früchte 
tragen."  —  Ferner  ermahnte  er  ihn,  als  Arzt  später  die  Brahmanen, 
die  Lehrer,  die  Armen,  seine  Freunde  und  Nachbarn,  die  Frommen, 
die  Waisen  und  die  fremden  Leute,  welche  fern  von  ihrer  Heimath 
sind,  unentgeltlich  zu  behandeln  und  ihnen  Arzneien  zu  reichen.  Da- 
gegen soll  er  Denen,  welche  auf  der  Jagd  Thiere  tödten  und  Vögel 
fangen,  sowie  den  Verbannten  und  Verbrechern  seinen  ärztlichen  Rath 
verweigern.  „Wer  so  handelt,  macht  sich  bekannt  als  gelehrt  und  erwirbt 
Freunde,  Ruf,  Tugend,  Reichthum  und  andere  wünschenswerthe  Dinge." 

An  bestimmten  Tagen  durfte  der  Schüler  nicht  studieren,  z.  B.  am 
8.,  14.  und  15.  Tage  des  Neu-  und  Vollmondes;  desgleichen  war  es 
ihm  verboten,  den  Studien  obzuliegen  „in  der  Dämmerung  des  Morgens 
oder  im  Zwielicht  des  Abends,  bei  Donner  und  Blitz,  wenn  dies  zu 
einer  ungewöhnlichen  Jahreszeit  geschah,  zu  der  Zeit,  während  der 
König  des  Landes  krank  darnieder  lag,  nach  dem  Besuch  einer  Brand- 
stätte, nach  der  Theilnahme  an  einem  Begräbniss,  während  des  Krieges, 
bei  grossen  Festen,  bei  unglücklichen  Naturereignissen,  z.  B.  bei  Erd- 
beben, beim  Fall  von  Meteoren,  sowie  an  solchen  Tagen,  an  denen  die 
Brahmanen  sich  des  Studiums  enthielten,  oder  er  aus  irgend  welchem 
Grunde  für  befleckt  gelten  konnte."  — 

Diesen  bisweilen  seltsamen  Verordnungen  lag  offenbar  der  ver- 
nünftige Gedanke  zu  Grunde,  den  Studierenden  die  bei  ihrer  Beschäf- 
tigung nothwendige  Erholung  und  Müsse  zu  verschaffen  und  sie  davor 
zu  bewahren,  dass  sie  die  Unterrichtsgegenstände,  wenn  ihre  Aufmerk- 
samkeit durch  andere  Dinge  in  Anspruch  genommen  wurde,  in  ober- 
flächlicher oder  unvollständiger  Weise  in  sich  aufnahmen. 

Suseuta  verlangt  ferner  (Cap.  3),  dass  die  Studierenden  der  Heil- 
kunde sowohl  eine  theoretische  als  praktische  Bildung  erhalten;  zuerst 
sollen  sie  die  medicinischen  Schriften  lesen  und  dann  die  Ausübung 
der  Heilkunst  erlernen. 


10  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

„Wer  nur  theoretisch  gebildet  ist,"  sagt  er,  „aber  unerfahren  in 
den  Einzelheiten  der  praktischen  Behandlung,  weiss  nicht,  was  er  thun 
soll,  wenn  er  einen  Patienten  bekommt,  und  benimmt  sich  so  thöricht, 
wie  ein  Feigling  auf  dem  Schlachtfelde.  Andererseits  wird  ein  Arzt, 
der  nur  praktisch,  nicht  aber  theoretisch  ausgebildet  ist,  nicht  die 
Achtung  der  besseren  Männer  erringen."  „Diese  beiden  Klassen  unge- 
nügend vorbereiteter  Ärzte  sind  nicht  geeignet  zur  Praxis,  ebensowenig 
wie  ein  Brahmane,  der  die  Yeden  nur  zur  Hälfte  gelesen  hat,  die 
kirchlichen  Ceremonien  verrichten,  oder  ein  Vogel,  der  nur  einen 
Flügel  hat,  in  der  Luft  fliegen  kann.  Denn  wenn  die  Arzneien  von 
unwissenden  Ärzten  gereicht  werden,  so  wirken  sie  —  mögen  sie 
auch  dem  Nektar  gleichen  —  wie  Gifte  oder  andere  Mittel  der  Zer- 
störung." 

Derartige  Ärzte  erlangen,  wie  Susruta  bemerkt,  nur  dann  die 
Erlaubniss  zur  Praxis,  wenn  die  Regierung  sorglos  und  nachlässig  ist. 

Der  Unterricht  bestand  darin,  dass  der  Lehrer  dem  Schüler  die 
einzelnen  Abschnitte  aus  den  medicinischen  Schriften  so  oft  vorlas  und 
von  ihm  wiederholen  liess,  bis  derselbe  sie  auswendig  wusste.  Der 
Vortrag  sollte  „mit  lauter  und  klarer  Stimme  und  deutlicher  Betonung 
der  gesprochenen  Worte,  die  nicht  verschluckt  oder  durch  einen  nasalen 
Ton  entstellt  werden  durften,  geschehen." 

Der  Schüler  musste  trachten,  Das,  was  ihm  gelehrt  wurde,  nicht 
blos  mit  dem  Gehör,  sondern  auch  mit  dem  Verstände  zu  erfassen; 
denn  sonst  „gleicht  er  dem  Esel,  der  eine  Ladung  Sandelholz  trägt 
und  nur  deren  Gewicht,  nicht  aber  deren  Werth   kennt"  (Cap.  4).  — 

Dem  Lehrer  wurde  aufgetragen  (Cap.  9),  den  Schüler  auch  in  der 
Ausführung  chirurgischer  Operationen,  in  der  Anwendung  von  Salben, 
sowie  überhaupt  in  praktischen  Dingen  zu  unterrichten,  da  „ohne  prak- 
tische Ausbildung  durch  das  Anhören  der  Vorlesungen  und  die  Wieder- 
holung der  Vorträge  allein  Niemand  zur  ärztlichen  Praxis  befähigt 
werde." 

Einzelne  chirurgische  Operationen  wurden  an  Früchten,  z.  B.  an 
Melonen,  die  Punktion  an  Blasen  oder  ledernen  Beuteln,  die  mit  Wasser, 
Schlamm  oder  Lehm  gefüllt  waren,  die  Skarifikation  an  behaarten 
Leder theilen,  welche  aufgespannt  wurden,  der  Aderlass  an  den  Blut- 
gefässen todter  Thiere  oder  am  Stengel  der  Wasserlilie,  die  Unter- 
suchung mit  der  Sonde  an  wurmstichigem  Holz,  Bambus,  Rohr  und 
getrockneten  Kürbissen,  das  Ausziehen  der  Zähne  an  todten  Thieren, 
das  Öffnen  von  Abscessen  an  einem  Wachsklumpen,  welcher  auf  ein 
Stück  Salmali  (Holz  von  Bombax  malabaricum)  aufgestrichen  wurde, 
das  Nähen  der  Wunden  an  dicken  Kleidern  oder  an  dem  Rande  zweier 


Indien.  1 1 

weicher  Lederstückchen,  das  Anlegen  von  Verbänden  an  menschlichen 
Figuren,  die  aus  Holz  oder  Thon  angefertigt  wurden,  die  Anwendung 
der  Ätzmittel  und  des  Glüheisens  an  weichen  Fleischtheilen ,  und  die 
Herausbeförderung  des  Urins  aus  der  Harnblase  oder  die  Entfernung 
von  Eiter  aus  dem  Becken  mittelst  Röhren  an  einem  irdenen  Topf, 
der  mit  einer  Einne  versehen  und  mit  Wasser  gefüllt  war,  oder  an 
einem  Kürbiss  gelehrt  und  geübt. 

Der  Chirurgie  wurde  in  Indien  eine  hervorragende  Beachtung  ge- 
schenkt. Als  Dhanvantaei  (Cap.  1)  seine  Schüler  fragte,  welche  Theile 
der  Heilkunde  er  ihnen  vortragen  solle,  antworteten  sie:  Lehre  uns 
alle,  aber  nimm  die  Chirurgie  zur  Grundlage  Deiner  Erörterungen!  — 

Die  indische  Medicin  hat  auf  diesem  Gebiet  bewundernswerthe 
Erfolge  errungen.  Die  indischen  Ärzte  kannten  die  Amputation,  die 
Paracentese  des  Unterleibs,  die  Laparatomie  und  Darmnaht,  entfernten 
den  Blasenstein  auf  operativem  Wege,  beseitigten  den  Staar  des  Auges 
durch  Niederdrücken  der  Linse,  unternahmen  plastische  Operationen 
und  führten  die  Wendung  und  Extraktion  bei  anomaler  Kindslage, 
sowie  den  Kaiserschnitt  an  schwangeren  Todten  aus.1 

Die  grosse  Anzahl  verschiedenartiger  Instrumente2  zeigt,  wie  er- 
fahren sie  in  der  chirurgischen  Technik  waren;  man  findet  darunter 
Messer  von  verschiedener  Form,  Lanzetten,  Schröpf  köpfe,  Trocarts, 
Sonden,  röhrenförmige  Katheter,  Scheeren,  Knochensägen,  Polypen- 
Zangen,  Specula  u.  a.  m. 

Die  Untersuchung  des  kranken  Körpers  geschah  mit  grosser  Sorg- 
falt. Suseuta  (Cap.  10)  ermahnte  die  jungen  Ärzte,  dabei  alle  fünf 
Sinne  zu  Rath  zu  ziehen.  „Durch  das  Gehör  kann  man  z.  B.  fest- 
stellen," schreibt  er,  „ob  der  Inhalt  eines  Abscesses  schäumt  und  Luft 
enthält,  da  die  Entleerung  desselben  in  diesem  Falle  mit  Geräusch 
verbunden  ist,  durch  das  Gefühl  erkennen,  ob  die  Haut  heiss  oder  kalt, 
rauh  oder  glatt,  dick  oder  dünn  ist,  mit  dem  Gesicht  die  Corpulenz 
oder  Magerkeit,  die  Lebenskraft,  Energie  und  den  Wechsel  der  Farbe 
wahrnehmen,  durch  den  Geschmack  sich  über  die  Eigenschaften  des 
L^rins  beim  Diabetes  und  anderen  Leiden  der  Harnorgane  vergewissern, 
und  durch  den  Geruch  die  manchen  Krankheiten  eigenthümliche  Aus- 
dünstung, welche  eine  verhängnissvolle  Bedeutung  hat,  bestimmen." 
„Zu  gleicher  Zeit  muss  man  den  Kranken  über  den  Charakter  der 
Gegend,  in  welcher  er  lebte,  über  die  Jahreszeit,    seinen  Stand,  seine 


1  Vullers  im  Janus,  Bd.  I,  S.  242  u.  ff.,  Breslau  1846. 

2  Sehr  gut  zusammengestellt  in  T.  A.  Wise:  Eeview  of  the  History  of  me- 
dicine  among  the  Asiatics,  London  1867,  Vol.  I,  p.  354  u.  ff. 


12  Der  medicinische   Unterjocht  im  Alterthum. 

Befürchtungen,  die  Art  seiner  Schmerzen,  seine  Kräfte,  seinen  Appetit 
und  die  Dauer  seiner  Krankheit  befragen,  hierauf  zur  Untersuchung 
des  Urins,  der  Blähungen  und  Abgänge,  sowie  des  Menstrualflusses 
übergehen  und  sich  auch  bei  der  Umgebung  des  Patienten  nach  der 
Art  seines  Leidens  erkundigen." 

Die  indischen  Ärzte  waren  feine  Beobachter  der  Natur.  So  wussten 
sie,  dass  die  Crepitation  bei  Knochen-Frakturen  die  Diagnose  erleichtere, 
und  der  Urin  in  manchen  Krankheitsfällen  (Diabetes  mellitus)  süss 
schmecke,1  längst  bevor  diese  Thatsachen  in  Europa  bekannt  wurden. 

Die  hohe  Entwickelung  der  indischen  Heilkunde,  besonders  der 
Chirurgie,  erregt  umsomehr  Erstaunen,  als  das  Studium  der  Anatomie 
und  Physiologie  gänzlich  fehlte  oder  wenigstens  auf  falschen  Wegen 
war.  Aus  den  geringen  anatomischen  Kenntnissen  der  indischen  Ärzte 
geht  hervor,  dass  sie  sicherlich  niemals  Sektionen  menschlicher  Leich- 
name vorgenommen  haben;  übrigens  wurden  ihnen  derartige  Unter- 
suchungen durch  die  Vorschriften  der  Religion  verboten  oder  mindestens 
erschwert.  Gleichwohl  würdigten  sie  die  Bedeutung  der  Anatomie  für 
die  praktische  Heilkunde  und  erklärten,  dass  sich  der  Arzt  eine  voll- 
ständige Kenntniss  des  menschlichen  Körpers  verschaffen  müsse,  ehe 
er  die  Behandlung  der  Krankheiten  unternehme. 

Zur  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis  bedurfte  es  der  Erlaubniss 
der  Obrigkeit.  Bei  Suseuta  (Cap.  10)  heisst  es,  dass  der  Schüler  der 
Heilkunde  nach  der  Beendigung  seiner  Studien  den  König  bitten  müsse, 
dass  er  ihm  gestattet,  als  selbstständiger  Arzt  aufzutreten.  Dabei  er- 
theilt  ihm  Susruta  noch  einige  Lebensregeln,  welche  auf  die  sociale 
Stellung  der  indischen  Ärzte  ein  merkwürdiges  Licht  werfen.  „Lass 
Dir  die  Haare  und  Nägel  kurz  schneiden,"  schreibt  er,  „halte  Deinen 
Körper  rein,  trage  weisse  Kleider,  ziehe  Schuhe  an  und  nimm  einen 
Stock  oder  Schirm  in  die  Hand.  Dein  Äusseres  sei  demüthig  und  Dein 
Gremüth  rein  und  ohne  Arglist.  Zeige  Dich  höflich  in  der  Rede  und 
freundlich  zu  allen  lebenden  Wesen  und  achte  darauf,  dass  Dein  Diener 
einen  guten  Charakter  besitzt." 

Besondere  Vorsicht  empfiehlt  er  ihm,  wenn  seine  Patienten  „ge- 
lehrte Brahmanen,  Fürsten,  Weiber.  Kinder,  alte  Männer,  furchtsame 
Personen,  Diener  des  Königs,  schlaue  und  schwache  Personen,  Ver- 
leumder von  Ärzten,  arme,  elende  oder  reizbare  Menschen,  Waisen- 
kinder oder  Personen  sind,  welche  ihre  Krankheiten  verheimlichen  oder 
bei   ihren    Handlungen    nicht   beaufsichtigt   werden."      Sehr    ernstlich 


1  Vielleicht  führte  sie  die  Beobachtung,  dass  die  Ameisen  diesen  Harn  auf- 
suchten und  genossen,  zu  dieser  Entdeckung?  — 


Indien.  1 3 

warnt  er  ihn  aber  davor,  „mit  Weibern  zu  klatschen  oder  zu  scherzen 
und  von  ihnen  Geschenke  anzunehmen  ausser  etwa  Esswaaren." 

Ferner  giebt  er  ihm  den  klugen,  wenn  auch  keineswegs  menschen- 
freundlichen Rath,  „nur  solche  Personen  in  Behandlung  zu  nehmen, 
deren  Krankheit  heilbar  ist,  alle  unheilbaren  Krankheitsfälle  dagegen 
aufzugeben  und  überhaupt  jeden  Patienten,  der  nach  Jahresfrist  nicht 
gesund  geworden  sei,  zu  verlassen,  weil  auch  heilbare  Leiden  nach  einem 
Jahre  gewöhnlich  unheilbar  würden."  — 

Chaeaka1  trieb  die  Vorsicht  noch  weiter,  wenn  er  den  Ärzten 
befiehlt,  „Leuten,  welche  beim  König  oder  beim  Volk  missliebig  und 
ihrerseits  gegen  jene  verbittert  sind,  keine  Arznei  zu  verordnen,  ebenso- 
wenig ausserordentlich  missgestalteten,  verdorbenen,  schwierigen,  wilden 
und  intractabeln  Personen,  denen  nicht  zu  rathen  und  zu  helfen  ist, 
und  Sterbenden,  desgleichen  nicht  Frauen,  ohne  dass  ihr  Herr  oder 
Aufseher  anwesend  ist." 

Mit  Verachtung  erfüllt  Chaeaka2  seine  Schüler  vor  jenen  Leuten, 
„welche,  im  Aufzug  eines  gelehrten  Arztes  prunkend,  begierig  den  Ge- 
legenheiten zur  Praxis  nachstreichen.  Haben  sie  von  einem  Kranken 
gehört,  so  eilen  sie  herbei,  empfehlen  vor  seinen  Ohren  ihre  ärztlichen 
Fähigkeiten  und  sind  unermüdlich  in  der  Aufzählung  der  Fehler  des 
behandelnden  Arztes.  Die  Freunde  des  Patienten  suchen  sie  durch 
kleine  Aufmerksamkeiten,  Schmeicheleien  und  Einflüsterungen  zu  ge- 
winnen und  rühmen  ihre  eigene  Anspruchslosigkeit.  Haben  sie  sich 
an  eine  Kur  gemacht,  so  kommen  sie  alle  Augenblicke  zum  Besuch. 
L^m  ihre  Unwissenheit  zu  verstecken  und  weil  sie  die  Krankheit  nicht 
zu  heben  vermögen,  so  schieben  sie  den  Misserfolg  darauf,  dass  der 
Kranke  nicht  die  nöthigen  Mittel  und  Pflege  habe  und  sich  nicht  ge- 
hörig halte.  Merken  sie,  dass  es  mit  ihm  zu  Ende  geht,  so  machen 
sie  sich  davon.  Treffen  sie  mit  Leuten  vom  Volk  zusammen,  so  ver- 
leugnen sie  sich  und  wissen  als  Unbetheiligte  ihre  Geschicklichkeit 
herauszustreichen,  als  Laien  die  Wissenschaft  der  wirklich  Unterrichteten 
herabzusetzen.  Das  Zusammenkommen  mit  Gebildeten  aber  meiden  sie, 
wie  der  Wanderer  die  Gefahren  des  dichten  Waldes."  Ein  lebens- 
frisches Bild,  dessen  drastische  Züge  viele  Ähnlichkeit  mit  manchen 
Erscheinungen  der  Gegenwart  zeigen!  — 

Die  Ärzte  nahmen  in  Indien  eine  angesehene  Stellung  ein.  Nie- 
mals ist  der  erhabene  Beruf  des  Arztes  schöner  und  treffender  ge- 
schildert worden,  als  in  dem  indischen  Spruch:  „Ist  man  krank,  so  ist 
der  Arzt  ein  Vater;    ist  man  genesen,    so  ist  er  ein  Freund;    ist  die 


1  a.  a.  0.  S.  448.  2  I,  29  bei  Roth  a.  a.  0.  S.  452. 


14  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

Krankheit  vorüber  und  die  Gesundheit  wiederhergestellt  2  so  ist  er  ein 
Hüter." ] 

Die  indischen  Ärzte  waren  gleich  den  übrigen  Gelehrten  von 
Steuern  und  anderen  Lasten  befreit  und  wurden  für  die  Dienste,  welche 
sie  den  Kranken  leisteten,  durch  Geschenke  belohnt.  Es  scheint,  dass 
ihre  Ansprüche  in  solchen  Fällen  nicht  gering  waren,  wie  sich  aus  den 
Mittheilungen  über  die  seltsamen  Kuren  des  Arztes  Givaka  Komarab- 
hakka,  der  zu  Buddha's  Zeit  lebte,  ergiebt.2 

Er  war  das  Kind  einer  Hetäre,  wurde  auf  Kosten  eines  Fürsten, 
der  sich  seiner  annahm,  erzogen  und  bildete  sich  dann  bei  einem  Lehrer, 
dessen  Unterricht  er  sieben  Jahre  genoss,  zum  berühmten  Arzt  aus. 
Hat  diese  Erzählung  vielleicht  eine  allegorische  Bedeutung,  indem  sie 
die  niedere  käufliche  Thätigkeit  des  Arztes,  welche  durch  die  höheren 
idealen  Zwecke  geadelt  wird,  veranschaulichen  wollte?  — 

In  den  Schulen  der  Bikkhus,  der  buddhistischen  Mönche,  welche 
nach  dem  Muster  der  Brahmanenschulen  entstanden,  wurden  die  Wissen- 
schaften vernachlässigt  und  hauptsächlich  die  Bildung  des  Charakters 
durch  die  Entsagung  der  Welt  und  ihrer  Genüsse  angestrebt.  Da  die 
Bikkhus  das  Leben  als  werthlos  betrachteten,  so  achteten  sie  auch  nicht 
auf  die  Mittel,  es  zu  erhalten.  Ihre  Vorschrift,  nur  zu  essen,  was  An- 
dere übrig  gelassen  haben,  und  den  Urin  der  Kühe  als  Heilmittel  zu 
gebrauchen,3  zeigt,  wie  geringen  Werth  sie  auf  die  Pflege  und  Gesund- 
heit des  Körpers  legten. 

Und  doch  war  es  gerade  ein  buddhistischer  König,  Asoka  oder 
Pryadarsin  genannt,  welcher  zur  Errichtung  von  Hospitälern  anregte, 
und  zwar  nicht  blos  für  Menschen,  sondern  auch  für  die  Thiere;  in 
diesen  Anstalten  wurden  ärztliche  Consultationen  ertheilt  und  Arzneien 
verabreicht,  ähnlich  wie  in  unseren  poliklinischen  Instituten.4  Aller- 
dings war  es  nicht  die  Liebe  zur  Wissenschaft,  sondern  das  Mitleid, 
welches  Asoka  dabei  beseelte;  aber  die  medicinische  Wissenschaft  hat 
daraus  jedenfalls  Vor th eile  gezogen. 

Auch  auf  Ceylon  gab  es  Krankenhäuser.  Der  König  Pandukabhayo 
soll  schon  im  5.  Jahrhundert  v.  Chr.  ein  Hospital  in  seiner  Kesidenz 
Anaradhapura  gegründet  haben,   und  einer  seiner  Nachfolger,  Duttha- 


1  Böhtlingk:  Indische  Sprüche,  Petersburg  1870. 

2  The  sacred  books  of  the  east  transl.  by  Max  Müller,  Oxford  1881,  T.  XIII, 
p.  191,  XVII,  p.  173  u.  ff.,  XX,  p.  102  u.  ff. 

3  Koppen:  Eeligion  des  Buddha,  S.  338. 

4  G.  Bühler:  Beiträge  zur  Erklärung  der  Asoka-Inschriften  in  d.  Zeitschr. 
d.  deutschen  morgenl.  Ges.  1883,  Bd.  37,  S.  98  u.  ff.  (2.  Edikt  des  Königs  Asoka, 
der  von  263 — 226  v.  Chr.  regierte). 


Ägypten.  1 5 

gamini,  der  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  regierte,  durfte  sich  bei  seinem 
Tode  rühmen,  dass  er  an  achtzehn  Orten  Krankenhäuser  errichtet,  mit 
ausreichenden  Mitteln  versehen  und  dafür  gesorgt  habe,  dass  die  Lei- 
denden ärztlich  behandelt  wurden  und  Arzneien  erhielten. 

Yom  König  Budhadaso,  dessen  Lebenszeit  ins  4.  Jahrhundert  n.  Chr. 
fällt,  wird  erzählt,  dass  er  selbst  die  Heilkunst  ausgeübt  und  ein  viel- 
benutztes Werk  über  die  Medicin  verfasst  habe.  Er  schuf  eine  das 
ganze  Land  umfassende  Sanitätsorganisation,  stellte  für  je  10  Dörfer 
einen  Arzt  an,  errichtete  überall  Hospitäler  und  überwies  für  deren 
Unterhalt  die  Erträgnisse  von  20  Dörfern.  Ferner  gründete  er  An- 
stalten zur  Aufnahme  von  Krüppeln,  Verwachsenen  und  armen  Ver- 
lassenen und  sorgte  dafür,  dass  auch  das  Heer,  und  zwar  sowohl  die 
Soldaten,  als  auch  die  Elephanten  und  Pferde,  Ärzte  hatten.1 

In  Kaschmir  existirten  schon  unter  dem  König  Meghavana  (im 
1.  Jahrhundert  n.  Chr.)  Spitäler.2 

Die  Beziehungen,  welche  die  Indier  seit  dem  Feldzuge  Alexanders 
von  Macedouien  zu  den  Griechen  unterhielten,  ihr  reger  Verkehr  mit 
den  benachbarten  Persern,  der  sich  später  auch  auf  das  wissenschaft- 
liche Gebiet  erstreckte,  und  ihre  Unterwerfung  durch  die  Araber  übten 
auf  die  Ent Wickelung  der  indischen  Heilkunde  einen  grossen  Einfluss 
aus,  während  in  neuester  Zeit  die  europäische  Medicin,  namentlich  die 
ärztlichen  Theorien  und  Einrichtungen  der  Engländer,  dort  massgebend 
geworden  sind. 


Ägypten. 

Bei  weitem  älter  als  die  medicinischen  Urkunden  der  Indier  sind 
diejenigen,  welche  über  die  Heilkunde  der  Ägypter  Aufschluss  geben. 
Sie  stammen  aus  jener  frühen  Culturperiode,  von  welcher  uns  die  Pyra- 
miden wie  gewaltige  Zeugen  einer  sagenhaften  Vorzeit  erzählen  und 
bestehen  in  bildlichen  Darstellungen  auf  den  Wänden  der  Tempel  und 
Gräber,  in  Gebrauchsgegenständen,  z.  B.  chirurgischen  Instrumenten, 
die  sich  zufällig  erhalten  haben,  und  in  den  Papyros-Kollen,  von  denen 
die  wichtigeren  erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  aufgefunden  und  ent- 
räthselt  wurden. 


1  The  Mahawanso  edit.  by  G.  Turnour,  Ceylon  1837,  p.  67.  196.  243.  245. 

2  Heusinger  hat  darüber  im  Janus  (II,  393)  nach  den  Annales  de  Caschmir 
von  Kalhana  einige  Mittheilungen  gemacht. 


16  Der  medieinische   Unterricht  im  Alterthum. 

In  Ägypten  herrschte,  wie  in  Babylon,  die  Sitte,  die  Kranken  vor 
den  Häusern  auf  die  Strassen  und  Wege  zu  legen,  damit  ihnen  die 
Vorübergehenden  ihre  Rathschläge  zur  Beseitigung  ihrer  Leiden  er- 
theilen  konnten.  Das  Interesse  für  medieinische  Dinge  erfüllte  das 
ganze  Volk,  und  „Jeder  war  in  diesem  Lande,  dessen  fruchtbarer  Boden 
eine  Menge  von  Heilmitteln  hervorbrachte,  gleichsam  ein  Arzt,  ein  Ab- 
kömmling Paeons,  und  wusste  mit  dem  Menschen  Bescheid."1 

Doch  gab  es  auch  Personen,  welche  die  ärztliche  Thätigkeit  berufs- 
mässig ausübten  und  dazu  durch  systematischen  Unterricht  vorgebildet 
wurden.  Die  ägyptischen  Ärzte  gelangten  wegen  ihrer  glücklichen 
Heilerfolge  zu  grossem  Ansehen  und  wurden  sogar  an  die  Höfe  fremder 
Fürsten  berufen.  Der  Perser-König  Cyrus  Hess  zur  Behandlung  seiner 
kranken  Mutter  einen  Augenarzt  aus  Ägypten  kommen,  und  auch  Darius 
hatte  Leibärzte,  welche  von  dort  stammten.2 

Der  ärztliche  Stand  gehörte  in  Ägypten  gleich  den  Vertretern  der 
übrigen  gelehrten  Beschäftigungen  zu  der  mit  manchen  Vorrechten 
ausgestatteten  Klasse  der  Priester.  In  den  mit  den  Tempeln  verbun- 
denen Schulen  wurden  nicht  blos  Priester,  sondern  auch  Richter,  Ärzte, 
Astronomen,  Mathematiker  und  andere  Gelehrte  erzogen.  Diese  Lehr- 
anstalten vereinigten,  wie  unsere  Universitäten,  alle  höhere  Bildung  in 
sich  und  dienten  nicht  blos  dem  Unterricht,  sondern  auch  der  Forschung. 
Die  berühmtesten  dieser  Schulen  befanden  sich  zu  Heliopolis,  Memphis, 
Theben,  Sais  und  Chennu. 

Die  Schüler  erwarben  hier  neben  einer  entsprechenden  Allgemein- 
bildung die  für  ihren  künftigen  Beruf  erforderlichen  fachmännischen 
Kenntnisse.  Sie  wohnten  in  den  zur  Schule  gehörigen  Häusern  und 
standen  unter  der  Aufsicht  und  Zucht  ihrer  Lehrer.  „Überlass  Dich 
nicht  der  Trägheit,"  ermahnt  der  Lehrer  in  einer  von  Chabas  über- 
setzten Stelle  seinen  Schüler,  „denn  sonst  wirst  Du  streng  bestraft. 
Hänge  Dein  Herz  nicht  an  Vergnügungen  und  sorge  dafür,  dass  die 
Bücher  nicht  Deiner  Hand  entsinken.  Übe  Dich  in  der  Rede  und 
sprich  mit  Denen,  die  Dir  an  Wissen  überlegen  sind.  Wenn  Du  älter 
sein  wirst,  wirst  Du  erkennen,  wie  nützlich  dies  ist;  denn  wer  in  seinem 
Fach  tüchtig  ist,  erlangt  Macht  und  Ansehen."3 

Das  ägyptische  Studentenleben  scheint  in  manchen  Beziehungen 
demjenigen  der  heutigen  Zeit  geglichen  zu  haben.  So  rügt  der  Lehrer 
das  Verhalten  seines  leichtsinnigen  Schülers  Ennana  mit  den  Worten: 
„Es  ist  mir  berichtet  worden,  dass  Du  die  Studien  vernachlässigst,  Dich 


1  Homer:  Odyssee  IV,  229—232.  2  Herodot  III,  1.  129. 

3  Chabas:  Melanges  egyptologiques,  Paris  1862,  p.  117. 


Ägypten.  1 7 

nach  Lustbarkeiten  sehnst  und  von  Kneipe  zu  Kneipe  wanderst.  Wohin 
führt  aber  der  Biergeruch?  Meide  ihn;  denn  er  treibt  die  Leute  von 
Dir  weg,  bringt  Deinen  Geist  zurück  und  macht  Dich  zu  einem  Ruder, 
das  zerbrochen  auf  dem  Schiff  liegt."1 

Die  Studien  waren  nicht  den  Söhnen  der  bevorzugten  Klassen 
vorbehalten,  sondern  allen  Ständen  zugänglich.  Fleiss  und  Begabung 
galten  als  die  einzigen  Bedingungen,  welche  an  die  Zulassung  zum 
Studium  geknüpft  wurden. 

Der  Unterricht  stützte  sich  auf  die  „heiligen  Bücher",  in  welchen 
alles  Wissen  der  Ägypter  enthalten  war.  Als  ihr  Verfasser  wurde 
Toth  betrachtet,  der  Gott  der  Weisheit,  „der  auch  den  Ärzten  giebt 
die  Erleuchtung". 

Die  heiligen  oder  hermetischen2  Bücher  bildeten  eine  Art  von 
Encyklopädie  und  bestanden  aus  42  Abtheilungen.  Sie  behandelten  die 
Vorschriften  der  Religion,  die  kirchlichen  Ceremonien,  Rechtspflege, 
Philosophie,  Schreibekunst,  Geographie  und  Kosmogenie,  Astronomie, 
die  Lehre  von  den  Massen  und  Gewichten,  die  Medicin  u.  a.  m.  Mit 
der  letzteren  beschäftigten  sich  die  sechs  letzten  Bücher,  die  „Ambres", 
und  zwar  enthielt  das  erste  die  Beschreibung  der  einzelnen  Theile  des 
Körpers,  das  zweite  die  Lehre  von  den  Krankheiten,  das  dritte  Erörte- 
rungen über  die  chirurgischen  Werkzeuge,  wahrscheinlich  auch  über 
die  Operationen,  das  vierte  die  Arzneimittellehre,  das  fünfte  die  Schil- 
derung der  Augenleiden,  die  in  Ägypten  bekanntlich  sehr  verbreitet 
sind,  und  das  sechste  die  Lehre  von  den  Frauenkrankheiten.3  Der 
Verfasser  beginnt  mit  der  Anatomie,  als  der  Grundlage  der  Heilkunde, 
geht  dann  zur  Pathologie  über  und  bespricht  am  Schluss  die  Speciali- 
täten,  welche  die  Kenntniss  der  übrigen  Disciplinen  der  Medicin  zur 
Voraussetzung  haben;  er  ordnet  den  Stoff  also  in  derselben  Weise,  wie 
es  der  rationellen  Systematik  unserer  heutigen  Wissenschaft  entspricht. 

Leider  ist  dieses  Lehrbuch  der  gesammten  Heilkunde  verloren  ge- 
gangen; nur  einzelne  Bruchstücke  desselben  sollen  sich  erhalten  haben, 
welche  vielleicht  in  dem  von  Lepsius  herausgegebenen  Todtenbuche 
und  im  Papyros  Ebers  zu  finden  sind.  G.  Ebees  glaubt,  dass  der 
nach  ihm  genannte  Papyros  das  vierte  der  medicinischen  hermetischen 
Bücher,  also  die  Arzneimittellehre  enthält.4    Da  derselbe  im  17.  Jahr- 


1  Laüth:   Die   alt-ägyptische   Hochschule   zu   Chennu  in  d.  Sitzungsber.  d. 
k.  bayr.  Akad.  d.  Wiss.,  Histor.  Kl.  1872,  S.  67. 

2  Toth  ist  der  Hermes   der   Griechen.     S.  Gtuigniaut:  de  'Eq^ov  seu  Mer- 
curii  mythologia,  Paris  1835. 

3  Vergl.  Clemens  Alexakdrinüs  :  Stromata,  lib.  VI,  cap.  4,  Edit.  Dindorf. 

4  Gr.  Ebers:  Papyros  Ebers,  Leipzig  1875,  T.  I,  S.  9. 
Puschmann,  Unterricht.  2 


18  Der  medieinisehe   Unterricht  im  Alterthum. 


hundert  v.  Chr.  geschrieben  wurde,  so  dürfte  er  eine  spätere  Bearbei- 
tung des  ursprünglichen  Textes  darstellen.  Auch  Galen  führt  mehrere 
kStellen  daraus  an,  obwohl  er  bekanntlich  von  dem  wissenschaftlichen 
Werth  dieser  Schriften  keine  hohe  Meinung  hatte.1 

Ob  die  6  medicinischen  Bücher  gleich  den  übrigen  36  hermetischen 
Büchern  allen  Studierenden  der  ägyptischen  Tempelschulen  vorgetragen 
wurden  oder  nur  denen,  welche  die  Heilkunst  auszuüben  beabsichtigten, 
ist  nicht  bekannt.  Die  letzteren  mussten  jedenfalls  den  Inhalt  der 
medicinischen  Schriften  in  sich  aufnehmen  und  auswendig  lernen;  denn 
sie  waren  verpflichtet,  sich  in  ihrer  späteren  ärztlichen  Berufsthätigkeit 
genau  nach  den  dort  niedergelegten  Vorschriften  zu  richten,  und  setzten 
sich  einer  Strafe  aus,  wenn  sie  anders  handelten.2 

Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  sich  der  ärztliche  Unterricht  auf 
das  theoretische  Studium  der  zu  den  hermetischen  Schriften  gehörigen 
medicinischen  Bücher  und  der  dieselben  erklärenden  Werke,  an  denen 
die  mit  den  Tempelschulen  verbundenen  Bibliotheken  ohne  Zweifel  sehr 
reich  waren,  beschränkt  hat.  Man  darf  annehmen,  dass  die  Schüler 
ausserdem  eine  praktische  Anleitung  zur  Untersuchung  und  Behandlung 
der  Kranken  erhalten  haben. 

Es  bestand  in  Ägypten  die  Einrichtung,  dass  die  Patienten  in  die 
Tempel  gebracht  wurden,  wo  sie  von  den  Priestern  Hilfe  und  Kettung 
von  ihren  Leiden  erwarteten.  Auch  wurden  die  letzteren  in  die  Woh- 
nungen der  Kranken  gerufen,  wenn  dieselben  nicht  in  den  Tempel 
gebracht  werden  konnten.  Wie  nahe  liegt  da  der  Gedanke,  dass  die 
Lehrer  der  Heilkunde  diese  Gelegenheiten  dazu  benutzten,  um  ihren 
Schülern  die  praktische  Ausführung  der  Theorien,  die  sie  ihnen  gelehrt 
hatten,  zu  zeigen?  —  Auch  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  letzteren 
als  Zöglinge  der  Priester  der  Krankenbehandlung  in  den  Tempeln, 
welche  als  eine  Art  von  Gottesdienst,  als  ein  religiöser  Akt,  betrachtet 
werden  kann,  beigewohnt  haben. 

Übrigens  berechtigt  auch  der  Zustand  der  ägyptischen  Heilkunst 
zu  der  Yermuthung,  dass  ihre  Erlernung  durch  praktischen  Unterricht 
erleichtert  wurde.  Aus  bildlichen  Darstellungen,  welche  sich  auf  Tempel- 
wänden erhalten  haben,  geht  hervor,  dass  man  mit  der  Beschneidung 
und    Castration    Bescheid    wusste.3     Im    Papyros   Ebers    ist    von    der 


1  Galen:  Ed.  Kühn,  T.  XI,  p.  798.  2  Diodor.  I,  cap.  82. 

3  In  Kosenbaum's  Ausgabe  von  K.  Sprengel's  Gesch.  d.  Arzneikunde  (Leipzig 
1846)  Bd.  I;  S.  73  Anm.,  wie  in  H.  Haeser's  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Me- 
dicin  (Jena  1875)  Bd.  I,  S.  57,  rindet  sich  die  Notiz,  dass  die  alten  Ägypter 
auch  die  Amputation  gekannt  haben.  Diese  Angabe  stützt  sich  auf  Larrey, 
welcher  in  seiner  Eelation  historique   et  chirurgicale   de  l'expedition   de  l'armee 


Ägypten.  1 9 

„Öffnung  des  Gesichts  in  den  Pupillen  hinter  den  Augen"  die  Rede: 
eine  Stelle,  welche  sein  Herausgeber  auf  die  Staaroperation  bezogen  hat. 
Der  Kaiserschnitt  wurde  an  Verstorbenen  in  Ägypten  vielleicht  zuerst 
ausgeführt.1  Lassen  sich  diese  Dinge  aus  dem  Buch  erlernen?  —  Die 
zur  Ausführung  solcher  Operationen  erforderliche  Geschicklichkeit  kann 
nur  erworben  werden,  wenn  man  die  dazu  gehörigen  Handgriffe  öfter 
sieht  und  selbst  übt. 

Auch  wurden  an  Mumien  geheilte  Knochenbrüche  und  in  ihren 
Kiefern  künstliche  Zähne  beobachtet  und  in  Gräbern  verschiedene  chi- 
rurgische Instrumente,  wie  Messer,  Scheeren,  Lanzette n,  Pinzetten, 
Sonden,  Schröpfköpfe  aus  Eindshorn  u.  a.  m.  gefunden. 

Der  anatomische  Unterricht  war  keinesfalls  mit  praktischen  De- 
monstrationen menschlicher  Leichentheile  verbunden.  Da  nach  den 
religiösen  Vorstellungen  der  Ägypter  die  Wohlfahrt  der  Seele  von  der 
möglichst  guten  Erhaltung  des  Körpers  abhängig  erschien,  so  war  an 
die  Zergliederung  menschlicher  Leichname  nicht  zu  denken.  Die  Ver- 
letzung derselben  wurde  so  sehr  verabscheut,  dass  selbst  die  Operationen, 
welche  vor  der  Einbalsamirung  an  der  Leiche  vorgenommen  wurden, 
dem  Paraschisten,  der  sie  vollzog,  Hass  und  Verachtung  eintrugen. 
Derselbe  musste  sich  sofort,  nachdem  er  den  Einschnitt  in  die  linke 
Seite  des  Unterleibs,  durch  welchen   die  Eingeweide  entfernt  wurden, 


d'orient  (Paris  1805)  p.  45  Anmerk.  schreibt:  „Le  general  Desaix  poursuivit 
V ennemi  jusqu' an-delä  des  cataraetes  et  donna  ainsi  ä  la  commission  des  arts 
la  facilite  de  visiter  les  monuments  de  la  fameuse  Thebes  aux  cent  portes,  les 
temples  renommes  de  Tentyra,  de  Carnak  et  de  Luxor,  dont  les  restes  attestent 
encore  Vantique  magnificence.  C'est  dans  les  plafonds  et  les  parois  de  ees  temples, 
qu'on  voit  des  bas-reliefs  representant  des  membres  coupes  avec  des  Instruments 
tres-analogues  ä  ceux  dont  la  Chirurgie  se  sert  aujourd' hui  pour  les  amputations. 
On  retrouve  ces  meines  Instruments  dans  les  hieroglyphes  et  Von  reconnait  les 
traces  d'autres  Operations  chirurgicales,  qui  prouvent  que  la  Chirurgie  dans  ces 
iemps  recules  marchait  de  front  avec  les  autres  arts,  dont  la  perfection  parait- 
aroir  ete  portee  ä  un  tres-haut  degre".  Aber  weder  Lepsius  (Denkmäler  aus 
Ägypten  und  Äthiopien,  Berlin,  24  Bände),  noch  J.  Rosellini  (I  monumenti  dell' 
Egitto  e  della  Nubia?  Pisa  1832,  4  Voll.)  bringen  ein  Bild,  das  sich  mit  Sicher- 
heit auf  die  Amputation  beziehen  lässt.  Vielleicht  deutet  der  fehlende  linke  Arm 
des  Gottes  Chem  oder  Min  (S.  Champollion:  Pantheon  egyptien,  Paris  1824, 
pl.  4)  darauf  hin;  doch  lassen  sich  aus  den  seltsamen  Formen  der  ägyptischen 
Götterfiguren  keine  derartigen  Schlüsse  ziehen.  Der  Beweis,  dass  die  Ägypter 
die  Amputation  gekannt  haben,  ist  somit  noch  nicht  geliefert  worden.  Die 
flüchtige,  vielleicht  auf  einem  Missverständniss  beruhende  Angabe  Larrey's  muss 
erst  von  den  Agyptologen  geprüft  und  anerkannt  iwerden,  bevor  sie  als  histo- 
rische Thatsache  gelten  darf. 

1  S.  Rosenbaxjm:    Analecta    quaedam    ad    sectionis  caesareae    antiquitates. 
Halle  1836. 

2* 


20  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


gemacht  hatte,  flüchten,  weil  er  von  den  Verwandten  und  Freunden 
des  Todten  mit  Steinen  beworfen  wurde :  eine  Sitte,  welche  offenbar 
die  Verteidigung  des  letzteren  veranschaulichen  sollte. 

Die  Paraschisten,  denen  jene  Verrichtungen  oblagen,  nahmen  in 
der  socialen  Rangordnung  eine  Stellung  ein  ähnlich  derjenigen  unserer 
Leichendiener.  Sie  besassen  weder  anatomische  Kenntnisse,  noch  irgend- 
welche wissenschaftliche  Interessen  und  wurden  durch  die  herrschenden 
Vorurtheile  von  Untersuchungen  abgehalten,  zu  denen  sie  nicht  ihre 
Berufsthätigkeit  nöthigte. 

Auf  die  Entwicklung  der  anatomischen  Wissenschaft  hat  daher 
das  Einbalsamiren  der  Leichen  keinen  fördernden  Einfluss  ausgeübt. 
Dies  geht  auch  aus  den  seltsamen  und  rohen  Vorstellungen  über  den 
Bau  und  die  Zusammensetzung  des  menschlichen  Körpers  hervor,  welche 
sich  in  den  Papyros-Rollen  finden.1  Darnach  war  das  anatomische 
Wissen  der  ägyptischen  Ärzte  allerdings  sehr  gering;  doch  wussten  sie 
schon,  dass  das  Herz  der  Ausgangspunkt  der  Blutgefässe  sei,  welche 
sich  von  dort  aus  in  allen  Gliedern  des  Körpers  verbreiten:  eine  That- 
sache,  welche  selbst  einige  tausend  Jahre  später  noch  nicht  allgemein 
verstanden  und  anerkannt  wurde. 

Bei  der  Untersuchung  des  kranken  Körpers  waren  die  ägyptischen 
Ärzte  bemüht,  „den  Schlag  des  Herzens  zu  erforschen"2  und  die  Eigen- 
schaften des  Harns  zu  prüfen.  So  bemerkten  sie  bereits,  dass  der  Urin 
der  Schwangeren  trüb  und  reich  an  Niederschlägen  sei,3  und  führten 
diese  Erscheinung  unter  den  diagnostischen  Mitteln  an,  um  die  Schwan- 
gerschaft zu  erkennen. 

Grossen  Werth  legten  sie  auf  die  Diätetik  und  eine  vernünftige 
Lebensweise;1  sie  empfahlen  Reinlichkeit  und  Massigkeit,  Bäder,  Ab- 
reibungen und  Körperübungen,  um  die  Gesundheit  zu  erhalten.  Auch 
die  Heilkraft  der  Seebäder  soll  ihnen  bereits  bekannt  gewesen  und  von 
ihnen  bei  der  Behandlung  des  Dichters  Euripides  benutzt  worden  sein.5 

Von  Brechmitteln,  Abführmitteln  und  Klystieren  wurde  sehr  häufig 
Gebrauch  gemacht,    Im  Pap.  Berol.  med.  I  finden  sich  28  Recepte  zur 


1  S.  z.  B.  Pap.  Berol.  med.  I,  welcher  von  Chabas:  Melanges  egypt.  p.  55—79 
und  von  Brugsch:  Recueil  des  monuments  egyptiens,  Leipzig  1863,  Partie  II, 
p.  101  u.  ff.  beschrieben  wurde. 

2  Pap.  Ebers  a.  a.  0.  I,  p.  27,  T.  45. 

3  Pap.  Berol.  med.  I  bei  Chabas  a.  a.  0.  p.  69. 

4  Herodot  II,  37.  38. 

5  Diogenes  Laert.  III,  6.  Man  glaubte  deshalb,  dass  der  Vers  des  Euripides 
tlphig.  auf  Tauris  v.  1193):  &ällaa(ja,  xlvtei  nävra  t*  av&Qilmwv  xockcc  (Das  Meer 
spült  alle  Menschenleiden  fort)  dadurch  hervorgerufen  worden  sei. 


Ägypten.  2 1 

Bereitung  von  Klystieren,  die  von  den  Alten  überhaupt  für  eine  ägyp- 
tische Erfindung  gehalten  wurden.1 

Mit  der  ärztlichen  Behandlung  der  Kranken  wurden  die  Gebete 
verbunden,  welche  für  den  betreffenden  Fall  vorgeschrieben  waren. 
Dem  geistlichen  Charakter  der  Ärzte  entsprach  es,  dass  sie  diese  Gebete 
selbst  verrichteten  und  ihnen  mindestens  die  gleiche  Bedeutung  bei- 
legten, wie  ihren  medicamentösen  Verordnungen.  Nur  selten  dürften 
zu  jener  Zeit  solche  aufgeklärte  Anschauungen  gewesen  sein,  wie  sie 
der  Arzt  Nebsecht  in  dem  von  G.  Ebees,  dem  gründlichen  Kenner  des 
altägyptischen  Lebens,  verfassten  Roman  Uarda  bekundet,  wenn  er  das 
Absingen  der  Gebete  dem  alten  blinden  Pastophoren  Teta  überlässt. 

Die  Pastophoren  bildeten  eine  Klasse  der  Priester,  die  übrigens, 
wie  mir  G.  Ebees  zu  erklären  die  Güte  hatte,  keineswegs  einen  so 
niedrigen  Rang  einnahm,  wie  es  in  den  historischen  Werken  angegeben 
wird.  Die  Ärzte  waren  verpflichtet,  einen  geistlichen  Charakter  zu  be- 
sitzen und  Hessen  sich  deshalb  zu  den  Pastophoren  rechnen,  wenn  ihnen 
auch  die  höheren  Priesterwürden  wahrscheinlich  nicht  verschlossen 
blieben.2  Dagegen  waren  die  Pastophoren  keineswegs  auch  zugleich 
Ärzte,  wie  Manche  glauben,  sondern  hatten  in  ihrer  Mehrzahl  ganz 
andere  Funktionen,  wie  schon  ihr  Name  besagt.  Das  Yerhältniss  der 
Pastophoren  zu  den  Ärzten  war  ungefähr  das  nämliche,  wie  dasjenige 
des  Klerus  zu  den  Gelehrten  im  christlichen  Mittelalter;  auch  damals 
gehörten  alle  Gelehrten  zum  Klerus,  ohne  dass  alle  Geistliche  zu  den 
Gelehrten  gezählt  werden  konnten. 

Viele  Ärzte  waren  Mitglieder  der  grossen  Priester-Collegien  und 
wohnten  in  den  zu  den  Tempeln  gehörigen  Lehranstalten.  Sie  ertheilten 
dort  medicinischen  Unterricht  und  übten  die  ärztliche  Thätigkeit  aus. 
Dass  man  für  diese  Stellungen  die  tüchtigsten  und  hervorragendsten 
Vertreter  ihrer  Kunst  wählte,  lag  im  Interesse  der  Priester-Collegien, 
deren  Macht  durch  die  Anzahl  der  Schüler,  deren  Ruhm  durch  die 
glücklichen  Heilerfolge,  die  sie  in  ihren  Tempeln  erzielten,  vermehrt 
wurde. 

Die  Ärzte  nahmen  Theil  an  den  Vorrechten  und  Vortheilen,  welche 
der  Priesterstand  in  Ägypten  genoss.  Sie  waren  von  Abgaben  befreit 
und  wurden  auf  öffentliche  Kosten  erhalten. 

Von  den  Kranken  erhielten  sie  für  ihre  ärztlichen  Bemühungen 
zwar  keine  Bezahlung,  wohl  aber  Geschenke;  jedenfalls  erwarteten  sie, 


1  S.  Plinius:   hist.   nat.  VIII,   c.   41,    wo    sie    dem  ägyptischen  Ibis    zuge- 
schrieben wird. 

2  Der  Oberpriester  von  Sais  führte  den  Titel  „Oberster  der  Ärzte". 


22  Der  medicinische   Unterricht  im  Alter thum. 


dass  dem  Tempel,  an  welchem  sie  angestellt  waren,  nach  der  Beendigung 
der  Kur  Opfer  dargebracht  wurden.  Auch  wurden  nach  der  Heilung 
zuweilen  Modelle  der  geheilten  Körpertheile  im  Tempel  aufgehängt, 
wie  deren  das  British  Museum  in  London  mehrere  besitzt.  Während 
des  Krieges  oder  wenn  Jemand  unterwegs  auf  einer  Reise  erkrankte, 
waren  die  Ärzte  jedoch  verpflichtet,  unentgeltlich  Hilfe  zu  leisten.1 

Ob  es  neben  den  Ärzten,  welche  den  priesterlichen  Character  be- 
sassen,  noch  andere  Heilkünstler  gab,  die  ihre  Thätigkeit  auf  empirischem 
Wege  erlernten  und  ausübten,  ist  nicht  bekannt,  wohl  aber  wahrschein- 
lich. Man  gebrauchte  für  „Arzt"  auch  die  Bezeichnung  „Summ", 
„Wissender".  Übrigens  dürfte  die  Zahl  der  priesterlichen  Ärzte  kaum 
allen  Bedürfnissen  genügt  haben. 

Wenn  erzählt  wird,2  dass  die  ägyptischen  Ärzte  sich  auf  die  Aus- 
übung einzelner  Theile  der  Heilkunde,  auf  die  Behandlung  bestimmter 
Krankheiten  beschränkt  haben,  so  dass  „der  eine  nur  die  Leiden  des 
Auges,  der  andere  diejenigen  des  Kopfes,  der  Zähne,  des  Unterleibs 
oder  der  inneren  Organe  behandelt  habe",  so  war  ein  so  ausgeprägtes 
Specialistenwesen  doch  nur  an  grösseren  Orten  möglich,  wo  der  Kranke 
unter  einer  Menge  von  Ärzten  die  Wahl  treffen  konnte.  An  den 
grossen  Tempeln,  deren  Priester-Collegien  mehrere  Ärzte  zu  ihren  Mit- 
gliedern zählten,  wird  allerdings  der  eine  sich  vorzugsweise  dieser,  der 
andere  jener  Specialität  gewidmet  haben;  aber  im  Allgemeinen  war 
eine  derartige  strenge  Trennung  der  einzelnen  Theile  der  Heilkunst 
undurchführbar. 

Die  ägyptische  Medicin  hat  einen  grossen  Einfluss  auf  die  griechische 
Heilkunde  ausgeübt.  Ihr  Ruhm  überdauerte  die  politischen  Umwälzungen 
der  späteren  Zeit  und  bildete  einen  historischen  Hintergrund  für  die 
medicinischen  Schulen,  welche  Alexandria  zu  einer  hervorragenden  Pflege- 
stätte des  wissenschaftlichen  Lebens  im  Alterthum  machten. 


Bei  den  Israeliten. 

Die  israelitische  Cultur  ist  eine  Tochter  der  ägyptischen.  Moses, 
der  grosse  Gesetzgeber  und  Lehrer  des  jüdischen  Volkes,  war  ein  Zög- 
ling der  ägyptischen  Priesterschulen  und  hatte  dort  ausser  anderen 
Künsten  und  Wissenschaften  auch  die  Heilkunde  studiert.3 

1  Diodor  I,  T3.  82.  —  Herodot  II,  37.  2  Herodot  II,  84. 

3  Clemens  Alexandrinus  :  Stromat.  lib.  I,  cap.  153. 


Bei  den  Israeliten.  23 


Nach  ägyptischem  Vorbild  begründete  er  bei  den  Israeliten  einen 
Priesterstand,  welcher  die  Vertreter  der  Intelligenz  und  Gelehrsamkeit 
in  sich  vereinigte.  Seine  Mitglieder  erhielten  vom  Volk  ihren  Unter- 
halt und  dienten  demselben  als  Geistliche,  Lehrer,  Richter  und  Ärzte. 

Die  mosaische  Gesetzgebung  regelte  das  bürgerliche  Leben  durch 
Vorschriften,  welche  die  Sittlichkeit,  die  Gesundheit  und  das  Wohl- 
belinden  zu  fördern  geeignet  waren.  Als  die  wesentlichen  Vorbedingungen 
dafür  wurden  die  Vermeidung  von  Krankheiten  und  eine  vernunft- 
gemässe  Diätetik  betrachtet.  Dazu  dienten  die  Gesetze,  welche  die 
Pflege  des  Neugeborenen,  die  Ernährung  des  Kindes,  das  Verhalten  der 
Mutter  oder  der  Amme,  die  Beziehungen  der  beiden  Geschlechter,  z.  B. 
den  Beischlaf  mit  menstruirenden  Frauen,  und  die  Ehe  zwischen  Bluts- 
verwandten, die  Reinlichkeit,  Kleidung,  Nahrung,  Wohnung  und  den 
Begräbnissplatz  betreffen,  ebenso  wie  die  Anleitung,  um  Krankheiten, 
wie  den  Aussatz  oder  gewisse  Geschlechtsleiden,  zu  erkennen  und  deren 
Weiterverbreitung  zu  verhüten.1 

Die  Heilung  von  Krankheiten  erhoffte  man  von  Gebeten  und 
Opfern,  wie  es  dem  theurgischen  Charakter  der  jüdischen  Medicin  ent- 
sprach, nach  welchem  alle  Leiden  als  Strafen  Gottes  angesehen  wurden. 
Ausserdem  wurden  auch  diätetische  und  medicamentöse  Mittel  an- 
gewendet. 2 

Gegen  Hautausschläge3  empfahlen  die  Priester-Ärzte  vor  Allem 
die  Absonderung  der  Kranken  von  den  Gesunden,  sorgfältigste  Rein- 
lichkeit und  öftere  Bäder.  Auch  von  Heilquellen  wusste  man  Gebrauch 
zu  machen.  Ebenso  erkannte  man  die  günstige  Wirkung,  welche  die 
Musik  auf  manche  Geisteskranke  ausübt.4 

Bei  Knochen-Frakturen  legte  man  einen  Verband  an,5  und  den 
Eunuchismus  erzeugte  man  auf  zwei  Arten,  nämlich  durch  Zerquetschen 
oder  durch  Ausschneiden  der  Hoden.  Auch  die  Ausführung  der  Be- 
schneidung zeugt  davon,  dass  die  israelitischen  Priester-Ärzte  eine  ge- 
wisse Geschicklichkeit  in  chirurgischen  Operationen  besassen. 

Von  Hebammen  ist  schon  die  Rede,   als  sich  die  Juden  noch  in 


1  Moses  II,  15,  26.  19,  6.  22,  31.  III,  7,  23.  11.  12.  13.  14.  15.  16.  18.  19. 
20,  18.    IV,  12,  15.   16,  41.    V,  14,  21.  28,  27,  58—61.  —  Ezech.   16,  4  u.  a.  m. 

2  Vgl.  Trusen:  Darstellung  der  biblischen  Krankheiten,  Posen  1843,  S.  1. 
—  J.  B.  Friedreich:  Zur  Bibel,  Nürnberg  1848,  I,  S.  41  u.  ff.,  193  u.  ff.  — 
R.  J.  Wunderbar:  Biblisch  -  talmudische  Medicin,  Eiga  und  Leipzig  1850,  H.  1, 
S.  8  u.  ff.,  S.  73  u.  ff. 

3  Durch  diesen  allgemeinen  Ausdruck  wird  Zaraat  richtiger  übersetzt,  als 
durch  Aussatz,  wie  es  gewöhnlich  geschieht. 

4  Samuel  Buch  I,  c.  16,  23.  5  Ezech.  c.  30,  21. 


24  Der  medieinisehe   Unterricht  im  Älter thum. 

der  ägyptischen  Gefangenschaft  befanden.  Ihre  Thätigkeit  wird  an 
einigen  Stellen  mit  naturalistischer  Ausführlichkeit  beschrieben.1 

Grosses  Interesse  für  die  Naturwissenschaften,  besonders  für  die 
Heilkunde,  bekundete  König  Salomon,  welcher  selbst  darüber  ein  Buch 
verfasst  haben  soll.2  Unter  seiner  Regierung  machte  sich  bereits 
der  Einfluss  der  Fremden,  namentlich  der  benachbarten  Phönizier, 
geltend. 

Noch  mehr  trat  dies  hervor,  als  das  israelitische  Volk  seine  staat- 
liche Selbstständigkeit  verlor.  Seine  politischen  Schicksale  brachten  es 
in  eine  enge  Verbindung  mit  den  Assyriern,  Babyloniern,  Chaldäern  und 
Persern  und  boten  seinen  Gelehrten  die  Gelegenheit,  die  Culturerrungen- 
schaften  dieser  Völker  kennen  zu  lernen  und  in  sich  aufzunehmen. 
Dadurch  gewannen  dieselben  eine  weite  Anschauung  über  die  geistige 
Entwickelung  des  Menschen  und  wurden  von  den  engherzigen  Vor- 
urtheilen  befreit,  welche  eine  Folge  der  kleinlichen  Verhältnisse  ihrer 
politischen  Zustände  waren. 

Die  Heilkunde  zog  daraus  den  Vortheil,  dass  die  ärztliche  Praxis 
aufhörte,  ein  Privilegium  der  Priester  zu  sein.3  Neben  ihnen  übten 
fortan  nicht  nur  Laien  die  Heilkunst  aus,  sondern  man  wandte  sich 
sogar  an  Ärzte,  welche  nicht  dem  jüdischen  Glauben  angehörten.  In 
späteren  Zeiten  ging  man  in  dieser  Beziehung  so  weit,  dass  man  sogar 
die  Beschneidung  von  einem  nichtjüdischen  Arzt  vollziehen  liess,  wenn 
kein  israelitischer  Operateur  anwesend  war.4 

Ebenso  war  es  auch  den  israelitischen  Ärzten  gestattet,  den  Anders- 
gläubigen Hilfe  zu  leisten.  Sie  durften  für  ihre  Dienste  Bezahlung5 
fordern  und  wurden  von  ihren  Mitbürgern  geachtet  und  verehrt.6 

Von  den  Behörden  wurden  sie  in  Fragen  der  Sanitätspolizei  und 
gerichtlichen  Medicin  zu  Rathe  gezogen.  Später  musste  jede  Stadt 
ihren  Arzt  haben  und  ausserdem  bisweilen  noch  einen  Chirurgen.  Sie 
hatten  ausser  anderen  Obliegenheiten  die  Pflicht,  die  Beschneidung 
auszuführen. 

Für  die  Priester,  welche  bei  ihren  Ceremonien  im  Tempel  durch 
die  kalten  Bäder,  die  leichte  Kleidung,  das  Barfussgehen  auf  den  kühlen 
Steinen  und  das  Fasten  häufigen  Unterleibserkrankungen  ausgesetzt 
waren,  wurden  besondere  Ärzte  angestellt.7 


1  Moses  I,  25,  24—26.  38,  27—30.    II,  1,  15—21. 

2  Suidas:  Ezechias. 

8  Sybrand:  Diss.  hist.  med.  de  necessitate  quae  fuit  apud  veteres  inter  re- 
ligionem  et  medicinam,  Amstel.  1841,  p.  28  u.  ff. 

4  Talmud  Tr.  Menachoth  42 a.  5  Moses  II,  21,  19. 

6  Jesus  Sirach  38,  3.  7  Talmud  Tr.  Schekalim  V,  1,  2. 


Bei  den  Israeliten.  25 


Wenn  der  ärztliche  Beruf  Jedem  offen  stand,  so  scheinen  sich  ihm 
doch  vorzugsweise  die  Angehörigen  des  Priesterstandes  gewidmet  zu 
haben,  wie  aus  den  Mittheilungen  hervorgeht.  In  den  Priester-Schulen 
ebenso  wie  in  den  Propheten-Schulen,  welche  von  erwachsenen  Jüng- 
lingen besucht  wurden,  wurde  die  Heilkunde  wegen  ihrer  innigen  Be- 
ziehungen zur  religiösen  und  bürgerlichen  Gesetzgebung  der  Juden 
sicherlich  in  den  Bereich  des  Unterrichts  gezogen.  Einige  Propheten, 
wie  z.  B.  Elisa,  waren  wegen  ihrer  glücklichen  Heilerfolge  berühmt. 

Wer  als  gelehrter  Mann  gelten  wollte,  musste  einige  medicinische 
Kenntnisse  besitzen.  Sie  gehörten  zur  Allgemeinbildung  und  wurden 
von  Denen  verlangt,  welche  im  öffentlichen  Leben  eine  hervorragende 
Stellung  einnehmen  wollten. 

Die  eigentliche  fachmännische  Ausbildung  der  Ärzte  geschah  wohl 
durch  die  persönliche  Unterweisung  des  Schülers  durch  einen  Lehrer, 
der  in  der  Heilkunst  geübt  und  erfahren  war.  Über  die  Art  des 
Unterrichts  und  die  dabei  gebrauchten  Hilfsmittel  besitzen  wir  leider 
keine  Nachrichten  aus  der  älteren  Zeit,  sondern  nur  aus  der  späteren, 
der  talmudischen  Periode. 

Der  Talmud,  dessen  Entstehung  in  die  ersten  Jahrhunderte  n.  Chr. 
fällt,  enthält  eine  Menge  von  Ausdrücken,  welche  dem  Wortschatz  der 
griechischen  Sprache,  besonders  ihrer  medicinischen  Terminologie,  ent- 
lehnt sind,  und  sogar  direkte  Hinweise  auf  die  Beziehungen  zur  Heil- 
kunde der  Griechen.  Die  talmudische  Medicin  entbehrt  der  Originalität 
und  stützt  sich  hauptsächlich  auf  die  Lehren  der  griechischen  Ärzte.1 

Die  anatomischen  Kenntnisse  der  Talmudisten,  von  denen  Einige 
sich  als  Ärzte  auszeichneten,  erheben  sich  nicht  über  Das,  was  Galen 
vorgetragen  hatte.  Beachtung  verdienen  ihre  Beobachtungen  über  die 
Entwickelung  des  Fötus,  besonders  die  Bildung  der  Knochen.  Sie 
nahmen  zu  diesem  Zweck  bereits  Zergliederungen  menschlicher  Leichen 
vor.  So  wird  im  Talmud  erzählt,  dass  die  Schüler  des  Kabbi  Ismael 
ben  Elisa  an  dem  Leichnam  eines  liederlichen  Weibes,  welches  die 
Todesstrafe  erlitten  hatte,  die  einzelnen  Knochen  studierten,  und  dass 
Rabbi  Ismael  die  Früchte  schwangerer  Sklavinnen,  die  zu  diesem  Zweck 
während  ihrer  Schwangerschaft  getödtet  wurden,  untersuchte,  um  die 
Entwickelung  des  menschlichen  Körpers  kennen  zu  lernen.2  Zu 
gleicher   Zeit   suchten    die    talmudischen    Gelehrten    durch    Sektionen 


1  J.  Bergel  (Die  Medicin  der  Talmudisten,  Berlin  u.  Leipzig  1885)  bestreitet 
diese  Abhängigkeit,  vermag  aber  für  seine  Ansicht  keine  Thatsachen  anzuführen. 

2  J.  M.  Rabbinowicz:  La  medecine  du  Thalmud,  Paris  1880,  p.  75.  — 
Rabbinowicz  :  Einleitung  in  die  Gesetzgebung  und  Medicin  des  Talmuds,  deutsche 
Ubers.  1883,  S.  250.  —  Talmud  Tr.  Bechoroth  45 a. 


26  Der  medicinische   Unterricht  im  Altertkum. 

von  Thieren  ihr  anatomisches  Wissen  zu  erweitern  und  zu  vervoll- 
ständigen. 

Sie  erkannten,  welche  Bedeutung  die  Beobachtungen  und  Versuche 
an  Thieren  für  die  medicinische  Wissenschaft  haben,  und  bauten  darauf 
Schlüsse  und  Folgerungen.  Auf  diese  Weise  fanden  sie,  dass  Ver- 
letzungen der  Niere  nicht  immer  tödtlich  sind,  und  die  Milz  entfernt, 
sogar  der  Uterus  herausgeschnitten  werden  kann,  ohne  dass  dadurch 
der  Tod  des  Thieres  herbeigeführt  wird.1 

Die  Ärzte  führten  Amputationen  aus  und  kannten  den  Gebrauch 
künstlicher  Füsse  und  Beine,2  wussten  mit  Frakturen  und  Luxationen 
Bescheid,  sollen  den  Nabelbruch  der  Neugeborenen  durch  einen  Druck- 
verband geheilt  und  bei  Verschluss  des  Afters  eine  künstliche  Öffnung 
gemacht  haben,  operirten  Harnfisteln,  beobachteten  den  Hermaphro- 
ditismus, wiesen  auf  die  Thatsache  hin,  dass  der  Descensus  testiculorum 
zuweilen  unterbleibt,  und  veröffentlichten  einige  werthvolle  Erfahrungen 
über  die  Verletzungen  innerer  Organe.3  So  machten  sie  z.  B.  darauf 
aufmerksam,  dass  nach  der  Verletzung  des  Rückenmarks  bei  Thieren 
die  hinteren  Extremitäten  gelähmt  werden. 

Sie  besassen  eine  grosse  Anzahl  chirurgischer  Instrumente  und 
Apparate4  und  zeigten  sich  auch  in  der  operativen  Geburtshilfe  ge- 
wandt und  erfahren;  denn  sie  kannten  mehrere  Ursachen  des  Abortus, 
unternahmen  die  Embryotomie5  und  führten  den  Kaiserschnitt  an 
Todten,  wie  auch  an  Lebenden  aus.6 

Die  talmudischen  Gelehrten  widmeten  den  medicinischen  Schriften 
der  Griechen  ein  eifriges  Studium  und  machten  deren  wissenschaftliche 
Errungenschaften  den  Ärzten  des  jüdischen  Volkes  zugänglich.  Die 
griechische  Heilkunde  war  damals  bereits  Gemeingut  der  ganzen  ge- 
bildeten WTelt  geworden. 

Die  Juden  besassen  in  jener  Zeit  berühmte  Hochschulen  in  Ti- 
berias,  Sura  und  Pumbeditha,  an  denen,  wie  einst  in  den  Propheten- 
Schulen,    wahrscheinlich  auch  die  Medicin  wenigstens  in   ihren  allge- 

1  Rabbinowiuz  a.  a.  0.  —  Talmud  Tr.  Sanhedrin  21,  33a  u.  93a,  Bechoroth  28b. 

2  Wunderbar  a.  a.  0.  IV,  S.  66—68. 

3  Kabbinowicz  a.  a.  0.  S.  258  u.  ff. 

4  Wunderbar  (a.  a.  0.  I,  S.  50 — 56)  zähUV56  verschiedene  Arten  auf,  darunter 
Messer,  Scheeren,  Sonden,  Lanzetten,  Schröpf  hörner,  Bohrer,  Tripperbeutel, 
Löffel,  Siebe  u.  a.  m. 

5  Talmud  Tr.  Bechoroth  46 a,  Nidah  19. 

6  Über  die  Bedeutung  von  Joze  dophan  s.  auch  Virchow's  Archiv  Bd.  80, 
H.  3,  S.  494.  Bd.  84,  H.  1,  S.  164.  Bd.  86,  H.  2,  S.  240.  Bd.  89,  H.  3,  S.  377. 
Bd.  95,  H.  3,  S.  485.  —  A.  H.  Israels  in  d.  Ned.  Tijdschr.  v.  Geneesk  1882, 
p.  121  u.  ff. 


Bei  den  Parsen.  27 


meinen  Grundzügen  gelehrt  wurde.  Der  Unterricht  währte  nur  einen 
Theil  des  Jahres;  in  der  übrigen  Zeit  gingen  die  Studierenden  ihren 
Geschäften  nach,  um  sich  den  notwendigen  Lebensunterhalt  zu  er- 
werben. 1  Es  befanden  sich  darunter  Handwerker,  Kaufleute,  vielleicht 
auch  Ärzte,  welche  von  den  Lehrern  der  Hochschule  die  wissenschaft- 
liche Begründung  ihrer  Beobachtungen  zu  erfahren  bemüht  waren. 
Umgekehrt  erbaten  sich  auch  die  Gelehrten,  welche  nur  in  der  Theorie 
heimisch  waren,  in  zweifelhaften  schwierigen  Fällen  der  Praxis  von 
erfahrenen  Ärzten  Auskunft.2 

Manche  Ärzte  scheinen  sowohl  die  Behandlung  der  inneren  als 
der  äusseren  Leiden  unternommen  zu  haben,  während  sie  sich  in 
anderen  Fällen  nur  der  einen  oder  der  anderen  Richtung  der  Heilkunde 
zuwandten. 

Wer  die  ärztliche  Praxis  ausüben  wollte,  bedurfte  dazu  der  Er- 
laubniss  der  Obrigkeit  des  Ortes,  an  welchem  er  sich  niederzulassen 
wünschte.  „Niemand  darf  die  Heilkunst  ausüben,  er  sei  denn  dieser 
Kunst  auch  völlig  kundig,  und  wer  sich  ohne  Erlaubniss  des  Beth-Din 
(des  Rathes  der  Stadt)  mit  der  Ausübung  derselben  beschäftigt,  ist 
strafbar,  selbst  wenn  er  deren  auch  völlig  kundig  ist."3  Ob  diese 
Approbation  auf  Grund  von  Prüfungen  ertheilt  wurde,  und  welcher 
Art  dieselben  waren,  ist  mir  nicht  bekannt. 

In  den  folgenden  Jahrhunderten  verschmolz  die  jüdische  Medicin 
vollständig  mit  derjenigen  der  übrigen  Völker.  Die  jüdischen  Ärzte 
und  Gelehrten  übten  einen  fördernden  Einfluss  auf  die  wissenschaft- 
liche Entwicklung  der  Heilkunde  aus,  namentlich  im  Mittelalter, 
und  haben  zu  jeder  Zeit  eine  hervorragende  Stelle  auf  diesem  Gebiet 
behauptet. 


Bei  den  Parsen. 

Über  die  Medicin  der  alten  Perser  sind  uns  nur  spärliche  Nach- 
richten überliefert  worden.  Auch  hier  stand  die  Heilkunst  Anfangs  in 
innigen  Beziehungen  zum  Cultus,  und  die  Priester,  die  Magier,  übten 
dieselbe  aus.  Sie  bestand  im  Allgemeinen  darin,  dass  die  Krankheiten, 
welche  von  bösen  Geistern  hervorgerufen  wurden,  durch  Beschwörungen 


1  P.  Beer:  Skizze  einer  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts  bei 
den  Israeliten,  Prag  1832,  S.  55. 

2  Talmud  Tr.  Nidah  21 b.  3  Wunderbar  a.  a.  0.  I,  S.  36. 


28  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

weggebetet  wurden.    Damit  verbanden  sich  manche  abergläubische  Cere- 
monien;  die  Magie  feierte  hier  ihre  Vermählung  mit  der  Medicin. l 

Thrita,  ein  von  der  Sage  gefeierter  Held,  welcher  später  unter  die 
Geister  des  Himmels  versetzt  wurde,  galt  als  der  erste  Arzt,  dem  es 
gelang,  die  Krankheiten  zu  beseitigen  und  die  Dämonen,  welche  sie 
sandten,  zu  besiegen.  Er  wurde  daher  als  der  Schutzpatron  der  Ärzte 
und  gleichsam  als  Gott  der  Heilkunst  verehrt. 

Die  religiösen  Gesetzbücher  der  alten  Perser  empfahlen  die  Rein- 
heit der  Seele  und  des  Körpers  als  das  beste  Mittel,  um  Krankheiten 
zu  verhüten.  Mit  strengen  Strafen  wurden  geschlechtliche  Aus- 
schweifungen bedroht.  Ebenso  war  auch  das  Abtreiben  der  mensch- 
lichen Frucht  verboten. 

Über  die  Behandlung  der  Krankheiten  erfahren  wir,  dass  ausser 
dem  Gebet  auch  Medicamente,  deren  sie  eine  grosse  Anzahl  aus  deni 
Pflanzenreiche  kannten,  sowie  das  Messer  zur  Anwendung  kamen.  Als 
die  vorzüglichsten  Ärzte  wurden  diejenigen  betrachtet,  welche  die  Leiden 
durch  das  Gebet  allein  heilten;  sie  waren  gleichsam  „die  Ärzte  der 
Ärzte".  Ihnen  folgten  Diejenigen,  welche  Arzneikräuter  verordneten, 
und  die  letzte  Stelle  nahmen  Jene  ein,  welche  zum  Messer  griffen. 2 

Wer  als  Arzt  auftreten  wollte,  musste  sich  zuerst  an  den  niederen 
verachteten  Kasten  üben.  Erst  wenn  er  an  Mitgliedern  dieser  Stände 
drei  erfolgreiche  Kuren  ausgeführt  hatte,  durfte  er  auch  in  den  höheren 
Klassen  der  Gesellschaft  prakticiren.  Starben  jedoch  die  drei  Probe- 
Patienten,  so  konnte  er  niemals  Arzt  werden. 

Wie  im  alten  Ägypten,  so  übten  auch  hier  die  Ärzte  zugleich  die 
Thierheilkunde  aus. 

Man  hatte  eine  Art  Medicinal-Taxe,  deren  Höhe  sich  nach  dem 
Stande  und  dem  Reichthum  des  Kranken  richtete.  Yon  einem  Priester 
durfte  der  Arzt  für  seine  Dienste  nichts  weiter  fordern,  als  seinen 
Segen;  dagegen  erhielt  er  von  dem  Oberhaupt  einer  Landschaft  vier 
Ochsen,  von  dessen  Frau  ein  weibliches  Kameel,  vom  Oberhaupt  einer 
Stadt  ein  grosses  Zugthier,  von  dessen  Frau  eine  Stute,  vom  Oberhaupt 
eines  Dorfes  ein  mittleres  Zugthier,  von  dessen  Frau  eine  Kuh,  vom 
Besitzer  eines  Hauses  ein  kleines  Zugthier  und  von  dessen  Frau  eine 
Eselin.  Desgleichen  war  auch  vorgeschrieben,  wie  viel  er  für  die 
Heilung  der  verschiedenen  Hausthiere  verlangen  durfte.3 

Diese  wenigen  Bruchstücke  geben  keine  Aufschlüsse  über  die  medi- 
cinischen    Kenntnisse    und    den    ärztlichen    Unterricht    bei   den   alten 


1  Plinius:  hist.  nat.  XXX,  1. 

2  Vendidad  VII,  118—121.  3  Ebenda  VII,  105.  117. 


Bei  den   Griechen  vor  Hipj)okrates.  29 

Persern  und  gestatten  kein  Urtheil  über  den  Zustand  ihrer  Heilkunde. 
Jedenfalls  wurden  ihre  Ärzte  später  von  den  ägyptischen  und  griechischen 
Fachgenossen  an  Wissen  übertroffen,  da  sich  die  persischen  Könige 
Ärzte  aus  diesen  Ländern  an  ihren  Hof  kommen  liessen. 


Bei  den  Griechen  vor  Hippokrates. 

Die  ältesten  Nachrichten  über  die  griechische  Heilkunde  hüllen 
sich  in  das  Gewand  der  Mythe.  In  ihnen  erscheint  Apollon  als  der 
Gott,  welcher  Krankheiten  und  Seuchen  sendet,  aber  auch  die  Mittel 
gewährt,  um  sie  zu  heilen  und  die  Übel  abzuwehren. 

Als  später  die  einzelnen  Thätigkeitsäusserungen  dieses  Lichtgottes, 
der  in  dem  Cultus  des  Naturvolkes  offenbar  an  die  Stelle  des  Helios 
getreten  war,  personificirt  wurden  und  besondere  Vertreter  erhielten, 
übernahm  Asklepios  die  Eolle  des  Gottes  der  Heilkunst.  Die  Sage 
nannte  ihn  den  Sohn  Apollons,  um  dem  innigen  Verhältniss  der  Beiden 
Ausdruck  zu  geben.  Aufgeklärte  Griechen  der  späteren  Zeit  erklärten 
dasselbe  in  allegorischer  Weise,  wenn  sie  sagten:  „Asklepios  sei  die 
dem  Menschengeschlecht  und  allen  Thieren  zur  Gesundheit  unentbehr- 
liche Luft,  Apollon  aber  die  Sonne,  und  mit  Recht  nenne  man  ihn 
den  Vater  des  Asklepios,  weil  die  Sonne  durch  ihren  Jahreslauf  die 
Luft  gesund  mache."1 

Homer  und  Pindar  rühmen  die  Heilerfolge  des  Asklepios;  aber 
weder  sie  noch  Hesiod  nennen  ihn  einen  Gott.  Wie  der  Ruhm  seiner 
Kuren,  von  der  Legende  aufbewahrt  und  von  der  Nachwelt  vergrössert, 
allmälig  zu  seiner  Apotheose  führte,  darüber  ist  uns  leider  keine  Kunde 
überliefert  worden.  Später  wurden  ihm  Tempel  errichtet  und  von 
enthusiastischen  Verehrern  eine  Machtfülle  zugeschrieben,  gleich  der- 
jenigen des  Zeus,  des  Schöpfers  und  Erhalters  aller  Dinge. 

Die  Dichter,  welche,  wie  schon  Herodot2  schreibt,  in  der  Mytho- 
logie einen  dankbaren  Stoff  fanden,  schmückten  die  Erzählungen  von 
der  Geburt  und  dem  Leben  des  Asklepios  mit  ihrer  reichen  Phantasie. 
Pindar  berichtet,  dass  er  von  dem  Centauren  Cheiron  in  der  Heilkunde 
unterrichtet  worden  sei, 

„um  zu  lehren  des  krankheitsvollen  Weh's  Heillinderung 
Jedem,  wem  einwohnend  die  Wund'  an  dem  Leib 


1  Pausanias  VII,  23.  2  Herodot  II,  53. 


30  Der  medicinische   Unterrieht  im  Alterthum. 


selbst  erwuchs,  auch  welche,  die  Glieder  verletzt  durch  dunkles  Erz  annähten  und 

durch  ferngeschleuderten  Stein; 

Denen  von  Gluthen  des  Sommers,  von  Kälte  der  Leib  hinschwand, 

erlöst  allesamt  er  aus  vielfältiger  Qual 

führend,  hier  einschläfernd  das  Weh  mit  der  Kraft  anmuthiger 

Spruch'  und  erquicklichem  Trank  oder  sanft  Heilsalben  auf  ihre  Leiden  hin 

fugend  und  Andere  durch  Ausschnitt  stellt  er  aufwärts."1 

Dem  Asklepios  standen  seine  Gemahlin  Epione,  „die  Schmerzlinderin'-, 
und  seine  Töchter  Hygieia,  Jaso  und  Panakeia,  deren  allegorische  Be- 
deutung man  schon  aus  ihren  Namen  erkennt,  helfend  zur  Seite. 
Mehr  historische  Wahrheit  besitzt  vielleicht  die  Angabe,  dass  er  zwei 
Söhne,  Machaon  und  Podalirios,  hatte,  auf  welche  er  seine  Kenntnisse 
in  der  Heilkunst  vererbte. 

Dieselben  werden  unter  den  Freiern  der  Helena  aufgeführt  und 
zogen  als  Führer  der  thessalischen  Krieger  von  Trikka,  Ithome  und 
Oichalia  mit  dem  griechischen  Heere  nach  Troja.  Sie  galten  als 
ebenso  erfahren  in  der  Kriegskunst  als  in  der  Heilkunde  und  wurden 
von  ihren  Kampfesgenossen  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  um  ärzt- 
lichen Rath  und  Hilfe  gebeten.2 

Machaon  that  sich  vorzugsweise  als  Chirurg  hervor,  während  Po- 
dalirios sich  durch  die  Behandlung  der  inneren  Krankheiten  auszeichnete. 
Wie  in  der  Ilias,  so  wurde  auch  in  der  Aethiopis  des  Dichters  Arktinos, 
welche  bald  nach  jener  verfasst  wurde,  aber  nur  noch  zum  Theil  vor- 
handen ist,  auf  diese  Trennung  der  beiden  Hauptrichtungen  der  Heil- 
kunde hingewiesen,  wenn  es  heisst: 

„Denn  (Asklepios)  selber  verlieh  Heilmittel  den  Söhnen 
Beiden,  jedoch  ruhmwürdiger  macht'  er  den  einen  von  Beiden; 
Jenem  gewährt'  er  die  leichtere  Hand,  aus  dem  Fleisch  die  Geschosse 
Auszuziehn  und  zu  schneiden  und  jegliche  Wunde  zu  heilen, 
Diesem  dafür  legt  alle  Genauigkeit  er  in  die  Seele, 
Unsichtbares  zu  kennen  und  Unheilbares  zu  heilen."3 

Es  ist  bemerkenswert]!,  dass  hier  der  inneren  Medicin  der  Vorzug 
vor  der  Chirurgie  eingeräumt  wurde.  Diese  Meinung  erhielt  sich  bis 
in  unsere  Tage  und  dürfte  darin  ihren  Grund  haben,  dass  das  Erkennen 
und  Heilen  der  inneren  Krankheiten  dem  Laien  schwieriger  und  wun- 
derbarer erscheint,  als  die  Behandlung  der  äusseren  Leiden,  deren  Ur- 
sachen und  Beseitigung  in  den  meisten  Fällen  Jedem  wahrnehmbar  sind. 

Die  Heilkunst  jener  frühen  Periode  der   griechischen  Geschichte 


1  Pindar's  Werke  übers,  von  Friede.  Thiersch,  Leipzig  1820,  I.  S.  199. 

2  Diodor  IV,  c.  71. 

3  F.  G.  Welcker:  Kleine  Schriften,  Bonn  1850,  Bd.  III,  S.  47. 


Bei  den   Griechen  vor  Hippokrates.  31 

beschränkte  sich  im  Wesentlichen  darauf,  Pfeile  und  Lanzenspitzen 
auszuziehen,  das  Blut  zu  stillen,  die  Schmerzen  zu  lindern  und  Ver- 
bände anzulegen.  In  der  Ilias  werden  eine  grosse  Anzahl  von  Ver- 
letzungen verschiedener  Art  beschrieben  und  das  Heilverfahren  geschil- 
dert, welches  dabei  angewendet  wurde.1 

Machaon  und  Podalirios  sind  nicht  die  einzigen  Ärzte,  welche  in 
den  Homerischen  Heldengedichten  genannt  werden.2  Auch  Achilleus, 
Patroklos  und  andere  Heerführer  und  Krieger  werden  als  heilkundig 
gerühmt.  Viele  derselben  verdankten  ihre  Kenntnisse  auf  diesem  Ge- 
biet dem  Cheiron,3  „dem  Manne  der  Hand."  Sie  verwertheten  die- 
selben zum  Wohl  und  Nutzen  der  Menschen,  gleich  wie  andere  Helden 
durch  ihren  Gesang  die  Gemüther  erfreuten ;  aber  sie  übten  die  Heil- 
kunst nicht  berufsmässig  gegen  Entlohnung  aus. 

Der  Unterricht  in  der  Heilkunde  geschah  durch  die  persönliche 
Unterweisung  eines  Lehrers,  welcher  darin  Kenntnisse  und  Erfahrungen 
gesammelt  hatte.  Der  Vater  theilte  sein  medicinisches  Wissen  den 
Söhnen  mit,  und  diese  vererbten  ihre  Kunst  wiederum  auf  ihre  Nach- 
kommenschaft.4 Diese  Thatsache  scheint  den  Legenden  zu  Grunde  zu 
liegen,  welche  erzählen,  dass  sich  die  medicinischen  Kenntnisse  in  den 
Geschlechtern  des  Cheiron  und  des  Asklepios  erhalten  haben  und  von 
ihnen  als  theures  Familien- Vermächtniss  bewahrt  wurden. 

Als  der  ärztliche  Ruhm  der  Nachkommen  des  Asklepios  immer 
heller  erglänzte,  und  die  dankbare  Menschheit  anfing,  ihrem  Ahn 
göttliche  Ehren  zu  erweisen,  da  mögen  wohl  auch  andere  Heilkünstler 
begonnen  haben,  sich  für  Mitglieder  dieser  Familie  auszugeben,  deren 
Geheimnisse  ihnen  überliefert  worden  seien.  So  entwickelte  sich  all- 
mälig  ein  ärztlicher  Stand,  der  seine  Herkunft  von  Asklepios  ableitete. 

Die  Asklepiaden,  die  vermeintlichen  Nachkommen  dieses  mythischen 
Stammvaters  der  griechischen  Ärzte,  vereinigten  sich  später  zu  Ge- 
nossenschaften, welche  bei  gemeinsamen  Opfern  und  religiösen  Festen 
ihre  Zusammengehörigkeit  zeigten.  Eine  in  den  Ruinen  des  Asklepios- 
Tempels  zu  Athen  gefundene  und  von  Gieard  5  veröffentlichte  Inschrift, 


1  Ilias  IV,  190.  V,  73—75.  112.  694.  XI,  349—60.  397.  846.  XIII,  438—445. 
XIV,  409 — 439.  XV,  394.  —  Vergl.  a.  Darembeeg:  La  medecine  dans  Homere, 
Paris  1865.  —  H.  Dunbar:  The  medicine  and  surgery  of  Homer,  Brit.  med. 
Journal,  London  1880,  10.  Jan. 

2  Ilias  XIII,  213.    XVI,  28. 

3  Ilias  IV,  219.  XI,  831.  —  Panofka  in  den  Sitzungsber.  d.  Akad.  d.  Wiss. 
zu  Berlin,  Philos.-hist.  Kl.  1843,  S.  269  u.  ff. 

4  Platon:  de  republ.  X,  c.  3. 

5  P.  Girard:  L'Asclepieion  d'Athenes  d'apres  de  recentes  decouvertes  in  der 
Bibliotheque  des  ecoles  francaises  d'Athenes  et  de  Rome,  T.  23,  p.  85,  Paris  1881. 


32  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

welche  Köhler  der  ersten  Hälfte  des  3.  Jahrhunderts  zuschreibt,    er- 
klärt dies  für  eine  alte  Sitte. 

Die  Asklepiaden  waren  also  die  zu  einer  Zunft  verbundenen  Ärzte 
und  keineswegs  mit  den  Priestern,  die  an  den  Asklepios-Tempeln  an- 
gestellt waren,  identisch,  wie  K.  Sprengel  und  andere  medicinische 
Geschichtsforscher  irriger  Weise  geglaubt  haben. 

Die  ältesten  Heiligthümer  des  Asklepios  hefanden  sich  zu  Trikka 
in  Thessalien,  in  Titane,  Tithorea,  Epidauros,  auf  der  Insel  Kos,  zu 
Megalopolis,  in  Knidos,  Pergamon,  Athen1  und  anderen  Orten.  Hier 
wurde  der  G-ott  der  Heilkunst  verehrt  und  von  Kranken  aufgesucht, 
welche  von  ihm  die  Erlösung  von  ihren  Leiden  erflehten.  Mit  den 
Tempeln,  in  denen  der  religiöse  Cultus  stattfand,  waren  Wohnungen 
für  die  Priester  und  Diener  des  Tempels,  sowie  weite  gedeckte  Säulen- 
hallen verbunden,  welche  den  frommen  Pilgern  und  hilfebedürftigen 
Kranken  als  Aufenthaltsort  dienten. 2  Die  meisten  Asklepieien  zeichneten 
sich  durch  ihre  gesunde  Lage  und  anmuthige  Umgebung  aus.  Sie 
wurden  in  einer  fruchtbaren  Gegend  auf  Bergen  und  Hügeln,  in  der 
Nähe  von  Wäldern  und  Hainen,  welche  vor  schädlichen  Winden  und 
bösartigen  epidemischen  Einflüssen  schützten,  und  an  Flüssen  und 
Quellen,  die  ein  erfrischendes  wohlschmeckendes  Trinkwasser  boten, 
errichtet;3  einige  hatten  heilbringende  Thermen  und  Mineralquellen, 
welche  gegen  Krankheiten  einen  grossen  Ruf  genossen.  Diese  Gesund- 
heitstempel waren  mit  lieblichen,  wohlgepflegten  Gärten  umgeben,  in 
denen  stets  frisches  Wasser  floss,  und  enthielten  in  ihrem  Innern  Statuen. 
Wandgemälde  und  Weihgeschenke  aller  Art.  Neben  den  Bildsäulen 
des  Asklepios  und  anderer  Gottheiten  gab  es  Gedenksteine,  welche  an 
berühmte  Ärzte  als  Lieblinge  der  Götter  erinnerten.4 

Strenge  Vorschriften  wachten  darüber,  dass  diese  Heiligthümer 
rein  gehalten  und  vor  Schädlichkeiten,  die  ihre  günstigen  hygienischen 
Zustände  gefährden  konnten,  bewahrt  wurden.  An  der  Pforte  des 
Tempels  zu  Epidauros  standen  die  Worte:  „Wer  hier  eintreten  will, 
muss  ein  keusches  Gemüth  besitzen!"5 

Dort  durfte  ebensowenig  wie  in  Dolos  eine  Frau  gebären  oder  ein 
Todter  begraben  oder  verbrannt  werden;  selbst  wenn  ein  Kranker  starb, 

1  Joh.  Heinr.  Schulze  zählt  in  seiner  Historia  medicinae  (Lips.  1728) 
S.  118—125  eine  grosse  Anzahl  von  Asklepieien  auf  und  nennt  dabei  die  Au- 
toren, von  denen  sie  erwähnt  werden. 

2  Pausanias  II,  c.  11.  27  u.  ff.    X,  32  und  Girard  a.  a.  0.  p.  5. 

3  Pausanias  III,  24.    VIII,  32.  —  Vitruv  de  archit.  I,  c.  2. 

4  Anagnostakis  im  Bull,  de  corr.  hellen.  I,  p.  212,  pl.  IX. 

5  Clemens  Alex  and.  :  Stromat.  V,  c.  1,  13. 


Bei  den   Griechen  vor  Hippokrates.  33 


so  galt  das  Heiligthum  als  entweiht.  Die  Personen,  welche  hier  Hilfe 
suchten,  wurden  sorgfältigen  Reinigungen  unterworfen,  mussten  Bäder 
im  Flusse,  im  Meere  oder  in  der  Quelle  nehmen  und  einige  Tage 
fasten  und  sich  des  Weines  enthalten,  bevor  sie  den  Tempel  betreten 
und  der  Gottheit  Gebete  und  Opfer  darbringen  durften. 

Wohlriechende  Düfte,  die  aus  den  Räucherungen  aufstiegen,  er- 
füllten die  Luft,  und  der  Gesang  der  Priester,  welche  die  Macht  und 
Güte  des  Heilgottes  priesen,  ergriff  die  Seele.  Die  Gespräche  mit  den 
Leidensgenossen,  welche  die  Kranken  in  den  Hallen  des  Tempels  trafen, 
und  der  Anblick  der  zahlreichen  Weihetafeln  und  Inschriften,  die  von 
glücklichen  Heilungen  berichteten,  welche  hier  stattgefunden  hatten, 
gaben  ihnen  Vertrauen  und  Hoffnung.  Willig  überliessen  sie  sich  daher 
den  Anordnungen  der  Priester,  und  mit  peinlicher  Sorgfalt  befolgten 
sie  deren  Vorschriften. 

Wie  in  dem  berühmten  Amphiaraion  und  anderen  alten  Orakel- 
stätten, wurden  auch  in  den  Tempeln  des  Asklepios  die  Heilmittel  aus 
den  Träumen  gelesen.  Die  Kranken  schliefen  während  der  Nacht  in 
den  Hallen  des  Tempels  und  erwarteten  die  Träume,  in  denen  sich  ihnen 
die  Gottheit  offenbaren  sollte.  Wenn  darin  die  Behandlung  des  Leidens 
nicht  klar  und  deutlich  angegeben  wurde,  so  erzählten  sie  den  Inhalt 
des  Traumes  den  Priestern  und  deren  Gehilfen,  welche  ihn  deuteten 
und  die  Heilmittel  nannten,  welche  angewendet  werden  sollten.  Hatte 
der  Kranke  in  der  ersten  Nacht  keinen  Traum,  so  brachte  er  zu  diesem 
Zweck  eine  zweite  und  dritte  Nacht  im  Asklepieion  zu.  Blieben  die 
Träume  überhaupt  aus,  so  bat  er  einen  der  Priester  des  Tempels  oder 
einen  anderen  frommgläubigen  Mann,  für  ihn  dort  zu  schlafen  und  zu 
träumen. 

Diese  Stellvertretung  war  schon  bei  den  Orakeln  üblich1  und 
führte  später  zu  Betrügereien,  indem  schlaue  Spekulanten,  ähnlich 
manchen  spiritistischen  Medien  der  heutigen  Tage,  den  Verkehr  mit 
den  überirdischen  Wesen  zu  einem  einträglichen  Geschäft  machten.2 
Noch  plumper  war  der  Schwindel,  wenn  die  Priester  in  der  Maske 
des  Gottes  Nachts  den  Besuchern  des  Tempels  erschienen,  um  dadurch 
bei  ihnen  die  Vorstellung  hervorzurufen,  als  ob  sie  träumen;  Aristo- 
phanes  hat  dies  in  seinem  Lustspiel  Plutos  in  einer  derbkomischen 
Weise  geschildert.3 

Die  Heilmittel,  welche  verkündet  wurden,  waren  —  wenigstens  in 


1  Herodot  VIII,  c.  134. 

2  Vergl.  die  Biographie  des  Apollonios  von  Tyana  von  Philosteatos  I,  8, 
9.    IV,  1. 

3  v.  620  u.  ff. 

Puschmann,  Unterricht.  3 


34  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


der  älteren  Zeit  —  mehr  diätetischer  und  psychischer  Natur  als  medi- 
camentös.  Manche  der  empfohlenen  Kurmethoden  waren  durchaus 
rationell1  und  ganz  geeignet,  einen  Heilerfolg  herbeizuführen.  Dies 
erklärt  sich  dadurch,  dass  die  Traumbilder,  den  vorherrschenden,,  zu- 
weilen einzigen  Interessen  der  Schlafenden  entsprechend,  halb  oder  ganz 
vergessene  Erinnerungen  an  glückliche  Kuren  aus  der  Tiefe  der  Seele 
hervorholten.  Wo  dieselben  fehlten,  da  halfen  die  Priester,  welche 
durch  die  Tradition  und  die  eigene  Erfahrung  einige  ärztliche  Kennt- 
nisse erworben  hatten,  mit  ihren  Erklärungen  und  Rathschlägen.  Wenn 
sie  damit  keinen  oder  einen  ungünstigen  Erfolg  hatten,  so  zogen  sie 
sich  durch  sophistische  Kunststücke  aus  der  peinlichen  Lage  heraus.2 

Die  Priester  der  Asklepios-Tempel  waren  nicht  Ärzte,  wie  Viele 
annehmen.  Allerdings  gab  es  unter  ihnen  sowohl  wie  unter  ihren 
Gehilfen,  den  Zakoren,  Manche,  welche  in  der  Heilkunde  erfahren 
waren 3  und  dieselbe  vielleicht  sogar  systematisch  erlernt  hatten.  Aber 
zwischen  der  Heilkunst,  welche  in  den  Asklepios-Tempeln  geübt  wurde, 
und  derjenigen  der  Berufsärzte  bestand  der  grosse  Unterschied,  dass 
die  erstere  nicht  als  eine  Erucht  der  menschlichen  Erkenntniss,  sondern 
als  göttliche  Offenbarung  erscheinen  wollte.  Das  Eingreifen  von  Ärzten 
musste  daher  hier  mindestens  überflüssig  erscheinen.  Aus  diesem 
Grunde  ist  es  auch  nicht  wahrscheinlich,  dass  zwischen  den  Asklepios- 
Priestern  und  den  Ärzten  ein  gegensätzliches  oder  feindschaftliches 
Yerhältniss  bestanden  hat.4  Es  liegt  vielmehr  näher,  das  Gegentheil 
anzunehmen,  wenn  man  erfährt,  welche  demuth volle  Verehrung  die 
Ärzte,  die  Asklepiaden,  den  Heiligthümern  des  Asklepios  zollten,  welches 
hingebende  Vertrauen  sie  seinen  vermeintlichen  Aussprüchen  in  ver- 
zweifelten Fällen  ihrer  Praxis  entgegen  brachten. 

Die  Asklepiaden  Hessen  sich  mit  Vorliebe  in  der  Nähe  der  Asklepios- 
Tempel  nieder  und  gründeten  dort  ärztliche  Schulen.  Unter  diesen 
erlangten  diejenigen,  welche  zu  Rhodos,  Kroton,  Kyrene,  Kos  und 
Knidos  entstanden,  den  bedeutendsten  Ruf.  Zwischen  ihnen  entwickelte 
sich  ein  edler  Wettstreit,  welcher  die  Entwickelung  der  medicinischen 
Wissenschaft  begünstigte. 5     Auch  musste  der  Verkehr  der  Asklepiaden 


i  Vergl.  Vercoutre:  La  medecine  sacerdotale  dans  l'antiquite  grecque  in 
der  Kevue  archeolog.,  Paris  1885,  ser.  III,  T.  6,  p.  285  u.  ff.  —  v.  Willamowitz- 
Moellendorfp:  Die  Kur  des  M.  J.  Apellas  in  dessen  Philol.  Untersuchungen, 
Berlin  1886,  H.  9,  S.  116  u.  ff. 

2  Artemidor:  Oneirocrit.  V,  94.  3  Girard  a.  a.  0.  p.  34. 

4  Malgaigne  im  Journal  de  Chirurgie,  Paris  1846,  IV,  p.  340.  —  Ch.  Darem- 
berg  in  der  Kevue  archeol.,  Paris  1869,  T.  19,  p.  261  u.  ff. 

5  Galen:  Ed.  Kühn,  T.  X,  p.  5. 


.     Bei  den   Griechen  vor  HippoJcrates.  35 

in  den  Tempeln,  wo  sie  Leiden  aller  Art  sahen,  von  erfolgreichen 
Kuren  und  den  Mitteln,  die  dabei  angewendet  wurden,  hörten  und  die 
Danksagungen  der  Geheilten  lasen,  auf  sie  anregend  wirken  und  ihre 
ärztlichen  Kenntnisse  und  Erfahrungen  vermehren. 

Die  Asklepiaden-Schulen  waren  Vereinigungen  von  Ärzten,  welche 
den  gleichen  wissenschaftlichen  Theorien  huldigten,  und  entsprachen 
eher  unsern  Akademien  als  unsern  Facultäten.  Die  Erziehung  der 
Ärzte  geschah  nach  derselben  Methode,  wie  in  der  ältesten  Zeit,  iudem 
der  Lehrer  einen  oder  mehrere  Schüler  in  den  Kenntnissen  und  Fertig- 
keiten unterrichtete,  welche  die  Ausübung  der  Praxis  verlangt. 

Bei  der  Aufnahme  der  Schüler  beschränkte  man  sich  nicht  mehr 
wie  ehemals  auf  die  Sprösslinge  der  Familien,  welche  ihre  Abstammung 
von  Asklepios  ableiteten ; 1  und  wenn  die  Asklepiaden  durch  die  Führung 
ihrer  Geschlechtsregister  diesen  Glauben  zu  erhalten  suchten,  so  wollten 
sie  damit  wohl  nur  darthun,  dass  die  Heilkunst  ihres  Stammvaters 
Asklepios  von  ihnen  rein  und  unverfälscht  übermittelt  werde.2  Aus 
dem  gleichen  Grunde  befahlen  sie  auch  ihren  Schülern  strenge  Ge- 
heimhaltung ihrer  Lehren  und  verboten  ihnen,  dieselben  Andern,  die 
nicht  der  Asklepiaden-Zunft  angehörten,  mitzutheilen. 3  Derartige  Mass- 
regeln wurden  auch  von  anderen  gelehrten  Genossenschaften,  nament- 
lich wenn  dieselben,  wie  hier  die  gemeinsame  Verehrung  des  Asklepios, 
ein  religiöses  Band  umschlang,  angewendet,  um  die  Profanation  ihrer 
Geheimnisse  zu  verhüten. 

Der  medicinische  Unterricht  begann  schon  in  früher  Jugend.  War 
der  Vater  Arzt,  so  war  er  auch  der  erste  Lehrer  seines  Sohnes,  der 
sich  der  Heilkunde  widmete  und  dann  seine  spätere  fachmännische 
Ausbildung  bei  anderen  tüchtigen  Ärzten  suchte  und  fand. 

Der  Lehrer  theilte  den  Schülern  seine  Ansichten  über  den  Bau 
und  die  Funktionen  des  Körpers  mit,  erklärte  ihnen  die  Ursachen  der 
Krankheiten  und  führte  sie  an  das  Krankenbett,  um  ihnen  dort  die  Er- 
scheinungen der  verschiedenen  Leiden  und  ihre  Behandlung  zu  zeigen. 

Die  Schüler  mussten  für  den  Unterricht  ein  Honorar  zahlen4  und 
waren  verpflichtet,  den  Söhnen  ihres  Lehrers  unentgeltlich  die  Heil- 
kunst zu  lehren. 


1  Galen  a.  a.  0.  T.  II,  p.  281. 

2  Übrigens  stammen  die  noch  vorhandenen  Bruchstücke  der  genealogischen 
Tafeln  der  Asklepiaden  aus  später  Zeit  und  können  daher  nicht  Anspruch  auf 
Authencität  erheben.  Tzetzes  (12.  Jahrhundert  n.  Chr.):  Histor.  var.  chil.  ed. 
Th.  Kiessling,  Lips.  1826,  p.  276,  v.  944—989. 

3  Hippokrates:  Ed.  Littre,  T.  IV,  p.  642. 

4  Platon:  Menon  c.  27.     Protagoeas  c.  3. 

3* 


36  Der  medicinische   Unterricht  im  Alter thum. 


Wenn  die  Ausbildung  des  Schülers  beendet  war,  so  wurde  er  in 
die  Genossenschaft  der  Asklepiaden  aufgenommen,  wobei  er  folgenden 
Eid  ablegte:1 

„Ich  schwöre  bei  Apollon,  dem  Arzte,  bei  Asklepios,  bei  der  Hj- 
gieia  und  Panakeia  und  bei  allen  Göttern  und  Göttinnen,  und  nehme 
sie  zu  Zeugen,  dass  ich  diesen  meinen  Eid  nach  meinen  Kräften  und 
Fähigkeiten  halten  will.  Ich  werde  Denjenigen,  welcher  mir  die  Heil- 
kunst gelehrt  hat,  wie  meine  Eltern  achten,  mit  ihm  den  Lebens- 
unterhalt theilen  und  für  seine  Bedürfnisse  Sorge  tragen.  Seine  Kinder 
sollen  von  mir  wie  Geschwister  betrachtet  werden,  und  seinen  Söhnen 
werde  ich,  falls  sie  die  Heilkunst  zu  erlernen  wünschen,  dieselbe  ohne 
Bezahlung  und  ohne  Verpflichtung  lehren.  Die  ärztlichen  Vorschriften 
und  Alles,  was  ich  von  der  Heilkunst  gehört  und  gelernt  habe,  will 
ich  meinen  eigenen  Söhnen  sowohl  wie  denen  meines  Lehrers  und 
meinen  Schülern,  die  auf  das  ärztliche  Gesetz  verpflichtet  und  vereidet 
worden  sind,  mittheilen,  sonst  aber  Niemandem.  Die  Lebensweise  der 
Kranken  werde  ich,  soweit  ich  es  vermag  und  verstehe,  zu  ihrem  Vor- 
theil  regeln  und  sie  vor  Schädlichkeiten  und  Kränkungen  schützen. 
Niemals  will  ich  ein  tödtliches  Mittel  verabreichen,  auch  nicht,  wenn 
man  mich  darum  bittet,  noch  einen  darauf  hinzielenden  Bathschlag 
ertheilen.  Ebensowenig  werde  ich  jemals  einem  Weibe  ein  die  Frucht 
abtreibendes  Mutterzäpfchen  geben.  Keusch  und  heilig  will  ich  mein 
Leben  verbringen  und  meine  Kunst  halten.  Die  Castration  werde  ich 
nicht  einmal  bei  Denen,  welche  an  der  Steinkrankheit  leiden,  ausführen, 2 


1  Hippokratks  a.  a.  0.  T,  IV,  p.  628—632. 

2  Die  Worte:  ov  re/uio)  dk  oC«)k  jiijv  hdiövraq  haben  den  Erklärern  und  Über- 
setzern von  jeher  grosse  Schwierigkeiten  bereitet.  Die  Meisten  glaubten,  dass 
sich  der  Schwörende  darin  verpflichtet,  den  Blasensteinschnitt  nicht  auszuführen. 
Bei  dieser  Deutung  ist  aber  das  ordk  fiijv  des  Textes  tiberflüssig  und  sinnstörend, 
da  die  Operation  des  Blasensteinschnitts  doch  nur  an  Solchen,  welche  am  Blasen- 
stein leiden,  vorgenommen  werden  konnte.  Littre  conjicirte  deshalb  ahiovraq 
für  ÄiÜKovrac,  so  dass  die  Übersetzung  lauten  würde:  „Ich  werde  den  Blasenstein 
nicht  operiren,  selbst  dann  nicht,  wenn  mich  die  Kranken  darum  bitten."  Aber 
vielleicht  bezieht  sich  die  Stelle  überhaupt  nicht  auf  den  Blasensteinschnitt;  denn 
die  Ärzte  jener  Zeit  scheuten  sich  keineswegs,  andere  Operationen  auszuführen, 
und  beschäftigten  sich  auch  mit  der  Untersuchung  und  Behandlung  der  Blasen- 
leiden (Hippokrates  a.  a.  0.  T.  VI,  p.  150).  —  Grössere  Berechtigung  hat  die 
Ansicht  R.  Moreau's,  Charpignon's  u.  A.,  dass  es  sich  in  der  obigen  Stelle 
um  das  Verbot  der  Castration  handelt,  da  dasselbe  im  Zusammenhang  mit  an- 
deren schimpflichen  Dingen,  z.  B.  der  Verabreichung  von  Giften,  der  Kindes- 
abtreibung u.  a.  m.  erscheint.  Zudem  kommt  das  Wort  ri^veiv  in  diesem  Sinne 
in  der  griechischen  Literatur  vor;  freilich  werden  dafür  häufiger  die  Composita 
k/.rifxvuv  und  dnori/xveiv  gebraucht.     Das  darauf  folgende  odik  nrjv  Xt&iwvta^  be- 


Bei  den   Griechen  vor  Hippokrates.  37 


sondern  dies  den  Leuten  überlassen,  welche  daraus  ein  Geschäft  machen. 
Wenn  ich  ein  Haus  betrete,  so  soll  dies  zum  Heil  der  Kranken  ge- 
schehen. Ich  will  Niemandem  absichtlich  Unrecht  thun  und  irgend 
welchen  Schaden  zufügen  und  weder  Frauen  noch  Männer,  weder  Freie 
noch  Sklaven  zur  Unzucht  verführen.  Was  ich  in  meiner  ärztlichen 
Praxis  und  ausserhalb  derselben  in  Bezug  auf  das  Leben  der  Menschen 
sehen  oder  hören  werde,  darüber  will  ich,  wenn  es  niemals  öffentlich 
bekannt  werden  soll,  Schweigen  beobachten  und  es  als  ein  Geheimniss 
bewahren.  Möge  es  mir,  wenn  ich  diesen  Eid  erfülle  und  nicht  breche, 
beschieden  sein,  das  Leben  und  die  Kunst  zu  geniessen  und  immer- 
währenden Ruhm  zu  ernten  bei  allen  Menschen!  Wenn  ich  aber  den 
Eid  übertrete  und  meineidig  werde,  so  soll  mich  das  Gegentheil 
treffen!"  — 

Aus  dem  Wortlaut  dieses  Eides,  welcher  ohne  Zweifel  der  Vor- 
Hippokratischen  Zeit  angehört,  geht  hervor,  dass  die  Castration,  die  zum 
Zweck  der  Lieferung  von  Eunuchen  vorgenommen  wurde,  Leuten  über- 
lassen blieb,  welche  die  Ausführung  dieser  Operation  geschäftsmässig 
betrieben.  Vielleicht  wurden  auch  andere  Theile  der  Chirurgie,  z.  B. 
der  Blasenschnitt,  und  die  Behandlung  der  Knochenbrüche  und  Ver- 
renkungen, von  Empirikern  ausgeübt,  die  sich  darin  eine  grosse  Ge- 
wandtheit und  Sicherheit  erworben  hatten? l 

Jedenfalls  lässt  sich  annehmen,  dass  es  ausser  den  Asklepiaden 
noch  andere  Ärzte  gab,  welche  nicht  der  Genossenschaft  derselben  an- 
gehörten.2    Erst  später  wurden  alle  Ärzte  „Asklepiaden"  genannt. 

Grossen  Einfluss  auf  die  Entwickelung  der  Heilkunde  und  besonders 
auf  die  Bildung  der  Ärzte  übten  die  Philosophen  aus.  Die  griechischen 
Weisen,  welche  die  Ursachen  und  das  Wesen  der  Dinge  zu  ergründen 

deutet  dann,  dass  die  Castration  nicht  einmal  bei  Denen,  welche  am  Blasenstein 
litten,  gestattet  war,  obwohl  bei  ihnen  die  Bedenken  dagegen  geringer  sein 
mussten,  da  der  Steinschnitt  bei  der  damals  üblichen  Operationsmethode  wegen 
der  damit  verbundenen  Zerstörung  der  Samenausführungsgänge  gewöhnlich 
Zeugungsunfähigkeit  im  Gefolge  hatte.  Übrigens  hat  kt&täv  auch  die  Bedeutung 
„an  einer  steinartigen  verhärteten  Anschwellung  leiden"  und  wird  nach  Th.  Gom- 
perz  in  diesem  Sinne  von  Verhärtungen  an  den  Augenlidern,  den  Gelenken,  der 
Gebärmutter  u.  a.  m.  gebraucht.  Vielleicht  bezieht  es  sich  hier  auf  die  Hoden 
und  die  obige  Stelle  muss  übersetzt  werden:  „Ich  werde  die  Castration  nicht 
einmal  bei  denen,  deren  Hoden  verhärtet  sind,  ausführen"?  —  Vergl.  Charpignon  : 
Etüde  sur  le  serment  d'Hippocrate ,  Orleans  und  Paris  1881.  —  Th.  Puschmann 
in  Bursian's  Jahresber.  f.  Alterthumswissenschaft  1884,  III,  p.  55  und  in  den 
Jahresber.  über  d.  Fortschr.  d.  ges.  Medicin,  herausgeg.  v.  Virchow  u.  Hirsch 
1883,  I,  S.  3  26. 

1  Vergl.  H.  Haeser:  Geschichte  der  Medicin,  3.  Aufl.,  Jena  1875,  I,  S.  88. 

2  Welcker  a.  a.  0.  S.  103  u.  ff. 


38  Der  medtGinische   Unterricht  im  Alterthum. 


suchten,  zogen  vor  Allem  den  Menschen  und  die  ihn  umgebende  Natur 
in  Betracht.  Pythagoras,  welcher  das  Grundprincip  alles  Seins  in 
der  Zahl,  in  den  Massverhältnissen,  in  der  Gesetzmässigkeit  sah,  war 
Arzt  und  beschäftigte  sich  mit  dem  Bau  des  Körpers,  der  Thätigkeit 
der  Sinne  und  der  Seele,  sowie  mit  der  Zeugung  und  Entwickelung 
des  Menschen. 

Nach  längerem  Aufenthalt  in  fremden  Ländern,  namentlich  in 
Ägypten,  wo  er  in  das  Wissen  der  gelehrten  Priester  eingeweiht  wor- 
den sein  soll,1  liess  er  sich  in  der  griechischen  Pflanzstadt  Kroton  in 
Unter-Italien  nieder,  wo  sich  die  berühmte  Asklepiaden-Schule  befand. 
Dort  gründete  er  einen  Bund,  welcher  weniger  philosophische,  als 
ethische  und  politische  Ziele  anstrebte.  Seine  Mitglieder  waren  haupt- 
sächlich Ärzte  und  fanden  hier  bald  einen  Mittelpunkt  für  ihre  gemein- 
samen wissenschaftlichen  Interessen.  Sie  widmeten  ihre  Aufmerksam- 
keit vorzugsweise  der  Diätetik  und  suchten  durch  einfache  Mittel,  durch 
Umschläge,  Einreibungen  und  Salben  die  Heilung  herbeizuführen;  die 
Chirurgie  wurde  von  ihnen  vernachlässigt.2 

Unter  den  Anhängern  des  Pythagoeas  werden  die  Ärzte  Philo- 
laos,  Elolathes,  welcher  die  Gesundheit  von  dem  Gleichmass  der 
Flüssigkeiten  im  Körper  ableitete  und  sie  mit  der  musikalischen  Har- 
monie verglich,3  Epimarch,  Meteodoros  u.  A.  genannt.  Wahrschein- 
lich gehörten  auch  Alkmaeon  und  Demokedes,  welche  ihre  ärztliche 
Ausbildung  in  Kroton  erhalten  hatten,  zu  seinen  Schülern.  Der  letztere 
verbreitete  durch  seine  glücklichen  Kuren  den  Buhm  der  Heilkunst 
seiner  Heimath  in  fernen  Ländern  und  erlangte  eine  hervorragende 
Stellung  am  Hofe  des  Königs  Darius, 4  dessen  verrenkten  Fuss  er  nach 
den  vergeblichen  Versuchen  seiner  ägyptischen  Leibärzte  wieder  einzu- 
richten vermochte. 

Alkmaeon  soll  der  Erste  gewesen  sein,  der  anatomische  Zerglie- 
derungen unternahm  und  dabei  den  Ursprung  der  Sehnerven  aus  dem 
Gehirn  entdeckt  haben.5  Er  erklärte,  dass  die  menschliche  Seele  un- 
sterblich und  gleich  den  Gestirnen  in  ewiger  Bewegung  begriffen  sei. 
Er  versuchte,  die  Entstehung  der  Sinnesempfindungen  zu  erklären,  und 
stellte  die  erste  Theorie  des  Schlafes  auf.  „Wenn  das  Blut/'  sagte  er, 
„in  die  grossen  Blutgefässe  zurücktritt,  so  entsteht  der  Schlaf;  wird  es 


1  Diodor.  I,  69.  98.  2  Jamblich:  de  vita  Pythag.  cap.  29,  §  163  u.  ff. 

3  Kühn:  Opusc.  acad.,  Lips.  1827,  I,  p.  47—86. 

4  Herodot  III,  c.  129—134. 

5  Chalcidius  in  Piaton.  Timaeum  ed  Meursius,  Lugd-Bat,  1617,  p.  340.  — 
M.  A.  Unna:  De  Alcmaeone  Crotoniata  ejusque  fragmentis  quae  supersunt  in 
Ch.  Petersen:  Philologisch-historische  Studien,  1.  H.,  Hamburg  1832,  S.  41—87. 


Bei  den   Grieohen  vor  Hippokrates.  39 

aber  wieder  in  die  kleineren  zerstreut,  so  erfolgt  das  Erwachen."1 
Weniger  Beachtung  verdienen  seine  Ansichten  über  die  Ernährung  des 
Kindes  im  Mutterleibe  und  über  die  Ursachen,  welche  der  Unfrucht- 
barkeit der  Bastarde  zu  Grunde  liegen. 

Einer  der  hervorragendsten  Naturphilosophen  jener  Zeit  war  Em- 
pedokles,  der,  an  die  Ewigkeit  der  Welt  glaubend,  das  Entstehen  und 
Vergehen  der  Dinge  bestritt,2  und  überall  nur  Veränderungen  sah, 
welche  sich  in  Vereinigung  und  Trennung  äussern  und  durch  die  Liebe 
und  den  Hass  hervorgerufen  werden.  Er  stellte,  wie  Aeistoteles  be- 
richtet, 3  die  Lehre  von  den  vier  Elementen  auf,  welche  auf  die  Physio- 
logie und  Pathologie  der  Späteren  den  weittragendsten  Einfluss  aus- 
übte, und  ahnte  bereits  den  grossen  Schöpfungsgedanken,  dass  die  Ent- 
wickelung  der  Organismen  von  den  niederen  Formen  zu  den  höheren 
fortschreitet,  und  dass  nur  das  Zweckmässige  erhalten  bleibt.  Er 
glaubte,  dass  nicht  blos  der  Mensch  und  die  Thiere,  sondern  auch  die 
Pflanzen  beseelt  seien,  beschäftigte  sich  mit  den  Sinnesempfindungen 
und  der  Athmungsthätigkeit,  die  er  auf  mechanische  Weise  zu  erklären 
versuchte,  und  betrachtete  das  Labyrinth  im  Ohr  als  den  Sitz  des 
Gehörs. 

Seine  Zeitgenossen  Anaxagoras  aus  Klazomene  und  Diogenes 
aus  Apollonia  widmeten  vorzugsweise  der  Anatomie  ihre  Aufmerksamkeit. 
Der  Erstere  nahm  Zergliederungen  von  Thieren  vor*  und  bemerkte 
die  Seitenventrikel  des  Gehirns;  auch  war  er  der  Erste,  der  die  von 
den  späteren  Ärzten  zum  Dogma5  erhobene  Meinung  aussprach,  dass 
die  Galle  die  Ursache  der  akuten  Krankheiten  sei.  Diogenes  hinter- 
liess  eine  Beschreibung  des  Gefässsystems,  die  freilich  sehr  viele  Irr- 
thümer  enthält.6 

Heraklit  sah  in  der  beständigen  Umwandlung  der  Form,  in  dem 
ewigen  Wechsel  der  Dinge,  das  eigentliche  Wesen  derselben.  Wie 
Empedokles,  so  schrieb  auch  er  dem  Feuer,  der  inneren  Wärme,  einen 
wichtigen  Einfluss  auf  die  Vorgänge  im  Organismus  zu.  Seine  An- 
sichten erhielten  im  Lehrgebäude  der  Hippokratiker  einen  Platz  und 
spielten  in  der  Physiologie  und  Pathologie  lange  Zeit  eine  hervor- 
ragende Kolle. 

In  noch  höherem  Grade  war  dies  der  Fall  mit  den  Theorien  des 


1  Plutarch:  de  placit.  philos.  V,  c.  24. 

2  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  VI,  p.  474. 

3  Aristoteles:  Metaph.  I,  3.  4.  4  Plutarch:  Perikles,  c.  6. 

5  S.  die  Nach-Galen'sche  Schrift  über   die  kritischen  Tage  in  Hippokrates 
a.  a.  0.  T.  IX,  p.  300  u.  ff. 

6  Aristoteles:  Hist.  anim.  III,  2. 


40  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthwu. 


Leükippos  und  Demokeit.  Der  Materialismus,  welcher  ihre  Atomen- 
lehre beherrschte,  führte  zur  Erforschung  der  Natur,  also  auf  den  Weg. 
der  allein  Erfolge  verspricht.  Demokrit1  widmete  sich  selbst  mit 
grossem  Eifer  anatomischen  Untersuchungen  und  scheint  darin  sehr 
geschickt  gewesen  zu  sein,  da  er  über  den  Bau  des  Chamäleons  eine 
besondere  Abhandlung  zu  verfassen  vermochte.2  Auch  soll  er  über 
verschiedene  Krankheiten,  über  die  Hundswuth,  über  die  Heilwirkungen 
der  Musik3  u.  a.  m.  geschrieben  haben. 

Eine  aus  dem  Alterthum4  stammende  Sage  erzählt,  dass  Hippo- 
krates von  den  Landsleuten  des  wunderlichen  Forschers,  die  ihn  für 
geistesgestört  hielten,  nach  Abdera  berufen  wurde,  um  ihn  zu  unter- 
suchen. Als  er  die  Fülle  von  Wissen  und  Geist,  die  in  Demokeit 
wohnte,  erkannte,  mag  er  sich  wohl  zu  dem  Ausspruch  gedrängt  ge- 
fühlt haben,  dass  er  der  Weiseste  aller  Menschen  sei.  Er  verdankte 
dem  Verkehr  mit  ihm  manche  Anregung  und  wahrscheinlich  auch 
manche  Kenntnisse.5 

Die  Philosophen  rechneten  das  Studium  des  Menschen  und  der 
Krankheiten  zu  ihren  wichtigsten  Aufgaben.6  Viele  unter  ihnen  ge- 
hörten dem  ärztlichen  Stande  an  und  übten  die  Heilkunst  aus. 

Dieses  fruchtbare  Wechselverhältniss  zwischen  der  Philosophie  und 
der  Medicin  erhielt  sich  auch  später  und  hatte  für  beide  Wissenschaften 
Vortheile;  jene  zog  es  von  der  leeren  Spekulation  ab  und  stellte  sie 
auf  den  Boden  der  Thatsachen,  dieser  gab  es  eine  tiefere  Auffassung 
der  Dinge  und  eine  allgemeine  wissenschaftliche  Grandlage  für  ihre 
Bestrebungen  und  Ziele. 


Zur  Zeit  des  Hippokrates. 

Die  medicinische  Schule  zu  Rhodos  scheint  nur  kurze  Zeit  be- 
standen zu  haben;  denn  die  späteren  Autoren  gedenken  derselben 
nicht  mehr.7 


1  Aristoteles:  de  generat.  I,  2.  —  Cicero:  Tusc.  quaest.  V,  39. 

2  Plinius:  Hist  nat.  XXVIII,  c.  29.  3  Gellius:  Noct.  Attic.  IV,  c.  13. 

4  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  p.  320—386.  —  Soranus:  Leben  des  Hippo- 
krates in  Ideler:  Physici  et  medici  Graeci  minores  (Berlin  1841)  T.  I,  p.  253. 
—  Aelianus:  var.  hist.  IV,  c.  20. 

5  Celsus:  Praef.  —  Soranus  a.  a.  0.  p.  252.  —  Boethius:  de  musica  I,  I. 

6  Aristoteles:  de  respir.  c.  8.  —  Celsus:  Praef. 

7  Galen  a.  a.  0.  T.  X,  p.  6. 


Zmv  Zeit  des  Hippokrates.  41 


Im  5.  Jahrhundert  v.  Chr.  genoss  die  medicinische  Schule  zu  Kroton 
den  grössten  Ruf,  was  sie  vielleicht  zum  Theil  ihren  Beziehungen  zu 
den  Pythagoreern  verdankte.  Die  zweite  Stelle  behauptete  die  Schule 
von  Kyrene,1  wo  auch  andere  Wissenschaften,  besonders  die  Mathematik 
und  die  Philosophie,  eifrig  gepflegt  wurden.2 

Nicht  viel  später  blühten  die  Asklepiaden-Schulen  zu  Knidos  und 
Kos.  Leider  ist  die  diesen  Gegenstand  behandelnde  Schrift3  des  Theo- 
pompos  verloren  gegangen;  doch  besitzen  wir  in  der  Hippokratischen 
Sammlung  eine  Quelle,  die  uns  über  die  Leistungen  und  einzelne  Ein- 
richtungen derselben  werthvolle  Aufschlüsse  giebt. 

Darnach  bestanden  zwischen  diesen  beiden  Schulen  wesentliche 
Verschiedenheiten  in  Bezug  auf  die  medicinischen  Theorien  und  die 
ärztlichen  Untersuchungs-  und  Behandlungsmethoden.  Die  Knidischen 
Ärzte  waren  gute  Beobachter  und  geschickte  Chirurgen,  zeigten  Interesse 
für  wissenschaftliche  Fragen  und  liebten  eine  möglichst  einfache  Be- 
handlung. 

Da  uns  aber  das  Werk,  in  welchem  ihre  Grundsätze  niedergelegt 
waren,  nämlich  die  Knidischen  Sentenzen,  nicht  überliefert  worden  ist, 
so  sind  wir,  wenn  wir  uns  eine  Ansicht  über  ihre  wissenschaftliche 
Bedeutung  bilden  wollen,  auf  die  wenigen  darauf  bezüglichen  Bemer- 
kungen angewiesen,  die  sich  in  anderen  Schriften  des  Alterthums  er- 
halten haben.  Sie  rühren  zum  Theil  von  Gegnern  der  Knidischen 
Schule  her  und  sind  in  Folge  dessen  weder  wohlwollend  noch  gerecht. 
So  wird  ihr  der  Vorwurf  gemacht,  dass  sie  sich  damit  begnüge,  die 
subjectiven  Klagen  der  Kranken  zu  erforschen,  und  darüber  die  genaue 
objective  Untersuchung  des  Körpers  vernachlässige.4 

Ferner  wurden  die  Knidischen  Ärzte  getadelt,  weil  sie  die  Krank- 
heiten nach  den  einzelnen  Körpertheilen  und  Organen  eintheilten  und 
zu  viele  Formen  derselben  unterschieden.  Sie  stellten  z.  B.  sieben  Arten 
der  Erkrankung  der  Galle,  zwölf  der  Harnblase,  vier  der  Nieren,  eben- 
soviel der  Strangurie,  drei  Formen  des  Tetanus,  vier  der  Gelbsucht, 
drei  der  Schwindsucht  und  mehrere  Formen  der  Bräune  auf,  indem 
sie  hauptsächlich  die  Entstehungsursache  als  Unterscheidungsmerkmal 
annahmen.5     Ihre  Schilderung  der  Krankheitserscheinungen  war  kurz 


1  Herodot  III,  c.  131. 

2  Vergl.  Houdart:  Histoire  de  la  medecine  grecque  depuis  E^culape  jusqua 
Hippocrate,  Paris  1856,  p.  128  u.  ff. 

3  Photii  Bibl.  p.  120b  ed.  Bekker. 

4  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  II,  p.  224. 

5  Hippokrates   a.  a.  0.   T.  VII,   p.  188   U.  ff.    —    Galkx   a.  a.  0.   T.   XV, 
p.  363—64. 


42  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

und  treffend,  wie  man  aus  dem  die  Nephritis  betreffenden  Fragment 
bei  Rufus  erkennt.1 

In  chronischen  Krankheiten  verordneten  sie  hauptsächlich  Milch, 
Molken  und  Abführmittel,  bei  der  Schwindsucht  empfahlen  sie  ausge- 
dehnte Spaziergänge.  Euryphon,  einer  der  bekanntesten  Ärzte  dieser 
Schule,  der  zur  Zeit  des  Hippokrates  lebte  und  sich  als  medicinischer 
Schriftsteller  auszeichnete,2  rieth  den  Schwindsüchtigen,  die  Milch  von 
Eselinnen  zu  trinken  oder  an  den  Brüsten  der  Frauen  zu  saugen;,3 
auch  soll  er  bei  diesem  Leiden  Moxen  angewendet  haben,  wie  aus  einer 
Scene  des  Komikers  Platon  hervorgeht.4  Ein  anderer  Vertreter  der 
Knidischen  Schule,  Ktesias,  lebte  lange  Zeit  als  Leibarzt  am  persischen 
Hofe  und  verfasste  historische  Arbeiten  über  Persien  und  Indien  und 
einige  medicinische  Schriften.5  Von  den  übrigen  Knidischen  Ärzten 
jener  Zeit  wissen  wir  wenig  mehr  als  ihre  Namen.6 

Die  Nachrichten  über  die  Schule  von  Knidos  sind  fast  noch  spär- 
licher als  die  Überreste,  welche  von  der  blühenden  Cultur  dieses  Ortes 
zurückgeblieben  sind. 

Mehr  begünstigt  vom  Schicksal  war  die  medicinische  Schule  zu 
Kos.7  Ihre  Verdienste  um  die  Heilkunde  wurden  von  Hippokrates, 
ihrem  berühmtesten  Vertreter,  dem  Andenken  der  Nachwelt  überliefert. 
Ihm  verdankten  es  die  Ärzte  von  Kos,  dass  ihre  Schriften  von  den 
Späteren  zur  Grundlage  des  medicinischen  Lehrgebäudes  gemacht  wur- 
den, und  dass  ihre  Schule  noch  heute  mit  Bewunderung  und  Ehrfurcht 

genannt  wird. 

,,Ein  Strahl  des  Ruhmes  fiel  auf  sie, 

Ein  Strahl,  der  ihr  Unsterblichkeit  verlieh.'- 

Hippokrates,  dessen  Lebenszeit  ungefähr  in  d.  J.  460 — 377  v.  Chr. 
fällt,  war  ein  Sprössling  einer  alten  Asklepiaden-Familie,  die  auf  der 
Insel  Kos  ihren  Sitz  hatte  und  ihren  Ursprung  bis  auf  Asklepios  und 
Herakles  zurück  verfolgte.  Sein  Grossvater  und  Vater  zeichneten  sich 
durch  ihre  ärztliche  Tüchtigkeit  aus.  Von  dem  letzteren  erhielt  Hippo- 
krates den  ersten  Unterricht  in  der  Heilkunde.     Zu  seiner  weiteren 


1  Oeuvres  de  Rufus  d'Ephese,  ed.  p.  Daremberg  et  Ruelle,  Paris  1879,  p.  159. 

2  Galen  a.  a.  0.  T.  VI,  p.  473.  XI,  795.  XV.  136.  XVII,  A.  886.  XIX,  721. 

3  Galen  a.  a.  0.  T.  VII,  701.  4  Galen  a.  a.  0.  T.  XVIII,  A.  149, 

5  Diodor  II,  c.  32.  —  Oeuvres  d'Oribase  ed.  p.  Bussemaker  et  Daremberg, 
Paris  1851—76,  T.  II,  p.  182.  —  Galen  a.  a.  0.  T.  XVIII,  A.  731. 

6  Houdart  a.  a.  0.  p.  255  u.  ff. 

7  Über  die  im  Auftrage  der  französischen  Kegierung  auf  der  Insel  Kos 
unternommenen  Ausgrabungen  und  ihre  Ergebnisse  berichtet  M.  Dubois:  De  Co 
insula,  Paris  1884. 


Zur  Zeit  des  Hippokrates.  43 

ärztlichen  Ausbildung  begab  er  sich  nach  Athen,  wo  er  mannigfache 
Anregung  und  Belehrung  empfing. 

Dort  strömte  damals  Alles  zusammen,  was  Griechenland  Grosses, 
Schönes  und  Edles  besass.  Es  war  das  Zeitalter  des  Peeikles,  jene 
Periode  äusseren  Glanzes,  bürgerlichen  Wohlstandes  und  künstlerischen 
Schaffens,  in  welcher  der  Geist  des  Hellenismus  unvergängliche  Triumphe 
feierte.  Neben  den  Philosophen  Sokeates  und  Platon  erschienen  die 
grossen  tragischen  Dichter  Eueipides  und  Sophokles,  der  Geschichts- 
schreiber Thukydides,  der  Bildhauer  Phidias  und  der  Architekt  Mne- 
sikles  und  erfüllten  die  Welt  mit  ihrem  Ruhm,  während  der  Lustspiel- 
dichter Aeistophanes  und  die  Lyriker  Jon  von  Chios  und  Dionysios 
die  Gemüther  zur  Freude  und  Heiterkeit  stimmten.  Athen  wurde 
durch  grossartige  Bauwerke  verschönert;  es  entstanden  die  Propyläen, 
der  Tempel  der  Athene  mit  seinem  reichen  Schmuck  an  Statuen  und 
Skulpturen,  die  prachtvolle  breite  Treppe,  die  zur  Akropolis  führte,  und 
das  Odeon;  damals  schuf  Phidias  den  olympischen  Zeus  und  die  beiden 
Statuen  der  Pallas  Athene. 

Derartige  Eindrücke  mussten  auf  die  geistige  Entwickelung  des 
Hippokrates  Einfluss  ausüben,  seinen  Ehrgeiz  anregen  und  seine  That- 
kraft  stählen.  Im  Verkehr  mit  hervorragenden  Ärzten  und  Philosophen 
suchte  er  die  Gelegenheit,  sich  in  seinem  Fach  zu  vervollkommnen; 
und  bald  gelang  es  ihm,  in  diesen  Kreisen  eine  angesehene  Stellung 
zu  erringen. 

Seine  glücklichen  Heilerfolge  machten  ihn  zu  einem  gesuchten 
Arzt,  dessen  Ruf  die  Grenzen  seines  Vaterlandes  überschritt.  Er  wurde 
bald  in  diese,  bald  in  jene  Stadt  berufen,  um  in  schwierigen  Krank- 
heitsfällen seinen  ärztlichen  Rath  zu  ertheilen. 

Sein  Ruhm  führte  ihm  eine  Menge  von  Schülern  zu,  welche  sich 
unter  seiner  Leitung  zu  tüchtigen  Ärzten  auszubilden  hofften.1  Unter 
ihnen  befanden  sich  seine  Söhne  Thessalos  und  Drakon,  sowie  sein 
Schwiegersohn  Polybos.  Thessalos  nahm,  wenn  sich  die  in  den  pseud- 
hippokratischen  Schriften  enthaltene,  aus  dem  Alterthum  stammende 
Rede  desselben  an  die  Athener 2  auf  Thatsachen  stützt,  in  seiner  Jugend 
als  Militärarzt  an  der  Expedition  des  Alkibiades  nach  Sicilien  Theil, 
lebte  später  als  Leibarzt  am  Hofe  des  Königs  Archelaos  von  Macedo- 
nien 3  und  galt  als  der  Verfasser  mehrerer  Schriften  der  Hippokratischen 
Sammlung.4     Dass  einige  Theile  derselben  von  Polybos  herrühren,  ist 

1  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  p.  420.  —  Soranus  a.  a.  0.  p.  254. 

2  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  404. 

3  Galen  a.  a.  0.  T.  XV,  p.  12. 

4  Galen  a.  a.  0.  T.  VII,  855.  890.  IX,  859.  XVII,  A.  796.  888. 


44  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


historisch  nachgewiesen;  denn  Akistoteles  citirt  ein  Fragment  über 
die  Vertheilung  der  Blutgefässe  aus  einem  Buch  des  Polybos,  welches 
sich  wörtlich  in  der  Hippokratischen  Schrift  über  die  menschliche 
Natur  findet. 1  Polybos  übte  in  Kos  die  ärztliche  Praxis  aus  und  er- 
theilte  später  an  der  Stelle  seines  Schwiegervaters  den  medicinischen 
Unterricht. 2 

tlber  das  Leben  des  Hippokkates  haben  sich  eine  Menge  von 
Sagen  und  Legenden  gebildet,  von  denen  jedoch  nur  wenige  wahr  sein 
dürften.  So  ist  die  Erzählung,  dass  er  die  Bibliothek  von  Knidos3 
oder  den  Asklepios-Tempel  seiner  Vaterstadt4  verbrannt  habe,  damit  er 
als  Erfinder  der  in  den  Inschriften  desselben  niedergelegten  medicini- 
schen Weisheit,  die  er  sich  angeeignet  habe,  angesehen  werde,  ganz 
sicherlich  erdichtet;  denn  sie  widerspricht  Allem,  was  über  den  Cha- 
rakter des  Hippokrates  bekannt  ist.  Auch  würde  er,  wenn  er  eine 
solche  Herostratos-That  begangen  hätte,  anstatt  der  allgemeinen  Ver- 
ehrung, die  ihm  im  Alterthum  gezollt  wurde,  nur  Verachtung  gefunden 
haben,  mochte  er  auch  noch  so  bedeutend  in  seinem  Fach  sein. 

Aus  den  Schriften,  welche  ihm  zugeschrieben  werden,  spricht  echte 
Menschenliebe,  aufrichtige  Religiosität  und  glühender  Patriotismus. 
Den  aufregenden  kleinlichen  Agitationen  der  politischen  oder  socialen 
Parteien  hielt  er  sich  fern  und  lebte  nur  seiner  Wissenschaft  und 
seinem  Beruf.  Von  ihm  konnten  die  Worte  gelten,  die  Euripides  dem 
Naturforscher  zuruft: 

,,0  selig  der  Mann, 

Der  prüfend  des  Wissens  Gebiete  durchmass, 
Den  nicht  zu  der  Bürger  verderblichen  Streit, 
Zu  des  Unrechts  That  nicht  ziehet  der  Sinn; 
Er  durchforschet  der  ewigen  Mutter  Natur 
Nie  alterndes  Weltall,  wie  es  entstand; 
Nie  haftet  im  Herzen  des  trefflichen  Mannes 
Ein  Gedanke  an  schändliche  Thaten." 

Die  letzten  Lebensjahre  verbrachte  Hippokkates  in  Thessalien;  er 
soll  auch  dort  gestorben  sein.  Noch  zur  Zeit  des  Soeanus5  wurde  in 
der  Gegend  zwischen  Gj^rton  und  Larissa  sein  Grabmal  gezeigt,  in 
dem  sich  ein  Bienenschwarm  niedergelassen  hatte,  dessen  Honig  als 
heilsam  gegen  die  Mundgeschwüre  der  Kinder  galt. 


1  Vergl.  Aristoteles:  Hist.  animal.  III,  c.  3.  —  Hippokkates  a.  a.  0.  T.  VI, 
p.  58,  sowie  Galen  a.  a.  0.  T.  IV,  653.  XV,  108.  175.  XVIII,  A.  8. 

2  Galen  a.  a.  0.  T.  XV,  11.  3  Soranus  a.  a.  0.  p.  253. 
4  Pliniüs:  Hist.  nat,  XXIX,  c.  1.  5  a.  a.  O.  p.  254. 


Zajlv  Zeit  des  Hippokmtes.  45 

Die  hohe  Bedeutung  des  Hippokrates  wurde  schon  von  seinen 
Zeitgenossen  erkannt;  Platon1  verglich  ihn  mit  Polykleitos  und 
Phidias,  und  Aristoteles2  nannte  ihn  den  „grossen."  Hippokrates. 

Seine  Schriften  wurden  mit  den  Werken  anderer  Mitglieder  seiner 
Familie  von  seinen  Nachkommen  aufbewahrt  und  dienten  ihnen  zum 
medicinischen  Unterricht  und  zur  Belehrung,  wenn  sie  in  ihrer  ärzt- 
lichen Thätigkeit  des  Käthes  bedurften.  Als  die  Ptolemäer  anfingen, 
Bibliotheken  zu  gründen,  und  zu  diesem  Zweck  die  Werke  der  be- 
rühmtesten Schriftsteller  ankaufen  Hessen,  gelangten  auch  Abschriften 
der  Hippokratischen  Sammlung  nach  Alexandria, 

Durch  die  Gewissenlosigkeit  gewinnsüchtiger  Spekulanten,  welche 
sich  die  Bücherliche  der  ägyptischen  Könige  zu  Nutze  machten,  ge- 
schah es,  dass  bei  dieser  Gelegenheit  manche  Schriften  berühmten  Autoren 
fälschlich  zugeschrieben  wurden,  um  ihren  Kaufpreis  zu  erhöhen.3  Die 
Bibliothekare,  welche  mit  der  Durchsicht  und  Prüfung  der  erworbenen 
Bücher  beauftragt  waren,  besassen  nicht  immer  die  Kenntnisse  und 
Mittel,  um  das  Echte  von  dem  Falschen  zu  unterscheiden  und  die 
Authenticität  der  Schriften  festzustellen.  Daher  kam  es,  dass  einige 
Werke  für  die  Produkte  von  Autoren  erklärt  wurden,  welche  denselben 
gänzlich  fern  standen. 

Auch  die  Hippokratischen  Schriften  hatten  dieses  Schicksal;  schon 
zu  jener  Zeit  gab  es  Bearbeitungen  derselben,  die  im  Text  wesentliche 
Verschiedenheiten  darboten.4  Darf  man  sich  da  wundern,  dass  in  die 
Sammlung,  welche  ursprünglich  nur  die  Werke  des  Hippokrates  und 
seiner  nächsten  Verwandten  umfasste,  auch  Schriften  aufgenommen 
wurden,  die  nicht  von  ihnen  herrührten?5 

Die  Abschreiber,  welche  die  in  den  Bibliotheken  vorhandenen 
Exemplare  zur  Vorlage  nahmen,  trugen  dazu  bei,  die  irrige  Annahme 
des  Hippokratischen  Ursprungs  einzelner  Schriften  zu  bestätigen  und 
zu  verallgemeinern,  und  kühne  Redakteure  vergrösserten  den  Irrthum 
durch  eigenmächtige  Zusätze,  Ergänzungen  und  Veränderungen  des 
Textes.6  Als  Galen  seine  Commentare  zu  den  Werken  des  Hippo- 
krates schrieb,  hatte  er  verschiedenartige  Recensionen  des  Wortlauts 
derselben  vor  sich;  er  befolgte  dabei,  wie  er  sagt,7  die  Methode,  stets 
diejenige  Lesart  als  die  richtige  anzuerkennen,  welche  die  älteste  war. 


1  Peotagoras  c.  3.  2  Polit.  VII,  4. 

3  Galen  a.  a.  0.  T.  XVI,  5.  4  Galen  a.  a.  0.  T.  XVII,  A.  606. 

5  Vergl.  den  Brief  des  hl.  Augustin  an  Faustus,  den  Manichäer,  L.  33,  6. 
(T.  VI,  p.  493.  Edit.  Froben  1556.) 

6  Galen  a.  a.  0.  T.  XV,  21.  XVII,  A.  795. 

7  Galen  a.  a.  0.  T.  XVII,  A.  1005. 


46  Der  medicinische   Unterricht  im  Älterthum. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  begreiflich,  dass  schon  im  Älter- 
thum Meinungsverschiedenheiten  darüber  herrschten,  welche  Schriften 
von  Hippokeates  verfasst  seien  oder  nicht.  Diese  Frage  hat  den 
Scharfsinn  der  Gelehrten  und  Kritiker  bis  in  die  neueste  Zeit  be- 
schäftigt, und  noch  in  den  letzten  Jahren,  haben  Littee,  Eemeeins, 
Kühlewein  u.  A.  den  Versuch  gemacht,  dieselbe  der  Lösung  näher 
zu  bringen. 

In  ihrer  heutigen  Gestalt  enthält  die  unter  dem  Namen  des 
Hippokeates  bekannte  Sammlung  medicinischer  Schriften  neben  einer 
grossen  Anzahl  von  Abhandlungen,  die  unzweifelhaft  von  ihm  und 
seinen  nächsten  Verwandten  verfasst  sind,  eine  nicht  geringe  Menge 
von  Arbeiten,  die  von  anderen  Autoren  herrühren.  Der  Zeit  des  Hippo- 
keates gehören  sie  fast  sämmtlich  an;  nur  wenige  Aufsätze  stammen 
aus  einer  früheren  oder  späteren  Periode. 

Sie  liefern  eine  vollständige  Übersicht  über  die  medicinischen 
Kenntnisse,  welche  man  im  Zeitalter  des  Hippokeates  besass,  und 
bringen  einige  wichtige  Mittheilungen  über  die  Einrichtungen  des  medi- 
cinischen Unterrichts  und  die  ärztlichen  Standesverhältnisse,  die  wir 
mit  Hilfe  anderer  literarischer  Notizen  zu  einem  abgerundeten  Bilde 
verarbeiten  wollen. 

Man  wusste  sehr  gut,  dass  die  Heilkunst  nicht  auf  mystischem 
Wege  überliefert,  sondern  erlernt  wird,  wie  jede  andere  Kunst,  und 
dass  man  sich  zu  diesem  Zweck  an  Lehrer  wenden  muss,  welche  die- 
selbe verstehen  und  auszuüben  wissen.1 

Der  ärztliche  Beruf  stand  Jedem  offen.  Das  medicinische  Studium 
begann  schon  in  früher  Jugend.2  Der  Unterricht  war  wahrscheinlich 
ähnlich  organisirt  wie  in  der  Platonischen  Akademie  und  anderen 
Schulen  der  Philosophen;  ein  Lehrer  übernahm  die  gesammte  ärztliche 
Erziehung  des  Schülers  und  machte  ihn  mit  allem  Wissenswerthen 
aus  den  verschiedenen  Zweigen  der  Heilkunst  bekannt. 

Als  Lehrer  durfte  Jeder  auftreten,  der  die  ärztliche  Praxis  aus- 
übte und  Kenntnisse  und  Erfahrungen  in  der  Heilkunde  gesammelt  zu 
haben  glaubte.  Er  forderte  von  dem  Schüler,  dessen  medicinische  Aus- 
bildung er  übernahm,  für  den  Unterricht  ein  Honorar,  welches  durch 
einen  Vertrag  festgestellt  wurde  und  manchmal  ziemlich  beträcht- 
lich war. 

Bei  der  Aufnahme  des  Schülers  wurde  darauf  geachtet,  dass  der- 
selbe gesund  war;  denn  der  Arzt  muss  gesund  aussehen,  weil  die  Leute 


1  Platon:  Jon.  c.  8.  Gorgias  c.  14.  Über  die  bürgerliche  Tüchtigkeit  (Anfang). 

2  Platon:  Der  Staat,  L.  III,  c.  16.  —   Hippokeates  a.  a.  0.  T.  IV,  p.  638. 


Zur  Zeit  des  Hippohr ates.  41 


dann  glauben,  „dass  er  auch  für  die  Gesundheit  Anderer  zu  sorgen 
vermag". 1  Der  Verfasser  der  Hippokratischen  Schrift  über  „den  Arzt" 
macht  bei  dieser  Gelegenheit  die  humoristische  Bemerkung,  dass  es 
für  den  Arzt  auch  vortheilhaft  ist,  „wohlbeleibt"  zu  sein;  leider  unter- 
lägst er  eine  Erklärung,  ob  sich  das  Vertrauen  der  Kranken  in  diesem 
Falle  darauf  stützte,  dass  man  die  Dicken  für  gutmüthiger  hielt  als 
die  Mageren  oder  ihnen  grössere  Einnahmen,  also  eine  ausgedehntere 
ärztliche  Praxis  zuschrieb. 

Ferner  wurde  den  Ärzten  empfohlen,  „sich  reinlich  zu  halten,  an- 
ständig gekleidet  zu  sein  und  Pomaden  zu  gebrauchen,  die  einen  an- 
genehmen, keinen  verdächtigen  Geruch  verbreiten".2  Manche  scheinen 
diesem  Rath  eine  zu  grosse  Wichtigkeit  beigelegt  zu  haben,  sodass 
man  sich  über  die  mit  „Stirnlocken  geschmückten,  pomadisirten ,  mit 
Ringen  überladenen"  Heilkünstler  lustig  machte.3 

„Als  kluger  Mann  wird  der  Arzt  sich  bemühen,  schweigsam  zu 
sein  und  im  Verkehr  den  feinen  Anstand  zu  bewahren.  Am  meisten 
wirken  gute  Sitten  auf  die  öffentliche  Meinung."  „"Wenn  er  unüber- 
legt und  voreilig  handelt,  wird  er  getadelt."  „In  seinen  Gesichtszügen 
liege  Nachdenken  ohne  Verdriesslichkeit;  er  darf  nicht  anmassend  und 
menschenfeindlich  erscheinen.  Wer  ins  Lachen  ausbricht  und  sehr 
ausgelassen  ist,  wird  für  ungebildet  gehalten.  Davor  muss  man  sich 
in  Acht  nehmen.  W^enn  sich  der  Arzt  richtig  zu  benehmen  weiss,  so 
ist  dies  viel  werth;  denn  seine  Beziehungen  zu  den  Kranken  sind  sehr 
intim.  Nicht  blos  diese  werden  den  Händen  des  Arztes  übergeben, 
sondern  er  trifft  bei  ihnen  auch  ihre  Frauen  und  Töchter  und  Werth- 
gegenstände  an.     Da  gilt  es,  sich  zu  beherrschen!"4  — 

In  einer  anderen  Hippokratischen  Schrift  heisst  es,  dass  sich  „der 
Arzt  eine  gewisse  Höflichkeit  aneignen  soll;  denn  ein  rauhes  Wesen 
missfällt  den  Gesunden  wie  den  Kranken".  Ferner  „soll  er  mit  den 
Leuten  nicht  zu  viel  schwätzen,  sondern  nur  das  Nothwendige,  was 
zur  Behandlung  gehört".  Gleich  dem  echten  Philosophen  muss  er 
trachten,  „frei  von  Geldgier,  zurückhaltend,  schamhaft  und  würdevoll 
zu  sein,  sich  Meinungen  und  Urtheile  zu  bilden,  ruhig,  umgänglich 
und  sittenrein  zu  erscheinen,  verständig  zu  reden,  Lebensweisheit  zu 
erwerben,  sich  vor  Lastern  und  Aberglauben  zu  hüten  und  durch 
Frömmigkeit  auszuzeichnen." 5 

Dem  Glauben  an  die  Macht  und  Güte  Gottes  giebt  der  Verfasser 


1  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  204.         2  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  p.  266. 
3  Aristophanes  :  Wolken,  v.  330.  4  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  206. 

5  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  232—234. 


48  Der  medizinische   Unterricht  im  Alterthum. 


des  Buches  „über  die  heilige  Krankheit"  an  einer  Stelle,  wo  er  von 
der  Meinung  spricht,  dass  die  Krankheiten  von  Gott  gesendet  würden, 
mit  den  schönen  Worten  Ausdruck:  „Ich  glaube  nicht,  dass  der  Körper 
des  Menschen  von  Gott,  das  Niedrigste  von  dem  Erhabensten  besudelt 
werden  kann.  Sollte  ihm  von  Jemandem  ein  Schmutz  oder  ein  Leid 
zugefügt  werden,  so  wird  ihn  die  Gottheit  gewiss  lieber  reinigen  und 
erheben,  als  erniedrigen;  denn  Gott  ist  es,  der  uns  von  den  schwersten 
Freveln  reinigt  und  den  Schmutz  von  uns  fortnimmt."1 

Neben  der  ethischen  Erziehung  des  Arztes  wurde  seine  wissen- 
schaftliche Ausbildung  nicht  vernachlässigt.  Man  ging  dabei  von  der 
richtigen  Anschauung  aus,  dass  er  zunächst  die  normalen  Verhältnisse 
des  Körpers  studieren  muss,2  da  die  Kenntniss  derselben  die  Grund- 
lage der  ganzen  medicinischen  Wissenschaft  bilde.3 

Die  Anatomie  wurde  hauptsächlich  an  thierischen  Körpern  erforscht. 
Die  Zergliederung  menschlicher  Leichname  wurde  durch  religiöse  und 
sociale  Vorurtheile  verhindert;  nur  wenn  es  sich  um  Feinde  und  Ver- 
räther des  Vaterlandes  oder  um  schwere  Verbrecher  handelte,  war  die 
Untersuchung  menschlicher  Körper  möglich. 

Derartige  Gelegenheiten  wurden  sicherlich  von  wissbegierigen 
Ärzten  in  einzelnen  Fällen  benutzt,  um  ihre  anatomischen  Kenntnisse 
zu  festigen  und  zu  erweitern.  Auch  die  Leichen  ausgesetzter  Kinder 
dürften  ihrer  Aufmerksamkeit  nicht  entgangen  sein.  Desgleichen  mag 
der  Einblick  in  den  Bau  des  Körpers,  welcher  bei  äusseren  Verletzungen 
gewährt  wird,  nicht  ohne  Ergebniss  geblieben  sein. 

Verschiedene  Erzählungen  deuten  darauf  hin,  dass  man  vor  der 
Eröffnung  und  Untersuchung  des  menschlichen  Körpers  nicht  zurück- 
schreckte.4 Wenn  dabei  auch  keine  wissenschaftlichen  Zwecke  verfolgt 
wurden,  so  wird  dadurch  doch  bewiesen,  dass  die  Möglichkeit,  anato- 
mische Untersuchungen  vorzunehmen,  gegeben  war. 

Dass  dies  wirklich  geschehen  ist,  ist  eine  Annahme,  die  durch 
einige  Bemerkungen  des  Aristoteles  und  der  Hippokratiker,  vor  Allem 
durch  den  Umfang  des  anatomischen  Wissens  jener  Zeit  grosse  Wahr- 
scheinlichkeit erhält.  Der  Verfasser  der  Hippokratischen  Schrift  „über 
die  Gelenke"  sagt  bei  Gelegenheit  der  Wlrbel-Luxation ,  dass  es  nur 
am  todten,  nicht  aber  am  lebenden  Menschen  gestattet  sei,  den  Leib 
aufzuschneiden,  um  mit  der  Hand  die  Verrenkung  zu  beseitigen,   und 


1  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  VI,  362. 

2  Vergl.  Platon:  Gesetze,  L.  XII,  c.  10. 

3  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  VI,  278.  —  Aristoteles:  Eth.  Nicom.  I,  13. 

4  Plinius:  Hist.  nat.  XI,  70.  —  Valer.  Maxim.  I,  8,  15.  —  Pausanias  IV, 
9.  —  Herodot  IX,  83. 


Z/ur  Zeit  des  Hippokrates.  49 


in  der  Abhandlung  „über  das  Herz"  ist  davon  die  Rede,  dass  dieses 
Organ  in  der  seit  alter  Zeit  üblichen  Weise  aus  dem  Körper  eines 
Verstorbenen  herausgenommen  wird,  um  es  zu  untersuchen.1  Eine 
Stelle  im  5.  Buche  der  Epidemien  spricht  sogar  von  einer  Sektion, 
welche  vorgenommen  wurde,  um  die  Ursache  und  Ausdehnung  einer 
Krankheit  festzustellen. 2 

Man  scheint  sich  im  Allgemeinen  auf  die  Eröffnung  der  Brust- 
und  Bauchhöhle  beschränkt  zu  haben,  deren  Organe  in  ihrer  Lagerung 
und  Form  ziemlich  richtig  beschrieben  werden.  Aeistoteles,  welcher 
bei  verschiedenen  Gelegenheiten  Vergleiche  zieht  zwischen  dem  Bau 
des  Körpers  des  Menschen  und  der  Thiere,  erklärt,  dass  die  inneren 
Organe  des  Menschen  noch  wenig  bekannt  seien.3 

Allerdings  waren  die  Kenntnisse,  welche  die  Ärzte  der  Hippo- 
kratischen  Zeit  vom  Gehirn,  den  Nerven,  Gefässen  und  selbst  von  den 
Muskeln  besassen,  dürftig  und  mangelhaft.  Dagegen  wurden  die  Knochen 
sehr  genau  beschrieben  und  dabei  sogar  jene  feinen  Details  hervor- 
gehoben, welche  nur  bei  einer  sorgfältigen  Betrachtung  auffallen.  Dass 
dabei  vorzugsweise  menschliche  Knochen  zur  Vorlage  dienten,  geht  aus 
der  Schilderung  mit  Sicherheit  hervor. 

Wenn  die  Untersuchung  menschlicher  Leichen  oder  Leichentheile 
nur  einzelnen  hervorragenden  Forschern  überlassen  blieb,  so  war  die 
Zergliederung  von  Thieren,  welche,  wie  Aeistoteles  mehrmals  betont, 
die  hauptsächlichste  Quelle  der  anatomischen  Wissenschaft  darstellte, 
Jedem  zugänglich.  Sie  bildete  wahrscheinlich  ein  wesentliches  Hilfs- 
mittel des  anatomischen  Unterrichts.  Vielleicht  wurden  dazu  auch 
künstliche  Nachahmungen  von  Skeletten  benutzt  nach  Art  desjenigen, 
welches  in  Delphi  als  Weihegeschenk  aufbewahrt  wurde  und  angeblich 
von  Hippokeates  herrührte?4  — 

Im  Allgemeinen  bestand  der  anatomische  Unterricht  darin,  dass 
der  Lehrer  seinen  Schülern  Das  mittheilte,  was  er  selbst  von  dem  Bau  und 
der  Zusammensetzung  des  menschlichen  Körpers  wusste  oder  glaubte. 
Ähnlich  stand  es  mit  der  Unterweisung  in  der  Physiologie,  welche  sich 
als  ein  lockeres  Gewebe  von  unbegründeten  Hypothesen  und  haltlosen 
Spekulationen  darstellte. 

Bei  weitem  grössere  Erfolge  versprach  die  Ausbildung  in  der 
Untersuchung  und  Behandlung  der  Kranken.  In  der  Kunst,  die  Er- 
scheinungen  der    Krankheiten   zu   beobachten   und    auf    naturgemässe 


1  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IV,  198.  VI,  16.  IX,  88.  —  Galen  II,  280. 

2  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  V,  224.  —  Aristoteles:  de  part.  anim.  IV,  2. 

3  Aristoteles:  Hist.  anim.  I,  16.  4  Pausanias  X,  2,  4. 
Puschmann  ,   Unterricht.  4 


50  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

Weise  zu  bekämpfen,  waren  die  Ärzte  der  alten  Griechen  Meister. 
Den  Klagen  der  Kranken,  ebenso  wie  den  Träumen  derselben,  schenkten 
sie  grosse  Aufmerksamkeit;  aber  das  Hauptgewicht  legten  sie  auf  die 
genaue  Untersuchung  des  leidenden  Körpers.  Dabei  wurde  die  Farbe 
und  Beschaffenheit  der  äusseren  Hautbedeckungen  und  Schleimhäute, 
der  Zustand  des  Unterleibs  und  die  Form  des  Brustkastens  beachtet, 
die  Temperatur  mit  der  aufgelegten  Hand  geprüft  und  die  Ausschei- 
dungen einer  sorgfältigen  Untersuchung  unterzogen. 

Durch  die  Betastung  vermochte  man  die  Grösse  der  Leber  und 
Milz,  ja  sogar  die  Formveränderungen  der  letzteren,  welche  im  Verlauf 
gewisser  Krankheiten  vorkommen,  zu  erkennen. 1  Die  Succussion  diente 
gleichzeitig  als  diagnostisches  und  als  therapeutisches  Mittel,  um  den 
Durchbruch  des  Eiters  in  die  Bronchien  zu  veranlassen. 

Man  kannte  das  pleuritische  Keibungsgeräusch  und  die  klein- 
blasigen Basseigeräusche,  die  mit  dem  Knarren  des  Leders  und  dem 
Kochen  des  Essigs  verglichen  werden.2  Bei  dieser  Gelegenheit  wird 
ausdrücklich  gesagt,  dass  das  Ohr  längere  Zeit  an  die  Brustwand  ge- 
legt wurde,  damit  man  diese  Geräusche  hören  konnte  (nollbv  xqövov 

TlQOGeXGOV    TO    OVQ    äxOVCtty    71QOQ    TU    7lXsVQCc). 

Die  Schilderungen  der  einzelnen  Krankheiten  und  ihres  Verlaufes, 
die  sich  meistens  an  Beobachtungen  aus  der  eigenen  Praxis  anschliessen, 
sind  vorzüglich.  Einzelne  Krankheitsbilder,  wie  diejenigen  der  Pneu- 
monie, der  Pleuritis  und  der  Phthisis,  die  man  für  ansteckend  hielt, 
sind  so  vollständig,  dass  ihnen  nur  wenig  hinzugefügt  werden  kann. 

Unter  den  Krankheitsursachen  wurde  neben  der  Erblichkeit  und 
den  Diätfehlern  dem  Klima,  der  Bodenbeschaffenheit,  dem  Trinkwasser, 
den  Jahreszeiten,  den  Winden  und  der  Temperatur  ein  grosser  Einfluss 
zugeschrieben. 

Auf  einer  hohen  Stufe  der  Entwickelung  stand  die  Prognostik. 
In  den  Hippokratischen  Schriften  werden  eine  Menge  von  Anzeichen 
erwähnt,  welche  einen  günstigen  oder  ungünstigen  Ausgang  der  Krank- 
heiten verkünden.  Die  Ärzte  schätzten  die  Kunst,  „aus  dem  Vergangenen 
und  Gegenwärtigen  das  Zukünftige  zu  erkennen",  sehr  hoch.  „Freilich 
ist  es  besser,"  schreibt  der  Verfasser  des  Prognostikon,  „die  Krankheiten 
zu  heilen,  als  ihren  Verlauf  voraus  zu  sagen;  aber  dies  ist  leider  nicht 
immer  möglich."3  An  anderen  Stellen  werden  die  Ärzte  zur  Vorsicht 
bei  der  Prognose  ermahnt  und  gewarnt,  mehr  zu  behaupten,  als  sie 
verantworten  können.4 


1  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  VII,  244.  —  Platon:  Timaeos,  c.  33. 

2  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  VJ,  24.  VII,  92.  94. 

3  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  II,   110.         4  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  6  u.  li'. 


Zur  Zeit  des  Hippokrates.  51 


Unvergänglichen  Ruhm  haben  sich  die  Hippokratiker  durch  ihre 
therapeutischen  Grundsätze  erworben,  welche  alle  Zeiten  überdauert 
haben.  Die  hohe  Bedeutung  der  Diätetik  wurde  von  ihnen  in  einer 
Weise  anerkannt,  wie  es  von  den  Späteren  nur  selten  geschehen  ist. 
In  einer  naturgemässen  Lebensweise,  in  Bädern,  Leibesübungen  und  einer 
gesunden  Nahrung  sahen  sie  das  beste  Mittel,  um  Krankheiten  zu  verhüten. 

Der  Arzt  wurde  als  der  Handlanger  der  Natur  betrachtet,  dem 
die  Aufgabe  zufällt,  deren  Heilbestreben  zu  befördern  oder  nachzuahmen. 
Zunächst  sollte  er  trachten,  wenn  möglich  die  Ursachen  des  Leidens 
zu  beseitigen,  bei  der  weiteren  Behandlung  die  individuellen  Verhält- 
nisse berücksichtigen  und  überhaupt  mehr  den  Kranken,  als  die  Krank- 
heit ins  Auge  fassen;  er  sollte  sich  bemühen,  zu  nützen  oder  wenigstens 
nicht  zu  schaden.1 

Die  Heilmittel  waren  vorzugsweise  diätetische;  aber  auch  von  den 
medicamentösen  werden  die  wichtigeren  Arzneistoffe  erwähnt,  welche 
heut  verordnet  werden.  Sie  wurden  in  der  Form  von  Übergiessungen, 
Umschlägen,  Einspritzungen,  Klystieren  oder  Getränken  gebraucht.  Zu 
Blutentziehungen  bediente  man  sich  des  Aderlasses,  der  Skarificationen 
und  der  Schröpfköpfe. 

Alle  diese  Dinge  wurden  den  Schülern  der  Heilkunde  nicht  blos 
im  theoretischen  Vortrage  gelehrt,  sondern  auch  am  Krankenbett  ge- 
zeigt und  erläutert.  Sie  begleiteten  zu  diesem  Zweck  entweder  den 
Lehrer  bei  seinen  ärztlichen  Besuchen2  oder  erhielten  in  dem  zur 
Wohnung  desselben  gehörigen  latreion  den  noth wendigen  Unterricht.3 

Das  letztere  war  eine  unseren  Privat-Ambulatorien  ähnliche  An- 
stalt, in  welcher  Kranke  ärztlichen  Rath  suchten,  Medicamente  em- 
pfingen, operirt  wurden  und  bisweilen  auch  längere  Zeit  wohnten  und 
verpflegt  wurden.4  Sie  sollte,  wie  es  in  der  Hippokratischen  Schrift 
„über  den  Arzt"  heisst,  so  gelegen  sein,  dass  sie  gegen  den  Wind  und 
das  grelle  Sonnenlicht  geschützt  war;  denn,  „wenn  dasselbe  für  den 
behandelnden  Arzt  auch  nicht  unangenehm  ist,  so  ist  es  doch  für  den 
Kranken  lästig  und  seinen  Augen  schädlich."  „Die  Sessel  müssen,  so 
viel  als  möglich,  von  gleicher  Höhe  sein.  Aus  Erz  sollen  nur  die  In- 
strumente gearbeitet  sein;  denn  andere  Geräthe  aus  diesem  Metall 
scheinen  ein  überflüssiger  Luxus  zu  sein.  Das  Trinkwasser,  welches 
den  Kranken  gereicht  wird,  muss  geniessbar  und  rein  sein." 


1  Hippokrates  a.  a.  O.  T.  I,  624.  II,  634.  V,  314.  VI,  92.  490. 

2  Platon:  Gorgias,  c.  11. 

3  Hippokrates  a.  a.  O.  T.  IX,  206  u.  ff.  —  Aeschines  in  Timarch.  124. 

4  Platon:  Gesetze  I,  14.    Staat  III,  13.  14.  —  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  II, 
604.  III,  272  u.  ff.  IX,  206  u.  ff.  —  Aristophanes :  Acham,  v.  1030. 

4* 


52  Der  medieinische   Unterricht  im  Alterthum. 

„Die  Handtücher  sollen  sauber  gehalten  werden  und  sich  weich 
anfühlen,  desgleichen  die  Leinwand,  welche  für  die  Augen  benutzt 
wird,  und  die  Wundschwämme;  denn  diese  Dinge  sind  für  die  Heilung 
von  grosser  Bedeutung.  Die  Instrumente  müssen  in  Bezug  auf  Grösse, 
Schwere  und  Feinheit  für  den  Zweck,  zu  welchem  sie  gebraucht  werden, 
geeignet  sein." 

In  den  Iatreien  waren  ausser  den  chirurgischen  Instrumenten  stets 
Schwämme,  reine  weiche  Leinwand,  Binden,  Verbandapparate,  Schröpf- 
köpfe, Büchsen,  Kly stierspritzen,  Becken,  Badewannen  u.  a.  m.  vor- 
handen. Das  Metall,  aus  welchem  diese  Gegenstände  verfertigt  waren, 
gab  dem  Ganzen  ein  sehr  glänzendes  Aussehen. 1 

Die  Zahl  der  Iatreien,  welche  ein  Ort  besass,  richtete  sich  nach 
dem  Bedürfniss.  „Wo  viele  Krankheiten  herrschen,"  schreibt  Platon,  2 
„da  giebt  es  auch  viele  Iatreien." 

Die  Ärzte  bereiteten  die  Arzneien  selbst  und  kauften  die  dazu 
erforderlichen  Substanzen  entweder  von  den  Wurzelsuchern  oder  sam- 
melten sie  wohl  auch  selbst.  Apotheken  in  unserem  Sinne  gab  es 
nicht;  denn  die  Pharmakopoen  befassten  sich  nicht  blos  mit  dem 
Handel  von  Droguen  und  Specialitäten,  sondern  verkauften  auch  andere 
Dinge,  z.  B.  Amulette,  Brenngläser  und  allerlei  Curiositäten. 3 

Dem  Arzt  standen  bei  der  Herstellung  der  Arzneien,  bei  der  Aus- 
führung von  Operationen,  überhaupt  bei  der  Kranken-Behandlung  seine 
Schüler  und  Gehilfen  zur  Seite.  Die  Assistenten  wurden,  wie  Platon 
sagt,  ebenfalls  Ärzte  genannt.  Es  wurden  zu  diesen  Diensten  auch 
Schüler  verwendet,  besonders  solche,  welche  bereits  einige  Kenntnisse 
in  der  Heilkunst  besassen,  „damit  sie,  wenn  es  nöthig  war,  selbst  Ver- 
ordnungen treffen  und  ohne  Bedenken  Arzneien  anwenden  konnten". 
Auch  fiel  ihnen  die  Aufgabe  zu,  das  Befinden  des  Kranken  zu  über- 
wachen, wenn  der  Arzt,  ihr  Lehrer,  abwesend  war,  „damit  ihm  nichts 
verborgen  blieb,  was  in  der  Zwischenzeit  geschah".  Der  Hippokratische 
Autor  warnt  dringend  davor,  „derartige  Aufträge  Unerfahrenen  zu  er- 
theilen;  denn  wenn  ein  Fehler  begangen  wird,  so  trifft  den  Arzt  der 
Vorwurf". 

Die  Schüler  wurden  auch  in  dem  Gebrauch  der  chirurgischen 
Instrumente  und  Apparate  unterwiesen. 4  „Bei  chirurgischen  Operationen 
müssen  die  Gehilfen,  wie  in  der  , Werkstätte  des  Arztes'  vorgeschrieben 
wird,  theils  den  Körpertheil,  an  welchem  die  Operation  vorgenommen 

1  Antiphanes  bei  Pollux:  Onom.  X,  46.  2  Platon:  Staat  III,   13. 

3  Vergl.  W.  A.  Becker:  Charikles  III,  S.  52,  Leipzig  1854,  2.  Aufl. 

4  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  216. 


Zmv  Zeit  des  Hippokrates.  53 

wird,  darreichen,  theils  den  übrigen  Körper  des  Kranken  festhalten. 
Dabei  sollen  sie  schweigen  und  nur  hören,  was  ihr  Meister  sagt." 

„Die  Instrumente  müssen  so  gelegt  werden,  dass  sie  bei  der  Arbeit 
nicht  hinderlich  und  doch  gleich  bei  der  Hand  sind,  wenn  sie  gebraucht 
werden.  Wenn  einer,  der  Schüler  sie  dem  Operateur  reicht,  so  soll  er 
dieselben  schon  im  Voraus  sich  zurecht  legen  und  bereit  halten  und 
dann  thun,  was  Jener  befiehlt." 

Dem  Operateur  werden  ausführliche  Vorschriften  über  seine  Klei- 
dung, Stellung,  und  die  Haltung  seiner  Arme  und  Füsse  während  der 
Operation  gegeben.  „Die  Nägel  dürfen  die  Fingerspitzen  nicht  über- 
ragen, aber  auch  nicht  zu  kurz  sein,  weil  man  die  Fingerspitzen  braucht. 
Man  muss  sich  darin  üben,  indem  man  den  Zeigefinger  gegen  den 
Daumen  bewegt,  die  ganze  Hand  flach  neigt  und  beide  Hände  gegen- 
einander drückt.  Sehr  günstig  für  den  Arzt  ist  es,  wenn  die  Zwischen- 
räume zwischen  den  Fingern  seiner  Hände  gross  sind  und  der  Daumen 
dem  Zeigefinger  entgegensteht."  „Er  muss  sich  im  Gebrauch  beider 
Hände  üben  und  mit  beiden  Händen  dieselben  Arbeiten  gleich  gut, 
schön,  rasch  und  ordentlich  ausführen,  ohne  dass  es  ihm  Mühen  und 
Beschwerden  macht."1 

Die  Ärzte  der  Hippokratischen  Zeit  übten  sowohl  die  Chirurgie 
als  die  innere  Medicin  aus.  Specialisten  gab  es,  wie  es  scheint,  noch 
nicht, 2  wenn  sich  auch  einzelne  Ärzte  vielleicht  vorzugsweise  mit  irgend 
einem  Theile  der  Heilkunde,  z.  B.  der  Behandlung  der  Augen  oder 
Zähne,  beschäftigten. 3 

Die  Chirurgie  befand  sich  in  einem  sehr  unvollkommenen  Zustande, 
was  sich  durch  die  Vernachlässigung  der  Anatomie  erklärt.  Man  kannte 
die  Unterbindung  der  Gefässe  zum  Zweck  der  Blutstillung  noch  nicht 
und  durfte  sich  daher  nicht  an  Operationen  wagen,  die,  wie  z.  B.  die 
Amputation  oder  die  Entfernung  grosser  Geschwülste,  mit  starken  Blut- 
verlusten verbunden  sind. 

Dagegen  wurden  die  Trepanation,  die  Operation  des  Empyems, 
die  Paracentese  des  Unterleibs  und  ähnliche  Operationen,  bei  denen 
die  Blutung  unbedeutend  ist,  ausgeführt.  Anerkennung  verdient  die 
Beschreibung  und  Behandlung  der  Wunden  und  Fisteln,  namentlich 
aber  der  Luxationen  und  Frakturen. 

Hier  mochten  die  Erfahrungen,  welche  man  in  den  Bingschulen 
machte,  wesentlich  beitragen,  um  einer  einfachen  und  naturgemässen 
Heilmethode  die  Wege  zu  ebnen.     Knochenbrüche  und  Verrenkungen, 


1  Platon:  Gesetze  IV,  10.  —  Hippokrates  a.  a.  O.  III,  278  u.  tf.  288.  IX,  242. 

2  Cicero:  de  oratore  III,  33.  3  Vgl.  Becker  a.  a.  0.  S.  59. 


54  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

welche  bei  den  gymnastischen  Übungen  vorkamen,  erforderten  sofortige 
Hilfe,  und  die  Lehrer,  welche  an  den  Ringschulen  angestellt  waren, 
mussten  sich  daher  einige  Kenntnisse  in  diesen  Dingen  erwerben,  wenn 
sie  zweckmässige  Anordnungen  treffen  wollten.  Waren  sie  mit  guter 
Beobachtungsgabe  und  praktischer  Geschicklichkeit  ausgestattet,  so 
wurden  sie  auch  auf  andere  Leiden  aufmerksam,  deren  Anblick  sich 
ihnen  darbot.  Durch  das  Studium  medicinischer  Schriften  und  den 
Verkehr  mit  Ärzten  versuchten  sie  dann,  eine  Erklärung  und  Bestäti- 
gung ihrer  eigenen  Erfahrungen  zu  erhalten. 

Einzelne  Gymnasten,  wie  Ikkos  und  Herodikos,  welcher,  wie 
Platon  schreibt,  die  Heilkunde  mit  der  Gymnastik  verband,  erwarben 
sich  durch  ihre  ärztliche  Tüchtigkeit  grossen  Ruf.  Sie  empfahlen  haupt- 
sächlich diätetische  Mittel,  Dampfbäder,  Salbungen,  Friktionen  und 
Körperbewegungen,  wie  den  Dauerlauf.1 

Gleichwohl  darf  man  die  Gymnasten  nicht  für  Ärzte  halten. 
Philostratos  bestimmt  in  seinem  Buch  „über  die  Gymnastik"  die 
Stellung  der  Gymnasten  und  ihr  Verhältniss  zur  Heilkunst  kurz  und 
treffend,  wenn  er  sagt,  „dass  ihre  Thätigkeit  darin  bestand,  die  Säfte 
auszuleeren,  die  überflüssigen  Stoffe  zu  entfernen,  harte  Theile  weich, 
andere  fett  zu  machen,  umzugestalten  oder  zu  erhitzen",  während  man 
bei  schweren  organischen  Erkrankungen,  bei  Verletzungen,  Augenleiden 
u.  dgl.  die  Hilfe  der  Ärzte  in  Anspruch  nahm.2 

Ziemlich  bedeutende  Kenntnisse  besassen  die  Hippokratischen  Ärzte 
in  der  Gynaekologie.  Sie  kannten  verschiedene  Formen  der  Lage- 
veränderung der  Gebärmutter,  den  Prolapsus  derselben  und  eine  grosse 
Anzahl  von  Krankheiten  der  weiblichen  Geschlechtstheile. 

Die  Geburtshilfe  lag  in  den  Händen  der  Hebammen,  und  nur  in 
schwierigen  Fällen  wurde  der  Arzt  zu  Rath  gezogen.  Man  vertraute 
dem  Wirken  der  Natur  und  griff  nur  dann  ein,  wenn  dem  Leben  der 
Mutter  oder  des  Kindes  Gefahr  drohte.  Bei  ungewöhnlicher  Kindeslage 
nahm  man  die  Wendung  vor;  vorgefallene  Extremitäten  wurden  reponirt 
oder,  wenn  dies  nicht  möglich  war,  vom  Körper  abgetrennt.3 

Über  das  Hebammen -Wesen  hat  Sokrates,  der  Sohn  der  „rüstigen 
und  würdevollen  Hebamme  Phaenarete",  wie  er  sich  mit  Stolz  nennt, 
einige  Mittheilungen  hinterlassen.  Frauen,  welche  sich  diesem  Beruf 
widmeten,  mussten  geboren  haben,  aber  bereits  in  dem  Alter  stehen, 


1  Platon:  Staat  III,  14.    Protagoras  c.  8.    Phaedros,  c.  1.  —  Hippokrates 
a.  a.  0.  T.  V,  302.  —  Plinius:  Hist.  nat.  XXIX,  2. 

2  Philostratos:  ne^i  yvfivaartjq,  Edit.  Daremberg,  Paris   185H. 

3  Hippokrates  a.  a.  O.  T.  VIII,   146  u.  ff.  480.  512. 


Zur  Zeit  des  Hippokrates.  55 


dass  sie  nicht  mehr  schwanger  wurden.  Sie  gaben  Auskunft,  ob  die 
Geburt  nahe  bevorstand,  suchten  dieselbe  durch  Arzneien  und  psychische 
Mittel  zu  befördern  und  zu  erleichtern  und  durchschnitten,  nachdem 
sie  erfolgt  war,  die  Nabelschnur. 

Wenn  sie  es  für  nöthig  hielten,  führten  sie  den  Abortus  herbei. 
Nebenbei  betrieben  sie  das  ohne  Zweifel  recht  einträgliche  Geschäft 
von  Heirathsvermittlerinnen ,  wozu  sie  sich  allerdings  aus  mehrfachen 
Gründen  eigneten.1 

Manche  Hebammen  nahmen,  wie  es  scheint,  schwangere  Frauen 
in  ihrer  Wohnung  auf.2 

Über  die  berufsmässige  Ausbildung  der  Hebammen  sind  uns  leider 
keine  Nachrichten  übermittelt  worden.  Wahrscheinlich  wurden  sie  von 
einer  älteren  Collegin,  die  auf  diesem  Felde  der  Thätigkeit  bereits  reich 
an  Erfahrungen  war,  in  den  Pflichten  der  Wehmutter  unterrichtet. 
Vielleicht  deutet  eine  auch  poetisch  bearbeitete  Sage,  dass  die  Ausübung 
der  Geburtshilfe  Anfangs  den  Männern  vorbehalten  war  und  erst  später 
den  Frauen  überlassen  wurde,  nachdem  sie  von  jenen  darin  unterwiesen 
worden  waren,  darauf  hin,  dass  die  Hebammen  ihre  medicinischen 
Kenntnisse  den  Ärzten  verdankten?3 

Die  ärztliche  Praxis  war  Jedem  gestattet,  der  das  dazu  erforder- 
liche Wissen  zu  besitzen  glaubte. 

Die  Ärzte  behandelten  die  Kranken  entweder,  wie  gesagt,  im 
Jatreion  oder  besuchten  sie  zu  diesem  Zweck  in  ihren  Behausungen. 
In  den  Hippokratischen  Schriften,  besonders  in  den  „Epidemien",  wer- 
den eine  Menge  von  Krankengeschichten  erzählt  und  dabei  stets  die 
Wohnungen  der  Patienten  angegeben. 

Die  Ärzte  nahmen  bei  diesen  Besuchen  einzelne  ihrer  Gehilfen 
und  Schüler  mit  sich  und  übertrugen  ihnen  manche  der  zur  Behand- 
lung gehörigen  Verrichtungen.  Deshalb  sollten  sie  „die  Arzneien  und 
ihre  Kräfte  und  Alles  was  darüber  geschrieben  worden  ist",  sowie  die 
Behandlungsmethoden  fest  im  Gedächtniss  haben,  bevor  sie  sich  zu  den 
Kranken  begaben.  „Beim  Eintritt  in  das  Krankenzimmer  setze  man 
sich  nieder,  zeige  ein  zurückhaltendes  würdiges  Benehmen,  spreche  nicht 
viel  und  lasse  sich  nicht  in  Verwirrung  bringen.  Dann  nähert  man 
sich  dem  Kranken,  schenkt  ihm  Aufmerksamkeit,  erwidert  seine  Ent- 
gegnungen, bewahrt  den  Ärgernissen  gegenüber  seine  Ruhe,  tadelt  Un- 
ordnungen und  sei  zu  Diensten  bereit." 


1  Platon:  Theaetetos,  c.  6. 

2  Aristophanes  :  Lysistratos  V,  746  u.  ff. 

3  Hyginus:  fabul.  274.  —  Welcher  a.  a.  0.  S.  195  u.  ff. 


56  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


Diese  Besuche  sollen  öfter  wiederholt  werden,  damit  etwaige  Irr- 
thümer  verbessert  werden  können.  Dabei  soll  der  Arzt  darauf  achten, 
wie  das  Schlafgemach  der  Kranken  gelegen  ist,  und  ob  sie  durch  Lärm 
oder  starke  Gerüche  gestört  werden,  und  dann  in  taktvoller,  aber  ent- 
schiedener Weise  darauf  dringen,  dass  derartige  Zustände  geändert 
werden. l 

In  schwierigen  Krankheitsfällen  fanden  Consultationen  mehrerer 
Ärzte  statt;  „denn  es  ist  keine  Schande",  steht  in  den  Hippokratischen 
Vorschriften,  „wenn  ein  Arzt,  der  bei  einem  Krankheitsfall  in  Verlegen- 
heit ist  und  aus  Mangel  an  Erfahrung  die  denselben  betreffenden  Ver- 
hältnisse nicht  durchschaut,  andere  Ärzte  hinzuruft,  damit  er  sich  mit 
ihnen  besprechen  und  Das,  was  zur  Erleichterung  des  Kranken  geschehen 
soll,  feststellen  kann."2 

Manche  Ärzte  übten  die  Praxis  nicht  blos  an  ihrem  Wohnort 
aus,  sondern  unternahmen  zu  diesem  Zweck  sogar  Reisen.  Sie  führten 
in  solchen  Fällen  Instrumente  mit  sich,  welche  schlichter  gearbeitet 
und  leichter  fortzuschaffen  waren.3 

Die  Ärzte  waren  berechtigt,  für  die  Dienste,  welche  sie  den  Kranken 
leisteten,  ein  Honorar  zu  fordern.4  Aber  der  Hippokratische  Autor 
ermahnt  sie,  „sich  dabei  nur  von  dem  Beweggrunde  leiten  zu  lassen, 
dass  sie  dadurch  die  Mittel  zu  ihrer  weiteren  Ausbildung  gewinnen. 
Auch  sollten  sie  dabei  nicht  zu  unmenschlich  vorgehen,  auf  das  Ver- 
mögen und  die  Verhältnisse  des  Kranken  Rücksicht  nehmen,  zuweilen 
auch  unentgeltlich  Hilfe  leisten  und  dabei  denken,  dass  das  Andenken 
an  eine  gute  That  mehr  werth  ist,  als  ein  augenblicklicher  Vortheil. 
Bietet  sich  die  Gelegenheit,  einem  Fremdling  oder  einem  Armen  zu 
helfen,  so  möge  man  dies  nicht  versäumen ;.  denn  wo  Liebe  zu  den 
Menschen,  dort  ist  auch  Liebe  zur  Wissenschaft."5 

Schon  in  sehr  früher  Zeit  begann  man,  Ärzte  auf  öffentliche  Kosten 
zu  besolden,  denen  die  Verpflichtung  auferlegt  wurde,  Kranke  unent- 
geltlich zu  behandeln.  Diese  Einrichtung  soll  bereits  vor  Charondas 
(7.  Jahrh.  v.  Chr.)  bestanden  haben.6  Jedenfalls  war  sie  alt,  und  der 
im  vorigen  Kapitel  genannte  Demokedes,  der,  bevor  er  zum  König 
Darius  kam,  als  städtischer  Arzt  in  Aegina  mit  der  Jahresbesoldung 
von  einem  Talent,  dann  in  Athen  mit  dem  Gehalt  von  hundert  Minen 


1  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  238  u.  ff. 

2  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  260.  262. 

3  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  236. 

4  Platon:  Staatsmann,  c.  37.  —  Aristoteles:  Staat  III,  16.  —   Xenophon: 
Meniorab.  I,  2,  54.  —  Plinius:  Hist.  nat.  XXIX,  2. 

5  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IX,  258.  6  Diodor  XII,  13. 


Zmt  Zeit  des  Hippokrates.  57 


angestellt  gewesen  und  hierauf  von  Polykrates  nach  Samos  berufen 
worden  war,  der  ihm  einen  Gehalt  von  zwei  Talenten  ausgesetzt  hatte, 
bietet  ein  bekanntes  Beispiel  dafür  aus  dem  6.  Jahrh.  v.  Chr.1 

Die  ch][M)<jievovTeq,  „die  Volksärzte",  wurden  von  den  Gemeinden 
gewählt.  In  Athen  mussten  sich  die  Candidaten,  welche  ein  derartiges 
Amt  zu  erlangen  wünschten,  in  der  öffentlichen  Versammlung  der 
Bürger  vorstellen,  über  ihren  Bildungsgang  Auskunft  geben,  und  den 
Meister  nennen,  von  welchem  sie  die  Heilkunst  erlernt  hatten.  Bei 
der  Wahl,  welche  wahrscheinlich  in  derselben  Weise  geschah  wie  die- 
jenige der  übrigen  öffentlichen  Beamten,  sollte  derjenige  Bewerber  als 
Sieger  hervorgehen,  welcher  der  Tüchtigste  war.2  Ähnlich  wie  in 
Athen  dürfte  man  auch  in  anderen  griechischen  Städten  bei  der  An- 
stellung von  Gemeindeärzten  vorgegangen  sein. 

Ihre  Besoldung  wurde  gleich  den  Ausgaben  für  Musik  und  andere 
öffentliche  Angelegenheiten  durch  städtische  Umlagen  aufgebracht;  in 
einer  zu  Delphi  aufgefundenen  Inschrift,  welche  freilich  aus  einer  etwas 
späteren  Zeit  (214 — 163  v.  Chr.)  stammt,  wird  erwähnt,  dass  Jemand 
von  dieser  Steuer  befreit  wurde.3 

Neben  dem  Gehalt,  dessen  Höhe  von  den  Leistungen  des  Arztes 
und  der  Grösse  und  dem  Reichthum  der  Stadt  abhing,  erhielten  die 
Gemeindeärzte  wahrscheinlich  ein  Iatreion,  welches  auf  öffentliche  Kosten 
eingerichtet  und  erhalten  wurde.4  Dort  empfingen  sie  die  Kranken^ 
welche  bei  ihnen  ärztliche  Hilfe  suchten,  und  ertheilten  medicinischen 
Unterricht. 

Die  Gemeindeärzte  waren  berufen,  bei  Epidemien  die  Anordnungen 
zu  treffen,  welche  zur  Beseitigung  derselben  erforderlich  erschienen, 
und  dienten  den  Behörden  überhaupt  als  Sachverständige.  Ihre  eigent- 
liche Aufgabe  bestand  jedoch  in  der  unentgeltlichen  Behandlung  der 
Kranken;  die  Gemeinden  wollten  sich  durch  die  Anstellung  eines  Arztes 
sichern,  dass  ihre  Bürger  im  Falle  der  Noth  jederzeit  ärztliche  Hilfe 
am  Ort  finden.  Obwohl  aus  den  überlieferten  Nachrichten  nicht  her- 
vorgeht, dass  die  unentgeltliche  Behandlung  sich  nur  auf  die  Armen 
beschränkte,  so  lässt  sich  doch  annehmen,  dass  dies  thatsächlich  der 
Fall  war,  und  die  Vermögenderen  sich  durch  Geschenke  für  die  Mühen 
des  Arztes  erkenntlich  zeigten. 


1  Herodot  III,  131. 

2  Xenophon:  Memorab.  IV,  2,  5.  —  Platon:  Gorgias,  c.  10.  70.  Staatsmann, 
c.  2.  37.     Vgl.  auch  Böckh:  Staatshaushalt  der  Athener  I,  c.  21. 

3  C.  Wescher  u.  P.  Foücart:  Inscriptions  ä  Delphes,  Paris  1863,  p.  20,  No.  16. 

4  Vergl.  Vercoutre:  La  medecine  publique  dans  l'antiquite  grecque  in  der 
Revue  archeologique,  Paris  1880,  ser.  II,  T.  39,  p.  332. 


58  Der  medicinische   Unterricht  im  Älterthum. 

Wie  die  Griechen  das  Institut  der  Gemeindeärzte  ins  Leben  riefen, 
so  sorgten  sie  auch  dafür,  dass  ihre  Truppen  mit  Ärzten  versehen 
wurden.  Schon  Lykukg  hielt  dies  für  noth wendig  uud  stellte  hei  dem 
Heere  der  Spartaner  Ärzte  an.1  Bei  den  „Zehntausend  Mann",  welche 
Xenophon  befehligte,  befanden  sich  acht  Feldärzte.2  Des  Hippokrates 
älterer  Sohn  Thessalos  soll  einige  Zeit  als  Militärarzt  thätig  gewesen 
sein,  und  der  Verfasser  der  Hippokratischen  Schrift  „über  den  Arzt" 
schreibt,  „dass  sich  der  Arzt  in  der  Chirurgie  am  besten  ausbildet, 
wenn  er  in  die  Dienste  des  Heeres  tritt";  er  bemerkt  bei  dieser  Ge- 
legenheit auch,  dass  es  bereits  eine  besondere  militärärztliche  Literatur 
gab,  in  welcher  die  im  Kriege  vorkommenden  Verletzungen  besprochen 
wurden.3  Das  Heer  Alexanders  von  Macedonien  wurde  von  den  be- 
rühmtesten Ärzten  jener  Zeit,  von  Philipp  von  Akarnanien,  Kalli- 
sthenes  aus  Olynth,  Glaukias  und  Alexippos  begleitet. 

Der  ärztliche  Stand  genoss  hohes  Ansehen.  Das  Wort  Homer's,4 
„dass  ein  einziger  Arzt  so  viel  werth  ist,  als  viele  andere  Männer  zu- 
sammen", galt  auch  später.  Ärzte,  welche  sich  durch  selbstlose  Opfer- 
willigkeit und  hervorragende  Leistungen  in  ihrem  Beruf  auszeichneten 
und  um  den  Staat  verdient  machten,  wurden  durch  Lobreden  und 
Ehren  belohnt. 

Auf  der  Bronze-Tafel  von  Idalion,  welche  aus  dem  5.  Jahrhundert 
v.  Chr.  stammt,  wird  der  Verdienste  des  Arztes  Onasilos  gedacht,  der 
mit  seinen  Schülern  im  Kriege  unentgeltlich  Dienste  leistete  und  dafür 
eine  Dotation  und  Steuerfreiheit  erhielt.6  Die  Athener  sollen  den 
Hippokrates  mit  Ehren  überhäuft,  auf  Staatskosten  in  die  Eleusinischen 
Mysterien  eingeweiht,  mit  einer  goldenen  Krone  gekrönt  und  noch  auf 
andere  Weise  ausgezeichnet  haben.6 

Der  Arzt  Euenor,  welcher,  wie  in  einer  Inschrift  vom  Jahre  388 
v.  Chr.  mitgetheilt  wird,7  „vom  Volk  mit  der  Überwachung  der  Be- 
reitung der  Arzneien  für  das  öffentliche  Iatreion  betraut,  für  diesen 
Zweck  eine  grosse  Summe  aus  eigenen  Mitteln  geopfert  und  viele 
Kranke  unentgeltlich  behandelt  hatte,"  wurde  dafür  öffentlich  belobt 
und  durch  einen  Kranz  und  die  Verleihung   des  Bürgerrechts   geehrt. 


1  Xenophon:  Der  Lakedämon.  Staat,  c.  13. 

2  Xenophon:  Cyropaed.  I,  6,   15.     Anabasis  III,  4,  30. 

3  Hippokrates  a.  a.  O.  T.  IX,  220.  4  Ilias  XI,  514. 

^  M.  Schmidt.    Die  Inschrift  von  Idalion,  Jena  1875,  und  Sammlung  Kyp- 
rischer  Inschriften,  1876,  Taf.  I. 

6  Hippokrates  a.  a.  O.  T.   IX,  402. 

7  Rhangabe:   Antiquites  hellen.,   1855,  T.   II,  No.  378.  —  E.  Cürtius  in  d. 
Gott,  gelehrt.  Anz.  1856,  No.  196  u.  ff. 


Zur  Zeit  des  Hippokrates.  59 


In  der  Inschrift  von  Karpathos,  welche  Wescher1  dem  Ende  des 
4.  oder  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  v.  Chr.  zuschreibt,  heisst  es,  dass 
„in  Anbetracht,  dass  Menokritos,  der  Sohn  des  Metrodoros  aus 
Samos,  in  seiner  Stellung  als  Gemeindearzt  sich  durch  mehr  als  zwanzig 
Jahre  mit  Eifer  und  Hingebung  der  Behandlung  der  Kranken  gewidmet 
und  sowohl  in  seinem  ärztlichen  Beruf  als  in  seinem  sonstigen  Leben 
makellos  benommen  habe,  dass  er  ferner  bei  einer  Seuche,  welche  in 
der  Stadt  ausbrach  und  nicht  blos  die  Einheimischen,  sondern  auch 
die  Fremden  in  grosse  Gefahr  brachte,  durch  seine  Aufopferung  und 
Sparsamkeit  am  meisten  dazu  beigetragen  hat,  die  Gesundheit  wieder 
herzustellen,  dass  er  endlich,  anstatt  Bezahlung  zu  fordern,  lieber  in 
Dürftigkeit  gelebt,  viele  Bürger  aus  gefährlichen  Krankheiten  errettet, 
ohne  eine  Belohnung  dafür  anzunehmen,  wie  es  recht  und  billig  ge- 
wesen wäre,  und  niemals  gezögert  hat,  die  Kranken,  welche  in  der 
Umgebung  der  Stadt  wohnten,  zu  besuchen,  das  Volk  von  Brykontion 
beschlossen  habe,  ihn  zu  beloben  und  mit  einem  goldenen  Kranze  zu 
schmücken  und  diesen  Beschluss  bei  den  Asklepios-Spielen  öffentlich 
verkünden  zu  lassen,  ihm  ferner  das  Recht  zu  ertheilen,  an  allen 
Festen  der  Brykontier  Theil  zu  nehmen  und  ihm  im  Neptun-Tempel 
eine  Marmorsäule  zu  errichten,  auf  welcher  dieser  ihn  ehrende  Volks- 
beschluss  niedergeschrieben  werden  soll." 

Einige  Autoren2  haben,  gestützt  auf  einzelne  Aussprüche  doctri- 
närer  Philosophen,  geglaubt,  dass  die  ärztliche  Thätigkeit,  weil  sie  für 
Geld  ausgeübt  und  zu  den  sogenannten  „bürgerlichen  Geweiben",  wie 
man  8i][iiovQyia  übersetzen  kann,  gerechnet  wurde,  von  den  Griechen 
nicht  in  gebührender  Weise  geschätzt  wurde.  Aber  Platon  sagt  aus- 
drücklich, dass  „der  echte  Arzt  einen  höheren  Zweck  verfolgt,  als  Geld 
zu  erwerben",  und  dass  die  Heilkunst,  wenn  sie  auch  für  Lohn  aus- 
geübt wird,  doch  keine  lohndienerische  sei.3  Obgleich  er  in  den  „Ge- 
setzen" schreibt,  dass  die  Gesundheit  des  Körpers  nicht  zu  den  Gütern 
gehöre,  welche  für  den  Staat  in  erster  Linie  von  Werth  sind,  so  er- 
klärt er  es  doch  für  eine  Pflicht  desselben,  dafür  zu  sorgen,  dass  tüchtige 
Ärzte  herangebildet  werden.4 

Das  Maass  der  Achtung,  welche  dem  Arzt  gezollt  wurde,  richtete 
sich,  wie  zu  allen  Zeiten,  nach  der  Individualität  desselben,  seinen 
Kenntnissen,  seiner  Geistes-  und  Herzensbildung  und  seiner  äusseren 


1  Kevue  archeolog.,  Paris  1863,  T.  VIII,  p.  469. 

2  Vergl.  K.  F.  Hermann:  Lehrbuch  der  griech.  Privat-Alterthümer,  Heidel- 
berg 1852,  III,  S.  192. 

3  Platon:  Staat  I,  c.  15.  18. 

4  Platon:  Gesetze  I,  6.    Staat  III,  16. 


60  Der  medicinisohe   Unterricht  im  Alterthum. 


Lebensstellung.  Ein  Sklave,  welcher  als  Gehilfe  eines  Arztes  bedeutende 
Kenntnisse  erwarb  und  eine  segensreiche  Wirksamkeit  entfaltete,  blieb 
gleichwohl  stets  in  einer  untergeordneten  abhängigen  Stellung.  Es 
scheint  übrigens,  dass  die  aus  der  Klasse  der  Sklaven  hervorgegangenen 
Ärzte  nicht  die  gleiche  fachmännische  Bildung  besassen,  wie  die  übrigen 
Ärzte,  sondern  ihre  Kunst  rein  empirisch  erlernten.  „Wollte  man  mit 
einem  solchen  Manne  philosophische  Reden  über  den  Bau  und  die 
Funktionen  des  Körpers  wechseln,"  bemerkt  Platon,1  so  würde  er 
gewiss  herzlich  lachen  und  ausrufen:  Du  Thor!  Du  bist  kein  Arzt, 
sondern  ein  Schulmeister  Deiner  Kranken."  — 

Bei  der  Beurtheilung  des  Arztes  diente  seine  wissenschaftliche 
Bildung  sicherlich  als  ein  wichtiger  Gesichtspunkt.  Unwissende  und 
ungeschickte  Ärzte  wurden  belacht  und  verspottet  und  der  öffentlichen 
Verachtung  preisgegeben.  Im  Hippokratischen  „Gesetz"  werden  sie 
mit  den  Figuranten  auf  dem  Theater  verglichen,  „welche  aussehen,  ge- 
kleidet sind  und  Macken  tragen,  wie  die  Schauspieler,  es  aber  nur 
dem  Namen  nach,  nicht  in  Wirklichkeit  sind."2  An  einer  anderen 
Stelle  heisst  es,  dass  es  den  unfähigen  Ärzten  wie  schlechten  Steuer- 
männern geht.  „Wenn  dieselben  bei  ruhigem  Meere  das  Steuer  lenken 
und  dabei  Fehler  begehen,  so  wird  es  von  Niemandem  bemerkt;  wenn 
aber  widriger  Wind  und  heftige  Stürme  hausen,  und  dabei  das  Schiff 
zu  Grunde  gerichtet  wird,  dann  ist  Jeder  überzeugt,  dass  ihre  Un- 
wissenheit und  ihre  Fehler  daran  Schuld  sind.  Ebenso  verhält  es  sich 
auch  mit  den  schlechten  Ärzten,  welche  unter  ihren  Berufsgenossen 
die  Mehrzahl  bilden.  Wenn  sie  leichtere  Krankheitsfälle  behandeln, 
bei  denen  man  die  grössten  Fehler  begehen  kann,  ohne  dass  nach- 
theilige Folgen  eintreten,  so  wird  ihre  Unfähigkeit  den  Laien  nicht 
auffallen;  wenn  sie  dagegen  zu  einer  schweren,  heftigen  und  gefähr- 
lichen Krankheit  gerufen  werden,  dann  wird  es  Jedem  klar  werden, 
dass  sie  nichts  verstehen  und  falsche  Anordnungen  treffen."3  „Die 
Unwissenheit  ist  ein  schlechter  Schatz  und  ein  trauriges  Kleinod,  ein 
steter  Traum,  ein  Phantasiebild,  bietet  keine  Freude  und  keine  Heiter- 
keit und  ist  die  Amme  der  Feigheit  und  Verwegenheit."4 

Die  Hippokratischen  Ärzte  ermahnten  ihre  Schüler  zum  Fleiss  und 
angestrengten  Studien.  „Die  Kunst  ist  lang,  das  Leben  kurz",  sagten 
sie  ihnen,5  und  „die  Heilkunst  lässt  sich  nicht  rasch  erlernen".6 
Dringend  empfahlen  sie  die  Lektüre  der  medicinischen  Schriften   und 


1  Platon:  Gesetze  IV,  10.  IX,  4.  2  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IV,  638. 

3  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  I,  590.  4  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IV,  640. 

5  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  IV,  458.        6  Hippokrates  a.  a.  O.  T.  VI,  330. 


In  Alexandria.  61 


gedachten  dabei  auch  mit  rührender  Pietät  der  redlichen,  wenn  auch 
nicht  immer  glücklichen  Versuche,  welche  die  Ärzte  früherer  Zeiten 
unternommen  hatten,  um  die  Heilkunde  zu  erforschen  und  zu  einer 
Wissenschaft  zu  gestalten.1 

Die  innigen  Beziehungen  der  Medicin  zur  Philosophie,  welche  vor 
Hippokeates  bestanden,  wurden  durch  ihn  und  seine  Schule  noch 
mehr  befestigt  und  dauerten  auch  später  fort.  „Philosophie  und  Me- 
dicin bedürfen  sich  gegenseitig  und  sind  auf  einander  angewiesen. 
Der  Arzt,  welcher  zugleich  ein  Philosoph  ist,  steht  auf  der  höchsten 
Stufe",  schreibt  ein  Hippokratischer  Autor.2  Sokrates  und  Platon 
hatten  unter  ihren  Schülern  viele  Ärzte  und  Studierende  der  Medicin, 
wie  sich  aus  den  zahlreichen,  auf  die  Heilkunde  bezüglichen  Hinweisen 
und  Vergleichen  folgern  lässt,  und  Akistoteles,  der  Begründer  der 
vergleichenden  Anatomie  und  bahnbrechende  Geist  auf  allen  Gebieten 
der  naturwissenschaftlichen  Forschung,  schrieb:3  „Die  meisten  Natur- 
forscher suchen  in  der  Medicin  den  Abschluss  ihrer  Studien,  und  von 
den  Ärzten  beginnen  Diejenigen,  welche  ihre  Kunst  etwas  wissen- 
schaftlicher treiben,  das  Studium  der  Heilkunde  mit  den  Naturwissen- 
schaften." 


In  Alexandria. 

Im  raschen  Siegeslauf  hatte  der  jugendliche  Alexander  von  Mace- 
donien  einen  grossen  Theil  Europas,  Afrikas  und  Asiens  durchmessen. 
Die  thracischen  und  illyrischen  Stämme  bis  zur  Donau,  Griechenland, 
Phönizien,  Palästina,  Ägypten,  Persien,  ganz  Kleinasien  waren  seinem 
Scepter  unterworfen;  selbst  mehrere  indische  Staaten  erkannten  seine 
Oberhoheit  an,  und  aus  Italien  und  von  den  Kelten  kamen  Gesandt- 
schaften, welche  bei  ihm  Schutz  und  Freundschaft  suchten.  Schon 
durfte  seine  von  Buhmbegier  geschwellte  Brust  sich  mit  dem  kühnen 
Plane  einer  Weltmonarchie  tragen,  welche  alle  Länder  der  Erde,  soweit 
sie  damals  bekannt  war,  umfassen  sollte. 

Da  machte  sein  plötzlicher  Tod  allen  diesen  Hoffnungen  ein  jähes 
Ende.  Er  starb  im  Alter  von  33  Jahren,  voll  Jugendkraft,  im  Besitz 
einer  Macht,  wie  sie  vor  ihm  noch  kein  Sterblicher  ausgeübt  hatte. 
Die  Tragik  dieses  Todes  ist  fast  noch  grossartiger  als  seine  beispiellosen 


1  Hippokrates  a.  a.  0.  T.  I,  596.  2  HippokAtes  a.  a.  O.  T.  IX,  232. 

3  Aristoteles:  Über  Sinnesenipfindung,  c.  1. 


62  Der  medicinische   Unterricht  im  Alter thum. 

Siege  und  Erfolge.  Sein  Reich  zerfiel  ebenso  rasch  als  es  aufgebaut 
worden  war.  Ehrgeizige  Generäle  theilten  sich  in  seine  Erbschaft  und 
machten  sich  zu  Herren  der  einzelnen  Provinzen. 

Aber  nur  seine  politischen  Schöpfungen  wurden  zerstört.  Was 
durch  ihn  oder  unter  ihm  für  die  Cultur,  für  die  Wissenschaft  ge- 
schehen war,  blieb  erhalten  und  trug  reiche  Früchte. 

Die  Berührung,  in  welche  der  griechische  Geist  mit  den  Völkern 
des  Orients  gekommen  war,  übte  nach  beiden  Seiten  eine  nachhaltige 
Wirkung  aus.  Jene  lernten  Wissenschaften  und  Künste  kennen,  die 
bei  ihnen  noch  wenig  oder  gar  nicht  entwickelt  waren,  und  erhielten 
die  Gelegenheit,  sich  griechische  Bildung  und  Feinheit  der  Sitten  an- 
zueignen, während  die  Griechen  von  den  engherzigen  Anschauungen 
befreit  wurden,  die,  als  Produkte  ihrer  kleinen  politischen  Gemeinwesen 
erklärlich,  zur  Selbstüberhebung  und  Verachtung  des  Fremden  geführt 
hatten.  Der  Hellenismus  nahm  dadurch  jene  kosmopolitische  Färbung 
an,  welche  die  Bestrebungen  der  späteren  Griechen  kennzeichnet. 

Kunst  und  Wissenschaft  erfuhr  durch  die  Bekanntschaft  mit  fremden 
Völkern  manche  Anregung  und  Förderung,  namentlich  die  Naturwissen- 
schaften, die  Zoologie,  Botanik,  vergleichende  Anatomie  und  Arznei- 
mittellehre, denen  aus  den  der  Forschung  erschlossenen  Ländern  ein 
reiches  Material  zufloss,  welches  von  fachmännischer  Hand  geordnet 
und  gesichtet,  eine  systematische  Bearbeitung  dieser  Disciplinen  ermög- 
lichte und  begünstigte. 

Alexanders  politische  Zukunftsträume  wurden  bald  vergessen.  Nur 
sein  Plan,  Ägypten  zum  Centrum,  das  nach  ihm  genannte  Alexandria 
zur  Hauptstadt  des  von  ihm  erstrebten  Weltreiches  zu  machen,  trat 
ins  Leben,  wenn  auch  in  einer  ganz  anderen  Form,  als  er  es  sich  ge- 
dacht hatte.  Ägypten  wurde  zwar  nicht  der  politische,  aber  der  geistige 
Mittelpunkt  der  Völker  und  übernahm  die  Rolle  des  Vermittlers  der 
Cultur,  zu  welcher  es  durch  seine  Lage  sowohl  als  durch  seine  Jahr- 
tausende alte  Geschichte  ganz  besonders  berufen  war.  Das  Fürsten- 
geschlecht der  Ptolemäer,  welchem  nach  Alexanders  Tode  die  Herrschaft 
über  das  Nilland  zufiel,  war  griechischer  Abstammung  und  blieb  auch 
in  seiner  neuen  Heimath  dem  griechischen  Wesen  treu.  Während 
Ägyptens  Handel  und  Industrie  blühte,  und  seine  Schiffe  bis  Madera 
gegen  Westen  und  bis  nach  Persien  und  Indien  im  Osten  fuhren, 
wurden  zu  Hause  Künste  und  Wissenschaften  gepflegt  und  griechische 
Bildung  verbreitet. 

Die  Ptolemäer  zogen  Künstler  und  Gelehrte  aus  Griechenland  an 
ihren  Hof,  Hessen  prachtvolle  Bauwerke  errichten,  schmückten  ihre 
Residenz  mit  den  Sehenswürdigkeiten  der  ganzen  Welt  und  unterstützten 


In  Alexandria.  63 


die  Wissenschaften  mit  königlicher  Freigebigkeit.  Sie  legten  botanische 
und  zoologische  Gärten  an,  gründeten  Bibliotheken  und  schufen  das 
Museum  und  das  Serapeum, l  zwei  Anstalten,  in  denen  Gelehrte  Woh- 
nung und  Unterhalt  erhielten,  damit  sie  sich  den  wissenschaftlichen 
Studien  widmen  konnten,  ohne  für  die  täglichen  Bedürfnisse  des  Lebens 
sorgen  zu  müssen.  Sie  enthielten  ausser  den  Wohn-  und  Schlafgemächern 
grosse  Speisesäle  und  gedeckte,  mit  Gemälden  geschmückte  Säulengänge, 
an  welche  sich  offene  Höfe  und  schattige  Gartenanlagen  anschlössen.2 
Die  grossen  Bibliotheken,  bei  deren  Gründung  und  Vermehrung  keine 
Geldmittel  gescheut  wurden,  standen  damit  in  einem  räumlichen  und 
wahrscheinlich  auch  organischen  Zusammenhange.  Die  oberste  Aufsicht 
über  die  Anstalten  führten  hohe  Geistliche,  die  in  Gemeinschaft  mit 
den  Vorstehern  der  einzelnen  Abtheilungen,  in  welche  sich  die  Gelehrten 
nach  ihren  Wissenschaften  schieden,  auch  die  Verwaltung  leiteten. 

Das  Museum  lag  in  unmittelbarer  Nähe  des  königlichen  Schlosses 
und  wurde  sogar  als  ein  zugehöriger  Theil  desselben  betrachtet.  Das 
Serapeum  befand  sich  in  einem  entfernteren  Theile  der  Stadt  und  stand 
an  Bedeutung  jenem  nach.  Auch  die  Bibliothek  des  letzteren  war 
nicht  so  reich,  als  diejenige  des  Museums.  Die  hohen  lichten  Säle  der 
Bibliotheken,  in  denen  die  Bildsäulen  berühmter  Gelehrten  aufgestellt 
wurden,  bargen  viele  Tausende  von  Papyros-Rollen,  welche  die  hervor- 
ragendsten Werke,  namentlich  der  hellenischen  Literatur  enthielten. 
Über  die  Zahl  derselben  gehen  die  Angaben  weit  auseinander;  während 
z.  B.  Ammianus  und  Gellius  die  Menge  der  Papyros-Rollen  der  Mu- 
seumsbibliothek auf  700,000  schätzten,  berichtet  Epiphanius,  dass  sie 
nur  54,800  betrug.3 

Die  Gelehrten,  welche  im  Museum  und  Serapeum  wohnten,  bildeten 
Vereinigungen  nach  der  Art  unserer  Akademien.  Im  freundschaftlichen 
Verkehr  und  in  freien  Vorträgen  erörterten  sie  die  wissenschaftlichen 
Fragen,  zu  denen  sie  durch  die  Lektüre  oder  durch  die  Beobachtung 
angeregt  wurden.  Ihre  fürstlichen  Gönner  nahmen  an  diesen  Unter- 
suchungen regen  Antheil  und  ermunterten  sie  dabei  durch  hohe  Jahres- 
gehälter und  reiche  Geschenke.  Sie  beschäftigten  sich  mit  der  Gram- 
matik, der  Textkritik  der  in  den  Bibliotheken  aufgenommenen  Schriften, 
der  Dichtkunst,  Musik,  Geschichte,  Philosophie,  Mathematik,  Mechanik, 
Astronomie,   Geographie,    den   Natur  Wissenschaften   und    der    Medicin. 


1  G.  Parthey:  Das  Alexandrinische  Museum,  Berlin  1838.  —  Fr.  Ritschl: 
Die  Alexandrinischen  Bibliotheken,  Breslau  1838. 

2  Strabon  XVII,   1. 

3  Ammian  XXII,  16.  —    A.  Gellius:  Noct.  Attic.  VI.   17.   —  Vergl.  ferner 
P abtue y  a.  a.  0.  S.  77. 


(34  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


Aber  diese  „Priester  der  Musen",  wie  sie  Theokbit  nennt,1  lebten 
nicht  blos  der  Forschung;  sie  widmeten  ihre  Zeit  auch  dem  Unterricht. 
Schüler  aus  allen  Gegenden,  wo  Griechen  lebten,  kamen  nach  Alexan- 
dria, um  dort  die  höchste  Ausbildung  für  ihren  künftigen  Beruf  zu 
erlangen.  Das  Museum  und  das  Serapeum  waren  somit  nicht  blos 
Akademien,  sondern  auch  Hochschulen. 

Über  das  Verhältniss  derselben  zu  den  Anstalten,  welche  dem 
medicinischen  Unterricht  dienten,  fehlen  leider  die  Nachrichten.  Es 
entstanden  dort  zwei  medicinische  Schulen,  welche  nach  ihren  Stiftern 
unterschieden  wurden,  aber  in  ihren  wissenschaftlichen  Grundsätzen 
nur  wenig  von  einander  abwichen.  Beide  fussten  auf  den  Lehren  der 
Schulen  von  Kos  und  Knidos  und  machten  deren  wissenschaftliche 
Errungenschaften  zur  Grundlage  ihrer  eigenen  Forschungen. 

An  der  Spitze  der  einen  stand  Hebophilcs,2  an  derjenigen  der 
anderen  Eeasisteatos. 

Der  Erstere  wurde  um  das  Jahr  300  v.  Chr.  zu  Chalcedon  geboren. 
Seine  Lehrer  waren  Cheysippos  von  Knidos,  welcher  sich  dadurch  be- 
kannt machte,  dass  er  die  zu  häufige  Anwendung  des  Aderlasses  und 
der  drastischen  Arzneien  verwarf  und  durch  das  Binden  der  Glieder 
zu  ersetzen  suchte,  und  bei  der  Wassersucht  Bäder  im  Schwitzkasten 
empfahl,3  und  Peaxagoeas  von  Kos,  einer  der  fruchtbarsten  medici- 
nischen Schriftsteller  jener  Zeit.4  Heeophilos  erlangte  eine  solche 
Bedeutung,  dass  nicht  weniger  als  vier  Ärzte  des  Alterthums  sich  der 
Aufgabe  unterzogen,  sein  Leben  zu  schildern. 

Seine  hervorragendsten  Verdienste  liegen  auf  dem  Gebiet  der 
Anatomie.  Er  war  bemüht,  eine  wesentliche  Lücke  der  Hippokratischen 
Lehren  zu  ergänzen,  indem  er  das  Nervensystem  einer  sorgfältigen 
Untersuchung  unterzog.  Dabei  gelang  es  ihm,  einiges  Licht  auf  diesen 
bis  dahin  nur  wenig  erforschten  Theil  der  Anatomie  zu  werfen.  Er 
beschrieb  die  Hirnhäute,  die  Plexus  chorioidei,  die  venösen  Sinus,  das 
nach  ihm  genannte  Torcular  Herophili,  die  Hirnhöhlen  und  die  Schreib- 
feder, welche  ihm  diese  Bezeichnung  verdankt,  verfolgte  den  Ursprung 
der  Nerven  aus  dem  Gehirn  und  Bückenmark  und  erkannte,  dass  die 
Nerven  die  Empfindung  und  Bewegung  vermitteln. 5  Ferner  beschäftigte 
er  sich  mit  dem  Bau  des  Auges,  beschrieb  den  Glaskörper,  die  Chorioidea 


1  Idyll.  XVII,  v.  112. 

2  K.  F.  H.  Marx:  Herophilus,  Karlsruhe  und  Baden  1838. 

3  Galen  a.  a.  0.  T.  IV,  495.   XI,  148.  230.  252. 

4  C.  G.  Kühn:  De  Praxagora  Coo.  progr.,  Lips.  1823. 

5  Galen  a.  a.  O.  T.  II,  712.  731.    III,  708.    XIX,  330.    —   Rüfüs   a.  a.  O. 
153.  —  Plutarch:  de  placit.  philos.  IV,  22. 


In  Alexandria.  65 


und  die  netzartige  Haut,  machte  auf  die  eigenthümliche  Form  des 
Duodenums  aufmerksam  und  beobachtete,  dass  die  Häute  der  Arterien 
dicker  sind,  als  diejenigen  der  Venen. 1  Wie  genau  er  bei  seinen  ana- 
tomischen Untersuchungen  war,  zeigt  seine  Beobachtung,  dass  die  linke 
Vena  spermatica  in  einzelnen  Fällen  aus  der  Vena  renalis  entspringt.2 

Er  unterschied  verschiedene  Formen  des  Pulses  nach  der  Grösse, 
Stärke,  Raschheit  und  Regelmässigkeit  desselben  und  legte  damit  den 
Grund  zur  wissenschaftlichen  Behandlung  der  Pulslehre.3  Auch  als 
Chirurg  hatte  Heeophilos  beachtenswerthe  Erfahrungen,  wie  aus  seiner 
Bemerkung  hervorgeht,  dass  sich  die  Luxationen  des  Oberschenkels 
wegen  der  damit  verbundenen  Zerreissung  des  Ligamentum  teres  nach 
der  Wiedereinrichtung  wiederholen.4  Er  kannte  den  Verschluss  des 
Muttermundes  bei  vorhandener  Schwangerschaft5  und  verfasste  ein 
Lehrbuch  der  Geburtshilfe,  in  welcher  er  auch  Unterricht  ertheilt  haben 
soll.  Im  Allgemeinen  huldigte  er  in  der  praktischen  Heilkunde  dem 
Grundsatz,  dass  man  sich  dabei  nicht  auf  theoretische  Erklärungen 
verlassen  dürfe,  sondern  die  Erfahrung  allein  als  massgebend  betrachten 
soll.6  Stobaeus  erzählt,  dass  Heeophilos  auf  die  Frage,  wer  der  beste 
Arzt  sei,  geantwortet  habe:  „Derjenige,  welcher  das  Mögliche  von  dem 
Unmöglichen  zu  unterscheiden  weiss."7 

Sein  Zeitgenosse  Eeasisteatos  ,  der  sich  mit  ihm  in  den  Ruhm 
der  Alexandrinischen  Schule  theilte,  stammte  von  Julis  auf  der  Insel 
Keos.  Er  war  ebenfalls  von  Cheysippos  von  Knidos  unterrichtet  wor- 
den; ausserdem  wird  Meteodoeos,  der  Schwiegersohn  des  Aeistoteles, 
unter  seinen  Lehrern  genannt.  Eeasisteatos  lebte  eine  Zeitlang  am 
Hofe  des  Königs  Seleukos  Nikator,  wo  er  durch  eine  merkwürdige 
Diagnose  Aufsehen  erregte.  Antiochos,  der  Sohn  des  Königs,  war 
nämlich  erkrankt,  und  Eeasisteatos  erkannte  aus  der  Aufregung,  die 
er  beim  Anblick  seiner  Stiefmutter  an  den  Tag  legte,  dass  sein  Leiden 
durch  die  hoffnungslose  Liebe  zu  derselben  hervorgerufen  worden  war. 8 
Galen  machte  zu  dieser  Erzählung  die  humoristische  Bemerkung,  dass 
er  sich  nicht  erklären  könne,  worauf  sich  diese  Diagnose  stützte;  denn 
„einen  Puls  der  Verliebten  gebe  es  ja  doch  nicht."9 


1  Rufus  a.  a.  0.  p.  154.  171.  —  Galen  a.  a.  0.  T.  II,  572.  780.  III,  445. 

2  Galen  a.  a.  0.  II,  895. 

3  Galen  a.  a.  0.  T.  VIII,  592.  956.  959.  —  Plinius:  Hist.  nat.  XI,  88.  XXIX,  5. 

4  Obibasius  a.  a.  0.  IV,  233.  5  Galen  a.  a.  0.  T.  II,  150. 

6  Plinius:  Hist.  nat.  XXVI,  6. 

7  Stobaeus:  Florileg.  Ed.  A.  Meinecke  IV,  2. 

8  Plutaech:  Vita  Demetrii,  c.  38.  —  Plinius:  Hist.  nat.  XXIX,  3. 

9  Galen  a.  a.  0.  T.  XIV,  631. 

Puschmann,   Unterricht.  5 


66  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

Wie  Heeophilos,  so  beschäftigte  sich  auch  Eeasisteatos  eifrig 
mit  anatomischen  Untersuchungen.  Er  beschrieb  die  Hirnwindungen 
und  leitete  von  der  grösseren  Mannigfaltigkeit  derselben  beim  Menschen 
dessen  geistige  Präponderanz  über  die  Thiere  her.1  Die  motorischen 
Nerven  unterschied  er  von  den  sensibelen;  aber  er  glaubte,  dass  die 
ersteren  aus  den  Häuten,  die  letzteren  aus  der  Substanz  des  Gehirns 
hervorgehen. 2  Er  kannte  die  Bronchial- Arterien,  nahm  anostomotische 
Verbindungen  zwischen  Arterien  und  Yenen  an  und  beschrieb  die 
Herzklappen  so  genau,  dass  Galen  dazu  nichts  weiter  hinzuzufügen 
wusste. 3  Am  merkwürdigsten  ist  seine  Beobachtung  der  Chylusgefässe, 4 
deren  Bedeutung  er  natürlich  nicht  zu  erkennen  oder  auch  nur  zu 
ahnen  vermochte;  dazu  gebrauchte  die  Wissenschaft  noch  nahezu  zwei 
Jahrtausende. 

Gebührende  Anerkennung  verdienen  auch  seine  Versuche,  die  Ver- 
dauung und  andere  physiologische  Vorgänge  auf  mechanische  Weise 
zu  erklären  und  die  Ursachen  der  Krankheiten  durch  pathologische 
Sektionen  zu  erforschen.5 

Heeophilos  und  Eeasisteatos  wurden  bei  ihren  anatomischen 
Untersuchungen  ohne  Zweifel  durch  manche  werthvolle  Vorarbeiten 
unterstützt,  wie  das  Werk  des  Diokles  von  Karystus,  dessen  Galen6 
rühmend  gedenkt;  aber  hauptsächlich  verdankten  sie  ihre  ausserordent- 
lichen Erfolge  dem  Umstände,  dass  ihnen  die  ägyptischen  Könige 
menschliche  Leichen  in  beliebiger  Menge  zu  anatomischen  Sektionen 
zur  Verfügung  stellten.  Sie  erhielten  sogar  die  Gelegenheit,  lebende 
Menschen  zu  öffnen,  indem  ihnen  zu  diesem  Zweck  Verbrecher  aus  den 
Gefängnissen  übergeben  wurden,  „damit  sie  die  Lage,  Farbe,  Gestalt, 
Grösse,  Anordnung,  Härte,  Weichheit,  Glätte,  äussere  Fläche,  sowie  die 
Vorsprünge  und  Einbiegungen  der  einzelnen  Organe  während  des  Lebens 
studieren  konnten."  Sie  entschuldigten  diese  Vivisektionen  damit,  „dass 
es  erlaubt  sein  müsse,  das  Leben  einiger  weniger  Verbrecher  zu  opfern, 
wenn  daraus  ein  dauernder  Nutzen  für  das  Leben  und  die  Gesundheit 
der  vielen  ehrbaren  Menschen  entspringt".  Ihre  Gegner  erwiderten 
ihnen  darauf,  „dass  dies  nicht  blos  grausam  sei  und  die  Heilkunst, 
welche  zum  Segen  der  Menschen,  nicht  aber  zu  ihrer  Qual  dienen  solle, 


1  Galen  a.  a.  0.  T.  III,  673.     2  Rupus  a.  a.  0.  p.  185. 
8  Galen  a.  a.  0.  III,  465.  492.  V,  166. 

4  Galen  a.  a.  0.  T.  II,  649.  IV,  718. 

5  Galen  a.  a.  0.  T.  XIX,  373.  —  Celsus:  Prooem.  u.  III,  21.  —  Dioskorides, 
Ed.  C.  Sprengel,  Lips.  1830,  T.  II,  p.  72.  —  Caelius  Aurelianus  :  de  chron.  III, 
s.   V,  10. 

6  Galen  a.  a.  0.  T.  II,  282.  716. 


In  Alexandria.  67 


entwürdige,  sondern  auch  überflüssig  sei,  da  die  Leute,  nachdem  ihnen 
die  Bauchhöhle  aufgeschnitten,  das  Zwerchfell  durchtrennt  und  die 
Brusthöhle  eröffnet  worden,  sterben,  bevor  noch  wissenschaftliche  Unter- 
suchungen am  Lebenden  möglich  waren".1 

Die  Schüler  und  Nachfolger  dieser  beiden  Koryphäen  der  Alexan- 
drinischen  Schule  verliessen  später  leider  die  exakte  Forschungsmethode, 
welche  Jene  zu  beachtenswerthen  Erfolgen  geführt  hatte,  und  betraten 
den  bequemen  mühelosen  Weg  der  Spekulation.  Nur  Wenige,  wie 
der  Anatom  Eudemos,  die  Ärzte  Bacchios  von  Tanagra  und  Mantias, 
der  sich  um  die  Arzneimittellehre  verdient  machte,  die  Geburtshelfer 
Demeteios  von  Apamea  und  Andreas  von  Karystus,  welche  die  die 
Geburt  erschwerenden  Zustände  und  Verhältnisse  in  übersichtlicher  und 
ziemlich  vollständiger  Weise  zusammenstellten,  der  Chirurg  Philoxenos 
u.  A.  machten  davon  eine  rühmliche  Ausnahme.  Einzelne  verpflanzten 
ihre  Lehren  nach  anderen  Orten  und  gründeten  zu  ihrer  Pflege  medi- 
cinische  Schulen,  wie  Zeuxis  zu  Laodicea  und  Hikesios  zu  Smyrna. 

Die  geringen  Unterschiede  zwischen  den  Herophileern  und  Erasi- 
strateern  verwischten  sich  mehr  und  mehr;  die  ersteren  zeichneten  sich 
nur  dadurch  von  den  letzteren  aus,  dass  sie  conservativer  waren  und 
den  Schriften  der  Hippokratiker,  die  sie  mit  Commentaren  versahen, 
eine  grössere  Autorität  zugestanden.  Aber  beide  Schulen  waren  dem 
Untergange  geweiht,  als  sie  aufhörten,  durch  eigene  Forschungen  den 
Fortschritt  der  Wissenschaft  anzustreben,  und  sich  darauf  beschränkten, 
an  den  überlieferten  Theorien  festzuhalten,  die  allmälig  zum  todten 
Formalismus  erstarrten.  „Freilich  war  es  bequemer,"  schreibt  Plinius, 
„in  den  Schulen  zu  sitzen  und  ruhig  zuzuhören,  als  draussen  die  Ein- 
öden zu  durchwandern  und  jeden  Tag  andere  Pflanzen  zu  suchen."2 

Es  war  unter  solchen  Umständen  kein  Wunder,  dass  die  denkenden 
Ärzte  sich  von  diesen  Dogmatikern  abwandten  und  einem  Empirismus 
huldigten,  der  zwar  nicht  die  Lösung  der  physiologischen  und  patho- 
logischen Probleme  versprach,  aber  den  Bedürfnissen  der  ärztlichen 
Praxis  Genüge  leistete.  Unter  dem  Einfluss  des  Skepticismus,  welcher 
von  Pyeehon  angeregt  und  von  Kaeneades,  dem  Stifter  der  soge- 
nannten dritten  Platonischen  Akademie,  weiter  ausgebildet,  zur  herr- 
schenden Weltanschauung  geworden  war,  kamen  sie  zu  der  Meinung, 
dass  es  in  dieser  W^elt  der  Erscheinungen  eine  Gewissheit,  ein  Wissen 
überhaupt  nicht  gebe  und  die  Wahrscheinlichkeit  das  höchste  Ziel  sei, 
welches  der  menschliche  Verstand  erreichen  könne.    Damit  verzichteten 


1  Celsus:  Prooeui.  —  Tertullian:  de  anima,  c.  10. 

2  Plinius:  Hist.  nat.  XXVI,  6. 


68  Der  medicinische   Unterricht  im  Alter thum. 

sie  auf  die  schönsten  Hoffnungen,  welche  das  wissenschaftliche  Streben 
belebt  hatten,  und  erklärten  dasselbe  für  aussichtslos. 

Die  Empiriker  vernachlässigten  die  Anatomie  und  Physiologie, 
weil  sie  deren  Studium  für  überflüssig  und  fruchtlos  ansahen;  sie  küm- 
merten sich  auch  nicht  um  das  Wesen  der  Krankheiten,  sondern  be- 
gnügten sich  damit,  ihre  Erscheinungen  zu  beobachten,  ihre  nächsten 
Ursachen  zu  erforschen  und  die  Heilmittel  aufzufinden  und  zu  prüfen, 
welche  zur  Beseitigung  der  Leiden  geeignet  erschienen.  Dabei  Hessen 
sie  sich  hauptsächlich  von  der  Erfahrung  leiten,  und  zwar  zogen  sie 
nicht  blos  die  eigenen  Beobachtungen  zu  Rath,  sondern  auch  diejenigen, 
welche  von  Anderen  gemacht  worden  waren  und  sich  im  Verlauf  der 
Zeit  zur  Geschichte  umgestaltet  hatten.  Bei  neuen  unbekannten  Er- 
scheinungen, über  welche  noch  keine  Erfahrungen  vorlagen,  wurde  ein 
Verfahren  eingeschlagen,  welches  in  ähnlichen  Fällen  erfolgreich  ge- 
wesen war.  Indem  man  somit  den  Schluss  per  analogiam  als  dritte 
Erkenntnissquelle  der  Erfahrung  und  der  Geschichte  anreihte,  vervoll- 
ständigte man  den  sogenannten  empirischen  Dreifuss. 

Die  Empiriker  schenkten  ihre  Aufmerksamkeit  vorzugsweise  der 
praktischen  Heilkunde.  Die  Arzneimittellehre,  die  Geburtshilfe  und 
Chirurgie  wurden  von  ihnen  wesentlich  gefördert.  Die  Technik  des 
Steinschnitts,  wie  sie  Celsits  schildert,  ist  ihr  Verdienst.  Auch  die 
ersten  Versuche  zur  Lithothrypsie,  welche  von  Ammonios  unternommen 
wurden,  stammen  aus  dieser  Zeit.1  Die  Arzneimittellehre  wurde  mit 
den  Werken  eines  Nikandee  und  Keatevas  bereichert,  der  sein  mit 
colorirten  Abbildungen  ausgestattetes  Buch  über  die  medicinischen  Kräfte 
dem  Könige  Mithridates  von  Pontos  widmete.  Ausserdem  gehörten 
Philinos,  ein  Schüler  des  Heeophilos,  Seeapion,  Glaukias  und 
Heeaklides  aus  Tarent  zu  den  bekannten  Vertretern  der  empirischen 
Sekte. 2 

Während  die  Wissenschaften  in  Alexandria  blühten  und  gediehen, 
wurden  ihnen  auch  an  anderen  Orten  Wohnstätten  bereitet,  in  denen 
sie  sich  heimisch  machen  sollten.  Die  Fürsten  geschlechter  der  Seleu- 
ciden  in  Syrien  und  der  Attaler  in  Pergamon  wetteiferten  mit  den 
Ptolemäern  in  der  Pflege  der  geistigen  Güter.  Die  Attaler  gründeten 
sowohl  Elementarschulen,3  als  Anstalten  für  Gelehrte  gleich  jenen  in 
Alexandria,  und  ihre  Bibliothek  war  nächst  denen  des  Museums  und 


1  Celsus  VII,  26. 

2  Ch.  Daremberg  (Histoire  des  sciences  medicales,  Paris  1870,  T.  I,  p.  159) 
hat  die  Anhänger  dieser,  sowie  diejenigen  der  beiden  dogmatischen  Schulen  zu 
Alexandria  in  chronologischer  Reihenfolge  neben  einander  gestellt. 

3  Th.  Mommsen:  Köm.  Geschichte,  Bd.  V,  S.  334. 


In  Alexandria.  69 


Serapeums  die  berühmteste  des  Alterthums.  Die  Coneurrenz,  welche 
sie  den  Ptolemäern  beim  Ankauf  von  Handschriften  machten,  führte 
zum  Verbot  der  Ausfuhr  der  Papyros-Blätter  aus  Ägypten,  welches 
die  indirekte  Veranlassung  zur  Erfindung  eines  dauerhaften  Schreib- 
materials gab,  nämlich  des  Pergaments,  dessen  Name  von  Pergamon 
stammt.  Die  dortigen  Schulen  gelangten  ebenfalls  zu  hohem  Ansehen 
und  brachten  Gelehrte  hervor,  die  sich  in  der  Textkritik,  Mathematik, 
namentlich  aber  in  der  Medicin  auszeichneten.  Als  Mittelpunkt  ärzt- 
licher Bildung  nahm  Pergamon  lange  Zeit  eine  hervorragende  Stellung 
ein;  noch  Galen,  einer  der  grössten  Ärzte  und  Forscher,  die  jemals 
gelebt  haben,  erhielt  hier  den  ersten  medicinischen  Unterricht. 

Einen  traurigen  Ruhm  in  der  Geschichte  der  medicinischen  Wissen- 
schaft erwarb  sich  der  letzte  König  von  Pergamon,  der  geisteskranke 
Attalus  III.  In  beständiger  Furcht,  von  seinen  Feinden  vergiftet  zu 
werden,  verlangte  er,  dass  wirksame  Gegenmittel  gegen  Vergiftungen 
aufgefunden  würden,  und  liess  zu  diesem  Zweck  Versuche  anstellen  an 
Verbrechern  und  anderen  Leuten,  deren  er  sich  entledigen  wollte. 
„Mit  eigener  Hand  baute  er  giftige  Gewächse,  Bilsenkraut,  Niesswurz, 
Schierling,  Sturmhut  und  Doryknion  in  den  königlichen  Gärten  und 
sammelte  ihre  Säfte  und  Früchte,  um  ihre  Kräfte  zu  studieren." 1  Der 
gleichen  Liebhaberei  huldigte  ein  anderer  dieser  königlichen  Giftmischer, 
der  mordlustige  Mithridates  von  Pontos,  welcher  täglich  Gift  nahm, 
um  sich  auf  diese  Weise  allmälig  an  den  Genuss  desselben  zu  ge- 
wöhnen. Diese  Versuche,  obgleich  im  Dienste  des  Wahnsinns  und  der 
Grausamkeit  unternommen,  hatten  für  die  Heilkunde  den  Vortheil,  dass 
sie  zu  einer  sorgfältigen  Prüfung  der  Eigenschaften  und  Kräfte  man- 
cher Arzneistoffe  führten,  und  die  Mittheilungen  der  medicinischen 
Autoren  späterer  Zeiten  bezeugen,  dass  sie  nicht  ohne  Ergebniss  blieben. 

Die  wohlwollende  Protektion,  welche  den  Wissenschaften  von  den 
ersten  Ptolemäern  zu  Theil  geworden  war,  verwandelte  sich  später  in 
Gleichgültigkeit  und  Misstrauen  und  machte  zuletzt  dem  Gefühl  des 
Hasses  und  der  Verachtung  Platz.  Der  siebente  Ptolemäer  vertrieb  die 
Gelehrten  aus  Alexandria  und  liess  die  gelehrten  Anstalten  schliessen. 

Als  sie  später  wieder  eröffnet  wurden,  trugen  sie  das  Zeichen  des 
Verfalls  an  sich.  Die  Stellen  der  Gelehrten  des  Museums  wurden  jetzt 
nach  der  Laune  des  Fürsten  besetzt  und  dienten  als  Belohnung  für 
Schmeicheleien  und  niedrige  Dienste.  Für  diese  Zeit  mochte  das 
beissende  Wort  des  Phliasiers  Timon  berechtigt  sein,  „dass  das  Museum 
ein  grosser  Futterkorb  sei,  in  welchem  sich  Bücherschmierer  mästen, 


1  Plutarch:  Vita  Demetrii,  c.  20. 


70  Der  medioinisöhe   Unterricht  im  Älterthum. 


die  sich  um  Dinge  streiten,  die  sie  nicht  kennen".1  Unter  der  rö- 
mischen Herrschaft  kam  es  sogar  soweit,  dass  Athleten  zu  Mitgliedern 
des  Museums  ernannt  wurden. 

Die  berühmten  Bibliotheken  wurden  theils  durch  Feuer  zerstört, 
theils  von  den  fremden  Machthabern,  welche  nach  Ägypten  kamen, 
geplündert.  Ein  Theil  der  literarischen  Schätze  wanderte  nach  Italien 
und  Konstantinopel  und  diente  zur  Gründung  oder  Vermehrung  der 
Bibliotheken,  welche  dort  geschaffen  wurden. 

Die  letzten  Überreste  sollen  bei  der  Einnahme  von  Alexandria 
durch  die  Araber  zu  Grunde  gegangen  oder  durch  die  Christen  ver- 
nichtet worden  sein. 

Im  Jahre  389  wurde  der  Serapis-Tempel  in  eine  christliche  Kirche 
umgewandelt,  und  in  dem  Serapeum  nahmen  „sogenannte  Mönche  ihre 
Wohnung,  die",  wie  Eunapios  schreibt,  „in  ihrer  Gestalt  zwar  Menschen 
glichen,  in  ihrer  Lebensweise  aber  Schweine  waren".2  Er  hat  dabei 
sicherlich  nicht  Leute,  wie  unsere  hochgebildeten  Benediktiner,  sondern 
schmutzige  orientalische  Mönche  vor  Augen  gehabt. 

Die  medicinischen  Schulen  in  Alexandria  behaupteten  ihre  hervor- 
ragende Stellung  auch  unter  der  Herrschaft  der  Kömer  und  darüber 
hinaus  und  trugen  vielleicht  wesentlich  bei  zu  dem  Aufschwünge,  den 
die  Heilkunst  unter  den  Arabern  erlebte. 


Die  Medicin  in  Rom. 

Die  italische  Halbinsel  bildete  Jahrhunderte  lang  den  Schauplatz 
erbitterter  Kämpfe  und  Fehden,  deren  Endergebniss  die  Unterwerfung 
der  einzelnen  Völkerschaften  unter  die  römische  Herrschaft  war.  Die 
kleinen  Bauernstaaten,  welche  allmälig  zu  dem  politischen  Gemeinwesen 
der  Römer  verschmolzen,  hatten  den  Künsten  und  Wissenschaften 
geringe  Pflege  gewidmet,  und  nur  die  Etrusker  konnten  auf  Cultur- 
Errungenschaften  hinweisen,  welche  die  Keime  einer  erfolgreichen  Ent- 
wickelung  in  sich  bargen. 

Die  Heilkunde  zeigte  den  theurgisch-empirischen  Charakter.  Ge- 
bete, Opferungen,  mystische  Zaubersprüche  und  Anrufungen  der  Götter 
bildeten  neben  einigen  heilkräftigen  Kräutern,  deren  Wirkung  der  Zufall 


1  Athenaeos  deipnosophist.  I,  p.  11,  Basil.  1535,  Ed.  Bedrotus. 

2  Eunapios  in  aedes  I,  p.  43,  nach  Parthey  a.  a.  0.  8.  102. 


Die  Medicin  in  Rom.  71 


gelehrt  und  die  Erfahrung  bestätigt  hatte,  die  gebräuchlichsten  Heil- 
mittel ,  deren  man  sich  bei  Krankheiten  bediente.  Auch  besass  man 
einige  Kenntnisse  in  der  Behandlung  der  Wunden,  in  der  Stillung  von 
Blutungen  und  in  der  Heilung  von  Knochenbrüchen  und  Verrenkungen. 
Seneca1  charakterisirt  den  Zustand  der  damaligen  Heilkunst  treffend 
mit  den  Worten:  medicina  quondam  pauearum  fuit  scientia  herbarum 
quibus  sisteretur  fluens  sanguis,  vulnera  coirent. 

Ein  eigentlicher  ärztlicher  Stand  fehlte,  und  gute  Freunde,  barm- 
herzige Frauen  und  treu  ergebene  Diener  leisteten  wie  zur  Zeit  Homer's 
im  Fall  der  Noth  die  erforderliche  Hilfe. 

Die  Bömer  sahen  in  der  Begründung  und  Erweiterung  ihrer  po- 
litischen Macht  die  einzige  Aufgabe,  welche  die  Kräfte  der  Nation  in 
Anspruch  nahm.  Ihr  gegenüber  erschienen  die  Beschäftigungen  mit 
Dingen,  wie  die  Heilkunst,  von  untergeordneter  Bedeutung.  Der  Inhalt 
der  letzteren  erfuhr  daher  bei  ihnen  keine  wesentliche  Bereicherung, 
und  ihre  Ausübung  blieb  in  denselben  Händen,  wie  bisher. 

Allerdings  hätte  die  Eingeweideschau,  welche  die  Haruspices  vor- 
nahmen, dazu  dienen  können,  das  anatomische  Wissen  zu  vermehren; 
aber  diesen  Priestern  mangelte  die  nothwendige  Vorbildung,  und  bei 
ihren  Untersuchungen  standen  ihnen  nicht  wissenschaftliche  Ziele,  son- 
dern mystisch -religiöse  Aufgaben  vor  Augen,  welche  sie  darauf  hin- 
wiesen, Absonderlichkeiten  zu  finden,  selbst  dort,  wo  sie  nicht  vorhanden 
waren.  Gleichwohl  deuten  die  zahlreichen  Ausdrücke  der  anatomischen 
Terminologie,2  welche  der  lateinischen  Sprache  entlehnt  sind,  darauf 
hin,  dass  man  die  wichtigsten  Organe  des  Körpers  kannte  und  von 
einander  zu  unterscheiden  wusste. 

Übrigens  bestanden  nur  lose  Beziehungen  zwischen  der  Anatomie 
und  der  praktischen  Heilkunde.  Der  römische  Hausvater,  wie  er  uns 
in  M.  Porcius  Cato  entgegentritt,  hatte  sein  Beceptenbuch,  aus  wel- 
chem er  sich  bei  Erkrankungen  seiner  Familie,  seiner  Sklaven  und 
Hausthiere  Bath  holte.3  Darin  waren  ausser  manchen  abergläubischen 
Zauberformeln  allerlei  Mittel  gegen  innere  Leiden  angegeben  und  die 
Behandlung  geschildert,  welche  bei  Verletzungen,  Frakturen,  Luxationen, 
Wunden,  Geschwüren,  Fisteln,  Nasenpol ypen  u.  a.  m.  eingeschlagen 
werden  sollte.    Grossen  Werth  legte  man  auf  die  Diätetik,  und  einzelne 


1  Epist.  95. 

2  Rene  Briau:  Introduction  de  la  medecine  dans  le  Latium  et  ä  Rome  in 
der  Revue  archeol.,  Paris  1885,  ser.  III,  T.  6,  p.  197.  —  Jos.  Hyrtl:  Onomato- 
logia  anatomica,  Wien  1880. 

Plinius:  Hist.  nat.  XXIX,  c.  8.  —  Plutakch:  Cato  major,  c.  23. 


3 


72  Der  medicinische  Unterricht  im  Älterthum. 

Hausmittel,  wie  der  Kohl,  standen  in  hohem  Ansehen.1  Auch  der 
Wein  wurde  zu  derartigen  Zwecken  häufig  verwendet,  und  Cato,  „dessen 
Tugend",  wie  Hobaz2  schreibt,  „nicht  selten  in  lauterem  Wein  erglühte", 
empfahl  ihn  als  Zusatz  zu  verschiedenen  Heilmitteln. 

Die  patriarchalische  Sitte,  nach  welcher  der  Hausvater  zugleich 
der  Hausarzt  war,  verschwand  natürlich  mit  der  Entwickelung  der  Heil- 
kunst und  bildete  sicherlich  schon  zu  Cato's  Zeit  nur  noch  eine  Aus- 
nahme. Die  vermehrten  Anforderungen,  welche  an  das  Wissen  und 
Können  der  Heilkundigen  gestellt  wurden,  und  der  Aufschwung  der 
politischen  und  socialen  Verhältnisse  rechtfertigten  die  Bildung  eines 
besonderen  ärztlichen  Standes.  Leider  fehlen  die  historischen  Nach- 
richten, in  welcher  Weise  sich  dieser  Prozess  vollzog.  Vielleicht  hatte 
das  Bedürfniss  einer  verlässlichen  ärztlichen  Hilfe,  welches  sich  in  den 
häufigen  Kriegszügen  der  Kömer  kundgab,  Einfluss  darauf?  — 

In  den  ältesten  Zeiten  pflegten  die  Soldaten  einander  gegenseitig 
zu  verbinden  und  führten  zu  diesem  Zweck  Verbandstücke  mit  sich. 
Jeder  betheiligte  sich  an  der  Pflege  der  Verwundeten;3  aber  die  ärzt- 
liche Hilfe,  welche  ihnen  zu  Theil  wurde,  scheint  unzureichend  gewesen 
zu  sein,  so  dass  z.  B.  nach  der  Schlacht  bei  Sutrium  (309  v.  Chr.) 
mehr  Krieger  ihren  Verletzungen  nachträglich  erlagen,  als  von  den 
Feinden  getödtet  worden  waren.4 

Doch  steht  es  fest,  dass  zu  jener  Zeit  in  Rom  die  Heilkunst  be- 
reits berufsmässig  ausgeübt  wurde.  Es  wird  dies  nicht  blos  durch  das 
Zeugniss  der  Autoren  des  Alterthums,5  welche  bei  verschiedenen  Ge- 
legenheiten der  Ärzte  gedenken,  sondern  auch  durch  mehrere  Thatsachen 
in  überzeugender  Weise  bewiesen. 

Die  Lex  Äquilia  machte  den  Arzt,  welcher  einen  Sklaven  nach  der 
Operation  vernachlässigt  hatte,  so  dass  dadurch  dessen  Tod  herbeigeführt 
worden  war,  dafür  verantwortlich.6  Plutarch7  erzählt,  dass  sich  bei 
einer  Gesandtschaft,  welche  die  Römer  nach  Bithynien  schickten,  ein 
Mann  befunden  habe,  an  welchem  die  Trepanation  mit  glücklichem 
Erfolg  ausgeführt  worden  war,  und  schon  in  den  zwölf  Gesetzestafeln 
des  Numa  ist  von  Zähnen  die  Rede,  welche  durch  Goldfäden  künstlich 
mit  einander  verbunden  waren.8 

Dagegen  behauptet  Pliniüs  9  freilich,  dass  Rom  viele  Jahrhunderte 


1  Plinius:  Hist.  nat.  XX,  c.  33.  2  Od.  III,  21,  Ad  amphoram. 

3  Tacitus:  Annal.  IV,  63. 

4  Livius  VIII,  36.   IX,  32.   X,  35.   XXX,  34. 

5  Dion.  Halicarn.  I,  79.  X,  53.  —  Livius  XXV,  26. 

6  Institut.  IV,  tit.  3.  §  6  u.  7.         7  Cato  major,  c.  9. 

8  Cicero:  de  leg.  II,  24.  9  Pltnius:  Hist.  nat.  XXIX,  5. 


Die  Medicin  in  Rom.  73 


hindurch  der  Ärzte ,  wenn  auch  nicht  der  Heilkunst  (sine  medicis,  nee 
tarnen  sine  medicina),  entbehrt  habe.  Aber  er  wollte  damit  nur  sagen, 
dass  es  in  Eom  bis  zur  Einwanderung  der  griechischen  Ärzte,  von 
denen  er  bald  nachher  spricht,  keine  Leute  gab,  welche  den  Namen 
von  Ärzten  verdienten,  und  bemerkt  dabei,  dass  man  der  griechischen 
Heilkunst  mit  freudiger  Begierde  entgegengesehen  habe,  aber  nachdem 
man  sie  kennen  gelernt,  davon  enttäuscht  sei  [medieinae  vero  etiam 
avidus,  donec  expertam  damnavit) ;  er  verbessert  sich  indessen  später, 
indem  er  sagt,  dass  damit  nicht  die  Sache  selbst,  sondern  die  Art,  wie 
sie  betrieben  wurde,  gemeint  sei.1 

Der  griechische  Einfluss  hatte  sich  in  Eom  geltend  gemacht,  längst 
bevor  man  mit  den  wissenschaftlichen  Errungenschaften  der  griechischen 
Ärzte  bekannt  wurde;  und  es  ist  bezeichnend  für  die  Denkweise  jener 
Zeit,  dass  er  sich  zuerst  auf  dem  Gebiet  der  religiösen  Mystik  kundgab. 
Schon  in  früher  Zeit  nahmen  die  Römer  bei  schweren  Epidemien  ihre 
Zuflucht  zu  den  Orakeln  und  Heilgottheiten  der  Griechen,  welche  neben 
den  heimischen  Göttern  verehrt  wurden.  Dem  Apollon  als  Arzt  wurde 
bei  einer  Seuche,  die  im  5.  Jahrhundert  v.  Chr.  in  Rom  wüthete,  ein 
Tempel  gewidmet.2  I.  J.  291  v.  Chr.  wurde  der  Asklepios-Dienst  von 
Epidauros  nach  Rom  verpflanzt:  eine  Thatsache,  welche  dichterisch  aus- 
geschmückt, von  verschiedenen  Schriftstellern  dargestellt  und  sogar  von 
der  bildenden  Kunst  verherrlicht  worden  ist.3  I.  J.  154  n.  Chr.  wurde 
in  Rom  ein  Collegiwn  Aesculapii  et  Hygieae  errichtet,  dessen  Stiftungs- 
Urkunde  sich  in  einer  im  Garten  des  Palais  Palestrine  gefundenen 
Inschrift  erhalten  hat.4 

Als  Rom  nach  den  punischen  Kriegen  zur  Weltmacht  emporwuchs, 
welche  die  Herrschaft  über  das  Mittelmeer  und  die  dasselbe  begrenzenden 
Länder  mit  Erfolg  anstreben  durfte,  nahm  die  Einwanderung  von 
Fremden  in  bemerkenswerther  Weise  zu.  Wer  durch  Geburt,  Ver- 
mögen, Talent  oder  Wissen  seine  Mitbürger  überragte,  ging  nach  der 
Tiberstadt,  weil  er  hier  am  ehesten  hoffen  konnte,  seine  Vorzüge  zur 
Geltung  zu  bringen.     Dazu  gesellte  sich  eine  Schaar  von  Abenteurern, 


1  Plinius  a.  a.  0.  XXIX,  8.  2  Livius  IV,  25.  29.  VII,  20.  XL,  51. 

3  Valer.  Maxim.  I,  6.  8.  —  Livius  X,  47.  XXIX,  22.  —  Ovid:  Metam.  XV, 
v.  626—744.  —  Panofka:  Asklepios  und  die  Asklepiaden,  Berlin  1840,  S.  52  u. 
Tafel  II,  3.  —  Böttiger  in  K.  Sprengel's  Beiträgen  z.  Gesch.  d.  Med.,  Halle 
1795,  I,  2.  S.  163  u.  ff. 

4  Spon:  Recherches  curieuses  d'antiquite,  Lyon  1683,  p.  326 — 340,  und  wieder 
abgedruckt  bei  J.  Rosenbaum:  K.  Sprengel's  Versuch  einer  Geschichte  d.  Arznei- 
kunde, Leipzig  1846,  S.  208  Anm.,  und  G.  Pinto:  Storia  della  medicina  in  Roma, 
Roma  1879,  p.  191. 


74  Der  medicinische   Unterricht  im   Alt&rthuin. 


welche  ihr  Glück  suchten  und  dabei  weder  Mittel  noch  Wege  scheuten, 
wenn  sie  zum  Ziele  führten,  sowie  jene  namenlose  Menge  von  Sklaven, 
die  von  reichen  Kömern  aus  der  Ferne  bezogen  wurden,  um  den  er- 
höhten Luxus  zu  befriedigen.  Der  vermehrte  Sinnengenuss  hatte  neue 
Laster  und  neue  Krankheiten  im  Gefolge,  gegen  welche  man  bei  fremden 
Ärzten  Hilfe  suchte. 

Das  grösste  Contingent  zu  der  Einwanderung  der  Fremden  stellten, 
wie  bisher,  die  Griechen,  deren  Sprache  und  Cultur  in  Kom  massgebend 
wurde.  Nichts  kennzeichnet  die  Bedeutung,  welche  der  Hellenismus 
dort  erlangte,  mehr,  als  dass  selbst  Cato,  der  Verächter  des  Griechen- 
thums,  sich  bewogen  fühlte,  dessen  Sprache  und  Literatur  zu  studieren, 
und  dass  derselbe  Feldherr,  Lucius  Aemilius  Paulus,  welcher  die  Griechen 
auf  dem  Schlachtfelde  besiegte,  seine  Kinder  von  griechischen  Lehrern 
erziehen  liess.  Nur  auf  politischem  Felde,  nur  im  Kampfe  der  Waffen 
erlagen  die  Griechen  den  Kömern;  im  Wettstreit  der  Geister  blieben 
sie  die  Sieger. 

Graecia  capta  ferum  victorem  cepit  et  artes 
Intulit  agresti  Latio. l 

Die  mächtigsten  Veränderungen  erfuhren  dadurch  das  Bildungs- 
wesen und  die  Heilkunde  in  Rom. 

Die  bewunderungswürdigen  Erfolge,  welche  die  letztere  den  Griechen 
verdankte,  machen  es  begreiflich,  dass  man  bestrebt  war,  sich  ihr  Wissen 
und  ihre  Geschicklichkeit  auf  diesem  Gebiet  nutzbar  zu  machen.  Die 
griechischen  Ärzte  wurden  in  Rom  gesucht,  und  ihre  römischen  Col- 
legen  mussten  aus  der  medicinischen  Literatur  der  Griechen  Fach- 
kenntnisse sammeln,  wenn  sie  im  Kampfe  ums  Dasein  nicht  zu  Grunde 
gehen  wollten.  Die  römische  Heilkunst,  soweit  sie  auf  nationalem 
Boden  entstanden  war,  ging  in  der  griechischen  Heilkunde  auf  und 
liess  nur,  wie  alle  niederen  Cultur -Elemente,  wenn  sie  den  höheren 
unterliegen,  in  der  Tradition  des  Volkes  ihre  Spuren  zurück. 

Die  berufsmässige  Heilkunst  in  Rom  war  fortan  griechisch.  Ihr 
Inhalt  stützte  sich  auf  griechische  Schriften,  und  ihre  hervorragendsten 
Vertreter  gehörten  der  griechischen  Nation  an.  Dieses  Übergewicht 
erhielt  sich  bis  in  das  späte  Alterthum.  Die  Römer  haben  es  auf 
diesem  Gebiet  eigentlich  niemals  zu  einer  geistigen  Selbstständigkeit 
gebracht,  und  ihre  besten  medicinischen  Werke  besitzen  nur  den  Werth 
compilatorischer  Zusammenstellungen,  zu  denen  die  Schöpfungen  des 
griechischen  Geistes  als  Vorlage  dienten. 


1  Horatius:  Epist.  I,   1,  v.   156. 


Die  Medioin  in  Rom.  75 


Die  ersten  griechischen  Ärzte,  welche  in  Eom  einwanderten,  waren, 
wie  es  scheint,  nicht  gerade  die  ehrenwerthesten  Mitglieder  ihres  Standes. 
Auffallend  durch  ihr  fremdartiges  Wesen  und  durch  jenen  Zug  von 
( 'harlatanerie,  welcher  ihrer  orientalischen  Heimath  eigenthümlich,  aber 
den  strengen  Sitten  der  Kömer  ungewohnt  war,  machten  sie  sich  bald 
durch  Habsucht  und  Prahlereien  verächtlich  und  verhasst.  Sicherlich 
waren  nur  Wenige  von  Begeisterung  für  die  Heilkunst  und  Liebe  zu 
den  Menschen  erfüllt;  die  Meisten  trieb  die  Sucht  nach  Reich thum  und 
Genuss  aus  der  Heimath  in  die  Fremde.  Die  schweren  Anklagen, 
welche  Cato  gegen  sie  richtete,  waren,  wenn  auch  übertrieben,  doch 
nicht  ohne  alle  Berechtigung.1 

Der  aus  dem  Peloponnes  stammende  Arzt  Akchagathos  (ein  guter 
Anfang!),  welcher  um  d.  J.  219  v.  Chr.  nach  Rom  kam,  lenkte  zuerst 
die  öffentliche  Aufmerksamkeit  auf  sich.  Seine  chirurgischen  Operationen 
erregten  solches  Aufsehen,  dass  der  Senat  ihm  das  römische  Bürger- 
recht verlieh  und  auf  Kosten  der  Gemeinde  eine  Officin  in  einem  be- 
lebten Theile  der  Stadt  kaufte.  Aber  seine  Lust  „am  Schneiden  und 
Brennen",  vielleicht  auch  manche  Misserfolge,  die  er  bei  seinen  Opera- 
tionen hatte,  raubten  ihm  bald  das  Vertrauen  der  Bevölkerung,  und 
man  sagte,  dass  er  kein  Wundarzt,  sondern  ein  Henker  (camifex)  sei.2 

Eine  hervorragende  Stellung  erlangte  später  der  bithynische  Arzt 
Asklepiades,  welcher  zur  Zeit  des  Pompejus  nach  Rom  übersiedelte. 
Im  Besitz  einer  gründlichen  Allgemeinbildung,  ausgestattet  mit  unge- 
wöhnlichen Gaben  des  Geistes,  einem  scharfen,  durchdringenden  Ver- 
stände und  einer  reichen  Lebenserfahrung,  erhob  er  sich  bald  über  den 
Tross  der  gewöhnlichen  Ärzte.  Seine  feinen  gesellschaftlichen  Manieren, 
sein  sicheres  weltmännisches  Auftreten  in  Verbindung  mit  seinem 
Rednertalent,  welches  seinem  masslosen  Selbstbewusstsein  die  geeignete 
Beleuchtung  zu  geben  wusste,  verschafften  ihm  den  Zutritt  in  den  vor- 
nehmsten Kreisen  Roms  und  die  auszeichnende  Freundschaft  von  Män- 
nern wie  Cicero,  L.  Crassus,  Marcus  Antonius  u.  A.  König  Mithridates 
suchte  ihn  durch  Versprechungen  an  seinen  Hof  zu  ziehen,  musste  sich 
aber,  da  Asklepiades  diese  Einladung  ablehnte,  mit  der  Übersendung 
seiner  Schriften  begnügen.  Asklepiades  zog  es  vor,  in  Rom  zu  bleiben, 
wo  er  grosse  Reichthümer  gewann  und  verehrt  wurde  „wie  ein  Ab- 
gesandter des  Himmels". 

Er  verstand  es  vortrefflich,  die  hohe  Meinung,  welche  man  von 
ihm  hatte,  zu  erhalten  und  wenn  möglich  noch  zu  erhöhen,  und  ver- 
schmähte  zu   diesem  Zweck  kein  Mittel.     So  rief  er  einen  Menschen, 


1  Plinius  a.  a.  O.  XXIX,  5.  7.  8.  2  Plinius  a.  a.  0.  XXIX,  6. 


76  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Alterthum. 

dessen  Leichenbegängniss  man  gerade  feiern  wollte,  ins  Leben  zurück. 
Mit  marktschreierischer  Grossthuerei  erklärte  er,  man  möge  ihn  nicht 
für  einen  Arzt  halten,  wenn  er  selbst  jemals  krank  werde;  und  der 
Tod  war  so  gefällig,  ihn  nicht  zu  desavouiren,  denn  er  starb  durch  den 
Sturz  von  einer  Leiter.1 

Wie  alle  Leute  dieser  Art,  läugnete  auch  Asklepiades  jede  Autorität 
und  glaubte  nur  an  sich  selbst.  Er  verwarf  die  dogmatischen  Lehren 
seiner  Vorgänger  und  schuf  selbst  ein  medicinisches  System,  das  sich  auf 
die  Atomenlehre  der  Epikuräer  gründete,  wie  sie  dieselbe  von  Demokrit 
und  in  etwas  modificirter  Form  von  Heraklides,  dem  Pontiker,  über- 
nommen hatten.  Er  lehrte,  dass  der  menschliche  Körper  zusammen- 
gesetzt sei  aus  formlosen,  beständigen  Bewegungen  und  Veränderungen 
unterworfenen  Atomen  und  zwischen  ihnen  gelagerten  Hohlräumen, 
welche  die  Bewegung  der  Säfte,  sowie  die  Empfindung  vermitteln. 
Aus  der  Beschaffenheit  und  Lagerung  der  Atome  und  ihrem  Verhältniss 
zu  den  Hohlräumen  leitete  er  Gesundheit  und  Krankheit  ab.2  Die 
menschliche  Seele  erschien  ihm  als  das  Ergebniss  der  Sinnesthätigkeit. 
Er  sagte,  dass  sie  wie  ein  Hauch  sei,  der  alle  Theile  des  Körpers 
durchdringe,  und  keineswegs  in  einem  bestimmten  Organ  ihren  Sitz 
habe :  eine  Äusserung,  welche  den  Kirchenschriftsteller  Tertullian  3  zu 
abgeschmackten  Witzeleien  Anlass  gegeben  hat. 

Die  materialistischen  Ideen,  welche  zur  gleichen  Zeit  einen  beredten 
Vertheidiger  in  dem  Dichter  Lucrez  fanden,  hatten  unter  den  Männern 
des  Fortschritts  viele  Freunde  und  Anhänger.  Asklepiades  suchte  sie 
mit  der  Moralphilosophie  der  Stoa  zu  verbinden,  damit  sie  bei  den 
spiritualistisch  angelegten  Naturen  keinen  Anstoss  erregten.  Auf  diese 
Weise  sicherte  er  seinen  Lehren  den  Beifall  und  die  Bewunderung  der 
gebildeten  Laien,  während  die  Ärzte  durch  die  Vorzüge,  welche  sie  vor 
der  Humoralpathologie  hatten,  gewonnen  wurden. 

Die  einseitige  Berücksichtigung  der  Säfte-Theorie  in  der  Physio- 
logie und  Pathologie  der  Hippokratiker  konnte  die  denkenden  Ärzte 
nicht  befriedigen.  Es  leuchtete  ihnen  daher  ein,  als  Asklepiades  auf 
die  Rolle  hinwies,  welche  dabei  die  festen  Theile  des  Körpers  spielen. 
Er  hat  sich  dadurch  ebenso  wie  durch  die  Einführung  des  Materialis- 
mus in  die  Medicin  um  die  Entwickelung  dieser  Wissenschaft  grosse 
Verdienste  erworben. 


1  Plinius  a.  a.  0.  VII,  37.  XXVI,  7.  8.  9.  —  Cicero:  de  orator.  I,  14.  — 
Apulejus:  florid.,  c.  19.  —  Sext.  Empir.  ad  logic.  dogm.  I,  c.  91.,  ad  mathem. 
IV,  c.  113  u.  a.  m. 

2  Cael.  Aurelianus:  de  acut.  I,  14.  15. 

3  Tertullian:  de  anima,  c.  15. 


Die  Medicin  in  Rom.  77 


Seine  therapeutischen  Grundsätze  gipfelten  in  dem  Satze,  dass  der 
Arzt  darnach  trachten  müsse,  den  Kranken  rasch,  sicher  und  auf  eine 
angenehme  Art  gesund  zu  machen.  Er  bekämpfte  den  Missbrauch, 
welchen  die  Ärzte  seiner  Zeit  mit  drastischen  Purgan  tien,  mit  Brech- 
mitteln und  schweisstreibenden  Verordnungen  trieben,  und  empfahl  statt 
dessen  neben  einer  strengen  Regelung  der  Diät  vorzugsweise  active  und 
passive  Bewegungen  des  Körpers,  Abreibungen,  Bäder,  den  Genuss  des 
kalten  Wassers,  Kly stire  u.  dgl.  m.  Um  Schlaf  zu  erzeugen,  liess  er 
die  Kranken  in  Hängematten  legen,  welche  in  sanfte  schaukelnde  Be- 
wegung versetzt  wurden.  Bei  der  Bräune  rieth  er,  wie  schon  Andere 
vor  ihm,  die  Tracheotomie  vorzunehmen.1 

Die  Lehren  des  Asklepiades  wurden  von  seinen  Schülern  und 
Anhängern  weiter  ausgearbeitet  und  bildeten  die  Grundlage  für  die 
ärztliche  Sekte,  welche  die  methodische  genannt  wurde.  Der  eigent- 
liche Begründer  derselben,  Themison  aus  Laodicea,  ein  Schüler  des 
Asklepiades,  unterzog  sich  der  Aufgabe,  die  Natur-Philosophie  seines 
Meisters  dem  Verständniss  und  den  Bedürfnissen  der  praktischen  Ärzte 
anzupassen.  Er  sagte,  dass  die  Krankheiten  entweder  den  Charakter 
der  Spannung,  d.  h.  der  Reizung  oder  der  Erschlaffung  oder  einen  aus 
beiden  Eigenschaften  gemischten  Zustand  zeigen,  indem  die  Sekretions- 
thätigkeit  der  Organe  entweder  herabgesetzt  oder  gesteigert  oder  zu 
verschiedenen  Zeiten  verändert  erscheine.2  Die  den  verschiedenen 
Krankheiten  gemeinsamen  Charaktere  wurden  Communitäten  genannt, 
und  ihre  Bekämpfung  durch  Mittel,  welche  eine  entgegengesetzte  Wir- 
kung besitzen,  als  der  Zweck  der  ärztlichen  Behandlung  hingestellt. 

Die  Methodiker  beschränkten  sich  auf  die  Betrachtung  der  allge- 
meinen Erscheinungen  der  Krankheiten;  den  Sitz  derselben  und  ihre 
Ursachen  zu  erforschen,  hielten  sie  für  überflüssig  und  wohl  auch  für 
aussichtslos.  Sie  beschäftigten  sich  hauptsächlich  mit  der  Semiotik  und 
Therapie  und  schenkten  vorzugsweise  den  Fragen  der  praktischen  Heil- 
kunst ihre  Aufmerksamkeit. 

Ihre  Lehren  waren  so  einfach  und  leicht  zu  begreifen  und  so  be- 
quem in  der  Ausführung,  dass  sie  bei  der  grossen  Menge  der  Ärzte 
bereitwillig  Aufnahme  fanden.  Aber  Denjenigen,  welche  wissenschaft- 
liche Interessen  hegten,  konnten  ihre  Mängel  nicht  entgehen.  Die 
Oberflächlichkeit  der  Alles  nach  einer  vorgeschriebenen  Schablone 
generalisirenden  Communitäten-Lehre,  welche  nicht  blos  die  Fragen  der 
wissenschaftlichen  Theorie  unbeantwortet  liess,    sondern  selbst  für  die 


1  Celsus  II,  14.   III,  4.   IV,  19.  -  -  Cael.  Aurel.:   de  acut.  I,  15.   III,  4.  8. 
—  Plinius:  Hist.  nat.  XXVI,  7.  8.  9. 

2  Celsus:  Praef. 


78  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

Praxis  unzureichend  erschien,  musste  sich  mit  der  Zeit  ebenso  unhalt- 
bar erweisen,  als  ihr  unreifer  Materialismus,  der  in  der  Synkrise  der 
Atome  die  Lösung  des  Räthsels  des  organischen  Lebens  gefunden  zu 
haben  glaubte. 

Die  Einsichtigen  wandten  sich  daher  einem  Eklekticismus  zu,  der 
die  Elementenlehre  und  Qualitätentheorie  der  griechischen  Naturphilo- 
sophen mit  dem  Humorismus  der  Hippokratiker  und  der  Solidarpatho- 
logie  der  methodischen  Schule  zu  vereinigen  und  durch  die  Annahme 
des  Pneuma,  eines  den  Körper  erfüllenden  und  ihn  beherrschenden 
geistigen  Elementes,  eine  wesentliche  Lücke  der  verschiedenen  medi- 
cinischen  Systeme  zu  ergänzen  versuchte.  Die  Lehre  vom  Pneuma 
war  keineswegs  neu;  sie  wurde  schon  in  den  Hippokratischen  Schriften 
angedeutet,  von  den  Peripatetikern  ausführlicher  erörtert,  von  Eeasi- 
steatos  zur  Erklärung  mancher  Vorgänge  im  menschlichen  Organismus 
verwendet  und  später  durch  die  Stoa  wieder  in  den  Vordergrund  ge- 
drängt. Einige  Ärzte,  wie  z.  B.  Athenaeus  aus  Attalia,  schrieben  dem 
Pneuma  eine  so  hervorragende  Rolle  zu,  dass  man  sie  als  Pneumatiker 
bezeichnet  hat. 

In  der  ärztlichen  Praxis  stellten  sich  die  Eklektiker  auf  den  Boden 
der  Thatsachen  und  sahen  in  der  Erfahrung  die  einzige  und  sicherste 
Richtschnur  ihres  Handelns.  Aber  sie  standen  der  wissenschaftlichen 
Forschung  nicht,  wie  die  Methodiker  oder  die  Empiriker,  gleichgültig 
oder  gar  feindselig  gegenüber,  sondern  begünstigten  dieselbe  and  för- 
derten sie  selbst  auf  Gebieten,  wie  z.  B.  die  Anatomie  und  Physiologie, 
deren  Nutzen  für  die  ärztliche  Praxis  nicht  sofort  erkennbar  war. 

Der  Eklekticismus  wurde  in  wirksamer  Weise  vorbereitet  und  ein- 
geleitet durch  die  Schriften  der  Encyklopädisten,  welche  Alles,  was  in 
den  vorangegangenen  Culturperioden  auf  den  einzelnen  Gebieten  des 
geistigen  Strebens  geleistet  worden  war,  zusammen  stellten.  Neben 
der  Philosophie  und  Geschichte,  der  Politik,  Kriegswissenschaft,  Geo- 
graphie, den  Naturwissenschaften,  der  Landwirthschaft,  Malerei  und 
Bildhauerkunst  u.  a.  m.  zogen  sie  auch  die  Medicin  in  den  Kreis  der 
Betrachtung.  Ihre  Schriften  über  diesen  Gegenstand  bringen  eine 
Übersicht  des  gesammten  medicinischen  Wissens  jener  Zeit  und  sind 
um  so  werth voller,  als  sie  eine  Menge  von  Auszügen  aus  ärztlichen 
Werken  enthalten,  welche  verloren  gegangen  sind.  Die  bekanntesten 
Encyklopädisten  waren  M.  Tekentitts  Vaeeo,  A.  Coenelius  Celstjs 
und  der  ältere  Plinius.  Der  Letztere  benutzte  zu  seiner  Naturgeschichte 
nicht  weniger  als  2000  Bücher,    wie  er  selbst  erzählt,1    und  Celsus 


1  Plinius  a.  a.  0.  I,  praef. 


Die  Medicin  in  Rom.  79 


liefert  in  seinem  medicinischen  Werk,  welches  sich  durch  die  Eleganz 
der  Darstellung  wie  durch  die  Classicität  der  Sprache  den  besten  Er- 
scheinungen der  römischen  Literatur  anschliesst,  einen  wenn  auch 
schwachen  Ersatz  für  eine  grosse  Anzahl  von  medicinischen  Werken 
der  Alexandrin  ischen  Periode,  die  uns  ein  neidisches  Geschick  ge- 
raubt hat. 

Der  Eklekticismus  entwickelte  sich  zum  lebensfrischen  Organismus^ 
welcher  die  Vorzüge  der  übrigen  medicinischen  Sjrsteme  in  sich  ver- 
einigte, ohne  deren  Mängel  und  Fehler  zu  besitzen.  Festhaltend  an 
den  Traditionen  der  Vergangenheit,  aber  frei  von  jener  schulmeister- 
haften Pedanterie,  welche  das  Heraustreten  aus  den  gewohnten  Geleisen 
als  ein  frevelhaftes  Wagniss  betrachtet,  war  er  ganz  geeignet,  die 
Forscherthätigkeit  des  Einzelnen  zu  fördern  und  den  Fortschritt  der 
Wissenschaft  zu  ermöglichen.  Der  Eklekticismus  war  ein  Bedürfniss 
und  eine  Notwendigkeit  für  die  Heilkunde,  wenn  sie  nicht  in  roher 
Empirie  oder  einseitigem  Methodismus  verflachen  wollte.  Es  war  daher 
begreiflich,  dass  er  die  Herrschaft  in  der  Medicin  erlangte.  Die  Ärzte 
schlössen  sich  ihm  mit  Begeisterung  an,  und  die  medicinische  Literatur 
erhielt  eine  eklektische  Färbung. 

Auch  die  Lehre  Galen's,  welche  durch  ein  und  ein  halbes  Jahr- 
tausend der  Welt  als  höchste  und  fast  unfehlbare  Autorität  in  medi- 
cinischen Dingen  galt,  war  ursprünglich  nichts  Anderes  als  ein  ge- 
läuterter Eklekticismus.  Freilich  errang  sich  dieselbe  durch  die 
schöpferische  Kraft  ihres  Begründers,  welcher  der  medicinischen  Wissen- 
schaft eine  Fülle  von  Thatsachen  erschloss  und  ihr  neue  Bahnen  er- 
öffnete, bald  die  Selbstständigkeit  und  gestaltete  sich  zum  abgeschlossenen 
System. 

Galen  wurde  i.  J.  131  n.  Chr.  zu  Pergamon,  dem  einstigen 
Herrschersitz  der  Attaler,  geboren.  Sein  Vater,  der  Architekt  Nikon, 
war  ein  vielseitig  gebildeter  Mann,  der  sehr  gründliche  Kenntnisse  in 
der  Mathematik,  Physik  und  den  Naturwissenschaften  besass;  er  über- 
wachte mit  liebender  Sorgfalt  die  Erziehung  seines  Sohnes  und  sorgte 
dafür,  dass  derselbe  von  ausgezeichneten  Lehrern  unterrichtet  wurde. 
Mit  einer  vortrefflichen  Vorbildung  ausgestattet,  begann  Galen  im 
17.  Lebensjahre  die  medicinischen  Studien.  Er  besuchte  zunächst  die 
medicinische  Schule  seiner  Vaterstadt,  an  welcher  der  Anatom  Satyrtts, 
ein  Schüler  des  Quintus,  der  Hippokratiker  Steatonicüs,  der  Empiriker 
Aescheion  u.  A.  wirkten.  Nach  dem  Tode  seines  Vaters,  welcher  vier 
Jahre  später  erfolgte,  verliess  er  Pergamon  und  begab  sich  nach  Smyrna, 
um  dort  unter  der  Leitung  des  Pelops,  eines  berühmten  Anatomen, 
und  des  Platonikers  Albinus  seine  Studien  fortzusetzen,  und  dann  nach 


80  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


Korinth,  wo  er  einen  anderen  bedeutenden  Anatomen ,  Numesianus, 
hörte. 1  Hierauf  durchreiste  er  Kleinasien  und  Ägypten,  hauptsächlich 
zu  dem  Zweck,  um  seine  naturwissenschaftlichen  Kenntnisse  zu  ver- 
mehren und  zu  befestigen.  In  Alexandria,  dessen  medicinische  Schulen 
unter  allen  Anstalten  dieser  Art  den  ersten  Kang  einnahmen,  blieb  er 
bis  zum  28.  Lebensjahre.  Mit  grossem  Eifer  widmete  er  sich  den  ana- 
tomischen Untersuchungen,  zu  denen  ihm  hier  mehr  Gelegenheit  ge- 
boten wurde,  als  an  irgend  welchem  anderen  Ort.2  Gleichzeitig  suchte 
er  auch  in  den  übrigen  Zweigen  der  Heilkunde  sein  Wissen  zu  er- 
gänzen und  zu  läutern.  Alexandria  war  mit  Heilkünstlern  überfüllt,3 
und  es  gab  wohl  kein  medicinisches  System,  keine  Heilmethode,  die 
nicht  unter  den  dortigen  Ärzten  ihre  Anhänger  und  Vertheidiger  hatte. 
Nirgends  konnte  der  Studierende  der  Medicin  so  viel  sehen  und  lernen, 
als  in  Alexandria.  Deshalb  kamen  die  jungen  Ärzte  hierher,  wenn  sie 
sich  in  ihrem  Fach  vervollkommnen  wollten.  War  es  ja  doch  noch  in 
späterer  Zeit  die  beste  Empfehlung  eines  Arztes,  in  Alexandria  studiert 
zu  haben.4 

Reich  an  Kenntnissen  kehrte  Galen  in  seine  Heimath  zurück  und 
übernahm  die  ärztliche  Behandlung  der  Gladiatoren  und  Ringkämpfer. 
Aber  die  kleinlichen  Verhältnisse  seiner  Vaterstadt  und  ein  Aufruhr, 
der  dort  ausbrach,  veranlassten  ihn,  nach  einigen  Jahren  nach  Rom 
zu  übersiedeln.  Um  hier  bekannt  zu  werden,  hielt  er  öffentliche  Vor- 
träge über  den  Bau  und  die  Funktionen  des  menschlichen  Körpers. 
Das  Interesse  an  dem  Gegenstande  und  die  Sachkenntniss  des  Redners 
zogen  bald  ein  zahlreiches  Publikum  an,  das  sich  aus  den  vornehmsten 
Kreisen  der  Hauptstadt  zusammensetzte.  Unter  seinen  Zuhörern  be- 
fanden sich  Männer  in  einflussreichen  Stellungen,  wie  die  Philosophen 
Eudemus  und  Alexander  von  Damaskus,  der  Präfekt  Sergius,  die  Consuln 
Boethus  und  Severus,  der  später  den  Thron  bestieg,  und  Barbarus,  der 
Onkel  des  Kaisers  Lucius.  Auf  diese  WTeise  gelang  es  Galen,  in  kurzer 
Zeit  eine  einträgliche  ärztliche  Praxis  zu  erwerben. 

Aber  der  Neid  und  die  Eifersucht  seiner  Collegen  und  andere 
widrige  Verhältnisse  verleideten  ihm  den  Aufenthalt  in  Rom.  Er  begab 
sich  daher  wieder  auf  Reisen  und  besuchte  verschiedene  Theile  Italiens 
und  Griechenlands,  die  Insel  Cypern,  Palästina  und  seine  Heimath 
Pergamon.  Schon  ein  Jahr  später  wurde  er  von  den  Kaisern  Lucius 
Veras  und  A.  Marcus  Aurelius  nach  Aquileja  berufen,  um  sie  in  dem 

1  J.  Ch.  Ackermann:  Vita  Galeni  in  Galeni  opera.  Ed.  Kühn,  T.  I  (Ein- 
leitung), führt  die  Belegstellen  dazu  an. 

2  Galen  II,  220.  3  Fulgentius:  Mythol.  I,  p.  16. 
4  Ammian.  Marceil.  XXTI,  16. 


Die  Medicin  in  Rom.  81 


Feldzuge  gegen  die  Germanen  zu  begleiten.  Der  Tod  des  Ersteren  gab 
Galen  eine  andere  Bestimmung;  er  blieb  in  Rom  und  wurde  zum 
Leibarzt  des  jungen  Thronfolgers  Commodus  ernannt.1  Wie  lange  er 
dieses  Amt  bekleidete,  ob  und  wann  er  später  in  seine  Heimath  zurück- 
kehrte, ist  nicht  bekannt.  Ebensowenig  weiss  man,  wann  und  wo  er 
gestorben  ist.  Wie  Suidas  berichtet,  soll  er  das  70.  Lebensjahr  erreicht 
haben;  sein  Tod  erfolgte  also  nicht  vor  dem  Jahre  201  n.  Chr. 

Wenn  das  Leben  Galen's  an  dieser  Stelle  ausführlich  erzählt 
wurde,  so  rechtfertigt  sich  dies  nicht  blos  durch  die  ausserordentliche 
Bedeutung,  welche  er  für  die  Heilkunde  erlangte,  sondern  hat  zugleich 
den  Zweck,  an  einem  hervorragenden  Beispiele  zu  zeigen,  wie  sich  zu 
jener  Zeit  der  Bildungsgang  tüchtiger  Ärzte  gestaltete. 

Galen  war  ein  erfahrener  geschickter  Arzt,  gelehrter  Forscher, 
gesuchter  Lehrer  der  Medicin  und  ungemein  fleissiger  Schriftsteller. 
Seine  literarische  Fruchtbarkeit  geht  aus  der  Menge  seiner  Schriften 
hervor,  welche  in  der  KüHN'schen  Ausgabe  21  Bände  füllen,  von  denen 
jeder  ungefähr  1000  Druckseiten  enthält.  Allerdings  befinden  sich 
darunter  manche  Werke,  welche  ihm  fälschlich  zugeschrieben  worden 
sind;  dafür  fehlen  aber  in  der  Ausgabe  eine  grosse  Menge  von  ihm 
verfasster  Arbeiten,  welche  theils  verloren  gegangen,  theils  nur  in 
Übersetzungen  vorhanden  und  noch  niemals  dem  Druck  übergeben 
worden  sind. 

Galen's  Schriften  behandeln  die  Philosophie,  Anatomie,  Physio- 
logie, Arzneimittellehre,  praktische  Heilkunde,  Chirurgie,  Gynäkologie, 
Geschichte  der  Medicin  u.  a.  m.  Sie  führen  dem  Leser  Alles  vor,  was 
auf  diesen  Gebieten  geleistet  worden  war,  und  zeichnen,  wie  die  Hippo- 
kratische  Sammlung,  ein  Bild  des  Zustandes  der  Heilkunde  ihrer  Zeit, 
dessen  Einzelheiten  auf  die  fachmännischen  Kenntnisse  der  Ärzte  ebenso 
wie  auf  ihre  socialen  Verhältnisse  manches  Licht  werfen. 

Auch  der  medicinische  Unterricht  wird  darin  an  mehreren  Stellen 
berührt.  Derselbe  entwickelte  sich  in  strenger  Abhängigkeit  von  den 
Geschicken  der  Heilkunde  überhaupt.  Sein  Inhalt  und  seine  Richtung 
wurde  durch  den  Fortschritt  der  Wissenschaft  und  die  herrschenden 
Systeme,  seine  Form  durch  die  äusseren  Verhältnisse  des  ärztlichen 
Standes  bestimmt. 


Galen  XIV,  648  u.  ff. 


Puschmann,   Unterricht. 


82  Der  medicinische   Unterricht  im  Altertlmui. 


Der  medicinische  Unterricht  in  Rom. 

In  den  ältesten  Zeiten  der  römischen  Geschichte  gingen  die  me- 
dicinischen  Kenntnisse  vom  Vater  auf  den  Sohn  oder  einen  Verwandten 
und  Freund  über.  Die  persönliche  Unterweisung  des  Schülers  durch 
den  Heilkundigen  blieb  auch  später  die  häufigste,  wenn  nicht  einzige 
Form  des  medicinischen  Unterrichts. 

Als  die  griechische  Heilkunst  nach  Rom  verpflanzt  wurde,  erhielt 
der  medicinische  Unterricht  mit  dem  aus  der  reichen  medicinischen 
Literatur  der  Griechen  entnommenen  Inhalt  auch  die  äussere  Gestalt, 
welche  er  in  Griechenland  hatte.  Die  nach  Rom  eingewanderten 
griechischen  Ärzte  traten  dort  als  Lehrer  ihrer  Kunst  auf  und  führten 
die  Einrichtungen  ihrer  Heimath  ein. 

Wie  in  Griechenland,  so  war  auch  in  Rom  die  ärztliche  Praxis 
ein  freies  Gewerbe,  dessen  Ausübung  Jedem  gestattet  wurde,  welcher 
die  dazu  erforderliche  Befähigung  zu  besitzen  glaubte.  Es  gab  keine 
gesetzlichen  Vorschriften,  welche  das  Bildungswesen  der  Ärzte  regelten. 
Sie  erwarben  die  fachmännischen  Kenntnisse,  wie  und  wo  sie  wollten. 
Ihre  Ausbildung  war  daher  sehr  ungleich. 

Der  ärztliche  Stand  vereinigte  Elemente  in  sich,  welche  in  Bezug 
auf  ihr  Wissen  sehr  verschieden  waren;  neben  Männern,  welche  ihm 
zu  jeder  Zeit  zur  Zierde  gereicht  hätten,  enthielt  er  auch  Leute,  welche 
weder  von  der  Heilkunde  noch  von  anderen  Wissenschaften  etwas  ver- 
standen. Mit  Recht  klagte  Punkts1  darüber,  „dass  man  in  Rom 
Jedem,  der  sich  für  einen  Arzt  ausgiebt,  Glauben  schenkt,  obwohl 
gerade  hier  die  Lüge  die  grössten  Gefahren  im  Gefolge  hat."  „Leider 
giebt  es  kein  Gesetz",  schreibt  er  ferner,  „welches  die  Unwissenheit  der 
Ärzte  bestraft,  und  Niemand  nimmt  Rache  an  ihm,  wenn  durch  seine 
Schuld  Jemand  zu  Grunde  geht.  Es  ist  ihm  erlaubt,  auf  unsere  Gefahr 
hin  zu  lernen,  mit  unserem  Tode  Experimente  zu  machen  und,  ohne 
Strafe  befürchten  zu  müssen,  das  Leben  eines  Menschen  zu  vernichten." 

Jünger  der  Heilkunst,  welche  ihrem  Beruf  Ehre  machen  wollten, 
waren  natürlich  bestrebt,  sich  gründliche  Kenntnisse  in  ihrem  Fach  zu 
erwerben.  Sie  bereiteten  sich  dafür  durch  philosophische  Studien  vor, 
welche  zugleich  ihre  Allgemeinbildung  vervollständigten.  Galen2 
schrieb  eine  Abhandlung  über  die  Noth wendigkeit,  dass  der  Arzt  Bil- 
dung des  Geistes  und  Herzens  besitzen  und  mit  einem  Wort  ein  Phi- 
losoph sein  müsse. 


1  Plinius:  Hist.  nat.  XXIX,  8.  2  Galen  a.  a.  0.  I,  53—63. 


Der  medieinische   Unterricht  in  Rom.  83 


Zu  Cato's  Zeit  umfasste  die  Allgemeinbildung  ausser  der  Rechts- 
kunde,  der  Kriegs  Wissenschaft  und  Landwirthschaft  auch  die  Medicin, 
bestand  also  in  einer  encyklopädischen  Übersicht  der  wichtigsten,  für 
das  praktische  Leben  brauchbaren  Dinge. 

Als  mit  der  Verpflanzung  der  griechischen  Cultur  der  Kreis  dieser 
Wissenschaften  derartig  erweitert  wurde,  dass  ihre  Kenntniss  den  Fach- 
männern vorbehalten  werden  musste,  erfuhr  der  Begriff  der  Allgemein- 
bildung eine  noth wendige  Einschränkung.  Die  Unterrichtsgegenstände, 
welche  in  den  Schulen  gelehrt  wurden,  bestimmte  das  Bedürfniss 
und  die  Gewohnheit.  Der  Elementarstufe  entsprachen  das  Lesen, 
Schreiben  und  Rechnen.  Hierzu  kam  seit  den  punischen  Kriegen  für 
die  vorgeschrittenen  Schüler,  welche  eine  höhere  Bildung  zu  erlangen 
wünschten,  das  Studium  der  griechischen  Sprache  und  Literatur  nebst 
der  Lektüre  lateinischer  Werke,  womit  der  Unterricht  in  der  Geschichte, 
Geographie,  Astronomie,  den  Naturwissenschaften,  der  Philosophie,  Musik 
und  anderen  Fächern  verbunden  wurde.  Einen  akademischen  Charakter 
trugen  die  Rhetorenschulen,  in  welchen  strebsame  Jünglinge  die  Dia- 
lektik und  die  Redekunst  erlernten.1 

Medieinische  Lehranstalten  in  unserem  Sinne  kannte  das  Alterthum 
nicht.  Der  ärztliche  Unterricht  wurde  überall  nur  von  einem  einzigen 
Lehrer  ertheilt,  welcher  seine  Schüler  mit  allen  Theilen  seiner  Wissen- 
schaft bekannt  machte.  Selbst  wenn  mehrere  Lehrer  der  Heilkunde 
an  einem  Ort  wirkten,  fehlte  doch,  wie  es  scheint,  ein  organisatorisches 
Band,  das  sie  zu  gemeinsamer  Thätigkeit  vereinigte. 

Wissbegierige  Schüler  begnügten  sich  nicht  damit,  einen  einzigen 
Lehrer  zu  hören,  sondern  suchten  noch  andere  Ärzte  auf,  um  auch 
deren  Ansichten  und  Erfahrungen  kennen  zu  lernen. 

Anfangs  war  der  medieinische  Unterricht  lediglich  Privatsache. 
Erst  Alexander  Severus  (225 — 235  n.  Chr.)  setzte  den  Lehrern  der 
Heilkunde  Besoldungen  aus  und  überwies  ihnen  öffentliche  Hörsäle, 
wofür  sie  freilich  die  Verpflichtung  übernehmen  mussten,  arme  Studie- 
rende, die  vom  Staat  unterstützt  wurden,  unentgeltlich  zu  unterrichten.2 
Constantin  forderte  die  Ärzte  auf,  recht  viele  Schüler  in  ihre  Wissen- 
schaft einzuweihen,  und  verlieh  ihnen  dafür  manche  Vorrechte. 3  Doch 
scheinen   sich    später    vorzugsweise    die   Archiatri    oder    solche    Ärzte, 


i 


J.  Marquardt:  Das  Privatleben  der  Römer  im  Handbuch  der  römischen 
Alterthümer,  Leipzig  1879,  Bd.  VII,  S.  90  u.  fi\_ 

2  Lampridius:  Alexander  Severus,  c.  44. 

3  Cod.  Theodos.,  lib.  XIII,  tit.  3,  quo  faeilius  liberalibus  studiis  et  memo- 
ratis  artibus  multos  instituant. 

6* 


84  Der  medicinische   Unterricht  im  Älterthum. 


welche  das  Amt  eines  Archiaters  bekleidet  hatten,  der  Lehrtätigkeit 
gewidmet  zu  haben. 

Der  medicinische  Unterricht  wurde  entweder  gegen  Honorar  oder 
unentgeltlich  ertheilt. 1 

Die  Dauer  der  Studienzeit  war  verschieden  und  richtete  sich  nach 
den  Fähigkeiten,  wissenschaftlichen  Bedürfnissen  und  Geldmitteln  des 
Studierenden.  Während  Galen,  wie  erwähnt,  den  medicinischen  Stu- 
dien 11  Jahre  widmete,  versprach  Thessalus,  ein  Anhänger  der  me- 
thodischen Sekte,  der  sich  durch  sein  charlatanähnliches  xluftreten  be- 
kannt machte,  seine  Schüler,  welche  noch  kurz  vorher  als  Köche,  Färber, 
Wollspinner,  Flickschuster,  Weber  oder  Tuchwalker  gearbeitet  hatten, 
binnen  6  Monaten  zu  Ärzten  auszubilden. 2  Er  bekam  in  Folge  dessen, 
wie  Galen  berichtet,  eine  grosse  Anzahl  von  Schülern,  welche  in  kurzer 
Zeit  und  ohne  besondere  Mühen  die  Heilkunst  erlernen  wollten,  damit 
sie  viel  Geld  erwerben  konnten.  Denn  „nicht  der  Arzt,  welcher  in 
seinem  Fach  am  tüchtigsten  ist,  sondern  derjenige,  welcher  am  besten 
zu  schmeicheln  versteht,  geniesst  die  Achtung  der  grossen  Menge;  ihm 
wird  Alles  leicht  gemacht,  ihm  stehen  alle  Thüren  offen;  er  gewinnt 
Keichthum  und  Macht  und  die  Schüler  drängen  sich  von  allen  Seiten 
an  ihn  heran."3 

Derartige  Jünger  der  Heilkunst  konnten  oft  nicht  lesen  und  kaum 
richtig  sprechen.4  Sie  sahen  mit  Verachtung  auf  Diejenigen  herab, 
welche  sich  mit  den  theoretischen  Fächern  der  Heilkunde  beschäftigten, 
und  erklärten  sie  für  Narren,  welche  die  Zeit  mit  nutzlosen  Dingen 
vergeuden.5  Natürlich  hielten  sie  das  Studium  der  Anatomie  und 
Physiologie  für  überflüssig;  denn  ihnen  lag  nur  daran,  jene  handwerks- 
mässige  Routine  in  der  Behandlung  der  Krankheiten  zu  erlangen,  die 
ihnen  für  ihren  Beruf  nöthig  erschien. 

Die  Anatomie  hatte  durch  die  Alexandriner,  sowie  durch  Rueus 
von  Ephesus,  Marinus,  Quintus  und  deren  Schüler  Lykus,  Satyeüs, 
Pelops,  Aeschrion,  welche  die  Lehrer  Galen's  waren,  einen  hohen 
Grad  der  Entwicklung  erfahren.  Man  kannte  die  Lage  und  Gestalt 
der  einzelnen  Knochen,  ihre  gegenseitigen  Verbindungen,  die  Nähte, 
das  Periost,  die  Markhaut,  die  Gelenkknorpel,  verschiedene  Gelenke 
nebst  den  dazu  gehörigen  Bändern  und  Sehnen,  die  wichtigeren  Muskel- 
gruppen,   und    machte    sich    ziemlich    richtige  Vorstellungen  über  die 


1  Lucian:  Der  verstossene  Sohn,  c.  24. 

2  Galen  I,  88.   X,  5.  19.  3  Galen  X,  4.  4  Galen  XIX,  9. 

5  Galen  I,  54.  XIV,  ßOO.   —   Scribon.  Largi  ad  Callist.,   Edit.  G.  Helm- 
kkich,  Lips.  1887,  p.  4. 


Der  medicinische   Unterricht  in  Rom.  85 


Form  und  Lagerung  der  Organe  in  der  Brust-  und  Bauchhöhle. 
Galen  l  wies  bereits  auf  die  analoge  Bildung  der  Geschlechtstheile  bei 
beiden  Geschlechtern  hin  und  erklärte,  dass  sie  sich  hauptsächlich  nur 
dadurch  von  einander  unterscheiden,  dass  sie  beim  Weibe  nach  innen, 
beim  Manne  nach  aussen  gelagert  sind. 

Das  Gefässsystem  war  noch  wenig  erforscht;  doch  wusste  man  die 
Arterien  von  den  Yenen  zu  unterscheiden,  und  bemerkte  die  verschie- 
dene Qualität  des  Blutes  dieser  beiden  Gefässarten. 2  Staunen  erregen 
die  Kenntnisse,  welche  man  vom  Nervensystem  besass.  Galen  lieferte 
eine  genaue  Beschreibung  des  Gehirns  und  Rückenmarks3  und  schilderte 
den  Verlauf  vieler  Nerven.  So  bezieht  er  sich  auf  den  Opticus,  den 
Oculomotorius  und  Trochlearis,  die  einzelnen  Äste  des  Trigeminus,  den 
Acusticus  und  Facialis,  Vagus  und  Glossopharyngeus,  die  Nerven  des 
Kehlkopfs  und  Schlundes,  den  Sympathicus,  und  deutet  bereits  die 
Ganglien  desselben  an;  desgleichen  weist  er  auf  die  Nn.  radiales,  ulnares, 
mediani,  crurales  und  ischiadici  hin.  Das  Chiasma  der  Sehnerven  wurde 
schon  von  Rufus,  dem  Ephesier,  erwähnt,  der  auch  die  Unterscheidung 
der  Nerven  in  motorische  und  sensibele  zuerst  hervorgehoben  hat.4 

Die  Ergebnisse  der  anatomischen  Forschungen  stützten  sich  haupt- 
sächlich auf  Sektionen  von  Thieren.  Zur  anatomischen  Untersuchung 
menschlicher  Körper  bot  sich  nur  ausnahmsweise  Gelegenheit,  und 
selbst  in  Alexandria,  wo  seit  den  Ptolemäern  freiere  Anschauungen 
darüber  herrschten,  war  sie  zu  Galen's  Zeit  schon  sehr  selten.  Nur 
die  Leichen  von  feindlichen  Kriegern,  welche  auf  dem  Schlachtfelde 
gefallen  waren,  von  Verbrechern,  die  hingerichtet  worden  waren  oder 
unbeerdigt  aufgefunden  wurden,  und  von  todtgeborenen  und  ausgesetzten 
Kindern  durften  zu  solchen  Zwecken  benutzt  werden.5 

Auch  Verletzungen,  welche  mit  der  Blosslegung  der  Weich theile 
verbunden  waren,  konnten  über  die  Lage  mancher  Organe  einige  Auf- 
schlüsse geben.  An  Vivisektionen  war  in  Born  natürlich  nicht  zu 
denken,  und  Celsus  drückte  sicherlich  die  öffentliche  Meinung  aus,  als 
er  schrieb:  „Das  Öffnen  lebender  Körper  halte  ich  für  grausam  und 
überflüssig,  das  der  Leichen  hingegen  für  nothwendig  für  die  Lernen- 
den; denn  sie  müssen  Lage  und  Anordnung  der  einzelnen  Theile  des 


1  Galen  IV,  635.  2  Galen  III,  491. 

3  Ch.  Daremberg:  Exposition  des  connaissances  de  Galien  sur  fanatomie  et 
la  physiologie  du  Systeme  nerveux,  Paris  1841.  —  F.  Falk:  Galen's  Lehre  vom 
gesunden  und  kranken  Nervensystem,  Leipzig  1871. 

4  Oeuvres  de  Rufus,  publiees  par  Ch.  Daremberg  et  Ch.  Em.  Ruelle,  Paris 
1879,  p.  153.  170. 

5  Galen  II,  385. 


86  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


Körpers  kennen.  Dazu  sind  Leichen  geeigneter,  als  lebende  und  ver- 
wundete Menschen."1 

Galen  erzählt,  dass  die  Ärzte,  welche  mit  dem  römischen  Heere 
in  den  Krieg  gegen  Deutschland  zogen,  die  Erlaubniss  erhielten,  die 
Leichen  gefallener  Feinde  zu  zergliedern.  Leider  konnten  sie  daraus, 
setzt  er  hinzu,  keinen  Gewinn  für  ihr  Wissen  ziehen,  weil  ihnen  die 
nothwendigen  anatomischen  Vorkenntnisse  fehlten.2  Bei  einer  anderen 
Gelegenheit  berichtet  er,  wie  er  durch  Zufall  in  den  Besitz  zweier 
Skelette  gelangt  war,  von  denen  das  eine  von  einem  aus  seinem  Grabe 
durch  einen  ausgetretenen  Fluss  hervorgeschwemmten  Leichnam,  das 
andere  von  einem  Räuber  herrührte,  der  im  Gebirge  erschlagen  wor- 
den war.3 

Galen's  anatomische  Angaben  beruhen  grösstentheils  auf  Zerglie- 
derungen thierischer  Körper.  Er  erklärt  dies  selbst;  doch  geht  es  auch 
aus  den  Beschreibungen  einzelner  Organe  hervor.  So  schildert  er  z.  B. 
nicht  die  Hand  und  den  Fuss  des  Menschen,  sondern  des  Affen.  Er 
benutzte  zu  seinen  anatomischen  Untersuchungen  vorzugsweise  solche 
Affenarten,  welche  dem  Menschen  ähnlich  sind.4  Er  glaubte,  dass  ihr 
Körper  ebenso  gebaut  sei,  wie  der  des  Menschen,  und  hat  sich  dadurch 
zu  einigen  Irrthümern  verleiten  lassen,  deren  Berichtigung  erst  einer 
viel  späteren  Zeit  gelungen  ist.  Ausserdem  hat  er  Bären,  Schweine, 
Einhufer,  Wiederkäuer,  einmal  sogar  einen  Elephanten,  ferner  verschie- 
dene kleinere  vierfüssige  Thiere,  sowie  Vögel,  Fische  und  Schlangen 
secirt,  um  seine  anatomischen  Kenntnisse  zu  vermehren. 

Der  anatomische  Unterricht  begann  damit,  dass  dem  Studierenden 
an  dem  nackten  Körper  eines  lebenden  Menschen  die  einzelnen  Theile 
desselben  gezeigt  und  erklärt  und  die  unter  der  Haut  liegenden  Organe 
genannt  wurden.  Daran  schlössen  sich  später  Zergliederungen  von 
Thieren,  deren  "Typus  sich  dem  menschlichen  näherte.  Dabei  wurden 
die  einzelnen  Knochen  und  Muskelpartien,  sowie  die  inneren  Theile  des 
Körpers  betrachtet  und  die  Lage  und  Anordnung  der  Organe  in  den 
Körperhöhlen  studiert.  „Wenn  sie  auch  nicht  in  jedem  einzelnen  Punkt 
den  entsprechenden  Gebilden  des  Menschen  gleichen",  schreibt  Rufis, 
welcher  diese  Lehrmethode  mittheilt,  „so  ist  dies  doch  in  der  Haupt- 
sache der  Fall.  Ein  richtigeres  Bild  erhielt  man  allerdings  in  früheren 
Zeiten,  als  man  noch  menschliche  Körper  zu  derartigen  Untersuchungen 
verwenden  durfte."5 

In  ähnlicher  Weise  spricht  sich   Galen  über  den    anatomischen 


1  Celsus:  Praefat.  2  Galen  XIII,  604.  3  Galen  II,  221. 

4  Galen  II,  223.  5  Eufüs  d'Ephese  a.  a.  0.  p.  134. 


Der  medieinisehe   Unterricht  in  Rom.  87 


Unterricht  aus.  „Aus  Büchern  allein  kann  man  die  Anatomie  nicht 
lernen",  sagt  er,  „und  auch  nicht  durch  eine  oberflächliche  Betrachtung 
der  Theile  des  Körpers." l  Er  empfahl  deshalb  ein  fleissiges  eingehendes 
Studium,  welches  mit  der  Knochenlehre  begann,  und  dann  zu  den 
Muskeln,  Arterien,  Yenen,  Nerven  und  den  inneren  Organen  überging. 

Dem  Unterricht  dienten  nicht  blos  Sektionen  thierischer  Cadaver, 
sondern  man  benutzte  dazu  auch  menschliche  Skelette  oder  Knochen- 
präparate. Vielleicht  wurden  zu  diesem  Zweck  in  manchen  Fällen 
plastische  Nachbildungen  aus  Marmor  verwendet?  —  Die  Vatikanischen 
Museen  besitzen  noch  drei  derartige  Bildwerke.  Zwei  derselben  stellen 
den  skelettirten  Thorax  dar;  der  eine  erscheint  geöffnet,  und  lässt  das 
Herz,  die  Lungen,  das  Zwerchfell  nebst  Andeutungen  der  Leber  und 
des  Darmes  erkennen.  Die  dritte  Nachbildung  zeigt  ebenfalls  das  Herz 
und  die  beiden  Lungen.2  Welckee  bezweifelt,  dass  sie  zum  ana- 
tomischen Unterricht  verwendet  wurden,  und  glaubt,  dass  nur  „die 
Seltenheit  des  Anblicks  einer  in  ihrem  Innern  blossgelegten  Brust, 
eines  von  allem  Fleisch  reingeschälten  Kippenkastens,  wozu  die  Schläch- 
tereien der  Gladiatoren,  die  Hinausschleifung  von  Missethätern  in  die 
Verbrechergrube  und  andere  Vorfallenheiten  den  Ärzten  Gelegenheit 
bieten  konnten,  bei  der  eigenthümlichen  Richtung  vieler  römischen  Bild- 
hauer, Alles,  was  im  Leben  vorkam,  oft  ohne  allen  künstlerischen  Sinn 
und  Geschmack  genremässig  abzubilden,  zu  obigen  Bildwerken  Anlass 
gegeben  habe."3 

Die  Nachbildungen  der  mumienartig  vertrockneten  menschlichen 
Körper,  welche  bei  Gastmählern  aufgestellt  wurden,  um  zum  Genuss 
des  Lebens  aufzufordern,4  können  hier  ebensowenig  in  Betracht  kommen, 
als  die  zahlreichen  Darstellungen  von  Bewohnern  des  Todtenreiches, 
die  auf  Grabmälern,  auf  Gemmen  und  in  Bronce  uns  überliefert  worden 
sind,  weil  sie  zum  anatomischen  Unterricht  in  gar  keinen  Beziehungen 
standen.5  Auch  die  von  Blumenbach  als  Titel- Vignette  zu  seiner 
„Geschichte  und  Beschreibung  der  Knochen  (Göttingen  1786)"  ver- 
wendete,   einem    alten    Carneol    entlehnte  Figur   eines    bärtigen    alten 


1  Galen  II,  220. 

2  Em.  Braun  im  Bullet,  dell'  instituto  archeol.  Koma  1844,  p.  16 — 19.  — 
J.  M.  Charcot  u.  A.  Dechambre:  De  quelques  marbres  antiques  concern.  des 
etudes  anatomiques  in  der  Gaz.  hebd.  de  med.  et  de  chir. ,  Paris  1857,  T.  IV, 
No.  25.  27.  30  (wo  auch  der  sogen.  Aesop  der  Villa  Albani  in  Rom  besprochen  wird). 

3  F.  G.  Welcker:  Kleine  Schriften,  Bd.  III,  S.  223. 

4  Petronius:  Satyr.,  c.  34. 

5  G.  E.  Lessing:  Wie  die  Alten  den  Tod  abgebildet  haben.  —  J.  M.  F. 
v.  Olfers:  Über  ein  Grab  bei  Kumae  in  den  Abhandlungen  der  Akad.  d.  Wiss., 
Berlin  1830. 


88  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 

Mannes,  der  ein  vor  ihm  stehendes  menschliches  Skelett  an  der  linken 
Hand  anfasst,  deutet  eher  auf  die  Schöpfung  des  Menschen  durch 
Prometheus  hin,  als  auf  anatomische  Belehrung. 

Ungewiss  ist  es,  ob  man  beim  anatomischen  Unterricht  Zeichnungen 
gebrauchte;  doch  ist  es  nicht  gerade  unwahrscheinlich,  da  man  auch 
in  anderen  Disciplinen  von  solchen  Lehrmitteln  Gebrauch  machte.1 
Ob  die  in  einigen  Handschriften  des  Muscio  enthaltenen  Darstellungen 
des  Uterus  und  der  Ovarien  aus  dem  Alterthum  stammen,  lässt  sich 
natürlich  nicht  bestimmen.  Das  Gleiche  ist  der  Fall  mit  den  angeblich 
einer  Le}rdener  Handschrift  entnommenen  anatomischen  Zeichnungen  in 
der  Introductio  anatomica  anonymi,  welche  durch  J.  St.  Beenaed 
(Lugd.-Bat.  1744)  veröffentlicht  worden  sind. 

Mit  dem  anatomischen  Unterricht  wurden  die  Erklärungen  der 
Funktionen  des  menschlichen  Körpers  und  seiner  einzelnen  Theile  ver- 
bunden. Man  ging  dabei  von  der  aprioristischen  Voraussetzung  einer 
planmässigen  Bildung  der  Organe  aus,  nahm  also  an,  dass  die  letzteren 
nur  geschaffen  worden  seien,  damit  die  von  der  Natur  gewollten  Funk- 
tionen ausgeführt  werden  können. 

Die  dieser  Anschauung  entgegengesetzte,  von  Epikue  und  später 
von  Asklepiades  vertretene  Meinung,  dass  die  Natur  gar  manche  ver- 
gebliche Versuche  macht,  bevor  sie  ein  dauerndes  Resultat  erzielt,  und 
dass  der  Gebrauch  der  Organe,  d.  h.  ihre  Funktion  erst  erlernt  wird, 
nachdem  dieselben  schon  gebildet  sind,2  fand  in  Galen  einen  erbitterten 
Gegner.  Mit  allem  Scharfsinn  und  aller  Gelehrsamkeit,  die  ihm  zu 
Gebote  standen,  unternahm  er  es,  den  Teleologismus  zu  begründen, 
in  welchem  er  das  beste  Mittel  sah,  den  Realismus  des  Aristoteles 
mit  dem  Platonischen  Idealismus  zu  versöhnen.  Doch  scheint  in  ihm 
bisweilen  die  Ahnung  aufgetaucht  zu  sein,  dass  die  Spekulation  allein 
keine  befriedigende  Antwort  zu  geben  vermag.  Er  wurde  dadurch  auf 
den  Weg  geführt,  der  hier  allein  zum  Ziele  führt,  auf  den  Weg  der 
Beobachtung  und  des  Experiments. 

Auf  diese  Weise  trachtete  er,  den  Vorgang  der  Athmung  und  die 
Herzthätigkeit  kennen  zu  lernen.  An  Thieren  durchschnitt  er  das 
Rückenmark,  die  Intercostal-Muskeln  oder  ihre  Nerven  und  entfernte 
einzelne  Rippen,3  um  zu  sehen,  welche  Veränderungen  der  Respiration 
dadurch  hervorgerufen  werden.  Dabei  fand  er,  dass  bei  der  ruhigen 
Athmung  hauptsächlich   das  Zwerchfell   thätig  ist  und  sich  die  Inter- 


1  Marquaudt  a.  a.  0.  Bd.  VII,  S.  107.  802. 

2  Galen  III,  74.  364. 

3  Galen  II,  475.  681.  696.  IV,  685.  V,  239.   —  Oribasius  a.  a.  0.   III,  23H. 


Der  medicinische   Unterricht  in  Rom.  89 

costal-Muskeln  nur  bei  angestrengter  Respiration  betheiligen.1  Die 
Bewegungen  des  Herzens  beobachtete  er  an  Thieren,  deren  Brust- 
kasten eröffnet  worden  war;  auch  hatte  er  einmal  dazu  Gelegenheit 
bei  einem  Knaben,  dessen  Herz  in  Folge  einer  penetrirenden  Brust- 
wunde  bloss  lag.2 

Durch  zahlreiche  totale  oder  partielle  Durchschneidungen  des 
Rückenmarks  und  einzelner  Nerven  und  durch  schichtenweise  Ab- 
tragungen des  Gehirns ,  die  er  an  Schweinen  vornahm,  hoffte  er  die 
physiologische  Bedeutung  dieser  Organe  zu  erforschen.3  Mögen  die 
von  ihm  gewonnenen  Resultate,  welche  er  genau  beschreibt,  auch  nicht 
seinen  Erwartungen  entsprochen  haben,  so  verdienen  diese  Versuche 
doch  volle  Anerkennung,  weil  sie  die  ersten  in  ihrer  Art  waren  und 
die  richtige  Methode  zeigten,  nach  welcher  diese  Fragen  gelöst  werden 
müssen. 

Galen  wurde  dabei  von  einer  überaus  glücklichen  Phantasie  unter- 
stützt, die  ihm  die  treffenden  Worte  in  den  Mund  gab,  selbst  dort, 
wo  er  zu  keinem  Verständniss  durchdringen,  wo  er  den  Sachverhalt 
kaum  ahnen  konnte.  Wenn  er  z.  B.  erklärt,  dass  sich  der  Schall 
„einer  Welle  gleich"  fortleitet,4  oder  die  Vermuthung  ausspricht,  dass 
derselbe  Bestandtheil  der  Luft,  welcher  für  die  Athmung  massgebend 
ist,  auch  bei  der  Verbrennung  wirkt,5  so  sind  dies  Gedanken,  die  über- 
raschen, da  deren  volle  Bedeutung  zu  verstehen  erst  zwei  Jahrtausende 
später  möglich  war. 

Zur  Zeit  Galens  hatten  die  Ärzte  übrigens  nur  geringes  Interesse 
für  die  Probleme  der  Physiologie.  Ihre  Aufmerksamkeit  wurde  haupt- 
sächlich durch  die  praktische  Heilkunde  in  Anspruch  genommen.  Die 
Kunst  zu  heilen,  stand  ihnen  höher,  als  die  Wissenschaft  vom  Menschen 
—  und  war  auch  einträglicher. 

Diese  Richtung  führte  zu  einer  Üeissigen  Bearbeitung  der  Arznei- 
mittellehre. Zahlreiche  Sammlungen  von  gereimten  und  ungereimten 
Recepten  und  Zusammenstellungen  von  Medicamenten  gaben  diesen 
Bestrebungen  in  der  Literatur  Ausdruck.  Zu  den  hervorragenderen 
Erscheinungen  derselben  gehörten  die  pharmakologischen  Schriften  des 
Philon  aus  Tarsus,  Scribonius  Lakgus,  Sextiüs  Niger,  Menekrates, 
Andromachus,  Damokrates,  vor  Allem  aber  das  Werk  des  Pedanius 


1  Galen  IV,  465  u.  ff.  2  Galen  II,  631. 

3  Galen  II,    677.  682.  692.  697.   V,  645.    —    Ch.  Daremberg:    Histoire   des 
seiences  medicales,  T.  I,  p.  224. 

4  Galen  III,  644. 

5  Galen  III,   412.    —   Vergl.   a.   Haeser:    Geschichte   der  Medicin,   Bd.  I, 
S.  360,  3.  Aufl. 


90  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Alter  thum. 


Dioskobldes  aus  Anazarba  in  Cilicien,  der  als  Militärarzt  einen  grossen 
Theil  des  römischen  Keiches  kennen  gelernt  und  von  Jugend  auf  das 
Studium  der  Heilmittel  als  Lebensaufgabe  betrachtet  hatte.1 

Er  lieferte  eine  durch  Vollständigkeit  ausgezeichnete  systematische 
Übersicht  aller  damals  bekannten  Arzneistoffe  aus  den  drei  Naturreichen. 
Es  werden  darin  die  verschiedenen  Namen,  mit  welchen  sie  in  den 
einzelnen  Ländern  bezeichnet  wurden,  aufgezählt,  ihre  Heimath  genannt 
und  ihre  Gewinnung  oder  künstliche  Bereitung,  sowie  ihre  medicinischen 
Wirkungen  geschildert.  Dadurch  ist  dieses  Buch  nicht  nur  für  die 
Heilkunde,  sondern  auch  für  die  vergleichende  Sprachwissenschaft, 
namentlich  aber  für  die  Botanik  sehr  wichtig. 

Dioskokides  hat  darin  ungefähr  500  Pflanzen  beschrieben  und 
zwar  so  genau,  dass  es  möglich  war,  die  meisten  derselben  zu  bestimmen. 
E.  Meyee  hat  seine  Verdienste  auf  diesem  Gebiet  mit  den  Worten 
charakterisirt:  „Was  uns  Theophrastos  für  die  generelle,  das  ist  uns 
Dioskokides  für  die  specielle  Botanik  der  Alten,  die  Hauptquelle,  die 
allein  mehr  gilt,  als  die  übrigen  mit  einander."2 

Das  Werk  des  Dioskokides  wurde  schon  von  Galen,  der  sich  bei 
verschiedenen  Gelegenheiten  darauf  beruft,  sehr  hoch  geschätzt  und 
bildete  das  ganze  Mittelalter  hindurch  bis  in  die  Neuzeit  das  werth- 
vollste  Lehrbuch  der  Arzneimittellehre. 

Sicherlich  trug  es  nicht  wenig  dazu  bei,  den  Sinn  für  botanische 
und  pharmakologische  Studien  zu  erwecken  und  zu  erhalten.  „Der 
Arzt  soll  womöglich  alle  Pflanzen,  oder  doch  wenigstens  die  meisten 
und  gebräuchlichsten  kennen,"  schreibt  Galen.  „Die  Gattungen  oder, 
wenn  man  will,  die  Unterschiede  derselben  sind:  Bäume,  Sträucher, 
Kräuter,  Dornen,  Stauden.  Wer  sie  von  ihrer  Entstehung  an,  bis  sie 
ausgewachsen  sind,  unterscheiden  kann,  wird  sie  an  vielen  Orten  der 
Erde  finden.  So  habe  ich  selbst  in  vielen  Gegenden  Italiens  Pflanzen 
gefunden,  welche  Diejenigen,  die  sie  nur  in  getrocknetem  Zustande  ge- 
sehen hatten,  weder  während  des  Wachsthums,  noch  nachher  zu 
erkennen  vermochten.  Jeder  Salbenhändler  kennt  die  Pflanzen  und 
Früchte,  die  von  Kreta  hierher  gebracht  werden ;  aber  Niemand  weiss, 
dass  viele  davon  in  der  Umgegend  Roms  wachsen.  Deshalb  denkt  man 
auch  nicht  daran,  sie  zu  suchen,  wenn  die  Zeit  ihrer  Reife  gekommen 
ist."3  Er  erklärt  dann,  dass  er  darüber  unterrichtet  sei  und  es  nicht 
versäume,  die  Pflanzen  zur  richtigen  Zeit  zu  sammeln,  bevor  sie  von 


1  Pedanii  Dioscoridis  materia  medica  ed.  Curt.  Sprengel,  Lips.  1829,  T.I,  p.4. 

2  E.  Meyer:  Geschichte  der  Botanik,  Königsberg  1855,  Bd.  II,  S.  117. 

3  Galen  XIV,  30.  —  Meyer  a.  a.  0.  S.  191. 


Der  medicinische    Unterricht  in  Born.  91 


der  Hitze  des  Sommers  ausgetrocknet  und  die  Früchte  überreif  ge- 
worden sind.  An  einer  anderen  Stelle  bemerkt  er,1  dass  man  die 
Botanik  nicht  aus  Büchern,  von  denen  manche  mit  xlbbildungen  aus- 
gestattet sein  mochten,2  lernen  kann,  sondern  nur,  indem  man  die 
Pflanzen  selbst  unter  Anleitung  eines  Lehrers  betrachtet  und  aufsucht. 
„Diese  Unterrichtsmethode,"  setzt  er  hinzu,  „gilt  nicht  blos  für  die 
Pflanzen,  sondern  überhaupt  für  die  gesammte  Arzneimittellehre." 

Die  Ärzte  mussten  sich  mit  diesem  Gegenstande  sehr  eingehend 
beschäftigen,  weil  sie  genöthigt  waren,  die  Arzneien  selbst  zu  bereiten. 
Allerdings  zogen  es  Einzelne  aus  Bequemlichkeit  vor,  bei  den  Droguen- 
händlern,  welche  ausserdem  noch  Mittel  zum  Färben  der  Haare,  zur 
Beförderung  der  Schönheit  und  allerlei  Toiletten-Artikel  auf  dem  Lager 
hielten,  anstatt  der  Rohmaterialien  die  zusammengesetzten  Medicamente 
zu  kaufen.3  Aber  im  Allgemeinen  pflegten  die  Ärzte  nur  die  ein- 
fachen Arzneistoffe  zu  kaufen,  welche  sie  zur  Bereitung  ihrer  Recepte 
bedurften. 

Die  Furcht,  dabei  durch  verdorbene  oder  verfälschte  Waaren  be- 
trogen zu  werden,  veranlasste  Manche,  die  medicamentösen  Stoffe  aus 
erster  Hand  zu  erwerben  oder  selbst  zu  sammeln.  Galen  unternahm 
zu  diesem  Zweck  sogar  weite  Reisen;  auch  liess  er  sich  die  Arzneistoffe 
aus  den  Ländern,  wo  sie  gewonnen  wurden,  durch  Yermittelung  ver- 
lässlicher Freunde  senden,  um  sicher  zu  sein,  dass  sie  echt  waren.4 
Diese  Besorgniss  war  gerechtfertigt,  da  die  Verfälschung  der  Arznei- 
mittel geschäftsmässig  betrieben  wurde  und  es  nicht  einmal  möglich 
war,  den  Balsamsaft,  der  auf  der  kaiserlichen  D omaine  Engaddi  in 
Palästina  gewonnen  wurde  und  Staatsmonopol  bildete,  in  Rom  unver- 
fälscht zu  erhalten. 

Für  den  kaiserlichen  Hof  wurden  aus  diesem  Grunde  die  Arznei- 
stoffe unter  der  Aufsicht  von  Beamten  gesammelt,  in  Papier  verpackt  und 
mit  einer  Aufschrift  versehen,  welche  den  Namen  und  bisweilen  auch 
den  Fundort  der  Pflanze  angab,  und  dann  nach  Rom  gesandt,  wo  sie 
in  besonderen  Magazinen  aufbewahrt  wurden.5  Die  letzteren  enthielten 
einen  solchen  Yorrath  an  medicamentösen  Stoffen,  dass  er  nicht  nur 
für  den  Gebrauch  des  Hofes  ausreichte,  sondern  davon  noch  an  Privat- 
personen verkauft  werden  konnte.  Doch  war  dies  keineswegs  genügend, 
um  den  Handel  mit  Verfälschungen  wesentlich  zu  beeinträchtigen. 
Dieselben  gingen  übrigens  nicht  so  sehr  von  den  Droguenhändlern,  als 


1  Galen  XI,  797.  2  Plinius:  Hist.  nat.  XXV,  8. 

3  Plinius  a.  a.  0.  XXXIV,  25.  4  Galen  XII,  216.  XIV,  7  u.  ff. 

5  Galen  XIV,  9.  25.  79. 


92  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Alierthum. 


von  deren  Lieferanten  und  den  Wurzelsuchern  aus,  welche  die  Arznei- 
kräuter aus  dem  Gebirge  in  die  Stadt  brachten.1 

Die  Fälschungen  wurden  so  geschickt  gemacht,  dass  die  geriebensten 
Kenner,  wie  Galen2  bemerkt,  dadurch  getäuscht  wurden  und  die 
Waaren  für  echt  hielten.  Er  hatte  in  seiner  Jugend  selbst,  wie  er 
erzählt,3  bei  einem  Manne,  der  sich  mit  der  Herstellung  solcher  Fäl- 
schungen beschäftigte,  Unterricht  darin  genommen  und  ihm  ein  hohes 
Honorar  dafür  bezahlt,  dass  er  ihn  in  diese  Geheimnisse  einweihte. 
Da  er  dies  Alles  kannte,  so  gab  er  den  Studierenden  der  Heilkunde 
den  wohlmeinenden  Rath,  grossen  Fleiss  auf  das  Studium  der  Arznei- 
mittel zu  verwenden.  „Die  Jünglinge  müssen  dieselben  nicht  blos 
einmal  oder  zweimal,  sondern  oft  sehen.  Denn  nur,  wenn  man  diese 
Dinge  mit  den  Sinnen  in  sich  aufnimmt,"  schreibt  er,4  „und  recht 
häufig  betrachtet,   erlangt  man  eine  gründliche  Kenntniss  derselben.- 

Die  Medicamente  wurden  mit  einer  Etikette  versehen,  auf  welcher 
der  Name  derselben  und  ihres  Erfinders,  die  Krankheit,  gegen  die  sie 
verordnet  wurde,  die  Art  ihres  Gebrauchs,  und  manchmal  auch  der 
Name  des  Kranken  angegeben  war. 

Die  Augensalben,  welche  einen  gangbaren  Handelsartikel  bildeten, 
wurden  in  Gefässe  verpackt,  denen  der  Stempel  des  Arztes,  der  sie 
bereitet  hatte,  aufgedrückt  wurde.  Stempel  dieser  Art  wurden  in  Frank- 
reich, England,  Deutschland  und  Siebenbürgen  aufgefunden,  namentlich 
dort,  wo  Lagerplätze  der  römischen  Legionen  gewesen  sind.  Man  hat 
bis  jetzt  mehr  als  1 60  verschiedene  Stempel  von  Augenärzten  beschrieben.5 

Die  Recepte  waren  lang  und  complicirt;  der  Theriak  bestand  z.  B. 
aus  mehr  als  70  verschiedenen  pflanzlichen  und  thierischen  Stoffen.6 
Manche  derselben  waren  widerlich  und  ekelhaft,  und  Galen  wunderte 
sich  über  die  Verordnungen  des  Arztes  Xenokrates,  welcher  sogar 
Menschenfleisch  empfohlen  hatte,  „da  es  ja  doch  im  römischen  Reiche 
verboten  sei,  Menschen  zu  fressen".7  Bei  einer  anderen  Gelegenheit, 
wo  von  einem  Arzt  die  Rede  ist,  welcher  den  Landleuten  Ziegenmist 
verordnete,  machte  Galen  die  witzige  Bemerkung,  dass  dergleichen 
nicht  für  die  feingebildeten  Städter  passe;  denn  der  Mist  sei  nur  den 
Bauern  zuträglich.8 


1  Galen  XIII,  571.  2  Galen  XIV,  7.  3  Galen  XII,  216. 

4  Galen  XIII,  570. 

6  C.  L.  Grotefend:  Die  Stempel  der  römischen  Augenärzte,  Hannover  1867. 
—  J.  Klein:  Stempel  römischer  Augenärzte,  Bonn  1874  (Nachtrag  zu  Grotefend's 
Buch).  —  Marquardt  a.  a.  0.  S.  758.  —  Heron  de  Villefosse  et  H.  Thedenat: 
Oachets  d'oculistes  romains,  Tours  et  Paris  1882. 

6  Galen  XIV,  8R  u.  ff.  7  Galen  XII,  24s.  8  Galen  XII.  299. 


Der  medicinische   Unterricht  in  Rom.  93 


Die  urtheilslose  Menge  huldigte  der  irrigen  Meinung,  dass  die 
theuersten  Arzneistoffe  auch  zugleich  die  heilkräftigsten  seien, l  und  ein 
reicher  Geldprotz  war  empört  darüber,  dass  Galen  ihm  dasselbe  Medi- 
cament  empfahl,  welches  er  bei  seinem  Sklaven  mit  Erfolg  angewendet 
hatte.  Als  er  hörte,  dass  es  aus  lauter  billigen  Substanzen  bestehe, 
rief  er  ihm  zu:  „Dies  magst  Du  für  Bettler  aufbewahren;  ich  will  ein 
Mittel,  welches  mehr  Geld  kostet."2 

Galen  befolgte  in  seiner  ärztlichen  Praxis  den  rationellen  Grund- 
satz, in  erster  Linie  das  Heilbestreben  der  Natur  wirken  zu  lassen  und 
nur  dann,  wenn  dasselbe  erfolglos  blieb,  einzugreifen. 

Die  Untersuchung  und  Behandlung  der  Kranken  war  im  Wesent- 
lichen die  gleiche,  wie  zu  den  Zeiten  der  Hippokratiker.  Ebenso  be- 
diente man  sich  derselben  diagnostischen  Hilfsmittel,  um  die  Krank- 
heiten zu  erkennen;  doch  hatte  die  Pulslehre  unter  dem  Einfluss  der 
Alexandrinischen  Schule  eine  sorgfältigere  Bearbeitung  erfahren.  In 
xler  Abhandlung  über  den  Puls,  welche  dem  Bueus  zugeschrieben  wird,3 
werden  die  Veränderungen  geschildert,  welche  er  in  den  einzelnen 
Lebensaltern  und  in  verschiedenen  Krankheiten  zeigt,  und  eine  be- 
stimmte Anzahl  verschiedener  Formen  desselben  unterschieden.  Da- 
gegen war  von  der  Auskultation  kaum  mehr  die  Bede,  wenn  man 
nicht  einige  Bemerkungen  des  Aretaeus  und  Caelius  Aurelianus, 
in  denen  von  Geräuschen  des  Herzens  gesprochen  wird,  darauf  be- 
ziehen will.4 

Bemerkenswerthe  Fortschritte  hatte  die  specielle  Pathologie  ge- 
macht. Die  römischen  Ärzte  kannten  verschiedene  Krankheiten,  welche, 
wie  der  Aussatz5  und  die  Hunds wuth,6  in  früheren  Zeiten  der  Beob- 
achtung entgangen  waren.  Aretaeus  lieferte  die  erste  Beschreibung 
der  diphtheritischen  Halsgeschwüre  im  Munde,  die  er  als  syrische  oder 
ägyptische  Geschwüre  bezeichnete.7  Andere  Krankheiten,  wie  die  Kuhr,8 
der  Icterus,9  die  Lithiasis,  welcher  Galen  die  gleiche  Entstehungs- 
ursache zuschrieb  wie  den  Gichtknoten,10  und  die  Schwindsucht11  wurden 


1  Plinius:  Hist.  nat.  XXIX,  8.  2  Galen  XIII,  636. 

8  Kufus  a.  a.  0.  p.  219—232. 

4  Aretaeus:   de   acut.   II,   3.    —    Caelius  Aurelianus:   de  acut.  II,  14.  — 
Galen  XVIII,  B.  649. 

5  Lucrez  VI,  v.  1112—14.  —  Celsus  III,  25.  —  Plinius:  Hist.  nat.  XXVI, 
5.  —  Caelius  Aurel.:  de  chron.  IV,  1.  —  Aretaeus:  de  chron.  II,  13. 

6  Plinius  a.  a.  0.  VIII,  63.  XXIX,  32.  —  Celsus  V,  27.  —  Caelius  Aure- 
lian.:  de  acut.  III,  9—16.  —  Aretaeus:  de  acut.  I,  7. 

7  Aretaeus:  de  acut.  I,  9.  8  Galen  XVII  A,  351. 

9  Galen  XVII  B,  742.  10  Galen  XIII,  993.  XVH  A,  835. 

11  Celsus  III,  22.  —  Aretaeus:  de  chron.  I,  8.  —  Cael.  Aurel.:  de  chron.  II,  14. 


94  Der  medicinische   Unterricht  im  Älterthum. 


genauer  erforscht.  Gegen  die  letztere  empfahl  man  ausser  Anderem 
Seereisen  und  den  Aufenthalt  an  klimatischen  Kurorten,  besonders  in 
Ägypten. 

Auch  die  Nervenpathologie  wurde  eifrig  und  erfolgreich  betrieben. 
Galen  berichtet,  dass  er  in  einem  Falle  die  Lähmung  der  Finger  von 
einem  Kückenmarksleiden  herzuleiten  vermochte,1  und  Aeetaeus  wusste 
bereits,  dass  sich  die  Nervenfasern  bald  nach  ihrem  Ursprung  durch- 
kreuzen, und  erklärte  dadurch  die  Thatsache,  dass  nach  Verletzungen 
einer  Gehirnhälfte  die  entgegengesetzte  Seite  des  Körpers  gelähmt  wird.2 

Der  Unterricht  in  der  praktischen  Heilkunde  wurde  theils  in  der 
Privatpraxis  des  Lehrers,  der  die  Schüler  zu  seinen  Patienten  mitnahm, 
theils  in  den  Iatreien  ertheilt.  Die  letzteren  wurden  nach  griechischem 
Muster  eingerichtet  und  Tabernae  medicae  oder  Medicinae  genannt.3 
Es  waren  die  Läden  oder  offenen  Geschäfte  der  Ärzte,  welche  hier 
Kranke  empfingen  und  behandelten,  chirurgische  Operationen  ausführten, 
Arzneien  bereiteten  und  verkauften  und  mit  ihren  Gehilfen  und  Schülern 
wohnten.  In  einzelnen  dieser  Anstalten  fanden  Patienten,  z.  B.  Geistes- 
kranke, auch  Aufnahme.4 

Viele  Städte  richteten  auf  ihre  Kosten  Iatreien  ein  und  übergaben 
sie  Ärzten,  um  sie  dadurch  zu  bestimmen,  ihren  festen  Wohnsitz  dort 
zu  nehmen. 5  Sie  befanden  sich,  wie  Galen,  welcher  darüber  sehr  aus- 
führliche Angaben  hinterlassen  hat,6  schreibt,  meistens  in  grossen  Ge- 
bäuden, hatten  hohe  Thüren,  welche  viel  Licht  und  Luft  hereinliessen 
und  waren  mit  chirurgischen  Instrumenten  und  Medicamenten  aus- 
gestattet. 

Auch  die  Valetudinarien, 7  die  Krankenzimmer,  welche  die  Gross- 
grundbesitzer für  ihr  Hausgesinde  und  ihre  zahlreichen  Sklaven  ein- 
richten Hessen,  mögen  oft  Gelegenheit  zur  praktischen  Unterweisung 
in  der  Untersuchung  und  Behandlung  der  Kranken  geboten  haben. 
Jedenfalls  wurden  hier  die  Sklaven,  welche  auf  Wunsch  ihrer  Herren 
zu  Ärzten  ausgebildet  wurden,  in  der  Heilkunst  unterrichtet.  —  Ähn- 
lichen Zwecken  dürften  auch  zuweilen  die  Militärlazarethe  gedient 
haben,  welche  ebenso  wie  Krankenställe  für  Pferde  überall,  wo  grössere 
Truppenmassen  zusammen  kamen,  angelegt  wurden.8 


1  Galen  VIII,  213.  2  Aretaeus:  de  chron.  I,  7. 

3  Plautüs:  Amphytryo  IV,  4.    Epidic.  II,   1. 

4  Plautüs:  Menaechmi  V,  947—956.   —   Spartianus:  Vita  Hadriani,  c.  12. 

5  Galen  XVIII  B,  678.  6  Galen  XVIII  B,  629—925. 

7  Columella:  de  re  rust.  XI,  1.  XII,  3.  —  Seneca:  de  ira  I,  16.  nat.  quaest. 
praef.  —  Tacitus:  de  orat.  dial.,  c.  21. 

8  Hyginus:  de  munit.  castrorum,  c.  34. 


Der  medieinische   Unterricht  in  Rom.  95 


Die  Gebäude,  welche  Antoninus  Pius  in  der  Nähe  der  Aeskulap- 
Tempel  zu  Epidauros  und  auf  der  Tiber-Insel  errichten  liess,  können 
nicht  als  Krankenanstalten  betrachtet  werden.  Sie  sollten  sterbenden 
Personen  und  schwangeren  Weibern,  welche  von  der  Geburt  überrascht 
wurden,  Aufnahme  gewähren,  damit  die  Heiligthümer  rein  gehalten 
und  nicht  entweiht  würden.1 

Die  Pflege  und  Behandlung  der  Kranken  in  den  Iatreien  und  an- 
deren Anstalten  dieser  Art  war  im  Alterthum  verhältnissmässig  selten. 
Die  meisten  Kranken  wurden  in  ihren  Wohnungen  von  den  Ärzten  be- 
sucht. Aus  diesem  Grunde  geschah  auch  der  Unterricht  in  der  prak- 
tischen Heilkunst  häufiger  dort,  als  in  den  Iatreien  und  Kranken- 
häusern. 

Die  Ärzte  Hessen  sich  von  den  Studierenden  der  Medicin  zu  den 
Kranken  begleiten  und  erklärten  ihnen  an  dem  betreffenden  Fall  die 
Erscheinungen  und  die  Behandlung  der  Krankheit.  Dabei  wurden  die 
Schüler  angeleitet,  sich  von  den  krankhaften  Veränderungen  durch  die 
Besichtigung  und  Betastung  des  leidenden  Körpers  zu  überzeugen. 
Als  der  kranke  Philiskus  von  den  Ärzten  Seleucus  und  Steatokles 
behandelt  wurde,  brachten  sie,  wie  Philostratus  erzählt,2  mehr  als 
30  Schüler  mit  sich.  Bekannt  ist  auch  das  witzige  Epigramm  Mar- 
tial's  an  seinen  Arzt  Symmachus:  „Ich  war  krank.  Du  kamst  deshalb 
sofort  zu  mir;  aber  100  Schüler  begleiteten  Dich.  Hundert  eiskalte 
Hände  legten  sich  mir  auf  den  Bauch.  Bis  dahin  hatte  ich  kein  Fieber 
gehabt;  da  erst  bekam  ich  es."3 

Galen  ermahnte  seine  Schüler,  darauf  zu  achten,  dass  sie  beim 
Eintritt  in  das  Krankenzimmer  nicht  durch  Poltern  mit  den  Füssen 
und  durch  lautes  Geschrei  den  Kranken  aufwecken  und  in  Zorn  ver- 
setzen. Er  ertheilte  ihnen  dann  wohlwollende  Rathschläge  in  Bezug 
auf  ihre  Kleidung,  ihr  Benehmen,  und  die  Gespräche,  die  sie  mit  den 
Patienten  führen  sollten,  empfahl  ihnen  Reinlichkeit  und  eine  passende 
Haarfrisur,  und  verbot  ihnen,  vor  dem  Besuch  des  Kranken  Zwiebeln 
oder  Knoblauch  zu  geniessen  oder  zu  viel  Wein  zu  trinken,  damit  sie 
nicht  den  Leidenden  durch  den  übelen  Geruch  aus  dem  Munde  be- 
lästigen und  „wie  die  Böcke  stinken".4 

Die  hohe  Bedeutung  und  Notwendigkeit  der  Ausbildung  in  der 
praktischen  Heilkunde  wurde  von  allen  Seiten  anerkannt.  Galen 
spottete  über   die  gelehrten  Theoretiker  und  Sophisten,    welche    „vom 


1  Pausanias  II,  27.  2  Philostratus:  Vita  Apollonii  Tyan.  VIII,  7. 

3  Martialis:  Epigr.  V,  9. 

4  Galen  XVII  B,  144—152.  —  Celsus  III,  6. 


96  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


hohen  Katheder  herab  ihre  Schüler  mit  gelehrten  Auseinandersetzungen 
überschütten,  wenn  sie  aber  zu  einem  Kranken  gerufen  werden,  von 
seinem  Leiden  nicht  das  Geringste  verstehen."1  Das  Publikum  wandte 
sich  natürlich  lieber  an  Ärzte,  welche  praktische  Erfahrung  besassen, 
als  an  solche,  die  nur  schöne  Reden  über  die  Heilkunst  zu  halten 
wussten. 2 

Die  Chirurgie  hatte  sich,  wie  Celsus  berichtet,3  bald  nach  der 
Zeit  des  Hippokrates  von  der  übrigen  Heilkunde  getrennt.  Sie  bildete 
fortan  einen  besonderen  selbstständigen  Wissens-  und  Unterrichtsgegen- 
stand. In  Rom  war  es  nicht  üblich,  dass  die  Ärzte,  welche  innere 
Krankheiten  behandelten,  auch  die  Chirurgie  ausübten;  aus  diesem 
Grunde  zog  sich  auch  Galen  von  der  letzteren  zurück,  als  er  sich 
dort  niederliess.4 

Celsus  nennt  die  Chirurgen  Philoxenüs,  Gorgpas,  Sostratus, 
die  beiden  Hero,  die  Apollonier  und  den  Lithotomisten  Ammonius  in 
Alexandria,  ferner  den  älteren  Tryphon,  den  Euelpistus  und  Meges 
in  Rom,  welche  sich  sowohl  als  Lehrer  wie  als  Schriftsteller  auf  dem 
Felde  der  Chirurgie  hervorthaten.  Leider  sind  ihre  Werke  verloren 
gegangen,  und  wir  sind  auf  die  Mittheilungen  der  späteren  Autoren 
angewiesen,  wenn  wir  uns  ein  Urtheil  über  ihre  Leistungen  bilden 
wollen.  Celsus  schreibt,  „dass  diese  Männer  in  der  Chirurgie  viele 
Verbesserungen  und  Erfindungen  gemacht  haben." 

Vergleicht  man  nun  den  Zustand  dieses  Zweiges  der  Heilkunst 
unter  den  römischen  Kaisern  mit  den  Kenntnissen  der  Hippokratischen 
Ärzte,  so  ist  man  allerdings  überrascht  von  den  mächtigen  Fortschritten, 
welche  dieses  Fach  zeigt.  Man  besass  nicht  nur  richtigere  Vorstellungen 
von  dem  Wesen  und  der  Behandlung  mancher  Krankheiten  und  Ver- 
letzungen, welche  das  chirurgische  Eingreifen  verlangen,  sondern  man 
wagte  sich  auch  an  die  Ausführung  grösserer  Operationen,  zu  denen 
gründliche  Kenntnisse  in  der  Anatomie  und  in  der  Technik  der  chi- 
rurgischen Instrumente  gehörten. 

Der  Instrumenten- Apparat  war  ziemlich  reichhaltig.  Die  Aus- 
grabungen zu  Herculanum  und  Pompeji,  bei  denen  eine  grosse  Anzahl 
solcher  Werkzeuge  aufgefunden  wurden,  haben  darüber  werthvolle  Auf- 
schlüsse gegeben.  Darnach  waren  gerade  und  gekrümmte  Nadeln, 
Sonden  verschiedener  Art,  Hohlsonden,  gekrümmte  und  gezähnte  Zangen, 
Katheter  mit  leichter  S-förmiger  Krümmung,  mehrere  Formen  von 
Pincetten,   darunter  auch  solche  mit  Haken  und  Schiebern,  konische 


1  Galen  XVIII  B,  258.  2  Lucian:  Hippias,  c.  1. 

3  Celsus  VII,  Praef.  4  Galen  X,  455. 


Der  medicinische   Unterricht  in  Bon/.  97 


und  kugelförmige  Schröpf  köpfe,  scharfe  und  stumpfe  Haken ,  gabelförmige 
und  scheibenähnliche  Glüheisen,  Messer,  Spatel,  Meissel,  Lanzetten, 
Bistouris,  Mastdarm-  und  Scheidenspiegel  u.  a.  m.  im  Gebrauch. l  Die 
Specula  waren  theils  einfach,  theils  zweitheilig  oder  dreith eilig.  Im 
Jahre  1882  wurde  in  Pompeji  ein  viertheiliges  aufgefunden,  welches 
aus  zwei  geraden  und  zwei  S-förmigen  Armen  besteht.2  Auch  kannte 
man  verschiedene  Arten  von  Verbänden,  von  Extensions-  und  Lagerungs- 
apparaten, welche  bei  der  Behandlung  der  Knochen-Frakturen  und 
Luxationen  in  Anwendung  kamen. 

Die  Ausführung  der  chirurgischen  Operationen  wurde  dadurch  er- 
leichtert, dass  man  bessere  Blutstillungs-Methoden  kennen  lernte;  man 
war  nicht  mehr  blos  auf  die  Kälte,  die  Compression,  die  Styptica  und 
die  Glühhitze  beschränkt,  sondern  griff  zur  Ligatur3  und  der  Torsion4 
der  Gefässe,  wenn  jene  Mittel  nicht  zum  Ziel  führten.  Es  konnten 
daher  blutreiche  Neubildungen  entfernt  und  Amputationen  und  Resek- 
tionen unternommen  werden.  Antyllus  wagte  sich  sogar  an  die  Ope- 
ration der  Aneurysmen.5 

Bei  der  Amputation  bediente  man  sich  sowohl  des  Cirkelschnittes 
als  des  Lappenschnittes.6  Den  grössten  Triumph  feierte  die  Geschick- 
lichkeit der  römischen  Chirurgen  in  der  Resektion.  Antyllus  und 
Heliodor7  entfernten  erkrankte  Knochentheile  mit  sorgfältiger  Erhal- 
tung der  Continuität  des  Knochens;  sie  nahmen  den  Humerus  in  seinem 
ganzen  Umfange,  einen  Theil  des  Acromial -Fortsatzes,  ebenso  Partien 
des  Oberschenkelknochens,  der  Tibia  und  der  Vorderarmknochen,  ja  sogar 
den  Unterkiefer,  wobei  die  Gelenke  geschont  wurden,  und  Theile  des 
Oberkiefers  hinweg. 

Auch  die  plastische  Chirurgie  war  ihnen  nicht  unbekannt.  Durch 
Herüberziehen  benachbarter  Partien  der  Haut  und  der  darunter  liegen- 
den Gewebstheile  versuchten  sie,  Substanzverluste  an  den  Ohren,  den 
Wangen,  der  Nase  und  den  Lippen  zu  ersetzen.8 


1  B.  Vulpes:  Illustrazione  di  tutti  gli  strumenti  chirurgici  scavati  in  Erco- 
lano  e  Pompei,  Napoli  1847.  —  Quaranta  und  Vulpes  im  Museo  Borbonico, 
Vol.  XIV,  36.  XV,  23. 

2  A.  Jacobelli:  Speculi  chirurgici  scavati  dalle  rovine  dclle  citta  dissepoltc 
Pompei  ed  Ercolano  im  Morgagni,  Napoli  1883,  T.  XXV,  p.  185  u.  ft'. 

3  Celsus  V,  26.  —  Galen  X,  314. 

4  Oribasius  IV.  485.  —  Rufits  bei  Aetius  XIV,  c.  51. 

5  Oribasius  IV,  52.  Vergl.  Ed.  Albert  in  d.  Wiener  Med.  Blättern  1882, 
No.  1.  3.  4.  5. 

6  Celsus  VII,  33.  —  Archigenes  und  Heliodor  bei  Oribasius  IV,  244.  247. 

7  Oribasius  III,  582.  615  u.  ff. 

8  Celsus  VII,  9.  —  Antyllus  bei  Oribasius  IV,  56  u.  ff. 
Puschmann,   Unterricht.  n 


98  Der  medicinische  Unterricht  im  Alter thum. 

Von  verschiedenen  Gelehrten  ist  die  Frage  erörtert  worden,  ob  von 
den  Alten  beim  Mangel  einzelner  Glieder  künstliche  Nachbildungen 
derselben  verwendet  wurden.  Auf  einer  aus  der  DuRAND'schen  Samm- 
lung stammenden  Vase  des  Louvre  ist  eine  männliche  Figur  mit  einem 
angeblichen  Stelzbein  dargestellt.1  Bei  genauer  Betrachtung  erkennt 
man  jedoch,  dass  der  Unterschenkel  nicht  fehlt,  sondern  um  einen 
langen  Stab  nach  vorn  und  oben  gelegt  ist.  Dagegen  ergiebt  sich  aus 
einer  Bemerkung  Lucian's2  mit  Bestimmtheit,  dass  künstliche  Füsse 
aus  Feigenholz  verfertigt  wurden,  deren  sich  Amputirte  bedienten. 

Die  Tracheotomie  wurde  zwar  ausgeführt,  erzielte  aber  nicht,  wie 
es  scheint,  grosse  Erfolge  und  vermochte  sich  daher  kein  Vertrauen  zu 
erringen. 3 

Die  Operation  des  Blasensteins  hat  Celsus4  ausführlich  beschrieben. 
Derselbe  erwähnte  bei  dieser  Gelegenheit  auch,  dass  der  Chirurg  Am- 
monius  den  Versuch  machte,  grössere  Steine,  die  sich  schwer  entfernen 
Hessen,  in  der  Blase  zu  zertrümmern.  Leider  ist  die  Schilderung  des 
Verfahrens  nicht  deutlich  genug,  um  dasselbe  als  Lithotrypsie  bezeichnen 
zu  können.  Doch  liefert  eine  Stelle  in  der  von  einem  anonymen  Autor 
verfassten  Biographie  des  heiligen  Theophanes  den  unzweifelhaften 
Beweis,  dass  dieselbe  im  Alterthum  bekannt  war  und  ausgeübt  wurde; 
es  wird  darin  nämlich  berichtet,  dass  Theophanes  an  Blasensteinen  litt, 
welche  durch  Werkzeuge,  die  man  eingeführt  hatte,  zerbrochen  und 
dann  nach  aussen  befördert  wurden.5  Olympios  glaubt,  dass  dazu 
pincettenähnliche  Instrumente  mit  mäusezahnartiger  Spitze,  wie  deren 
auf  Milo  gefunden  wurden,  benutzt  worden  sind.6 

Als  Entstehungsursache  der  Hernien  betrachtete  man  die  Verlänge- 
rung und  die  Zerreissung  des  Bauchfells;  nur  Galen  zog  ausserdem 
die  Betheiligung  der  Muskeln  in  Betracht. 7  Zur  Beseitigung  der  Her- 
nien wurden  Bruchbänder  oder  die  Badikal-Operation  empfohlen. 8  Von 
der  letzteren  hat  Heliodor  eine  Beschreibung  hinterlassen,  die  durch 
ihre  Genauigkeit  und  Klarheit  gerechte  Bewunderung  erregt.9     Auch 


1  E.  Riviere:  Prothese  chirurgicale  chez  les  anciens  in  Gaz.  des  höp.,  Paris 
1883,  No.  132.  136. 

2  Lucian:  Ad  indoct.,  c.  6. 

3  Aretaeus:  de  acut.  I,  7.  —  Caelius  Aurelian.:  de  acut.  III,  4.  —  Galen 
XIV,  734.  4  Celsus  VII,  26. 

5  Corp.  Script,  bist.  Byzant.,  Bonn  1839,  Vol.  XXVI,  Th.  I,  p.  XXXIV.  — 
Patrolog.  ed.  Migne.  ser.  graec,  T.  108,  p.  37,  Paris  1863. 

6  R.  Briau  in  der  Gaz.  hebd.  de  med.  et  de  chir.,  Paris  1858,  No.  9. 

7  Galen  VII,  730.  8  Celsus  VII,  20. 

9  Oribasius  IV,    484.    —    Ed.  Albert:  Die  Herniologie  der  Alten,   Wien 
1878,  8.  144. 


Der  medicinische   Unterricht  in  Born.  99 


die  Incarcerationserscheinungen  wurden  von  einigen  Beobachtern  ge- 
schildert. l 

Die  Strikturen  der  Harnröhre  trennte  Heliodor  mittelst  eines 
schneidenden  Instruments  und  legte  dann  Bougies  aus  trockenem  Papier 
und  metallene  Sonden  in  die  Urethra.2  Ebenso  verstand  man  auch 
die  Phimosis  und  Paraphimosis,  die  Condylome  und  die  Hämorrhoidal- 
knoten auf  geschickte  Weise  zu  operiren.3 

Die  Augenheilkunde  konnte  ebenfalls  bedeutende  Erfolge  aufweisen. 
Es  wurden  nicht  nur  die  Trichiasis,  das  Hypopyon,  die  Leukome,  die 
Thränenfisteln  und  andere  Leiden  der  äusseren  Theile  des  Auges,  son- 
dern sogar  der  graue  Staar  auf  operativem  Wege  geheilt.  Allerdings 
kannte  man  nicht  das  Wesen  dieser  Krankheit,  aber  man  heilte  sie. 
Die  Kunst  ging  hier,  wie  so  oft  in  der  Medicin,  der  Wissenschaft  voraus. 

Die  Staaroperation  geschah  durch  Depression  der  erkrankten  Linse. 
Wenn  die  letztere  wieder  nach  oben  stieg  oder  eine  weiche  Consistenz 
zeigte,  so  nahm  man  ausserdem  noch  die  Zerstückelung  derselben  vor.4 
—  Vielleicht  kannte  man  auch  die  Extraktion.  Allerdings  ist  die  Be- 
merkung des  Plinius,  dass  die  Ärzte  aus  Habsucht  die  squama  im 
Auge  lieber  hinwegschieben  als  herausziehen  wollen,  zu  undeutlich,  als 
dass  sie  sich  darauf  beziehen  lässt.  Eher  berechtigt  die  Angabe  Galen's, 
dass  einige  Chirurgen,  anstatt  den  Staar  zu  dislociren,  den  Versuch 
gemacht  haben,  ihn  nach  aussen  zu  entleeren,5  zu  der  Vermuthung, 
dass  man  die  Extraktionsmethode  geübt  hat.0  Eine  Beschreibung  der- 
selben findet  sich  nirgends.  Der  arabische  Schriftsteller  Rhazes  schreibt 
ihre  Kenntniss  dem  Antyllus  zu  und  berichtet  zugleich,  dass  derselbe 
auch  mit  der  Beseitigung  des  Staares  durch  Suction  Bescheid  gewusst  habe.7 


1  Celsus  VII,  18.  20.  —  Aretaeus:  de  acut.  II,  6.  —  Aetius  XIV,  24.  — 
Paulus  Aegin.  III,  43.  2  Oribasius  IV,  472. 

3  Oribasius  IV,  466.  470.  —  Paulus  Aeo.  VI,  79. 

4  Celsus  VII,  7.  —  Galen  X,  1019.  Vk<;etiu^  Renatus:  Mulomedicina 
II,  17.  —  Paulus  Aegin.  VI,  21.  —  A.  Anagnostakis:  Contributions  ä  l'histoire 
de  la  Chirurgie  oculaire  chez  les  anciens,  Athenes  1872. 

5  Plinius:  Hist.  nat.  XXIX,  8.  —  Galen  X,  987.  —  Vergl.  dazu  v.  Hasner: 
Phakolog.  Studien,  Prag  1868. 

6  H.  Magnus  (Geschichte  des  grauen  Staares,  Leipzig  1876,  S.  226  u.  ff.) 
vertritt  mit  Gründen,  deren  Berechtigung  nicht  zu  leugnen  ist,  die  Ansicht,  dass 
es  sich  dabei  nicht  um  die  Staar-Extraktion,  sondern  um  die  Hypopyon- Punction 
handelt.  Jedenfalls  „ist",  wie  Alfr.  v.  Graefe  (Klin.  Monatsbl.  f.  Augenheil- 
kunde 1868,  Januar)  sagt,  „die  Wiegenperiode  der  Extraktion  eines  der  schwie- 
rigsten Kapitel  der  medicinischen  Geschichtsforschung"  und  eine  sichere  Beant- 
wortung der  Frage,  ob  die  Alten  dieselbe  gekannt  haben,  nicht  möglich. 

7  Rhazes:  Continens  II,  c.  3,  Abs.  7.  Ed.  Venet.  1506,  fol.  41.  —  Sichel 
im  Archiv  f.  Ophthalm.  1868,  XIV,  3,  S.  1. 


100  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


Es  ist  sehr  bedauerlich,  dass  die  ophthalmologische  Literatur  des 
Alterthums  grösstenteils  verloren  gegangen  ist.  Das  Werk  des  be- 
rühmten Augenarztes  Demosthenes,  welches  noch  zu  Ende  des  13.  Jahr- 
hunderts von  Simon  von  Genua  benutzt  wurde  und  in  einer  Abschrift 
vielleicht  heut  noch  in  irgend  einer  Bibliothek  verborgen  liegt,  würde 
über  manche  Dinge  Aufschluss  geben,  über  welche  gegenwärtig  nur 
Yermuthungen  möglich  sind. 

Die  chirurgische  Disciplin  umfasste  nach  Celsus1  zunächst  die 
gesammte  Operationskunst  und  ferner  die  Behandlung  der  Wunden 
und  Geschwüre  und  aller  Knochenkrankheiten.  Vom  Wundarzt  verlangt 
er,  „dass  er  im  kräftigen  Mannesalter  stehe,  eine  sichere  und  feste 
Hand  besitze,  die  niemals  zittert,  und  die  linke  Hand  ebenso  geschickt 
zu  gebrauchen  wisse,  als  die  rechte.  Scharf  und  hell  soll  die  Kraft 
seiner  Augen,  furchtlos  sein  Gemüth  und  dem  Mitleid  nicht  soweit  zu- 
gänglich sein,  dass  er  sich  durch  das  Geschrei  der  Kranken,  deren 
Behandlung  er  übernommen  hat,  bewegen  lässt,  rascher,  als  es  die 
Sachlage  fordert,  zu  operiren  oder  weniger,  als  nothwendig  ist,  fort- 
zunehmen. Er  darf  sich  bei  seinen  chirurgischen  Eingriffen  in  keiner 
Weise  durch  die  Klagen  der  Kranken  beeinflussen  lassen." 

Die  Chirurgen  wurden  bei  den  Operationen  durch  ihre  Gehilfen 
und  Schüler  unterstützt.  Die  Dienste,  welche  dieselben  dabei  leisten 
mussten,  werden  in  mehreren  der  oben  angegebenen  Stellen  ausführlich 
erörtert. 

Die  Geburtshilfe  wurde  von  den  Hebammen  ausgeübt;  nur  in 
schwierigen  Fällen  nahm  man  die  Hilfe  der  Ärzte  oder  Chirurgen  in 
Anspruch.2  Frauen,  welche  sich  zu  Hebammen  ausbilden  wollen,  sollen, 
wie  Soeanus  in  seinem  gynäkologischen  Werk  sagt,  „lesen  können, 
Verstand  und  ein  gutes  Gedächtniss  besitzen,  rührig,  anständig,  in 
ihrer  Sinnesthätigkeit  nicht  gehindert,  gesund  und  kräftig  sein  und 
lange  feine  Finger  mit  kurzen  Nägeln  haben." 

Es  wurde  nicht,  wie  in  Griechenland,  von  ihnen  gefordert,  dass 
sie  bereits  selbst  einmal  geboren  haben.  Doch  hält  es  Soeanus  für 
gut,  wenn  sie  nicht  zu  jung  sind.  Ferner  empfiehlt  er  den  Hebammen, 
stets  nüchtern,  ruhig  und  verschwiegen,  und  weder  geldgierig  noch 
abergläubisch  zu  sein,  sich  nicht  aus  Habsucht  zur  Verabreichung  von 
Abortivmitteln  verleiten  oder  durch  Träume,  Ahnungen,  Mysterien  und 
religiöse  Gebräuche  in   der  Erfüllung  ihrer  Pflichten  stören  zu  lassen. 


1  Celsus  VII,  Praef. 

2  Soranus  Ephesius,  Ed.  Dietz,   p.  107.    —    Vergl.   J.  Pinoff  im   Janus  I, 
S.  705— 752.  IT,  16-52.  217—245.  780— 744. 


Der  medicinische   Unterricht  in  Rom.  101 


Auch  giebt  er  ihnen  den  Rath,  besondere  Sorgfalt  auf  die  Pflege  ihrer 
Hände  zu  verwenden,  sie  häutig  mit  feinen  Salben  einzureiben  und 
mit  Wollearbeiten  zu  verschonen,  weil  dadurch  die  Haut  hart  und 
spröde  wird.1 

Bei  der  Ausbildung  der  Hebammen  wurde  sowohl  die  Theorie  als 
die  Praxis  berücksichtigt,  vor  Allem  aber  darauf  gesehen,  dass  sie  in 
der  Diätetik,  der  Arzneimittellehre  und  den  nothwendigen  chirurgischen 
Verrichtungen  unterrichtet  wurden.  Ihre  Kenntnisse  vom  Bau  der 
weiblichen  Genitalorgane  waren  sehr  mangelhaft;  Soeanus  war  der 
Meinung,  dass  sie  davon  nicht  viel  zu  wissen  brauchten. 

Dafür  hatten  sie  ziemlich  richtige  Vorstellungen  vom  Verlauf  der 
normalen  Geburt  und  von  der  Hilfe,  die  dabei  geleistet  werden  musste; 
sie  unterstützten  den  Damm  der  Gebärenden  mit  einem  Tuch,  unter- 
banden die  Nabelschnur  nach  der  Geburt,  sorgten  für  die  Lösung  der 
Nachgeburt  u.  a.  m.  Auch  wurden  sie  mit  den  verschiedenen  Lagen 
des  kindlichen  Körpers  bekannt  gemacht  und  erhielten  eine  vortreffliche 
Anleitung  zur  Wahl  der  Amme  und  zur  Pflege  der  Neugeborenen.2 
Sie  unternahmen  selbst  wichtige  Operationen  wie  die  Wendung  auf  den 
Kopf  oder  die  Füsse  bei  fehlerhafter  Kindeslage.3  Die  Embryotomie 
wurde  nur  ausgeführt,  wenn  alle  Versuche,  die  Frucht  lebend  nach 
aussen  zu  befördern,  vergeblich  waren.4 

Ein  angeblich  von  Numa  Pompilius  erlassenes  Gesetz  gebot,  den 
Kaiserschnitt  an  schwangeren  Verstorbenen  vorzunehmen,  um  wenn 
möglich  das  Leben  des  Kindes  zu  retten.5  Plinius  (j  erzählt,  dass  er 
auch  an  lebenden  Schwangeren  ausgeführt  wurde,  und  Scipio  Africanus 
dieser  Operation  sein  Leben  verdankte. 

Manche  Hebammen  beschränkten  ihre  Thätigkeit  nicht  auf  die 
Geburtshilfe  und  die  Behandlung  der  Frauenkrankheiten,  sondern  zogen 
die  gesammte  Heilkunde  in  ihren  Bereich  und  waren  somit  eigentlich 
Ärztinnen. 7 

Der  Hebammenstand  genoss  grosses  Ansehen.  Sie  wurden  von 
den  Gerichten  als  Sachverständige  vernommen8  und  erhielten  später 
das  Recht,  wegen  der  Forderungen  für  ihre  Dienste  klagbar  zu  werden.9 
Zahlreiche   Inschriften    geben    der  Verehrung,    die   man   ihnen    zollte, 


1  SoRANUS  p.  3  —  5.       2  SORANUS  p.  79  U.  ff.       3  SoRANUS  p.  110  U.  ff. 

4  Soranus  p.  113  u.  ff.  —  Tertullian:  de  anima,  c.  25. 

5  Pandect,  lib.  XI,  tit.  8,  de  mortuo  inferendo. 

6  Plinius:  Hist.  nat.  VII,  7. 

7  Martial:   Epigr.   XI,   71.   —   Apulejus:   Metamorph.  V,   24.  —   Plinius: 
Hist.  nat.  XXVIII,  7.  18.  23.  80.  —  Juvenal  II,  141. 

8  Seneca:  Epist.  66.  9  Pandect.,  lib.  50,  tit,  13. 


102  Der  meditinische   Unterricht  im  Alterthum. 


Ausdruck.  Auf  einem  Grabdenkmal,  welches  von  Mommsen  beschrieben 
wurde,  befindet  sich  ein  Nachruf  an  „die  unvergleichliche  Gattin,  edelste 
Frau  und  vortreffliche  Hebamme".  Einer  der  bekanntesten  medicini- 
schen  Schriftsteller  und  Ärzte,  Theodorus  Pmscianus,  widmete  sogar 
ein  Buch  einer  Hebamme,  „der  lieblichen  Gehilfin  seiner  Kunst",  wie 
er  sie  nennt.1 


Der  ärztliche  Stand  in  Rom. 

Die  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis  stand,  wie  erwähnt,  Jedem 
frei,  ohne  dass  derselbe  in  einer  Prüfung  seine  Befähigung  dazu  nach- 
zuweisen genöthigt  war;,  aber  schon  die  Lex  Cornelia  (88  v.  Chr.)  machte 
ihn  dafür  haftbar,  wenn  durch  seine  Schuld  der  Tod  eines  Menschen 
herbeigeführt  wurde.  Auch  die  Bewerbung  am  eine  Anstellung  im 
öffentlichen  Sanitätsdienst  und  um  die  Aufnahme  in  die  Zahl  der  mit 
bestimmten  Vorrechten  ausgestatteten  Ärzte,  sowie  die  Stellung  der 
ärztlichen  Honorarklagen,  besonders  die  extraordinaria  cognitio,  dürften 
Veranlassung  gegeben  haben,  dass  die  wissenschaftlich  gebildeten  Ärzte 
von  den  Pfuschern,  wenn  auch  nicht  durch  das  Gesetz,  so  doch  im 
praktischen  Leben  geschieden  wurden.2 

Da  viele  Ärzte  nur  eine  lückenhafte  fachmännische  Bildung  be- 
lassen und  nicht  in  allen  Zweigen  der  Heilkunde  unterrichtet  waren, 
so  befassten  sie  sich  nur  mit  einem  Theile  derselben.  Auf  einem  eng- 
begrenzten Gebiet  der  Heilkunst  konnten  sie  in  kurzer  Zeit  die  für  die 
Praxis  nothwendigen  Kenntnisse  erwerben.  —  Das  Specialistenwesen, 
dessen  Anfänge  in  eine  frühe  Zeit  zurückreichen,  bekam  dadurch  eine 
sehr  schlimme  Form;  denn  es  wurde  nicht  so  sehr  der  Ausdruck  her- 
vorragender Leistungen  auf  einem  speciellen  Gebiet,  als  der  halb- 
gebildeten Charlatanerie.  Seine  Vertreter  gaben  sich  im  Verkehr  mit 
unterrichteten  Ärzten  bedenkliche  Blossen  und  dienten  den  Lustspiel- 
dichtern als  willkommene  Objekte  des  Spottes. 

Die  Theilung  der  ärztlichen  Arbeit  wurde  in  sinnloser  Weise  über- 
trieben. Man  unterschied  nicht  nur  Chirurgen,  Geburtshelfer  und 
Frauenärzte,  Augenärzte,  Ohrenärzte  und  Zahnärzte,  sondern  es  gab  fast 
für  jeden  Theil  des  Körpers  besondere  Specialisten.    Einige  beschränkten 


1  Th.  Priscian.  lib.  III,  Praef. 

2  Th.  Löwenfeld:  Inaestimabilität  und  llonorirung  der  artes  liberales  nach 
römischen  Recht,  München  1887,  S.  428, 


Der  ärztliche  Stand  in  Ho  in.  103 


sich  auf  die  Behandlung-  von  Fisteln  und  Brüchen  oder  bestimmter 
Körper theile,  z.  B.  des  Afters,  Andere  beschäftigten  sich  ausschliesslich 
mit  dem  Steinschnitt,  der  Hernien-Operation  oder  der  Staaroperation. l 
In  einem  Epigramm  des  Martial2  heisst  es:  „Cascelliuk  zieht  Zähne 
aus  oder  ergänzt  sie,  Hyginus  brennt  die  in  die  Augen  wachsenden 
Wimperhaare  weg,  Fannius  heilt  das  geschwollene  Zäpfchen,  ohne  zu 
schneiden,  Eros  beseitigt  die  Brandmale  aus  der  Haut  der  Sklaven, 
und  Hermes  ist  der  beste  Arzt  für  Hernien."  Man  hatte  besondere 
Ärzte  für  die  Krankheiten  der  Kinder,  wie  für  diejenigen  des  Greisen- 
alters. Manche  Specialisten  bedienten  sich  bestimmter  Kurmethoden 
und  wendeten  vorzugsweise  das  Wasser,  den  Wein,  die  Milch,  gewisse 
Arzneistoffe  und  Pflanzen,  z.  B.  die  Niesswurz,  an.3 

Tüchtige  Ärzte,  wie  Galen,  verachteten  dieses  Treiben  und  wid- 
meten allen  Theilen  der  Heilkunde  ihre  Aufmerksamkeit,  wenn  sie  auch 
in  der  Praxis  diesen  oder  jenen  Zweig  derselben  bevorzugen  mochten. 
„Ich  glaube,"  schreibt  Celsus,4  „dass  es  wohl  möglich  ist,  alle  Gebiete 
der  Heilkunst  zu  beherrschen.  Werden  sie  aber  von  einander  getheilt, 
so  lobe  ich  mir  den  Arzt,  welcher  die  meisten  derselben  kennt." 

Zwischen  den  Ärzten  und  den  Chirurgen  bestanden  freundschaft- 
liche Beziehungen.  „Sie  unterstützten  und  empfahlen  sich  gegenseitig," 
erzählt  Plutarch.  5  Es  scheint  nicht,  dass  die  Chirurgen  eine  niedrigere 
gesellschaftliche  Stellung  einnahmen,  als  die  Ärzte  für  innere  Krank- 
heiten, wie  dies  in  späteren  Zeiten  der  Fall  war.  Auch  lässt  Nichts 
darauf  schliessen,  dass  Jene  im  Allgemeinen  eine  geringere  Allgemein- 
bildung besassen,  als  diese. 

In  manchen  Fällen  wurden  von  den  Kranken  oder  ihren  Ange- 
hörigen mehrere  Ärzte  zu  Rath  gezogen,  welche  in  gemeinsamen  Be- 
ratungen die  Diagnose  und  Behandlung  besprachen.  Dabei  mag  es 
wohl  häufig  zu  heftigen  Meinungskämpfen  gekommen  sein,6  in  denen 
die  Grenzen  des  Anstandes  überschritten  wurden.  Ihre  ungleiche  wissen- 
schaftliche Bildung  erklärt  es,  dass  unterrichtete  und  erfahrene  Ärzte, 
wie  Galen,  im  Unmuth  über  die  Unwissenheit  und  Unfähigkeit  ihrer 
Collegen  ein  scharfes  Urtheil  über  deren  Ansichten  und  Verordnungen 
fällten.7 

Theodohüs  Priscianus   hat   eine    drastische  Schilderung   solcher 


1  Pseudo-GALEN :  De  part.  artis  medic.  Ed.  Chartier  II,  282.  —  Galen  V,  846. 

2  Martial:  Epigr.  X,  56.  3  Plinius:  Hist.  nat.  XXIX,  5. 

4  Celsus  VII,  Praef. 

5  Plutarch:  de  fraterno  amore,  c.  15.  —  Galen  XVIII  A,  346. 

6  Plinius  a.  a.  0.  XXIX,  5. 

7  Galen  VIII,  357.   X,  910.   XIV,  623  u.  ff. 


104  Der  medicinische   Unterricht  im  Alterthum. 


Consilien  hinterlassen. *  „Während  der  Kranke  von  Schmerzen  gepeinigt," 
schreibt  er,  „auf  seinem  Lager  hin  und  her  geworfen  wird,  stürmt  die 
Schaar  der  Ärzte  herein,  von  denen  Jeder  nur  bedacht  ist,  die  Auf- 
merksamkeit der  Übrigen  auf  sich  zu  lenken  und  sich  um  den  Zu- 
stand des  Kranken  wenig  kümmert.  Wie  im  Cirkus  oder  beim  Wett- 
kampf trachtet  der  Eine  durch  seine  Redekunst  oder  Dialektik,  der 
Andere  durch  den  künstlichen  Aufbau  von  Thesen,  welche  sein  Gegner 
wieder  niederreisst,  ausserordentlichen  Ruhm  zu  ernten."  Der  Volks- 
witz machte  sich  über  diese  Verhältnisse  lustig  und  erfand  die  von 
Plinius  (a.  a.  0.)  erzählte  Anekdote,  dass  auf  einer  Grabschrift  zu  lesen 
war,  der  Verstorbene  sei  an  der  Menge  der  ihn  behandelnden  Ärzte  zu 
Grunde  gegangen. 

Der  ärztliche  Stand  genoss  Anfangs  nicht  dasjenige  Ansehen, 
welches  seiner  anstrengenden  opferwilligen  Thätigkeit  gebührt.  Die 
vornehmen  Römer  hatten  für  die  Medicin  höchstens  ein  dilettanten- 
haftes  Interesse  und  betrachteten  die  Ausübung  der  Praxis  als  eine 
Beschäftigung,  die  sich  nur  für  Leute  von  niederem  Herkommen,  für 
Diener  und  Sklaven  schicke.2 

Als  später  die  Einwanderung  der  fremden  Ärzte  erfolgte,  und 
Heilkünstler  aus  Griechenland,  Ägypten,  Kleinasien  und  Palästina  sich 
in  Rom  niederliessen,  trat  der  beschränkte  Nativismus,  das  spiessbürger- 
liche  Vorurtheil,  welches  man  gegen  alle  Fremden  hatte,  einer  Ver- 
besserung der  socialen  Stellung  der  Ärzte  hindernd  in  den  Weg. 

Freilich  trugen  die  letzteren  auch  selbst  einen  grossen  Theil  der 
Schuld.  Die  Prahlereien,  die  Habsucht  und  die  Laster,  durch  welche 
sich  Einzelne  von  ihnen  verächtlich  machten,  boten  ihren  Gegnern 
wirksame  Wallen,  welche  sich  gegen  den  ganzen  Stand  richteten. 
Plinius  berichtet,  dass  Ärzte  ihre  Vertrauensstellung  dazu  missbrauchten, 
um  Erbschleicherei  und  Ehebruch  zu  treiben  und  durch  Darreichung 
von  Gift  den  Tod  eines  Menschen  zu  bewerkstelligen.3  Galen  ver- 
gleicht die  Ärzte  in  Rom  sogar  mit  Räubern  und  sagt,  dass  zwischen 
ihnen  nur  der  einzige  Unterschied  bestehe,  dass  diese  im  Gebirge  und 
jene  in  der  Stadt  ihre  Schandthaten  begehen.4 

Dazu  kam  das  aufdringliche  und  prahlerische  Auftreten  mancher 
fremden  Heilkünstler,  welches  dem  würdigen  Ernst  der  Römer  missfiel. 
So  durchzog  Thessalus,    der   sich    den  „Besieger  der  Ärzte"   nannte, 


1  Theod.  Pkiscianus  I,  Praef.  2  Plinius  a.  a.  0.  XXIX,  8. 

3  Plinius  a.  a.  0.  XXIX,  8.  —  Martialis:  Epigr.  VI,  31.  —  Tacitus:  Annal. 
IV,  3.  XII,  67. 

4  Galen  XIV,  622. 


Der  ärztliche  Stand  in  Rom.  105 


mit  einem  Schwärm  von  Anhängern  die  Strassen,  „wie  ihn  kaum  ein 
Schauspieler  oder  berühmter  Cirkusreiter  hatte."1  Einzelne  Ärzte  be- 
trieben die  Jagd  auf  Patienten  ganz  offenkundig  und  entblödeten  sich 
nicht,  Vorübergehende  zum  Eintritt  in  ihre  Officinen  aufzufordern,  die 
dann  häutig  genug  zum  Aufenthaltsort  von  Müssiggängern  und  Gaunern 
entarteten. 

Der  Wunsch,  bekannt  zu  werden  und  Praxis  zu  erwerben,  ver- 
anlasste Viele,  „sich  um  die  Gunst  der  vermögenden  und  einflussreichen 
Personen  zu  bewerben,  mit  ihnen  auf  den  Strassen  einher  zu  stolziren, 
Schmausereien  zu  feiern  und  Possen  zu  reissen,  während  Andere  durch 
die  Pracht  ihrer  Kleidung,  durch  werthvolle  Ringe  und  andere  Schmuck- 
gegensfcände  die  urtheilslose  Menge  zu  blenden  suchten."2  Wie  zu 
allen  Zeiten,  so  liebten  auch  damals  die  Ignoranten  und  Charlatane, 
durch  den  Glanz  der  äusseren  Erscheinung  die  Hohlheit  ihres  inneren 
AVesens  zu  verbergen.3  Ärzte,  welche  mehr  Wissen  und  Verstand  be- 
sassen,  wendeten  sich  an  die  Öffentlichkeit,  um  für  sich  Reklame  zu 
machen.  Sie  hielten  populäre  Vorlesungen,  veranstalteten  Disputationen 
mit  ihren  Collegen,  welche  sich  zu  erbitterten  Redetournieren  gestalteten 
und  im  Allgemeinen  mehr  zur  Unterhaltung  als  zur  Belehrung  des 
Publikums  beitrugen,  und  führten  vor  den  Augen  desselben  im  Theater, 
im  Cirkus  oder  an  anderen  öffentlichen  Orten  chirurgische  Operationen 
aus.4  Diese  Sitte,  welche  sich  bei  herumziehenden  Heilkünstlern, 
namentlich  bei  den  Zahnärzten,  bis  heut  in  Italien  erhalten  hat,  scheint 
griechisch-orientalischen  Ursprungs  und  erst  mit  der  Einwanderung  der 
fremden  Ärzte  nach  Rom  gelangt  zu  sein. 

Das  Honorar,  welches  die  Ärzte  für  ihre  Dienste  empfingen,  war 
natürlich  sehr  verschieden  und  richtete  sich  nach  den  Vermögensver- 
hältnissen  des  Kranken  und  der  Stellung  und  Tüchtigkeit  des  Arztes. 
Galen  erhielt  vom  Consul  ßoethus,  dessen  Frau  er  längere  Zeit  be- 
handelt hatte,  400  Goldstücke. 5  Der  ehemalige  Praetor  und  Legat  von 
Aquitanien,  Manlius  Cornutus,  zahlte  dem  Arzt,  der  ihn  von  einem 
Hautleiden  befreite,  200,000  Sestertien. G  Die  gleiche  Summe  verlangte 
Chaemis,  der  durch  seine  Kaltwasser-Behandlung  Aufsehen  erregte,  für 
eine  Kur,  die  er  in  der  Provinz  unternahm.7 


1  Pliniüs:  Hist.  mit.  XXIX,  5.  2  Galen  XIV,  600. 

3  Lucian:  Ad.  indoctum,  c.  29. 

4  Plutarch:  de  adulatore  et  amico,  c.  82. 

5  Galen  XIV,  647.    Die  Summe  hat  nach  Marquardt  (a.  a.  0.  Bd.  V,  S.  70) 
einen  Goldwerth  von  etwa  8000  Mark  D.  R.-W. 

0  Plinius:  Hist.  nat.  XXVI,  3.  Über  40,000  Mark.  Marquardt  a.  a.  0.  S.  72. 
7  Pliniüs  a.  a.  0.  XXIX,  5.  8. 


106  Der  msdidnische   Unterricht  im  Alterthum. 


Als  Q.  Stektinius  zum  Leibarzt  des  Kaisers  Claudius  ernannt 
werden  sollte,  erklärte  er,  dass  ihm  die  Besoldung  von  250,000  Sestertien 
zu  niedrig  sei,  da  ihm,  wie  er  durch  Aufzählung  der  Familien,  wo  er 
Hausarzt  war,  nachwies,  die  Praxis  ein  jährliches  Einkommen  von 
600,000  Sestertien  sicherte. l  Der  Arzt  Krinas,  welcher  die  Astrologie 
zur  Grundlage  seiner  Verordnungen  machte,  hinterliess,  wie  Plinius 
(a.  a,  0.)  erzählt,  ein  .Vermögen  von  10  Millionen  Sestertien,  obwohl 
er  grosse  Summen  für  öffentliche  Bauten  ausgegeben  hatte.  Vom 
Chirurgen  Alkon  wird  berichtet,2  dass  derselbe,  nachdem  er  zu  einer 
Strafe  von  10  Millionen  Sestertien  und  zur  Verbannung  verurtheilt 
worden  war,  sich  nach  seiner  Rückkehr  binnen  wenigen  Jahren  die 
gleiche  Summe  wieder  erworben  habe. 

Aber  solche  glänzenden  Einnahmen  wurden  sicherlich  nur  wenigen 
Glücklichen  zu  Theil.  Die  grosse  Mehrzahl  der  Ärzte  verdiente  kaum 
soviel,  als  der  Lebensunterhalt  erheischte.  Die  ungleiche  Vertheilung 
des  Besitzes,  welcher  sich  in  den  Händen  einzelner  Familien  anhäufte 
und  die  grosse  Masse  des  Volkes  dem  Proletariat  überliess,  eröffnete 
nur  wenigen  Ärzten  die  Aussicht,  durch  Ausübung  ihrer  Kunst  Reich- 
thümer  zu  erwerben.  Auch  trug  die  rücksichtslose  Concurrenz,  die  sie 
sich  machten,  dazu  bei,  dass  ihre  Dienstleistungen  möglichst  gering 
honorirt  wurden.  Wer  die  Armen-Praxis  ausübte,  blieb  natürlich  selbst 
ein  armer  Mann.3 

Es  kam  sogar  vor,  dass  Ärzte  ihren  Beruf  aufgaben,  weil  er  sie 
nicht  ernährte,  und  sich  dem  —  wie  es  scheint  —  einträglicheren 
Metier  eines  Gladiators  oder  Leichenbestatters  widmeten.  Darauf  be- 
zieht sich  ein  boshaftes  Epigramm  Martial's,  in  welchem  er  sagt: 
„Diaulus  war  Arzt,  jetzt  ist  er  Leichenträger.  Er  macht  von  der  ärzt- 
lichen Kunst  den  Gebrauch,  welchen  er  am  besten  kennt."  „Übrigens 
war  er  auch  früher,  da  er  noch  Arzt  war,  doch  nur  ein  Leichen- 
bestatter."4 

Nur  langsam  und  allmälig  verbesserte  sich  die  gesellschaftliche 
Stellung  der  Ärzte.  Sie  verdankten  dies  theils  den  erfolgreichen  Be- 
strebungen jener  Mitglieder  ihres  Standes,  welche  durch  die  Tiefe  ihres 
Wissens  und  die  Reinheit  ihres  Charakters  die  Achtung  und  Bewun- 
derung ihrer  Mitbürger  errangen,  theils  der  sich  immer  mehr  Bahn 
brechenden  Erkenntniss  der  Notwendigkeit  und  Wichtigkeit  der  ärzt- 
lichen Kunst. 

Die  Gebildeten  begannen,    ein  lebhaftes  Interesse  für  anatomisch- 


1  Plinius  a.  a.  0.  XXIX,  5.  2  Plinius  a.  a.  0.  XXIX,  8. 

3  Galen  XII,  916.  4  Martialls:  Epigr.  I,  30.  47.  VIII,  74. 


Der  ärztliche  Stand  in  liom.  107 


physiologische  Untersuchungen  und  für  die  Heilkunde  überhaupt  zu 
empfinden.  „Ich  glaube,"  schreibt  Gelliun,  „dass  es  nicht  blos  fin- 
den Arzt,  sondern  für  jeden  selbstständigen  Menschen,  der  eine  gute 
Erziehung  genossen  hat,  eine  Schande  ist,  wenn  er  nicht  über  die  Dinge, 
welche  den  menschlichen  Körper  betreffen,  Bescheid  weiss  und  die 
Mittel  kennt,  welche  uns  die  Natur  zur  Erhaltung  der  Gesundheit  offen 
vor  die  Augen  gelegt  hat.  Ich  habe  deshalb  alle  Zeit,  die  ich  erübrigen 
konnte,  auf  das  Studium  medicinischer  Werke  verwendet,  weil  ich  darin 
die  beste  Belehrung  zu  finden  hoffte."1  Ebenso  war  Plutakch  der 
Meinung,  dass  Jeder  seinen  Puls  kennen  und  wissen  müsse,  was  ihm 
nützlich  oder  schädlich  sei.2 

Auch  die  ethische  Seite  des  ärztlichen  Berufs  wurde  von  einigen 
Autoren  hervorgehoben.  „Der  Arzt  soll  nicht  gezwungen  werden,  die 
Kranken  zu  besuchen,"  schreibt  Lucian;3  „er  darf  nicht  eingeschüchtert, 
nicht  mit  Gewalt  dorthin  geführt  werden,  sondern  muss  freiwillig  und 
gern  zu  ihnen  kommen." 

Man  kann  die  hohe  Würde,  den  idealen  Werth  der  Heilkunst  nicht 
besser  kennzeichnen,  als  Seneca,  wenn  er  sagt:  „Man  giebt  dem  Arzt 
nur  den  Lohn  für  seine  Mühe;  denjenigen  für  sein  Herz  bleibt  man 
ihm  schuldig."  „Glaubst  Du  denn,"  heisst  es  an  einer  anderen  Stelle, 
„dass  Du  dem  Arzt  und  dem  Lehrer  nichts  weiter  schuldest,  als  sein 
Honorar?  Bei  uns  widmet  man  Beiden  grosse  Verehrung  und  Liebe. 
.  .  .  Wir  empfangen  von  ihnen  unschätzbare  Güter,  vom  Arzt  Ge- 
sundheit und  Leben,  vom  Lehrer  die  edle  Bildung  des  Geistes.  .  .  . 
Beide  sind  uns  Freunde  und  verdienen  sich  nicht  durch  ihre  verkäuf- 
liche Kunst,  wohl  aber  durch  ihr  aufrichtiges  Wohlwollen  unseren  in- 
nigsten Dank."4 

Das  Bedürfniss  nach  ärztlicher  Hilfe  führte  schon  in  früher  Zeit 
dahin,  dass  man  Hausärzte,  Ärzte  für  Gemeinden,  das  Heer,  und  für 
Genossenschaften  anstellte.  Reiche  Leute,  welche  einen  grossen  Haus- 
stand und  viele  Sklaven  besassen,  waren  darauf  bedacht,  dass  ihnen  in 
Krankheitsfällen  zu  jeder  Zeit  ein  Arzt  zu  Gebot  stand.  Zu  diesem 
Zweck  schlössen  sie  mit  einem  in  der  Nähe  wohnenden  Arzt  einen 
Vertrag,  der  denselben  verpflichtete,  ihnen  gegen  einen  bestimmten  Jahres- 
gehalt alle  ärztlichen  Dienste  zu  leisten.5 

Noch  bequemer  aber  war  es  für  sie,  wenn  sich  unter  ihrer  Diener- 


1  Gellius:  Noct.  Attic.  XVIII,  10. 

2  Plutarch:  de  sanitate  tuenda  praec,  c.  24.  25. 

3  Lucian:  Abdicatus  (Der  verstossene  Sohn),  c.  23. 

4  Seneca:  de  benefic.  VI,   15.  16.  17. 

5  Varro:  de  re  rust.  I,   16, 


108  Der  medicinische   Unterricht  im  Alter  thum. 

schaft  ein  heilkundiger  Sklave  befand,  dem  sie  die  Sorge  für  ihre  und 
der  Ihrigen  Gesundheit  anvertrauen  konnten.1  Sklaven  dieser  Art 
waren  daher  sehr  gesucht  und  standen  höher  im  Preise  als  die  übrigen 
Sklaven;  sie  wurden  sogar  theurer  verkauft,  als  die  Eunuchen.2  Auch 
kam  es  vor,  dass  junge  begabte  Sklaven  auf  Kosten  ihrer  Herren  in 
der  Heilkunst  unterrichtet  und  zu  Ärzten  ausgebildet  wurden.  —  Die 
abhängige  Stellung  dieser  Ärzte  entschuldigt  sie,  wenn  sie  ihr  medici- 
nisches  Wissen  nicht  blos  dazu  verwendeten,  um  Schmerzen  zu  lin*dern 
und  Krankheiten  zu  heilen,  sondern  auch  zu  scheusslichen  Handlungen 
und  schweren  Verbrechen, 3  welche  sie  auf  Befehl  ihres  Herrn  ausführten. 

War  der  letztere  selbst  Arzt,  so  dienten  sie  ihm  als  Assistenten 
und  Gehilfen  in  der  Praxis;  wenn  sie  selbstständig  Kranke  behandelten, 
so  mussten  sie  ihm  das  Honorar,  welches  sie  dafür  erhielten,  abliefern 
und  bildeten  somit  eine  bisweilen  recht  ergiebige  Erwerbsquelle  für 
ihn.  Aus  diesen  Umständen  wird  es  begreiflich,  dass  er  Sklaven  dieser 
Art  nur  ungern  die  Freiheit  gab;  denn  er  verminderte  dadurch  nicht 
nur  seine  Einnahmen,  sondern  schuf  sich  auch  zuweilen  einen  Concur- 
renten,  .der  ihm,  weil  er  seine  Patienten  kannte,  doppelt  gefährlich 
werden  konnte. 

Ebensowenig  waien  Nichtärzte,  welche  Sklaven  mit  medicinischen 
Kenntnissen  besassen,  geneigt,  sich  dieses  Besitzes  zu  entledigen,  weil 
sie  damit  den  immer  bereiten,  gänzlich  ergebenen  Hausarzt  verloren.4 
Das  Gesetz  war  daher  genöthigt,  die  einander  entgegengesetzten  Interessen 
der  Herren  und  ihrer  Sklaven  zu  versöhnen,  indem  es  einerseits  die 
Bedingungen,  unter  denen  die  letzteren  ihre  Freiheit  zu  fordern  be- 
rechtigt waren,  und  die  Normen  feststellte,  nach  welchen  die  Höhe  des 
Lösegeldes  berechnet  werden  sollte,  und  andererseits  den  Freigelassenen 
bestimmte  Verpflichtungen  gegen  ihre  ehemaligen  Herren  auferlegte, 
welche  die  letzteren  vor  übermässigen  Nachtheilen  schützen  sollten.5 

Die  im  Besitz  des  Staates  befindlichen  Sklaven  des  ärztlichen 
Standes,  welche  wahrscheinlich  die  Behandlung  der  erkrankten  Servi 
publici  besorgten,  scheinen  sich  im  Allgemeinen  in  einer  günstigeren 
Lage  und  freieren  Stellung  befunden  zu  haben,  als  ihre  Berufsgenossen, 
welche  Privatpersonen  gehörten. 

Den  freien  Ärzten  wurden  verschiedene  materielle  Vortheile  und 
Vorrechte  gewährt,   weil  man  erkannte,   wie  nützlich  und  wichtig  die 


1  Sueton:  Nero,  c.  2.    Calig.  c.  8.  —  Seneca:  de  benef.  III,  24. 

2  Cod.  Just.  VI,  tit.  43,  3.   VII,  tit.  7,  1.  5. 

3  Cicero:  ad  Pison.,  c.  34.  pro  Cluentio,  c.  14  u.  ff.  —  Tacitus  Annal.  XV,  63. 

4  Digest.  XL,  tit.  5,  c.  41,  6. 

5  Digest.  XXXVIII,  tit.  1,  c.  25—27. 


Der  ärztliche  Stand  in  Rom.  109 


Heilkunst  für  das  allgemeine  Wohl  ist.  Als  Cäsar  bei  einer  Hungers- 
noth,  die  im  Jahre  46  v.  Chr.  in  Rom  ausbrach,  die  Ausweisung  der 
Fremden  anordnete,  nahm  er  ausdrücklich  die  Ärzte  und  die  Lehrer 
von  dieser  Massregel  aus,  „damit  sie  um  so  lieber  in  der  Stadt  wohnen 
bleiben  und  noch  Andere  dorthin  nachziehen".1  Der  Kaiser  Augustus 
gewährte  den  Ärzten  i.  J.  10  n.  Chr.  die  Immunität,  d.  i.  die  Befreiung 
von  Steuern  und  anderen  Lasten,  angeblich  aus  Dank  für  die  erfolg- 
reiche Kur,  durch  welche  ihn  sein  Leibarzt  Musa,  ein  begeisterter 
Anhänger  der  Hydrotherapie,  von  hartnäckigen  rheumatischen  Be- 
schwerden erlöst  hatte.2  Vespasian  erneuerte  oder  bestätigte  dieses 
Privilegium,  und  Hadrian  erliess  erläuternde  Bestimmungen  über  die 
den  Ärzten  verliehenen  Vorrechte.3 

Aus  dieser  Verordnung,  welche  unter  Antoninus  Pius  erneuert 
wurde,  ergiebt  sich,  dass  sie  von  der  Übernahme  verschiedener  zeit- 
raubenden und  mit  manchen  Unbequemlichkeiten  und  Unkosten  ver- 
bundenen Ämter,  z.  B.  der  Überwachung  der  öffentlichen  Spiele,  der 
Ädilität,  und  den  priesterlichen  Verrichtungen,  ebenso  wie  von  der  Ein- 
quartierungslast befreit  und  der  Pflicht  enthoben  waren,  zu  dem  Ein- 
kauf von  Getreide  und  Öl,  wenn  er  von  Seiten  des  Staates  geschah, 
beizutragen,  auch  nicht  genöthigt  wurden,  als  Richter  oder  Legaten  zu 
fungiren,  und  weder  zum  Militär  noch  zu  anderen  öffentlichen  Dienst- 
leistungen herangezogen  werden  konnten.4 

Antoninus  Pius  bestimmte  aber  gleichzeitig,  dass  diese  weitgehen- 
den Privilegien  nicht  allen  Ärzten  ohne  Unterschied,  sondern  nur  einer 
bestimmten  Anzahl  derselben  zu  Theil  würden.  Es  wurde  angeordnet, 
dass  in  kleineren  Städten  nur  fünf,  in  mittleren  sieben  und  in  grösseren 
zehn  Ärzte  die  Immunität  erhalten  sollten,  und  die  letztere  ihnen, 
wenn  sie  sich  in  ihrem  Beruf  Nachlässigkeiten  zu  Schulden  kommen 
Hessen,  jeder  Zeit  von  der  Stadtbehörde  wieder  entzogen  werden  konnte. 
Ferner  wurde  bei  der  Verleihung  dieser  Vorrechte  den  einheimischen 
Ärzten,  welche  in  ihrem  Heimathsort  prakticirten ,  der  Vorzug  einge- 
räumt vor  den  Fremden,  die  dort  eingewandert  waren.  Die  letzteren 
sollten  nur,  wenn  sie  sich  durch  hervorragende  Leistungen  auszeichneten, 
berücksichtigt  werden.  In  solchen  aussergewöhnlichen  Fällen  durfte 
sogar  die  vorgeschriebene  Zahl  der  mit  Immunität  ausgestatteten  Ärzte 
ausnahmsweise  überschritten  werden. 


1  Sueton:  J.  Cäsar,  c.  42. 

2  Dio  Cassius  LIII,  30.  —  Sueton:  Augustus,  c.  59.  —  Horaz:  Epist.  I,  15. 

3  Digest.  L,  tit.  4.  de  muner.  et  honor.  lex  18,  30. 

4  Digest.  XXVII,  tit.  1.  de  excusat.,   c.  6,  8.  —  E.  Kuhn:  Die  städtische 
und  bürgerl.  Verfassung  des  röm.  Eeiches,  Leipzig  1864,  I,  S.  69  u.  ff. 


110  Der  medizinische   Unterricht  im  Alterthum. 


Alexander  Severus  erliess  das  Gesetz,  dass  in  den  Provinzen  die 


Immunität  nicht  mehr  von  den  staatlichen  Behörden,  sondern  von  den 
Bürgern  und  Grundbesitzern  verliehen  würde,  weil  diese  den  Charakter 
und  die  Tüchtigkeit  der  Ärzte,  denen  sie  sich  in  Krankheiten  anver- 
trauen, am  besten  kennen. 1  Später  wurden  den  Ärzten  noch  die  extra- 
orclinaria  cognitio  gewährt,  nämlich  das  Recht,  ihre  Klagen  wegen  rück- 
ständiger Honorarforderungen  unmittelbar  bei  der  höchsten  Instanz  der 
Provinz  vorzubringen. 2 

Es  scheint,  dass  man  durch  solche  Begünstigungen  zunächst  nur 
beabsichtigte,  tüchtige  unterrichtete  Ärzte  an  einen  Ort  zu  fesseln,  wie 
das  Beispiel  des  Archagathus  lehrt.  Bald  aber  wird  man  ihnen  dafür 
auch  bestimmte  Verpflichtungen  auferlegt  haben,  welche  im  öffentlichen 
Interesse  lagen.  Als  sich  das  Institut  der  Gemeindeärzte,  wie  es  in 
Griechenland  bestand,  im  römischen  Reiche  einbürgerte,  wurden  ihnen 
die  mit  den  Pflichten  des  öffentlichen  Dienstes  verbundenen  Vorrechte 
vorbehalten.  Die  erwähnten  Privilegien  wurden  somit  später  vorzugs- 
weise, wenn  nicht  ausschliesslich,  den  Gemeindeärzten  zu  Theil.  Ihre 
Zahl  richtete  sich  nach  der  Grösse  der  Stadt  und  war,  wie  es  scheint, 
die  gleiche,  wie  diejenige,  welche  das  Gesetz  für  die  Verleihung  der 
Immunität  bestimmte. 

In  Gallien  hatte  man  schon  vor  Stüabo's  Zeit  Gemeindeärzte,3  in 
Kleinasien  vielleicht  schon  früher*  und  in  Latium  jedenfalls  unter 
Trajan,  wie  aus  einer  Grabschrift  hervorgeht,  welche  dem  besoldeten 
Arzt  der  Stadt  Ferentinum  gewidmet  ist.5  In  Rom  wurde  für  jeden 
Bezirk  der  Stadt  ein  Arzt  angestellt. 

Die  Gemeindeärzte  waren  vorzugsweise  dazu  verpflichtet,  Arme 
unentgeltlich  zu  behandeln;  doch  war  ihnen  die  übrige  Praxis  keines- 
wegs verwehrt.  Ferner  wurden  sie  bei  Epidemien  und  anderen  Ereig- 
nissen, welche  mit  einer  Zunahme  der  Krankheiten  und  Sterbefälle 
verbunden  waren,  zu  Rath  gezogen ;  ausserdem  gehörte  der  medicinische 
Unterricht  zu  ihren  besonderen  Obliegenheiten. 

Von  der  Gemeinde  erhielten  sie  eine  Besoldung,  welche  haupt- 
sächlich in  Naturallieferungen  bestand.  In  grösseren  Städten,  wie  in 
Rom,  bildeten  sie  Collegien,  welche  sich,  wenn  eine  Stelle  erledigt 
wurde,  durch  Cooptation  ergänzten.  Doch  unterlag  ihre  Wahl  der 
kaiserlichen  Bestätigung.  Manchmal  scheint  das  Amt  auch  von  dem 
Vater  auf  den  Sohn  übergegangen  zu  sein.6 


1  Digest.  L,  tit.  IX.  de  decretis  ab  ord.  fac.,  c.  1. 

2  Digest.  I,  tit.  13,  c.  1.  3  Strabo  IV,  1. 

4  Vercoutre  a.  a.  0.  p.  351.  —  Orelli:  Inscript.  lat,  No.  3507. 

5  Marqfärdt  a.  a.  0.  VIT,  755.  6  Vercoutre  a.  a.  0.  S.  321. 


Der  ärztliche  Stand  in  Rom.  111 


Unter  der  Regierung  der  Kaiser  Yalentinian  I.  und  Valens  (368  n.  Chr.) 
wurden  die  amtlichen  Competenzen  und  Beziehungen  der  Gemeindeärzte 
in  ihren  Einzelheiten  festgestellt,1  Seit  dieser  Zeit  führten  sie  auch 
officiell  den  Titel  Ärchiatri  populäres,  dessen  Entstehung  jedenfalls  in 
eine  frühere  Zeit  fällt.  Das  Wort  Archiater  kommt  schon  hei  Ake- 
taeus  vor2  und  ist  offenbar  nach  der  Analogie  anderer  Ausdrücke 
mit  der  Wurzel  do/  gebildet,  um  die  Würde,  die  höhere  Stellung  zu 
bezeichnen. 3 

Am  frühesten  scheint  es  zur  Bezeichnung  der  Ärzte  des  kaiser- 
lichen Hofes  gebraucht  worden  zu  sein.  Schon  Stektinius  Xenophon, 
über  dessen  Lebensschicksale  durch  die  Auffindung  seines  mit  Inschriften 
bedeckten  Leichensteins  vor  Kurzem  interessante  Aufschlüsse  gegeben 
wurden,4  führte  den  Titel  eines  Archiaters,  und  vor  ihm  vielleicht  schon 
M.  Livicjs  Eutychus.5  Ebenso  wurde  der  Leibarzt  Nero's,  Andbo- 
machus,  zum  Archiater  ernannt,  weil  der  Kaiser  damit,  wie  Galen 
bemerkt,6  andeuten  wollte,  dass  er  die  übrigen  Ärzte  durch  Erfahrung 
und  Wissen  überrage.  An  einer  anderen  Stelle  gedenkt  Galen  der 
Ärzte  Magnus  und  Demeteiüs,  welche  zu  seiner  Zeit  die  Würde  des 
Archiaters  bekleideten. 7 

Später  führten  die  Hofärzte  den  Titel  Ärchiatri  palatini  im  Gegen- 
satz zu  den  Ärchiatri  populäres,  den  Gemeindeärzten.  Am  Hofe  des 
Kaisers  Alexander  Severus  gab  es  sieben  Ärzte,  von  denen  aber  nur 
der  erste,  der  eigentliche  Leibarzt,  einen  Gehalt  in  baarem  Gelde  bezog, 
während  den  übrigen  Lebensmittel  geliefert  wurden.  Ausserdem 
nahmen  sie  an  allen  Privilegien  und  Begünstigungen  Theil,  welche 
den  Archiatern  und  Ärzten  überhaupt  verliehen  worden  waren.8 

Wie  der  Hof  und  die  Gemeinden,  so  hatten  auch  manche  Ge- 
nossenschaften ihre  eigenen  Ärzte.  Ebenso  wurden  für  einzelne  Be- 
amten-Kategorien, das  Theaterpersonal,  den  Cirkus  und  die  Gladiatoren 
besondere  Ärzte  angestellt.9 

Auch  die  verschiedenen  Truppentheile  erhielten  ihre  Ärzte,  die  sie 
ins  Feld   begleiteten    und    die    erkrankten   und  verwundeten  Soldaten 


1  Cod.  Theodos.  XIII,  T.  3.   de  med.  et  profess.,  c.  8 — 10.  —  Cod.  Justin. 
X,  T.  52,  c.  10. 

2  Aretaeus:  de  acut.  cur.  II,  5. 

3  G.  Curtius:  Grundzüge  der  griechischen  Etymologie,  Leipzig  1879,  S.  189. 

4  M.  Dübois:   Un  medecin   de   l'empereur  Claude.    Bull.  d.  corresp.  hellen. 
1881,  No.  7.  8. 

5  K.  Briau:  Archiatrie  romaine,  Paris  1877,  c.  2. 

6  Galen  XIV,  211.  7  Galen  XIV,  261. 

8  Lampridius:  Alexander  Severus,  c.  42. 

9  R.  Briau:  L'assistance  medicale  chez  les  Romains,  Paris  1869. 


112  Der  medicinische   Unterrieht  im  Alter  thum. 


entweder  in  ihren  Zelten  oder  in  den  Lazarethen  behandelten.  Sie 
trugen  Waffen,  wie  die  übrigen  Soldaten l  und  genossen  die  den  übrigen 
Ärzten  gewährte  Immunität.  Über  die  Rangverhältnisse  der  Militär- 
ärzte und  ihre  Beziehungen  zu  ihren  Vorgesetzten  bestanden  genaue 
Bestimmungen.2  An  der  Spitze  des  ganzen  Militär-Sanitätswesens  stand 
vielleicht  ein  General -Stabsarzt.3  Desgleichen  war  die  Marine  mit 
Ärzten  versehen;  es  gab  darunter  sogar  Specialisten,  wie  aus  einer  Be- 
merkung Galen's  hervorgeht.4 

Ärzte,  welche  sich  durch  ihre  Thätigkeit  hervorragende  Verdienste 
erwarben,  wurden  mit  Titeln  und  Würden,  mit  Rangerhöhungen  und 
anderen  Ehren  ausgezeichnet.  Wie  überall,  so  waren  es  auch  in  Rom 
vorzugsweise  die  Hofärzte,  denen  diese  Gunstbezeugungen  zu  Theil 
wurden.5  Müsa  wurde  vom  Kaiser  Augustus  in  den  Ritterstand  er- 
hoben und  seine  Statue  im  Aeskulaptempel  aufgestellt.  Stertinius 
Xenophon  erhielt  für  seine  Leistungen  als  Militärarzt  von  Claudius 
die  corona  aurea  und  hasta  pura;  als  kaiserlicher  Leibarzt  erlangte  er 
einen  derartigen  Einfluss,  dass  er  zum  Staats-Sekretär  für  die  griechi- 
schen Angelegenheiten  ernannt  wurde.  Seine  Heimath,  die  Insel  Kos, 
verdankte  es  ihm  hauptsächlich,  dass  sie  von  Steuern  befreit  wurde.6 
In  späteren  Zeiten  geschah  es  nicht  selten,  dass  Ärzte  hohe  Stellungen 
am  Hofe  oder  in  der  Verwaltung  des  Staates  annahmen  und  damit 
wahrscheinlich  ihrer  bisherigen  Berufsthätigkeit  entsagten. 

Der  Verfall  des  römischen  Reiches  erstickte  das  wissenschaftliche 
Streben  und  vernichtete  manche  vortreffliche  Einrichtung,  welche  auf 
dem  Gebiet  des  Unterrichts  und  der  Heilkunde  geschaffen  worden  war; 
aber  die  wesentlichen  Grundzüge  dieser  Organisation  blieben  erhalten, 
wenn  sie  auch  durch  Unverstand  und  Erbärmlichkeit  missbraucht  und 
bisweilen  sogar  in  ihr  Gegen  theil  verkehrt  wurden.  Die  reiche  medi- 
cinische Literatur,  welche  gerettet  wurde,  überlieferte  der  neuen  Zeit 
die  Errungenschaften  der  alten  und  wies  der  ärztlichen  Forschung  die 
Wege,  welche  sie  wandeln  muss,  wenn  sie  Erfolge  erringen  will. 


1  Auf  der  Trajans-Säule  in  Rom  sind  zwei  Militärärzte  dargestellt,  welehe 
Wunden  verbinden  und  Pfeile  ausziehen  und  dabei  bewaffnet  sind. 

2  R.  Briau:  Du  Service  de  sante  militaire  chez  les  Romains,  Paris  1866. 
8  Achilles  Tatius:  de  Clitop.  et  Leucipp.  amor.  IV,  10. 

4  Galen  XII,  786.  5  Cod.  Just.   XII,  tit.  13. 

6  Tacitus:  Annal.  XII,  61. 


IL  Der  medicinische  Unterricht  im  Mittelalter. 


Der  Einfluss  des  Christenthums. 

Der  römische  Staatsorganismus  wurde  durch  schleichende  Krank- 
heiten, welche  sein  Lebensmark  zerstörten,  einem  langen  Siechthum 
zugeführt,  dem  die  siegreichen  Angriffe  äusserer  Feinde  ein  unrühm- 
liches Ende  bereiteten. 

Die  Unfähigkeit  und  Verworfenheit  auf  dem  Throne,  die  Theilung 
der  Regierung  unter  mehreren  einander  missgünstigen  und  befehdenden 
Machthaberu,  die  Corruption  der  Beamten  und  die  Käuflichkeit  einer 
übermüthigen  und  übermächtigen  Soldateska  untergruben  seine  politische 
Existenz,  während  die  Lockerung  der  Familienbande,  die  Genusssucht, 
der  Hochmuth  und  die  Verschwendung  der  Reichen  neben  dem  Elend 
der  Massen,  und  die  freche  Schamlosigkeit,  mit  welcher  das  Laster  sich 
vor  Aller  Augen  zeigte,  das  sociale  Leben  in  Rom  vergifteten.  Die 
frischen  Naturvölker  des  Nordens,  welche  zuerst  als  gedungene  Söldner- 
schaaren,  dann  als  umworbene  Beschützer  und  zuletzt  als  gebietende 
Herren  dorthin  kamen,  beschleunigten  den  Zersetzungsprozess  und 
gaben  dem  durch  innere  Leiden  zerrütteten,  aus  unzähligen  Wunden 
blutenden  und  verstümmelten  römischen  Reiche  aus  Mitleid  endlich 
den  Todesstoss. 

Der  Mannesmuth  und  Heldensinn,  welcher  den  Namen  der  Römer 
mit  Ruhm  bedeckt  und  ihren  Staat  gross  gemacht  hatte,  war  erloschen. 
Wenn  eine  vereinzelte  kühne  That  an  die  Zeiten  der  Vergangenheit 
erinnerte,  so  erhellte  sie  nur  für  einen  Augenblick  wie  ein  leuchtender 
Blitz  die  dunkele  Nacht  der  Gegenwart. 

Der  nach  idealen  Zielen  ringende  Ehrgeiz  suchte  seine  Aufgaben 
vorzugsweise  auf  dem  Gebiet  der  Theologie  und  der  entsagungsvollen 
Frömmigkeit.  Diese  Denkweise,  welche  von  den  sittenstrengen  An- 
hängern der  Stoa  vorbereitet,  aber  erst  durch  das  Christenthum  allge- 
meiner verbreitet  wurde,  sah  in  dem  geduldigen  Ertragen  der  Leiden, 

Puschmann,    Unterricht.  ,S 


114  Der  lnedicmisehe   Unterricht  im  Mittelalter. 


in  der  Enthaltsamkeit  von  den  Genüssen  des  Lebens  die  vornehmste 
und  höchste  Tugend,  die  der  Mensch  anstreben  soll.  Einen  wirksamen 
Ansporn  dazu  gab  die  christliche  Glaubenslehre,  indem  sie  die  Aussicht 
eröffnete  auf  ein  Leben  nach  dem  Tode,  in  welchem  alle  Ungerechtig- 
keiten gesühnt  werden,  die  Tugend  ihren  Lohn  und  das  Laster  seine 
Strafe  erhalten  sollten.  Den  Armen  und  Elenden  dieser  Welt  wurde 
damit  die  Hoffnung  auf  eine  bessere  schönere  Zukunft  gewährt,  welche 
sie  über  den  Jammer  der  Gegenwart  trösten  konnte,  den  Reichen  das 
Mitleid  in  die  Seele  geträufelt  und  die  Sünder  mit  Furcht  und  Schrecken 
erfüllt  und  dadurch  zur  Besserung  geführt.  Diese  Lösung  der  socialen 
Frage  entsprach  den  Bedürfnissen  und  dem  Culturzustande  jener  Zeit 
und  musste  sich  daher  allgemeine  Anerkennung  erringen. 

Die  ersten  Anhänger  des  Christenthums  gehörten  den  Kreisen  der 
Unterdrückten,  der  Enterbten  an;  später  fand  es  auch  in  den  mit 
Glücksgütern  gesegneten,  sogenannten  höheren  Klassen  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  Gläubige,  welche,  angewidert  von  der  moralischen 
Verkommenheit  ihrer  Zeit,  in  den  Lehren  des  neuen  Evangeliums  Trost 
und  Erhebung  suchten. 

So  lange  die  christliche  Kirche  aus  solchen  Elementen  bestand, 
bewahrte  sie  ihre  Reinheit  und  blieb  die  Religion  des  Friedens  und 
der  Liebe,  welche  ihr  erhabener  Stifter  geträumt  hatte.  Als  ihr  aber 
mit  der  zunehmenden  Verbreitung  auch  die  Macht  und  der  Reichthum 
zulioss  und  dadurch  eine  Masse  ehrsüchtiger  und  charakterloser  Streber 
angezogen  wurde,  wurde  sie  zum  Tummelplatz  menschlicher  Leiden- 
schaften gemacht  und  stiftete  manchmal  mehr  Unheil  als  Segen. 

Das  Christenthum  beschäftigte  sich  nur  mit  der  ethischen  Erziehung 
des  Menschengeschlechts;  der  wissenschaftlichen  Ausbildung  stand  es 
gleichgültig,  zuweilen  sogar  feindlich  gegenüber.  Es  war  dies  auch 
natürlich;  denn  in  einer  Weltanschauung,  welche,  Avie  die  christliche, 
ihre  Ziele  in  einer  übersinnlichen  Welt  der  Ideale  suchte  und  die  sitt- 
liche Vervollkommnung  der  Menschen  für  deren  wichtigste  oder  einzige 
Aufgabe  erklärte,  konnte  der  wissenschaftlichen  Forschung  keine  grosse 
Bedeutung  zugestanden  werden. 

In  direkten  Widerspruch  zum  christlichen  Dogma  aber  trat  die 
letztere,  wenn  sie  die  Erscheinungen  der  Natur,  z.  B.  den  Körper  des 
Menschen,  welchen  der  christliche  Glaube  für  unrein  und  werthlos, 
Avenn  nicht  verächtlich  erklärte,  zum  Gegenstande  ihrer  Studien  machte. 
Die  Naturwissenschaften  und  die  theoretische  Medicin  haben  daher 
unter  der  Herrschaft  der  christlichen  Kirche  keine  wesentlichen  Fort- 
schritte gemacht.  Dagegen  verdankt  die  praktische  Heilkunde  ihrer 
Anregung  die  Gründung  zahlreicher  Krankenhäuser  und  anderer  Wohl- 


Der  Einfluss  des   Ghristenthums.  115 

thätigkeitsanstalten,  welche  die  Humanität  wie  die  ärztliche  Heilkunst 
in  gleichem  Maasse  förderten. 

Die  Entwicklung  der  Wissenschaften  wurde  in  jener  Zeit  auch 
noch  durch  andere  Verhältnisse  und  Thatsachen  gehemmt.  Die  be- 
ständigen Kriege  und  Kaubzüge  feindlicher  Arolksstämme,  die  religiösen 
Verfolgungen  und  dogmatischen  Streitigkeiten,  die  durch  die  Unsicher- 
heit des  Besitzes  und  des  Lebens  hervorgerufenen  socialen  Verände- 
rungen und  die  schweren  Seuchen,  welche  die  Länder  entvölkerten  und 
in  Wüsteneien  verwandelten,  lenkten  die  Aufmerksamkeit  von  den 
wissenschaftlichen  Studien  ab  und  nahmen  den  Gemüthern  die  dazu 
erforderliche  Kühe. 

Aber  die  wichtigste  Ursache  des  wissenschaftlichen  Stillstandes  lag 
darin,  dass  die  Völker,  welche  das  Reich  der  Römer  unter  sich  theilten, 
ihnen  an  Bildung  bei  weitem  nachstanden  und  daher  zunächst  die 
Aufgabe  hatten,  deren  Cultur  in  sich  aufzunehmen.  Dieser  Prozess 
dauerte  Jahrhunderte  und  fand  eigentlich  erst  am  Ende  des  Mittelalters 
seinen  Abschluss. 

Die  Theilung  der  römischen  Monarchie  in  eine  östliche  und  eine 
westliche  Hälfte  gab  dem  alten  Gegensatz  zwischen  dem  Orient  und 
dem  Occident,  der  niemals  gänzlich  verschwunden  war,  wieder  einen 
deutlichen  politischen  Ausdruck.  Damit  begann  aber  zugleich  die  Auf- 
lösung des  grossen  Staatsorganismus,  von  dem  nun  ein  Glied  nach  dem 
anderen  getrennt  wurde.  Die  losen  Beziehungen  der  Provinzen  zur 
Centralgewalt  in  Rom  oder  Konstantinopel  erleichterten  deren  Loslösung. 
Die  germanischen  Stämme,  welche  die  Völkern" uth  aus  dem  Norden  und 
Osten  gegen  Süden  und  Westen  trieb,  machten  sich  in  ihren  neuen 
Wohnsitzen  bald  heimisch  und  gründeten  neue  Staaten.  Als  das  5.  Jahr- 
hundert zu  Ende  ging,  geboten  die  Ostguthen,  denen  später  die  Longo- 
barden  folgten,  in  Italien,  die  Westgothen  in  Spanien  und  dem  süd- 
westlichen Erankreich,  Burgunder  und  Pranken  im  Osten  und  Norden 
dieses  Landes,  während  angelsächsische  Stämme  nach  Britannien  über- 
setzten, und  die  römische  Provinz  Afrika  eine  Beute  der  Vandalen 
wurde.  In  Germanien  blieben  sächsische,  bayerische,  allemannische  und 
fränkische  Stämme  zurück,  und  die  Herrschaft  der  Byzantiner  wurde 
in  Asien  von  den  Persern,  in  Europa  von  den  Gothen,  Hunnen  und 
Slaven  mehr  und  mehr  zurückgedrängt. 

Die  Eroberer  behielten  einen  grossen  Theil  der  politischen  und 
socialen  Einrichtungen  bei,  welche  sie  in  den  von  ihnen  unterworfenen 
Ländern  vorfanden.  Es  war  dies  ein  Triumph,  den  die  höhere  Cultur 
der  im  physischen  Kampfe  Unterlegenen  über  die  geringere  Bildung 
ihrer  Sieger   feierte.     Die   letzteren    erkannten    die    grossen   Vortheile, 


116  Der  medicinischc   Unterricht  im  Mittelalter. 


welche  ihnen  aus  der  Bereicherung  ihrer  Kenntnisse  erwachsen  würden, 
und  sorgten  daher  dafür,  dass  die  Schulen  und  Unterrichtsanstalten 
soviel  als  möglich  erhalten  wurden. 

Der  civilisatorische  Einüuss  der  Kömer  hatte  sich  in  allen  Theilen 
des  Reiches,  namentlich  aber  in  der  westlichen  Hälfte  desselben,  geltend 
gemacht.  Zahlreiche  Bildungsstätten  in  Gallien,  Spanien,  Britannien 
und  Nordafrika  gaben  davon  Zeugniss.  Die  literarischen  Leistungen  der 
römischen  Schriftsteller,  die  aus  diesen  Ländern  stammten,  zeigen,  wie 
erfolgreich  jene  gewirkt  haben. l 

Nach  dem  Muster  der  höheren  Unterrichtsanstalten  zu  Athen, 
Alexandria  und  Born  entstanden  Hochschulen  sowohl  in  den  Ländern 
des  Orients  als  in  verschiedenen  grösseren  Städten  Italiens,  Galliens 
und  Spaniens,2  an  denen  neben  der  griechischen  und  römischen  Lite- 
ratur, Grammatik,  Geschichte,  Philosophie,  Rhetorik,  Jurisprudenz, 
Mathematik,  Physik  und  Astronomie  zuweilen  auch  Medicin  gelehrt 
wurde.  Ihre  Organisation  war  in  vielen  Beziehungen  ähnlich  derjenigen 
der  englischen  Universitäten.  Sie  wollten  nicht  so  sehr  für  einen  be- 
stimmten Beruf  vorbereiten,  als  eine  alles  Wissen  ihrer  Zeit  umfassende 
Allgemeinbildung  bieten. 

Die  Professoren  dieser  Hochschulen  wurden  auf  öffentliche  Kosten 
besoldet  und  genossen  Immunität,  Steuerfreiheit  und  andere  Privilegien. 
Ihre  Zahl  war  beschränkt  und  richtete  sich,  wie  diejenige  der  Archiatri, 
nach  der  Grösse  der  Stadt.  An  der  Hochschule  zu  Konstantinopel, 
welche  im  5.  Jahrhundert  n.  Chr.  gegründet  wurde,  waren  31  Profes- 
soren angestellt.3  Ausser  den  von  den  Stadtbehörden  oder  der  Regie- 
rung ernannten  Professoren  scheint  es  noch  Lehrer  gegeben  zu  haben, 
welche  gleich  unseren  Privatdocenten,  ohne  bestimmten  Gehalt  zu  em- 
pfangen, die  Lehrthätigkeit  ausübten.  Söhne  wohlhabender  Eltern 
wurden  häufig  von  Pädagogen  zur  Hochschule  begleitet,  die,  halb  Hof- 
meister und  halb  Bediente,  in  den  meisten  Fällen  dem  Stande  der 
Sklaven  oder  Freigelassenen  angehörten. 

Die  Lehrer  bezogen  von  ihren  Schülern  ein  auf  Vereinbarung  be- 
ruhendes Honorar.  Da  dasselbe  eine  wesentliche  Quelle  ihres  Einkommens 


1  Mommsen  a.  a.  0.  Bd.  V,  S.  69  u.  ff.,  100  u.  ff.,  176  u.  ff,,  643,  655  u.  ff. 
—  Gibbon:  Geschichte  des  Unterganges  des  römischen  Weltreiches,  übers,  von 
J.  Sporschil,  Bd.  I,  S.  59. 

2  F.  Cramer:  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts  im  Alterthum, 
Elberfeld  1832,  Bd.  I,  S.  477  u.  ff'. 

3  J.  C.  F.  Bahr:  De  literarum  universitate  Constantinopoli ,  Heidelberg 
1835.  —  Savigny:  Geschichte  des  römischen  Rechts,  Bd.  I,  S.  396. 


Der  Einfluss  des   Christenthums.  117 


bildete,  so  musste  ihnen  viel  daran  gelegen  sein,  recht  viele  Schüler 
zu  unterrichten. 

Das  Studentenleben,  welches  sich  in  Rom  und  Athen  entwickelte, 
glich  in  manchen  Beziehungen  dem  unserigen.  Die  Studierenden  ver- 
einigten sich  nach  ihrer  Heimath  zu  landsmannschaftlichen  Verbindungen, 
suchten  dafür  die  neuen  Ankömmlinge,  die  „Füchse",  mit  allen  Mitteln 
der  Überredung,  der  List  und  manchmal  sogar  der  Gewalt  zu  gewinnen, 
feierten  Trinkgelage  und  Schmausereien  und  Hessen  gelegentlich  der 
überschäumenden  Jugendlust  die  Zügel  schiessen.  Auch  an  tollen  und 
übermüthigen  Streichen  und  beklagenswerthen  Ausschreitungen  fehlte 
es  nicht. 

In  Antiochia  kam  es  vor,  dass  die  Studenten  einen  Pädagogen, 
der  sich  ihr  Missfallen  zugezogen  hatte,  in'  eine  Decke  hüllten  und 
dann  so  lange  in  die  Luft  schleuderten  und  wieder  auffingen,  bis  er 
ohnmächtig  wurde.  Der  Philosoph  Libanius,  der  damals  dort  eine 
Lehrkanzel  hatte,  hielt  deshalb  seinen  Schülern,  welche  sich  wahrschein- 
lich an  diesem  rohen  Spass  betheiligt  hatten,  eine  Strafrede,  in  welcher 
er  sagte,  „es  sei  schon  schlimm  genug,  wenn  sich  Studierende  an  ge- 
wöhnlichen Bürgersleuten  vergreifen,  einen  Goldschmied  beschimpfen, 
einen  Schuster  necken,  einen  Zimmermann  stossen,  einem  Weber  einen 
Tritt  versetzen,  einen  Krämer  herumzerren,  oder  einen  Ölverkäufer  be- 
drohen; wenn  sie  aber  sogar  einen  Pädagogen  misshandeln,  so  sei  dies 
eine  Beleidigung  eines  der  ehrenwerthesten  und  nützlichsten  Stände 
und  verdiene,  dass  sie  dafür  mit  dem  Stock  und  der  Peitsche  gezüchtigt 
würden".1 

Übrigens  waren  die  Studierenden  strengen  Gesetzen  unterworfen. 
Nach  einer  Verordnung  Valentinians  (370  n.  Chr.)  mussten  sie  beim 
Beginn  ihrer  Studien  Zeugnisse  der  Obrigkeit  ihrer  Heimath  vorlegen, 
worauf  dann  ihr  Name  und  ihre  Wohnung  und  der  Stand  der  Eltern 
in  ein  öffentliches  Verzeichniss  eingetragen  wurde.  Es  war  ihnen 
untersagt,  ihre  Zeit  in  Vergnügungen  zu  vergeuden.  Wenn  sie  diese 
Gebote  übertraten,  so  setzten  sie  sich  körperlichen  Strafen  aus  und 
konnten  von  der  Schule  entfernt  werden.  Der  Präfekt  der  Stadt  er- 
stattete alljährlich  einen  Bericht  über  die  Fähigkeiten  und  das  Betragen 
der  Studierenden  an  die  vorgesetzte  kaiserliche  Behörde.2 

Mit  dem  20.  Lebensjahre  sollten  die  Studien  beendet  sein.  Es 
scheint  also,  dass  man  ziemlich  früh  damit  anfing.     In  der  fälschlich 


1  Libanius:    Orat.   et   declamat.   ed.   J.  J.  Reiske,   Altenburg  1795,  T.  III, 
p.  254.  259  (ntqi  rov  rd7T7]roq). 

2  Cod.  Theodos.  L.  XIV,  T.  1,  1. 


118  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


dem  Soranus  zugeschriebenen,  aber  jedenfalls  auf  alten  Quellen  be- 
ruhenden Isagoge  in  artem  medicam1  wird  das  15.  Jahr  als  die  ge- 
eignetste Zeit  für  den  Beginn  der  medicinischen  Studien  erklärt.  Der 
Verfasser  sagt  bei  dieser  Gelegenheit,  „dass  der  Studierende  fleissig, 
talentvoll  und  scharfsinnig  sein  müsse,  damit  er  schnell  begreife  und 
lerne,  und  dass  er  einen  kräftigen  Körper  brauche,  damit  er  die  ihm 
bevorstehenden  Anstrengungen  ertragen  kann".  Ferner  wird  von  ihm 
verlangt,  dass  er  eine  wissenschaftliche  Vorbildung  besitze  und  in  der 
Grammatik,  Literaturgeschichte,  Rhetorik,  Mathematik  und  Astronomie 
unterrichtet  worden  sei.  „Der  Arzt",  heisst  es  weiter,  „muss  Milde  und 
Bescheidenheit  mit  der  geziemenden  Ehrenhaftigkeit  verbinden,  einen 
unantastbaren  Charakter  besitzen,  darf  nicht  hochmüthig  auftreten  und 
soll  die  Armen  wie  die  Reichen,  die  Sklaven  wie  die  Freien  in  gleicher 
Weise  behandeln."  — 

Die  medicinischen  Vorträge,  welche  von  gelehrten  Theoretikern, 
den  Iatrosophisten ,  wie  sie  genannt  wurden,  an  den  Hochschulen  ge- 
halten wurden,  bestanden  in  philosophischen  Betrachtungen  und  tief- 
durchdachten Erörterungen  verschiedener  Fragen  der  Physiologie  und 
Pathologie;  aber  sie  genügten  nicht,  um  den  Zuhörer  zur  Ausübung 
der  ärztlichen  Berufsthätigkeit  zu  befähigen. 

Diesem  Theile  der  ärztlichen  Erziehung  wurde  von  den  Archiatern 
und  überhaupt  von  den  praktischen  Ärzten,  welche  Unterricht  in  der 
Heilkunst  erth  eilten,  in  einer  zweckmassigeren  und  wirksameren  Weise 
entsprochen. 

Die  Sophisten-Schulen  und  höheren  Lehranstalten  verlangten  kein 
bestimmtes  religiöses  Glaubensbekenntniss  von  den  Lehrern  und  Schülern. 
An  ihnen  unterrichteten  Heiden  und  Christen,  und  in  ihren  Hörsälen 
drängten  sich  Anhänger  verschiedener  Kirchen  und  Sekten.  Nur  unter 
der  kurzen  Regierung  Julians  wurden  die  Christen  vom  Lehramt  an 
den  heidnischen  Schulen  ausgeschlossen. 

Schon  damals  wurden  schwache  Versuche  unternommen,  um  das 
Christenthum  von  der  Bildung  der  Heiden  zu  emancipiren;  aber  erst 
ein  Jahrhundert  später  gelang  es  den  Bestrebungen  eines  Salvianus, 
Prudentius,  Orosius  u.  A.,  eine  Literatur  mit  christlichem  Inhalt  zu 
schaffen,  welche  sich  auf  die  Schriften  des  alten  und  neuen  Testaments 
stützte.  Die  Gleichgültigkeit  und  Verachtung,  welche  die  Leuchten  der 
christlichen  Kirche  gegen  die  geistigen  Schöpfungen  der  Griechen  und 
Römer  kundgaben,2  die  Einseitigkeit,  mit  der  man  sich  bei  der  Aus- 

1  Val.  Rose:  Anecclota  graeca  et  graecolatina,  Berlin  1864,  II,  p.  169.  244  u.  ff. 

2  Archiv  f.  Geschichte  u.  Literatur;  herausg.  v.  F.  C.  Schlosser  u.  Bercht, 
T,  S.  253  u.  ff. 


Der  FAnfluss  des  Christenthums.  119 

wähl  des  Stoffes  auf  die  jüdisch-christliche  Überlieferung  beschränkte 
und  die  tendenziöse  Entstellung  der  Culturerrun genschaften  des  Alter- 
thums  gaben  diesen  literarischen  Produkten  ein  sehr  unvorteilhaftes 
Licht  und  erklären  es,  wenn  aufgeklärte  Zeitgenossen,  die  nicht  in 
religiösen  Vorurtheilen  befangen  waren,  darin  keinen  Fortschritt  in  der 
intellektuellen  Entwicklung   des  menschlichen  Geschlechts  erblickten. 

Wenn  der  Kampf  zwischen  der  christlichen  und  der  antiken  Bildung 
mit  den  Waffen  des  Geistes  entschieden  worden  wäre,  so  musste  er  die 
Überlegenheit  der  letzteren  darthun;  aber  er  wurde  bald  auf  das  Ge- 
biet der  politischen  Macht  verlegt,  wo  der  Sieg  Demjenigen  zufällt, 
welcher  der  Stärkere  ist. 

Als  die  Christen,  nachdem  sie  Jahrhunderte  hindurch  von  den 
Heiden  verfolgt  worden  waren,  die  Herrschaft  im  Staat  erlangten,  be- 
gannen sie  ihrerseits,  ihre  einstigen  Bedrücker  zu  verfolgen.  Eifrig 
bemüht,  die  Wurzeln,  mit  welchen  die  Menschheit  an  der  heidnischen 
Vergangenheit  hing,  auszugraben,  bekämpften  sie  das  auf  dem  Studium 
der  Alten  beruhende  Unterrichtssystem  und  suchten  es  in  ihrem  Sinne 
umzugestalten,  damit  es  eine  mit  dem  christlichen  Dogma  vereinbare 
Form  erhielt.  Wenn  man  damit  nicht  zum  Ziel  kam,  so  griff  man 
zur  Gewalt  und  hob  die  Lehranstalten  auf.  Durch  ein  Edikt  Justinians 
vom  Jahre  529  wurden  die  philosophischen  Schulen  zu  Athen  und 
Alexandria  geschlossen.  Die  letzten  griechischen  Philosophen  ver- 
liessen  ihre  Heimath  und  suchten  in  der  Fremde  Schutz  und  geistige 
Freiheit. 

In  Konstantinopel  und  anderen  Orten,  namentlich  in  den  Ländern 
des  Westens,  wurden  die  Musentempel  in  christliche  Unterrichtsanstalteü 
umgewandelt,  in  denen  das  Studium  der  Religion  die  massgebende 
Stelle  erhielt.  Die  Geistlichen  übernahmen  die  Leitung  der  Erziehung 
und  wurden  die  Vertreter  der  Wissenschaft.  Da  ihnen  aber  der  reli- 
giöse Glaube  das  höchste  Gesetz  war,  so  wurden  der  Forschung  Grenzen 
gesteckt,  welche  sie  nicht  überschreiten  durfte. 

In  den  Schulen,  welche  an  den  Bischofssitzen  und  bei  den  Klöstern 
entstanden,  wurden  nicht  blos  Theologie  und  Kirchengeschichte,  sondern 
alle  Wissenschaften  gelehrt,  welche  theils  zur  Allgemeinbildung  gehörten, 
theils  für  das  tägliche  Leben  brauchbar  und  nützlich  erschienen.  Auch 
die  Heilkunde  wurde  häufig  in  den  Kreis  der  Unterrichtsgegenständc 
gezogen;  namentlich  beschäftigte  man  sich  in  den  Schulen  des  Orients 
damit. 

Der  hl.  Benedikt  führte  diese  Einrichtung  dann  auch  im  Abend- 
lande ein  und  regte  die  Mitglieder  des  Ordens,  den  er  stiftete,  zu 
medicinischen  Studien  an.     Auch  Cassiodor  empfahl  den  Mönchen,  in 


120  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Mittelalter. 


deren  Kloster  er  sich  zurückgezogen  hatte,  nachdem  er  als  Minister 
des  Ostgothenkönigs  Theodorich  viele  Jahre  hindurch  eine  hervorragende 
Rolle  im  politischen  Leben  gespielt  hatte,  die  Beschäftigung  mit  der 
Heilkunde  und  gab  ihnen  ausführliche  Rathschläge,  welche  medici- 
nischen  Schriftsteller  des  Alterthums  sie  ihren  Studien  zu  Grunde  legen 
sollten.1 

Sehr  eifrig  wurde  die  Medicin,  wie  es  scheint,  in  den  Schulen 
der  Nestorianer  gepflegt.  Hohe  Geistliche  dieser  Sekte  wurden  wegen 
ihrer  ärztlichen  Tüchtigkeit  gerühmt  und  von  den  Fürsten  zu  Rath 
gezogen. 2 

Die  Unterrichtsanstalten  der  Nestorianer  waren  eingerichtet  wie 
die  Schulen  des  hl.  Okigines  zu  Alexandria.3  Als  Lehrer  an  den- 
selben wirkten  auch  Andersgläubige,  sogar  Heiden,  natürlich  nur  in 
den  profanen  Wissenschaften.  Die  Schüler  mussten  für  den  Unterricht 
ein  Honorar  zahlen,  das  manchmal  nicht  unbedeutend  war.  Das  Lehr- 
geld für  arme  Schüler  zahlte  die  Kirche,  welche  ihnen  ausserdem  noch 
Unterstützungen  gewährte. 

Die  bekanntesten  Lehranstalten  bestanden  zu  Edessa,  Nisibis,  Se- 
leucia  und  Dorkena;  später  wurden  auch  in  Bagdad,  Mesena,  Hirta, 
Matotha.  Jemama  und  anderen  Städten  Syriens  derartige  Schulen  ge- 
gründet.4 Manche  waren  sehr  besucht;  Nisibis  zählte  einmal  800  Schüler, 
von  denen  einzelne  bis  aus  Italien  und  Afrika  kamen. 

Als  die  Nestorianischen  Gelehrten  durch  den  religiösen  Fanatismus 
der  byzantinischen  Kaiser  aus  Edessa  vertrieben  wurden,  flüchteten  sie 
nach  Persien,  wo  sie  wesentlich  zu  dem  Aufschwünge  beitrugen,  den 
die  Wissenschaften,  besonders  die  Heilkunde,  an  der  Schule  von  Gon- 
disapur  erfuhren.  Die  ersten  Anfänge  derselben  reichen  vielleicht  bis 
ins  3.  Jahrhundert  zurück;5  ihre  Blüthezeit  erlebte  sie  unter  Kesra 
Nuschirvan  im  sechsten  Jahrhundert. 

Dieser  Monarch  war  ein  gründlicher  Kenner  der  griechischen  Lite- 
ratur und  wohlwollender  Beschützer  aller  wissenschaftlichen  Bestre- 
bungen. Bei  ihm  fanden  die  vertriebenen  Nestorianer  dieselbe  herz- 
liche Aufnahme  wie  die  Philosophen  von  Athen;  in  der  gleichen  Weise 
unterstützte  und  förderte  er  die  jüdischen  und  syrischen  Gelehrten, 
welche  den  Persern  die  Cultur  der  Griechen  übermittelten.    Er  schickte 


1  Cassiodor:  Institut,  divin.  lect.  I,  c.  31. 

2  Assemani:  Bibliotheca  orientalis,  Rom  1728,  III,  pars  1,  p.  166. 

3  Assemani  a.  a.  0.  III,  pars  2,  p.  919  u.  ff 

4  Assemani  a.  a.  O.  III,  pars  2,  p.  924. 

5  J.  H.  Schulze:   De  Gondisapora  Persarum   quondam   academia  medica  In 
Comment.  acad.  Petropolit.  1751,  XIII,  p.  437  u.  ff. 


Der  Einfluss  des   Christenthums.  121 


seinen  Leibarzt  Burzweih  nach  Indien,  damit  derselbe  die  dortige 
Heilkunst  kennen  lerne  und  Arzneien  und  medicinische  Schriften  mit- 
bringe, und  stellte,  als  er  mit  dem  byzantinischen  Kaiser  Frieden 
schloss,  die  Bedingung,  dass  ihm  der  Arzt  Tribunus  aus  Palästina, 
einer  der  berühmtesten  Praktiker  seiner  Zeit,  auf  ein  Jahr  überlassen 
würde. 

In  Gondisapur  berührten  sich  das  abendländische  Wissen  und  die 
Weisheit  des  Morgenlandes.  Hier  trat  die  griechische  Medicin  in  Ver- 
bindung mit  der  Heilkunst  der  Perser  und  Indier  und  diese  Vermäh- 
lung barg  in  sich  die  Keime  zu  dem  Aufschwünge,  den  diese  Wissen- 
schaft unter  den  Arabern  erfuhr. 

Der  medicinische  Unterricht  an  den  Schulen  zu  Gondisapur  wurde 
hauptsächlich,  wenn  auch  nicht  ausschliesslich  von  den  Nestorianischen 
Gelehrten  ertheilt.  Er  war  nicht  blos  theoretisch,  sondern  vorzugsweise 
praktischer  Natur  und  fand  im  Krankenhause  statt. 1  Das  letztere  blieb 
auch  unter  der  arabischen  Herrschaft  erhalten  und  wurde  noch  zu  Ende 
des  zehnten  Jahrhunderts  erwähnt. 

Die  medicinische  Wissenschaft  machte  in  der  Periode  des  Verfalls 
des  römischen  Reiches  und  der  darauf  folgenden  Zeit  keine  bemerkens- 
werthen  Fortschritte.  Die  Erziehung  der  Ärzte  war  im  Allgemeinen 
weniger  zweckmässig  als  früher.  Es  fehlte  an  manchen  vortrefflichen 
Einrichtungen,  welche  den  medicinischen  Unterricht  bei  den  Römern 
erleichtert  hatten. 

Die  anatomischen  Studien  wjirden  hauptsächlich  nach  Büchern 
betrieben.  An  die  Zergliederung  menschlicher  Leichen  war  bei  den 
religiösen  und  socialen  Vorurtheilen,  welche  darin  eine  Schändung  der 
Menschenwürde  sahen,  nicht  mehr  zu  denken.  Sogar  die  Sektionen 
thierischer  Cadaver  waren  nicht  immer  möglich;  denn  sie  brachten 
den  Forscher  mindestens  in  die  Gefahr,  für  einen  Zauberer  gehalten 
zu  werden.2 

Das  anatomische  Wissen  erfuhr  daher  nur  wenige  Bereicherungen, 
von  denen  die  Entdeckung  des  Olfactorius  als  eines  selbstständigen 
Nerven  und  die  Lehre,  dass  die  Entwickelung  der  Schädelknochen  und 
der  Wirbelsäule  von  der  Bildung  des  Gehirns  und  Rückenmarks  ab- 
hänge, vielleicht  allein  Erwähnung  verdienen.3 

Die  anatomischen  und  phvsiologischen  Schriften  Galen's  bildeten 


1  Assemani  a.  a.  0.  III,  pars  2,  p.  940  u.  ff. 

2  Apülejus  Madaurensis:  Apologia,  c.  36. 

3  Theophilus  Protospatharius  :   De   corp.  human,  fabrica  ed.  A.  Greenhill, 
Oxford  1842,  p.  129.  151. 


122  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


die  Grundlage  des  Unterrichts  in  diesen  Gegenständen.  Das  anatomische 
Wissen,  welches  derselbe  dort  niedergelegt  hatte,  erfüllte  nach  der 
Meinung  der  Ärzte  jener  Zeit  die  höchsten  Anforderungen,  welche  an 
ihre  Kenntnisse  auf  diesem  Gebiet  gestellt  werden  durften.  Die  Re- 
sultate, zu  welchen  er  bei  seinen  anatomischen  Untersuchungen  gelangt 
war,  schienen  ihnen  weder  einer  Berichtigung  noch  eiuer  Ergänzung 
bedürftig  zu  sein. 

Den  gleichen  Charakter  der  Vollendung  schrieben  sie  den  physio- 
logischen Theorien  Galen's  zu.  Der  Teleologismus,  welchem  er  huldigte, 
und  die  aufrichtige  Bewunderung  der  göttlichen  Allmacht  und  Weisheit, 
der  er  bei  jeder  Gelegenheit  Ausdruck  gab,  bewegten  sich  auf  dem 
Boden  der  christlichen  Auffassung  und  fanden  daher  bei  den  christ- 
lichen Gelehrten  willkommene  Aufnahme.  Diesem  Umstände  verdankte 
es  Galen  zum  grossen  Theile,  dass  seine  Werke  von  den  mit  fana- 
tischer Brutalität  gegen  die  literarischen  Denkmäler  des  Alterthums 
wüthenden  Theosophen  der  christlichen  und  islamitischen  Ära  nicht 
vernichtet,  sondern  sorgfältig  erhalten  und  eifrig  studiert  und  weiter 
verbreitet  wurden. 

Während  die  theoretischen  Disciplinen  der  Medicin  zum  Stillstand 
verurtheilt  wurden,  eröffnete  sich  der  praktischen  Heilkunde  durch  die 
Gründung  von  Krankenhäusern  die  Aussicht  auf  eine  erfolgreiche  wissen- 
schaftliche Bearbeitung.  Die  Wohlthätigkeitsanstalten,  welche  die  christ- 
liche Nächstenliebe  ins  Leben  rief,  boten  Gelegenheit  zur  Beobachtung 
von  Krankheiten  und  Leiden  aller  Art  und  erleichterten  es  den  Ärzten, 
sich  in  ihrer  Kunst  auszubilden  und  Erfahrungen  zu  sammeln. 

Wenn  man  behauptet  hat,  dass  die  Gründung  öffentlicher  Ho- 
spitäler einzig  und  allein  vom  Christenthum  ausgegangen  sei,  so  ist 
dies  freilich  nicht  richtig.  Schon  die  Buddhisten  kannten  derartige 
Anstalten,1  und  die  Iatreien  der  griechischen  Ärzte,  besonders  diejenigen, 
welche  auf  öffentliche  Kosten  unterhalten  wurden,  waren  gewiss  im 
Wesentlichen  nichts  Anderes  als  öffentliche  Krankenhäuser.  Die  Vale- 
tudinarien  der  Römer,  welche  für  die  Sklaven  und  die  Soldaten  einge- 
richtet wurden,  unterschieden  sich  davon  vielleicht  nur  dadurch,  dass 
sie  für  bestimmte  Klassen  der  Bevölkerung  bestimmt  waren.  Die 
Spanier  fanden,  als  sie  nach  der  Entdeckung  Amerikas  nach  Mexiko 
kamen,  auch  dort  Spitäler,  denen  sie  sogar  grosses  Lob  spendeten.2 
Virchow  hat  daher  Recht,  wenn  er  sagt,  „dass  jede  Cultur,  welche 
die  Sitten  bis  zu  einem  gewissen  Maasse  mildert  und   eine  mehr  ge- 


1  S.  oben  S.  14. 

2  Prescott:  The  conquest  of  Mexico,  London  1803,  2.  Aufl.,  I,  p.  26.  169. 


Der  Einfluss  des  Christenthwms.  123 


schlossene  Form  der  Gesellschaft  herstellt,  endlich  auch  zur  Gründung 
von  Krankenanstalten  führen  wird."1 

Das  unbestreitbare  Verdienst  des  Christenthums  aber  ist  es,  die 
in  der  Verborgenheit  glühenden  Funken  echter  Menschenliebe  zur  hellen 
Flamme  der  Begeisterung  angefacht  zu  haben.  Keine  andere  Religion, 
keine  politische  oder  sociale  Macht  hat  soviel  für  die  Humanität  ge- 
leistet und  geschaffen,  wie  das  Christen thum.  Wo  sich  dasselbe  ver- 
breitete und  Anhänger  gewann,  wurden  Werke  der  Barmherzigkeit  geübt 
und  der  Wohlthätigkeit  Tempel  errichtet. 

Die  ausserordentlichen  Erfolge,  welche  die  christliche  Religion  in 
den  ersten  Jahrhunderten  nach  ihrer  Entstehung  errang,  beruhten 
sicherlich  zum  grossen  Theile  auf  den  humanitären  Ideen,  die  es  ver- 
kündete. Allerdings  hat  auch  das  Alterthum  Thaten  der  Menschenliebe 
hervorgebracht,  welche  die  Bewunderung  herausfordern;  aber  sie  waren 
nur  vereinzelt  und  erzielten  keine  nachhaltige  Wirkung.  Das  Christen- 
thum  vereinigte  die  humanitären  Bestrebungen  der  Einzelnen  und  gab 
der  Wohlthätigkeit  einen  collectiven  Ausdruck. 

Das  Alterthum  sah  in  dem  Sklaven  ein  mit  der  menschlichen 
Sprache  begabtes  Thier,  ein  zur  Ausbeutung  bestimmtes  Besitzthum; 
das  Christenthum  konnte  die  Sklaverei  zwar  nicht  abschaffen,  aber  es 
wies  doch  auf  die  auch  im  Sklaven  vorhandene  Menschenwürde  hin. 

Cato  gab  den  Landwirthen  den  Rath,  sie  möchten  die  alten  und 
kranken  Sklaven  verkaufen,  wie  das  Rindvieh,  das  nicht  mehr  zur 
Arbeit  tauglich  ist,  und  das  alte  Eisen.2  Viele  Herren  jagten  ihre 
Sklaven,  wenn  sie  durch  Krankheit  oder  Alter  erwerbsunfähig  geworden 
waren,  aus  dem  Hause,  sodass  der  Kaiser  Claudius,  um  diesem  Unfug 
zu  steuern,  die  letzteren  in  diesem  Fall  für  frei  erklären  liess.3 

Das  Christenthum  predigte  Mitleid  mit  den  Unterdrückten,  Unter- 
stützung der  Armen  und  Hilflosen  und  Pflege  der  Kranken.  Viele 
seiner  Gläubigen  gaben  ihre  Besitzthümer  den  Bedürftigen  oder  der 
Kirche,  damit  sie  davon  Almosen  spende.  Die  Kirche  zu  Rom  ge- 
währte im  3.  Jahrhundert  1500  Armen  den  täglichen  Unterhalt,4  und 
diejenige  zu  Antiochia  ernährte  deren  zur  Zeit  des  hl.  Cheysostomus 
über  3000. 5 

Die  Errichtung  der  christlichen  Armen-  und  Krankenhäuser  und 
anderer  Wohlthätigkeitsanstalten  scheint  im  Orient  begonnen  zu  haben. 


1  Virchow:  Über  Hospitäler  und  Lazarethe  in  seinen  gesammelten  Abhand- 
lungen, Berlin  1879,  II,  S.  8. 

2  Cato:  de  re  rust.,  c.  2.  *  Sueton:  Claudius,  c.  25. 

4  Eusebius:  Hist.  eccles.  VI,  43.  5  Chrysost.  :  hom.  66  in  Matth. 


124  Der  medicinischc   Unterricht  im  Mittelalter. 


In  Griechenland  wurden  die  Sklaven  besser  und  menschlicher  behandelt, 
als  in  jedem  anderen  Lande  der  antiken  Welt;1  hier  fanden  Arme  und 
Fremde  schon  zu  den  Zeiten  des  Heidenthums  in  den  Xenodochien 
freundliche  Aufnahme  und  ärztliche  Pflege,  wenn  sie  erkrankten.  Das 
Ghristenthum  organisirte  dann  die  Ausübung  der  Wohlthätigkeit  und 
rief  Anstalten  ins  Leben,  welche  in  solcher  Grösse  und  Ausdehnung 
vorher  niemals  existirt  hatten. 

Die  vom  hl.  Basilius  (370 — 79)  gegründete  Anstalt  zu  Caesarea 
glich  einer  Stadt;  sie  enthielt  zahlreiche  Wohnungen  für  Arme  und 
Kranke,  wurde  vortrefflich  geleitet  und  hatte  besondere  Ärzte  und 
Krankenwärter  in  ihrem  Dienst.2  Geegor  von  Nazianz  nennt  diese 
Anstalt  „den  Schatz  der  Frömmigkeit,  wo  die  Krankheit  eine  Schule 
der  Weisheit  wird,  wo  das  Elend  sich  in  Glück  umgestaltet."3  Edessa 
erhielt  i.  J.  375  ein  Hospital,  welches  mit  300  Lagerstätten  versehen 
wurde. 4 

Nach  •  diesen  Vorbildern  entstanden  auch  an  anderen  Orten  Klein- 
asiens,  sowie  in  Alexandria  und  Konstantinopel,  ähnliche  Anstalten  für 
Leidende  und  Gebrechliche.  In  Rom  wurde,  wie  der  hl.  Hieronymus 
erzählt,  das  erste  christliche  Krankenhaus  von  der  Wittwe  Fabiola, 
welche  von  dem  alten  Geschlecht  der  Fabier  abstammte,  zu  Ende  des 
4.  Jahrhunderts  gegründet.5  Ihrem  frommen  Beispiel  folgten  andere 
reiche  Privatleute,  und  die  Errichtung  von  Wohlthätigkeitsanstalten 
wurde  bei  den  vornehmen  römischen  Damen  Mode.  Jedenfalls  brachte 
es  der  Menschheit  mehr  Segen,  wenn  die  hl.  Paula  ein  Hospital  er- 
baute, als  wenn  sie  ihre  Tochter  zur  beständigen  Jungfrauschaft  ver- 
urtheilte,  obgleich  sie  dafür  vom  hl.  Hieronymus  mit  dem  Titel  einer 
Schwiegermutter  Gottes  belohnt  wurde,  wie  Gibbon  erzählt.6 

Auch  an  anderen  Orten  Italiens,  sowie  in  Gallien  und  Spanien 
wurden  Kranken-  und  Armenhäuser  errichtet.  Der  Bischof  Masona 
von  Merida  (573 — 606),  ein  Gothe,  gründete  ein  Hospital,  in  welchem 
Christen  wie  Juden,  Sklaven  und  Freie  Aufnahme  fanden,  und  bestimmte, 
dass  die  Hälfte  aller  Geschenke,  welche  die  Kirche  erhielt,  dieser  An- 


1  Mommsen  a.  a.  0.  V,  250. 

2  Gregor  von  Nazianz:  Grat,  funebr.  in  Basil.  u.  Orat.  de  pauperum  cura. 
—  Basilius:  Epist.  94. 

8  C.  Schmidt:    Die   bürgerliche  Gesellschaft   in   der  altrömischen  Welt  und 
ihre  Umgestaltung  durch  das  Christenthum,  Leipzig  1857,  S.  246. 

4  E.  Chastel:   Die  christliche  Barmherzigkeit  in  den  ersten  Jahrhunderten 
der  Kirche,  übers,  v.  Wichern,  Hamburg  1854,  S.  135. 

5  Hieronymus:  Ep.  77,  Ed.  Vallarsi. 

6  Gibbon  a.  a.  O.  VIT,  cap.  37. 


Der  Einfluss  des   Ghristenthtmis.  125 


stalt  gegeben  wurde.  Den  Ärzten,  welche  dort  angestellt  wurden,  be- 
fahl er,  in  der  Stadt  umher  zu  gehen  und  die  Kranken  einzuladen, 
sich  nach  diesem  Hause  bringen  zu  lassen.  Das  Hötel-Dieu  zu  Lyon 
wurde  i.  J.  ,542  von  Childebert  I.  gestiftet  und  stand  unter  der  Auf- 
sicht von  Laien.1 

Die  Kirche  erklärte  die  Krankenpflege  für  ein  gottgefälliges  Werk. 
Die  Gläubigen  wetteiferten  daher  miteinander,  den  Leidenden  zu  helfen, 
und  scheuten  dabei  selbst  vor  den  niedrigsten  und  unangenehmsten 
Verrichtungen  nicht  zurück.  Fabiola  trug  die  Kranken  auf  ihren 
Armen  zum  Lager  und  wusch  ihnen  die  Wunden  aus,  welche  Andere 
kaum  anzuschauen  vermochten.2  Die  Kaiserin  Placilla  Augusta  ver- 
richtete in  den  Spitälern  die  Dienste  einer  Magd.3 

Eine  aufopferungsvolle  Thätigkeit  entfalteten  die  Christen  bei  den 
grossen  Epidemien,  welche  in  jener  Zeit  die  Menschheit  heimsuchten. 
Als  im  3.  und  4.  Jahrhundert  ansteckende  Seuchen  in  Alexandria 
und  Carthago  wütheten,  nahmen  sie  sich  der  Kranken  ohne  Unter- 
schied des  religiösen  Glaubens  an,  pflegten  sie  und  bestatteten  die 
Todten.4  Viele  wurden  dabei  selbst  von  der  Seuche  ergriffen  und  er- 
lagen ihr. 

Der  Heldenmuth  der  Liebe,  welchen  die  Christen  bei  derartigen 
Gelegenheiten  zeigten,  erfüllte  auch  die  Andersgläubigen  mit  staunen- 
der Bewunderung.  Selbst  Julian,  der  eifrigste  Gegner  des  Christen- 
thums,  Hess  ihrem  wohlthätigen  Wirken  diese  Anerkennung  zu  Theil 
werden.  „Wir  sehen,"  schrieb  er,  „was  die  Feinde  der  Götter  stark 
macht,  ihre  Menschenliebe  gegen  die  Fremdlinge  und  Armen,  ihre 
Sorgfalt  für  die  Todten  und  ihre  wenn  auch  gemachte  Heiligkeit  des 
Lebens."5  Er  fühlte  sich  dadurch  bewogen,  das  Beispiel  der  Christen 
nachzuahmen,  und  beschloss  in  allen  Städten  Hospitäler  zu  errichten. 

Von  den  Krankheiten  erregte  namentlich  der  Aussatz,  unter  dessen 
Namen  eine  Menge  von  Hautleiden  verschiedener  Art  zusammengefasst 
wurden,  damals  die  öffentliche  Aufmerksamkeit.  Die  Aussätzigen  wurden 
wegen  ihres  abschreckenden  Aussehens  von  den  Leuten,  sogar  von  ihren 
eigenen  Verwandten  und  Freunden  gemieden  und  wegen  der  Gefahr 
der  Ansteckung,  der  man  sich  aussetzte,  gefürchtet. 

Die  Christen  erbarmten  sich  auch  dieser  Unglücklichen  und  gaben 
ihnen  in  den  Hospitälern  Unterkunft  und  Pflege.     Der  hl.  Basiliüs 


1  C.  F.  Heusinger  im  Jarnis  I,  S.  772  u.  ff. 

2  Hieronymus:  Ep.  84. 

3  Theodoret:  Hist.  eccles.  V,  19. 

4  Eusebius:  Hist.  eccles.  VII,  22.  IX,  8.  —  Sozomenos:  Hist.  eccles.  V,  16. 

5  Julian:  Epist.  49. 


126  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

„umarmte  sie  wie  Brüder,  nicht  weil  er  mit  seinem  Muthe  prahlen 
wollte,  sondern  um  Denjenigen  ein  Beispiel  zu  geben,  welchen  er  ihre 
Pflege  anvertraute."1  Er  räumte  ihnen  eine  besondere  Abtheilung  in 
seiner  Anstalt  zu  Caesarea  ein. 

In  Konstantinopel  wurde  ein  Spital  nur  für  Aussätzige  bestimmt, 2 
und  in  Italien  entstanden  an  vielen  Orten  die  Leprosen-Häuser  früher, 
als  die  Anstalten  für  die  übrigen  Kranken.3  In  Frankreich  gab  es 
schon  zur  Zeit  des  hl.  Gregor  von  Tours  (560)  Aussatz-Häuser,  und 
in  einer  Testaments-Urkunde  v.  J.  636  werden  Anstalten  dieser  Art 
in  Verdun,  Metz  und  Mastricht  erwähnt.4  Hundert  Jahre  später  sam- 
melte der  hl.  Othmar  die  Aussätzigen  von  den  Feldern  bei  St.  Gallen 
und  richtete  ihnen  ein  Spital  ein. 

Ausser  den  Armen-  und  Krankenhäusern  schuf  die  christliche  Liebe 
auch  Anstalten,  in  welchen  altersschwache  Greise,  Krüppel,  Blinde,  arme 
Wöchnerinnen,  Waisen  und  verlassene  und  ausgesetzte  Kinder  aufge- 
nommen und  verpflegt  wurden.  Das  Aussetzen  der  Neugeborenen 
wurde  allerdings  schon  unter  Valentinian  verboten;  aber  die  socialen 
Missstände  hielten  diesen  verbrecherischen  Gebrauch  aufrecht.5  Im 
5.  Jahrhundert  kam  in  einigen  Städten  Galliens,  z.  B.  in  Arles,  Trier, 
Macon  und  Rouen,  die  Sitte  auf,  die  Kinder,  deren  man  sich  entledigen 
wollte,  vor  den  Thüren  der  Kirchen  niederzulegen.  Die  Geistlichkeit 
nahm  sich  der  armen  Verlassenen  an  und  Hess  sie  erziehen.  Die  ersten 
Findelhäuser  sollen  zu  Trier,  Angers  und  Mailand  entstanden  sein.6 

Leider,  äusserte  sich  die  Fürsorge,  welche  die  Christen  den  Kranken 
und  Hilfsbedürftigen  widmeten,  nicht  immer  in  dieser  edlen  und  ver- 
nünftigen Weise.  Unverstand  und  Aberglaube  deuteten  die  Worte  des 
hl.  Jacobus:7  „Ist  Jemand  krank,  der  rufe  zu  sich  die  Ältesten  der 
Gemeinde  und  lasse  sie  über  sich  beten  und  salben  mit  Öl  im  Namen 
des  Herrn.  Und  das  Gebet  des  Glaubens  wird  dem  Kranken  helfen, 
und  der  Herr  wird  ihn  aufrichten",  dahin,  dass  die  Hilfe  des  Arztes 
überflüssig  sei,  und  die  Kraft  des  Gebetes  allein  genüge,  um  den  Kranken 
gesund  zu  machen.    Damit  kehrte  man  wieder  zurück  auf  jenen  theur- 


1  Gregor  v.  Naz.:  orat.  VIII  a.  a.  0. 

2  Duoange:  Constantinop.  Christ.,  Paris  1680,  IV,  165. 

3  Muratori:  Antiq.  ital.  med.  aevi,  T.  I,  Dissert.  16. 

4  R.  Virchow:  Zur  Geschichte  des  Aussatzes  in  Virchow's  Archiv,  Bd.  20, 
Berlin  1861,  S.  169. 

5  Lecky:  Sittengeschichte  Europas  von  Augustus  bis  zu  Karl  dein  Grossen, 
Leipzig  1870,  II,  20  u.  ff. 

6  Chastel  a.  a.  0.  S.  53.  138. 

7  Neues  Testament,  Epist.  Jacobi,  c.  5,  v.  14.  15. 


Der  Einfluss  des   Christenthums.  127 


gischen  Standpunkt,  von  dem  aus  die  Krankheiten  als  Strafen  Gottes 
erscheinen,  die  nur  durch  Bussübungen  und  Gebete  beseitigt  werden 
können. 

Wie  einst  zu  den  Aeskulap-Tempeln,  so  kamen  jetzt  die  Leidenden 
in  die  christlichen  Kirchen,  um  von  den  Priestern  Eath  und  Hilfe  zu 
erbitten.  Glückliche  Erfolge,  deren  Ursache  man  der  Fürbitte  eines 
Heiligen  zuschrieb,  hatten  einen  vermehrten  Zulauf  von  Kranken  zur 
Folge.  So  entwickelte  sich  namentlich  in  Kirchen,  in  denen  die  Ge- 
beine der  Heiligen  ruhten,  ein  Cultus,  welcher  sich  von  dem  Aeskulap- 
Dienst  fast  gar  nicht  unterschied.1 

Die  Kranken  brachten  dort  die  Nächte  mit  Fasten  und  Beten  zu 
in  der  Hoffnung,  dass  ihnen  der  Heilige  im  Traume  oder  während  des 
Wachens  erscheinen  und  die  Heilmittel  angeben  werde,  welche  ihre 
Genesung  herbeizuführen  geeignet  waren,  und  die  Priester  erklärten  die 
Hallucinationen  und  Traumbilder  der  Patienten,  schrieben  die  Erzäh- 
lungen der  glücklichen  Kuren,  welche  stattfanden,  nieder  und  sorgten 
dafür,  dass  die  Erinnerung  daran  durch  bildliche  Darstellungen  der  ge- 
heilten Körpertheile,  welche  in  den  Kirchen  niedergelegt  wurden,  bei 
den  Gläubigen  fortdauerte. 

Die  Verehrung,  welche  den  Märtyrern,  die  für  ihren  Glauben  den 
Tod  erlitten  hatten,  gezollt  wurde,  führte  schon  sehr  früh  dazu,  dass 
ihren  Reliquien  eine  grosse  Heilkraft  zugeschrieben  wurde.  Die  Kranken 
hofften  Erlösung  von  ihren  Leiden  zu  finden,  wenn  sie  den  Leichnam 
derselben  oder  Gegenstände,  welche  von  ihnen  herrührten,  anschauen 
oder  berühren,  ihr  Grab  besuchen,  oder  den  Staub,  der  dasselbe  be- 
deckte, geniessen  durften.  Amulette  und  Wunder  spielten  in  der  Heil- 
kunde der  Christen  fortan  eine  hervorragende  Rolle. 

Die  mystischen  Schwärmereien  der  Neuplatoniker  und  Neupythago- 
räer,  welche  einst  als  Waffen  im  Kampfe  gegen  die  christliche  Kirche 
verwendet  worden  waren,  fanden  nun  Eingang  in  deren  Hallen.  Unter 
ihrem  Schutz  konnten  sich  Betrug  und  Aberglaube  auf  einem  Gebiet 
geltend  machen,  wo  von  der  Wahrheit  nicht  blos  der  Fortschritt  der 
Wissenschaft,  sondern  auch  die  Gesundheit,  oft  sogar  das  Leben  der 
Menschen  abhängt. 

Die  medicinische  Literatur  joner  Periode  trug  den  Charakter  der 
UnSelbstständigkeit.  Arm  an  originellen  Ideen,  unfähig  zu  eigenen 
Forschungen,  begnügte  man  sich  damit,  Das,  was  die  vorangegangenen 
Zeiten  geschaffen  hatten,  zu  sammeln  und  zu  gedrängten  Auszügen  zu 
verarbeiten. 


1  Alb.  Marignan:  La  uiedecine  dans  l'eglise  au  sixieme  siecle,   Paris  1887. 


128  Der  medicinische   Unterricht  im    Mittelalter. 


Die  praktischen  Ärzte  verlangten  Receptbücher,  welche  dem  täg- 
lichen Bedürfniss  entsprachen.  Dieser  Art  waren  die  Schriften  des 
QuiNTus  Serenus  Samonicus,  Sextus  Placitus  Papyrensis,  Vindi- 
cianus,  Marcellus  Empiricus,  Lucius  Apulejus,  Cassiüs  Felix, 
Theodorus  Priscianus  u.  A.,  die  lateinischen  Übersetzungen  einzelner 
Werke  der  Hippokratiker,  des  Dioskorides,  Galen  und  Soranus,  und 
die  Compilationen  aus  Plinius,  Caelius  Aurelianus  u.  A.  Sie  zeigen 
in  ihrer  Sprache,  wie  in  ihrem  Inhalt  den  raschen  Verfall  des  wissen- 
schaftlichen Geistes,  welcher  diese  Periode  kennzeichnet. 

Werthvoller  und  gehaltreicher  waren  die  literarischen  Leistungen 
der  Griechen  auf  diesem  Gebiet;  doch  konnte  man  auch  hier  erkennen, 
dass  die  schöpferische  Kraft  des  Alterthums  geschwunden  war.  Auch 
für  die  Griechen  galt  das  Urtheil,  welches  der  Philosoph  Longinus  im 
3.  Jahrhundert  über  seine  Zeitgenossen  fällte:  „Gleich  wie  Kinder, 
deren  zarte  Glieder  zu  sehr  eingeengt  worden  sind,  Zwerge  bleiben,  so 
ist  unser  zärtlicher,  durch  Vorurtheile  und  die  Gewohnheiten  einer 
verdienten  Sklaverei  gefesselter  Geist  unfähig,  sich  auszudehnen  und 
jene  Grösse  zu  erreichen,  die  wir  an  den  Alten  bewundern/*1 

Im  4.  Jahrhundert  legte  Oribasius  auf  Wunsch  und  Befehl  des 
Kaisers  Julian,  dessen  Leibarzt  und  Freund  er  war,  eine  Sammlung 
von  Excerpten  aus  den  wichtigsten  Schriften  der  bedeutendsten  medi- 
cinischen  Autoren  des  Alterthums  an, 2  welche  er  mit  manchen  interes- 
santen Zusätzen  bereicherte.  Nach  dem  gleichen  Plane  stellte  Aetius 
im  6.  Jahrhundert  eine  Menge  von  Abhandlungen  über  die  einzelnen 
Theile  der  Heilkunde  zusammen.  Da  viele  derselben  von  Ärzten  her- 
rühren, deren  Werke  verloren  gegangen  sind,  und  darin  manche  That- 
sache  berichtet  wird,  welche  man  sonst  nirgends  erwähnt  findet,  so 
bildet  diese  Sammlung  eine  unschätzbare  Quelle  nicht  blos  für  die 
Geschichte  der  Medicin,  sondern  auch  für  diejenige  der  Philosophie 
und  anderer  Wissenschaften.  Leider  wird  die  Benutzung  derselben 
sehr  erschwert,  wenn  nicht  unmöglich  gemacht  durch  den  Umstand, 
dass  der  griechische  Text  des  Werkes  bisher  noch  niemals  vollständig- 
gedruckt  worden  ist. 

Um  dieselbe  Zeit  wie  Aetius,  lebte  auch  Alexander  Trallianus, 
welchen  Freind  dem  Hippokrates  und  Aretaeus  an  die  Seite  stellte. 
Seit  langer  Zeit  der  erste  Arzt,  der  originell  im  Denken  und  Handeln 
war,  rief  er  die  Erinnerung  an  die  grosse  Vergangenheit  der  griechischen 


1  Longinus:  De  sublim.,  c.  44  nach  Gibbon. 

2  Sie  wurde  von  Ch.  Daremberg  mit  Unterstützung  der  französ.  Regierung 
herausgegeben.     (Paris  1851  —  76.) 


Der  Einfluss  des   Christenthums.  129 

Medicin  wieder  wach.  Sein  Lehrbuch  der  speciellen  Pathologie  und 
Therapie  der  inneren  Krankheiten,  welches  von  mir  herausgegeben 
worden  ist,1  enthält  eine  Fülle  von  ärztlichen  Beobachtungen  und  Er- 
fahrungen, die  er  in  seiner  langjährigen  Praxis  gemacht  hat,  und  lässt 
in  dem  Autor  einen  Mann  erkennen,  der  ein  richtiges  Urtheil  mit 
reichem  Wissen  verband. 

Dem  7.  Jahrhundert  gehört  das  von  Paulus  aus  Aegina  mit 
grosser  Selbstständigkeit  verfasste  Compendium  der  gesammten  Heil- 
kunde an,  welches  namentlich  in  seinen  chirurgischen  Abschnitten  von 
hohem  Werth  ist,  weil  darin  die  operativen  Leistungen  der  Chirurgen 
jener  Zeit  ausführlich  geschildert  werden.2 

Die  medicinischen  Schriften  der  Byzantiner  trugen  fast  ohne  Aus- 
nahme den  Stempel  der  Oberflächlichkeit  und  bestanden,  wie  die  Werke 
des  Meletius,  Theophanes  Nonnus,  Simon  Seth,  Niketas,  Deme- 
trius  Pepagomenus,  Nicolaus  Myrepsus  u.  A.  zum  grossen  Theile 
in  kritiklosen  Compilationen  und  Keceptsammlungen.  Daneben  ent- 
wickelte sich  eine  encyklopädische  Richtung,  welche  in  Photius,  Michael 
Psellus  u.  A.  ihre  Vertreter  fand  und  auch  in  den  Origines  des  Bi- 
schofs Isidor  von  Sevilla  und  den  Elementa  philosophiae  des  Mönchs 
Beda  zum  Ausdruck  kam. 

Die  Encyklopädisten  durcheilten  im  Fluge  alle  Wissenschaften, 
sprachen  von  Gott  und  der  Welt,  von  Himmel  und  Erde,  begannen 
mit  der  Theologie  und  schlössen  mit  der  Kochkunst.  Auch  die  Medicin 
zogen  sie  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtung;  doch  lieferten  sie  selten 
mehr  als  ein  Verzeichniss  von  Namen  für  Dinge,  die  sie  selbst  nur 
sehr  wenig  kannten. 

Einen  würdigen  Abschluss  erhielt  die  Medicin  der  Byzantiner  durch 
Johannes  Actuarius,  dessen  Schriften  über  den  Harn  und  über  die 
Physiologie  und  Pathologie  der  Seele  sich  nach  Inhalt  und  Form  den 
besten  literarischen  Leistungen  der  Griechen  anschlössen. 3  „Dem  letzten 
Aufflackern  einer  ersterbenden  Lichtflamme  gleich",  wie  Haeser  sagt, 
erschien  er,  kurz  bevor  die  Türken  den  ruhmreichen  Namen  der  Griechen 
für  Jahrhunderte  auslöschten  aus  der  Geschichte  der  Völker. 

Wenn  man  die  geistige  Thätigkeit  jener  Periode  überblickt,  so  darf 


1  Th.  Püschmann:  Alexander  von  Tralles,  Originaltext  und  Übersetzung, 
Wien  1878/79,  2  Bde.  Auf  S.  108—286  der  Einleitung  dazu  findet  man  eine 
Darstellung  der  wissenschaftlichen  Leistungen  und  Verdienste  des  Alexander 
Trallianus. 

2  F.  Adams:  The  seven  books  of  Paulus  Aegineta,  London  1844 — 47. 

3  J.  L.  Ideler:  Physici  et  medici  Graeci  minores,  Berlin  1841/42,  I, 
p.  312—386.  II,  1—193.  353—463. 

Püschmann,   Unterricht.  9 


130  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


man  sich  nicht  über  die  Armuth  an  origineller  Produktion  verwundern. 
Dagegen  muss  man  mit  Eecht  erstaunen,  dass  trotz  des  schweren 
Druckes,  der  auf  den  Gemüthern  der  Menschen  lastete,  trotz  der  ent- 
setzlichen Zerrüttung  aller  Verhältnisse  überhaupt  noch  Muth  und 
Kraft  zum  selbstständigen  geistigen  Schaffen  vorhanden  war. 

Wie  Wüstenpflanzen,  welche  der  Dürre  des  Lebens  trotzen,  mussten 
sich  die  wissenschaftlichen  Leistungen  dieser  Zeit  ihr  Dasein  mit  schweren 
Mühen  erkämpfen.  Man  darf  von  ihnen  nicht  verlangen,  dass  sie  die 
starre  Öde  in  üppige  Fruchtbarkeit  verwandeln,  sondern  muss  ihnen 
dankbar  sein,  wenn  sie  das  Auge  des  ermüdeten  Wanderers  durch  ein 
grünes  Blatt  der  Hoffnung  erfreuen. 


Die  arabische  Cultur. 

Als  die  an  ein  unstätes  Wanderleben,  an  beständige  Kriegs-  und 
Beutezüge  gewöhnten  semitischen  Horden  der  arabischen  Halbinsel  aus- 
zogen, um  die  Welt  zu  erobern,  lagen  ihnen  die  Interessen  für  Kunst 
und  Wissenschaft  fern.  Sie  wussten  davon  nur,  was  sie  eine  flüchtige 
Berührung  mit  den  benachbarten  Völkern  gelehrt  hatte. 

Die  arabische  Literatur  bestand  aus  wenig  mehr  als  aus  einigen 
Heldengedichten,  in  denen  „die  Liebe  zur  Heimath,  die  Begierde  nach 
Ruhm,  die  Tapferkeit,  und  unversöhnliche  Rachelust,  gemildert  durch 
Liebestrauer,  Wohlthätigkeit  und  Aufopferung",  wie  Goethe1  schreibt, 
besungen  wurden.  Der  Koran,  „dessen  zerstreute,  auf  Palmblätter, 
Lederstücke,  flache  Knochen  und  anderes  rohes  Schreibmaterial  gekritzelte 
oder  gar  nur  dem  Gedächtniss  der  Gläubigen  anvertraute  Suren  erst 
Abu  Bekr  sammeln  und  Othman  in  die  noch  bestehende  Ordnung 
bringen  liess",2  legte  eigentlich  erst  den  Grund  zu  einer  arabischen 
Schriftsprache.  Da  der  Koran  das  religiöse  und  bürgerliche  Gesetzbuch 
der  Anhänger  des  Islams  war,  so  wurde  er  überall,  wo  die  Lehre  Mo- 
hammeds Gläubige  fand,  gelesen  und  verbreitet.  Mit  ihm  zog  auch 
die  arabische  Sprache  von  Land  zu  Land;  ihm  verdankte  sie  es,  dass 
sie  zur  Sprache  des  religiösen  Cultus  des  Islams  und  dadurch  zum 
einigenden  Bande  für  alle  Völker,  welche  dem  gleichen  Glauben  hul- 
digten, gemacht  wurde. 


1  Goethe:  Noten  und  Abhandlungen  zum  west-östlichen  Divan. 

2  E.  Meyer  a.  a.  0.  III,  S.  90. 


Die  arabische  Cultur.  131 


Dieser  Umstand  sowohl  als  die  Pflege  und  Ausbildung,  welche  sie 
in  Folge  dessen  erfuhr,  erklären  es,  dass  sie  die  Sprache  der  Gebildeten, 
der  Gelehrten  wurde.  Sie  gewann  für  die  mohammedanische  Welt 
dieselbe  Bedeutung,  welche  die  lateinische  Sprache  für  das  christliche 
Mittelalter  hatte. 

Allmälig  wuchs  aus  ihr  eine  reiche  Literatur,  eine  blühende  Cultur 
hervor,  deren  Gebiet  wie  ein  breiter  Gürtel  fast  die  Hälfte  der  damals 
bekannten  Erde  umfasste.  Indier  im  Osten,  Gothen  in  Spanien,  Ar- 
menier und  Tartaren  am  kaspischen  und  Äthiopier  am  Ausgange  des 
rofchen  Meeres,  nahmen  mit  der  Religion  auch  die  Sprache  der  Araber 
an.  Allerdings  behielten  diese  verschiedenen  Nationen  für  den  volks- 
tümlichen Verkehr  ihre  eigene  Sprache  bei,  und  ausnahmsweise  lie- 
ferte auch  diese  einmal  ein  literarisches  Produkt,  das  sich  indessen  nur 
durch  die  Form  der  Buchstaben  von  der  arabischen  Literatur  unter- 
schied, in  seinem  Inhalt  aber  den  gleichen  Geist,  die  gleiche  Denkweise 
athmete. 

Das  arabische  Volk  hat  zu  Dem?  was  wir  die  arabische  Cultur 
nennen,  vielleicht  nur  wenig  beigetragen.  Die  Wurzeln  derselben  sind 
bei  den  Persern,  den  Griechen  Kleinasiens  und  Alexandrias  und  in 
Indien  zu  suchen;  an  ihrer  Entwickelung  betheiligten  sich  fast  alle  den 
Arabern  unterworfenen  Völker  von  den  Säulen  des  Herkules  im  Westen 
bis  zu  dem  Meere  der  Finsterniss  im  fernen  Osten,  wie  die  Araber  den 
indischen  Ocean  nannten. 

Während  der  ersten  Decennien  ihres  weltgeschichtlichen  Auftretens 
waren  sie  mit  Thronstreitigkeiten  und  Eroberungskriegen  so  sehr  be- 
schäftigt, dass  sie  für  die  Künste  des  Friedens  nur  wenig  Müsse  fanden. 
Es  waren  „die  Tage  der  Unwissenheit".  Bekannt  ist  die  von  Abulfarag1 
berichtete  Anekdote,  dass  Omar,  als  er  nach  der  Einnahme  Alexandrias 
gefragt  wurde,  was  mit  den  vielen  Büchern  geschehen  solle,  die  sich 
dort  befanden,  geantwortet  habe:  „Entweder  enthalten  diese  Schriften 
Das,  was  im  Koran  steht,  und  dann  sind  sie  überflüssig;  oder  sie  ent- 
halten andere  Dinge,  dann  sind  sie  schädlich.  In  beiden  Fällen  müssen 
sie  vertilgt  werden."  Mögen  dieser  Erzählung  auch  keine  Thatsachen 
zu  Grunde  liegen,  mögen  die  berühmten  Bibliotheken  der  Ptolemäer 
schon  früher,  wie  es  historisch  feststeht,  grösstentheils  dem  Feuer  und 
der  Zerstörungswuth  eines  fanatisirten  Christenpöbels  zum  Opfer  ge- 
fallen sein,  immerhin  kennzeichnet  sich  darin  der  Geist,  welcher  die 
ersten  arabischen  Eroberer  beseelte. 


1  Abulfaragius  :  Hist.  dynast.  ed.  Pococke,  Oxon.  1672,  p.  114.  —  v.  Hammer- 
Pürgstall:  Literaturgeschichte  der  Araber,  Wien  1850,  Bd.  I,  Einl.  S.  XXX VIII. 


132  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Erst  als  die  politische  Herrschaft  der  Araber  gesichert  war,  erst 
unter  der  Dynastie  der  Ommajaden,  zeigten  sich  höhere  geistige  Be- 
strebungen. Der  Khalif  Muawija,  welcher  seine  Residenz  in  Damaskus 
aufschlug,  gründete  dort  Schulen,  Bibliotheken  und  Sternwarten.  Er 
liess  ausländische  Gelehrte,  namentlich  Griechen,  an  seinen  Hof  kommen 
und  übertrug  ihnen  die  Ausführung  wichtiger  Arbeiten;  sogar  die 
Moscheen  wurden  unter  der  Leitung  griechischer  Architekten  und 
Künstler  erbaut. 

Die  griechische  Geistesbildung  gelangte  theils  von  Alexandria  aus, 
theils  durch  die  Vermittelung  der  Syrer  und  über  Persien  zu  den 
Arabern.     Auch  die  Medicin  wählte  diese  Wege. 

In  Alexandria  bestanden  im  7.  Jahrhundert  mehrere  ärztliche 
Schulen,  in  welchen  der  Unterricht  nach  Galen's  Werken  ertheilt 
wurde.1  Unter  den  dortigen  Lehrern  der  Heilkunde  befand  sich  Al- 
kin ani,  ein  christlicher  Arzt  arabischer  Abstammung,  welcher  sich 
später  zum  Islam  bekehrte.  Er  scheint  wesentlich  dazu  beigetragen  zu 
haben,  dass  die  medicinischen  Studien  und  der  ärztliche  Unterricht 
von  Alexandria  nach  Antiochien  und  Harran  verpflanzt  wurden.2  Um 
dieselbe  Zeit  lebte  der  Grieche  Theodocus,  der  als  Leibarzt  des  Hed- 
schadsch,  des  blutgierigen  Statthalters  von  Irak,  eine  einflussreiche  Stel- 
lung einnahm,  als  mediciniseher  Schriftsteller  durch  seine  vortrefflichen 
diätetischen  Vorschriften  Beifall  erntete  und  als  Lehrer  der  Heilkunde 
mehrere  Schüler,  wie  z.  B.  den  Fokat  Ben  Schannatha,  einen  Israe- 
liten, zu  berühmten  Ärzten  heranbildete.3  Der  Prinz  Chalid  Ben  Jazid, 
welcher  von  Marianus,  einem  christlichen  Mönch,  der  vorher  wahr- 
scheinlich als  Lehrer  an  der  medicinischen  Schule  zu  Alexandria  ge- 
wirkt hatte,  in  der  Heilkunde  unterrichtet  wurde,  liess  sich  vom  älteren 
Stephanus,  einem  Griechen  aus  Alexandria,  medicinische,  alchymistische 
und  astronomische  Werke  aus  dem  Griechischen  ins  Arabische  über- 
setzen. Dies  waren,  wie  der  Verfasser  des  Fihrist  sagt,  die  ersten 
Übersetzungen  aus  einer  fremden  Sprache,  welche  unter  der  Herrschaft 
des  Islams  angefertigt  wurden. 

In  Kleinasien,  wo  der  Hellenismus  schon  seit  der  Zeit  des  grossen 
Alexander  von  Macedonien  einen  massgebenden  Einfluss  besass,  den  er 
auch  unter  den  politischen  Wechselfällen  der  römischen  Periode  zu 
behaupten  wusste,  hatte  die  griechische  Literatur  viele  Freunde  und 
Verehrer  gefunden.     Gelehrte  Nestorianer,    welche   an  der  Schule   zu 

1  L.  Leclerc:  Histöire  de  la  medecine  Arabe,  Paris  1876,  I,  p.  38  u.  ff. 

2  v.  Hammer-Pürgstall  a.  a.  0.  Bd.  II,  S.  194.  —  Freind:  Hist.  medicinae, 
Venet.  1735,  p.  89. 

8  Leclerc  a.  a.  0.  I,  p.  82. 


Die  arabische   Gultur.  133 


Edessa  die  Lehrthätigkeit  ausübten,  übersetzten  die  Schriften  des  Ari- 
stoteles aus  dem  Griechischen  ins  Syrische. l  Schon  früher  hatte  man 
syrische  Übersetzungen  des  neuen  Testaments  und  anderer  theologischer 
Werke  angefertigt.  Die  Nestorianer  setzten  diese  verdienstvolle  Thätig- 
keit  auch  fort,  als  sie  in  Persien  Unterrichtsanstalten  gründeten  und 
an  der  Schule  zu  Gondisapur  eine  erfolgreiche  Wirksamkeit  entfalteten. 
Übrigens  waren  sie  nicht  die  Einzigen,  welche  derartige  Arbeiten  unter- 
nahmen. 

Auch  die  Mitglieder  anderer  Religionsgenossenschaften  und  Sekten 
erwarben  sich  auf  diesem  Gebiet  Verdienste.  Mehrere  Jakobiten  machten 
sich  ebenfalls  als  Übersetzer  bekannt,2  unter  ihnen  namentlich  Sergius, 
welcher  am  Hofe  Kesra  Nuschirwans  lebte.  Er  war  der  Freund  des 
griechischen  Geschichtsschreibers  Agathias,  mit  der  griechischen  Sprache 
ebenso  vertraut  als  mit  der  syrischen,  durch  Gelehrsamkeit  ausgezeichnet 
und  der  beste  Übersetzer  seiner  Zeit.3  Von  ihm  wurden  mehrere  me- 
dicinische  Werke,  denen  er,  da  er  Arzt  war,  sein  besonderes  Interesse 
widmete,  aus  dem  Griechischen  ins  Syrische  übertragen,  z.  B.  einzelne 
Schriften  des  Hippokrates;  ferner  schrieb  er  Erklärungen  zu  Ari- 
stoteles und  ergänzte  das  medicinische  Compendium  des  Alexandrin i- 
schen  Arztes  Ahron.4 

Die  zahlreichen  jüdischen  Gelehrten,  welche  sich  in  Syrien  und 
Persien  niedergelassen  hatten,  vermittelten  nicht  blos  die  Bekanntschaft 
mit  der  hebräischen  Cultur,  sondern  dürften  auch  zur  Verbreitung  der 
griechischen  Literatur,  besonders  auf  dem  Gebiet  der  Medicin,  beige- 
tragen haben.  Das  Unterrichtswesen  der  Juden  war  vortrefflich  orga- 
nisirt,  und  ihre  Hochschulen  zu  Tiberias  in  Palästina,  zu  Sepphoris  und 
Nisibis  in  Syrien  und  zu  Sura  und  Pumbeditha  in  Persien  erlangten 
grossen  Ruf.5 

Durch  die  Übertragung  griechischer  Werke  in  die  syrische,  he- 
bräische oder  persische  Sprache  wurde  den  Arabern  das  Studium  der- 
selben näher  gerückt.  Die  verwandtschaftlichen  Beziehungen  dieser 
Sprachen  zur  eigenen  erleichterten  ihnen  die  Übersetzung  der  Schriften 
ins  Arabische. 

Unter  den  Abbasiden  wurde  diese  Thätigkeit  in  systematischer 
Weise  betrieben  und  geleitet.    Schon  AI  Mansur,  der  zweite  Khalif  aus 


1  J.  G.  Wenrich:    De    auctorum   Graecorum    versionibus    et    commentariis 
Syriacis  Arabicis  Armeniacis  Persicisque  commentatio,  Lips.  1842,  p.  8. 

2  Wenrich  a.  a.  0.  p.  11. 

3  Agathias:   Histor.  IV,  c.  30.   —   Assemani  a.  a.  0.  T.  II,   p.  315.  323.  — 
Abülfarag  a.  a.  0.  p.  94.  172. 

4  Wenrich  a.  a.  O.  Index  XXXV  5  Cramer  a.  a.  0.  I,  S.  109  u.  ff. 


134  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

diesem  Herrschergeschlecht,  der  Gründer  der  neuen  Hauptstadt  Bagdad, 
beauftragte,  wie  Ibn  Abu  Oseibia  berichtet,  seinen  Leibarzt  Georg 
Bachtischua  damit,  medicinische  Werke  der  Griechen  ins  Arabische 
zu  übersetzen. 1  Nach  Hadji  Khalea's  Angabe  soll  er  Gesandte  nach 
Konstantinopel  geschickt  haben,  um  von  dort  die  Schriften  Euklids  und 
naturwissenschaftliche  Werke  zu  holen. 

Einer  seiner  Nachfolger,  der  von  der  Sage  gefeierte  Harun  al 
Raschid,  der  Zeitgenosse  des  fränkischen  Kaisers  Karl  des  Grossen,  mit 
dem  er  auch  im  Verkehr  stand,  stellte  nach  der  Niederlage  des  byzan- 
tinischen Kaisers  Nicephorus  die  Friedensbedingung,  dass  ihm  Hand- 
schriften griechischer  Meisterwerke  ausgeliefert  würden.  Auch  die 
Schätze  dieser  Art,  welche  ihm  in  Ankyra  und  anderen  griechischen 
Städten,  sowie  auf  der  Insel  Cypern  in  die  Hände  fielen,  waren  ihm 
eine  willkommene  Kriegsbeute.  Er  befahl,  dass  dieselben  in  die  arabische 
Sprache  übertragen  würden.  Dabei  stand  ihm  einer  seiner  Ärzte, 
Johannes  Mesue  (Maseweih),  ein  syrischer  Christ,  welcher  unter  AI 
Mamun  eine  hervorragende  Stellung  erlangte,  mit  Rath  und  That 
zur  Seite. 

Dieser  Fürst  errichtete  ein  Übersetzungs-Institut,  in  welchem  Werke 
aus  fremden  Sprachen  ins  Arabische  übertragen  wurden.  „Zu  diesem 
Zweck  versammelte  er",  wie  Leo  Aeeicanus  schreibt,2  „eine  grosse 
Menge  Gelehrter,  welche  verschiedene  Sprachen  kannten,  und  erkundigte 
sich  nach  den  Schriftstellern  und  Schriften  in  griechischer,  persischer, 
chaldäischer  und  ägyptischer  Sprache,  deren  ihm  viele  genannt  wurden. 
Darauf  sandte  er  viele  seiner  Diener  nach  Syrien,  Armenien  und 
Ägypten,  um  die  bezeichneten  Bücher  zu  kaufen,  und  sie  brachten  un- 
endliche Lasten  derselben  zusammen.  Nun  liess  AI  Mamun  die  nütz- 
lichen Bücher,  welche  die  Medicin,  Physik,  Astronomie,  Musik,  Kosmo- 
graphie  und  Chronologie  betrafen,  aussondern,  und  machte  zum  Vorsteher 
der  Übersetzer  aus  dem  Griechischen  Johannes,  Sohn  des  Mesue,  weil 
damals  die  griechischen  Studien  unter  den  Christen  blühten.  Viele 
Andere  wurden  demselben  untergeordnet.  Für  die  persische  Literatur 
bestellte  er  den  Mahan  und  den  so  eben  genannten  Mesue.  Diese 
und  viele  andere  Gelehrte  übersetzten  die  Medicin  des  Galen  und 
darauf  sämmtliche  Werke  des  Akistoteles." 

Von  den  byzantinischen  Kaisern  erbat  sich  AI  Mamun  eine  Anzahl 
griechischer  Handschriften,   wobei  ihm  der  gelehrte  Photius,  welcher 


1  Wenrich  a.  a.  0.  p.  13.  —  Leclerc  a.  a.  0.  I,  p.  124  u.  ft. 

2  Leo  Africanüs  in  Fabricius  Bibl.  Graeca,  Hamburg  1726,   XIII,  p.  261. 
—  Meyer  a.  a.  0.  III,  115. 


Die  arabische   Oultur.  135 


eine  Zeitlang  am  Hofe  zu  Bagdad  lebte,  als  Vermittler  diente.  Auch 
indische  Werke,  wie  die  Schrift  Chanaks  über  die  Gifte  und  der  Ayur- 
veda des  Susruta  und  des  Charaka,  wurden  übersetzt  und  zwar,  wie 
es  scheint,  zunächst  ins  Persische  und  dann  ins  Arabische.  Die  in- 
dischen Ärzte  Mankah,  Saleh  Ben  Baleh  u.  A.,  welche  sich  in  Bagdad 
niedergelassen  hatten,  leisteten  dabei  wesentliche  Dienste.1  Ebenso 
fanden  auch  einzelne  Produkte  der  chaldäischen  Literatur  den  Weg  zu 
den  Arabern. 

Diese  Übersetzungs- Anstalt  blieb  auch  unter  den  Nachfolgern  AI 
Mamuns  bestehen;  unter  den  Gelehrten,  welche  an  derselben  ange- 
stellt waren,  hat  sich  namentlich  Honein  (Johannitius),  welcher  die 
wichtigsten  medicinischen  Autoren  der  Griechen  übersetzte,  bekannt 
gemacht. 

Auf  diesen  Grundlagen  entwickelte  sich  allmälig  eine  selbstständige 
medicinische  Literatur.  Die  Anfänge  derselben  reichen  bis  in  das 
9.  Jahrhundert  zurück;  ihre  Blüthe  erlebte  sie  aber  erst  im  11.  Jahr- 
hundert. 

Der  Aufschwung  der  arabischen  Cultur  wurde  ausserordentlich 
begünstigt  durch  den  Zerfall  des  Reiches  in  mehrere  unabhängige 
Staaten.  Die  Fürstensitze  der  Samaniden  in  Bochara,  und  der  Ghas- 
nawiden  in  Ghasna,  der  Buiden  in  Persien,  der  Hamadaniden  in  Meso- 
potamien und  Syrien,  der  Edrisiden  in  Magreb,  der  Aglabiten  in  Quai- 
ruan  und  der  Fathimiden  in  Ägypten  bildeten  oft  Krystallisationspunkte 
für  künstlerische  und  wissenschaftliche  Bestrebungen.  Den  wirksamsten 
Schutz  aber  fanden  dieselben  bei  den  Ommajaden  in  Spanien,  welche 
dort  nach  ihrer  Vertreibung  aus  der  Heimath  um  die  Mitte  des  8.  Jahr- 
hunderts zur  Herrschaft  gelangten. 

Abderrahman,  der  erste  Fürst  dieses  Hauses,  vergrösserte  seine 
Residenz  Cordova  und  verschönte  sie  durch  Bauwerke,  deren  Reste  noch 
jetzt  die  Bewunderung  hervorrufen.  Er  pflanzte  dort  die  erste  Palme: 
ein  Ereigniss,  welches  er  durch  eine  Elegie  verherrlicht  hat,  in  der  er 
der  Sehnsucht  nach  dem  fernen  Bagdad  ergreifenden  Ausdruck  gab.2 

Die  glänzende  Periode  der  arabischen  Herrschaft  in  Spanien  be- 
gann mit  Abderrahman  III.  Er  Hess  grossartige  Bauten  aufführen, 
Wasserleitungen  und  Landstrassen  anlegen  und  Gelehrte  aus  dem  Morgen- 
lande nach  Spanien  kommen.     Die  Gelehrten  standen  an  seinem  Hofe 


1  Zu  Mohammeds  Zeit  bestand  in  Sanaa  im  südlichen  Arabien  eine  be- 
rühmte medicinische  Schule,  deren  Vorstand,  Härit  Ben  Kaldah,  in  Indien  seine 
Kenntnisse  gesammelt  hatte,  wie  Lassen  (Indische  Alterth.  II,  519)  erzählt. 

2  v.  Hammer-Pürgstall  a.  a.  0.  III,  31.  —  Meyer  a.  a.  0.  III,  126. 


136  Der  medieini-sche   Unterricht  im  Mittelalter. 


in  grosser  Achtung  und  hielten,  nach  Fachwissenschaften  gesondert, 
Berathungen. 

Noch  grössere  Aufmerksamkeit  widmete  sein  Nachfolger  Hakim  IL 
den~  wissenschaftlichen  Bestrebungen.  Er  war  selbst  ein  Gelehrter  und 
nahm  persönlich  Antheil  an  den  schwebenden  Streitfragen.  Überall 
liess  er  seltene  Bücher  aufkaufen,  die  er  durchstudierte  und  mit  An- 
merkungen versah.  Seine  Bibliothek  soll  600,000  Bände  enthalten,  der 
Katalog  derselben  allein  44  Bände  gefüllt  haben.  Er  gründete  in 
Cordova  eine  Art  von  Akademie,  deren  Mitglieder  mit  Specialforschungen 
über  die  Geschichte  des  Landes,  über  Literaturgeschichte  und  Natur- 
wissenschaften beauftragt  wurden.1 

Wenn  die  Wissenschaften  unter  solchen  Verhältnissen  gediehen, 
so  verdankten  sie  dies  zum  grossen  Theile  allerdings  der  wohlwollenden 
Förderung,  die  ihnen  von  den  regierenden  Herren  zu  Theil  wurde; 
aber  die  Erinnerungen,  welche  die  römische  Cultur  in  Spanien  zurück- 
gelassen hatte,  die  Pflege  der  letzteren  durch  die  westgothischen  Er- 
oberer, die  Niederlassung  strebsamer  und  unternehmungslustiger  Juden, 
welche  überall  Schulen  errichteten  und  Bildung  verbreiteten,  und  die 
glückliche  Verschmelzung  des  semitischen  Charakters  mit  den  roma- 
nischen und  germanischen  Elementen  übten  ebenfalls  beachtenswerthen 
Einfluss  darauf  aus. 

So  kam  es,  dass  sich  zu  einer  Zeit,  in  welcher  das  übrige  Europa 
in  Unwissenheit,  Aberglauben  und  Sittenrohheit  versunken  war,  auf 
der  spanischen  Halbinsel  ein  reiches,  auf  allen  Gebieten  intellektueller 
Thätigkeit  fruchtbares  Geistesleben  entfaltete.  Im  12.  Jahrhundert 
besass  Spanien  70  öffentliche  Bibliotheken  und  17  höhere  Lehranstalten. 
150  Schriftsteller  nannten  Cordova,  52  Almeria,  61  Murcia  und  53  Ma- 
laga ihre  Heimath.2 

Die  Leistungen  der  Araber  in  der  Mathematik, 3  Physik,  *  besonders 
in  der  Mechanik  und  Optik,  ferner  in  der  Chemie,5  Astronomie6  und 
Geographie7  sind  bekannt.  Sie  waren  es,  welche  die  Messungen  und 
das  Experiment  in  die  Naturforschung  einführten.    Alhazens  vortreff- 


1  Vergl.  R.  Dozy:    Geschichte  der  Mauren   in  Spanien,    deutsche  Übers., 
Leipzig  1874,  II,  S.  68  u.  ff. 

2  Mich.  Casiri:  Bibl.  Arab.  Hisp.  Escur.,  Madrid  1760,  T.  II,  p.  71. 

3  M.  Cantor:  Geschichte  der  Mathematik,  Leipzig  1880,  I,  S.  593  u.  ff. 

4  J.  C.  Po<;gendorff:  Geschichte  der  Physik,  Leipzig  1879,  S.  56  u.  ff. 

5  H.  Kopp:  Geschichte  der  Chemie,  Braunschweig  1843,  I.  S.  51  u.  ff. 

6  W.  Whewell:   Geschichte  der  inductiven  Wissenschaften,   übersetzt  von 
Littrow,  Stuttgart  1840,  Bd.  I,  S.  184  u.  ff. 

7  0.  Peschel:  Geschichte  der  Erdkunde,  München  1877,  S.  104  u.  ff. 


Medicin.  Wissenschaft  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.        137 

liehe  Arbeiten  über  die  Strahlenbrechung  bereiteten  das  Verständniss 
der  Physiologie  des  Sehens  vor,  und  Geber  wurde  der  Begründer  der 
wissenschaftlichen  Chemie. x 


Medicinische  Wissenschaft  und  medicinischer 
Unterricht  bei  den  Arabern. 

Die  Medicin  erfreute  sich  schon  in  der  frühesten  Periode  des  Is- 
lams, wie  Abulfarag  sagt,2  einer  eifrigen  Pflege.  Gleichwohl  haben 
die  Araber  auf  diesem  Gebiet  nur  geringe  Fortschritte  und  keine  Ent- 
deckungen von  bahnbrechender  Bedeutung  gemacht.  Es  lag  dies  haupt- 
sächlich an  der  unselbstständigen  Entwickelung,  welche  die  Heilkunde 
gleich  anderen  Wissenschaften  bei  ihnen  nahm. 

Daraus  entsprang  auch  jener  unbegrenzte  Autoritätsglaube,  der 
sie  abhielt,  die  Richtigkeit  der  übernommenen  Wissensresultate  zu 
prüfen,  und  ihnen  den  Muth  raubte  zu  selbstständigen  Forschungen. 
Dazu  kamen  sociale  und  religiöse  Vorurtheile,  die  jeden  Versuch,  der 
in  dieser  Richtung  unternommen  wurde,  im  Keime  erstickten. 

Die  Anatomie  und  Physiologie  blieb  daher  im  Wesentlichen  auf 
dem  GALEN'schen  Standpunkt.  Da  die  Sektionen  menschlicher  Leichen 
durch  den  religiösen  Glauben  der  Mohammedaner  verboten  wurden,  so 
war  an  eine  Vermehrung  der  anatomischen  Kenntnisse  nicht  zu  denken. 
Zufällige  Beobachtungen,  wie  sie  Abdel-Letif  bei  Gelegenheit  einer 
Epidemie  in  Ägypten  machte,  wo  es  ihm  gelang,  durch  die  Unter- 
suchung der  Schädel  der  Gestorbenen  mehrere  Irrthümer  Galen's  in 
der  Osteologie  zu  berichtigen,3  bildeten  eine  Ausnahme.  Im  Allge- 
meinen beschränkte  sich  die  anatomische  Literatur  auf  Auszüge  und 
kurze  Compendien,  die  sich  auf  die  Schriften  Galen's  stützten. 

Ebenso  sklavisch  folgte  man  den  physiologischen  Theorien  desselben. 
Selbst  die  vielversprechenden  Ergebnisse,  welche  die  Physik  und  Chemie 
auf  dem  Wege  des  Experiments  erzielten,  änderten  daran  nur  wenig. 
Man  war  nicht  im  Stande,  dieselben  vollständig  für  die  Physiologie 
des  Menschen  zu  verwerthen,  und  gelangte  nicht  dahin,  auch  hier  diese 
Methode  der  Forschung  anzuwenden. 


1  H.  Kopp:   Beiträge  zur  Geschichte  der  Chemie,  Braunschweig  1875,  III, 
S.  13  u.  ff. 

2  Abulfarag  a.  a.  0.  p,  160.  —  Vergl.  auch  A.  Sprenger:  De  origin.  med. 
arab.,  Lugd.-Batav.  1840,  p.  6. 

3  Abdollatiphii  Hist.  Aegypt.  ed.  White,  Oxon.  1800,  p.  277. 


138  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

Grössere  Selbstständigkeit  bekundeten  die  Araber  in  der  praktischen 
Heilkunde.  Ihre  zahlreichen  Schriften  über  diesen  Gegenstand  sind 
allerdings  ebenfalls  abhängig  von  den  Werken  der  Alten  und  bestehen 
grösstentheils  aus  Auszügen,  Umarbeitungen  oder  Übersetzungen  der- 
selben; aber  hier  und  dort  findet  sich  doch  auch  eine  eigene  Beob- 
achtung, eine  selbstständige  Erfahrung,  welche  zeigt,  dass  der  Verfasser 
das  wissenschaftliche  Material  beherrschte  und  zu  vermehren  im  Stande 
war.  Die  wissenschaftlichen  Leistungen  eines  Rhazes,  Ali  Abbas, 
Abulkasem,  Avicenna,  Avenzoar,  Aveeroes,  Maimonides,  Ibn  El- 
Beithar,  Oseibia  u.  A.1  nehmen  einen  ehrenvollen  Platz  ein  in  der 
Geschichte  der  medicinischen  Wissenschaft  und  verdienen  umsomehr 
Anerkennung,  als  sie  in  eine  Zeit  fielen,  in  welcher  die  Entwicklung 
derselben  nirgends  Fortschritte  machte. 

Die  arabischen  Ärzte  widmeten  der  Untersuchung  des  kranken 
Körpers  grosse  Sorgfalt.  Sie  zogen  dabei  zwar  sämmtliche  Krankheits- 
erscheinungen in  Betracht;  aber  den  meisten  Werth  legten  sie  auf  die 
Form  des  Pulses  und  die  Eigenschaften  des  Harns.  In  der  Prognostik 
erlangten  sie  eine  bemerkenswerthe  Geschicklichkeit.  Der  Diätetik  zollten 
sie  gebührende  Anerkennung2  und  den  Arzneischatz  vermehrten  sie 
durch  eine  grosse  Anzahl  von  Heilmitteln. 

Sie  waren  eifrig  bemüht,  die  Ursachen  der  Erkrankungen  zu  er- 
forschen, und  erzielten  auch  darin  einige  Erfolge.  Avenzoar  deutete 
bereits  auf  die  Krätzmilbe  hin  und  hob  deren  Beziehungen  zur  Ent- 
stehung der  Scabies  hervor.3  Abulkasem  hinterliess  eine  vortreffliche 
Beschreibung  des  Medina -Wurms  und  der  dadurch  hervorgerufenen 
Krankheitszustände. 4 

Die  specielle  Pathologie  verdankte  den  arabischen  Ärzten  manche 
Förderung;  sie  gaben  über  die  Ursachen  und  den  Charakter  einzelner 
Krankheiten,  z.  B.  der  schweren  Pestepidemien,  der  Pocken,  Morbillen 
und  anderer  exanthematischer  Leiden,5  der  Schwindsucht,6  des  Gesichts- 
schmerzes7 u.  a.  m.  werthvolle  Aufschlüsse. 


1  F.  Wüstenfeld:  Gesch.  der  Arab.  Ärzte  u.  Naturforscher,  Göttingen  1840. 

2  Vergl.  El-Anteri's  treffliche  Verse  bei  v.  Hammer-Purustall  a.  a.  0. 
Bd.  VIT,  S.  499. 

8  Raspail:  Memoire  sur  l'histoire  naturelle  de  l'insecte  de  la  gale  im  Bull, 
gen.  de  therap.,  Paris  1834,  T.  VII,  p.  169.  —  F.  Hebra  (Acute  Exantheme  u. 
Hautkrankheiten  in  Virchow's  Handbuch,  Bd.  III,  S.  413,  Erlangen  1860)  glaubte 
nicht,  dass  Avenzoar  die  Krätzmilbe  kannte. 

4  Abulkasem:  Chirurgie  II,  93,  Edit.  Leclerc,  Paris  1861,  p.  230. 

5  Rhazes:  De  variolis  et  morbillis,  Edit.  Channing,  London  1766. 

6  Waldenburg:  Die  Tuberkulose,  Berlin  1869,  S.  25. 

7  Avicenna:  Canon  ITT,  fen.  1,  tract.  1,  c.  12. 


Medicin.  Wissenschaft  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.        139 


Dagegen  machte  die  operative  Chirurgie  bei  den  Arabern  offenbare 
Rückschritte.  Die  Vernachlässigung  der  Anatomie  und  die  den  Orien- 
talen eigentümliche  Scheu  vor  blutigen  Eingriffen  in  den  menschlichen 
Organismus  trugen  die  Schuld  daran.  An  die  Stelle  des  Messers  traten 
die  Ätzmittel  und  das  Glüheisen.  Wo  die  Chirurgen  früher  schnitten, 
waren  sie  jetzt  genöthigt  zu  ätzen  und  zu  brennen.  Schon  Abulkasem 
beklagte  den  Verfall  der  Chirurgie.  „Die  Operationskunst,"  schreibt  er, 
„ist  bei  uns  verschwunden,  fast  ohne  irgend  welche  Spuren  zu  hinter- 
lassen. Nur  in  den  Schriften  der  Alten  findet  man  noch  einige  Hin- 
weise darauf;  aber  auch  sie  sind  durch  schlechte  Übersetzungen,  durch 
Irrthümer  und  Verwechselungen  nahezu  unverständlich  und  unbrauch- 
bar geworden."1 

Bei  dieser  Gelegenheit  berichtet  er  mehrere  Erlebnisse  aus  der 
Praxis,  welche  ein  grelles  Licht  auf  die  Unwissenheit  seiner  chirurgischen 
Collegen  werfen.  Die  Cauterien  bildeten  das  gebräuchlichste  und  wich- 
tigste Handwerkszeug  des  Wundarztes.  Das  Glüheisen  wurde  neben 
der  Compression,  der  Kälte  und  der  Ligatur  zur  Stillung  der  Blutungen 
empfohlen;2  es  wurde  bei  einer  Menge  von  Leiden  angewendet,  z.  B. 
bei  Lähmungen, 3  bei  Wunden  und  Fisteln, 4  bei  Gangraen, 5  beim  Krebs 
und  anderen  Neubildungen,6  bei  der  Lepra, 7  zur  Eröffnung  der  Leber- 
Abcesse,8  bei  der  cariösen  Hüftgelenkentzündung  und  der  Spondylar- 
throcace  der  Kinder9  u.  a,  m. 

Die  chirurgische  Pyrotechnik  wurde  von  den  arabischen  Ärzten  zu 
einer  hohen  Stufe  der  Entwickelung  geführt.  Ein  grosser  Theil  der 
151  chirurgischen  Instrumente,  deren  Abbildungen  den  Handschriften 
des  Abulkasem  beigegeben  sind,  diente  diesem  Zweck. 

Die  chirurgische  Operationskunst  trat  der  Pyrotechnik  gegenüber 
in  den  Hintergrund  und  vermochte  nicht  jenen  Grad  der  Vollendung, 
den  sie  unter  den  Wundärzten  der  römischen  Kaiserzeit  erreicht  hatte, 
zu  behaupten.  Die  Amputation  wagte  man  nur  am  Vorderarm  oder 
am  Unterschenkel  und  höchstens  in  dem  zunächst  gelegenen  Ellen- 
bogen- oder  Knie-Gelenk,  niemals  aber  am  Oberarm  und  am  Ober- 
schenkel auszuführen. 10  Die  Haut  wurde  dabei  oberhalb  und  unterhalb 
der  Stelle,  an  welcher  eingeschnitten  werden  sollte,  durch  Binden  fixirt 

1  Abulkasem:  Introd.  a.  a.  0.  p.  1.  2  Abulkasem  I,  56  a.  a.  0.  p.  56. 

3  Abulkasem  a.  a.  0.  I,  6,  9,  p.  17.  19. 

4  Abulkasem  a.  a.  0.  I,  17,  19,  36,  p.  25.  27.  38. 
:'  Abulkasem  a.  a.  0.  I,  52,  p.  54. 

6  Abulkasem  a.  a.  0.  I,  50,  53,  p.  53.  54. 

7  Abulkasem  a.  a.  0.  I,  47,  p.  50.  8  Abulkasem  a.  a.  0.  I,  28,  p.  33. 

9  Abulkasem  a.  a.  0.  I,  43,  p.  46.  10  Abulkasem  a.  a.  O.  II,  89,  p.  219. 


140  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Mittelalter. 

und  vor  dem  Beginn  der  Operation  nach  oben  gezogen,  um  einen  mög- 
lichst grossen  Hautlappen  zur  Bedeckung  des  Stumpfes  zu  gewinnen. 
Die  bei  der  Amputation  auftretenden  Blutungen  stillte  Abülkasem 
durch  styptische  Mittel  und  durch  Cauterien;  von  der  Unterbindung 
der  Gefässe  sagt  er  in  seiner  Beschreibung  dieser  Operation  kein  Wort. 

An  einer  anderen  Stelle  erzählt  derselbe,  dass  er  bei  einem  Kranken 
einen  Theil  der  nekrotischen  Tibia  resecirt  habe.1 

Die  Tracheotomie  wurde  zu  seiner  Zeit  nicht  mehr  ausgeführt. 
Er  kannte  dieselbe  nur  aus  den  Berichten  der  Alten ,  hielt  sie  aber 
für  angezeigt  in  Fällen,  in  denen  durch  Neubildungen  die  Gefahr  einer 
Erstickung  drohte.2  Avenzoak  unternahm  die  Operation,  wie  er  an- 
giebt,  an  einer  Ziege,  um  die  Folgen  derselben  kennen  zu  lernen.3 

Der  Steinschnitt  wurde  von  Abülkasem  beschrieben,  welcher  dabei 
auch  der  Lithothrjpsie  gedachte.4  Moses  Maimonldes  verbesserte  die 
Methode  der  Beschneidung,  welche  auch  von  den  Arabern  ausgeübt 
wurde,  und  führte  verschiedene  Vorsichtsmassregeln  ein,  welche  bei 
dieser  Operation  zu  beachten  sind.5 

In  der  Behandlung  der  Knochen-Frakturen  und  Verrenkungen, 
welche  Abülkasem  in  seinem  dritten  Buche  besprach,  folgte  man  den 
bewährten  Grundsätzen  der  Ärzte  des  Alterthums. 6  Erwähnung  ver- 
dient nur,  dass  Avicenna  die  Einrichtung  des  luxirten  Humerus  durch 
direkten  Druck,  d.  i.  die  direkte  Reposition,  empfohlen  hat.7 

Der  graue  Staar  wurde  durch  Depression  der  Linse  beseitigt.8 
Die  Extraktion  hielt  man,  wenn  nicht  für  unmöglich,  so  doch  für  sehr 
gefährlich.9  Abülkasem  gedenkt,  wie  schon  Rhazes  vor  ihm,  auch 
der  Heilung  des  Staares  durch  Suction  und  bemerkt  dabei,  dass  dieses 
Verfahren  in  Persien  geübt  wurde. 10  Ebenso  erwähnt  auch  der  Augen- 
arzt Isa  Ben  Ali  diese  Operations- Methode ;  ein  Manuscript  seines 
Werkes  giebt  am  Rande  eine  Zeichnung  der  Hohlnadel,    welche  dabei 


1  Abülkasem  a.  a.  O.  II,  88,  p.  216. 

2  Abülkasem  a.  a.  0.  II,  43,  p.  120. 

3  Avenzoak,  :  Altheisir.,  Lib.  I,  Tr.  X,  c.  14,  Venet.  1542. 

4  Abülkasem  II,  60  a.  a.  0.  p.  151  u.  ff. 

5  J.  B.  Friedreich:  Zur  Bibel,  Nürnberg  1848,  II,  S.  46  u.  ff.  —  H.  Ploss: 
Geschichtliches  und  Ethnologisches  über  Knabenbeschneidung  im  Deutschen  Arch. 
f.  Gesch.  d.  Med.,  Leipzig  1885,  VIII,  S.  324  u.  ff'. 

6  Abülkasem  III  a.  a.  0.  p.  270—342. 

7  Avicenna:  Canon  IV,  fen.  5,  tract.  1,  c.  11.  14. 

8  Abülkasem  II,  23  a.  a.  0.  p.  91  u.  ff. 

9  Avenzoar:  Altheisir.,  Lib.  I,  tract.  8,  c.  19.  —  Avh  enna  a.  a.  0.  III,  3, 
tract.  4,  c.  20. 

10  Abülkasem  II,  23  a.  a.  0.  p.  93. 


Medicin.  Wissenschaft  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.        141 

gebraucht  wurde.1  Canamusali,  welcher  diese  Operation  mehrmals 
ausführte,  schickte  derselben  eine  Incision  in  die  Cornea  voraus,  damit 
die  Hohlnadel  leichter  eingeführt  werden  konnte.2 

Die  Geburtshilfe  war  Sache  der  Hebammen,  welche  nicht  blos  die 
bei  normalen  Entbindungen  erforderliche  Hilfe  leisteten,  sondern  sogar 
die  geburtshilflichen  Operationen  unternahmen.  Die  durch  die  socialen 
Zustände  bedingte  strenge  Absperrung  der  Frauen  hinderte  die  Ärzte, 
sich  mit  diesem  Gegenstande  praktisch  zu  beschäftigen.  Sie  hatten 
dazu  wohl  nur  ausnahmsweise  Gelegenheit;3  in  ihren  Schriften  befassten 
sie  sich  hauptsächlich  damit,  den  Hebammen  Medicamente  zu  em- 
pfehlen, welche  sie  bei  den  hilfesuchenden  Frauen  anwenden  sollten, 
und  Kathschläge  für  die  Ausführung  einzelner  Operationen  zu  ertheilen. 4 

Unter  den  von  Abulkasem  angegebenen  Instrumenten,  welche  zur 
Herausbeförderung  abgestorbener  Früchte  dienten,  findet  sich  ein  Dila- 
tatorium,  welches  einige  Ähnlichkeit  mit  der  Geburtszange  hat;5  doch 
ist  es  klar,  dass  es  niemals,  wie  schon  Muldee  bemerkte,  zur  Ex- 
traktion lebender  Kinder  verwendet  worden  ist.6  Eine  andere  Zeich- 
nung zeigt  die  Form  des  Kranioklasten  und  wurde  auch  zum  gleichen 
Zweck  gebraucht.7 

Eine  erfreuliche  Erscheinung  ist  das  rege  Interesse,  welches  die 
arabischen  Ärzte  der  Geschichte  ihrer  Wissenschaft  widmeten.  Die 
Werke  des  Ibn  Dscholdschol  und  Ibn  Abu  Oseibia8  bilden  eine  un- 
schätzbare, leider  noch  wenig  benutzte  Quelle  für  die  medicinische  Ge- 
schichtsforschung wie  für  die  Culturgeschichte  überhaupt.  Der  histo- 
rische Sinn,  welcher  den  Arabern  anerzogen  wurde,  veranlasste  sie, 
ihre  Schriften  mit  einer  Menge  von  Citaten  zu  schmücken,  durch  welche 
manche  wichtige  Thatsache  vor  der  Vergessenheit  geschützt  wurde. 
Welche  überraschenden  Aufschlüsse  über  die  Culturzustände,  besonders 
die  Medicin,  des  Alterthums  dürfen  wir  erwarten,  wenn  einst  die  lite- 
rarischen Schätze  der  mohammedanischen  Musensitze  des  Orients  und 
Nordafrikas,  wie  in  Quairuan,  der  Wissenschaft  erschlossen  werden!  — 

Schon  in  den  ersten  Zeiten  des  Islams  wurden  überall  bei  den 


1  Sichel  im  Arch.  f.  Ophthalmol.  1868,  Bd.  XIV,  3,  p.  9. 

2  Leclerc  a.  a.  0.  I,  p.  535. 

3  C.  J.  v.  Siebold:  Geschichte  der  Geburtshilfe,  Berlin  1839.  I,  S.  272,  Anm. 

4  Siebold  a.  a.  O.  I,  S.  298  u.  ff. 

5  Abulkasem  II,  76,  77  a.  a.  0.  p.  180  u.  ff.  u.  Anhang  Fin'.  103. 

6  J.  Muldek:  Geschichte  der  Zangen  u.  Hebel  in  der  Geburtshilfe,  Leipzig 
1798,  S.  9.  —  Siebold  a.  a.  0.  I,  S.  295,  Anm.  1. 

7  Abulkasem  a.  a.  0.  Fig.  106. 

8  Wüstenfeld  a.  a.  0.  S.  132  u.  ff.  —  Leclerc  a.  a.  0.  II,  187  u.  ff. 


142  Der  medicinische   Unterrieht  im  Mittelalter. 


Moscheen  Elementarschulen  errichtet,  in  denen  die  Kinder  den  Koran 
lesen  lernten.  Daran  schloss  sich  später  die  Lektüre  anderer  Schriften, 
sowie  die  Grammatik  und  der  Unterricht  im  Schreiben.  Der  Besuch 
der  Schule  begann  mit  dem  6.  Lebensjahre.1 

Die  Religion  lag  nicht  blos  dem  niederen,  sondern  auch  dem 
höheren  Unterricht  zu  Grunde.  Auch  die  höheren  Lehranstalten  standen 
Anfangs  mit  den  Moscheen  in  Verbindung.  In  den  Nischen  und  Gängen 
derselben  oder  in  anstossenden  Sälen  versammelten  Gelehrte  einen 
Kreis  wissbegieriger  Schüler  um  sich  und  hielten  Vorträge  über  theo- 
logische, philologische,  philosophische,  juristische  und  medicinische 
Fragen. 

Während  der  ersten  Jahrhunderte  durfte  Jeder  als  Lehrer  auf- 
treten, ohne  dass  er  seine  Befähigung  dazu  nachzuweisen  brauchte; 
nur  von  den  Lehrern  der  Theologie  und  der  Jurisprudenz  verlangte 
man,  dass  sie  über  ihre  Ausbildung  durch  einen  von  der  öffentlichen 
Meinung  anerkannten  Lehrer  dieser  Wissenschaften  Rechenschaft  gaben. 

Manche  Lehrer  übten  neben  ihrer  Lehrthätigkeit  noch  einen  an- 
deren Beruf  aus ;  sie  wirkten  als  Vorleser  und  Prediger  an  den  Moscheen, 
als  Beamte,  Richter,  Sekretäre,  Marktaufseher,  ja  selbst  als  Kaufleute 
und  Handwerker.2  Die  Lehrer  der  Heilkunde  waren  sicherlich  in  den 
meisten  Fällen  als  praktische  Ärzte  thätig. 

Da  die  Vorträge  unentgeltlich  stattfanden,  so  war  es  ganz  natür- 
lich, dass  die  Lehrer,  wenn  sie  nicht  eigenes  Vermögen  besassen,  durch 
eine  andere  Beschäftigung  für  ihren  Lebensunterhalt  sorgten.  Viele 
gaben  den  Studierenden  Kost  und  Wohnung,  um  durch  die  Geschenke 
und  Gelder,  welche  sie  dafür  von  ihnen  erhielten,  einen  Beitrag  zur 
Bestreitung  ihrer  Ausgaben  zu  gewinnen.  Zuweilen  wählten  sie  sich 
aus  ihnen  auch  einen  Schwiegersohn  aus.3 

Die  Vorlesungen  bestanden  entweder  in  freien  Vorträgen  oder 
wurden  aus  Heften  vorgelesen.  Recht  witzig  bemerkt  Samachschaei  : 
„Der  Ruhm  des  Gelehrten  liegt  in  seinen  Heften,  wie  der  Ruhm  des 
Kaufmanns  in  seiner  Kasse."  Die  Worte  des  Lehrers  wurden  von  den 
Studierenden  nachgeschrieben,  und  die  letzteren  setzten  sich  sogar  einer 
Rüge  aus,  wenn  sie  dies  unterliessen.  Der  Lehrer  überzeugte  sich 
durch  Fragen,  ob  die  Schüler  den  Inhalt  seines  Vortrages  verstanden 
hatten.    Manchmal  folgten  darauf  Disputatorien,  bei  denen  es  gelegent- 


1  D,  Haneberg:    Über  das  Schul-  und  Lehrwesen   der  Muhamedaner   im 
Mittelalter,  München  1850,  S.  4  u.  ff. 

2  F.  Wüstenfeld:  Die  Akademien  der  Araber  und  ihre  Lehrer,  Göttingen 
1837,  S.  6. 

3  Haneberg  a.  a.  0.  S.  31. 


Medioin.  Wissenschaß  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.        143 


lieh  auch  einmal  vorkam,  dass  ein  tüchtiger  Gelehrter,  der  sich  zu- 
fällig unter  den  Zuhörern  befand,  dem  Lehrer  selbst  eine  Niederlage 
bereitete. l 

Der  Zutritt  zu  den  Vorlesungen  war  Jedem  ohne  Unterschied  der 
Nationalität  gestattet.  Man  sah  in  den  Hörsälen  neben  Jünglingen, 
die  kaum  dem  Knabenalter  entwachsen  waren,  gereifte  Männer  und 
weissbärtige  Greise.  Manche  kamen  aus  weiter  Ferne,  um  die  Ansichten 
eines  berühmten  Lehrers  kennen  zu  lernen.  Da  in  allen  dem  Islam 
unterworfenen  Ländern  die  arabische  Sprache  beim  Unterricht  gebraucht 
wurde,  so  war  es  den  Gelehrten  der  verschiedenen  Nationen  leicht,  sich 
mit  einander  zu  verständigen  und  ihr  Wissen  zu  vermehren  oder  An- 
deren mitzutheilen. 

Die  durch  die  religiösen  Wallfahrten  erweckte  Keiselust  der  Araber 
wurde  dadurch  auch  bei  den  Gelehrten  und  Studenten  gefördert.  Auf 
ihren  Wanderungen  von  einer  Hochschule  zur  anderen  vermittelten  sie 
den  Austausch  der  geistigen  Errungenschaften  und  trugen  auf  diese 
Weise  dazu  bei,  dass  sich  die  Cultur  in  allen  arabischen  Ländern  gleich- 
massig  entwickelte. 

Die  Studenten  Hessen  sich  oft  von  ihren  Lehrern  Zeugnisse  über 
den  Besuch  ihrer  Vorlesungen  ausstellen  und  schriftlich  die  Erlaubniss 
ertheilen,  die  Kenntnisse,  welche  sie  dort  gewonnen  hatten,  durch  Wort 
und  Schrift  weiter  zu  verbreiten.  Einzelne  Lehrer  waren  in  dieser 
Hinsicht  sehr  entgegenkommend.  Von  einem  derselben  heisst  es  in 
einer  etwas  überschwänglichen  Weise:  „Er  bedeckte  die  Erde  mit  Zeug- 
nissen über  Gehörtes  und  mit  Licenzen  zum  Lehren."2 

Manche  Schulen  und  Moscheen  besassen  grosse  Bibliotheken. 
QuatremEre  hat  deren  40  beschrieben,  und  v.  Hammer -Purgstall 
lieferte  dazu  werthvolle  Zusätze.3  Die  Bücherliebhaberei  war  übrigens 
auch  bei  Privatleuten  sehr  verbreitet.  Der  Arzt  Algizar  (Irn  Dschezzar) 
hinterliess,  als  er  i.  J.  1009  zu  Quairuan  starb,  eine  Bibliothek,  welche 
25  Centner  wog.4 

Seit  dem  11.  Jahrhundert  entstanden  die  Madaris,  die  man  weder 
unseren  Akademien,  wie  es  Wüsteneeld  thut,  noch  unseren  Gymnasien, 
wie  Meyer  vorschlägt,  gleichstellen  darf.  Die  meiste  Ähnlichkeit  haben 
sie  mit  den  englischen  Colleges.     Es  waren   dem  höheren  Unterricht 


1  Haneberg  a.  a.  0.  S.  12.  2  Haneberg  a.  a.  0.  S.  22. 

3  Quatremere:  Sur  le  goüt  des  livres  chez  les  Orientaux  im  Joum.  asiat, 
ser.  III,  t.  VI,  p.  35,  Paris  1838,  u.  ser.  IV,  t.  XI,  p.  187  u.  ff,  Paris  1848.  — 
Leclerc  a.  a.  0.  I,  583  u.  ff.  —  A.  v.  Kremer:  Culturgeschichte  des  Orients  unter 
den  Khalifen,  Wien  1877,  II,  S.  434. 

4  Leclerc  a.  a.  0.  I,  584. 


144  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Mittelalter. 

gewidmete  Pensionate,  in  welchen  Lehrer  und  Schüler  zusammen 
wohnten.  Einzelnen  standen  prachtvolle  Gebäude  zur  Verfügung;  alle 
waren  mit  Bibliotheken  ausgestattet. 

Die  berühmtesten  Madaris  befanden  sich  zu  Bagdad,  Basra,  Bochara, 
Nisabur,  Damaskus,  Samarkand  und  Cahira;1  Spanien  besass  in  seiner 
Blüthe  17  derartige  Anstalten.  Wüstenfeld  hat  deren  37  beschrieben 
und  dabei  über  die  Lebensumstände  der  Lehrer,  welche  an  denselben 
thätig  waren,  und  ihre  literarischen  Leistungen  ausführliche  Mitthei- 
lungen gemacht. 

Wenn  man  das  reichhaltige  Verzeichniss  ihrer  Schriften  durchsieht, 
so  findet  man,  dass  sie  hauptsächlich  die  Theologie,  Rechtskunde,  Phi- 
losophie und  Philologie  betreffen;  nur  wenige  handeln  über  Mathematik. 
Astronomie,  Chemie,  Naturwissenschaften  und  andere  Gegenstände,  kein 
einziges  aber  über  Medicin.  Es  scheint  darnach,  dass  diese  Anstalten 
vorzugsweise  der  Erlangung  einer  humanistischen,  theologischen  und 
juridischen  Ausbildung  dienten,  während  für  den  Unterricht  in  den 
Naturwissenschaften  und  in  der  Heilkunde  andere  Institute  vorhanden 
waren. 

Die  Gesellschaft  der  „Brüder  der  Reinheit",  welche  im  10.  Jahr- 
hundert zu  Basra  entstand,  rechnete  den  Unterricht  nicht  zu  ihren 
eigentlichen  Aufgaben.  Allerdings  suchte  sie  durch  Herausgabe  theo- 
logischer, philosophischer,  mathematischer  und  naturwissenschaftlicher 
Abhandlungen  Bildung  zu  verbreiten;  aber  das  Ziel,  welches  sie  dabei 
verfolgte,  war  die  Verbindung  der  Vernunft  mit  dem  Glauben  und  die 
Begründung  oder  Läuterung  des  letzteren  durch  die  Wissenschaft. 
E.  Dieteeici  hat  ihre  Bestrebungen  und  Leistungen  durch  eine  Reihe 
werthvoller  Schriften  erläutert. 

Den  Charakter  einer  Universität  zeigte  in  manchen  Beziehungen 
das  vom  Khalifen  Hakim  Biimrillah  i.  J.  1105  zu  Cahira  gegründete 
„Haus  der  Weisheit".  Dort  wurde  neben  anderen  Wissenschaften  auch 
die  Medicin  gelehrt,  und  unter  den  reich  besoldeten  Lehrern,  welche 
an  demselben  angestellt  waren,  befanden  sich  nicht  blos  Theologen, 
Grammatiker,  Philosophen  und  Rechtskundige,  sondern  auch  Mathema- 
tiker, Astronomen  und  Ärzte.  Es  war  auch  Nicht- Mohammedanern, 
z.  B.  Juden  und  Christen,  erlaubt,  den  Vorträgen,  welche  hier  gehalten 
wurden,  beizuwohnen  und  die  der  Anstalt  gehörige  Bibliothek,  welche 
18  Säle  füllte,  zu  benutzen.2 

Das  Studium  der  Heilkunde  geschah  auf  verschiedene  Arten.    Wer 


1  Wüstenfeld  a.  a.  0.  S.  6. 

2  v.  Hammer-Purgstall  a.  a.  0.  Bd.  I,  Einleit,  S.  LXIV. 


Medicin.  Wissenschaft  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.        145 


sich  dem  ärztlichen  Beruf  widmen  wollte,  konnte  die  dazu  erforderlichen 
fachmännischen  Kenntnisse  entweder  unter  der  persönlichen  Anleitung 
eines  älteren  erfahrenen  Arztes,  zu  welchem  er  sich  in  die  Lehre  begab, 
oder  in  medicinischen  Lehranstalten  oder  in  den  mit  manchen  Hospi- 
tälern verbundenen  ärztlichen  Schulen  erwerben.  Viele  mögen  alle 
drei  Methoden  verbunden  haben,  um  eine  gründliche  Ausbildung  in 
der  Heilkunst  zu  erlangen. 

Die  medicinischen  Vorlesungen,  welche  in  den  mit  den  Moscheen 
zusammenhängenden  höheren  Unterrichts-Instituten  und  ähnlichen  An- 
stalten, z.  B.  in  dem  Hause  der  Weisheit,  stattfanden,  betrafen,  wie  es 
scheint,  vorzugsweise  theoretische  Gegenstände  und  machten  die  Schüler 
mit  der  Literatur  bekannt,  während  das  praktische  ärztliche  Wissen 
hauptsächlich  in  den  Krankenhäusern  erworben  wurde. 

Nach  Maceizi1  gab  es  in  Ägypten  schon  in  der  Vor-Islamitischen 
Zeit  Hospitäler,  welche  mit  Ärzten  und  Medicamenten  versehen  waren. 
Bei  den  Mohammedanern  dienten  die  Moschee  und  die  dazu  gehörigen 
Gebäude  häufig  als  Herberge  für  arme  Fremde  oder  als  Lazareth  für 
Kranke. 

Unter  der  Herrschaft  des  Islams  wurde  das  erste  Hospital  für 
Kranke  i.  J.  707  vom  Khalifen  El  Welid  Ben  Abd-el-Malik  errichtet, 
welcher  auch  dafür  sorgte,  dass  unbemittelte  Keisende,  wenn  sie  er- 
krankten, ärztliche  Hilfe  erhielten.  „Er  stellte  in  dem  Hospital  Ärzte 
an  und  bestritt  ihre  Ausgaben;  er  befahl,  die  Aussätzigen  einzusperren, 
damit  sie  nicht  auf  die  Strassen  gingen,  und  sorgte  für  ihre  und  der 
Blinden  Bedürfnisse." 

Später  wurden  in  allen  grösseren  Städten  Hospitäler  und  Kranken- 
häuser errichtet,  welche  ihre  Entstehung  frommen  Stiftungen  verdankten. 
Die  meisten  derselben  dienten  zugleich  dem  medicinischen  Unterricht. 
Man  nahm  dabei  die  Einrichtungen,  welche  an  der  medicinischen  Schule 
zu  Gondisapur  und  den  mit  Spitälern  verbundenen  ärztlichen  Lehr- 
anstalten der  Nestorianer  bestanden,  zum  Muster.  Die  Spitalärzte 
wirkten  hier  zugleich  als  Lehrer  der  Medicin  und  unterrichteten  ihre 
Schüler  in  den  verschiedenen  Theilen  der  Heilkunde. 

Die  Nachrichten',  welche  uns  über  die  arabischen  Krankenhäuser 
überliefert  worden  sind,  gewähren  einen  Einblick  in  deren  Verhältnisse 
und.  Zustände.  Das  Hospital  zu  Gondisapur,  welches  durch  mehrere 
Generationen  unter  der  ärztlichen  Leitung  von  Mitgliedern  der  Familie 
Bachtischua  (Bochtjesu)  stand,  bewahrte  auch  unter  der  arabischen 


1  Macrizi's   Beschreibung  der   Hospitäler  in   el-Cahira  nach  Wüstenfeld's 
Übersetzung  im  Janus,  Breslau  1846,  I,  S.  28  u.  ff. 

Puschmann,  Unterricht.  10 


146  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

Herrschaft  seinen  guten  Ruf.  Es  war  mit  einer  wohleingerichteten 
Apotheke  verbunden,  welcher  der  Stammvater  einer  anderen  berühmten 
ärztlichen  Familie,  der  ältere  Mesue,  durch  40  Jahre  vorstand.  I.  J.  869 
war  der  um  die  Arzneimittellehre  verdiente  Sabue  Ben  Sahl  Direktor 
dieser  Anstalt.  Sie  bestand  wahrscheinlich  noch  in  späteren  Zeiten; 
doch  trat  sie  in  den  Schatten,  als  die  glänzend  ausgestatteten  Hospitäler 
der  Araber  in  Bagdad  und  anderen  Orten  zu  Ansehen  gelangten. 

In  Bagdad  existirte  schon  im  9.  Jahrhundert  ein  Krankenhaus  und 
eine  medicinische  Schule.1  Ein  zweites  gründete  i.  J.  914  der  Yezir 
Ali  Ben  Issa.  Derselbe  lernte  bei  einer  Epidemie  den  Mangel  an  Ärzten 
und  Medicamenten  kennen,  welcher  bei  den  Truppen  und  auf  dem 
Lande  herrschte,  und  beschloss  deshalb,  etwas  zur  Besserung  dieser 
Zustände  zu  thun.  Er  ordnete  an,  dass  die  Kranken  täglich  von  den 
Ärzten  besucht  würden  und  Arzneien  und  Nahrungsmittel  empfingen, 
und  liess  ein  neues  Hospital  eröffnen.  Als  man  ihm  mittheilte,  dass 
einige  Dörfer,  welche  grösstenteils  von  Juden  bewohnt  waren,  der  ärzt- 
lichen Hilfe  gänzlich  entbehrten,  antwortete  er,  dass  man  auch  für  die 
Ungläubigen  sorgen  müsse. 

Auf  Sinan  Ben  Tsabet  Ben  Corra's  Veranlassung2  wurden  in  Bagdad 
noch  andere  Krankenhäuser  errichtet.  Die  Mittel  dazu  boten  die  zu 
Wohlthätigkeitszwecken  bestimmten  reichen  Vermächtnisse  der  Sedjah, 
der  Mutter  des  Khalifen  Mottawakl.  Das  grösste  und  berühmteste 
dieser  Spitäler  wurde  i.  J.  977  vom  Buiden-Emir  Adhad  Ed  Daula  ge- 
stiftet, oder  vielleicht  nur,  nachdem  es  schon  früher  existirte  und  in 
Verfall  gerathen  war,  mit  grösseren  Mitteln  wieder  hergestellt.3  Bei 
der  ursprünglichen  Gründung,  die  wahrscheinlich  um  ein  Jahrhundert 
zurückreicht,  soll  nach  Ibn  Abu  Oseibia's  Angabe  Rhazes  mitgewirkt 
haben,  indem  er  einen  in  hygienischer  Hinsicht  geeigneten  Platz  dafür 
aussuchte. 

An  diesem  Hospital  waren  24  Ärzte  angestellt,  welche  nach  ihrer 
Tüchtigkeit  im  Range  auf  einander  folgten.  Es  gab  unter  ihnen  Spe- 
cialisten,  indem  sich  Einzelne  nur  mit  der  Behandlung  fieberhafter 
Krankheiten,  Andere  mit  der  Heilung  von  Wunden,  mit  dem  Einrichten 
von  Luxationen  oder  mit  Augenleiden  befassten.  Die  Kranken  waren 
nach  der  Art  ihrer  Erkrankung  in  verschiedene  Abtheilungen  gesondert. 
Merkwürdige  Beobachtungen,  welche  die  Ärzte  an  einzelnen  Krankheits- 


1  M.  Steinschneider  in  Virchow's  Archiv,  Bd.  52,  S.  372. 

2  Aus  dessen  Lebensbeschreibung  nach  Leclerc  a.  a.  0.  I,  365.  559  u.  ff. 

3  v.  Hammer-Purgstall  a.  a.  0.  IV,  358.   —   Wüstenfeld:   Gesch.  d.  arab. 
Arzte,  S.  42,  Anm.  —  Leclerc  a.  a.  0.  I,  561. 


Medicin.  Wissensciiaft  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.         147 


fallen  machten,  wurden  niedergeschrieben  und  aufbewahrt.  Die  Ver- 
waltung des  Hospitals  leitete  ein  hoher  Beamter,  z.  B.  ein  Kadi;  unter 
ihm  stand  ein  Ökonom.  Ibn  El  Makistania,  der  eine  Zeitlang  als 
Arzt  an  dieser  Anstalt  wirkte,  hat  eine  Geschichte  derselben  verfasstr 
die  leider  verloren  gegangen  ist.  Dieses  Krankenhaus  existirte  noch  im 
13.  Jahrhundert,  vielleicht  auch  in  späterer  Zeit. 

Ferner  bestanden  zu  Merw,  zu  Ray,  dem  Geburtsort  des  Rhazes, 
zu  Ispahan,  Schiras,  Jerusalem,  Antiochia,  Mekka  und  Medina  Kranken- 
häuser. 

In  Damaskus  gab  es  mehrere;  das  grösste  verdankte  angeblich 
dem  Nureddin  seine  Entstehung.  Es  diente  zugleich  als  medicinische 
Lehranstalt.  In  dem  mit  Teppichen  bedeckten  Hofe  wurden  nach  der 
Beendigung  der  Krankenvisiten  medicinische  Vorträge  gehalten,  welche 
oft  mehrere  Stunden  dauerten.  Eine  medicinische  Bibliothek,  welche 
sich  in  der  Anstalt  befand,  sorgte  für  die  literarischen  Bedürfnisse  der 
Lehrenden  und  Lernenden.  Die  Zahl  der  Schüler  war  sehr  gross.  In 
dem  Verzeichniss  der  Lehrer  finden  sich  Namen,  welche  zu  den  be- 
rühmtesten der  arabischen  Heilkunde  gehören.1  Die  Kranken  wurden 
nach  ihren  Leiden  eingetheilt;  es  gab  z.  B.  eine  besondere  Abtheilung 
für  Augenkranke.2  Die  Verpflegung  war  so  vortrefflich,  dass  Mancher, 
wie  Abd-el  Letie  erzählt,3  sich  krank  stellte,  um  in  der  Anstalt  bleiben 
zu  dürfen;  denn  er  wurde  dort  „mit  zarten  Hühnern,  Backwerk,  Sorbet 
und  Früchten  aller  Art"  bewirthet. 

In  Damaskus  bestanden  neben  dieser  Anstalt  noch  andere  medici- 
nische Schulen;  zuweilen  docirte  derselbe  Lehrer  an  zwei  solchen  In- 
stituten. Die  medicinischen  Schulen  von  Damaskus  nahmen  im  13.  Jahr- 
hundert den  ersten  Rang  ein  unter  allen  ihren  Schwester-Anstalten  und 
überstrahlten  durch  ihren  Ruhm  sogar  diejenigen  zu  Bagdad  und  Cairo. 

Über  die  Spitäler  Ägyptens  und  ihre  Organisation  hat  Maceizi 
ausführliche  Nachrichten  hinterlassen.  Er  berichtet,  dass  das  erste 
Krankenhaus  von  Ibn  Tulun  um  d.  J.  875  gestiftet  und  mit  reichen 
Mitteln  zu  seiner  Erhaltung  ausgestattet  wurde.  „Er  traf  für  das  Ho- 
spital die  Bestimmung,  dass  darin  weder  ein  Soldat  noch  ein  Sklave 
aufgenommen  werde;  auch  richtete  er  für  das  Hospital  zwei  Bäder  ein, 
das  eine  für  die  Männer  und  das  andere  für  die  Frauen,  und  vermachte 
beide  dem  Hospital   und    anderen  Anstalten.     Er  befahl  ferner,   dass, 


1  Wenn  dieses  Hospital  erst  von  Nureddin,  welcher  1173  starb,  gestiftet 
wurde,  so  bezogen  sich  einzelne  der  hier  erwähnten  Thatsachen  wahrscheinlich 
auf  andere  Krankenhäuser  Bagdads.  • 

2  Leclerc  a.  a.  0.  I,  565  u.  ff.  —  Abülfarag  a.  a.  0.  p.  343. 

3  Abd-Allatif:  Relation  de  l'Egypte  ed.  Silv.  de  Sacy,  Paris  1810,  p.  441. 

10* 


148  Der  medieinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


wenn  ein  Kranker  gebracht  würde,  ihm  seine  Kleider  und  sein  Geld 
abgenommen  und  bei  dem  Hospital- Verwalter  in  Verwahrung  gegeben, 
dann  ihm  andere  Kleider  angezogen,  er  ins  Bett  gelegt,  ihm  Essen 
gegeben,  und  er  durch  Arznei  und  Nahrungsmittel  und  durch  Ärzte 
bedient  werden  sollte,  bis  er  hergestellt  sei;  dann  nachdem  er  ein  junges 
Huhn  und  Kuchen  zu  essen  bekommen,  soll  er  entlassen  werden  und 
sein  Geld  und  seine  Kleider  zurückerhalten."1 

In  dem  Hospital  befand  sich  auch  eine  Abtheilung  für  Geistes- 
kranke. Diese  Anstalt  scheint  nicht  lange  existirt  zu  haben ;  zu  Mackizi's 
Zeit  war  sie  nahezu  vollständig  vergessen.  Derselbe  erwähnt  dann 
das  Hospital  Kafür's,  welches  i.  J.  957  in  der  Stadt  Misr  errichtet 
wurde,  und  dasjenige,  welches  nach  der  Strasse  El  Magatir  genannt 
wurde  und,  wie  es  scheint,  nur  kurze  Zeit  bestanden  hat.  In  Fostath 
existirte  schon  im  10.  Jahrhundert  ein  Hospital;  ein  anderes,  an  wel- 
chem Ibn  Abu  Oseibia  kurze  Zeit  ärztliche  Dienste  verrichtete,  ver- 
dankte dem  Nasr  Saladin  seine  Entstehung. 

Die  bedeutendste  aller  dieser  Stiftungen  war  das  grosse  Mansuri- 
sche  Hospital  zu  Cairo.  Der  Sultan  El  Mansur  Gilavun  liess  dasselbe 
i.  J.  1283  aus  einem  fürstlichen  Schloss,  welches  bis  dahin  einer  Prin- 
zessin zum  Wohnsitz  gedient  hatte,  mit  grossem  Aufwand  herrichten. 
Die  Grundmauern,  die  Steine  und  Marmorsäulen  jenes  Theiles  des 
Schlosses,  welches  niedergerissen  wurde,  verwendete  man  zum  Bau  des 
Hospitals.  Alle  Handwerker  von  Misr  und  Cairo  mussten  dabei  thätig 
sein  und  durften  während  dieser  Zeit  keine  Arbeit  für  andere  Leute 
übernehmen.  Der  Sultan  ritt  täglich  zum  Bauplatz,  beaufsichtigte  die 
Arbeiter,  half  sogar  selbst  mit  und  nöthigte  die  Vorübergehenden,  Steine 
zu  tragen  oder  andere  Dienste  zu  verrichten.  Er  hatte  übrigens  bei 
dem  Bau  ein  merkwürdiges  Glück;  beim  Ausgraben  der  Erde  fand  ein 
Arbeiter  ein  mit  Gold  und  Edelsteinen  gefülltes  Kästchen,  dessen  Werth 
die  sämmtlichen  Baukosten  deckte. 

Vier  grosse  Krankensäle  umschlossen  den  Hof;  in  jedem  derselben 
war  ein  Springbrunnen,  welcher  aus  einem  in  der  Mitte  des  Hofes  be- 
findlichen Wasserbehälter  gespeist  wurde.  Als  der  Bau  der  Anstalt 
vollendet  war,  sprach  der  Sultan:  „Dies  habe  ich  gestiftet  für  meines 
Gleichen  und  für  Geringere;  ich  habe  es  bestimmt  zu  einer  Stiftung 
für  den  König  und  den  Diener,  den  Soldaten  und  den  Emir,  den 
Grossen  und  den  Kleinen,  den  Freien  und  den  Sklaven,  für  Männer 
und  Frauen.  Er  bestimmte  dafür  die  Medicamente,  die  Ärzte,  und 
alles  Übrige,  was  Jemand  darin  in  irgend  einer  Krankheit  nöthig  haben 


1  Macrizi  nach  Wüstenfeld's  Übersetzung  a.  a.  0.  S.  30. 


Medicin.  Wissenschaft  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.        149 


konnte.  Der  Sultan  stellte  männliche  und  weibliche  Bettmacher  an 
zur  Bedienung  der  Kranken  und  bestimmte  ihnen  die  Gehalte;  er 
richtete  die  Betten  für  die  Kranken  ein  und  versah  sie  mit  allen  Arten 
von  Decken,  die  in  irgend  einer  Krankheit  nöthig  waren.  Jede  Klasse 
von  Kranken  bekam  einen  besonderen  Baum.  Die  vier  Säle  des  Ho- 
spitals bestimmte  er  für  die  an  Fiebern  und  dergleichen  Leidenden, 
einen  Hof  sonderte  er  für  die  Augenkranken,  einen  für  die  Verwundeten, 
einen  für  Diejenigen,  welche  an  Durchfällen  litten,  und  einen  für  die 
Frauen;  ein  Zimmer  für  die  Beconvalescenten  theilte  er  in  zwei  Theile, 
den  einen  für  die  Männer,  den  anderen  für  die  Frauen.  An  alle  diese 
Orte  wurde  das  Wasser  geleitet.  Ein  besonderes  Zimmer  war  für  das 
Kochen  der  Speisen,  Medicamente  und  Syrupe,  ein  anderes  für  das 
Mischen  der  Confekte,  Balsame,  Augensalben  u.  dgi.  bestimmt.  An 
verschiedenen  Orten  wurden  die  Vorräthe  aufbewahrt;  in  einem  Zimmer 
waren  die  Syrupe  und  Medicamente  allein.  In  einem  Zimmer  hatte 
der  Oberarzt  seinen  Sitz,  um  medicinische  Vorlesungen  zu  halten.  Die 
Zahl  der  Kranken  war  nicht  begrenzt,  sondern  jeder  Bedürftige  und 
Arme,  welcher  dahin  kam,  fand  dort  Aufnahme;  ebensowenig  war  die 
Zeit  des  Aufenthalts  eines  Kranken  darin  bestimmt,  und  es  wurde 
daraus  sogar  Denjenigen,  welche  zu  Hause  krank  lagen,  Alles,  was  sie 
nöthig  hatten,  verabreicht."1 

Dieses  Hospital  erfuhr  im  Verlauf  der  Zeit  manche  bauliche  Ver- 
besserungen und  Erweiterungen.  Im  Garten  wurde  ein  grosses  Zelt 
errichtet,  damit  die  Kranken  dort  im  Schatten  spazieren  gehen  konnten. 
Eine  am  Thore  des  Hospitals  gelegene  Cisterne,  aus  welcher  die  Thiere 
zu  trinken  pflegten,  wurde  verlegt,  „weil  die  Leute  durch  den  stinken- 
den Geruch  des  Schmutzes  belästigt  wurden",  und  eine  Wasserleitung- 
angelegt. 

Der  Stifter  der  Anstalt  vermachte  derselben  so  vielen  Grundbesitz, 
dass  der  jährliche  Ertrag  desselben  nahezu  eine  Million  Dirhem  aus- 
machte. Zwei  Beamte  waren  damit  beauftragt,  die  aus  den  Grund- 
stücken der  Anstalt  zufliessenden  Gelder  einzutreiben;  andere  hatten 
die  Controlle  der  Ausgaben  oder  die  Aufsicht  über  die  Gebäude  und 
die  Küche. 

Wie  Lecleec  angiebt,2  wurden  in  diesem  Hospital  Anfangs  nur 
Geisteskranke  und  erst  später  Leidende  aller  Art  aufgenommen.  Sie 
wurden  dort  gut  verpflegt  und  genossen  ein  behagliches  Leben.  Wenn 
sie    an   Schlaflosigkeit   litten,    so    wurde    ihnen   durch    Musik,    durch 


1  Macrizi  nach  Wüstenfeld  a.  a.  0.  S.  34. 

2  Leclerc  a.  a.  0.  I,  570. 


150  Der  medizinische   Unterricht  im  Mittelalter 


Märchen-Erzähler  und  andere  Zerstreuungen  die  Zeit  vertrieben.  Beim 
Verlassen  der  Anstalt  erhielt  jeder  Pflegling  5  Goldstücke,  damit  er 
nicht  genöthigt  war,  sofort  schwere  Arbeiten  zu  übernehmen. 

Mit  dem  Hospital  war  eine  Moschee  verbunden,  in  welcher  zu 
jeder  Zeit  der  Koran  vorgelesen  und  erklärt  wurde.  Ferner  befand 
sich  dort  eine  Bibliothek,  in  welcher  6  Eunuchen  als  Diener  angestellt 
waren,  ein  Waisenhaus  nebst  der  dazu  gehörigen  Schule  und  eise 
höhere  Lehranstalt.  Es  dürfte  zu  jener  Zeit  keine  Wohlthätigkeits- 
Stiftung  in  der  Welt  gegeben  haben,  welche  sich  an  Grossartigkeit, 
Pracht  und  Ausdehnung  mit  dieser  Schöpfung  messen  konnte. 

Maoeizi  beschreibt  dann  noch  das  Muajjidische  Hospital  in  Cairo, 
welches  um  d.  J.  1420  eröffnet  wurde,  aber  nur  kurze  Zeit  als  Heil- 
anstalt diente.  Auch  in  Fez  gab  es,  wie  Leo  Africanus  berichtet, 
Krankenhäuser;  einzelne  hatten  besondere  Abtheilungen  für  Geisteskranke. 

Spanien  soll  reich  an  Hospitälern  gewesen  sein;  doch  sind  die 
darüber  vorhandenen  Nachrichten  sehr  spärlich.  Zu  Algesiras  bestand 
im  12.  Jahrhundert  ein  Krankenhaus  und  Cordova  soll  nach  einer 
wahrscheinlich  an  orientalischer  Übertreibung  leidenden  Mittheilung 
sogar  50  derartige  Anstalten  besessen  haben. 

Die  liebende  Fürsorge,  welche  die  Mohammedaner  den  Irren  wid- 
meten, hatte  ihren  Grund  in  der  Religion.  Sie  sahen  in  den  Hal- 
lucinationen  und  wirren  Reden  dieser  Kranken  häufig  Äusserungen 
einer  überirdischen  Welt  und  zollten  Denen,  welche  damit  begnadet 
wurden,  gebührende  Verehrung.  Die  Christen  huldigten  der  gleichen 
Anschauung;  aber  sie  erblickten  darin  Strafen  Gottes  und  Wirkungen 
des  Teufels  und  der  bösen  Geister.  Die  Geisteskranken  fanden  daher 
in  den  Ländern  des  Islams  freundliche  Worte  und  sorgsame  Pflege  in 
den  Hospitälern,  während  sie  von  den  Christen  wie  Verbrecher  behan- 
delt, in  die  Gefängnisse  geworfen  und  geschlagen  oder  als  Zauberer 
und  Hexen  mit  Feuer  und  Schwert  vertilgt  wurden.1 

In  Bagdad  und  Cairo  bestanden  Irrenanstalten  längst,  bevor  man 
in  den  Ländern  der  Christenheit  an  die  Errichtung  derselben  dachte, 
und  hier  entstanden  die  ersten  in  Spanien,  auf  dessen  geistige  Ent- 
wickelung  die  arabische  Cultur  den  grössten  Einfluss  ausgeübt  hat. 

Auf  dem  Gebiet  der  Irrenpflege  neigt  sich  die  Waage  der  Huma- 
nität entschieden  zu  Gunsten  der  Mohammedaner;  das  Christenthum 
zeigt  hier  einen  hässlichen  Flecken,  welcher  dem  Religionseifer  seiner 
Anhänger  zur  Last  fällt. 


1  Lecky  a.  a.  0.  II,  68  u.  ff.  —  Desmaisons:  Des  asiles  dalionos  en  Espagne, 
Paris  1859. 


Mediein.  Wissenschaft  u.  mediein.  Unterricht  bei  den  Arabern.        151 


Die  Araber  hatten  in  ihren  Spitälern  besondere  Abtheilungen  für 
die  verschiedenen  Arten  der  menschlichen  Leiden;  auch  gab  es  be- 
sondere Anstalten  für  einzelne  Krankheiten,  z.  B.  diejenigen  der  Augen. 

Die  Studierenden,  welche  diese  Krankenhäuser  besuchten,  wurden 
hier  unter  der  Anleitung  erfahrener  Ärzte  in  die  Kunst  eingeweiht, 
die  Krankheiten  zu  erkennen  und  zu  behandeln.  Sie  wohnten  der  Aus- 
führung chirurgischer  Operationen  bei  und  konnten  auch  manchmal 
einige  praktische  Kenntnisse  in  der  Geburtshilfe  erwerben,  Avie  es  ihnen 
Ali  Ben  Abbas  empfahl. 

In  den  Apotheken  hatten  sie  Gelegenheit,  die  Bereitung  der  Arz- 
neien kennen  zu  lernen.  Die  Araber  haben  die  Apotheken  in  die  Heil- 
kunde eingeführt;  es  scheint,  dass  sie  durch  die  Nestorianer  damit  be- 
kannt gemacht  wurden.1  Die  arabischen  Apotheker  handelten  nicht 
blos  mit  Arzneistoffen,  namentlich  Sandelholz,  weshalb  sie  auch  Szan- 
dalani  genannt  wurden,  sowie  mit  Parfümerien,  kosmetischen  und  an- 
deren Mitteln,  sondern  beschäftigten  sich  auch  mit  der  Zusammensetzung 
derselben  zu  Medicamenten  und  führten  die  Dispensatorien  ein.  Die 
systematische  Anwendung  der  Destillir-Apparate  und  die  Erfindung 
einzelner  Formen  der  Arzneien  war  ihr  Verdienst. 

Ihre  chemischen  und  botanischen  Studien  kamen  ihnen  dabei  sehr 
zu  Statten.  Die  Botanik  bildete,  wie  Hadji  Khalfa  sagt,2  eine  Hilfs- 
wissenschaft der  Mediein.  Viele  Ärzte  waren  eifrige  Botaniker;  von 
Rachid  Eddin  Ibn  Aszuri  wird  erzählt,  dass  er  sich  auf  seinen  bo- 
tanischen Exemtionen  von  einem  Maler  begleiten  Hess,  welcher  die 
Pflanzen  in  ihren  verschiedenen  Entwickelungsstadien  zeichnete.3  Mo- 
hammed Ben  Ali  Ben  Farak,  der  Leibarzt  des  Fürsten  von  Cadix, 
soll  sogar  schon  einen  botanischen  Garten  angelegt  haben.4 

Die  arabischen  Ärzte  trachteten  nicht  blos  darnach,  sich  gründ- 
liche Kenntnisse  in  der  Mediein  und  in  den  Naturwissenschaften  zu 
erwerben,  sondern  widmeten  auch  den  Lehren  der  Philosophen  ein 
reges  Interesse  und  standen  an  der  Spitze  aller  liberalen  Bestrebungen. 
Die  Namen  eines  Avicenna,  Avempace,  Averroes  und  Moses  Mai- 
monides  glänzen  fast  noch  mehr  in  der  Geschichte  der  Philosophie  als 
in  derjenigen  der  Heilkunde. 

Die  Grundlage  ihrer  philosophischen  Ideen  bildete  das  Aristotelische, 
System,  welches  sie  nach  verschiedenen  Richtungen  weiter  entwickelten. 


1  K.  Sprengel:  Geschichte  der  Botanik,  Leipzig  1817,  I,  S.  205. 

2  Hadji  Khalfa:  Lexicon  bibliographicum  et  encyclopaedicum  ed.  G.  Flügel, 
London  1845,  T.  IV,  p.  114. 

3  Hadji  Khalfa  a.  a.  0.  T.  I,  p.  227,  No.  361.  —  Leclerc  a.  a.  0.  I,  564. 

4  Casiri  a.  a.  0.  T.  II,  p.  89. 


152  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Während  Avicenna  dadurch  zu  einem  teleologischen  Theismus  geführt 
wurde,  der  ihn  den  christlichen  Schulen  des  Mittelalters  empfahl ,  ge- 
langte Averroes  zu  einem  pantheistischen  Naturalismus,  welcher  wegen 
seines  rationalistischen  Charakters  nicht  nur  von  der  christlichen  Kirche 
verdammt  wurde,  sondern  ihm  auch  unter  seinen  eigenen  Landsleuten 
und  Glaubensgenossen  viele  Gegner  schuf.  Wenn  Averroes  erklärte, 
dass  die  Eeligion  nur  der  schwachen  Geister  wegen  da  sei,  dass  der 
Mensch  auch  ohne  die  Offenbarung,  nur  allein  durch  die  Vernunft  zur 
Erkenntniss  des  Wesens  der  Dinge  gelangen  könne,  wenn  er  an  die 
Stelle  einer  durch  den  allmächtigen  Willen  der  Gottheit  entstandenen 
Schöpfung  eine  nach  Art  der  Aristotelischen  Entelechien  durch  die  Zeit 
aus  dem  Zustande  der  Möglichkeit  in  denjenigen  der  Wirklichkeit  über- 
geführte Natur  setzte  und  die  Ewigkeit  der  Welt  und  der  Materie,  die 
Verschmelzung  der  Gottheit  mit  der  Natur  und  die  Wesenseinheit  der 
Vernunft  predigte,  so  rüttelte  er  an  den  Fundamenten  der  mono- 
theistischen Beligionssysteme  und  musste  einen  erbitterten  Kampf  der- 
selben erwarten.1 

Auch  sein  Schüler  und  Anhänger,  der  jüdische  Arzt  Moses  Mai- 
monldes  erfuhr  dies,  als  er  den  Versuch  machte,  die  Vorschriften  des 
Talmuds  mit  den  Forderungen  der  Vernunft  zu  versöhnen.  Er  eröffnete 
der  freieren  Richtung  im  Judenthum  die  Bahn.  „Von  Spinoza  bis  zu 
Mendelssohn  hat,"  wie  Munk  sagt,  „das  Judenthum  keinen  frei- 
sinnigen Denker  hervorgebracht,  der  nicht  von  Maimonedes  die  erste 
Weihe  erhalten  hat." 

In  den  Ländern  des  Islams  herrschte  während  der  ersten  Jahr- 
hunderte seines  Bestehens  eine  religiöse  Toleranz  gegen  Andersgläubige, 
wie  sie  bei  den  Christen  zu  jener  Zeit  nirgends  gefunden  wurde.  Die 
höheren  Lehranstalten  und  medicinischen  Schulen  der  Araber  hatten 
unter  ihren  Lehrern  ebenso  wie  unter  ihren  Schülern  viele  Juden, 
Christen  und  Bekenner  anderer  Religionen.  An  ihren  Hospitälern 
wurden  nicht  blos  mohammedanische,  sondern  auch  christliche  und 
jüdische  Ärzte  angestellt,  und  Kranke,  welche  nicht  dem  herrschenden 
Glauben  angehörten,  fanden  dort  ebenfalls  freundliche  Aufnahme  und 
wohlwollende  Pflege. 

Schon  der  Prophet  MÄiammed  selbst  hatte  seinen  Anhängern  einen 
Ungläubigen  als  Arzt  empfohlen.2  An  den  Höfen  der  Khalifen  und 
mohammedanischen  Fürsten  spielten  Juden  und  Christen,  namentlich 
Xestorianer,  als  Leibärzte  eine  hervorragende  Rolle;  auch  zu  anderen 
einflussreichen  Stellungen  im  Sanitätswesen  wurden  sie  befördert. 

1  E.  Renan:  Averroes  et  TAverroi'sme,  Paris  1860. 

2  v.  Hammer-Purgstall  a.  a.  0.  II,  S.  192.  —  Abulfarag  a.  a.  0.  p.  99. 


Medicin.  Wissenschaft  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.        153 


Die  Ausübung"  der  ärztlichen  Praxis  stand  Anfangs  Jedem  frei; 
aber  allmälig  wurde  es  üblich,  dass  sich  die  Ärzte  von  den  Lehrern, 
welche  sie  in  der  Heilkunst  unterrichtet  hatten,  Zeugnisse  geben  Hessen, 
weil  sie  dadurch  dem  Publikum  grösseres  Vertrauen  einflössten. 1  Ein 
ärztlicher  Missgriff,  welcher  den  Tod  eines  Patienten  zur  Folge  hatte, 
war  die  Veranlassung,  dass  i.  J.  931  alle  Ärzte  von  Bagdad  und  der 
Umgegend  aufgefordert  wurden,  sich  prüfen  zu  lassen;  nur  den  Ärzten 
des  Hofes  und  solchen  Ärzten,  deren  Tüchtigkeit  allgemein  anerkannt 
war,  wurde  das  Examen  erlassen.  Alle  übrigen  Heilkünstler,  deren 
Zahl  860  betrug,  mussten  ihre  Befähigung  zum  ärztlichen  Beruf  durch 
eine  Prüfung  nachweisen,  welche  der  Leibarzt  des  Khalifen,  Sinan 
Ben  Tsabet  Ben  Coera  abnahm.2  Meyek3  glaubt,  dass  dies  nur 
eine  vorübergehende,  gegen  die  Charlatane  gerichtete  Polizeimassregel 
war,  weil  kein  Nachfolger  dieses  Examinators  genannt  wurde;  aber 
ähnliche  Einrichtungen  bestanden  zu  Bagdad  auch  im  12.  Jahrhundert 
und  in  Cordova  schon  früher.4  Es  scheint  mir  darnach  nicht  zweifelhaft, 
dass  die  Anfänge  des  ärztlichen  Prüfungswesens  bei  den  Arabern  zu 
suchen  sind. 

Wie  bei  allen  orientalischen  Völkern,  so  war  es  auch  bei  den 
Arabern  eine  häufige  Erscheinung,  dass  der  Sohn  den  Beruf  des  Vaters 
wählte.  Einzelne  Familien,  wie  die  Bachtischua,  deren  Stammtafel 
Meyer  zusammengestellt  hat,5  die  Corra,6  die  Honein  und  die  Zohr,7 
welcher  Avenzoar  angehörte,  lieferten  durch  mehrere  Generationen 
Ärzte,  von  denen  Einzelne  sehr  berühmt  wurden.  Auch  auf  anderen 
Gebieten  der  Gelehrsamkeit  war  dies  der  Fall,  wie  das  von  Wüsten- 
feld8 angeführte  Beispiel  der  Familie  Sobki  beweist. 

Manche  Ärzte  beschränkten  ihre  Thätigkeit  auf  einen  speciellen  Theil 
der  Medicin,  z.  B.  die  Augenheilkunde. 

Schon  in  früher  Zeit  wurde  die  Einrichtung  getroffen,  dass  Proto- 
medici  ernannt  wurden,9  welche,  wenn  dies  nicht  blos  ein  Titel  war, 
die  Aufsicht  über  die  übrigen  Ärzte  führten.  Wahrscheinlich  war  dieses 
Amt  stets  mit  demjenigen  des  Leibarztes  verbunden.  Vielleicht  hing 
es  mit  der  Einführung  der  ärztlichen  Prüfungen  zusammen? 


1  Leclerc  a.  a.  0.  I,  574. 

2  Casiri  a.  a.  O.  T.  I,  p.  438.  —  Leclerc  a.  a.  0.  I,  576. 

3  Meyer  a.  a.  0.  III,  122.  4  Leclerc  a.  a.  0.  I,  577. 

5  Meyer  a.  a.  0.  III,  109. 

6  Wüstenfeld:  Gesch.  d.  arab.  Ärzte,  S.  34  u.  ff. 

7  Wüstenfeld  a.  a.  0.  S.  88  u.  ff. 

8  Wüstenfeld:  Akademien  der  Araber,  S.  119. 

9  Leclerc  a.  a.  0.  I,  576. 


154  Der  medieinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

Ibn  Beithar,  der  Verfasser  des  besten  arabischen  Werkes  über 
die  Arzneimittel,  welcher  am  ägyptischen  Hofe  als  Leibarzt  wirkte, 
wurde  zum  Vorgesetzten  aller  Ärzte  und  Herboristen  (Apotheker?)  dieses 
Landes  ernannt. 

Die  Ärzte  nahmen  im  socialen  Leben  eine  bevorzugte  Stellung  ein; 
manche  erlangten  als  Freunde  und  Rathgeber  der  Herrscher  grossen 
Einfluss.  Die  Leibärzte  an  dem  Hofe  der  Khalifen  erhielten  reichen1 
Besoldungen  und  Geschenke,  als  andere  Gelehrte  und  Beamte,1  und 
wurden  mit  Ehren  und  Auszeichnungen  überhäuft.  Nicht  Wenige  er- 
langten die  Würde  des  Vezirs,  welche,  wenn  auch  nicht  immer  dem 
Range  eines  Ministers,  so  doch  jedenfalls  demjenigen  unserer  geheimen 
Häthe  und  Hofräthe  entsprach.2 

Andererseits  scheint  es  dem  ärztlichen  Stande  auch  nicht  an  jenen 
Elementen  gefehlt  zu  haben,  welche  das  Publikum  mit  den  unlauteren 
Mitteln  der  Charlatanerie  anlocken.  Rhazes  fühlte  sich  dadurch  sogar 
veranlasst,  eine  Schrift  zu  verfassen  „über  die  in  der  medicinischen 
Kunst  vorkommenden  Umstände,  welche  die  Herzen  der  meisten  Men- 
schen von  den  achtbarsten  Ärzten  ablenken  und  den  niedrigsten  zu- 
wenden."3 

Die  arabischen  Ärzte  Hessen  der  idealen  Aufgabe  ihres  Berufes 
zwar  volle  Anerkennung  zu  Theil  werden;  aber  sie  huldigten  einer 
nüchternen  Auffassung  des  Lebens  und  nahmen  die  Dinge,  wie  sie 
wirklich  sind,  nicht,  wie  sie  sein  sollten.  In  dem  „Führer  der  Ärzte", 
als  dessen  Autor  der  Jude  Isak  Israeli  gilt,  werden  ihnen  Lebens- 
regeln ertheilt,  welche  davon  Zeugniss  geben.  Dort  heisst  es:  „Die 
wichtigste  Aufgabe  des  Arztes  ist  es,  Erkrankungen  zu  verhüten."  — 
Die  meisten  Krankheiten  heilen  ohne  Beistand  des  Arztes  durch  die 
Hilfe  der  Natur."  —  „Vermagst  Du  den  Kranken  durch  diätetische 
Mittel  zu  heilen,  so  unterlass  die  Verordnung  von  Arzneien!"  —  „Ver- 
lass  Dich  bei  Deinen  Kuren  niemals  auf  Wundermittel,  da  sie  meistens 
auf  Thorheit  und  Aberglauben  beruhen!"  —  „Stelle  den  Kranken  die 
Genesung  in  Aussicht,  selbst  wenn  Du  auch  nicht  davon  überzeugt 
bist;  denn  Du  wirst  dadurch  jedenfalls  das  Heilbestreben  der  Natur 
unterstützen."  —  „Wenn  der  Arzt  von  weither  gekommen  ist  und 
eine  fremde  Sprache  redet,  dann  hält  ihn  die  Menge  für  klug,  drängt 
sich  zu  ihm  und  sucht  seinen  Rath."  —  „Sprich  niemals  ungünstig 
über   andere  Ärzte;    denn    ein  Jeder   hat  seine   glücklichen   und   seine 


n 


1  v.  Hammer-Purostall  a.  a.  0.  Bd.  I,  Einleit.,  p.  L. 

2  Leclerc  a.  a.  0.  I,  578. 

3  M.  Steinschneider  in  Vtrchow's  Archiv,  Bd.  36,  S.  574  u.  ff. 


Medicin.  Wissenschaft  u.  medicin.  Unterricht  bei  den  Arabern.        155 


unglücklichen  Stunden.  Lass  Deine  Thaten  Dich  rühmen,  nicht  Deine 
Zunge!"  —  „Besuche  den  Kranken,  wenn  es  ihm  am  schlimmsten  er- 
geht. In  dieser  Zeit  verständige  Dich  mit  ihm  über  Deinen  Lohn; 
denn  wenn  der  Kranke  gesund  ist,  erinnert  er  sich  an  nichts."  — 
..Stelle  Dein  Honorar  so  hoch  als  möglich;  denn  was  Du  unentgeltlich 
thust,  wird  für  gering  geachtet !"  —  „Lass  Dir  die  Heilung  von  Fürsten 
und  Reichen  angelegen  sein;  denn  sie  werden  nach  ihrer  Genesung 
gegen  Dich  freigebig  sein,  Dich  stets  preisen  und  lieben,  während  die 
gemeinen  Leute  Dich,  wenn  sie  geheilt  sind,  noch  hassen,  wenn  sie  an 
das  Honorar  denken."1  —  Sollte  man  nicht  glauben,  dieses  Buch  wäre 
gestern  geschrieben?  — 

Die  arabische  Cultur  sank  fast  ebenso  rasch  von  ihrer  Höhe  herab, 
als  sie  dieselbe  erklommen  hatte.  Die  berühmten  Schulen  der  Nesto- 
rianer  waren  schon  im  9.  Jahrhundert  im  Verfall.2  Die  höheren  Lehr- 
anstalten der  Araber  erhielten  sich  bis  ins  14.  Jahrhundert  und  gingen 
dann  allmälig  oder  rasch  zu  Grunde,  und  mit  ihnen  schwand  auch 
das  wissenschaftliche  Leben,  welches  der  Menschheit  so  reiche  Früchte 
getragen  hatte. 

Die  Religionskriege,  welche  im  Osten  unter  dem  Namen  der  Kreuz- 
züge von  einigen  beutegierigen  Abenteurern  unternommen  wurden  und 
im  Westen  zur  Eroberung  Spaniens  und  der  süditalienischen  Inseln 
durch  christliche  Fürsten  führten,  riefen  den  Glaubensfanatismus  der 
Mohammedaner  hervor3  und  lähmten  ihr  geistiges  Streben.  Die  mon- 
golischen und  türkischen  Stämme,  die  im  13.  Jahrhundert  sengend  und 
mordend  in  die  Länder  der  arisch-semitischen  Welt  einbrachen,  zer- 
traten die  alten  Culturstätten  Asiens  und  verwandelten  blühende  Städte 
in  wüste  Einöden.  Der  Orient  hat  sich  von  diesem  Schlage  niemals 
wieder  erholt,  und  die  türkische  Herrschaft  wurde  gleichbedeutend  mit 
dem  geistigen  Tode.  Aber  im  christlichen  Abendlande  bildeten  die 
Ausläufer  der  arabischen  Cultur  die  Keime  zu  dem  geistigen  Auf- 
schwünge, welcher  an  den  Schulen  von  Salerno  und  Montpellier  seine 
ersten  Triumphe  feierte. 


1  Soave  im  Giorn.  Veneto  di  scienze  mediche  1861,  ser.  II,  t.  18,  p.  393 
u.  ff.  —  D.  Kaufmann  im  Magazin  f.  d.  Wissensch.  d.  Judenthums,  Berlin  1884, 
S.  97  u.  ff. 

2  Assemani  a.  a.  0.  III,  pars  II,  p.  940. 

3  v.  Kremer:   Ibn  Chaldun  und  seine  Culturgeschichte ,  Wien  1879,  S.  39. 


156  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Die  Medicin  der  Germanen  und  der  Unterricht 
in  den  Klosterschulen. 

Die  germanischen  Stämme,  welche  nach  der  sogenannten  Völker- 
wanderung in  der  westlichen  Hälfte  des  römischen  Reiches  zur  Herr- 
schaft gelangten,  standen  im  5.  Jahrhundert  längst  nicht  mehr  auf 
der  niedrigen  Culturstufe,  wie  sie  Tacitus  geschildert  hat. x  Im  Kriege 
wie  im  Frieden  waren  sie  mit  den  Römern  in  Verkehr  getreten  und 
hatten  deren  Überlegenheit  in  den  Wissenschaften  und  Künsten  kennen 
gelernt.  Als  Soldaten  im  römischen  Heere,  als  freudig  begrüsste  Bundes- 
genossen oder  als  Geissein  für  die  beschworenen  Verträge  erhielten  sie 
Gelegenheit,  die  Vortheile  der  römischen  Cultur  zu  gemessen  und  Kennt- 
nisse zu  erwerben,  welche  sie  ihren  Landsleuten,  die  in  der  Heimath 
zurückgeblieben  waren,  übermittelten.  Die  Keime  edler  Gesittung  im 
germanischen  Volke,  welchen  Tacitus  ein  bewunderungsvolles  Lob 
spendet,  wurden  durch  die  höhere  Bildung  veredelt  und  weiter  ent- 
wickelt. 

Als  die  Stämme  der  Gothen  und  andere  deutsche  Völker  aus  ihren 
bisherigen  Wohnsitzen  durch  die  von  Osten  andrängenden  Horden  der 
Hunnen  vertrieben  wurden,  und  von  Thatendurst  und  Sucht  nach  Reich- 
thum  und  Macht  erfüllt,  ihre  weltgeschichtlichen  Wanderungen  antraten, 
besassen  sie  bereits  eine  Schriftsprache,  ein  geordnetes  Staatswesen,  eine 
gesicherte  Rechtspflege  und  mancherlei  Kenntnisse  auf  den  verschie- 
denen Gebieten  des  geistigen  Lebens.  In  der  Heilkunde  huldigten  sie 
der  Anschauung,  dass  die  Krankheiten  durch  überirdische  Gewalten 
erzeugt  würden,  welche  durch  Gebete  und  Zauberei  versöhnt  werden 
müssen;  aber  sie  versäumten  darüber  nicht  die  Anwendung  heilkräftiger 
Kräuter  und  anderer  Mittel,  deren  günstige  Wirkung  die  Erfahrung 
gelehrt  hatte.  Den  Frauen,  welche  im  germanischen  Leben  eine  sehr 
hervorragende  Rolle  spielten,  lag  es  hauptsächlich  ob,  die  WTunden  zu 
verbinden  und  die  Kranken  zu  pflegen. 2 

Erst  allmälig,  vorzugsweise  unter  dem  Einfluss  der  römischen  Cultur, 
entwickelte  sich  bei  ihnen  ein  eigentlicher  ärztlicher  Stand.  Die  grie- 
chischen und  römischen  Ärzte,  welche  durch  den  Beruf  eines  Militär- 
arztes zu  ihnen  geführt  wurden  oder,  wie  Oeibasius  und  Anthimus, 
in  der  Verbannung  oder  als  Gesandte  bei  ihnen  weilten,  dürften  dazu 
nicht  wenig  beigetragen  haben. 


1  Tacitus:   Germania,   c.  5,    19   u.  a.  0.  —  Gibbon  a.  a.  0.    c.  9.  —  Rev. 
scient.,  Paris,  oct.  1873. 

2  Tacitus  a.  a.  0.  c.  7.  8.  18. 


Die  Mediein  der  Germanen  u.  der  Unterrieht  in  den  Klosterschulen.    157 

Wenn  Guizot1  sagt,  dass  es  schwer  sei,  die  geistigen  Zustände 
der  Germanen  vor  der  Völkerwanderung  zu  schildern,  so  gilt  dies  be- 
sonders von  der  Heilkunde.  Aus  der  vergleichenden  Linguistik  ergiebt 
sich  allerdings,  dass  sie  bestimmte  Bezeichnungen  für  einzelne  Krank- 
heiten hatten,2  und  die  Analogie  mit  der  Culturentwickelung  anderer 
Völker,  namentlich  mit  den  Zuständen  der  Germanen  des  Nordens,  lässt 
manche  Folgerungen  zu. 

Auch  dort  übten  weise  Frauen  die  Heilkunst  aus,  und  man  ver- 
ehrte sogar  eine  weibliche  Gottheit  der  Heilkunde,  Eir  mit  Namen.3 
Brunhilde,  „die  Ärztin",  und  die  Nornen  verstanden  die  Kunst  des 
Entbindens.  Wenn  Sigrdrifa  (Brunhilde)  zu  Sigurdr  sagt,  dass  er 
Eunen  einer  gewissen  Art  kennen  müsse,  damit  das  Kind  von  der 
Mutter  gelöst  werde,  und  wenn  es  vom  Jarlssohn  Konr  heisst,  dass  er 
die  Runen  kannte  und  den  Frauen  bei  der  Entbindung  Beistand  leistete, 
so  handelt  es  sich  offenbar  um  mystische  Zauberformeln,  denen  ein 
wunderbarer  Einfluss  auf  den  Geburtsakt  zugeschrieben  wurde.  Auch 
Held  Gönguhrolf  half  bei  der  Entbindung,  indem  er  die  Hände  auf- 
legte. Fürsten  und  Helden  galten,  wie  schon  Odhin,  der  Arzt,  als  be- 
sonders erfahren  in  der  Heilkunde;4  es  deutet  dies  vielleicht  darauf 
hin,  dass  die  letztere  vorzugsweise  von  den  angesehenen  Männern, 
welche  an  der  Spitze  eines  grossen  Haushalts  standen,  ausgeübt  wurde, 
ähnlich  wie  es  noch  zur  Zeit  Cato's  in  Rom  geschah. 

Unter  den  Krankheiten,  welche  genannt  werden,  treten  Geistes- 
störungen, Impotenz,  aber  am  häufigsten  die  chronischen  Geschwüre 
des  Unterschenkels  auf,  welche  manchmal  sogar  tödtlich  endeten.  Mit 
der  Behandlung  der  Wunden  wusste  man  recht  gut  Bescheid.  Selbst 
die  Amputation  wurde  ausgeführt  und  der  Verlust  des  Unterschenkels 
durch  künstliche  Nachbildungen  aus  Holz  ersetzt.  Die  Stelzfüsse  waren, 
wie  es  scheint,  nicht  selten.  Auch  von  der  Bauchnaht  ist  die  Rede. 
Doch  stammen  diese  Mittheilungen  aus  der  Zeit  der  Wikinger-Fahrten, 
in  welcher  schon  Berührungen  zwischen  den  Germanen  des  Nordens 
und  den  entwickelteren  Culturzuständen  weiter  vorgeschrittener  Völker 
stattfanden. 


1  Guizot:  Cours  d'histoire  moderne.  Histoire  de  la  civilisation  en  France, 
Bruxelles  1829,  I,  p.  204. 

2  Ad.  Pictet:  Die  alten  Krankheits-Namen  bei  den  Indogermanen  in  der 
Zeitschr.  f.  vergl.  Sprachforschung,  Bd.  V,  S.  321  u.  ff. 

3  K.  Weinhold:  Altnordisches  Leben,  Berlin  1856,  S.  385  u.  ff. 

4  Sigurdharkoida  I,  17.  Fafnismal  12.  Sigrdrifumal  9.  Rigsmal  40.  For- 
nalda  sögur  III,  276.  Saxo  Gramm.  I,  1,  25.  33.  128.  Prof.  R.  Heinzel  in  Wien 
hatte  die  Güte,  mich  auf  diese  Stellen  aufmerksam  zu  machen. 


158  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Snorri  Sturluson  und  Heafn  Sweinbiörnsson  erlangten  durch 
ihre  glücklichen  Kuren  einen  grossen  Kuf.  Der  letztere  soll  sogar  den 
Blasensteinschnitt  mit  glücklichem  Erfolg  ausgeführt  haben.1  Der 
mythische  Vitolf  galt  als  der  Patron  der  nordischen  Chirurgen. 2  Ingigerd, 
des  Kussenkönigs  Ingvar  Tochter,  gründete  ein  kleines  Hospital  und 
übergab  dem  lindhändigen  Frauenvolk  die  Pflege  der  Kranken.3 

Im  10.  Jahrhundert  gab  es  in  Norwegen  bereits  eine  Menge  von 
Ärzten,  welche  ihre  Kunst  gewerbsmässig  ausübten;  man  hatte  sogar 
schon  Hausärzte,  welche  reichlich  belohnt  wurden.4  Es  existirte  auch 
bereits  eine  Medicinaltaxe ;  die  Höhe  des  ärztlichen  Honorars  richtete 
sich  nach  der  Schwere  des  Leidens,  welches  geheilt  worden  war. 

In  dem  Südermannländischen  Gesetzbuch,  das  allerdings  erst  1327 
veröffentlicht  wurde,  aber  auf  alten  Einrichtungen  beruht,  wurde  be- 
stimmt, dass  nur  Derjenige  als  Arzt  anerkannt  werde,  der  eine  Hieb- 
wunde, einen  Knochenbruch,  eine  innere  Verletzung,  eine  Verstümme- 
lung oder  eine  tiefe  Stichwunde  geheilt  hat.  Die  Geburtshilfe  blieb 
natürlich  den  Frauen  überlassen.  Übrigens  wird  bereits  des  Kaiser- 
schnitts gedacht. 

Es  wäre  unrichtig,  wenn  man  diese  Nachrichten,  von  denen  ein- 
zelne offenbar  das  Gepräge  späterer  Cultur-Einflüsse  zeigen,  auf  die 
Germanen  der  ersten  Jahrhunderte  übertragen  wollte,  wie  es  von 
manchen  medicinischen  Historikern  geschehen  ist.  Sie  berechtigen 
höchstens  zu  einigen  Vermuthungen  über  den  Zustand  der  Heilkunde 
bei  ihnen. 

Die  Kenntnisse  und  Einrichtungen,  welche  die  Gothen,  die  Longo- 
barden,  die  Franken,  die  Burgunder  und  andere  germanische  Stämme 
aus  ihrer  Heimath  in  die  von  ihnen  unterworfenen  Länder  mitbrachten, 
verschmolzen  rasch  mit  Dem,  was  die  vorangegangenen  Culturperioden 
dort  zurückgelassen  hatten.  Die  Bereitwilligkeit,  mit  welcher  sich  die 
Sieger  der  höheren  Bildung  der  besiegten  Völker  fügten,  zeigt,  dass  sie 
fähig  und  reif  genug  waren,  dieselbe  in  sich  aufzunehmen.  Ihre  Heil- 
kunde ging  auf  in  dem  medicinischen  Lehrgebäude,  welches  die  Griechen 
und  Römer  aufgerichtet  hatten.  Nur  in  der  Volksmedicin  erhielten 
sich  einzelne  Erinnerungen  an  die  Arzneikunde  der  Kelten,  Basken, 
Gaelen,  Gothen  und  Angelsachsen. 

In   den   Gesetzen    der  Westgothen,    welche    zum  Theil   schon  im 


1  Sagenbibliothek  des  skandinav.  Alterthums,  herausg.  von  P.  E.  Müller, 
übers,  von  K.  Lachmann,  Berlin  1816,  S.  176.  —  L.  Faye:  Rafn  Sweinbjörnsens 
liv  og  virksomhed,  Kristiania  1878. 

2  Geimm:  Mytholog.  994.  1101.  3  Weinhold  a.  a.  0.  S.  390. 
4  Vapnfirdlinga  saga,  e.  13.  29. 


Die  Mediüin  der  Germanen  u.  der  Unterricht  in  den  Kloster  schulen.    159 

5.  Jahrhundert  niedergeschrieben  wurden,  aber  ohne  Zweifel  viele  rö- 
mische Elemente  enthalten,  wurde  vorgeschrieben,1  wie  viel  der  Arzt 
für  verschiedene  Kuren,  z.  B.  die  Staaroperation ,  verlangen  durfte. 
Bevor  er  dieselbe  unternahm,  schloss  er  mit  dem  Kranken  oder  dessen 
V erwandten  einen  Vertrag,  in  welchem  das  ärztliche  Honorar  festgestellt 
wurde;  doch  durfte  er  darauf  nur  Anspruch  machen,  wenn  die  Behand- 
lung einen  günstigen  Erfolg  hatte.  Im  anderen  Falle  musste  er  für 
den  unglücklichen  Ausgang  derselben  haften.  Wurde  dadurch  der  Tod 
eines  Leibeigenen  herbeigeführt,  so  wurde  er  genöthigt,  den  Schaden 
zu  ersetzen;  handelte  es  sich  um  Nachtheile,  die  der  Gesundheit  oder 
dem  Leben  eines  Freigeborenen  zugefügt  worden  waren,  so  wurde  er 
zu  einer  entsprechenden  Geldstrafe  verurtheilt  oder  den  Verwandten 
des  Geschädigten  oder  Verstorbenen  zur  Bestrafung  überliefert. 

Bezeichnend  für  die  sociale  Stellung,  welche  der  Arzt  einnahm,  ist 
es,  dass  er  weibliche  Personen  aus  dem  Stande  der  Freien  nur  in 
Gegenwart  ihrer  Verwandten  oder  Dienstboten  sehen  und  behandeln 
durfte,  damit  er  derartige  Gelegenheiten  nicht  zu  unsittlichen  Scherzen 
missbrauchte.  Das  westgothische  Becht  enthielt  auch  Bestimmungen 
über  die  geistige  Zurechnungsfähigkeit,  über  die  Strafen  der  Verbrechen 
gegen  die  Person,  z.  B.  deren  Verletzung  und  Verstümmelung,  über 
Kindesabtreibung  und  über  geschlechtliche  Vergehen. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  darin  enthaltene  Verordnung^ 
dass  der  Arzt  für  den  Unterricht  in  der  Heilkunde,  den  er  seinem 
Schüler  ertheilte,  ein  Lehrgeld  von  12  Solidi  zu  fordern  berechtigt 
war;  es  geht  daraus  hervor,  dass  die  Ärzte  wie  im  Alterthum  durch 
die  persönliche  Unterweisung  eines  Meisters  in  ihrer  Kunst  ausgebildet 
wurden. 

Die  Gesetzbücher  der  Alemannen,  Salier,  Ripuarier,  Burgunder, 
Bajuvaren,  Friesen,  Sachsen  und  Longobarden  enthalten  ebenfalls  Be- 
stimmungen über  die  Strafen  von  Verletzungen  und  anderer  Verbrechen 
gegen  die  Person.2 

Die  Erziehung  der  Ärzte  geschah  handwerksmässig.  Der  Lehrling 
der  Heilkunde  begab  sich  zu  einem  angesehenen  Arzt,  der  ihn  mit 
mechanischen  Kenntnissen  ausrüstete.  Manche  Ärzte  suchten  ihr  Wissen 
in  den  grossen  Städten  des  byzantinischen  Reiches  und  Italiens  zu  ver- 
vollständigen. Auch  befanden  sich  unter  ihnen  viele  Griechen,  Römer 
und  Juden,  welche  namentlich  als  Ärzte  an  den  fürstlichen  Höfen  ge- 
sucht waren. 


1  Leg.  Wisigoth,  Hb.  XI,  tit.  1,  de  medicis  et  aegrotis.  —  F.  Dahn:  West- 
gothische Studien,  Würzburg  1874,  S.  3.  61.  145.  220.  229.  230  u.  m. 

2  Corpus  juris  German.  antiq.  ed.  F.  Walter,  Berol.  1824,  T.  I. 


160  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

Der  griechische  Arzt  Petrus1  wirkte  als  Leibarzt  des  Westgothen- 
Königs  Theodorich  IL  Am  Hofe  der  Merovinger  bekleideten  dieses 
Amt  Marileif  von  Poitiers,  welcher  sich  aus  dem  niedrigsten  Stande 
zu  dieser  Stellung  emporgeschwungen  hatte,  und  Keoval,  der  seine 
ärztliche  Bildung  in  Konstantinopel  erworben  hatte.2  Der  letztere 
führte  eine  Hoden-Exstirpation  mit  glücklichem  Erfolge  aus.  Die  Thätig- 
keit  eines  Leibarztes  am  fränkischen  Hofe  war  zwar  sehr  einträglich, 
wie  die  Keichthümer  Marileif's  beweisen,  aber  auch  mit  manchen 
Gefahren  verbunden.  Als  Austrigildis,  die  Gemahlin  des  Königs  Gun- 
tram,  von  einer  Seuche,  welche  i.  J.  580  wüthete,  dahingerafft  wurde, 
verlangte  sie,  dass  ihre  beiden  Ärzte  Nicolaus  und  Donatus  sofort 
nach  ihrem  Tode  hingerichtet  würden,  zur  Strafe  dafür,  dass  sie  sie 
nicht  gerettet  hatten,  und  der  fromme  Guntram  hielt  sich  für  ver- 
pflichtet, den  letzten  Wunsch  seiner  sterbenden  Gattin  zu  erfüllen.3 

Karl  der  Grosse  soll  arabische  Ärzte  zu  Eath  gezogen  haben,  wie 
Bulaeus  und  Freind  behaupten;4  doch  sind  diese  xingaben,  wenn  sie 
auch  bei  dem  Ansehen,  welches  damals  die  arabische  Medicin  genoss, 
gerade  nicht  unwahrscheinlich  klingen,  doch  nicht  durch  den  Nachweis 
der  Quellen  verbürgt.  Sicher  ist,  dass  einer  seiner  Leibärzte  den  deut- 
schen Namen  Wintarus  führte.5 

Im  Leben  Ludwigs  des  Frommen  wird  erzählt,  dass  die  Gemahlin 
Karls,  Hildegard,  ihm  zwei  Söhne  gebar,  von  denen  der  eine  sofort 
nach  der  Geburt  gestorben  sei,  der  andere,  nämlich  Ludwig,  aus  dem 
Schooss  der  Mutter  gehoben  und  künstlich  ernährt  worden  sei.6  Ob 
es  sich  dabei  um  den  Kaiserschnitt  oder  um  eine  durch  Manualhilfe 
vollzogene  Geburt  handelt,  ist  ungewiss.  Der  grosse  Karl  hatte  übrigens 
über  die  Medicin  eine  geringe  Meinung,7  welche  sich  vielleicht  aus 
dem  verwahrlosten  Zustande  der  Heilkunde  seiner  Zeit  erklärt. 

Es  war  daher  begreiflich,  dass  er  bemüht  war,  diese  Wissenschaft 
zu  heben  und  die  Kenntniss  derselben  zu  verbreiten.  Aus  diesem 
Grunde  erliess  er  in  dem  Capitulare  von  Diedenhofen  (Thionville) 
v.  J.  806  die  Vorschrift,  dass  die  Knaben  in  der  Heilkunst  unterrichtet 
werden  sollten.8     Meyer9  glaubt,    dass   sie   nur    eine  Anleitung   zur 


1  Fredegar:  Chron.,  c.  27,  übers,  v.  0.  Abel. 

2  Gregor  v.  Tours  V,  14.  VII,  25.  X,  15.  8  Gregor  v.  Tours  V,  35. 

4  Freind:  Hist.  med.,  p.  148. 

5  Eigil's  Leben  des  Abtes  Sturm  von  Fulda,  c.  25,  Ed.  Migne,  T.  105,  p.  443. 

6  J.  L.  W.  Schmidt  im  Progr.  des  hess.  Gymnas.  zu  Giessen  1872,  S.  5. 

7  Einhard:  Vita  Caroli  Magni,  c.  22,  ed.  Pertz,  Hanno v.  1863. 

8  Pertz:    Mon.   Germ.   III,   p.  131,    De    medicinali  arte    ut  infantes  hanc 
discere  mittantur.  9  Meyer  a.  a.  0.  III,  413. 


Die  Medicin  der  Germanen  u.  der  Unterricht  in  den  Klosterschulen.    161 


Krankenpflege  erhalten  hätten,  da  man  „Kinder  doch  nicht  Medicin 
studieren  lasse".  Aber  das  Studium  dieser  Wissenschaft  wurde  im 
Alterthum  schon  in  früher  Jugendzeit  begonnen.  Ausserdem  befanden 
sich  in  den  Schulen  jener  Zeit  Knaben  von  14  und  15  Jahren.1 

Übrigens  wird  sich  dieser  Unterricht  zunächst  wohl  nur  auf  die 
Lektüre  medicinischer  Schriften  des  Alterthums,  welche  erklärt  wurden, 
beschränkt  haben,  wie  dies  auch  in  vielen  Klosterschulen  der  Fall  war. 
Später  lernten  die  Schüler  die  Arzneipflanzen  kennen,  wozu  ihnen  in 
den  kaiserlichen  Gärten  Gelegenheit  geboten  wurde.2 

Auch  die  Ausübung  der  praktischen  Heilkunde  scheint  man  in 
den  Bereich  des  Unterrichts  gezogen  zu  haben.  Die  Worte  in  Alcuin's 
Gedicht  an  Karl  den  Grossen3  lassen  sich  kaum  anders  deuten,  als 
dass  in  der  Nähe  des  Hofes  ein  Krankenhaus  bestand,  in  welchem  die 
Ärzte  ihre  verschiedenen  Yerrichtungen  vornahmen.  „Der  Eine  öffnete 
den  Kranken  die  Ader,  ein  Anderer  mischte  Kräuter  im  Topf,  Jener 
kochte  einen  Brei,  während  Dieser  ein  Getränk  bereitete." 

Als  Vorbild  für  diese  Einrichtungen  dienten  wahrscheinlich  die 
Krankenanstalten,  welche  mit  vielen  Klöstern  verbunden  waren.  Die 
Mönche  beschäftigten  sich  eifrig  mit  der  Krankenpflege.  „Lernet  die 
Eigenschaften  der  Kräuter  und  die  Mischungen  der  Arzneien  kennen," 
rief  ihnen  Cassiodor  zu;4  „aber  setzt  alle  euere  Hoffnung  auf  den 
Herrn,  der  Leben  ohne  Ende  gewährt.  Wenn  euch  die  Sprache  der 
Griechen  nicht  unbekannt  ist,  so  habt  ihr  das  Kräuterbuch  des  Dio- 
skorldes,  welcher  die  Pflanzen  des  Feldes  mit  überraschender  Kichtig- 
keit  beschrieben  und  abgebildet  hat.  Nachher  lest  den  Hippokrates 
und  Galen  in  lateinischer  Übersetzung,  d.  h.  die  Therapeutik  des  letz- 
teren, welche  er  an  den  Philosophen  Glaucon  gerichtet  hat,  und  das 
Werk  eines  ungenannten  Verfassers,  welches,  wie  die  Untersuchung 
ergiebt,    aus   verschiedenen    Autoren    zusammengetragen    ist.      Ferner 


1  J.  Ch.  F.  Baehr:  De  literarum  studiis  a  Carolo  Magno  revocatis  ac  schola 
Palatina  instaurata,  Heidelberg  1856,  S.  26,  Anm.  33. 

2  Capit.  de  villis.     Vergl.  Meyer  a.  a.  0.  III,  S.  397  u.  ff. 

3  Alcuinii  carmina,  Ed.  E.  Dümmler  in  Mon.  Germ.  Poet,  lat.,  t.  I,  p.  245, 
No.  XXVI,  v.  12—16. 

Accurrunt  medici  mox  Hippocratica  secta; 
Hie  venas  fundit  herbas  hie  miscet  in  olla, 
Ille  coquit  pultes,  alter  sed  pocula  praefert; 
Et  tarnen,  o  medici,  eunetis  impendite  gratis 
Ut  manibus  vestris  adsit  benedictio  Christi. 

Wenn  man  anstatt  secta  in  der  ersten  Zeile  teeta  liest,  so  erscheint  die  Beziehung 

auf  ein  Hospital  noch  deutlicher. 

4  Cassiodor:  Inst,  divin.  lect.  I,  c.  31. 

Puschmann,   Unterricht.  \\ 


162  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

studiert  die  Medicin  des  Aurelius  Caelius,  das  Buch  des  Hippokrates 
über  die  Kräuter  und  Heilmethoden  und  verschiedene  andere  Schriften 
über  die  Heilkunst,  welche  ich  in  meiner  Bibliothek  aufgestellt  und 
euch  hinterlassen  habe." 

Unter  den  Benediktinern  machten  sich  Einige,  wie  der  Abt  Ber- 
tharius  zu  Monte-Casino  im  9.  Jahrhundert,  als  Ärzte  vortheilhaft  be- 
kannt. l  Vielleicht  schon  in  früher  Zeit  wurden  dort  fromme  Pilger 
und  Kranke  aufgenommen  und  gepflegt,  wie  es  der  Gründer  des  Ordens, 
der  hl.  Benedikt,  im  Orient  gesehen  und  dann  vorgeschrieben  hatte. 
Doch  stammen  die  sicheren  Nachrichten  darüber,  dass  in  Monte- 
Casino  Anstalten  dieser  Art  bestanden,  erst  aus  dem  11.  und  12.  Jahr- 
hundert. 2 

Die  Sitte,  die  hilfsbedürftigen  Kranken  in  die  Kirchen  und  Klöster 
zu  bringen,  damit  die  Priester  sie  mit  Weihwasser  besprengen  und  für 
ihre  Genesung  Gebete  verrichten,  erlangte  in  den  ersten  Jahrhunderten 
des  Mittelalters  allgemeine  Verbreitung.  Daraus  entwickelte  sich  all- 
mälig  die  Einrichtung,  dass  dort  Anstalten  errichtet  wurden,  in  denen 
Gebrechliche  und  Leidende  Unterkunft  fanden.  Die  Priester  und  Mönche, 
welche  darüber  die  Aufsicht  führten  und  den  Kranken  als  Bathgeber 
zur  Seite  standen,  wandten  ausser  den  psychischen  Mitteln  auch  heil- 
same Kräuter  und  andere  Medicamente  an,  deren  günstige  Wirkung 
sie  aus  der  medicinischen  Literatur  oder  durch  die  eigene  Erfahrung 
kennen  gelernt  hatten. 

Auf  diese  Weise  wurden  die  medicinischen  Kenntnisse  zu  einem 
Bestandtheil  der  Bildung  des  Geistlichen,  deren  er  bei  der  Ausübung 
seines  Berufs  bedurfte.  Die  Schulen  des  Mittelalters,  welche  die  Er- 
ziehung des  Klerus  als  ihre  wichtigste  Aufgabe  betrachteten,  suchten 
diesem  Bedürfniss  zu  genügen,  wenn  sie  die  Heilkunde,  allerdings  nur 
in  rein  theoretischer  Weise,  in  ihren  Lehrplan  aufnahmen.  So  geschah 
es  in  vielen  Klosterschulen,  namentlich  Galliens,  z.  B.  in  Bheims, 
Chartres,  Fleury,  Dijon,  Bec  in  der  Normandie  und  St.  Denis.3 

Auch  der  Reichthum  an  medicinischen  Handschriften,  welchen 
manche  dieser  Klöster  besassen,4  sowie  die  literarische  Thätigkeit  ihrer 


1  S.  de  Renzi:  Storia  docum.  della  scuola  medica  di  Salerno,  2.  ed.,  Napoli 
1857,  p.  64  u.  ff. 

2  Tosti:  Storia  della  badia  di  Monte  Casino,  Napoli  1842,  I,  229.  341  u.  ff. 
II,  p.  193.  209.  289.  —  Reg.  S.  Bened.  36  in  Muratori  Script,  rer.  Ital. 

3  J.  B.  L.  Chomel:  Essai  historique  sur  la  medecine  en  France,  Paris  1762. 

4  Die  Bibliothek  zu  Tegernsee  enthielt  z.  B.  i.  J.  1500  281  medicinische 
Schriften,  wie  Lammert  (Volksmedicin  u.  medicin.  Aberglaube  in  Bayern,  Würz- 
burg 1868,  S.  4)  erzählt. 


Die  Medicin  der  Germanen  u.  der  Unterricht  in  den  Kloster  schulen.    163 


Mönche  beweisen ,  dass  die  Heilkunde  dort  fleissig  getrieben  und  stu- 
diert wurde. 

Wenn  die  Schüler  durch  den  Unterricht  und  die  Lektüre  medi- 
cinischer  Schriften  einige  allgemeine  Kenntnisse  der  Heilkunst  erworben 
hatten,  so  werden  sie  vielleicht  darin  auch  praktisch  ausgebildet  worden 
sein,  indem  sie  unter  der  Aufsicht  ihres  Lehrers  Arzneipflanzen  auf- 
suchten und  sammelten,  die  Bereitung  der  Medicamente  übten  und  bei 
der  Behandlung  der  Kranken  Dienste  leisteten.  Es  ist  sehr  wahrschein- 
lich, dass  sich  diese  Verhältnisse  ungefähr  so  gestalteten,  wie  es  der 
Verfasser  des  Tagebuchs1  des  Walafridus  Strabo  mit  fruchtbarer  Phan- 
tasie und  anerkennenswerther  Sachkenntniss  schildert.  — 

Manche  Lehrer  der  Heilkunde  erlangten  grossen  Kuf.  So  erzählt 
Bichee,  dass  er  i.  J.  991  zu  Hembrand  nach  Chartres  reiste,  um  von 
ihm  die  Erklärung  der  Aphorismen  des  Hippokeates  zu  hören.  Der- 
selbe unterrichtete  ihn  auch  in  der  Semiotik  der  Krankheiten  und 
lehrte,  worin  Hippokeates,  Galen  und  Soeanus  übereinstimmen.  Er 
besass  bedeutende  Kenntnisse  in  der  Arzneimittellehre,  Botanik  und 
Chirurgie,  wie  Bichee  rühmend  hervorhebt.2  Aus  der  Schule  von 
Chartres  gingen  viele  berühmte  Ärzte  hervor,  unter  ihnen  Johann,  der 
Leibarzt  Heinrich  I.  von  Frankreich.  An  der  bischöflichen  Schule  zu 
Bheims  wirkte  Gebbert  d'Aueillac,  als  Pabst  unter  dem  Namen 
Sylvester  IL  bekannt,  eine  Zeitlang  als  Lehrer  der  Medicin. 

Am  Hofe  Karls  des  Grossen  bestand  ausser  der  Palastschule,  in 
welcher  die  Kinder  des  Kaisers  und  einiger  vornehmen  Würdenträger 
unterrichtet  wurden,  eine  Art  von  Akademie,  zu  deren  Mitgliedern  die 
bedeutendsten  Gelehrten  jener  Zeit  gehörten.  Sie  führten  als  solche 
besondere  Namen;  Alcuin  hiess  Flaccus,  Karl  selbst  wurde  König  David 
genannt.  Sie  beschäftigten  sich  mit  Theologie,  Philosophie,  Arithmetik, 
Geometrie,  Astronomie,  Latein,  Griechisch,  Geschichte,  Geographie  und 
Poesie.3  Diese  Akademie  scheint  aber  nur  kurze  Zeit  bestanden  zu 
haben,  während  die  Hofschule  noch  in  der  Mitte  des  9.  Jahrhunderts 
blühte. 

Im  J.  789  beschloss  die  Synode  von  Aachen,  dass  in  jedem  Kloster 
und  Domstift  eine  Schule  sei,  in  welcher  die  Knaben  die  Psalmen,  die 


1  Dasselbe  wurde  in  dem  Jahresbericht  der  Erziehungsanstalt  des  Benedik- 
tinerstifts zu  Maria-Einsiedeln  (1856/57)  veröffentlicht,  ist  aber  eine  Dichtung  des 
P.  Martin  Marty  und  keineswegs  echt,  wie  einzelne  Autoren  seltsamer  Weise 
geglaubt  haben. 

2  Pertz:  Monum.  Germ.,  T.  V  (script.  III),  p.  643. 

3  W.  F.  C.  Schmeidler:  Die  Hofschule  und  die  Hof- Akademie  Karls  des 
Grossen,  Breslau  1872. 

11* 


164  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Schriftzeichen,  den  Gesang,  das  Berechnen  der  kirchlichen  Feiertage 
und  die  lateinische  Grammatik  erlernen  könnten.1  Das  Muster  dieser 
Unterrichtsanstalten  war  die  Schule  zu  Tours,  wo  Alctjin  seit  796  als 
Abt  des  St.  Martin-Klosters  lebte. 

Berühmte  Schulen  dieser  Art  entstanden  in  Fulda,  Hersfeld,  Corvey, 
Reichenau,  St.  Gallen,  Mainz,  Worms,  Speyer,  Köln,  Münster,  Bremen, 
Hildesheim,  Magdeburg,  Paderborn,  Halberstadt,  in  Salzburg,  Freising, 
Passau,  Tegernsee,  Benediktbeuern,  Regensburg,  in  Mailand,  Parma  und 
anderen  Orten  Italiens,  ebenso  bei  vielen  Klöstern  Frankreichs,  in  Eng- 
land, z.  B.  in  Canterbury,  und  in  Irland. 

Dem  Unterricht  der  dort  ertheilt  wurde,  lag  die  Lehrmethode  der 
römischen  Schulen  zu  Grunde.  Die  Unterrichtsgegenstände  wurden  in 
einer  bestimmten  Reihenfolge  vorgetragen  und  umfassten  in  der  einen 
Abtheilung  die  drei  sprachlichen  Fächer,  nämlich  die  Grammatik,  Rhe- 
torik und  Dialektik,  und  in  der  anderen  die  Arithmetik,  Geometrie, 
Astronomie  und  Musik.  Man  nannte  dies  das  Trivium  und  das  Qua- 
drivium. 

Die  Begriffe  dieser  Lehrgegenstände  deckten  sich  aber  keineswegs 
mit  den  heutigen;  denn  in  der  Rhetorik  wurden  z.  B.  nicht  blos  die 
Grundregeln  der  Beredsamkeit  gelehrt,  sondern  auch  der  lateinische 
Geschäftsstyl  geübt,  da  die  Geistlichen  zu  jener  Zeit  die  Urkunden  aus- 
stellten und  die  Kanzleigeschäfte  besorgten.  Daran  schloss  sich  häufig 
das  Studium  des  Rechts  und  der  Gesetze.  Unter  Geometrie  verstand 
man  hauptsächlich  die  Geographie  und  die  Erdbeschreibung,  deren 
Kenntniss  Heabanus  Maubus  namentlich  für  die  Ärzte  als  nothwendig 
erachtete,  weil  sie  dadurch  die  eigenthümlichen  klimatischen  Verhält- 
nisse der  verschiedenen  Gegenden  und  die  Lage  der  einzelnen  Orte 
kennen  lernen  und  sich  darnach  bei  den  Verhaltungsmassregeln ,  die 
sie  bei  den  Krankheiten  ertheilen,  richten  könnten.2  Auch  wurde  damit 
der  Unterricht  in  den  Naturwissenschaften  verbunden,  indem  die  wich- 
tigsten der  damals  bekannten  Thatsachen  aus  den  drei  Naturreichen, 
aus  der  Anthropologie  und  Meteorologie  gelehrt  wurden. 

Später  wurden  überall,  wo  eine  Pfarrei  war,  Schulen  gegründet. 
Der  Unterricht  beschränkte  sich  hier  auf  die  elementaren  Gegenstände. 
Seit  dem  Aufblühen  der  Städte,  seit  dem  Ende  des  12.  Jahrhunderts 
entstanden  auch  Stadtschulen,  welche   das  gleiche  Lehrziel  anstrebten, 

1  F.  A.  Specht:  Geschichte  des  Unterrichtswesens  in  Deutschland  von  den 
ältesten  Zeiten  bis  zur  Mitte  des  13.  Jahrhunderts,  Stuttgart  1885,  S.  21. 

2  Specht  a.  a.  0.  S.  145.  —  St.  Fellner:  Compendium  der  Naturwissen- 
schaften an  der  Schule  zu  Fulda  im  10.  Jahrhundert,  Berlin  1879,  S.  28. 


Die  Medicin  der  Germanen  u.  der  Unterricht  in  den  Kloster  schulen.    165 


wie  die  Kloster-  und  Stiftsschulen,  und  sie  in  ihren  Leistungen  manch- 
mal sogar  übertrafen. 

Dies  war  die  Vorbildung ,  welche  die  unterrichteten  Ärzte  jener 
Zeit,  besonders  diejenigen,  die  dem  geistlichen  Stande  angehörten,  be- 
sassen.  Dass  es  neben  ihnen  viele  Heilkünstler  gab,  welchen  dieselbe 
mangelte,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Die  grosse  Menge  der  Empiriker 
blieb  ohne  Kenntniss  der  medicinischen  Literatur  und  lernte  die  Heil- 
kunde wie  ein  Handwerk. 

Die  wissenschaftliche  Bearbeitung  der  Medicin  lag  gänzlich  dar- 
nieder. Der  Schatz  des  Wissens,  den  man  aus  dem  Alterthum  über- 
nommen hatte,  wurde  nicht  vermehrt,  ja  nicht  einmal  unversehrt  er- 
halten. Es  gab  in  jener  Periode  keine  Naturforschung  und  kaum  eine 
Naturbeobachtung. 

Die  medicinische  und  naturwissenschaftliche  Literatur  bestand 
hauptsächlich  in  Auszügen  und  Bearbeitungen  der  älteren  Werke.  Nur 
selten  fanden  darin  selbstständige  Ideen  und  Erfahrungen  einen  Platz. 
Hierher  gehören  das  Receptbuch  des  Mailänder  Erzbischofs  Benedictes 
Ceispüs,  das  encyklopädische  Werk  des  Heabanus  Maukus,  Erzbischofs 
von  Mainz  und  primus  praeceptor  Germaniae,  was  K.  Schmid  als  „erster 
Schulmann  Deutschlands"  übersetzt,  ferner  die  Schilderung  der  Pflanzen 
des  Walafeidus  Steabo,  Abtes  von  Reichenau,  die  medicinischen 
Schriften  des  Abtes  Beethaeius,  des  räthselhaften  Macee  Floeldus 
Buch  über  die  Heilkräfte  der  Pflanzen,  der  Lapidarius  des  Bischofs 
Maebod  von  Rennes,  der  Bestiarius  des  Engländers  Philipp  von  Thaün, 
die  Naturlehre  seines  Landsmanns  Alexandee  Neckam,  die  Physica 
der  hl.  Hildegaed,  Äbtissin  des  Klosters  auf  dem  Rupertsberge  bei 
Bingen,  „eine  unverkennbar  aus  der  Volksüberlieferung  geschöpfte 
Heilmittellehre"  wie  Meyee1  dieses  Buch  treffend  kennzeichnet,  und 
der  vielbesprochene  Physiologus. 

Das  geistige  Leben  des  christlichen  Europas  jener  Zeit  glich  einer 
durch  ihre  einförmige  Flachheit  und  öde  Unfruchtbarkeit  ermüdenden 
Landschaft;  nur  selten  begegnet  dem  Wanderer  ein  Punkt,  welcher 
seinen  Blick  zu  fesseln  vermag. 

Da  tauchten  im  Süden  unseres  Welttheils  Bilder  voll  berauschen- 
der Farbenpracht  auf,  welche  den  Muth  neu  belebten  und  die  Brust 
mit  Hoffnung  erfüllten.  Das  glänzende  Gestirn  der  arabischen  Cultur 
ergoss  sein  Licht  über  diese  Länder  und  sandte  einige  Strahlen  nach 
den  übrigen  Theilen  des  christlichen  Abendlandes,  welche  hier  erwär- 
mend und  zugleich  aufklärend  wirkten. 


Meyer  a.  a.  0.  III,  518. 


166  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Die  Schule  von  Salerno. 

In  Salerno  in  Unter -Italien,  wo  sich  der  Einfluss  der  Araber  in 
Folge  der  Nachbarschaft  Siciliens,  welches  lange  Zeit  ihrer  Herrschaft 
unterworfen  war,  zunächst  geltend  machte, 1  entstand  eine  medicinische 
Schule,  welche  schon  im  10.  Jahrhundert  einen  weitverbreiteten  Ruf 
erlangte. 

Der  Ursprung  derselben  ist  unbekannt,  obwohl  schon  viel  darüber 
geschrieben  worden  ist.  Wenn  man  von  den  leeren  Yermuthungen 
absieht,  welche  einzelne  Autoren  darüber  ausgesprochen  haben,  so  treten 
folgende  Meinungen  in  den  Vordergrund.  Einige  glaubten,  dass  sie 
schon  im  7.  Jahrhundert  existirt  und  an  die  Traditionen  des  Griechen- 
thums  angeknüpft  habe,  welches  sich  in  Sprache  und  Sitte  in  jenen 
Gegenden  länger  erhielt,  als  im  übrigen  Italien; 2  Andere,  wie  K.  Spkengel, 
Puccinotti3  und  eine  Zeitlang  auch  S.  de  Renzi,  leiteten  die  Grün- 
dung derselben  von  den  Benediktinern  ab,  welche  in  Monte-Casino,  in 
La  Cava  und  Salerno  selbst  Klöster  errichtet  hatten,  während  Haller 
u.  A.  dieselbe  den  Arabern  zuschrieben.  Meyer4  stellte  die  Hypothese 
auf,  dass  in  Salerno  Anfangs  eine  Gilde,  eine  Zunft  der  Ärzte  bestanden 
habe,  welche  ihre  Lehre  geheim  hielt,  und  dass  die  letztere  erst  durch 
Constantin  Africanus  veröffentlicht  und  dadurch  der  Grund  zur  Ent- 
wickelung  einer  ärztlichen  Unterrichtsanstalt  in  unserem  Sinne  gelegt 
worden  sei.  Überzeugende  Beweise  für  diese  Ansichten  wurden  von 
Niemandem  geliefert. 

Die  historischen  Thatsachen  der  Salernitanischen  Medicin  reichen 
bis  in  die  Mitte  des  9.  Jahrhunderts  zurück;  in  Documenten  v.  J.  848 
und  855  werden  die  dortigen  Ärzte  Josef  und  Josua  erwähnt. 5  Um 
d.  J.  900  lebte  Ragenifrld,  ein  Longobarde,  wie  der  Name  zeigt,  als 
Leibarzt  des  Fürsten  Waimar  von  Salerno,  und  ein  halbes  Jahrhundert 
später  der  Arzt  Petrus,  welcher  beim  Fürsten  Gisulf  in  hoher  Gunst 
stand  und  zum  Bischof  von  Salerno  erhoben  wurde.  In  dieser  Zeit 
treten  noch  andere  Ärzte  auf,  welche  dem  geistlichen  Stande  ange- 
hörten; aber  neben  ihnen  übten  in  Salerno  auch  jüdische  Ärzte  die 
Heilkunst  aus,  wie  durch  historische  Zeugnisse  festgestellt  ist.6 

1  Vergl.  A.  F.  v.  Schack:  Poesie  und  Kunst  der  Araber  in  Spanien  und 
Sizilien,  Berlin  1865,  II,  1—252. 

2  G.  Morosi:  Studij  sui  dialetti  greci  della  terra  d'Otranto,  Napoli  1870. 

3  Storia  della  medicina,  Livorno  1855,  II,  p.  247  u.  ff. 

4  a.  a.  0.  III,  451. 

5  S.  de  Renzi:  Storia  docum.  della  scuola  med.  di  Salerno,  Napoli  1857, 
p.  157  u.  ff.  6  S.  de  Renzi:  Collectio  Salernitana  III,  325,  Napoli  1852. 


Die  Schule  von  Salerno.  167 


Die  Ärzte  Salernos  hatten  im  10.  Jahrhundert  bereits  einen  sol- 
chen Ruf,  dass  sie  als  Leibärzte  an  fremde  Höfe  gezogen  wurden.  Einer 
derselben  spielte  am  Hofe  Ludwigs  des  Einfältigen  von  Frankreich  eine 
merkwürdige  Rolle.  Er  war  Arzt  der  Gemahlin  desselben,  als  sich 
zwischen  ihm  und  seinem  Collegen  Deroldus,  welcher  als  ärztlicher 
Beistand  des  Königs  diente  und  später  Bischof  von  Amiens  wurde,  ein 
wissenschaftlicher  Wettkampf  entspann,  der  wie  Richer1  erzählt,  die 
Folge  hatte,  dass  sie  sich  aus  Xeid  gegenseitig  zu  vergiften  trachteten 

Vornehme  Kranke  suchten  bereits  zu  dieser  Zeit  Salerno  auf,  um 
die  Hilfe  der  dortigen  Ärzte  in  Anspruch  zu  nehmen.  Aus  diesem 
Grunde  begab  sich  Bischof  Adalberon  von  Verdun  i.  J.  984  dorthin, 
fand  aber  keine  Heilung  von  seinem  Leiden. 2  Auch  der  Abt  Desiderius, 
welcher  nachher  unter  dem  Namen  Victor  III.  den  päbstlichen  Thron 
bestieg,  hoffte  hier  seine  durch  Nachtwachen  und  Fasten  zerstörte  Ge- 
sundheit wieder  zu  erlangen.3  Herzog  Guiscard  schickte  seinen  Sohn 
Bohemund  hierher,  damit  seine  im  Kriege  erhaltene  Wunde  geheilt 
werde;  wegen  derselben  Ursache  verweilte  auch  Wilhelm  der  Eroberer, 
der  spätere  König  von  England,  in  Salerno.  Der  Ruhm  seiner  Ärzte 
wuchs  mehr  und  mehr,  und  aus  fernen  Ländern  kamen  die  Patienten, 
um  sich  von  den  dortigen  Ärzten  behandeln  zu  lassen.  Der  Minne- 
sänger Hartmann  von  der  Aue  verlegte  den  Schauplatz  seines  rüh- 
renden Gedichts  „Der  arme  Heinrich"  hierher,  liess  seinen  Ritter  aber 
nicht  durch  die  Kunst  der  Ärzte,  sondern  durch  ein  Wunder  vom 
Aussatz  genesen. 

Über  das  Alter  und  die  Entstehung  der  Schule  von  Salerno  wusste 
man  schon  im  11.  Jahrhundert  nichts  Bestimmtes  anzugeben.  Der  als 
Dichter  und  Arzt  bekannte  Alphanus,  welcher  später  zum  Erzbischof 
von  Salerno  erhoben  wurde,  schreibt,  dass  die  Heilkunst  dort  schon 
vor  Guaimarus  IL,  d.  i.  im  9.  Jahrhundert  geblüht  habe.4 

Der  normannische  Historiker  Ordericus  Vitalis,  welcher  um 
d.  J.  1140  lebte,  erzählt,  dass,  als  der  berühmte  Rodoleus,  genannt 
Mala  Corona,  nach  Salerno  kam,  dort  schon  seit  alter  Zeit  bedeutende 
medicinische  Schulen  bestanden.5  Auch  bei  einer  anderen  Gelegenheit 
bezeugt  dieser  Autor  ihren  längst  bestehenden  Ruhm. 

1  Richer:  Hist.,  Hb.  II,  c.  59  in  Pertz:  Monum.  German.,  T.  V  (script.  III), 
p.  600. 

2  Gest.  episcop.  Virdun.  in  Pertz:  Mon.  Genn.,  T.  VI  (script.  IV),  p.  47 
u.  Hugo  Flav.  Chron.,  üb.  I  in  Pertz:   Mon.  Germ.,  T.  X  (script,  VIII),  p.  367. 

3  de  Renzi:  Storia  doc.  della  scuola,  p.  150. 

4  de  Renzi:  Collect,  Salem.  I,  p.  95,  Anm. 

5  Ord.  Vit.  Hist,  eccles.  III  in  Hist.  Normann.  scriptor.  ed.  Duchesne,  Paris 
1619,  p.  477  „tibi  maximae  medicorum  sckolae  ab  antiquo  tempore  habentur". 


168  Der  rnedicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


In  der  alten  Chronik  von  Salerno,  welche  Ant.  Mazza  benutzte 
und  dann  Salv.  de  Renzi  wieder  auffand,1  wird  berichtet,  dass  die 
dortige  rnedicinische  Schule  von  vier  Ärzten  gestiftet  wurde,  nämlich 
vom  jüdischen  Rabbi  Elinus,  dem  Griechen  Pontus,  dem  Sarazenen 
Adala  und  einem  Salernitaner,  welche  in  ihrer  Muttersprache  vortrugen. 
Unter  den  ersten  Lehrern  werden  Guglielmus  de  Bononia,  Michael 
Scottüs,  Guglielmus  de  Ravegna,  Eneicus  de  Padua,  Tetulus 
Geaecus,  Salümonus  Ebeaeus  und  Abdana  Saeacenus  genannt.  Es 
ist  selbstverständlich,  dass  diese  Nachrichten  nicht  als  historische  That- 
sachen  angesehen  werden  dürfen;  aber  es  liegt  darin  wahrscheinlich 
ein  Körnchen  Wahrheit  verborgen.  Man  wollte  damit  andeuten,  dass 
zu  der  Gründung  der  Schule  von  Salerno  Angehörige  verschiedener 
Nationen,  Juden,  Araber,  Griechen  und  Lateiner,  beigetragen  haben, 
dass  der  Unterricht  dort  Anfangs  in  verschiedenen  Sprachen  ertheilt 
wurde,  und  dass  die  rnedicinische  Lehre  der  Salernitaner  sich  aus  den 
wissenschaftlichen  Errungenschaften  der  Griechen  und  Römer,  der 
Hebräer  und  Araber  entwickelte.  Einzelne  der  angeführten  Namen 
sind  durch  eine  unrichtige  Schreibweise  verdorben;  es  ist  leicht  zu  er- 
kennen, dass  Elinus  aus  Elias  entstanden  ist,  und  Pontus  in  Gario- 
pontus,  Adala  in  Abdallah  verbessert  werden  muss. 

Aus  diesen  Mittheilungen  ergiebt  sich,  dass  wir  nicht  wissen,  wann 
und  wie  die  Schule  von  Salerno  entstanden  ist.  Die  Anfänge  derselben 
waren  entweder  so  bescheiden,  dass  sie  unbemerkt  blieben,  oder  sie 
reichen  so  weit  in  der  Zeit  zurück,  dass  sich  Niemand  daran  erinnern 
konnte. 

Die  wechselvollen  politischen  Schicksale  dieser  Stadt,  welche  ihre 
Bewohner  mit  den  Römern  und  Griechen,  den  Longobarden,  Arabern 
und  Normannen  in  Berührung  brachten,  mussten  tiefe  Spuren  in  ihrer 
Cultur-Entwickelung  hinterlassen  und  einen  mächtigen  Einfluss  ausüben 
auf  alle  Gebiete  des  geistigen  Lebens. 

In  Italien  erhielt  sich  die  im  Alterthum  gebräuchliche  Einrichtung, 
dass  Privat -Gelehrte  Schüler  annahmen  und  in  ihren  Wissenschaften 
unterrichteten,  auch  im  Mittelalter.2  Wenn  die  Ärzte  diesem  Beispiel 
folgten,  so  wird  es  ihnen  in  Salerno,  dessen  mildes  Klima  und  herrliche 


1  Mazza:  Urbis  Salem,  hist.  et  antiq.,  Nap.  1681,  abgedruckt  in  G-raevius 
et  Purmann:  Thesaur.  antiq.  et  hist.  Italiae,  Lugd.  Bat.  1723,  t.  IX,  pars  4.  — 
de  Renzi:  Storia  docum.,  p.  XXVI  u.  ff.  u.  Collect.  Salern.  I,  p.  106  u.  ff. 

2  W.  Giesebrecht:  De  litterarum  studiis  apud  Italos  primis  medii  aevi 
saeculis,  Berol.  1845,  p.  15.  —  S.  de  Renzi  (Storia  docum.,  p.  161)  führt  eine 
grosse  Anzahl  von  Ärzten  an,  welche  zur  Zeit  der  Longobarden  in  Italien  prak- 
tizirten;  einer  derselben  wird  zugleich  als  magister  scolae  bezeichnet. 


Die  Schule  von  Salerno.  169 


Lage  an  der  Meeresbucht ,  unweit  von  schattigen  Wäldern  und  heil- 
kräftigen Mineralquellen,  die  Kranken  aus  weiter  Ferne  anzogen,  niemals 
an  Schülern  gefehlt  haben. 

Es  ist  nicht  bekannt,  wann  die  Ärzte,  welche  in  Salerno  die  Heil- 
kunst  lehrten,  sich  zu  einer  gemeinsamen  Wirksamkeit  verbanden  und 
eine  Organisation  gaben.  Anfangs  durfte,  wie  es  scheint,  als  Lehrer 
der  Heilkunde  jeder  Arzt  auftreten  ohne  Unterschied  der  Nationalität 
und.  des  religiösen  Glaubens.  Später  befanden  sich  unter  den  dortigen 
Lehrern  der  Medicin  viele  Geistliche,  von  denen  einige  sogar  zu  hohen 
kirchlichen  Würden  gelangten.  Aber  niemals  gewannen  dieselben  das 
ausschliessliche  Recht,  zu  lehren,  wie  dies  an  den  meisten  übrigen 
Hochschulen  des  Mittelalters  üblich  wurde.  Zu  allen  Zeiten  bewahrte 
die  Anstalt  ihren  weltlichen  Charakter,  welcher  in  ihrer  Entstehung 
begründet  war. 

In  Salerno  wurden  sogar  die  Frauen  zur  Lehrthätigkeit  zugelassen, 
und  einige  derselben  traten  auch  als  medicinische  Schriftstellerinnen 
auf.  Am  meisten  bekannt  unter  den  weiblichen  Ärzten  wurde  Trotula, 
die  Verfasserin  eines  oft  citirten  Werkes  über  die  Krankheiten  der 
Frauen  und  die  Behandlung  derselben  vor,  während  und  nach  der 
Geburt.  In  ihren  Schriften  erörterte  sie  alle  Theile  der  Pathologie, 
selbst  die  für  das  weibliche  Gefühl  recht  peinlichen  Erkrankungen  der 
männlichen  Geschlechtstheile.  Ihre  Berufsgenossin  Abella  schrieb  de 
natura  seminis  humani.  Einer  späteren  Zeit  gehören  die  durch  Schön- 
heit und  Klugheit  gleich  ausgezeichnete  Costanza  Calenda,  die  Tochter 
des  Priors  (Vorstandes)  der  medicinischen  Schule,  ferner  Meecueiade 
und  Rebecca  Guaena  an. 

In  der  ersten  Zeit  des  Bestehens  der  Schule  von  Salerno  waren 
die  Lehrer  derselben  wahrscheinlich  nur  auf  die  Honorare  angewiesen, 
welche  ihre  Schüler  für  den  Unterricht  zahlten.  Später  empfingen  sie 
bestimmte  Besoldungen,  welche  verschieden  waren  und  bei  Einzelnen 
12  Unzen  Goldes  jährlich  betrugen;  im  Verlauf  der  Zeiten  wurden 
dieselben  natürlich  erhöht.  Auch  erhielten  die  Lehrer  Steuerfreiheit 
und  zuweilen  auch  die  Nutzniessung  von  Häusern  und  Grundstücken.1 

Den  medicinischen  Unterricht  ertheilten  gleichzeitig  mehrere  Lehrer, 
wie  aus  dem  von  S.  de  Renzi  mitgetheilten  Verzeichniss  derselben 
hervorgeht. 2 

Zu   ihren   Vorträgen   hatten   Angehörige    aller   Nationen   Zutritt; 


1  de  Renzi:  Collect.  Salern.  I,  366  u.  ff.  —  Storia  docum.  a.  a.  0.  Anhang, 
Docum.  No.  296  u.  ff. 

2  de  Renzi:  Collect.  Salernit,  I,  517.  III,  326  u.  ff.     Es  enthält  340  Namen 
auf  einen  Zeitraum  von  ungefähr  1000  Jahren. 


170  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Mittelalter. 


ebensowenig  bildete  dabei  das  Geschlecht  oder  die  Keligion  ein  Hin- 
derniss.  Sehr  zahlreich  waren  unter  ihnen  im  11.  Jahrhundert  die 
israelitischen  Studenten  vertreten,  wie  Mazza  berichtet.  Wenn  dagegen 
der  jüdische  Reisende  Benjamin  von  Tudela  erzählt,  dass  er,  als  er 
i.  J.  1160  Salerno  besuchte,  unter  seinen  vielen  dort  lebenden  Glaubens- 
genossen keinen  einzigen  Arzt  getroffen  habe,  so  widerspricht  diese 
Angabe  allen  übrigen  Nachrichten,  nach  welchen  es  theils  ausdrücklich 
bezeugt  wird,  dass  einzelne  Salernitanische  Ärzte  der  mosaischen  Reli- 
gion angehörten,  theils  aus  deren  Namen  vermuthet  werden  darf.1 

Aus  weiter  Ferne  kamen  die  Studierenden,  um  sich  in  Salerno 
der  Heilkunde  zu  widmen,  sogar  aus  Deutschland  und  Frankreich.  Ein 
Student  aus  Köln,  welcher  im  12.  Jahrhundert  in  Salerno  medicinisehe 
Vorlesungen  besucht  hatte,  von  dort  aber  wegen  Krankheit  in  seine 
Heimath  zurückkehren  musste,  klagt  in  einem  Gedicht  über  die  ihm 
verhassten  betrügerischen  Leute  von  Salerno.2  Ein  anderer  Schüler, 
Aegidius  (Gilles)  von  Corbeil,  welcher  später  als  Canonicus  und 
Leibarzt  des  Königs  Philipp  August  von  Frankreich  in  Paris  lebte, 
verkündete  dort  in  Wort  und  Schrift  den  Ruhm  der  medicinischen 
Schule  von  Salerno. 

Über  die  Art  des  Unterrichts  in  den  einzelnen  Disciplinen  ist 
Folgendes  bekannt: 

Die  Anatomie  wurde  an  Schweinen  gelehrt.  In  der  von  einem 
ungenannten  Verfasser  herrührenden  Demonstratio  anatomica,  welche 
offenbar  einen  Collegien -Vortrag  bildete,  werden  Vorschriften  ertheilt, 
wie  dabei  verfahren  werden  sollte.  Darnach  wurde  das  Thier  durch 
die  Durchschneidung  der  Halsgefässe  getödtet,  dann  an  den  Hinter- 
beinen aufgehängt  und,  nachdem  es  ausgeblutet  hatte,  zum  Unterricht 
benutzt.  Derselbe  beschränkte  sich,  wie  es  scheint,  hauptsächlich  auf 
die  Eröffnung  der  grossen  Körperhöhlen  und  die  Demonstration  der 
darin  gelagerten  Organe.  Daran  schlössen  sich  einige  Bemerkungen 
über  die  Gestalt  und  den  vermeintlichen  Zweck  derselben  beim  Menschen. 
Man  stützte  sich  dabei  auf  die  Schriften  des  Galen,  Rufus  und  Theo- 
philus  Peotospatharius,  ohne  dass  man  deren  wissenschaftliche  Höhe 
zu  erreichen  vermochte.  Auch  Copho's  Anatomie  des  Schweines  bestand 
im  Wesentlichen  nur  in  einer  Aufzählung  der  wichtigsten  Körpertheile. 


1  Vergl.  M.  Steinschneider  in  Virchow's 'Archiv,  Bd.  38  (1867),  S.  74  u.  ff. 

2  Laudibus  eternum  nullus  negat  esse  Salernum; 
Iüug  pro  morbis  totus  circumfluit  orbls. 

Nee  debet  sperni,  fateor,  doctrina  Salerni 
Quam  vis  exosa  mihi  sit  gens  lila  dolosa. 
Jac.  Grimm:  Gedichte  des  Mittelalters  in  Kleine  Schriften,  Berlin  1866,  S.  64. 


Die  Schule  von  Salerno.  171 


Doch  finden  sich  darin  einige  Hinweise  auf  eingehendere  Untersuchungen 
und  pathologisch-anatomische  Beobachtungen.  So  wird  z.  B.  gesagt, 
dass  man  die  Lunge  durch  Einführen  eines  Röhrchens  von  der  Trachea 
aus  aufblasen  kann. 1  Ferner  ist  von  Stoffablagerungen  im  Herzbeutel 
und  im  Pleura-Sack  die  Rede. 

Mehr  Pflege  widmete  man  der  praktischen  Heilkunde.  Schon 
i.  J.  820  wurde  in  Salerno  vom  Erzpriester  Adelmus  ein  öffentliches 
Hospital  gegründet,  welches  mit  dem  Benediktiner-Kloster  in  Verbindung 
gebracht  wurde.  Später  entstanden  noch  mehrere  andere  Krankenhäuser 
und  Wohlthätigkeitsanstalten ,  die  mit  reichem  Besitz  ausgestattet  und 
von  Krankenpfleger-Orden  geleitet  wurden.2  Ob  dort  auch  klinischer 
Unterricht  ertheilt  wurde,  ist  ungewiss. 

Akchimatthaeus  giebt  in  einer  Schrift3  ausführliche  Rathschläge, 
wie  sich  der  Arzt  beim  Besuch  des  Kranken  verhalten  soll.  Er  möge 
sich  unter  den  Schutz  Gottes  stellen,  heisst  es  dort,  und  den  Beistand 
des  Engels,  der  den  Tobias  begleitete,  anflehen.  Auf  dem  Wege  zu 
dem  Kranken  soll  er  den  Boten,  der  ihn  geholt  hat,  über  die  Verhält- 
nisse und  Leidenszustände  des  Patienten  ausfragen;  denn  wenn  er  später 
nach  der  Untersuchung  des  Pulses  und  des  Urins  keine  bestimmte 
Diagnose  zu  stellen  vermag,  so  wird  er  den  Patienten  wenigstens  durch 
die  genaue  Kenntniss  der  Krankheitssymptome  in  Erstaunen  setzen 
und  dadurch  sein  Vertrauen  gewinnen.  Auch  hält  es  der  Verfasser 
für  zweckmässig,  dass  der  Kranke  dem  Priester  beichtet,  bevor  der 
Arzt  zu  ihm  kommt;  denn  „wenn  davon  erst  später  die  Rede  ist,  so 
glauben  die  Kranken,  dass  sie  verloren  sind".  „Wenn  der  Arzt  die 
Wohnung  des  Patienten  betritt,  soll  er  weder  hochmüthig  noch  gierig 
aussehen,  sondern  mit  bescheidener  Miene  grüssen,  sich  hierauf  in  der 
Nähe  des  Kranken  niederlassen,  ein  Getränk,  das  man  ihm  anbietet, 
zu  sich  nehmen,  und  mit  einigen  Worten  die  Schönheit  der  Gegend, 
die  Lage  des  Hauses  und  die  Freigebigkeit  der  Famile  loben,  falls  dies 
passend  erscheint."  Hierauf  wird  die  Art  besprochen,  wie  der  Puls 
und  der  Urin  untersucht  wird.  „Wenn  der  Arzt  den  Kranken  verlässt, 
soll  er  ihm  versprechen,  dass  er  wieder  gesund  werden  wird,  der  Um- 
gebung desselben  aber  erklären,  dass  er  schwer  krank  sei;  denn  wenn 
der  Patient  dann  geheilt  wird,  so  wird  der  Ruhm  des  Arztes  um  so 
grösser  sein,  wenn  jener  aber  stirbt,  so  werden  die  Leute  sagen,  dass 
der  Arzt   dies   vorausgesehen   hat."     Der  Verfasser  erörtert  dann  die 


1  de  Renzi:  Collect.  Salem.  IT,  389. 

2  de  Renzi:  Storia  docnm.  della  scuola  med.  di  Salerno,   p.  563,  Doc.  329. 

3  Anonymi  Salernitani   de  adventu  medici   ad  aegrotum  ed.  A.  Gr.  E.  Th. 
Henschel,  Vratist.  1850.  —  de  Renzi:  Collect.  Salernit.  II,  74—81.  V,  333—349. 


172  Der  medicinische   Unterricht  im.  Mittelalter. 


Behandlung  des  Kranken,  namentlich  seine  Ernährung,  die  Anwendung 
von  Bädern  und  der  Blutentziehungen  und  setzt  dabei  auseinander, 
wie  sich  der  Arzt  benehmen  soll,  wenn  er  vom  Kranken  zu  Tisch  ge- 
laden wird,  „wie  dies  üblich  ist",  und  wenn  er  das  Honorar  für  die 
geleisteten  Dienste  fordert. 

Diese  Schrift  ist  ein  seltsames  Gemisch  von  reicher  ärztlicher  Er- 
fahrung, tiefer  Frömmigkeit  und  schlauer  Berechnung.  Sie  ist,  wie  aus 
der  Schreibweise  hervorgeht,  offenbar  für  Anfänger  in  der  Heilkunst 
bestimmt  und  wirft  ein  merkwürdiges  Licht  auf  die  socialen  Verhält- 
nisse des  ärztlichen  Standes  jener  Zeit. 

Die  ärztlichen  Grundsätze  der  Salernitanischen  Schule  beruhten 
auf  den  Theorien  des  Alterthums.  Die  Säftelehre  der  Hippokratiker, 
die  Communitäten  der  Methodiker  und  der  Galenismus  bildeten  ihre 
Stützen,  während  in  der  Arzneimittellehre  die  Fortschritte,  welche  man 
den  Arabern  verdankte,  ihren  Platz  erhielten. 

Die  Schilderung  der  Krankheiten  ist  naturgetreu  und  wird  durch 
manche  selbstständige  Beobachtung  veranschaulicht.  Namentlich  ver- 
dient die  Beschreibung  der  Intermittens-Fieber,  der  Geistesstörungen, 
Pneumonie,  Phthisis,  der  Lepra,  des  Lupus  (malum  mortuum)  und  der 
an  den  Geschlechtstheilen  vorkommenden  Geschwüre,  unter  denen  der 
Schanker  leicht  zu  erkennen  ist,  hervorgehoben  zu  werden.  Die  Salerni- 
tanischen Ärzte  erkannten  die  üble  prognostische  Bedeutung  mancher 
Symptome  recht  gut;  so  erklärten  sie,  dass  Schwindsüchtige,  bei  welchen 
Durchfälle  auftreten,  bald  darauf  sterben. 

In  der  Behandlung  legten  sie  grossen  Werth  auf  eine  vernünftig 
geregelte  Lebensweise  und  eine  passende  Ernährung.  Wenn  z.  B.  der 
Verdacht  einer  beginnenden  Lungen-Phthisis  vorlag,  so  Hessen  sie  den 
Kranken  gut  und  kräftig  nähren.  Pneumoniker  mussten  sich  in  einer 
gleichmässig  erwärmten  Luft,  z.  B.  im  Winter  im  geheizten  Zimmer, 
aufhalten.1  Zur  Abkühlung  der  Luft  des  Krankenzimmers  empfahl 
Afflacius  die  Einrichtung,  dass  beständig  Wassertropfen  zur  Erde 
fallen  und  dort  verdunsten.2  Bei  Milzanschwellungen  verordnete  man 
Eisen. 

Die  Chirurgie  nahm  einen  niedrigeren  Standpunkt  ein,  als  zu  den 
Zeiten  der  Griechen  und  Kömer.  Es  lag  dies  theils  an  der  Vernach- 
lässigung der  Anatomie,  theils  daran,  dass  die  Chirurgie  weniger  von 
den  gebildeten  Ärzten  als  von    den  Empirikern    ausgeübt    wurde,    be- 


1  de  Renzi:  Collect.  Salern.  II,  215  u.  ff. 

2  de  Renzi:  Collect.  Salernit.  II,  741  (ßat  etiam  artificialiter  pluvialis  aqua 
circa  aegrum). 


Die  Schule  von  Salerno.  173 


sonders  seitdem  sehr  viele  Mitglieder  des  ärztlichen  Standes  dem  Klerus 
angehörten. 

In  der  älteren  Zeit  beschränkten  sich  die  chirurgischen  Kenntnisse 
hauptsächlich  auf  die  Behandlung  der  Wunden,  die  Heilung  der  Knochen- 
brüche und  das  Einrichten  der  Verrenkungen.  Erst  am  Ende  des 
12.  Jahrhunderts  unternahm  es  ein  Arzt,  die  Grundsätze  der  Chirurgie, 
welche  sich  durch  Tradition  erhalten  hatten,  schriftstellerisch  zu  ver- 
treten. Dieses  Werk,  welches  den  Ruggiero  zum  Verfasser  hat,  aber 
häufig  nach  seinem  späteren  Bearbeiter  Rolando  genannt  wird,  zeigt, 
dass  die  Chirurgen  der  Salernitanischen  Schule  nicht  so  sehr  in  den 
Schriften  der  Alten  als  in  der  eigenen  Erfahrung  Belehrung  suchten. 
Sie  wurden  dadurch  freilich  vor  jenem  kritiklosen  Nachbeten  fremder 
Beobachtungen,  wie  es  in  der  arabischen  Literatur  häufig  zu  Tage  tritt, 
bewahrt,  aber  zugleich  der  wichtigen  Anregung  und  Correktur,  welche 
die  Kenntniss  der  Geschichte  einer  Wissenschaft  bietet,  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  beraubt.  Immerhin  ist  es  bemerkenswerth,  dass  unter 
den  Mitteln  der  Blutstillung  neben  den  Stypticis  auch  der  blutigen 
Naht  und  der  Unterbindung  gedacht  wird.1  Zur  Beseitigung  des 
Kropfes  wurde  der  innere  Gebrauch  des  Meerschwammes  empfohlen 
oder  die  Operation  mittelst  des  Haarseils  ausgeführt;  um  Recidiven  zu 
verhüten,  wurde  dabei  die  ganze  Kapsel  exstirpirt.  Auch  wurde  von 
der  Massage  des  Kropfes  Gebrauch  gemacht.2 

Von  den  übrigen  Operationen  werden  die  Trepanation,  die  Ent- 
fernung der  Nasenpolypen,  die  Resektion  des  Unterkiefers,3  die  Ope- 
ration der  Hernien,  welche  nach  der  Anleitung  des  Paulus  Aegineta 
vorgenommen  wurde,  und  der  Steinschnitt  nach  der  Vorschrift  des 
Celsus  genannt.  Die  Staaroperation  geschah  durch  Skleroticonyxis. 
Ferner  ist  von  geschwürigen  Zerstörungen  im  Gaumen  und  am  männ- 
lichen Gliede  die  Rede,  welche  sich  auf  carcinomatöse  und  syphilitische 
Erkrankungen  beziehen,  sowie  von  bösartigen  Geschwülsten  des  Mast- 
darms und  der  Gebärmutter. 

Der  Verfall  der  chirurgischen  Operationskunst  und  die  häufige 
Anwendung  des  Glüheisens  beweisen  den  Einfluss  der  arabischen  Heil- 
kunde. Noch  schlimmer  als  mit  der  Chirurgie  stand  es  mit  der  Ge- 
burtshilfe,   obwohl  dieses  Fach  von  wissenschaftlich  gebildeten  Frauen 


1  Chirurg.  Rogeri  in  de  Renzi:  Collect.  Salern.  II,  436. 

2  A.  Wölfler:  Die  chirurg.  Behandlung  des  Kropfes,  Berlin  1887,  S.  10  u.  ff. 
8  de  Renzi:  Collect.  Salernit.  II,  445.  513.  628.  650  (lib.  II,  der  Glossen  der 

vier  Meister).  Die  räthselhaften  vier  Meister  erinnern  an  die  vier  Doktoren  der 
Rechtswissenschaft  zu  Bologna,  von  denen  Savigny  (Geschichte  des  römischen 
Rechts,  Bd.  IV,  S.  68)  spricht. 


174  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


bearbeitet  wurde.  Die  Trotula  deutet  nur  an  einer  einzigen  Stelle 
ihres  Werkes  auf  die  Wendung  hin.1  Im  Allgemeinen  bestand  die 
Geburtshilfe  hauptsächlich  in  der  Anwendung  innerer  Medicamente  und 
psychischer  Mittel. 

Eine  feste  abgeschlossene  Organisation  erhielt  die  Schule  von  Sa- 
lerno  erst  durch  die  von  der  Staatsbehörde  angeordnete  Einführung 
von  Prüfungen.  König  Roger  (Ruggiero)  erliess  bereits  i.  J.  1140  das 
Gesetz:  „Wer  von  nun  an  die  ärztliche  Praxis  ausüben  will,  soll  sich 
unseren  Beamten  und  Richtern  vorstellen  und  ihrem  Urtheil  unter- 
werfen. Wer  so  verwegen  ist,  dies  zu  unterlassen,  wird  mit  Gefängniss 
und  Confiskation  seines  Vermögens  bestraft.  Diese  Anordnung  hat  den 
Zweck,  die  Unterthanen  unseres  Reiches  vor  den  aus  der  Unwissenheit 
der  Ärzte  entspringenden  Gefahren  zu  schützen."2 

Der  Hohenstaufen-Kaiser  Friedrich  II.  bestätigte  dieses  Gesetz  und 
gab  der  medicinischen  Schule  zu  Salerno  i.  J.  1240  eine  ausführliche 
Studien  Ordnung.  „Da  man  die  medicinische  Wissenschaft  nur  dann 
verstehen  kann,"  heisst  es  in  seinen  Verordnungen,  „wenn  man  vorher 
etwas  Logik  gelernt  hat,  so  bestimmen  wir,  dass  Niemand  zum  Studium 
der  Medicin  zugelassen  werde,  bevor  er  sich  nicht  drei  Jahre  hindurch 
mit  Logik  beschäftigt  hat.  Nach  diesen  drei  Jahren  mag  er,  wenn  er 
will,  zum  Studium  der  Medicin  übergehen.  Auf  das  letztere  muss  er 
fünf  Jahre  verwenden  und  sich  innerhalb  dieser  Zeit  auch  Kenntnisse 
in  der  Chirurgie  erwerben,  weil  dieselbe  einen  Theil  der  Heilkunde 
bildet.  Nachher,  aber  nicht  früher,  darf  ihm  die  Erlaubniss,  zu  prak- 
tiziren,  ertheilt  werden,  vorausgesetzt,  dass  er  sich  dem  von  der  Be- 
hörde vorgeschriebenen  Examen  unterzieht,  und  dabei  ein  Zeugniss 
darüber,  dass  er  die  gesetzmässige  Zeit  studiert  hat,  vorlegt."3 

„Die  Lehrer  sollen  während  des  Quinquenniums  in  ihren  Vor- 
lesungen echte  Schriften  des  Hippokeates  und  Galen  über  die  Theorie 
und  die  Praxis  der  Heilkunde  erklären." 

„Aber  auch  wenn  die  vorgeschriebenen  fünf  Jahre  des  medicinischen 
Studiums  vorüber  sind,  wird  der  Arzt  nicht  sofort  selbstständig  prakti- 
ziren,  sondern  noch  ein  volles  Jahr  hindurch  in  der  Ausübung  seines 
Berufs  einen  älteren  erfahrenen  Praktiker  zu  Rath  ziehen." 

1  de  Renzi:  Collect.  Salern.  I,   149  u.  ff.  —  v.  Siebold  a.  a.  0.  I,  317. 

2  Quisquis  amodo  mederi  vohierit,  officialibus  nostris  et  judicibus  se  pre- 
sentet,  eorum  discutiendus  judicio;  quod  si  sua  iemeritate  presumpserit,  carceri 
constringatur  bonis  suis  omnibus  publicatis.  Hoc  enim  prospectum  est,  ne  in 
regno  nostro  subjecti  periclitentur  ex  imperitia  medicorum.  Hist.  diploin. 
Fried.  IL  imperat.  ed.  Huillard-Breholles,  Paris  1854,  T.  IV,  pars  1,  p.  149,  tit.  44. 

3  Hist.  diplom.  Frid.  IL  a.  a.  0.  p.  235,  lib.  3,  tit.  46. 


Die  Schule  von  Salerno.  175 


Über  die  Beweggründe,  welche  die  Einführung  ärztlicher  Prüfungen 
hervorriefen,  wird  gesagt:  „Wir  fördern  den  Nutzen  des  Einzelnen, 
indem  wir  für  das  allgemeine  Wohl  sorgen.  Wenn  wir  demnach  den 
schweren  Verlust  und  unersetzbaren  Schaden  ins  Auge  fassen,  welcher 
aus  der  Unwissenheit  der  Ärzte  entspringen  kann,  befehlen  wir,  dass 
in  Zukunft  Niemand  den  Titel  eines  Arztes  in  Anspruch  nehme  und 
zu  praktiziren  oder  zu  kuriren  wage,  wenn  er  nicht  zuerst  zu  Salerno 
in  einer  öffentlichen  Versammlung  durch  das  Urtheil  der  Lehrer  für 
fähig  befunden  worden  ist,  sich  dann  durch  schriftliche  Zeugnisse  seiner 
Lehrer  sowohl  als  unserer  Beamten  über  seine  Ehrenhaftigkeit  und 
seine  wissenschaftliche  Reife  vor  uns  oder  unserem  Stellvertreter  aus- 
gewiesen und  in  Folge  dessen  die  staatliche  Erlaubniss  zur  Ausübung 
der  Praxis  erhalten  hat.  Wer  dieses  Gesetz  übertritt  und  ohne  Licenz 
zu  praktiziren  wagt,  wird  mit  Einziehung  seines  Vermögens  und  Ge- 
fängniss  bis  zu  einem  Jahre  bestraft."1 

In  Bezug  auf  die  Ausbildung  der  Chirurgen  wurde  bestimmt,  „dass 
kein  Chirurg  zur  Praxis  zugelassen  werde,  bevor  er  nicht  durch  schrift- 
liche Zeugnisse  der  Lehrer  der  medicinischen  Eacultät  den  Nachweis 
geliefert  hat,  dass  er  wenigstens  ein  Jahr  hindurch  den  Theil  der  Heil- 
kunde studiert  hat,  welcher  die  Befähigung  zur  Ausübung  der  Chirurgie 
verleiht,  dass  er  in  den  Collegien  namentlich  die  Anatomie  des  mensch- 
lichen Körpers  fleissig  gelernt  hat  und  auch  darin  vollkommen  erfahren 
ist,  wie  die  Operationen  mit  Erfolg  ausgeführt  werden,  und  auf  welche 
Weise  nachher  die  Heilung  zu  Stande  kommt."2 

Wenn  der  Arzt  die  Prüfungen  bestanden  und  die  staatliche  Er- 
laubniss zur  Praxis  erhalten  hatte,  so  wurde  ihm  ein  Diplom  ausgestellt, 
welches  lautete:  „Notum  facimus  fidelitati  vestrae,  quod  ftdelis  noster 
N.  N.  ad  euriam  nostram  aceedens ,  examinatus ,  inventus  ftdelis  et  de 
genere  fidelium  ortus  et  suffwiens  ad  artem  medicinae  exercendam,  extitit 
per  nostram  euriam  approbatus.  Propter  quod  de  ipsius  prudentia  et  le- 
galitate  conftsi)  recepto  ab  eo  in  curia  ?wstra  fidelitatis  sacramento  et  de 
arte  ipsa  ftdeliter  exercenda  juxta  consuetudinem  juramento ,  dedimus  ei 
licentiam  exercendi  artem  medicinae  in  partibus  ipsis:  ut  amodo  artem 
ipsam  ad  honorem  et  fidelitatem  nostram  et  salutem  eorum  qui  indigent, 
ftdeliter  ibi  debeat  exercere.  Quocirca  ftdelitati  vestrae  praecipiendo  man- 
damus,  quatenus  nullus  sit,  qui  praedictum  N.  N.  ftdelem  nostrum  super 
arte  ipsa  medicinae  in  terris  ipsis,  ut  dictum  est,  exercenda  impediat  de 
cetero  vel  perturbet.uS 

1  a.  a.  0.  p.  150,  tit.  45.  2  a.  a.  0.  p.  236. 

3  Peter  de  Vineis:  Epist.,  lib.  VI,  c.  24,  Basil.  1740.  —  Hist.  dipl.  Frid.  II. 
a.  a.  0.  p.  150,  Anm.  2. 


176  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


In  dem  Eide,  welchen  der  junge  Arzt  bei  dieser  Gelegenheit 
schwören  musste,  wurde  er  verpflichtet,  „Armen  unentgeltlich  seinen 
Kath  zu  ertheilen  und  Apotheker,  welche  die  Medicamente  nicht  den 
Vorschriften  entsprechend  zubereiten,  der  Behörde  anzuzeigen." 

Ferner  wurde  gesetzlich  angeordnet,  wieviel  er  für  einen  Kranken- 
besuch verlangen  durfte.  Darnach  betrug  die  Maximaltaxe  für  eine 
Kranken visite  am  Tage  innerhalb  der  Stadt  einen  halben  Gold-Tarenus, 1 
ausserhalb  des  Ortes  drei  oder  höchstens  vier  Tareni  nebst  Ersatz  der 
Reisekosten. 

Dem  Arzt  wurde  es  untersagt,  mit  den  Apothekern  Geschäftsver- 
bindungen einzugehen  oder  selbst  eine  Apotheke  zu  halten.  Die  Apo- 
theker wurden  angewiesen,  die  Arzneien  nach  der  Vorschrift  der  Ärzte 
zu  bereiten  und  zu  bestimmten  Preisen  zu  liefern.  Bevor  sie  zur  Aus- 
übung ihrer  Kunst  zugelassen  wurden,  mussten  sie  sich  durch  einen 
Eid  verpflichten,  die  Medicamente  nach  der  vorgeschriebenen  Eorm 
herzustellen  und  sich  dabei  keinen  Betrug  zu  Schulden  kommen  zu 
lassen.  Gleichzeitig  wurde  angegeben,  welchen  Preisaufschlag  sich  die- 
selben bei  Arzneien,  welche  vielleicht  lange  Zeit  vorräthig  gehalten 
werden  müssen,  ehe  sie  zur  Verwendung  kommen,  erlauben  dürfen, 
und  ein  Gesetz  über  die  Anzahl  der  Apotheken  in  den  verschiedenen 
Städten  des  Landes  in  Aussicht  gestellt.2  Ausserdem  wurden  Inspek- 
toren ernannt,  welche  die  Bereitung  der  Arzneien  überwachen  und 
deren  Tadellosigkeit  durch  Zeugnisse  bestätigen  sollten;  in  Salerno  selbst 
führten  die  Lehrer  der  Heilkunde  die  Aufsicht  darüber.3 

„Gleichzeitig  verordnen  wir,"  heisst  es  an  derselben  Stelle,  „dass 
Niemand  über  Medicin  und  Chirurgie  irgendwo  Vorlesungen  halte, 
als  zu  Salerno,  oder  den  Titel  eines  Lehrers  annehme,  wenn  er  nicht 
in  Gegenwart  unserer  Beamten  und  der  Lehrer  dieser  Kunst  sorgfältig 
geprüft  worden  ist."  Den  Beamten,  welche  bei  der  Ausführung  dieser 
Gesetze  ihre  Pflichten  verletzten,  wurde  die  Todesstrafe  angedroht. 

Die  Verordnungen  des  Kaisers  Friedrich  IL  dienten  den  späteren 
Einrichtungen  des  medicinischen  Studiums  als  Muster.  Sie  bildeten  die 
ersten  Versuche  einer  staatlichen  Organisation  desselben. 

Leider  wurde  in  den  folgenden  Jahrhunderten  der  Einfluss  der 
weltlichen  Behörden  hier  wie  auf  anderen  Gebieten  durch  die  zu- 
nehmende Macht  des  Klerus  zurückgedrängt.  Diese  Thatsache  gab  der 
Cultur  eine  eigentümliche  Färbung  und  beherrschte  die  Entwickelung 
der  Universitäten  bis  in  die  neueste  Zeit. 


1  Ein  Gold-Tarenus  war  eine  Goldmünze  im  Gewicht  von  20  Gran. 

2  Hist.  diplom.  Frid.  IL  a.  a.  0.  p.  236.  3  a.  a.  0.  p.  151,  tit.  47. 


Die  Schule  von  Salerno.  177 


Die  medicinische  Schule  zu  Salerno  erlebte  im  11.  und  12.  Jahr- 
hundert ihre  Blüthe.  In  dieser  Zeit  entfaltete  sie  eine  reiche  literarische 
Thätigkeit,  von  welcher  die  Werke  eines  GUriopontus,  Petroncellus, 
Alphanus,  der  beiden  Copho,  der  Platearier,  des  Constantinus  Afei- 
canus,  welcher  durch  seine  Übersetzungen  viel  dazu  beitrug,  dass  die 
Salernitanischen  Ärzte  mit  der  arabischen  Heilkunde  bekannt  wurden, 
das  Arzneibuch  des  Bartholomaeus,  welches  schon  bald  nachher  ins 
Deutsche  übertragen  wurde,1  die  Schriften  des  Afflacius,  Aechimat- 
thaeus,  Musandinus  und  Aegidius  von  Coebeil,  die  Receptensamm- 
lung  des  Nicolaus  Peaepositus,  die  Uroskopie  des  Maueus,  vor  Allem 
aber  die  berühmten  Gesundheitsregeln  der  Schule  von  Salerno,  welche 
in  alle  Sprachen  übersetzt  wurden  und  mehr  als  200  Auflagen  erlebten, 
Zeugniss  geben. 

Im  Jahre  1252  beschloss  der  König  Konrad,  die  medicinische 
Schule  zu  Salerno  zu  einer  Universität  zu  vervollständigen,  an  welcher 
auch  die  Jurisprudenz  und  die  artes  gepflegt  werden  sollten.  Aber  sein 
Plan  kam  nur  theil weise  zur  Ausführung.  König  Manfred  stellte  i.  J.  1258 
die  Universität  Neapel,  welche  kurz  vorher  aufgehoben  worden  war, 
wieder  her,  und  es  blieb  in  Salerno  nur  die  medicinische  Schule  be- 
stehen. Allerdings  wurde  dort  neben  der  Heilkunde  auch  Rechts- 
wissenschaft gelehrt;  aber  es  wurden  in  diesem  Fach  keine  akademischen 
Würden  verliehen.2 

Als  in  Neapel  und  anderen  Städten  Italiens  und  Prankreichs  me- 
dicinische Schulen  entstanden,  verminderte  sich  die  Zahl  der  Studie- 
renden in  Salerno.  Dazu  kam,  dass  auch  die  Lehrkräfte,  welche  dort 
wirkten,  allmälig  von  denjenigen  anderer  Hochschulen  über  troffen  wurden, 
und  ihre  wissenschaftliche  Thätigkeit  erlahmte.  Schon  Aegidius  von 
Coebeil  klagte  darüber,  dass  in  Salerno  bartlose  unreife  Knaben  die 
Würde  des  Arztes  erhielten  und  als  Lehrer  der  Heilkunde  auftreten  durften: 

„0  wie  tief  bist  Du  von  der  Höhe  des  Ruhmes,  Salerno, 

Der  einst  so  sehr  Dich  geschmückt,  wie  tief  doch  zu  Boden  gesunken! 

Denn  wie  erträgst  Du  es  doch,  dass  jetzt  Deinem  Boden  entspriesset 

Manch'  unreifes  Pflänzchen  unwürdiger  Söhne  der  Heilkunst, 

Denen  weit  besser  wohl  ziemt  Schulmeisters  kräftige  Ruthe 

Und  die  gediegene  Zucht  des  viel  erfahrenen  Alters, 

Als  dass  sie  selbst  nun  mit  Pomp  des  Katheders  Stufen  betreten!"3 

1  Jos.  Haupt  in  den  Sitzungsber.  d.  K.  Akad.  d.  Wiss.,  Philos.-histor.  KL, 
Wien  1872,  Bd.  71,  S.  451  u.  ff. 

2  J.  A.  de  Nigris  bei  J.  C.  G.  Ackermann  :  Regimen  sanitatis  Salerni,  Stendal 
1790,  p.  83. 

3  Aegidius  v.  Corbeil:  de  medicam.  compos.,  v.  569  u.  ff.  nach  H.  Haeser 
in  Nord  u.  Süd  1877,  III,  7,  S.  145. 

Püschmanw,  Unterricht.  12 


178  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Im  14.  Jahrhundert  sagte  Petrakca:  „Es  geht  die  Sage,  dass  die 
Medicin  in  Salerno  ihren  Ursprung  genommen  hat,  aber  Alles  fällt 
einmal  dem  welkenden  Alter  zur  Beute." 

In  den  darauf  folgenden  Zeiten  sank  die  Schule  von  Salerno  mehr 
und  mehr,  und  alle  Versuche,  ihr  durch  Privilegien  und  Dotationen 
frisches  Leben  einzuflössen,  waren  vergeblich.  Ein  Dekret  der  fran- 
zösischen Regierung,  welche  eine  Zeitlang  die  Geschicke  des  Landes 
leitete,  machte  am  29.  November  1811  der  Existenz  der  ältesten  me- 
dicinischen  Schule  Europas  ein  Ende. 


Die  medicinische  Schule  zu  Montpellier. 

Auch  die  Entstehung  der  medicinischen  Schule  zu  Montpellier 
hüllt  sich  in  sagenhaftes  Dunkel.  Man  weiss  nicht,  wann  die  dortigen 
Arzte  begonnen  haben,  Schüler  in  der  Heilkunde  zu  unterrichten. 

Unter  den  Ärzten,  welche  im  10.  und  11.  Jahrhundert  zu  Mont- 
pellier die  Praxis  ausübten,  befanden  sich  wahrscheinlich  viele  Juden 
und  Araber;  die  Thatsache,  dass  ein  grosser  Theil  der  Bevölkerung 
dieser  Stadt  aus  Angehörigen  dieser  Nationen  bestand,  und  die  Nähe 
Spaniens,  wo  die  jüdischen  Ärzte  unter  der  arabischen  Herrschaft  sehr 
zahlreich  und  angesehen  waren,  rechtfertigen  diese  Annahme.  An  den 
Triumphen,  welche  die  arabische  Medicin  in  Spanien  feierte,  hatten  die 
Juden  einen  hervorragenden  Antheil. 

Die  Namen  eines  Moses  Maimonides,  Chasdai  Schapeout,  Juda 
Halevi,  Nachmanides  u.  A.  erzählen  von  ihrem  Wirken  auf  verschie- 
denen Gebieten  des  geistigen  Lebens.  Die  Kabbiner  und  jüdischen 
Gelehrten  beschäftigten  sich  gern  mit  der  Medicin,  und  die  medicinischen 
Schulen  der  Juden  zu  Toledo,  Granada  und  Cordova  standen  in  hohem 
Ansehen.  Die  arabischen  Fürsten  der  iberischen  Halbinsel  ebenso  wie 
ihre  christlichen  Nachfolger  wählten  mit  Vorliebe  Juden  zu  ihren 
Leibärzten. * 

Aber  die  grössten  Verdienste  erwarben  sich  die  jüdischen  Ärzte, 
indem  sie  die  Vermittelung  zwischen  der  arabischen  Heilkunde  und 
dem  christlichen  Abendlande  übernahmen.  Theils  durch  Übersetzungen 
arabischer  Werke,  die  sie  anfertigten,  theils  durch  das  lebendige  Wort 
machten  sie  die  Bewohner  der  benachbarten  christlichen  Länder  mit 


J.  Münz:  Über  die  jüdischen  Ärzte  im  Mittelalter,  Berlin  1887,  S.  17  u.  ff. 


Die  medieiniscJie  Schule  zu  Montpellier.  179 

den   wissenschaftlichen    Errungenschaften   ihrer   semitischen   Stammes- 
genossen bekannt. 

Die  arabischen  und  jüdischen  Schulen  Spaniens  bewahrten  auch 
nach  der  Eroberung  dieses  Landes  durch  die  Christen  lange  Zeit  den 
Ruf  der  Gelehrsamkeit.  Noch  im  11.  und  12.  Jahrhundert  pilgerten 
wissensdurstige  Forscher,  wie  Geebeet,  der  später  als  Pabst  Sylvester  IL 
genannt  wurde,  Heemannus  Conteactus,  David  Moeley,  Pieteo  von 
Abano,  Aenald  von  Villanova  u.  A.  nach  Spanien,  besonders  nach 
Toledo,  um  dort  in  das  Wissen  der  Araber  eingeweiht  zu  werden. 

Diesen  Verhältnissen  muss  ohne  Zweifel  ein  bedeutender  Einfiuss 
auf  die  Entstehung  und  Entwickelung  der  Schule  von  Montpellier  zu- 
geschrieben werden.  Man  hat  sogar  nachzuweisen  versucht,  dass  ein 
jüdischer  Arzt  aus  Narbonne  der  Erste  gewesen  sei,  der  dort  medici- 
nischen  Unterricht  ertheilt  habe. * 

Als  Benjamin  von  Tudela  i.  J.  1160  Montpellier  besuchte,  fand 
er  viele  Juden  unter  den  dortigen  Einwohnern,  wie  er  erzählt.  Aber 
schon  damals  machte  sich  die  Reaktion  gegen  die  Macht  der  Juden 
geltend.  Graf  Wilhelm  von  Montpellier  bestimmte  1121  in  seinem 
Testament,  dass  kein  Sarazene  oder  Jude  zur  Würde  eines  Stadthaupt- 
manns (Bailli)  zugelassen  werde,  und  1146  und  1172  wurde  dieses 
Verbot  in  Betreff  der  Juden  erneuert,  da  es  den  Sarazenen  gegenüber 
wahrscheinlich  nicht  mehr  nothwendig  erschien.  Jedenfalls  beweist 
diese  Thatsache,  dass  vor  dieser  Zeit  die  Araber  und  Juden  in  Mont- 
pellier gleiche  Rechte  wie  ihre  christlichen  Mitbürger  besassen  und 
Anspruch  auf  die  angesehensten  Stellen  erheben  durften. 

Bis  zur  Unterwerfung  Spaniens  durch  die  Christen  herrschte  dort 
ein  Geist  der  Toleranz,  welcher  auf  die  Humanität  wie  auf  die  Wissen- 
schaft fördernd  gewirkt  hat;  in  diese  Periode  fällt,  wie  historisch  fest- 
steht, die  Gründung  der  medicinischen  Schule  zu  Montpellier. 

Als  Bischof  Adalbeet  von  Mainz  i.  J.  1137  dorthin  kam,  bestand 
dieselbe  bereits  und  besass  sogar  schon  eigene  Gebäude,  wie  aus  den 
Worten  des  zur  gleichen  Zeit  lebenden  Bischofs  Anselmus  von  Havelberg 
hervorgeht. 2  Bischof  Adalbeet  liess  sich  von  den  Ärzten,  welche  in  Mont- 
pellier die  Heilkunde  lehrten,  über  die  Ursachen  der  Naturerscheinungen 


1  Ravel  in  der  Revue  therapeut.  du  midi,  Montpellier  1855.  —  Carmoly: 
Histoire  des  medecins  juifs,  Bruxelles  1844,  p.  77.  —  A.  Germain:  Histoire  de 
la  commune  de  Montpellier,  Montpellier  1851,  T.  I,  p.  LXIX. 

2  Anselmi  episcopi  Havelbergensis  vita  Adelberti  Moguntini  in  Bibl.  rer. 
german.  ed.  Ph.  Jaffe,  Berol.  1866,  III,  592.  —  A.  Dübouchet:  Un  document 
curieux  sur  l'ecole  de  medecine  de  Montpellier  in  der  Gaz.  hebd.  des  scienc.  med. 
de  Montpellier,  10.  Juli  1886. 

12* 


180  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


und  der  Krankheiten  unterrichten,  und  zwar  „nicht  etwa  weil  er  Ge- 
winn aus  der  Kenntniss  dieser  Dinge  ziehen  wollte,  sondern  nur,  um 
das  tiefverborgene  Wesen  der  Dinge  kennen  zu  lernen,"  wie  sein  Bio- 
graph hinzufügt. 

In  einem  Briefe  des  hl.  Bernhard  v.  J.  1153  wird  erzählt,  dass  der 
Erzbischof  von  Lyon,  als  er  erkrankt  war,  sich  nach  Montpellier  begab, 
um  sich  von  den  dortigen  Ärzten  behandeln  zu  lassen,  und  bei  dieser 
Gelegenheit  nicht  blos  das  Geld  verbrauchte,  welches  er  bei  sich  führte, 
sondern  noch  Schulden  machte.1  Jean  de  Salisbury,  welcher  auch 
derselben  Zeit  angehört,  erklärte,  dass  Diejenigen,  welche  sich  der 
Medicin  widmen  wollten,  die  dafür  erforderlichen  Kenntnisse  in  Salerno 
oder  Montpellier  erwarben.  Auch  Aegidius  von  Corbeil  und  Hart- 
mann von  der  Aue  haben  für  den  alten  Ruhm  der  Schule  von  Mont- 
pellier Zeugniss  abgelegt.  Der  Mönch  Caesariüs  von  Heisterbach 
nannte  Montpellier  die  „Quelle  der  medicinischen  Weisheit"  und  be- 
merkte mit  Bedauern,  dass  die  dortigen  Ärzte  an  die  Wunderheilungen 
nicht  glauben  wollten  und  in  ironischer  Weise  darüber  sprachen. 

I.  J.  1180  erliess  Wilhelm  IV.,  Graf  von  Montpellier,  die  Ver- 
ordnung, dass  Jeder,  „wer  er  auch  sei  und  woher  er  stammen  möge, 
ohne  dass  er  von  irgend  wem  darüber  zur  Rede  gestellt  Averde,  das 
Recht  habe,  dort  medicinischen  Unterricht  zu  ertheilen."2 

Obwohl  sich  in  Folge  dessen  die  medicinische  Schule  sehr  hob? 
war  diese  schrankenlose  Lehrfreiheit  doch  nicht  aufrecht  zu  halten, 
weil  dadurch  manche  ungeeignete  Elemente  angezogen  wurden.  Die 
Lehrer  und  Schüler  wünschten  deshalb,  dass  Massregeln  dagegen  ge- 
troffen wurden.  Es  ist  bezeichnend  für  die  Macht,  welche  der  Klerus 
unterdessen  gewonnen  hatte,  dass  man  sich  an  den  päbstlichen  Legaten 
wandte,  der  im  Einvernehmen  mit  den  Bischöfen  von  Maguelone, 
Avignon  u.  A.  i.  J.  1220  die  gewünschten  Bestimmungen  traf. 

Cardinal  Konrad,  welcher  dadurch  die  Grundlagen  zur  weiteren 
Entwickelung  der  Schule  von  Montpellier  schuf,  war  ein  Deutscher  und 
stammte  aus  dem  schwäbischen  Geschlecht  der  Grafen  von  Urach.  Er 
wies  in  den  Statuten,  die  er  entwarf,  zunächst  darauf  hin,  dass  die 
Heilkunde  in  Montpellier  schon  seit  langer  Zeit  blühe  und  Ruhm  ernte^ 
und  gab  dann  das  Gesetz,  dass  fortan  Niemand  dort  als  Lehrer  dieser 


1  Expendit  et  quod  habebat  ed  quod  non  habebat  in  Bernard.  Epist  307, 
nach  Astruc:  Memoires  pour  servir  ä  Thistoire  de  la  faculte  de  medecine  de 
Montpellier,  Paris  1767,  p.  7. 

2  Mando,  volo,  laudo  atque  coneedo  in  perpetuum,  quod  omnes  homines 
quicumque  sint  vel  undecunque  sint,  sine  aliqua  interpellatione  regant  seolas 
de  fisiea  in  Montepessulano.     Astruc  a.  a.  0.  p.  34. 


Die  medicinische  Schule  zu  Montpellier.  181 


Wissenschaft  auftreten  dürfe,  der  nicht  darin  geprüft  und  vom  Bischof 
von  Maguelone  unter  Zuziehung  und  nach  Befragen  seiner  Lehrer  die 
Licenz  erhalten  habe,  dass  Niemand  als  Schüler  betrachtet  werde,  der 
nicht  bei  seinen  Studien  der  Anleitung  seines  Lehrers  folgt,  dass  der 
Bischof  von  Maguelone  in  Gemeinschaft  mit  drei  angesehenen  älteren 
Lehrern  einen  Kanzler  wähle,  welcher  die  Disciplin  überwachen  und 
die  Streitigkeiten  zwischen  den  Meistern  und  Schülern  schlichten  sollte, 
dass  der  Bischof  den  Kanzler  durch  seine  Autorität  unterstütze,  und 
dass  alle  Lehrer  und  Schüler  einander  beistehen  und  Sorge  tragen, 
dass  auf  die  Schule  keine  Schande  falle. l 

Manche  Studierende  unterbrachen  ihre  Studien,  wie  aus  Abschnitt  14 
dieser  Statuten2  hervorgeht,  auf  längere  Zeit,  um  die  ärztliche  Praxis 
auszuüben,  nnd  kehrten  dann  zur  Fortsetzung  der  Studien  nach  Mont- 
pellier zurück.  Die  Schüler  zahlten  den  Lehrern  Honorar  für  den 
L^nterricht,  den  sie  empfingen. 

In  den  Gesetzen  Konrads  war  allerdings  keine  Rede  davon,  die 
Andersgläubigen  von  der  Schule  auszuschliessen;  doch  wurden  dieselben 
ohne  Zweifel  durch  den  mächtigen  Einfluss,  welcher  darin  dem  Bischof 
eingeräumt  wurde,  einigermassen  zurückgedrängt.  Gleichwohl  gab  es 
dort  im  13.  und  14.  Jahrhundert  noch  viele  jüdische  Studierende  und 
Ärzte,  wie  Jacob  ben  Machie,  bekannter  unter  dem  Namen  Pkofatius. 
der  wahrscheinlich  sogar  als  Lehrer  thätig  war.3 

L  J.  1230  wurde  bestimmt,  dass  Niemand  die  ärztliche  Praxis 
treibe,  bevor  er  von  zwei  Magistern  der  Heilkunde,  welche  der  Bischof 
zu  Examinatoren  wählte,  geprüft  und  für  fähig  befunden  worden  sei. 
Der  glückliche  Erfolg  der  Prüfung  wurde  ihm  durch  ein  Zeugniss, 
welches  die  Unterschrift  des  Bischofs  und  der  Examinatoren  trug, 
bestätigt. 

Wer  die  ärztliche  Praxis  ausübte,  ohne  sich  dieser  Prüfung  unter- 
zogen zu  haben,  wurde  mit  der  Strafe  der  Excommunication  bedroht. 
Doch  blieben  die  Chirurgen  von  der  Verpflichtung,  sich  examiniren  zu 
lassen,  befreit.  Aber  die  Gesetze  gegen  die  Kurpfuscher  wurden,  wie 
es  scheint,  nicht  streng  beobachtet;  denn  sie  mussten  von  Zeit  zu  Zeit 
immer  wieder  ins  Gedächtniss  zurückgerufen  werden. 

1  Astruc  a.  a.  0.  p.  37. 

2  Quando  seholaris  redit  a  locis,  in  quibus  practicaverit,  libere  sibi  addicat. 
quemcunque  voluerit,  magisirum,  dum  tarnen  priori  suo  magistro  non  teneatur 
ratione  salari  vel  alter  ins  alicajus  rei.  Astruc  a.  a.  0.  p.  39.  —  A.  Germain 
a.  a.  0.  T.  III,  424. 

3  Carmoly  a.  a.  0.  S.  90.  Derselbe  erwähnt  noch  andere  jüdische  Lehrer 
der  Medicin,  z.  B.  Samuel  Ben  Tibbon. 


182  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Die  Statuten  und  Lehrpläne,  welche  i.  J.  1240  gegeben  wurden, 
stützten  sich  auf  die  für  Salerno  erlassenen  Verordnungen  des  Kaisers 
Friedrich  IL1 

Die  medicinische  Schule  war  somit  vollständig  organisirt.  Neben 
ihr  wurde  in  Montpellier  seit  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  auch 
Unterricht  in  der  Reehtskunde  ertheilt;  ebenso  gab  es  schon  1242 
Lehrer  der  philosophischen  Disciplinen.  Pabst  Nicolaus  IV.  fasste  1289 
den  Entschluss,  dort  ein  Studium  generale,  d.  h.  eine  Universität  zu 
errichten;  aber  es  gelang  ihm  nicht,  die  medicinische  Schule  mit  den 
übrigen  Facultäten  zu  einer  Lehranstalt  zu  verschmelzen.  Sie  bewahrte 
eifersüchtig  ihre  Hechte  und  behauptete  ihre  Selbstständigkeit. 

So  kam  es,  dass  in  Montpellier  fortan  eigentlich  zwei  Universitäten 
bestanden,  von  denen  die  eine  nur  die  medicinische  Facultät,  die  andere 
die  übrigen  Facultäten  umfasste.  Jede  von  ihnen  bildete  ein  besonderes 
Institut,  hatte  ihren  eigenen  Kanzler  und  führte  den  Namen  einer 
Universität.  Sie  waren  auch  dazu  berechtigt;  denn  man  verstand  unter 
dem  Studium  generale  im  Mittelalter  nicht  die  Vereinigung  aller  Facul- 
täten an  einem  Ort,  sondern  eine  höhere  Unterrichtsanstalt,  welche 
allgemein  zugänglich  war  und  Zeugnisse  ertheilte,  die  überall  Geltung 
hatten.2  Der  Ausdruck  Studium  generale  machte  im  14.  Jahrhundert 
demjenigen  der  Universität  Platz,  mit  welchem  der  Begriff  der  Corpo- 
ration, der  organisirten  Verbandseinheit  verbunden  war.  Daneben  ge- 
brauchte man  bereits  zu  jener  Zeit  auch  die  Bezeichnungen  „Gymna- 
sium" und  „Alma  mater-  für  die  Hochschule. 

Während  an  der  aus  der  juristischen,  philosophischen  und  theo- 
logischen Facultät,  welche  erst  1421  errichtet  wurde,  bestehenden 
Universität  zu  Montpellier  der  Bischof  fortan  die  Würde  des  Kanzlers 
bekleidete,  wurde  an  der  medicinischen  Schule  dieses  Amt  auch  ferner 
einem  Lehrer  derselben  übertragen.  Alle  Versuche,  welche  später  ge- 
macht wurden,  um  die  letztere  vollständig  dem  klerikalen  Einfluss  zu 
unterwerfen,  waren  vergeblich.  Die  medicinische  Facultät  behielt  ihre 
Autonomie  selbst  unter  der  centralisirenden  Macht  der  französischen 
Könige,  und  Ludwig  XIV.  fühlte  sich  sogar  veranlasst,  ein  Dekret, 
welches  die  Vereinigung  der  medicinischen  Facultät  mit  den  übrigen 
Facultäten  anordnete,  wieder  zurückzunehmen.3 


1  Germain  a.  a.  O.  T.  III,  p.  424. 

2  H.  Denifle:  Die  Entstehung  der  Universitäten  des  Mittelalters  bis  1400. 
Berlin  1885,  I,  S.  15  u.  ff  —  Vergl.  dagegen  G.  Kaufmann:  Geschichte  der 
deutschen  Universitäten,  Stuttgart  1888,  I,  98  u.  ff. 

3  A.  Dubouchet:  Documents  pour  servir  ä  l'histoire  de  luniversite  de  me- 
decine  de  Montpellier  in  der  Gaz.  hebd.  des  sciences  med.  de  Montpellier  1887,  No.  4. 


Die  medicinische  Schule  zu  Montpellier.  183 


Da  die  Wahl  des  Kanzlers  durch  den  Bisehof  und  drei  von  ihm 
zugezogene  Lehrer  manche  Unzuträglichkeiten  im  Gefolge  hatte,  so 
befahl  Pabst  Clemens  V.  i.  J.  1308,  dass  der  Candidat  fortan  ausser 
der  Zustimmung  des  Bischofs  zwei  Drittel  der  Stimmen  sämmtlicher 
Magister  der  medicinischen  Hochschule  vereinigen  müsse. 

Gleichzeitig  wurde  bestimmt,  welche  Bücher  dem  Unterricht  zu 
Grunde  gelegt  werden  sollten,  und  die  Studien-  und  Prüfungsordnung 
dahin  erläutert,  dass  jeder  Studierende  mindestens  fünf  Jahre  medici- 
nische Vorlesungen  hören  und  während  acht  Monaten  oder  zwei  Sommer 
hindurch  ärztliche  Praxis  ausüben  müsse, 1  bevor  er  zur  Promotion  zu- 
gelassen werde. 

I.  J.  1350  wurde  gesetzlich  bestimmt,  dass  Niemand  ärztliche 
Praxis  treibe,  ehe  er  den  Grad  eines  Magisters  erlangt  habe.2  Aus 
dem  an  den  Pabst  gesandten  Kotulus  v.  J.  1362  geht  hervor,  dass 
alle  Scholaren  der  Medicin  zu  Montpellier  in  artibus  graduirt  waren,3 
also  eine  allgemein-wissenschaftliche  Vorbildung  besassen. 

Die  Statuten  der  dortigen  medicinischen  Schule  v.  J.  13404  ge- 
währen einen  Einblick  in  die  Zustände  derselben.  Sie  beschäftigen  sich 
mit  der  Würde  des  Kanzlers,  der  die  Gerichtsbarkeit  leitete,  mit  dem 
Dekanat,  welches  Demjenigen,  welcher  die  Lehrthätigkeit  am  längsten 
ausübte,  übertragen  wurde,  hauptsächlich  die  Vertretung  des  Kanzlers 
zur  Aufgabe  hatte  und  eigentlich  nur  ein  Ehrenamt  war,  mit  der  Wahl 
von  zwei  Procuratoren  aus  der  Zahl  der  Lehrer,  welche  die  Aufsicht 
über  die  Verwaltung  der  Güter  und  Besitzungen  der  Universität  führten, 
mit  den  zweimal  im  Jahre  stattfindenden  allgemeinen  Versammlungen 
der  Lehrer,  in  denen  über  die  Angelegenheiten  des  Unterrichts  und 
die  Finanzen  der  Schule  berathen  wurde,  und  mit  den  Pflichten  der 
Lehrer  und  Schüler. 

Die  letzteren  mussten  sich  sofort  nach  ihrer  Ankunft  den  Pro- 
curatoren vorstellen,  welche  ihre  Namen,  und  den  Tag,  an  dem  sie 
ihre  Studien  begannen  und  beendeten,  in  ein  Buch  eintrugen  und  dafür 
eine  Taxe  erhoben,  welche  eine  verschiedene  Höhe  hatte,  je  nachdem 
es  sich  um  einen  Scholaren  oder  um  einen  Baccalaureus  handelte,  und 


1  In  locis  famosis  quinque  annis,  si  in  artibus  magistri  existant  idonei, 
alioquin  per  sex  annos,  pro  quolibet  anno  octo  duntaxat  mensibus  computatis 
ejusdem  facultatem  audiverint  medicinae,  ac  in  similibus  locis  per  octo  menses 
aut  per  duas  aestates  ad  minus  ejusdem  medicinae  praxim  duxerint  exercendam. 
Astruc  a.  a.  0.  p.  46. 

2  Astruc  a.  a.  0.  p.  54. 

3  Denifle  a.  a.  0.  S.  355,  Anm.  562. 

4  A.  Dubouchet  a.  a.  O.  Gaz.  hebd.  No.  6  u.  ff. 


184  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


unseren  Gebühren  für  Immatriculation  und  Exmatriculation  entsprach. 
Die  Studierenden  gelobten  bei  der  Aufnahme  in  den  Verband  der  Hoch- 
schule, deren  Gesetze  gewissenhaft  beobachten  zu  wollen. 

Sie  waren  verpflichtet,  während  der  ersten  drei  Jahre  der  Studien- 
zeit nach  Abzug  der  Ferien  durch  volle  24  Monate  medicinische  Vor- 
lesungen zu  besuchen.  Hierauf  folgte  eine  Prüfung,  bei  der  jeder  der 
Lehrer  eine  Frage  stellte,  und  darauf  die  Promotion  zum  Baccalaureus. 
In  dieser  Eigenschaft  setzte  der  Studierende  seine  Studien  noch  min- 
destens zwei  Jahre  hindurch  fort,  hielt  aber  zugleich  Vorlesungen  über 
einzelne  Abschnitte  aus  den  medicinischen  Schriften  der  Alten.  Den 
Schluss  des  Studiums  bildete  die  Bewerbung  um  das  Magisterium  der 
Heilkunde. 

Als  ordentlicher  Lehrer  wurde  Derjenige  betrachtet,  welcher  min- 
destens den  ganzen  Winter  hindurch  regelmässigen  Unterricht  ertheilte. 
Die  Lehrer  wählten  in  ihren  Versammlungen  die  Gegenstände,  über 
welche  sie  vortragen  wollten;  der  Ältere  hatte  dabei  den  Vorrang  vor 
dem  Jüngeren.  Auch  wurde  streng  darüber  gewacht,  dass  nicht  ein 
Lehrstoff,  welcher  binnen  einem  Jahre  abgehandelt  werden  sollte,  auf 
mehrere  Jahre  vertheilt  würde. 

Anfangs  war  jeder  Magister  und  unter  gewissen  Beschränkungen 
sogar  jeder  Baccalaureus  berechtigt,  die  Lehrthätigkeit  auszuüben,  ohne 
dass  er  jedoch  dafür  irgendwelche  Besoldung  empfing.  Erst  i.  J.  1498 
wurden  vier  ordentliche  Lehrkanzeln  der  Medicin  errichtet,  deren  In- 
haber für  den  Gehalt  von  je  100  livres  das  ganze  Jahr  hindurch  un- 
entgeltlich vortragen  mussten.  Die  Besetzung  dieser  Professuren  erfolgte 
durch  den  Bischof  auf  Vorschlag  der  übrigen  Lehrer  der  medicinischen 
Schule.  Die  Besoldung  der  Professoren  wurde  unter  Carl  IX.  auf 
400  livr.  und  unter  Heinrich  IV.  auf  600  livr.  erhöht.  Ausserdem 
waren  sie  gleich  den  übrigen  Mitgliedern  der  Universität  von  Steuern 
und  manchen  anderen  Lasten  befreit. 

Die  medicinische  Schule  zu  Montpellier  erlebte  im  13.  und  H.Jahr- 
hundert ihre  Glanzperiode.  Aus  weiter  Ferne  kamen  damals  die  Kranken, 
wie  der  Bischof  von  Herford  aus  England  und  der  König  Johann  von 
Böhmen,  um  bei  den  dortigen  Ärzten,  welche  namentlich  wegen  ihrer 
praktischen  Tüchtigkeit  geschätzt  waren,1  Hilfe  zu  suchen.  Ihnen 
erwuchs  eine  gefährliche  Concurrenz,  als  die  Universitäten,  welche  in 
jener  Zeit  in  Italien,  Frankreich  und  Deutschland  gegründet  wurden, 
zur  Blüthe  gelangten. 


1  Arnald  von  Villanova:   Breviar.  IV,  10.   —   Guy    von   Chauliac:   Chir., 
tr.  VI,  d.  2,  c.  2. 


Die  ältesten  Hochschulen  Italiens.  185 


Die  ältesten  Hochschulen  Italiens. 

Kaiser  Friedrich  IL  schuf  i.  J.  1224  die  Hochschule  zu  Neapel,1 
an  welcher  alle  Wissenschaften  gelehrt  werden  sollten,  damit  die  wissens- 
durstigen Jünglinge  nicht  genöthigt  würden,  „wie  Bettler  ausserhalb 
des  Landes  die  geistige  Nahrung  zu  suchen".2  Anfangs  waren  hier, 
wie  es  scheint,  sämmtliche  Facultäten  vertreten;  aber  schon  1231  ging 
die  medicinische  ein,  weil  die  Heilkunde  nach  einer  kaiserlichen  Ver- 
ordnung fortan  nur  in  Salerno  gelehrt  werden  durfte.  I.  J.  1252 
wurden  auch  die  übrigen  Facultäten  nach  Salerno  verlegt  und  mit  der 
dortigen  medicinischen  Schule  zu  einer  Universität  vereinigt. 

Doch  wurde  die  Hochschule  zu  Neapel  schon  1258  wiederhergestellt. 
Da  sie  in  der  Hauptstadt  des  Landes  gelegen,  von  Norden  und  Osten 
leichter  zugänglich  und  mit  grösseren  Rechten  und  Geldmitteln  aus- 
gestattet war,  als  ihre  ältere  Schwesteranstalt  zu  Salerno,  so  überholte 
sie  dieselbe  später  durch  die  Zahl  der  Schüler  sowohl  wie  durch  ihre 
Bedeutung  und  ihre  Leistungen. 

Gleich  den  Anfängen  der  Hochschulen  zu  Salerno  und  Montpellier 
verlieren  sich  auch  diejenigen  von  Bologna  in  sehr  frühe  Zeiten.3 
Kaiser  Friedrich  I.  versprach  der  dortigen  Universität  i.  J.  1158  seinen 
Schutz  und  verlieh  ihr  eigene  Gerichtsbarkeit.4  Sie  war  damals  eigent- 
lich nur  eine  Kechtsschule ;  doch  wurden  im  12.  Jahrhundert  auch 
andere  Wissenschaften  gelehrt,  und  die  Ärzte  waren  vielleicht  schon 
zu  einem  Collegium  verbunden.5 

Im  13.  Jahrhundert  wurde  die  medicinische  und  philosophische 
Facultät  als  „Universität  der  Artisten"  neben  der  juristischen  organisirt. 
Die  juristische  Schule  behielt  indessen  auch  später  durch  die  Zahl  der 
Lehrer  und  Studierenden  das  Übergewicht  über  die  anderen  Facultäten. 

Die  medicinische  Facultät  wurde  erst  seit  1280,  als  Thaddaeus 
Floeentinus  dort  als  Lehrer  wirkte,  in  weiteren  Kreisen  bekannt  und 

1  Müratori:  Rer.  It.  Script.  VIII,  p.  496. 

2  Huillard  -  Breholles  a.  a.  0.  T.  II,  p.  450.  Disponimus  apad  Kapolim 
doceri  artes  cujuscunque  professionis  et  vigere  studia,  ut  jejuni  et  famelici  doc- 
trinarum  in  ipso  regno  inveniant,  unde  ipsorum  aviditati  satisfiat  neque  com- 
'pellantur  ad  investigandas  scientias  peregrinas  naiiones  expetere  nee  in  alienis 
regionibus  mendicare. 

3  F.  C.  v.  Savigny:  Geschichte  des  römischen  Rechts  im  Mittelalter,  Heidel- 
berg 1834,  Bd.  III,  S.  164  u.  ff. 

4  Cod.  Auth.  Habita.  —  Giesebrecht  in  den  Sitzungsber.  d.  K.  b.  Akad. 
d.  Wiss.,  histor.  Klasse,  1879,  Bd.  II,  S.  285. 

5  M.  Medici:  Compendio  storico  della  scuola  anatomica  di  Bologna  1855,  p.  3. 


186  Der  medicinische   Unterrieht  im  Mittelalter. 


berühmt.  Übrigens  hatte  die  Organisation  der  Universität  zu  Bologna 
ihren  Schwerpunkt  nicht  so  sehr  in  den  Facultäten  als  in  den  Corpo- 
rationen  der  Schüler. 

Dieselben  schieden  sich  Anfangs  in  die  Citramontani  und  die 
Ultramontani,  von  denen  sich  jede  aus  mehreren  Nationen  zusammen- 
setzte. Diese  landsmannschaftlichen  Vereinigungen  der  Studierenden, 
welche  ihr  Vorbild  in  den  Verbindungen  fanden,  die  an  den  Hoch- 
schulen des  Alterthums,  z.  B.  in  Athen,  bestanden,  entsprangen  dem 
Bedürfniss,  sich  nach  ihrer  heimathlichen  Zusammengehörigkeit  in  der 
Fremde  an  einander  anzuschliessen,  und  organisirten  sich  nach  Art  der 
italienischen  Zünfte.  An  der  Spitze  jeder  der  beiden  Scholaren-Corpo- 
rationen  stand  ein  Eector,  der  also  dort  ursprünglich  durchaas  nicht 
das  Haupt  der  Universität  war,  sondern  nur  die  Angelegenheiten  der 
Studierenden,  die  ihn  zu  ihrem  Vertreter  gewählt  hatten,  leitete.  An- 
fangs wurde  diese  Würde  an  Professoren  ebenso  wie  an  Studierende 
verliehen,  seit  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  jedoch  nur  noch  an  die 
letzteren,  und  in  den  Statuten  der  Universität  aus  dem  14.  Jahrhundert 
wurde  dies  sogar  gesetzlich  anerkannt.1  Seit  dem  16.  Jahrhundert  gab 
es  für  beide  Scholaren-Corporationen  nur  einen  einzigen  Rector. 

Als  die  italienischen  Städte,  in  denen  sich  Hochschulen  befanden, 
mit  einander  wetteiferten,  um  durch  Verleihung  von  Vorrechten  und 
Auszeichnungen  fremde  Studierende  dorthin  zu  ziehen,  erlangten  die 
letzteren  allmälig  eine  ausserordentliche  Machtstellung,  und  die  Pro- 
fessoren geriethen  in  ein  Abhängigkeitsverhältniss  zu  ihnen.  In  Bologna 
und  Padua  erhielten  die  Studierenden  sogar  das  Recht,  die  Professoren 
zu  wählen.2 

In  Montpellier  durften  ihre  Vertreter,  die  Procuratoren,  den  Pro- 
fessoren den  Gehalt  sperren,  wenn  sie  nicht  fleissig  Vorlesungen  hielten. 3 

Der  aus  der  Mitte  der  Studierenden  gewählte  Rector,  der  zuerst 
nur  über  die  Corporation,  welcher  er  angehörte,  die  Gerichtsbarkeit 
besessen  hatte,  übte  sie  später  über  die  ganze  Universität,  sogar  über 
die  Professoren  und  deren  Familien,  aus.  Allerdings  stand  ihm  dabei 
ein  Mitglied  der  juristischen  Facultät  als  Rathgeber  zur  Seite,  und  es 
dürfte  sich  ein  ähnliches  Verhältniss  entwickelt  haben,  wie  es  im  16. 
und    17.  Jahrhundert   zuweilen   auch  an  deutschen  Universitäten   be- 


1  Ad  reetoratus  igitur  officium   eligatur  Scolaris  nostrae  universitatis  in 
den  Statuten  der  Universität  Bologna.     Savigny  a.  a.  0.  Bd.  III,  S.  643. 

2  C.   Meiners:    Geschichte   der  Entstehung    und  Entwickelung    der    hohen 
Schulen  unseres  Erdtheils,  Göttingen  1802.  —  Savigny  a.  a.  0.  Bd.  III,  S.  292  u.  ff. 

3  Thomas  u.  Felix  Platter:  Zwei  Autobiographien,  her.  v.  Fechter,  Basel 
1840,  S.  155. 


Die  ältesten  Hochschulen  Italiens.  187 


standen  hat,  wenn  man  Studierenden  aus  vornehmen  Familien  das 
Kectorat  übertrug. 

Auf  das  Studien-  und  Prüfungswesen  hatten  die  Rectoren  keinen 
Einfluss;  dies  blieb  den  Professoren  überlassen.  Die  letzteren  erhielten 
für  den  Unterricht,  welchen  sie  ertheilten,  von  ihren  Schülern  Honorare; 
seit  dem  Beginn  des  13.  Jahrhunderts  gewährte  die  Stadt  ausserdem 
eine  gewisse  Besoldung. 

Nach  einem  Bericht,  welchen  der  Cardinal-Legat  Anglicus  i.  J.  1371 
erstattete,1  lehrten  in  Bologna  damals  3  Magister  die  theoretische, 
3  die  praktische  Medicin  und  einer  die  Chirurgie.  Sie  wurden  von  der 
Stadt  besoldet;  doch  gab  es  neben  ihnen  noch  andere  Lehrer,  welche 
keinen  Gehalt  bezogen.  Im  J.  1388  waren  dort  68  Professoren  an- 
gestellt, darunter  14  Mediciner,  27  Legisten,  12  Canonisten  und  15  Ar- 
tisten, Grammatiker  und  Magister  der  Notariatskunst;  i.  J.  1451  betrug 
die  Zahl  der  Lehrer  sogar  mehr  als  170,  und  es  erfolgte  deshalb  eine 
Verminderung  der  Lehrkanzeln.2  Unter  den  Professoren,  welche  im 
Mittelalter  dort  wirkten,  befanden  sich  Franzosen,  Deutsche,  Spanier, 
Engländer,  Portugiesen,  Polen  und  Griechen,3  und  ebenso  waren  auch 
unter  den  Studenten  alle  europäischen  Nationen  vertreten. 

Die  Professoren  mussten  sich  beim  Antritt  des  Lehramts  durch 
einen  Eid  verpflichten,  ihre  Wissenschaft  an  keinem  anderen  Ort  zu 
lehren  als  in  Bologna  und  mit  allen  Kräften  zum  Gedeihen  der  dor- 
tigen Hochschule  beizutragen.4  Gleichwohl  wurde  dadurch  nicht  ver- 
hütet, dass  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  Schüler  und  Lehrer  in 
grösserer  Anzahl  aus  Bologna  fortzogen  und  einen  anderen  Studiensitz 
aufsuchten.  Schon  1222  geschah  dies  und  gab  die  Veranlassung  zur 
Gründung  oder  Erweiterung  der  Hochschule  zu  Padua,  wo  vielleicht 
schon  lange  vorher  Schulen  für  einzelne  Wissenschaften  bestanden  hatten. 

Die  Universität  Padua  wurde  nach  dem  Muster  derjenigen  von 
Bologna  eingerichtet.  Auch  in  Padua  stand  der  Rector  an  der  Spitze 
der  Scholaren-Verbindungen,  deren  man  nach  ihrer  Nationalität  vier  unter- 
schied, nämlich  die  der  Italiener,  Franzosen,  Provenzalen  und  Deutschen.5 
Auch  hier  wurde  der  Rector  aus  der  Zahl  der  Studierenden  gewählt; 
es  wurde  von  ihm  nur  verlangt,  dass  er  einen  unbescholtenen  Ruf  be- 
sitze, mindestens  22  Jahre  alt  sei  und  ein  Jahr  in  Padua  von  seinem 
eigenen  Vermögen  gelebt  habe. 


1  Denifle  a.  a.  0.  S.  208  u.  ff. 

2  E.  Coppi:  Le  universita  italiane  nel  medio  evo,  Firenze  1880,  S.  257. 

3  Mazetti:   Repertorio  di  tutti  i  professori  dell'  universita  di  Bologna,  Bo- 
logna 1847.  4  E.  Coppi  a.  a.  0.  S.  78,  Anm. 

5  F.  C.  Colle:  Storia  dello  studio  di  Padova,  1824. 


188  Der  medioinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Wie  die  Universität  Bologna  wurde  auch  diejenige  zu  Padua  vor- 
zugsweise von  Juristen  besucht.  Im  J.  1262  gab  es  in  Padua  drei 
Lehrer  der  Medicin  und  der  Naturwissenschaften.  Das  Studium  der 
Heilkunde  gelangte  in  Padua  und  Bologna  eigentlich  erst  im  15.  und 
16.  Jahrhundert  zur  Blüthe. 

Die  Hochschule  zu  Vercelli,  welche  seit  1220  bestand,  verdankte 
dem  Umstände,  dass  in  Folge  von  Streitigkeiten  i.  J.  1228  ein  Theil 
der  Professoren  und  Studenten  zu  Padua  diese  Stadt  verliess,  einen 
grossen  Aufschwung.  Der  Rath  der  Stadt  Vercelli  schloss  mit  denselben 
einen  Vertrag,1  in  welchem  sie  durch  verschiedene  Vortheile  bewogen 
wurden,  dorthin  zu  übersiedeln.  In  Vercelli  waren  alle  Fächer  ver- 
treten; die  Medicin  hatte  zwei  Lehrkanzeln.  Doch  existirte  die  Hoch- 
schule nicht  viel  länger  als  ein  Jahrhundert. 

Die  Universität  zu  Vicenza  entstand  wahrscheinlich  auf  dieselbe 
Weise,  indem  Schüler  und  Lehrer  von  Bologna  dorthin  kamen.  Sie 
erlangte  als  Kechtsschule  im  Beginn  des  13.  Jahrhunderts  einen  gün- 
stigen Ruf.  Erst  1261  wurde  ein  Lehrer  der  Medicin  angestellt,  welcher 
eine  jährliche  Besoldung  von  150  librae  denariorum  erhielt. 

In  Modena,  wo  die  juristischen  AVissenschaften  schon  im  12.  Jahr- 
hundert eifrig  getrieben  wurden,  gab  es  erst  im  14.  Jahrhundert  einen 
Lehrer  der  Heilkunde.  Reggio  (Emilia)  besass  seit  1188  eine  Rechts- 
schule, die  aber  keine  grosse  Bedeutung  erlangte.  Die  Hochschule  zu 
Arezzo,  an  welcher  auch  die  Medicin  gelehrt  wurde,  bestand  bereits 
im  13.  Jahrhundert,2  wurde  aber  erst  1355  förmlich  zur  Universität 
erklärt  und  ging  im  16.  Jahrhundert  wieder  ein. 

Siena  war  schon  1203  wegen  seiner  vortrefflichen  Schulen  be- 
kannt. Im  J.  1241  wurde  dort  ausser  anderen  Wissenschaften  auch 
die  Medicin  gelehrt,  und  1247  gab  es  bereits  drei  Lehrer  dieser  Dis- 
ciplin.  Als  i.  J.  1285  im  Stadtrath  die  Berufung  fremder  Professoren 
zur  Sprache  kam,  suchte  man  auch  den  in  der  Chirurgie  erfahrenen 
Ranuccius  zu  gewinnen;  ausserdem  lehrte  dort  ein  Magister  Orlandüs 
die  Medicin.3 

Im  J.  1321  vergrösserte  sich  die  Universität  zu  Siena,  da  sie  Zuzug 
von  Bologna  erhielt.  Dino  di  Garbo,  welcher  damals  in  Siena  die 
Medicin  vertrat,  bezog  einen  jährlichen  Gehalt  von  1155  Lire.  Später 
sank  die  Universität,  und  ihr  Verfall  wurde  auch  nicht  wesentlich  auf- 
gehalten dadurch,  dass  sie  vom  Kaiser  Carl  IV.  i.  J.  1357  die  officielle 


1  Coppi  a.  a.  0.  S.  109  u.  ff.  —  Savigny  a,  a.  0.  Bd.  III,  S.  666  u.  ff. 

2  Savigny  a.  a.  0.  Bd.  III,  S.  312  u.  ff. 

3  Denifle  a.  a.  0.  I,  S.  437. 


Die  ältesten  Hochschulen  Italiens.  189 


Anerkennung  als  Studium  generale  empfing.  Erst  am  Ende  des  1 5.  Jahr- 
hunderts hob  sie  sich  wieder. 

Piacenza  besass  am  Schluss  des  12.  Jahrhunderts  eine  Rechts- 
schule, welche  1248  zu  einer  Universität  erhoben  wurde.  Als  Lehrer 
der  Medicin  wirkte  damals  der  Magister  Hugo,  ein  Kleriker.  Die 
Hochschule  erlangte  erst  unter  Galezza  Visconti  ein  gewisses  An- 
sehen; i.  J.  1399  hatte  sie  71  Lehrer,  unter  denen  sich  22  Mediciner 
befanden.     Sie  wurde  schon  1403  wieder  aufgehoben. 

Am  Sitz  der  päbstlichen  Curie  entstand  1244  eine  mit  den  Rechten 
einer  Universität  ausgestattete  Unterrichtsanstalt,  in  welcher  Theologie, 
Jurisprudenz,  orientalische  Sprachen  und  später  auch  Medicin  gelehrt 
wurden.  Sie  befand  sich  zuerst  in  Avignon  und  dann  in  Rom,  wo 
sie  mit  der  dort  seit  1303  bestehenden  Hochschule  vereinigt  wurde. 

An  derselben  lehrten  i.  J.  1514  88  Professoren,  nämlich  4  Theo- 
logen, 11  Canonisten,  20  Legisten,  15  Mediciner  und  38  Philosophen, 
Mathematiker,  Rhetoriker  und  Grammatiker;  dagegen  war  die  Zahl  der 
Schüler  verhältnissmässig  gering.  Unter  dem  Pabst  Alexander  VI. 
begann  der  Bau  der  Sapienza,  deren  Hallen  noch  heut  als  Sitz  der 
Universität  Rom  dienen. 

In  Perugia  bestand  im  13.  Jahrhundert  eine  Rechtsschule;  doch 
wurden  daneben  auch  andere  Wissenschaften  und  namentlich  die  Me- 
dicin gelehrt.  Im  J.  1308  erklärte  der  Pabst  die  Schule  für  eine 
Universität.  Es  gab  an  derselben  Anfangs  nur  einen,  aber  seit  1314 
zwei  Lehrer  der  Medicin,  welche  indessen  nur  stets  für  einen  Zeitraum 
von  3  Jahren  angestellt  wurden.  In  der  Matrikel  von  1339  erscheinen 
neben  4  Doktoren  des  canonischen  Rechts,  3  des  Civilrechts,  1  der 
Philosophie,  1  der  Logik  auch  3  der  Medicin  und  neben  119  Studenten 
der  Jurisprudenz  23  Mediciner;  doch  waren  dies  sämmtlich  Auswärtige, 
weil  die  Einheimischen  nicht  aufgezählt  wurden.1  Die  Mehrzahl  der- 
selben stammte  allerdings  aus  Italien,  aber  viele  auch  aus  Deutschland. 
Bemerkenswerth  ist  dabei,  dass  die  Lehrer  und  Schüler  der  Jurisprudenz 
den  Titel  Dominus,  diejenigen  der  Medicin  und  der  Philosophie  den 
Titel  Magister  führten. 

Im  Jahre  1342  wurden  die  Lehrkräfte  vermehrt  und  in  den 
Statuten  von  1366  bestimmt,  dass  mindestens  7  Lehrer  der  Heilkunde 
vorhanden  seien.  Im  J.  1431  gab  es  deren  8,  von  denen  einer  speciell 
den  Unterricht  in  der  Osteologie  ertheilen  musste. 

Treviso  hatte  im  13.  Jahrhundert  eine  höhere  Lehranstalt,  die 
i.  J.  1314  in  ein  Studium  generale  umgewandelt  wurde,  welches  1318 


1  Denifle  a.  a.  0.  I,  S.  546.  —  Coppi  a.  a.  0.  S.  127,  Anm. 


190  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter 


das  kaiserliche  Privilegium  erhielt.  Die  Stadt  beschloss,  12  Lehrkanzeln 
zu  gründen,  von  denen  drei  für  die  Medicin  bestimmt  wurden.  Dieser 
Universität  war  nur  eine  kurze  Dauer  beschieden;  denn  sie  hatte  schon 
im  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  zu  sein  aufgehört. 

Die  Hochschule  zu  Pisa  ging  1343  aus  einer  Kechtsschule  hervor. 
Sie  musste  mit  manchen  widrigen  Verhältnissen  kämpfen;  so  wurden 
z.  B.  1359  sämmtliche  Professoren  entlassen,  weil  das  Geld  für  ihre  Be- 
soldungen fehlte.  Im  J.  1403  wurde  die  Universität  aufgehoben  und 
erst  1473  unter  Lorenzo  de  Medici,  der  sie  sehr  begünstigte,  wieder 
eröffnet. 

Von  dieser  Zeit  an  hob  sie  sich  rasch  und  erlangte  noch  am 
Schluss  des  15.  Jahrhunderts  eine  hervorragende  Bedeutung.  Zum 
grossen  Theile  verdankte  sie  dies  dem  Umstände,  dass  die  Universität 
Florenz,  welche  schon  im  14.  Jahrhundert  berühmte  Mediciner  unter 
ihren  Lehrern  hatte  und  Stiftungsbriefe  vom  Pabst  und  vom  Kaiser 
besass,  i.  J.  1473  nach  Pisa  verlegt  wurde. 

Auch  die  Universität  Pavia  entwickelte  sich  aus  einer  Kechtsschule. 
Sie  wurde  1361  vom  Kaiser  Carl  IV.  zu  einem  Studium,  generale  er- 
hoben. Die  Heilkunde  fand  dort  eifrige  Pflege  und  Förderung.1  Unter 
den  Studierenden  befanden  sich  viele  Deutsche. 

In  Ferrara  gab  es  im  13.  Jahrhundert  berühmte  Artisten-Schulen. 
Sie  wurden  1391  zu  einer  Universität  vereinigt  und  gleichzeitig  dafür 
Sorge  getragen,  dass  auch  die  Rechtswissenschaft  und  die  Medicin  ver- 
treten waren.  Im  J.  1474  lehrten  an  der  dortigen  Hochschule  51  Pro- 
fessoren, darunter  auch  mehrere  Mediciner. 

Turin  erhielt  1405  und  Catania  1445  eine  Hochschule.  Auch  in 
Parma,  Cremona,  Lucca  und  anderen  Städten  Italiens  wurde  während 
des  Mittelalters  zeitweilig  Unterricht  in  einzelnen  Wissenschaften,  z.  B. 
in  der  Rechtskunde  und  Medicin,  ertheilt,  ohne  dass  sich  jedoch  dort 
ein  mit  gesetzlichen  Privilegien  ausgestattetes  regelrechtes  Universitäts- 
studium entwickelte. 


Die  ältesten  Hochschulen  in  Prankreich. 

In  Frankreich  entstanden  in  jener  Periode  eine  grosse  Anzahl  von 
Hochschulen.2     In    Orleans,    Angers   und   Rheims    gab    es   schon   im 


1  Alf.  Corradi  in   den  Memorie  e  documenti  per  la  storia  dell'  universitä 
di  Pavia,  Pavia  1878,  I,  99—145. 

2  E.  Pasquier:  Recherches  de  la  France,  Paris  1633,  p.  888  u.  ff. 


Die  ältesten  Hochschulen  in  Frankreich.  191 


13.  Jahrhundert  oder  noch  früher  besuchte  Rechtsschulen,  welche  später 
zu  Universitäten  erklärt  wurden.  Sie  waren  bemüht,  fremde  Studierende 
dorthin  zu  ziehen  und  gewährten  ihnen  aus  diesem  Grunde  manche 
Vorrechte.  So  hatten  die  Studenten  aus  Deutschland  in  Orleans  ihre 
besondere  Gerichtsbarkeit  und  freien  Eintritt  in  das  Theater  und  wurden 
ohne  Unterschied  der  Geburt  wie  Adelige  behandelt.1 

Der  Unterricht  in  der  Medicin  wurde  dort  nur  ausnahmsweise  er* 
theilt  und  erlangte  niemals  besondere  Bedeutung.  Angers  hatte  z.  B. 
i.  J.  1362  unter  44  Lehrern  nur  einen  einzigen,  welcher  Heilkunde 
vortrug.  Ähnlich  stand  es  in  Toulouse,  wo  1229  ein  Studium  generale 
gegründet  wurde.  Ebensowenig  wurde  die  Medicin  an  den  Hochschulen 
zu  Avignon,  Cahors,  Grenoble  und  Orange  beachtet,  welche  im  14.  Jahr- 
hundert errichtet  wurden.2 

Einzelne  derselben  hatten  niemals  viele  Studenten.  Yon  Orange 
ging,  wie  Gölnitz  erzählt,  der  Witz,  dass  die  gesammte  Universität 
nur  aus  drei  Personen  bestehe,  nämlich  dem  Rector,  dem  Schreiber  und 
dem  Pedell.3 

Ä.uch  die  Hochschulen  zu  Perpignan,  Aix,  Dole,  Caen,  Poitiers, 
Valence,  Lyon,  Bordeaux,  Bourges  und  Nantes,  die  bis  zum  16.  Jahr- 
hundert entstanden,  erlangten  keine  grössere  Bedeutung. 

Die  Entwickelung  der  politischen  und  socialen  Verhältnisse  Frank- 
reichs brachte  es  mit  sich,  dass  die  kleinen  Provinzial-Universitäten  in 
den  Hintergrund  gedrängt  wurden  durch  Paris,  welches  den  Mittelpunkt 
alles  geistigen  Lebens  bildete. 

Diese  Universität  entstand  durch  die  Vereinigung  der  von  einander 
unabhängigen  höheren  Schulen  zu  Paris,  in  welchen  schon  im  12.  Jahr- 
hundert die  Rechtskunde,  die  Medicin  und  mehrere  andere  Wissen- 
schaften gelehrt  wurden.  Über  die  Einrichtungen  derselben  und  die 
Studien,  welche  in  ihnen  gepflegt  wurden,  hat  Johann  von  Salisbuey 
genauere  Nachrichten  hinterlassen.4 

Es  ist  nicht  bekannt,  wie  es  kam,  dass  die  Lehrer  derselben  Dis- 
ciplin  sich  an  einander  anschlössen  und  einen  Verband  bildeten.  Wahr- 
scheinlich geschah  dies  i.  J.  1209  auf  Veranlassung  des  Pabstes  Inno- 
cenz  III.,  welcher  den  Meistern  der  verschiedenen  Wissenschaften  be- 
fahl, sich  Gesetze  zu  geben.5 


1  Savigny  a.  a.  0.  Bd.  III,  8.  402  «.  ff. 

2  G.  Bayle:  Les  medecins  d' Avignon,  Avignon  1882,  p.  43  u.  ff. 

3  A.  Gölnitz:  Ulysses  Belgico-Gallicus,  Lugd-Batav.  1631,  p.  468. 

4  Johannes  Saresberiensis  :   Metalog. ,  lib.  II,  c.  10,  Ed.  Migne  (Patrol.  lat. 
Bd.  199,  p.  867). 

5  A.  F.  Thery:  Histoire  de  l'education  en  France,  Paris  1858. 


192  Der  medicinisGhe   Unterricht  i?n  Mittelalter. 


Im  J.  1215  traten  die  Magistri  der  vier  Disciplinen  bereits  als 
Corporationen,  als  Facultäten  in  unserem  Sinne,  auf  und  hatten  ihre 
besonderen  Statuten.1  Ihre  Vereinigung  zu  einer  Universität  erfolgte 
jedoch  erst  1254. 

Neben  ihrer  Eintheilung  in  die  Facultäten  bestand  schon  im 
13.  Jahrhundert  zu  Paris  diejenige  in  vier  Nationen,  welche  offenbar 
den  an  den  italienischen  Universitäten  vorhandenen  Einrichtungen  nach- 
gebildet war.  Dieselbe  scheint  sogar  auf  die  Verwaltung  der  Hoch- 
schule grösseren  Einfluss  ausgeübt  zu  haben,  als  die  Scheidung  der 
Facultäten. 

Das  Studium  der  artes  liberales  bildete  die  Vorstufe  zu  demjenigen 
der  Theologie,  der  Jurisprudenz  und  der  Medicin,  und  die  philosophische 
Facultät  diente  den  drei  übrigen  gleichsam  als  Grundlage. 

Unter  der  „medicinischen  Facultät"  verstand  man  nicht  blos,  wie 
heut,  das  Lehrer-Collegium  der  medicinischen  Schule,  sondern  die  Zunft 
der  diplomirten  Ärzte  zu  Paris.  Da  Anfangs  jeder  geprüfte  Arzt  be- 
rechtigt war,  die  Lehrthätigkeit  an  der  Hochschule  auszuüben,  so  lag 
es  nahe,  beide  Corporationen  zu  identiiiciren ,  umsomehr  als  in  ihnen 
häufig  dieselben  Personen  die  leitende  Rolle  spielten. 

Aber  nicht  jeder  Arzt  konnte  und  wollte  zugleich  als  Lehrer  seiner 
Kunst  thätig  sein.  Die  ärztliche  Corporation  beschloss  deshalb,  all- 
jährlich einige  ihrer  Mitglieder  zum  Lehramt  zu  deputiren.  Dasselbe 
verlangte  jedoch  manche  Kenntnisse  und  Fähigkeiten,  welche  nicht 
Jeder  besitzt,  und  es  war  daher  sehr  natürlich,  dass  sich  allmälig  eine 
Klasse  von  Ärzten  entwickelte,  welche  die  Lehrthätigkeit  zu  ihrem 
Beruf  machte. 

Diese  Verhältnisse  müssen  sorgfältig  berücksichtigt  werden,  wenn 
man  die  damaligen  Zustände  der  Universität  Paris  und  des  medicinischen 
Studiums  an  derselben  richtig  verstehen  will.  Sie  erklären  die  selbst- 
ständige Stellung  der  medicinischen  Facultät  gegenüber  der  Universität, 
den  Einfluss  der  dem  Lehramt  fernstehenden  Ärzte  auf  den  medicinischen 
Unterricht  und  manche  andere  Thatsachen,  welche  in  den  historischen 
Überlieferungen  seltsam  und  räthselhaft  erscheinen. 

Der  Rector  war  auch  in  Paris  ursprünglich  das  Haupt  der  Scho- 
laren-Corporationen,  der  Nationen.  Da  ihre  Mitglieder  als  Schüler 
oder  als  Graduirte  zur  philosophischen  Facultät  gehörten  oder  in  Be- 
ziehungen standen,  so  machte  es  sich  von  selbst,  dass  er  allmälig  die 
Leitung  derselben  erhielt.  Die  Facultät  der  Artisten  bildete  aber  den 
Grundstock  der  ganzen  Universität;    daher   kam    es,    dass    der  Rector 


1  Bulaeus:  Historia  univerßitatis  Parisiensis,  Paris  1665 — 73,  T.  III,  p.  81. 


Die  ältesten  Hochschulen  in  Frankreich.  193 


später  an  deren  Spitze  trat.  Schon  1280  galt  er  als  Haupt  der  ge- 
sammten  Universität;  nur  die  theologische  Facultät  machte  davon  eine 
Ausnahme;  doch  wurde  sie  in  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  ebenfalls 
seiner  Autorität  unterstellt. 

Zum  Rector  konnte  nur  Jemand  erwählt  werden,  der  einen  aka- 
demischen Grad  in  der  philosophischen  Facultät,  also  eine  wissenschaft- 
liche Allgemeinbildung  besass.  Allmälig  entstand  der  Gebrauch,  diese 
Würde  einem  Manne  in  hervorragender  Lebensstellung  zu  übertragen, 
der  bisweilen,  wenn  auch  nicht  immer,  dem  Lehrer-Collegium  angehörte. 
Die  gleiche  Einrichtung  herrschte  später  auch  an  den  Hochschulen  zu 
Wien,  Prag  u.  a.  0. 

Ein  Dekan  der  medicinischen  Facultät  wird  i.  J.  1267  erwähnt; 
es  war  Petrus  Lemonensis.  l  Der  Dekan  wurde  von  der  ärztlichen 
Zunft,  deren  Vorstand  er  war,  gewählt.  Er  durfte,  wenigstens  in 
späteren  Zeiten,  die  Lehrthätigkeit  nicht  ausüben,  damit  die  letztere 
nicht  durch  die  administrativen  Geschäfte,  welche  ihm  übertragen  wurden, 
vernachlässigt  würde. 

Die  Lehrer  der  medicinischen  Facultät  schieden  sich  in  diejenigen, 
welche  zu  Vorträgen  verpflichtet  waren  und  durch  dieselben  eine  be- 
stimmte Lücke  im  Studienplan  ausfüllten,  und  in  solche,  welche  aus 
freiem  Willen  Vorlesungen  hielten. 

Die  ersteren  führten  den  Vorsitz  bei  Disputationen  und  feierlichen 
Gelegenheiten  und  wurden  Doctores  oder  Magistri  actu  regentes  genannt; 
ihre  Stellung  entsprach  ungefähr  derjenigen  unserer  ordentlichen  Pro- 
fessoren. Die  übrigen  Mitglieder  des  Lehrkörpers,  die  Doctores  non 
regentes,  hatten  keine  Verpflichtung  zur  Lehrthätigkeit  und  dafür  auch 
keinen  Antheil  an  verschiedenen  Vorrechten  und  Einnahmequellen, 
welche  jenen  vorbehalten  waren. 

Die  Lehrer  der  Hochschule  unterrichteten  gewöhnlich  in  ihren 
Wohnungen.  Die  medicinische  Facultät  erhielt  erst  1505  ein  eigenes 
Gebäude.  Bis  dahin  fanden  die  Versammlungen  Tierseiben  in  der  Kirche 
des  Mathurins  oder  im  Dom  zu  Notre-Dame  statt. 

Über  das  numerische  Verhältniss  der  einzelnen  Facultäten  giebt 
die  Thatsache  Aufschluss,  dass  es  i.  J.  1348  in  Paris  32  Magistri  der 
Theologie,  18  des  canonischen  Rechts,  46  der  Medicin  und  514  der 
artes  liberales  gab.  2 


1  Büchez:  De  la  faculte  de  medecine  de  Paris  im  Journal  des  progres  des 
sciences  et  institutions  medicales,  Paris  1822. 

2  Wenn  Denifle  a.  a.  0.  I,  S.  123,  dem  ich  diese  Zahlen  entnehme,  sie 
sämmtlich  für  regentes  hält,  so  widerspricht  diese  Annahme  allen  übrigen  Ver- 
hältnissen. 

Puschmann,   Unterricht.  13 


194  Der  medieinische   Unterricht  im  Mittelalter 


Die  Zahl  der  zum  Collegium  der  Ärzte,  also  zur  medicinisclien 
Facultät  zu  Paris  gehörenden  Doktoren,  betrug  i.  J.  1311  29,  i.  J. 
1395  31  und  von  1391— 1431  durchschnittlich  36.  Als  die  Engländer 
1442  Paris  belagerten,  waren  nur  10  bis  12  diplomirte  Ärzte  in  der 
Stadt  anwesend;  doch  schaarte  sich  um  sie  eine  Menge  von  Schülern, 
welche  unter  ihrer  Aufsicht  die  Praxis  ausübten. 

Auch  später  wuchs  die  medicinische  Facultät  nicht  in  dem  gleichen 
Verhältniss  wie  die  Stadt  Paris;  denn  i.  J.  1500  bestand  die  dortige 
medicinische  Facultät  aus  72,  i.  J.  1566  aus  81,  1626  aus  85,  1634 
aus  101,  1675  aus  105  und  1768  aus  148  Doktoren.1  Neben  ihnen 
existirten  in  Paris  eine  grosse  Anzahl  von  Ärzten,  welche  zwar  zur 
Ausübung  der  Praxis  berechtigt  waren,  aber  nicht  den  Doktor-Titel 
erworben  hatten  und  daher  auch  nicht  Mitglieder  der  medicinischen 
Facultät  sein  konnten,  sowie  von  geprüften  Chirurgen  und  andern  vom 
Gesetz  legitimirten  Heilkundigen. 

Die  Organisation  und  die  Einrichtungen  der  Universität  Paris  bil- 
deten das  Vorbild  für  die  meisten  Hochschulen,  welche  in  den  folgenden 
Jahrhunderten  in  Deutschland,  England  und  den  übrigen  Staaten  ge- 
gründet wurden. 


Die  übrigen  Universitäten  Europas  im  Mittelalter. 

Die  ältesten  Universitäten  Spaniens  entstanden  wahrscheinlich  unter 
dem  Einfluss  der  arabischen  Traditionen. 

In  Palencia  gab  es  schon  zur  Grothenzeit  berühmte  Schulen;  im 
Beginn  des  13.  Jahrhunderts  errichtete  Alfons  VIII.  dort  eine  Uni- 
versität, an  welcher  jedoch  die  medicinische  Facultät  fehlte.  Übrigens 
bestand  die  Hochschule  nur  kurze  Zeit. 

Die  Universität  Salamanca,  welche  von  Ferdinand  III.  i.  J.  1243 
gegründet  wurde,  entwickelte  sich,  wie  es  scheint,  aus  einer  Kathedral- 
schule. An  ihr  waren  alle  Fächer  mit  Ausnahme  der  Theologie,  die 
erst  im  14.  Jahrhundert  hinzukam,  vertreten.  Den  medicinischen  Unter- 
richt ertheilten  Anfangs  nur  zwei  Lehrer,  wie  dies  auch  an  anderen 
Hochschulen  jener  Zeit  der  Fall  war.  Salamanca  erlangte  einen  Ruf, 
der   weit  über   die  Grenzen  Spaniens   hinausreichte   und   wurde    vom 


1  A.  Springer:  Paris  im  13.  Jahrhundert,  Leipzig  1856.  —  J.  C.  Sabatier: 
Recherches  historiques  sur  la  faculte  de  medecine  de  Paris,  1835. 


Die  übrigen   Universitäten  Europas  im  Mittelalter.  195 

Pabst  Martin  V.  neben  Bologna,  Neapel  und  Paris  zu  einer  der  vier 
ersten  Hochschulen  der  Christenheit  erklärt.1 

Geringere  Bedeutung  hatten  die  übrigen  Universitäten  der  iberischen 
Halbinsel.  In  Sevilla  wurde  vorzugsweise  das  Studium  der  orientalischen 
Sprachen,  besonders  des  Arabischen,  getrieben;  die  Hochschule  diente 
zur  Erziehung  von  Missionaren  und  wurde  erst  im  Beginn  des  16.  Jahr- 
hunderts mit  den  übrigen  Facultäten  ausgestattet. 

Die  Universität  zu  Lissabon  wurde  1288  gestiftet,  aber  1308  nach 
Coimbra  verlegt.  Dieses  Schicksal  widerfuhr  ihr  noch  mehrere  Male; 
denn  sie  kam  1338  wieder  nach  Lissabon,  1354  wieder  nach  Coimbra, 
1377  wieder  nach  Lissabon,  und  1537  wieder  nach  Coimbra.  Es  macht 
fast  den  Eindruck,  als  ob  die  beiden  Städte  mit  einander  einen  Vertrag 
geschlossen  hätten,  dass  der  Sitz  der  Universität  zwischen  ihnen  un- 
gefähr alle  20  Jahre  wechsele.  Es  wurden  an  ihr  alle  Wissenschaften 
gelehrt;  doch  bestand  für  die  Heilkunde  i.  J.  1400  nur  eine  einzige 
Lehrkanzel. 

Spanien  erhielt  ausserdem  um  1260  in  Valladolid,  i.  J.  1300  zu 
Lerida,  1354  zu  Huesca,  1411  zu  Valencia,  1446  zu  Gerona  (?),  1450 
zu  Barcelona,  1474  zu  Saragossa,  um  1480  zu  Siguenza,  1482  zu 
Avila,  1483  in  Palma,  und  1499  zu  Alcala  Universitäten.  An  einigen 
von  ihnen  fehlte  die  medicinische  Facultät. 

Die  spanischen  Universitäten  schienen  durch  die  politischen  Er- 
eignisse wie  durch  die  geographische  Lage  ihres  Landes  vorzugsweise 
zu  der  grossen  Aufgabe  berufen  zu  sein,  die  arabische  Cultur  dem 
christlichen  Europa  zu  übermitteln,  und  durften  hoffen,  dass  sie  in 
Eolge  der  Anregungen,  welche  sie  aus  dem  ihnen  übergebenen  reichen 
Wissensschatz  ihrer  semitischen  Vorgänger  erhielten,  durch  lange  Zeit 
eine  massgebende  Kolle  unter  den  höheren  Unterrichtsanstalten  behaupten 
würden.  Wenn  sie  gleichwohl  keinen  nachhaltigen  Einfluss  auf  die 
Entwickelung  der  Wissenschaften  ausübten  und  nach  einer  kurzen 
Blütheperiode,  welche  wie  ein  freundlicher  Lichtschimmer  die  Geschichte 
des  16.  Jahrhunderts  verklärt,  in  einen  Zustand  geistiger  Erstarrung 
versanken,  der  ihnen  die  Fähigkeit  selbstständiger  Bewegung  nahm,  so 
liegt  die  Schuld  an  dem  politischen  und  religiösen  Druck,  welcher  hier 
eine  beispiellose  Höhe  erreichte.  Selbst  in  den  schlimmsten  Zeiten  der 
Despotie  und  des  Aberglaubens  hat  es  dort  an  frischen  Blüthen  des 
geistigen  Lebens  nicht  gefehlt;  aber  sie  wurden  zertreten  und  konnten 
nur  zur  Reife  gedeihen,  wenn  sie  dem  heimischen  Boden  entzogen 
wurden. 


1  V.delaFuente:  Historia  de  las  universidadesen Espana,  Madrid  1884. 85, 2  Bde. 

13* 


196  Der  medizinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

Die  alten  englischen  Universitäten  zu  Oxford  und  Cambridge  ent- 
wickelten sich  allmälig  aus  den  Schulen,  welche  schon  im  12.  Jahr- 
hundert dort  existirten. x  Es  lässt  sich  nicht  bestimmen,  wann  sie  den 
Charakter  von  Hochschulen  annahmen.  In  den  ersten  Decennien  des 
13.  Jahrhunderts  erscheinen  sie  bereits  als  organisirte  akademische 
Körperschaften,  als  Universitäten. 

Die  Heilkunde  wurde  in  diesen  Studienanstalten  neben  anderen 
Wissenschaften  zwar  auch  gelehrt,  aber  nur  als  ein  Theil  der  allge- 
meinen philosophischen  Ausbildung.  Für  diesen  Zweck  genügte  ein 
Lehrer  dieser  Disciplin,  welcher  den  Schülern  die  wichtigsten  Thatsachen 
derselben  mittheilte.  Ähnliche  Verhältnisse  herrschten  an  der  Hoch- 
schule zu  St.  Andrews,  welche  1411,  zu  Glasgow,  die  1450,  und  Aber- 
deen,  welche  1494  gegründet  wurde. 

Auf  deutschem  Boden  wurde  die  erste  Universität  i.  J.  1348  zu 
Prag,  der  Residenz  des  Kaisers  Carl  IV.  errichtet.  Ein  wohlwollender 
Freund  und  Gönner  aller  wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Be- 
strebungen, war  derselbe  eifrig  bemüht,  die  Unterthanen  seines  Reiches, 
namentlich  aber  seines  böhmischen  Erblandes,  mit  den  Vortheilen  der 
italienischen  und  französischen  Cultur  bekannt  zu  machen.  Aus  diesem 
Grunde  schuf  er  in  seiner  Hauptstadt  ein  Studium  generale,  welches  er 
nach  dem  Muster  der  Pariser  Hochschule  einrichtete. 

Dasselbe  enthielt  sämmtliche  vier  Facultäten,  und  den  Professoren 
wurden  feste  Besoldungen  angewiesen.  Die  Studierenden  wurden  wie 
in  Paris  und  Bologna  in  vier  Nationen  eingetheilt,  nämlich  in  die 
böhmische,  bayerische,  sächsische  und  polnische.  An  ihrer  Spitze  stand 
der  Rector,  welcher  zum  Klerus,  aber  nicht  zu  einem  geistlichen  Orden 
gehören,  d.  h.  eine  der  niederen  Weihen  besitzen,  mindestens  25  Jahre 
alt,  und  legitimer  Herkunft  sein  und  ein  tadelloses  Leben  geführt 
haben  musste.2  Es  konnten  zu  dieser  Würde  auch  Studierende  ge- 
wählt werden. 

Die  oberste  Aufsicht  über  die  Universität  wurde  dem  Erzbischof 
von  Prag  übertragen,  also  einem  hohen  Geistlichen,  wie  dies  zu  jener 
Zeit  bereits  an  vielen  Hochschulen  üblich  war. 

Die  Universität  Prag  hob  sich  sehr  rasch.  Schon  Benesch  de 
Waitmuel,  ein  Schriftsteller  des  14.  Jahrhunderts,  sagte,  dass  „an 
keinem  Ort  in  Deutschland  die  Wissenschaften  solche  sorgsame  Pflege 
fanden,  wie  in  Prag,  und  dass  dorthin  Studierende  aus  England  und 


1  H.  C.  Maxwell  Lyte:  A  history  of  the  university  of  Oxford  from  the 
earliest  times  to  1530,  London  1886.  —  James  Bass  Mullinger:  The  university 
of  Cambridge  (reicht  bis  z.  J.  1535),  Cambridge  1873. 

2  W.  Tomek:  Geschichte  der  Prager  Universität,  Prag  1849. 


Die  übrigen  Universitäten  Europas  ini  Mittelalter.  197 

Frankreich,  der  Lombardei,  aus  Ungarn,  Polen  und  den  angrenzenden 
Ländern  kamen,  unter  ihnen  Söhne  von  Adeligen  und  Fürsten  und 
hohe  Prälaten  aus  den  verschiedenen  Theilen  der  Welt."1 

Wenn  auch  die  Angaben  über  die  Zahl  der  Studenten,  welche  die 
Hochschule  damals  zählte,  übertrieben,2  jedenfalls  aber  sehr  unverläss- 
lich  sind,  so  lässt  sich  doch  annehmen,  dass  dieselbe  nicht  unbedeutend 
war.  Im  J.  1372  constituirte  sich  die  juristische  Facultät  als  besondere 
Universität  und  wählte  ihren  eigenen  Kector;  sie  bestand  damals  aus 
37  Mitgliedern  der  böhmischen,  48  der  ba3'erischen,  41  der  polnischen 
und  29  der  sächsischen  Nation. 

Das  medicinische  Studium  fand  keineswegs  die  gebührende  Be- 
rücksichtigung; es  wurde  durch  einen  oder  höchstens  zwei  Lehrer  ver- 
treten. Als  die  ersten  werden  Nicolaus  de  G-evicka,  Balthasae  de 
Tuscia  und  Walther  genannt. 

Die  nationalen  und  religiösen  Streitigkeiten,  welche  später  in  Prag 
ausbrachen,  hatten  die  Folge,  dass  viel  fremde  Studierende  die  dortige 
Universität  verliessen  und  die  Studien  vernachlässigt  wurden.  Damit 
begann  ihr  Verfall,  der  auf  dem  Gebiete  der  Medicin  am  Schluss  des 
15.  Jahrhunderts  bereits  ziemlich  deutlich  zu  Tage  trat. 

Die  Wiener  Universität  wurde  1365  gestiftet,  trat  aber  eigentlich 
erst  1385  ins  Leben.  Sie  wurde  nach  dem  Vorbild  der  Pariser  Hoch- 
schule organisirt.  Wie  dort,  schieden  sich  auch  hier  die  Mitglieder 
derselben  in  vier  Nationen,  an  deren  Spitze  Procuratoren  standen,  welche 
den  Rector  wählten.  Das  Haupt  der  ganzen  Universität  war  der 
Kector,  welcher  dieselbe  nach  aussen  vertrat  und  die  Gerichtsbarkeit 
ausübte.  Das  Amt  des  Kanzlers  bekleidete  der  Probst  der  St.  Stefans- 
Kirche. 

Die  medicinische  Facultät  bildete  die  Vereinigung  der  diplomirten 
Ärzte;  ihr  Vorstand,  der  Dekan,  wurde  von  ihnen  gewählt.  Zur  Lehr- 
tätigkeit waren  sie  sämmtlich  berechtigt;  doch  übten  nur  Einzelne 
dieselbe  aus  und  zwar  selten  mehr  als  6  bis  8.3  Die  Doetores  regentes 
erhielten  bestimmte  Besoldungen.    Die  ersten  Lehrer  der  Medicin  waren 


1  Denifle  a.  a.  0.  I,  S.  600. 

2  Darnach  soll  es  in  Prag  damals  30  000  Studenten  gegeben  haben ;  von 
Bologna,  Oxford  und  Löwen  existiren  ähnliche  Berichte.  Wahrscheinlich  rechnete 
man  dazu  nicht  blos  die  Studenten  und  Schüler,  welche  für  die  Universitäts- 
studien vorbereitet  wurden,  sondern  auch  alle  Jene,  welche  in  früheren  Jahren 
dort  studiert  hatten,  sowie  die  Beamten  und  Handwerker,  die  zu  der  Hochschule 
in  geschäftlichen  Beziehungen  standen.  Vergl.  Paulsen  in  Sybel's  histor.  Zeit- 
schr.  1881,  Bd.  45,  S.  291  u.  ff. 

3  J.  Aschbach:  Geschichte  der  Wiener  Universität,  Wien  1865,  I,  S.  326. 


1 98  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Johann  Gallici  aus  Breslau,  Hermann  Lurcz  aus  Nürnberg,  Her- 
mann von  Treysa  aus  Hessen,  Conrad  von  Schiverstadt  und  Martin 
von  Wallsee. 

Im  J.  1364  gründete  König  Kasimir  von  Polen  in  Krakau  eine 
Hochschule,  an  welcher  zwei  Lehrkanzeln  für  die  Heilkunde  bestimmt 
wurden.  Doch  wurden  diese  Pläne  erst  i.  J.  1400  verwirklicht.  Auch 
für  Kulm  wurde  1387  ein  päbstlicher  Stiftungsbrief  erwirkt;  aber  die 
Universität  scheint  nicht  ins  Leben  getreten  zu  sein. 

Die  Universität  Heidelberg  entstand  1386.  Sie  hatte  Anfangs  nur 
vier  Professuren  für  alle  Facultäten.  Der  erste  Lehrer  der  Medicin  wurde 
1390  angestellt.  Er  blieb  auch  lange  Zeit  der  einzige  Vertreter  dieser 
Wissenschaft. 1 

In  Köln  a/Rh.  wurde  1388  eine  Hochschule  gestiftet,  die  einen 
glänzenden  Anfang  nahm.  Sie  bestand  bis  z.  J.  1798  und  wurde  erst 
unter  der  französischen  Herrschaft  gleichzeitig  mit  den  Universitäten 
Trier  und  Mainz  aufgehoben. 

Die  Erfurter  Hochschule,  welche  schon  1379  die  Rechte  eines 
Studium  generale  erhielt  und  jedenfalls  seit  1392  als  solches  bestand, 
erlangte  im  15.  Jahrhundert  einen  grossen  Ruf,  besonders  durch  ihre 
Pflege  der  Rechtswissenschaften.     Sie  existirte  bis  1816. 

Die  beiden  ungarischen  Hochschulen  zu  Fünfkirchen  und  Ofen, 
welche  im  14.  Jahrhundert  errichtet  wurden,  hatten  nur  eine  kurze 
Dauer;  die  letztere  wurde  am  Schluss  des  15.  Jahrhunderts  wieder- 
hergestellt. 

Auch  die  Universität  Würzburg  existirte  nach  ihrer  Gründung 
i.  J.  1403  nur  10  Jahre.  Ihre  Geschichte,  die  für  die  Heilkunde  eine 
ausserordentliche  Bedeutung  besitzt,  beginnt  eigentlich  erst  i.  J.  1582, 
nachdem  sie  nach  langer  Pause  wieder  eröffnet  worden  war. 

Im  15.  Jahrhundert  wurden  ferner  die  Universitäten  zu  Leipzig 
(1409),  Rostock  (1419),  Löwen  (1426),  Greifswald  (1456),  Freiburg  i/Br. 
(1457),  Basel  (1460),  Trier  und  Ingolstadt  (1472),  Tübingen  und  Mainz 
(1477),  Upsala  (1477),  und  Kopenhagen  (1479)  gestiftet.2 

Die  medicinischen  Studien  spielten  an  diesen  Hochschulen  eine 
bescheidene  Rolle.  Für  den  Unterricht  in  der  Heilkunde  waren  selten 
mehr  als  ein  oder  zwei  Lehrer  vorhanden,  und  häufig  betrug  auch  die 
Zahl  der  Schüler  nicht  viel  mehr. 


1  J.  F.  Hautz:  Geschichte  der  Universität  Heidelberg,  Mannheim  1862,  2  Bde. 

2  Vergl.  Paulsen  in  Sybel's  histor.  Zeitschr.  1881,  Bd.  45,  S.  266  u.  ff. 


Dia  Bildung  der  Ärzte  im  Allgemeinen.  199 


Die  Bildung  der  Ärzte  im  Allgemeinen. 

Die  Universitäten  des  Mittelalters  waren  andere  Anstalten,  als 
diejenigen  der  Gegenwart.  Die  Begriffe,  welche  mit  den  Dingen  ver- 
bunden werden,  wechseln  mit  der  Zeit  ebenso  wie  die  Namen,  mit 
denen  man  sie  bezeichnet. 

Die  Hochschulen  jener  Periode  waren  aber  auch  unter  einander 
sehr  verschieden,  je  nach  der  Zeit  und  dem  Ort  ihrer  Entstehung.  Die- 
jenigen von  Salerno  und  Montpellier  erscheinen  als  medicinische  Fach- 
schulen, an  welche  sich  die  übrigen  Facultäten  in  ziemlich  loser  Weise 
angliederten. 

Die  Hochschulen  in  Bologna,  Padua  und  anderen  Orten  Italiens 
gleichen  wandernden  Kolonien  von  Professoren  und  Studenten,  welche 
dort  ihren  Sitz  aufschlugen,  wo  ihnen  möglichst  viele  Freiheiten  und 
Yortheile  gewährt  wurden;  manche  traten  in  Verbindung  mit  einer  der 
zahlreichen  Kechtsschulen,  welche  in  vielen  Städten  seit  langer  Zeit 
bestanden. 

Die  Universität  Paris  und  die  nach  ihrem  Vorbild  eingerichteten 
Hochschulen  Englands  und  Deutschlands  machen  den  Eindruck  von 
philosophischen  Facultäten,  welche  der  Heilkunde  neben  anderen  Wissen- 
schaften einen  Platz  innerhalb  des  Kahmens  ihres  Studienplans  ge- 
währten; an  einzelnen  derselben,  wie  in  Paris,  Wien,  Prag,  Basel  und 
anderen  Orten,  stand  der  medicinische  Unterricht  in  engem  Zusammen- 
hange mit  der  ärztlichen  Zunft,  wie  dies  ursprünglich  auch  an  den 
ältesten  medicinischen  Schulen  zu  Salerno  und  Montpellier  der  Fall 
war.  Wie  die  Handwerker  und  Künstler  in  ihren  Gilden,  so  nahmen 
auch  die  Meister  der  Heilkunst  das  Recht  in  Anspruch,  in  ihren  Ver- 
sammlungen zu  bestimmen,  in  welcher  Weise  sie  gelehrt  werden  sollte 
und  wer  das  zur  selbstständigen  Ausübung  derselben  erforderliche 
Wissen  besitze. 

Auch  an  den  übrigen  Hochschulen  bedeuteten  die  medicinischen 
Facultäten  etwas  Anderes,  als  heut;  denn  sie  boten  in  jener  Zeit  keine 
vollständige  fachmännische  Ausbildung,  sondern  nur  die  auf  der  Literatur 
beruhende  theoretische  Grundlage  dazu,  und  überliessen  es  den  Studie- 
renden, sich  später  unter  der  Anleitung  eines  praktischen  Arztes  oder 
in  Krankenhäusern  die  erforderlichen  praktischen  Kenntnisse  in  der 
Heilkunst  zu  erwerben.  Dadurch  wurde  der  Schwerpunkt  der  ärztlichen 
Erziehung  aus  der  Facultät  und  damit  zugleich  auch  aus  der  Univer- 
sität verlegt,  wie  dies  namentlich  in  England  geschah,  während  in 
Deutschland,  wo  es  häufig  an  den  noth wendigen  Anstalten  fehlte  und 


200  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter 


die  Mittel  dürftig  und  beschränkt  waren,  die  praktische  Ausbildung  der. 
Ärzte  überhaupt  vernachlässigt  wurde. 

Im  Allgemeinen  gestaltete  sich  der  Gang  der  medicinischen  Studien 
durch  Gewohnheit  sowohl  wie  durch  gesetzliche  Verordnungen  an  den 
verschiedenen  Hochschulen  ziemlich  gleichartig.  Die  Voraussetzung 
derselben  bildete  der  Besitz  einer  allgemeinen  wissenschaftlichen  Vor- 
bildung, welche  die  TInterrichtsgegenstände  umfasste,  die  an  den  Kloster- 
und  Domschulen,  sowie  an  den  Stadtschulen  gelehrt  wurden.  Wenn 
diese  höheren  Unterrichtsanstalten  in  Städten  existirten,  in  welchen 
später  Universitäten  errichtet  wurden,  so  wurden  sie  den  letzteren  ein- 
verleibt, wie  in  Paris,  Prag,  Wien  u.  a.  0.  Daher  kam  es,  dass  viele 
Studierende  an  der  Universität  selbst  die  zu  ihren  späteren  Fachstudien 
erforderliche  Vorbildung  erwarben,  indem  die  philosophischen  Facultäten 
gleichsam  die  Stelle  unserer  Gymnasien  vertraten.  Diese  Einrichtung 
erhielt  sich  an  den  österreichischen  Hochschulen  in  der  Form  der 
beiden  philosophischen  Jahrgänge,  welche  vor  dem  Beginn  der  medi- 
cinischen Studien  absolvirt  werden  mussten,  bis  z.  J.  1848  und  besteht 
an  den  englischen  Hochschulen  in  modificirter  Form  noch  heut. 

Schon  Kaiser  Friedrich  IL  befahl,  wie  erwähnt,  dass  dem  Beginn 
der  medicinischen  Studien  eine  allgemeine  wissenschaftliche  Ausbildung 
vorausgehe,  auf  welche  drei  Jahre  verwendet  werden  sollten.  Allmälig 
wurde  es  an  den  meisten  Hochschulen  üblich,  dass  die  Studierenden, 
bevor  sie  das  medicinische  Studium  begannen,  in  artibus  graduirten. 
jedenfalls  aber  durch  einige  Jahre  Vorlesungen  an  der  philosophischen 
Facultät  hörten.  In  Paris  konnten  sie  nach  einem  zweijährigen  Besuch 
derselben  das  Baccalaureat,  nach  einem  3  J/2  jährigen  die  Licenz  und 
das  Magisterium  der  Philosophie  erlangen.1 

Die  Studienzeit  der  Mediciner  dauerte  vier  oder  fünf  Jahre,  konnte 
aber  um  ein  halbes  oder  ganzes  Jahr  abgekürzt  werden,  wenn  der  Stu- 
dierende einen  akademischen  Grad  in  der  philosophischen  Facultät 
besass.  Sie  zerfiel  in  zwei  Abschnitte,  deren  erster  die  ersten  zwei 
oder  drei  Studienjahre  umfasste  und  mit  dem  Baccalaureats- Examen 
abschloss,  während  der  zweite  sich  aus  den  beiden  letzten  Studienjahren 
zusammensetzte  und  mit  der  Licenz  zur  Praxis  sein  Ende  fand. 

Der  medicinische  Unterricht  bestand  hauptsächlich  in  theoretischen 
Vorträgen.  Denselben  wurden  die  medicinischen  Schriften  der  Alten 
und  ihrer  arabischen  und  italienischen  Commentatoren  zu  Grunde  gelegt. 
Der  Lehrer  knüpfte  an  die  Lektüre  dieser  Bücher  fachmännische  Er- 
klärungen und  Erzählungen    aus    seiner    eigenen    Praxis.     Gewöhnlich 


1  L.  Hahn:  Das  Unterriclitswesen  in  Frankreich,  Breslau  1848. 


Die  Bildung  der  Ärzte  im  Allgemeinen.  201 


wurden  die  verschiedenen  Unterrichtsgegenstände  unter  den  Lehrern 
derartig  vertheilt,  dass  ein  einzelnes  Thema  in  abgerundeter  Weise 
vorgetragen  wurde ,  z.  B.  die  Anatomie,  die  Fieberlehre,  der  Aderlass. 
die  Diätetik,  die  Arzneimittellehre,  die  specielle  Pathologie,  die  Chirurgie 
u.  a.  m.  Die  Auditorien,  welche  in  bildlichen  Darstellungen  jener  Zeit 
erscheinen,1  zeigen  den  Lehrer  auf  erhöhtem  Sitz,  wie  er  seinen  Schülern, 
die  sich  auf  Bänken  niedergelassen  haben  oder  in  seiner  Nähe  stehen, 
aus  einem  dickleibigen  Buche  vorliest,  während  dieselben  seine  Worte 
nachschreiben. 

Über  den  Inhalt  der  medicinischen  Vorlesungen  giebt  ein  Studien- 
plan der  medicinischen  Facultät  zu  Leipzig  aus  dem  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts genauen  Aufschluss.  Darin  wurde  bestimmt,2  dass  die  erste 
Vorlesung  im  Winter  um  7  Uhr,  im  Sommer  um  6  Uhr  früh  beginne 
und  über  die  theoretische  Medicin  handele.  Es  wurden  auf  diesen 
Gegenstand  drei  Jahre  verwendet  und  zwar  der  Art,  dass  den  Vor- 
trägen im  ersten  Jahre  der  erste  Canon  des  Avicenna  mit  den  Er- 
klärungen des  Jacobus  Foroliviensis,  im  zweiten  die  ars  parva  des 
Galen  mit  dem  Commentar  des  Trusianus  und  im  dritten  die  Apho- 
rismen des  Hippokrates  nebst  den  dazu  gehörigen  Bemerkungen  Galen's 
als  Richtschnur  dienten.  Um  1  Uhr  Nachmittags  fanden  die  Vor- 
lesungen über  die  praktische  Medicin  statt,  welche  ebenfalls  einen  Cursus 
von  drei  Jahren  in  Anspruch  nahmen.  Dabei  wurde  im  ersten  Jahre 
das  9.  Buch  des  Liber  medicinalis  ad  Älmansorem  des  Rhazes,  welches 
die  Pathologie  enthält,  mit  den  Bemerkungen  des  Joh.  Arculanus, 
im  zweiten  die  Fieberlehre  und  im  dritten  die  allgemeine  Therapie 
nach  dem  Canon  des  Avicenna  mit  den  Erklärungen  des  Dino  de  Garbo 
u.  A.  zu  Grunde  gelegt. 

Neben  diesen  ordentlichen  Vorlesungen,  welche  die  angestellten 
Professoren  abhielten,  behandelten  einzelne  zur  medicinischen  Facultät 
gehörige  Doktoren  in  ausserordentlichen  Collegien  besondere  Themata, 
die  sie  freiwillig  wählten,  z.  B.  die  Prognostik  des  Hippokrates. 

Ähnlich  war  der  Lehrplan,  welchen  der  Professor  an  der  medici- 
nischen Facultät  zu  Wien,  Martin  Stainpeis,  i.  J.  1520  den  Studie- 


1  Cod.  Galeni  Dresd.,  No.  92,  fol.  20 b.  30 a.  39 a.  296 a.  No.  93,  fol.  587  b.  608  \ 
—  Ch.  Meaux  St.  Marc:  L'ecole  de  Salerne,  Paris  1880  (Vignette).  —  Lacroix: 
Science  et  lettres  au  moyen-age,  Paris  1877.  —  L.  Geiger:  Renaissance  und 
Humanismus,  Berlin  1882,  S.  408  (nach  einem  Deckengemälde  des  Laurentius 
de  Voltolina). 

2  F.  Zarncke:  Die  Statutenbücher  der  Universität  Leipzig,  1861,  S.  38, 
586  u.  ff. 


202  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


renden  empfahl. l  Er  zählt  in  seinem  Buch  die  medicinischen  Schriften 
auf,  welche  sie  lesen  sollten,  und  zwar  nach  ihrem  Inhalt  so  geordnet, 
dass  sie  in  ihrer  zeitlichen  Aufeinanderfolge  geeignet  erscheinen,  den 
Studierenden  allmälig  mit  den  einzelnen  Theilen  der  Heilkunde  bekannt 
zu  machen.  Unter  ihnen  werden  die  wichtigsten  medicinischen  Autoren 
des  Alterthums  und  der  Araber  und  ihre  Erklärer,  sowie  eine  Anzahl 
italienischer  Ärzte,  deren  Werke  damals  eine  grössere  Verbreitung  erlangt 
hatten,  genannt. 

Stainpeis  erörtert  dabei  den  Nutzen  dieser  Lektüre  für  den  künf- 
tigen Arzt  und  giebt  den  Kath,  dass  immer  mehrere  Schüler  zusammen 
studieren  sollen,  damit  sie  einander  gegenseitig  über  Dinge,  welche  dem 
einen  von  ihnen  unklar  sind,  belehren  können.  „Vor  dem  Schlafen- 
gehen muss  jeder  Schüler  Das,  was  er  am  Tage  gelernt  hat,  wie  ein 
Ochs  wiederkäuen  (fol.  XVII)."  Auf  diese  Weise  vergingen  die  ersten 
drei  Jahre  der  medicinischen  Studienzeit. 

Während  der  zweiten  Hälfte  derselben,  also  nach  der  Erlangung 
des  Baccalaureats,  beschäftigten  sich  die  Studierenden  der  Medicin  damit, 
Vorlesungen  über  einzelne  Gegenstände  zu  hören,  an  den  Disputationen, 
welche  allwöchentlich  unter  Aufsicht  der  Professoren  stattfanden,  Theil 
zu  nehmen,  anatomischen  Zergliederungen  beizuwohnen,  Hospitäler  zu 
besuchen  und  die  praktische  Behandlung  der  Krankheiten  kennen  zu 
lernen. 

Die  Disputationen,  welche  schon  in  den  Schulen  der  Iatrosophisten 
des  Alterthums  üblich  waren,  und  auch  von  den  Arabern  eifrig  ge- 
trieben wurden,  bildeten  einen  wesentlichen  Bestandtheil  des  medici- 
nischen Unterrichts.  Sie  entsprachen  der  ganzen  Erziehungsmethode 
der  scholastischen  Periode,  welche  mehr  in  der  dialektischen  Gewandtheit 
als  in  der  Tiefe  des  Wissens,  mehr  in  der  todten  Schulgelehrsamkeit 
als  in  der  praktischen  Tüchtigkeit,  welche  das  Leben  fordert,  ihr  Ziel 
suchte.  Im  Grunde  genommen  dienten  die  Disputationen  als  eine 
nützliche  Ergänzung  der  theoretischen  Vorlesungen;  denn  sie  boten 
den  Schülern  Gelegenheit,  zu  zeigen,  ob  und  wie  sie  den  Inhalt  der- 
selben in  sich  aufgenommen  hatten. 

Sie  waren  somit  gleichsam  Prüfungen,  welche  die  Studierenden  in 
Gegenwart  ihrer  Lehrer  und  Mitschüler  ablegten.  Die  Lernenden 
wurden  dadurch  auf  Lücken  ihres  Wissens  und  die  Lehrenden  auf 
Mängel  des  Unterrichts  aufmerksam  gemacht.     Leider  entarteten  diese 


1  Martin  Staixpeis:  Liber  de  modo  studendi  seu  legendi  in  medicina,  Vienn. 
1520,  f.  VII  u.  ff.  —  A.  v.  Rosas:  Geschichte  der  Wiener  Hochschule  u.  bes.  der 
med.  Faeultät,  Wien  1843,  I,  149  u.  ff. 


Der   Unterricht  in  der  Anatomie.  203 


Disputationen  häufig  in  hohle  Redeübungen,  welche  nicht  die  Sache 
förderten,  sondern  nur  die  persönliche  Eitelkeit  befriedigten.  Die  jungen 
Leute  „prahlen  dabei  mit  Hippokrates  und  Galen,  gebrauchen  unge- 
wöhnliche Worte  und  bringen  überall  ihre  Aphorismen  an",  sagte 
Johann  von  Salisbuky. 

Die  Baccalaureen  waren  ausserdem  verpflichtet,  die  jungen  Studie- 
renden zu  unterrichten,  indem  sie  ihnen  Abschnitte  aus  den  medicini- 
schen  Schriften  der  alten  Autoren  übersetzten  und  erklärten  und  Vor- 
träge über  einzelne  Theile  der  Heilkunde  hielten.  Die  Gewohnheit 
schuf  auch  hier  bestimmte  Regeln;  so  wurde  es  in  Paris  eingeführt, 
dass  über  die  Aphorismen  des  Hippokrates  50,  über  das  Buch  de 
regimene  30,  über  die  akuten  Krankheiten  38,  über  die  Prognostik 
36  Vorlesungen  stattfanden.1  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  diese 
Unterrichtsmethode  für  die  Studierenden  manche  Vortheile  hatte.  Die 
Jesuiten,  welche  sie  später  in  ihren  Schulen  anwendeten,  verdankten 
ihr  zum  grossen  Theile  die  Lehrerfolge,  die  sie  erzielten. 


Der  Unterricht  in  der  Anatomie. 

Der  medicinische  Unterricht  an  den  Universitäten  trug  also  im 
Wesentlichen  einen  theoretischen  Charakter;  nur  auf  einzelnen  Gebieten 
wurden  Versuche  gemacht,  denselben  mit  praktischen  Demonstrationen 
zu  verbinden.  So  wurde  die  Anatomie  zwar  hauptsächlich  nach  Büchern 
gelehrt,  aber  durch  Zeichnungen  and  Abbildungen,  durch  die  Betrach- 
tung lebender  Körper  und  die  Zergliederung  todter  Thiere  und  Menschen 
erläutert. 

Leider  haben  sich  nur  wenige  anatomische  Zeichnungen  aus  jener 
Zeit  erhalten.  Henei  de  Mondeville,  welcher  zuerst  Professor  in  Mont- 
pellier und  später  Leibarzt  Philipps  des  Schönen  (1285 — 1314)  von 
Frankreich  war,  gab  seiner  Anatomie  13  Abbildungen  bei,  wie  Guy 
von  Chauliac  berichtet.2  Die  königliche  Bibliothek  zu  Berlin  besitzt 
das  Collegienheft  eines  Studenten,  welcher  i.  J.  1304  die  Vorlesungen 
desselben  nachgeschrieben  hat;  am  Rande  befinden  sich  rohe  Feder- 
zeichnungen, denen  H.  de  Mondeville's  Abbildungen  wahrscheinlich 
als  Vorlage  dienten. 


1  Sabatier  a.  a.  0. 

2  Guy  von  Chauliac:  Clrirurgia,  Tract.  I,  doctr.  2,  c.  1. 


204  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


Ein  Pergament -Codex  aus  dem  Anfang  des  15.  Jahrhunderts, 
welcher  in  der  königlichen  Bibliothek  zu  Dresden  aufbewahrt  wird.1 
enthält  Initialen  mit  Abbildungen,  welche  Vorgänge  aus  dem  ärztlichen 
Leben,  darunter  auch  mehrere  anatomische  Demonstrationen,  darstellen. 
Aus  denselben  scheint  hervorzugehen,  dass  beim  Unterricht  nackte 
Personen  vorgestellt  wurden,  an  denen  die  einzelnen  Theile  des  mensch- 
lichen Körpers  gezeigt  und  erläutert  wurden.  Vielleicht  wurden  die 
inneren  Organe  durch  Umrisse  auf  der  äusseren  Haut  gezeichnet?  — 

Das  gebräuchlichste  Hilfsmittel  des  anatomischen  Unterrichts  bil- 
deten die  Zergliederungen  von  Thieren.  In  Salerno  benutzte  man  dazu 
vorzugsweise  Schweine;  an  anderen  Hochschulen  ahmte  man  dieses 
Beispiel  nach.  Ferner  wurden  auch  Bären,  Affen,  namentlich  aber 
Hunde  zu  diesem  Zweck  verwendet.2  In  den  Rechnungen  der  medi- 
cinischen  Facultäten  jener  Zeit  spielte  daher  der  Ankauf  von  Schweinen 
und  anderen  Thieren  zu  anatomischen  Untersuchungen  bisweilen  keine 
unbedeutende  Rolle.  Die  Zergliederungen  thierischer  Körper  blieben 
auch  gebräuchlich,  nachdem  die  Sektionen  menschlicher  Leichen  ge- 
stattet worden  waren,  da  sich  nur  sehr  selten  die  Gelegenheit  zur  Vor- 
nahme derselben  bot. 

In  den  ersten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  wurden  sie  durch 
die  religiösen  und  politischen  Gesetze  ebenso  wie  durch  die  socialen 
Vorurtheile  verhindert.  Es  scheint,  dass  die  Ärzte  jener  Zeit  dieses 
wichtige  Mittel  der  medicinischen  Ausbildung  auch  nicht  entbehrten; 
denn  das  anatomische  Wissen  Galen's  und  seiner  Erklärer  genügte 
ihnen,  und  ein  Bedürmiss  zu  selbstständigen  Forschungen  war  nicht 
vorhanden.  Die  verständigen  Ärzte  verkannten  freilich  niemals,  welche 
Bedeutung  die  Anatomie  für  die  Medicin  besitzt;3  aber  erst  im  13.  und 
14.  Jahrhundert  gelang  es,  die  Hindernisse  zu  beseitigen,  welche  das 
Studium  derselben  erschwerten  oder  unmöglich  machten. 

Kaiser  Friedrich  IL  ermahnte  die  Studierenden  von  Salerno,  sich 


1  Cod.  Galeni  No.  92.  93  mit  dem  Commentar  des  Nicol.  v.  Reggio,  No.  92, 
fol.  19b.  26b.  34b.  50a.  59a.  83b.  93b.  96b.  109a.  151a.  158a.  164b.  169b.  177a. 
304 :i.  —  L.  Choulant:  Geschichte  und  Bibliographie  der  anatomischen  Abbildung, 
Leipzig  1852,  S.  2. 

2  Mondino  :  de  anatomia  (matricis).  —  Mag.  Richardus  bei  Haeser  a.  a.  0. 
I,  S.  736.  —  J.  Hyrtl:  Vergangenheit  und  Gegenwart  des  Museums  für  mensch- 
liche Anatomie  an  d.  Wiener  Universität,  Wien  1869,  p.  XII. 

3  So  erklärte  Taddeo  Alderotti  (1223—1303),  dass  er  über  das  Wesen  der 
Schwangerschaft  nicht  genaue  Auskunft  geben  könne,  weil  er  leider  niemals 
Gelegenheit  gehabt  habe,  eine  Schwangere  zu  seciren.  —  A.  Corradi:  Dello 
studio  e  dell'  insegnamento  dell'  anatomia  in  Italia  nel  medio  evo  in  Rendiconti 
del  R.  istit.  Lombardo,  Milano  1873,  ser.  II,  vol.  VI,  p.  634. 


Der   Unterricht  in  der  Anatomie.  205 


mit  der  Anatomie  zu  beschäftigen ,  und  verordnete,  dass  kein  Chirurg 
zur  Praxis  zugelassen  werde,  bevor  er  den  Nachweis  geliefert  habe, 
dass  er  sich  ein  Jahr  hindurch  dem  Studium  der  Anatomie  gewidmet 
habe.  Auf  den  Antrag  des  Maktianus,  Protomedicus  von  Sicilien, 
erliess  er  i.  J.  1238  den  Befehl,  dass  alle  fünf  Jahre  in  Gegenwart 
der  Ärzte  und  Chirurgen  eine  Leiche  secirt  werde.1 

In  Bologna  fanden  wahrscheinlich  schon  im  13.  Jahrhundert 
Sektionen  menschlicher  Leichen  statt.  Im  J.  1302  wurde  auf  Befehl 
des  Richters  dort  sogar  eine  gerichtsärztliche  Sektion  vorgenommen,  da 
der  Verdacht  vorlag,  dass  ein  Mann  vergiftet  worden  sei;  zu  dieser 
Untersuchung  wurden  2  Ärzte  und  3  Chirurgen  hinzugezogen. 

Aus  der  Schilderung  dieses  Ereignisses  geht  nicht  hervor,  dass  es 
der  erste  Fall  dieser  Art  war,  sondern  im  Gegentheil,  dass  man  in 
solchen  Untersuchungen  und  der  Beurtheilung  ihrer  Ergebnisse  bereits 
einige  Erfahrungen  besass.2  Aus  dem  gleichen  Grunde  soll  Wilhelm 
von  Saliceto  den  Leichnam  des  Neffen  des  Marchese  Pallavicini  secirt 
haben.3 

Der  Minoriten-Mönch  Salimbeni  erzählt,  dass  während  einer  Seuche, 
die  i.  J.  1286  in  Italien  wüthete,  ein  Arzt  viele  Leichen,  deren  Tod 
dadurch  herbeigeführt  worden  war,  öffnete,  um  die  Ursache  des  Leidens 
zu  ergründen.  Während  der  grossen  Pestepidemie  von  1348  haben 
verschiedene  Ärzte  diesen  Versuch  gemacht;4  leider  war  das  Resultat, 
zu  welchem  sie  dabei  gelangten,  nicht  viel  werth. 

Man  scheute  sich  auch  nicht,  die  Leichen  vornehmer  Personen, 
welche  fern  von  ihrer  Heimath  starben,  durch  Kochen  und  Maceration 
für  den  Transport  herzurichten.  So  erging  es  den  Bischöfen,  Fürsten 
und  adeligen  Herren,  die  mit  dem  Heere  Friedrich  Barbarossa's  1167 
in  die  Nähe  von  Rom  kamen  und  dort  einer  Seuche  erlagen, 5  und  dem 
Kaiser  selbst,  als  er  im  Flusse  Saleph  bei  Jerusalem  ertrank. 6  Ebenso 
machte  man  es  mit  der  Leiche  Ludwigs  IX.  von  Frankreich,  der  1270 
bei  Tunis  starb,7  sowie  mit  derjenigen  Philipps  des  Kühnen  und  seiner 
Gemahlin. 8 


1  A.  Burggraeve:  Precis  de  l'histoire  de  l'anatomie,  Gand  1840,  p.  47. 

2  Medici  a.  a.  0.  p.  5  u.  ff.  10. 

3  Puccinotti:  Storia  della  medicina  II,  pars  II,  357. 

4  A.  Corradi:  Annali  delle  epidemie  in  Italia,  Bologna  pro  a.  1286  u.  1348. 

5  G.   H.   Pertz:    Monum.  Welforum  ant.  in  Script,  rer.  German.,  Hannov. 
1869,  p.  41. 

6  Benedictus  Petrobürg:  Gesta  regni  Henrici  IL  in  Script,  rer.  Brit.  med. 
aevi,  London  1867,  T.  49,  Vol.  II,  p.  89. 

7  Corradi  a.  a.  0.  anno  1270. 

8  Muratori:  Rer.  script.  it.  VIII,  861. 


206  Der  medicinische   Unter  rieht  im  Mittelalter. 


Pabst  Bonifaz  VIII.  verbot  dieses  Verfahren  i.  J.  1300 1  und  nahm 
damit  der  anatomischen  Forschung,  welche  damals  eben  wieder  begann, 
ein  Hilfsmittel,  dessen  Verlust  ihr  empfindlich  war.  Mondino  schrieb, 
dass  gewisse  Knochen  nur  deutlich  zu  erkennen  seien,  wenn  sie  durch 
Kochen  präparirt  würden,  dass  er  dies  aber  nicht  thue,  weil  er  sich 
fürchte,  eine  Sünde  zu  begehen.2  Sein  Commentator  Bebengar  von 
Caepi  sagt  ihm  freilich  nach,  dass  er  dieser  Sünde  nicht  immer 
Widerstand  geleistet  und  doch  manchmal  menschliche  Knochen  ge- 
kocht habe.3 

Mondino,  welcher  in  Bologna  die  Lehrthätigkeit  ausübte,  hat  eine 
grosse  Anzahl  von  Leichen-Sektionen  ausgeführt.4  Er  selbst  erklärt 
bei  einer  Gelegenheit,  wo  er  über  die  Grössenverhältnisse  des  jung- 
fräulichen, des  in  der  Menstruation  begriffenen  und  des  schwangeren 
Uterus  spricht,  dass  er  i.  J.  1315  zwei  weibliche  Leichen  zergliedert 
habe. 5  Bei  seinen  Arbeiten  sollen  ihn  sein  Prosector  Otto  Agenio  aus 
Lustrula  und  eine  junge  Dame,  Alessandra  Gtliani  aus  Persiceto, 
unterstützt  haben.6 

Der  praktische  Unterricht  an  der  Leiche  wurde  in  vier  Lektionen 
beendet,  wie  Guy  von  Chauliac  berichtet,  welcher  bei  Bertuccio, 
einem  Schüler  Mondino's,  gehört  hatte.  In  der  ersten  Vorlesung  wurden 
die  Organe  der  Ernährung,  d.  h.  diejenigen  der  Bauchhöhle,  „weil  sie 
am  schnellsten  der  Verderbniss  anheimfallen,"  in  der  zweiten  die  membra 
spiritualia,  also  die  der  Brusthöhle,  in  der  dritten  die  membra  animata 
(Gehirn)  und  in  der  vierten  die  Extremitäten  besprochen.7 

Um  die  Bänder,  Knorpel,  Gelenke,  grösseren  Nerven  u.  a.  m.  zu 
sehen  und  zu  studieren,  wurden  die  Leichen  längere  Zeit  an  der  Sonne 
getrocknet,  in  die  Erde  vergraben,  damit  sie  faulen,  oder  in  fliessendes. 


1  Decr.  de  sepulturis.  S.  auch  Corradi:  Dello  studio  dell  anatomia  a.  a.  0. 
p.  865. 

2  Mondino:  De  anatomia  auris.  3  Comment.  Bonon.  1521,  f.  510. 

4  multoties,  wie  Guy  von  Chauliac  in  seiner  Chirurgie  (I,  1,  1)  schreibt. 

5  Mondino:  de  anatom.  matricis. 

6  Wenn  Al.  Macchiavelli  (Effemeridi  sacro-civili,  Bologna  1736,  p.  60  u.  ff.) 
von  der  letzteren  erzählt,  dass  sie  verstanden  hätte,  die  Blutgefässe  selbst  in 
ihren  feinsten  Verästelungen  zu  reinigen,  ohne  sie  zu  zerreissen,  und  sie  dann 
mit  einer  gefärbten  Flüssigkeit  gefüllt  habe,  welche  nach  der  Gerinnung  die 
Form  der  Gefässe  deutlich  wahrnehmen  Hess,  so  wird  diese  Erzählung  durch 
keine  älteren  Autoren  verbürgt.  Es  ist  nicht  recht  wahrscheinlich,  dass  man  zu 
einer  Zeit,  da  die  Anatomie  noch  einen  sehr  niedrigen  Standpunkt  innehatte, 
bereits  die  Kunst  der  Gefäss-Injektion  gekannt  habe.  Vergl.  M.  Medici  a.  a.  0. 
p.  28  u.  ff. 

7  Guy  v.  Chauliac:  Chirurgia  a.  a.  0. 


Der   Unterricht  in  der  Anatomie.  207 


zuweilen  auch  in  kochendes  Wasser  gelegt.  Manche  Anatomen,  wie 
der  Magister  Richaedus,  fanden  eine  derartige  Behandlung  des  mensch- 
lichen Körpers  „schrecklich"  und  zogen  es  deshalb  vor,  die  Anatomie 
an  den  Leibern  von  Thieren  zu  lehren.  Andere  wird  weniger  die  reli- 
giöse Scheu,  als  der  Umstand,  dass  sich  nur  selten  die  Gelegenheit  zu 
Sektionen  menschlicher  Körper  bot,  dazu  veranlasst  haben. 

Manche  Ärzte  verschafften  sich  die  Leichen,  wenn  sie  dieselben 
nicht  auf  rechtmässige  Weise  erhalten  konnten,  durch  Diebstahl.  So 
spielte  i.  J.  1319  ein  Prozess  in  Bologna,  in  welchem  ein  dortiger 
Lehrer  der  Medicin  und  vier  seiner  Schüler  angeklagt  waren,  die  Leiche 
eines  Gehenkten  heimlich  aus  dem  Grabe  genommen  zu  haben,  um 
sie  zu  seciren.1  Derartige  Fälle  mögen  sich  in  jener  Zeit  ziemlich 
häufig  ereignet  haben.  Man  rechnete  mit  dieser  Thatsache  und  liess 
die  Leichen  nehmen,  weil  man  sie  nicht  gern  geben  wollte.  „Die  Ge- 
setze gegen  die  Entweihung  der  Gräber  schwiegen",  wie  Coeeadi  sagt,2 
„ohne  dass  sie  aufgehoben  wurden,  und  man  schritt  nur  dann  ein, 
wenn  offenbare  Gewalt  angewendet  oder  grosses  Ärgerniss  gegeben 
worden  war." 

Nur  ganz  allmälig  wurden  für  die  Vornahme  der  Sektionen  mensch- 
licher Leichname  legale  Formen  gefunden.  Der  Senat  von  Venedig 
verordnete  i.  J.  1368,  dass  alljährlich  eine  Sektion  stattfinde,  damit  sich 
die  Ärzte  und  Chirurgen  über  die  Lage  der  einzelnen  Theile  des  Körpers 
unterrichten  könnten. 3 

Die  Universität  Montpellier  erhielt  1376  das  Recht,  alle  Jahre  die 
Leiche  eines  Verbrechers,  an  dem  die  Todesstrafe  vollzogen  worden 
war,  zu  zergliedern,4  und  der  Universität  zu  Lerida  wurde  1391  das- 
selbe Privilegium  vom  König  Johann  I.  verliehen.5  Derselbe  bestimmte, 
dass  die  Stadtobrigkeit  zu  diesem  Zweck  den  Leichnam  eines  Verbrechers 
liefere,  welcher  durch  gewaltsames  Untertauchen  ins  Wasser  getödtet 
worden  war,  damit  der  Körper  völlig  unversehrt  erscheine. 

Ferdinand  der  Katholische  erlaubte  den  Ärzten  und  Chirurgen  zu 
Saragossa,  die  Leichen  der  Personen,  welche  in  dem  dortigen  Spital 
gestorben  waren,  zu  öffnen,  wenn  sie  es  für  nützlich  hielten,6  und  der 
Pabst  gestattete  dies  den  Ärzten  des  Klosters  della  Guadelupe  zu  Estre- 
madura.7     Die  medicinische  Facultät  zu  Tübingen   erhielt  vom  Pabst 


1  Medici  a.  a.  0.  p.  36.  427  u.  ff.  2  Coeeadi  a.  a.  O.  p.  642. 

3  Coeeadi  a.  a.  0.  p.  635.  4  Asteuc  a.  a.  0.  p.  32. 

5  Geemain  a.  a.  0.  III,  134.  —  Denifle  a.  a.  0.  I,  S.  507. 

6  A.  H.  Moeejon:  Historia  bibliografica  de  la  medicina  espagiiola,  Madrid 
1842,  I,  252. 

7  Moeejon  a.  a.  0.  II,  25.     Leider  sagt  er  nicht,   wann  dies  geschehen  ist. 


208  Der  medieiniscke   Unterricht  im  Mittelalter. 

Sixtus  IV.  i.  J.  1482  das  Recht,  die  Leichname  von  hingerichteten 
Verbrechern  zu  seeiren. 1 

In  den  Statuten  der  Universität  Bologna  v.  J.  1405  wurde  an- 
geordnet, „dass  sich  kein  Doktor  oder  Student  der  Medicin,  überhaupt 
Niemand  eine  Leiche  aneignen  dürfe  ohne  Erlaubniss  des  Rectors." 
Wenn  Sektionen  unter  der  Leitung  eines  Professors  stattfanden,  so  wurde 
eine  bestimmte  Anzahl  von  Studierenden  aufgefordert,  denselben  bei- 
zuwohnen; bei  der  Zergliederung  einer  männlichen  Leiche  durften  nicht 
mehr  als  20,  bei  derjenigen  einer  weiblichen,  weil  dieselbe  seltener 
vorkam,  nicht  mehr  als  30  Schüler  anwesend  sein,  damit  Jeder  Alles 
deutlich  sehen  konnte.  Kein  Student  wurde  zu  diesen  Demonstrationen 
früher  zugelassen,  als  nachdem  er  bereits  zwei  Jahre  medicinische  Vor- 
lesungen gehört  hatte. 

Der  Rector  musste  dafür  sorgen,  dass  allmälig  sämmtliche  Medi- 
ciner  Gelegenheit  erhielten,  eine  Leichensektion  zu  sehen,  und  dass  bei 
den  Einladungen  dazu  die  Mitglieder  aller  Scholaren-Corporationen  die 
gleiche  Berücksichtigung  erfuhren.  Aus  diesem  Grunde  wurde  be- 
stimmt, dass  kein  Student,  welcher  die  Sektion  eines  männlichen  Leich- 
nams gesehen  hatte,  iu  demselben  Jahre  ein  zweites  Mal  zu  der  gleichen 
Demonstration  hinzugezogen  würde.  War  dies  im  folgenden  Studien- 
jahre geschehen,  so  wurde  er  überhaupt  nicht  mehr  zu  der  Sektion 
einer  männlichen,  sondern  nur  noch  zu  derjenigen  einer  weiblichen 
Leiche  eingeladen,  so  dass  er  während  seiner  Studienzeit  im  günstigsten 
Falle  der  Zergliederung  von  zwei  männlichen  und  einem  weiblichen 
Körper  beiwohnen  konnte. 

Die  Kosten,  welche  die  Erwerbung,  der  Transport,  die  Herrichtung 
und  Bestattung  der  Leiche  verursachte,  mussten  die  anwesenden  Stu- 
dierenden tragen;  doch  durften  sie  bei  einem  männlichen  Körper  nicht 
über  16,  bei  einem  weiblichen  nicht  über  20  Bologneser  Pfund  be- 
tragen. Von  dieser  Summe  erhielt  der  Professor,  welcher  die  Sektion 
vollzog,  100  Solidi.  Die  Mitglieder  des  Lehrer-Collegiums  lösten  sich 
in  dieser  Funktion  ab;  kein  Lehrer  durfte  die  Aufforderung  der  Stu- 
dierenden, die  Zergliederung  einer  Leiche  vorzunehmen,  ablehnen.2 

Im  J.  1442  wurde  gesetzlich  angeordnet,  dass  die  Obrigkeit  oder 
die  Gerichtsbehörden  von  Bologna  der  Universität  alljährlich  zwei 
Leichen  und  zwar  eine  männliche  und  eine  weibliche  oder,  wenn  die 
letztere  nicht  zu  erlangen  war,  zwei  männliche  für  anatomische  Zer- 


1  L.  F.  Froriep:  Die  anatomischen  Anstalten  zu  Tübingen,  Weimar  1811, 
Beil.  I,  14. 

2  Statut,  dell'  univ.  di  Bologna  v.  1405,  Rubr.  96,  bei  Corradi:  Dello  studio 
dell'  anat.  in  Italia  a.  a.  0.  p.  638  u.  ff.  647. 


Der   Unterricht  in  der  Anatomie.  209 

gliederungen  liefern.  Es  war  dabei  nicht  vorgeschrieben,  dass  sie  von 
hingerichteten  Verbrechern  stammen,  sondern  dem  Ermessen  der  Be- 
hörden überlassen,  sie  zu  beschaffen,  auf  welche  Art  es  möglich  war 
(quomodoomnqiie  fieri  poterif);  nur  durften  sie  nicht  von  Personen  her- 
rühren, welche  in  Bologna  ihre  Heimath  hatten. l  Ähnliche  Verhältnisse 
bestanden  in  Padua,  Ferrara  und  Pisa.2 

Im  Allgemeinen  pflegte  man  zu  anatomischen  Untersuchungen  die 
Körper  von  Verbrechern  zu  verwenden,  an  welchen  die  Todesstrafe  voll- 
zogen worden  war.  Das  Volk  betrachtete,  wie  schon  im  Alterthum, 
die  Verstümmelung  oder  Zerschneidung  des  todten  Leibes  als  eine  Ent- 
weihung, welcher  man  höchstens  Personen  aussetzen  durfte,  die  durch 
fluchwürdige  Verbrechen  die  allgemeine  Verachtung  auf  sich  geladen 
hatten. 

Als  die  wissenschaftlichen  Bedürfnisse  wuchsen,  genügte  diese  Art, 
das  Leichenmaterial  zu  beschaffen,  nicht,  und  man  musste  dasselbe 
noch  auf  anderen  Wegen  zu  erwerben  suchen.  Aber  auch  dann  hielt 
man  daran  fest,  dass  zu  diesem  in  der  öffentlichen  Meinung  entehrenden 
Zweck  nur  die  Leichen  fremder  oder,  wenn  einheimischer,  doch  nur 
solcher  Personen  verwendet  wurden,  welche  von  niederem  Herkommen 
waren.  Es  war  eine  Ausnahme,  wenn  man  in  Pisa  dazu  auch  die 
todten  Körper  der  Bürger  dieser  Stadt,  sowie  der  Studenten  und  Dok- 
toren, wenn  es  ihre  Verwandten  gestatteten,  benutzte,  und  erklärt  sich 
vielleicht  aus  dem  demokratischen  Geist,  welcher  damals  dort  herrschte.3 

Später  und  in  weit  geringerem  Umfange  als  an  den  Hochschulen 
Italiens  entwickelte  sich  der  praktische  Unterricht  in  der  Anatomie  an 
den  Universitäten  der  übrigen  Länder.  In  Paris  begann  man  erst  im 
15.  Jahrhundert  mit  derartigen  Demonstrationen.  In  Prag  fanden  seit 
1460  anatomische  Zergliederungen  statt,  nachdem  die  dortige  medici- 
nische  Facultät  durch  Schenkung  in  den  Besitz  eines  eigenen  Hauses 
gelangt  war.4  In  Wien  veranstaltete  der  von  Padua  dorthin  berufene 
Professor  Galeazzo  di  S.  Sofia  i.  J.  1404  die  ersten  anatomischen 
Demonstrationen,  zu  welchen  ihm  eine  männliche  Leiche  geliefert  wurde. 
Sie  geschahen  im  Bürgerspital  und  dauerten  acht  Tage.  Nach  der 
Beendigung  derselben  sammelte  der  Professor  bei  den  Zuschauern  Geld, 
welches  in  die  Kasse  der  Facultät  floss.5  Es  vergingen  12  Jahre,  bis 
die  nächste  öffentliche  anatomische  Sektion  stattfand;  dies  geschah  dann 


1  Statut  v.  1442,  Rubr.  19,  bei  Corradi  a.  a.  0.  p.  648. 

2  Corradi  a.  a.  O.  p.  638. 

3  Fabroni:  Hist.  acad.  Pisan.,  Pisa  1792,  T.  II,  73. 

4  Hyrtl:  Geschichte  der  Anatomie  in  Prag,  1841,  S.  9. 

5  Hyrtl:  Vergangenheit  und  Gegenwart  a.  a.  0.  S.  VIII. 

Püschmann,    Unterricht.  14 


210  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Mittelalter. 

wieder  1418.  Zu. diesen  Demonstrationen  wurden  Doktoren  und  Stu- 
denten der  Medicin,  Chirurgen,  Apotheker,  Gelehrte  und  vornehme 
Standespersonen  eingeladen. 

Im  J.  1433  wurde  ein  besonderer  Lector  der  Anatomie,  Dr.  Joh. 
Aigel  aus  Nürnberg,  angestellt.  Auf  eine  seltsame  Weise  wurde  die 
Facultät  i.  J.  1440  in  ihren  Erwartungen  einer  anatomischen  Sektion 
getäuscht.  Es  war  ihr  zu  diesem  Zweck  der  Körper  eines  Verbrechers, 
welcher  gehenkt  worden  war,  übergeben  worden;  aber  als  man  die 
Zergliederung  vornehmen  wollte,  kam  derselbe  wieder  zum  Leben.  Er 
wurde  in  Folge  dessen  begnadigt  und  in  Begleitung  des  Universitäts- 
Pedells  in  seine  Heimath  Alt-Ötting  in  Bayern  abgeschoben,  wo  er 
später  wegen  neuer  Verbrechen  doch  noch  am  Galgen  starb. 

Im  J.  1452  wurde  in  Wien  zum  ersten  Male  eine  weibliche  Leiche 
zergliedert;  doch  wurden  dabei  nur  Ärzte  und  Chirurgen  zugelassen. 
Im  15.  Jahrhundert  fanden  dort  ungefähr  alle  8  Jahre  einmal  ana- 
tomische Demonstrationen  an  der  Leiche  statt. 

Die  Statuten  der  medicinischen  Facultät  zu  Tübingen  v.  J.  1497 
bestimmen,  dass  alle  3  oder  4  Jahre  eine  menschliche  Leiche  öffentlich 
zergliedert  werde;  ein  Professor  musste  während  dessen  die  Erklärung 
dazu  aus  Mondino's  Anatomie  den  Zuschauern  vorlesen.  Ähnlich  ver- 
fuhr man  an  anderen  deutschen  Hochschulen. 

Es  war  unter  solchen  Verhältnissen  kein  Wunder,  dass  die  ana- 
tomische Wissenschaft  in  jener  Periode  keine  sichtbaren  Fortschritte 
machte.  Mondino's  anatomisches  Werk,  welches  seit  den  Zeiten  des 
Alterthums  das  erste  war,  dessen  Verfasser  menschliche  Leichen  zer- 
gliedert hatte,  befand  sich  trotzdem  noch  vollständig  auf  dem  Stand- 
punkte Galen's. 

Auf  teleologischer  Grundlage  ruhend,  liefert  es  auf  etwa  80  Seiten 
eine  ziemlich  dürftige  Beschreibung  der  Lage  der  einzelnen  Theile  des 
Körpers,  namentlich  der  Organe  der  drei  grossen  Körperhöhlen,  und 
ihres  vermeintlichen  Nutzens;  von  den  Muskeln  werden  nur  diejenigen 
der  Bauchwand  ausführlicher  beschrieben.  Zahlreiche  Bemerkungen 
über  Krankheiten  und  Operationen  an  einzelnen  Körpertheilen,  welche 
in  die  Schilderung  derselben  eingestreut  sind,  weisen  darauf  hin,  welchem 
Zweck  das  Buch  dienen  sollte.  Gleichwohl  erlangte  dasselbe  ein  ausser- 
ordentliches Ansehen  und  bildete  durch  mehr  als  zwei  Jahrhunderte 
das  beliebteste  Lehrbuch  der  Anatomie. 

Das  anatomische  Wissen  erfuhr  auch  durch  Guy  von  Chauliac, 
Matthaeus  de  Gradibus,  Peter  von  Argelata  und  ihre  Nachfolger 
keine  bemerkenswerthen  Bereicherungen.  Die  rohen  Holzschnitte,  welche 
der  Leipziger  Professor  Magnus  Hundt   seinem    anatomischen   Werk 


Der  Unterricht  in  der  Arzneibereitung  und  der  ärztlichen  Praxis.        211 

beigegeben  hat, l  werfen  ein  schlimmes  Licht  auf  den  Zustand  der  Ana- 
tomie im  15.  Jahrhundert. 

Auf  einer  höheren  Stufe  stehen  die  anatomischen  Zeichnungen  in 
dem  Werk  des  Johannes  de  Ketham,  weil  sie  zum  Theil  von  tüchtigen 
Künstlern,  wie  Bened.  Montagna,  herrühren. 


Der  Unterricht  in  der  Arzneibereitung  und  der 

ärztlichen  Praxis. 

Zum  Studium  der  Arzneipflanzen  bot  sich  in  den  Gärten,  welche 
bei  vielen  Klöstern  bestanden,  Gelegenheit.  Auch  manche  Ärzte,  wie 
Matthaeus  Sylvaticus  in  Salerno  und  der  Magister  Waltee  in 
Venedig,  welchem  der  Senat  zu  diesem  Zweck  i.  J.  1333  einen  Platz 
anwies,2  legten  derartige  Gärten  an.  Aber  die  Universitäten  besassen 
in  jener  Zeit  dieses  werth volle  Lehrmittel  noch  nicht,  und  die  Kennt- 
niss  der  Arzneipflanzen  wurde  hauptsächlich  durch  den  theoretischen 
Unterricht  und  durch  Bücher,  welche  manchmal  mit  botanischen  Zeich- 
nungen verziert  waren,  vermittelt. 

Die  Droguen  und  die  Bereitung  der  Heilmittel  lernten  die  Stu- 
dierenden in  den  Apotheken  kennen,  die  vom  13.  Jahrhundert  ab  in 
allen  grösseren  Städten  entstanden.  Stainpeis  empfahl  den  Studenten 
und  jungen  Ärzten,  zu  diesem  Zweck  oft  die  Apotheken  zu  besuchen. 
Felix  Plattee3  erzählt,  „dass  er  in  Montpellier  neben  stetigem  Stu- 
dieren und  Lektionen -Zuhören  sich  sehr  übte  in  Präparationen  von 
allerlei  Arznei,  wohl  aufzumerken  in  der  Apotheke/'  und  viele  Kräuter 
sammelte,  die  er  „zierlich"  in  Papier  einhüllte. 

Die  Apotheker  bezogen  einen  grossen  Theil  der  Droguen  von  aus- 
wärts, und  es  entwickelte  sich  in  diesen  Dingen  im  Mittelalter  ein 
reger  Handel,  der  aus  dem  Orient  über  Italien  führte.4  Ausser  den 
Arzneistoffen  hielten  die  Apotheken  übrigens  noch  andere  Artikel,  ver- 
schiedene Specereien,  Gewürze,  Wachskerzen,  Papier,  Zucker  und  Süssig- 
keiten  zum  Verkauf;  an  vielen  Orten,  namentlich  in  Deutschland,  übten 
die   Apotheker  zugleich    das  Pfefferküchler-Handwerk   aus   und    waren 


1  Choulant  a.  a.  O.  S.  24.  2  Meyer  a.  a.  0.  IV,  255. 

3  Platter  a.  a.  0.  S.  151. 

4  W.  Heyd:  Geschichte  des  Levantehandels,  Stuttgart  1879,  II,  550  u.  ff. 

14* 


212  Der  medioinische   Unterrieht  im  Mittelalter. 


verpflichtet,  den  Rathsherren  der  Stadt  alljährlich  in  der  Fastenzeit 
allerlei  Näschereien  als  Geschenk  zu  übersenden.1 

Über  die  Arzneistoffe,  welche  damals  in  den  Apotheken  vorräthig 
gehalten  und  am  meisten  gebraucht  wurden,  und  deren  Preise  giebt 
ein  Vertrag  v.  J.  1424  Aufschluss,  in  welchem  ein  Apotheker  sich  ver- 
pflichtet, die  erforderlichen  Medicamente  für  den  herzoglichen  Hof  zu 
Este  zu  liefern.2  Eine  Bestätigung  und  Ergänzung  erfahren  diese 
Mittheilungen  durch  die  Angaben,  die  über  den  Inhalt  einer  Apotheke 
zu  Kosel  in  Schlesien  i.  J.  1417 3  und  über  die  Droguen  und  Medi- 
camente, welche  die  Apotheker  in  Frankfurt  a.  M.  i.  J.  1450  verkauften.4 
gemacht  worden  sind. 

Von  den  Einrichtungen  der  Apotheken  jener  Zeit  zeichnen  einzelne 
Abbildungen  des  oben  erwähnten  Dresdener  Codex  und  verschiedener 
medicinischer  Incunabeln  ein  deutliches  Bild.5 

In  Italien  und  Frankreich  bildeten  die  Apotheker  schon  im  13.  Jahr- 
hundert Genossenschaften,  die  sich  ihre  eigenen  Gesetze  gaben  und 
streng  darüber  wachten,  dass  ihre  Rechte  nicht  verletzt  wurden.6  In 
Deutschland  sollen  die  ersten  Apotheken  zu  Wetzlar  1233,  in  Schweid- 
nitz  1248,  in  Würzburg  1276,  in  Augsburg  1285,  in  Esslingen  1300 
und  in  Frankfurt  a.  M.  1343  errichtet  worden  sein.  Im  15.  Jahr- 
hundert besassen  nicht  blos  alle  grösseren  Städte,  sondern  schon  viele 
mittlere  und  kleine  Orte,  wie  z.  B.  Znaim,  Pressburg,  Krems,  Budweis, 
Olmütz,  Brunn  und  Kuttenberg  Apotheken.7 

Die  Ausbildung  der  Apotheker  geschah  handwerksmässig. 8  Als 
Lehrbücher  dienten  hauptsächlich  die  Werke  des  Nicolaus  Myeepsos, 
Nicolaus  Praepositus,  Christoph  de  Honestis,  Saladin  von  Asculo, 
Quiricus  de  Augustis  u.  A.  Bevor  den  Apothekern  die  Erlaubniss 
zur  Ausübung  ihrer  Thätigkeit  ertheilt  wurde,   mussten  sie  sich  einer 


1  A.  Philippe:  Geschichte  der  Apotheker,  übers,  v.  H.  Ludwig,  Jena  1859, 
I,  S.  87. 

2  A.  Corradi:  Su  i  documenti  storici  spett.  alla  medicina,  chirurgia,  far- 
maceutica,  in  Annal.  univ.  di  med.,  vol.  273,  Milano  1885. 

3  Henschel  im  Janus,  Breslau  1847,  II,  152. 

4  J.  A.  Flückiger:  Die  Frankfurter  Liste,  Halle  1873. 

5  Cod.  Graleni  No.  92,  fol.  181 b.  182a.  193 a.  265a.  266a.  —  Choulant  in 
Naumann's  Arch.  f.  d.  zeichnenden  Künste,  Leipzig  1855,  Bd.  I,  2,  S.  264.  — 
H.  Peters:  Mittelalterliche  Apotheken  im  Anzeiger  des  germ.  Nationalmuseums, 
Nürnberg  1885,  Bd.  I,  H.  1/2.  —  A.  Essenwein  in  d.  Beil.  z.  Anz.  d.  germ.  Nat, 
Bd.  I,  No.  11/12. 

6  A.  Corradi:  Grli  antichi  statuti  degli  speziali  in  Annali  univ.  di  med., 
Vol.  277,  Milano  1886. 

7  Stainpeis  a.  a.  0.  f.  29.  8  Stainpeis  a.  a.  O.  f.  29 b. 


Der  Unterricht  in  der  Arzneibereitung  und  der  ärztlichen  Praxis.        213 


Prüfung  unterziehen,  bei  welcher  ihre  Meister  und  einige  Ärzte  die 
Fragen  stellten.  Die  Aufsicht  über  die  Apotheken  und  ihre  Visitationen 
wurde  von  den  Ärzten ,  in  späterer  Zeit  überall  von  den  Stadtärzten, 
ausgeübt. 

Wie  der  praktische  Unterricht  in  der  Heilmittel  lehre,  so  lag  auch 
die  praktische  Unterweisung  in  der  Behandlung  der  Kranken  ausser- 
halb der  Aufgaben,  welche  sich  die  Universitäten  stellten.  Aber  man 
darf  daraus  nicht  etwa  schliessen,  dass  die  Studierenden  jener  Zeit 
überhaupt  keinen  Unterricht  am  Krankenbett  erhalten  hätten.  Nam- 
hafte Historiker  kamen  zu  dieser  irrigen  Meinung,  weil  in  den  Nach- 
richten, welche  von  der  älteren  Geschichte  der  Hochschulen  und 
medicinischen  Facultäten  handeln,  darüber  wenig  oder  gar  nichts  ge- 
sagt wird. 

Der  praktische  Unterricht  in  der  Krankenbehandlung  geschah  un- 
abhängig von  den  Universitäten,  weil  die  letzteren  nicht  in  Verbindung 
standen  mit  Hospitälern. 

Wenn  der  Studierende  der  Medicin  das  Baccalaureats-Examen  ab- 
gelegt hatte,  so  trachtete  er,  sich  unter  der  Anleitung  seines  Lehrers, 
bei  dem  er  die  theoretischen  Vorlesungen  gehört  hatte,  oder  eines  an- 
deren erfahrenen  Arztes  in  der  medicinischen  Praxis  auszubilden.  Er 
begleitete  ihn  zu  diesem  Zweck,  wenn  derselbe  seine  Patienten  besuchte, 
oder  bemühte  sich,  in  den  Krankenhäusern  die  Gelegenheit  zu  erhalten, 
die  Heilung  der  Leiden  zu  sehen  und  zu  erlernen.  Hatte  er  bereits 
einige  Kenntnisse  auf  diesem  Gebiet  erworben,  so  durfte  er  seinen 
Meister  unterstützen  und  vertreten  und  unter  dessen  Aufsicht  und 
Verantwortung  beginnen,  selbst  die  Kranken  zu  behandeln. 

Diese  Methode  der  ärztlichen  Ausbildung,  welche  der  heutigen 
gleicht,  wurde  schon  in  der  medicinischen  Studienordnung  des  Kaisers 
Friedrich  IL  empfohlen.  Die  jungen  Ärzte  zu  Salerno  standen,  wie 
erwähnt,  nach  Beendigung  der  gesetzlichen  Studienzeit  noch  ein  volles 
Jahr  unter  der  Aufsicht  eines  älteren  Praktikers,  bevor  sie  selbstständig 
ihre  Kunst  ausüben  durften. 

In  dem  schon  mehrmals  erwähnten  Galen-Codex  des  15.  Jahr- 
hunderts zu  Dresden  finden  sich  mehrere  Initialen-Miniaturen,  welche 
auf  klinische  Unterweisung  hindeuten.  So  zeigt  No.  93  fol.  461 b  das 
Bild  eines  an  Marasmus  leidenden,  im  Bett  liegenden  Kranken,  bei 
welchem  der  Arzt  steht  und  seinem  Schüler  ein  Recept  diktirt;  ausser- 
dem sind  noch  zwei  Wärterinnen  anwesend.  Die  Abbildung  auf 
fol.  565 b  stellt  einen  Arzt  dar,  welcher  seinen  Schülern  zwei  Kranke, 
deren  Schenkel  mit  Geschwüren  bedeckt  sind,  demonstrirt;  fol.  468 b 
zeigt  eine  chirurgische  Operation  am  Unterschenkel,  welche  der  Schüler 


214  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

in  Gegenwart  des  Lehrers  ausführt,  500  b  die  Eröffnung  eines  Abscesses 
in  der  Achselhöhle.  In  Cod.  92  fol.  268 b  erscheint  eine  Kinder-Poli- 
klinik, und  fol.  158a  und  295 b  werden  nackte  Schwangere  vorgestellt.1 

In  Montpellier,  wo  schon  i.  J.  1198  ein  Hospital  existirte,  war  es 
üblich,  dass  die  Studierenden  der  Medicin,  nachdem  sie  das  Bacca- 
laureat  erlangt  hatten,  unter  der  Anleitung  eines  erfahrenen  Arztes  die 
ärztliche  Praxis  ausübten.  Astruc2  führt  in  den  Biographien  der  früheren 
Lehrer  der  Medicin  an  der  Schule  zu  Montpellier  verschiedene  Fälle 
an,  in  welchen  dieses  System  beobachtet  wurde,  und  betrachtet  die- 
selben keineswegs  als  besondere  Ausnahmen,  sondern  als  allgemeine 
Begel. 

Die  medicinische  Facultät  zu  Paris  forderte  i.  J.  1449  von  ihren 
Baccalaureen,  dass  sie  fleissig  die  Hospitäler  besuchten  oder  einen  tüch- 
tigen Arzt  bei  seinen  Krankenbesuchen  begleiteten,  und  verweigerte 
ihnen,  wenn  diese  Vorschrift  nicht  erfüllt  wurde,  die  Zulassung  zur 
Licenz. 3 

In  den  ältesten  Statuten  der  Wiener  medicinischen  Facultät  aus 
dem  14.  Jahrhundert  wurde  bestimmt,  dass  die  Baccalaureen  der  Me- 
dicin die  Heilkunst  innerhalb  der  Mauern  Wiens  nur  mit  Wissen  und 
unter  der  Leitung  ihres  Lehrers  oder  eines  anderen  Doktors  der  Wiener 
Facultät  ausüben  durften.4  Stainpeis  gab  den  Studierenden  vortreff- 
liche Kathschläge,  wie  sie  dabei  verfahren  sollten. 5  Vor  Allem  gilt  es, 
wie  er  sagt,  die  Ursache  der  Krankheit  zu  ergründen;  hierauf  wird 
der  leidende  Theil  genau  besichtigt  und  dann  der  übrige  Körper  einer 
sorgfältigen  Untersuchung  unterzogen. 

An  der  Universität  zu  Ingolstadt  mussten  die  Baccalaureen   der 


»&' 


Medicin  nach  den  Statuten  von   1472   dem  Dekan  einen  Eid  leisten, 
dass  sie  innerhalb  der  Stadt  und  im  Umkreise  von  sechs  Meilen  nur 


1  Vergl.  auch  Cod.  Galeni  No.  92,  fol.  7b.  17b.  43 a.  75 b.  121 a.  128 a.  208 a. 
224a.    No.  93,  fol.  458 \  471b.  475b.  482b.  496a.  504a.  535b.  560b. 

2  Astruc  a.  a.  0.  p.  236  (apres  son  baecalaureat,  il  alla  en  Provence  pour 
y  exercer  la  medecine,  suivant  Vusage  de  ce  temps-lä) ,  p.  243  (apres  quoi  il 
alla  passer  le  temps,  qn'il  etoit  alors  destine  pour  s  exercer  a  la  pratique  apres 
le  baecalaureat)  u.  a.  m.  —  Vergl.  Platter  a.  a.  0.  S.  154.  —  In  den  Statuten 
von  1240  heisst  es:  Item  nullus  magister  presentet  aliquem  (zur  Licenz),  nisi 
ille  steterit  in  practica  extra  villam  Montispessulani  per  dimidium  annum  (nach 
Gtermain  a.  a.  0.  III,  424). 

3  Hazon:  Eloge  historique  de  la  faculte  de  medecine  de  Paris,  1770,  p.  20 
(qu'ils  suivissent  les  höpitaux  ou  la  pratique  de  quelque  niattre  pendant  le  cours 
de  la  licence,  faute  de  quoi  ils  n'etoient  point  adrnis  ä  ce  degre). 

4  J.  Zeisl:  Chronol.  dipl.  universit.  Vindob.  Vienn.  1755,  Statut,  p.  80. 

5  Stainpeis  a.  a.  0.  f.  102 b  u.  ff. 


Der  Unterricht  in  der  Arzneibereitung  und  der  ärztlichen  Praxis.     215 


Kranke  besuchen  und  prakticiren  würden ,  wenn  sie  als  Stellvertreter 
ihres  Lehrers  oder  eines  anderen  Doktors  der  dortigen  Facultät  auf- 
gestellt worden  seien. l  Sie  hatten  also  ungefähr  dieselben  Funktionen, 
wie  unsere  Praktikanten  an  den  poliklinischen  Instituten  mancher 
Hochschulen. 

An  Hospitälern,  in  welchen  die  Baccalaureen  der  Medicin  Gelegen- 
heit zur  praktischen  Ausbildung  in  der  Heilkunst  fanden,  war  im 
Mittelalter  kein  Mangel.  Ihre  grosse  Anzahl  muss  umsomehr  Erstaunen 
erregen,  als  uns  nur  ein  Theil  derselben  bekannt  ist.  Die  Nachrichten, 
welche  sich  darüber  erhalten  haben,  sind  unvollständig  und  lückenhaft. 
Soweit  sie  sich  auf  Deutschland  beziehen,  oder  die  Leprosenhäuser  be- 
treffen, wurden  sie  von  Viechow  zusammengestellt.2 

Ein  reiches  Material  liegt  ausserdem  zerstreut  in  den  Archiven 
und  Bibliotheken;  viele  Quellen  sind  wahrscheinlich  noch  unerschlossen. 
Es  wäre  eine  dankenswerthe  Aufgabe,  eine  Geschichte  der  Gründung 
und  Entwickelung  der  Spitäler  im  Mittelalter  zu  schreiben;  sie  würde 
auf  die  Geschichte  der  Medicin  wie  auf  die  allgemeine  Culturgeschichte 
manchen  Lichtblick  werfen. 

Das  Christenthum  hatte  eine  Menge  von  Wohlthätigkeitsanstalten 
ins  Leben  gerufen,  wie  ich  in  einem  früheren  Abschnitt  auseinander- 
gesetzt habe.  Überall  wo  seine  Lehren  verkündet  wurden  und  Gläubige 
fanden,  entstanden  neben  den  Kirchen  und  Klöstern  auch  Hospitäler 
und  Häuser  für  Arme  und  Gebrechliche  aller  Art.  Die  christlichen 
Missionäre,  welche  aus  Italien  und  Frankreich  nach  den  Ländern  des 
Nordens  und  Ostens  Europas  kamen,  waren  Träger  der  Cultur,  indem 
sie  Humanität  predigten  und  Wissenschaften  lehrten,  wenigstens  soweit 
sie  dabei  mit  ihren  eigenen  Interessen  nicht  in  Conflikt  geriethen. 

Unvergängliche  Triumphe  feierte  die  christliche  Wohlthätigkeit 
durch  Gründung  zahlreicher  geistlicher  und  weltlicher  Ordensgenossen- 
schaften, deren  Mitglieder  die  Pflege  der  Kranken  zu  ihrer  Lebensaufgabe 
machten.  Ein  Enthusiasmus  der  Menschenliebe  erfüllte  die  Herzen, 
wie  ihn  die  Welt  nur  ein  einziges  Mal  gesehen  hat.  Hochgeborene 
Fürstinnen  und  arme  Bauern,  Ritter  und  Bürger  wetteiferten  miteinander 
in  den  Werken  der  Barmherzigkeit.  Wohl  möglich,  dass  Viele  nicht 
so  sehr  der  Idealismus  der  Liebe,  als  die  Hoffnung  auf  die  Belohnungen 
des  Jenseits  und  andere  weniger  edele  Beweggründe  dazu  führten,  ihr 


1  C.  Prantl:  Geschichte  der  Ludwig  Maximilians-Universität  zu  Ingolstadt, 
Landshut,  München  1872,  I,  50.  II,  43. 

2  Virchow's  Archiv,    Bd.   18,    S.  138—162.   273—329.    Bd.  19,    S.  43—93. 
Bd.  20,  S.  166—198.  459—512. 


216  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

Leben  dem  Dienst  der  Menschheit  zu  weihen;  aber  haben  ihre  guten 
Thaten  deshalb  vielleicht  weniger  Segen  gestiftet?  — 

Das  Sehnen  und  Bingen  nach  Idealen,  welche  die  von  der  Gegen- 
wart unbefriedigte  Menschheit  in  einer  übersinnlichen  Welt  der  Zukunft 
verwirklicht  glaubte,  wirkte  veredelnd  auf  den  Charakter,  milderte  die 
Rohheit  der  Sitten  und  umgab  manches  Unternehmen  mit  einem  Zauber, 
ohne  welchen  es  vielleicht  thöricht  oder  verächtlich  erschienen  wäre. 

Dieser  romantische  Zug  drückte  auch  den  Kreuzzügen,  in  welchen 
sich  wilde  Lust  nach  Abenteuern  und  gemeine  Habsucht  mit  frommer 
Glaubenseinfalt  verbanden,  ein  eigenthümliches  Gepräge  auf.  Wenn 
auch  das  eigentliche  Ziel  dieser  militärischen  Expeditionen,  das  Land, 
in  welchem  die  Wiege  des  Christenthums  stand,  von  der  Herrschaft 
der  Mohammedaner  zu  befreien,  nicht,  wenigstens  nicht  dauernd  erreicht 
wurde,  so  hatten  sie  doch  für  die  Entwicklung  der  Cultur  manche 
wohlthätige  Folgen;  denn  es  wurden  dadurch  Handelsbeziehungen  zwi- 
schen dem  Orient  und  dem  Occident  eröffnet,  der  geistige  Gesichtskreis 
der  Bewohner  Europas  erweitert  und  bei  den  Christen  im  Verkehr  mit 
den  Andersgläubigen  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  geweckt, 
welches  sich  in  der  Stiftung  von  Hospitäler q  und  Ordensgenossenschaften 
äusserte,  die  sich  zu  gemeinsamem  Wirken  auf  dem  Felde  der  Kranken- 
pflege verbanden. 

Das  grosse  Hospital,  welches  die  Johanniter  im  12.  Jahrhundert 
in  Jerusalem  besassen,  vermochte  2000  Kranke  aufzunehmen.  Es  be- 
stand aus  mehreren  Gebäuden,  welche,  wie  der  Ritter  Johann  von 
Maundeville  berichtet,  von  124  Marmorsäulen  getragen  wurden. 
5  Ärzte  und  3  Chirurgen,  welche  an  diesem  Krankenhause  angestellt 
waren,  besorgten  den  ärztlichen  Dienst.1 

Im  J.  1236  besass  der  Orden  4000  Ordenshäuser,  welche  über 
die  verschiedenen  Länder  der  Christenheit  vertheilt  waren;  aber  schon 
ein  Jahrhundert  später  klagte  Pabst  Clemens  VI.  darüber,  dass  sich 
die  vornehmen  Ritter  desselben  lieber  an  schönen  Pferden  und  Hunden, 
an  Schmausereien,  prächtigen  Kleidern,  goldenen  und  silbernen  Gefässen 
und  Kostbarkeiten  aller  Art  ergötzten  und  Reichthümer  anhäuften,  als 
dass  sie  Kranke  pflegten  und  Almosen  spendeten.2 

Auch  der  deutsche  Orden,  welcher  eine  grosse  Anzahl  von  Ho- 
spitälern errichtete,  wandte  sich  seit  dem  14.  Jahrhundert  mehr  und 
mehr  von  der  Krankenpflege  ab  und  zog  es  vor,  durch  kriegerische 
Eroberungen  politische  Macht  zu  gewinnen. 

1  F.  v.  Raumer:  Geschichte  der  Hohenstaufen,  Leipzig  1858,  VI,  439. 

2  J.  Taaffe:  The  history  of  the  holy  military  sovereign  order  of  St.  John 
of  Jerusalem,  London  1852,  ad  ann.  1343. 


Der  Unterricht  in  der  Arzneibereitung  und  der  ärztlichen  Praxis.     217 


Der  Orden  der  Lazaristen,  welcher  ebenfalls  in  Palästina  entstand 
und  die  Pflege  der  Aussätzigen  zur  Aufgabe  hatte,  gründete  eine  Menge 
von  Leprosen-Häusern. l  Als  der  Aussatz  in  Folge  der  Verbesserungen 
der  Hygiene  und  der  richtigeren  Diagnostik  der  verschiedenen  Leiden, 
welche  man  bis  dahin  unter  seinem  Namen  zusammengefasst  hatte, 
allmälig  seltener  wurde,  und  in  einzelnen  Ländern  schon  im  16.  Jahr- 
hundert gänzlich  erlosch,  fühlten  sich  die  Kitter  des  hl.  Lazarus  ihrer 
Pflicht,  Kranke  zu  pflegen,  überhoben. 

Treuer  hielten  an  dieser  Aufgabe  die  bürgerlichen  Krankenpfleger- 
Genossenschaften  fest,  wenn  auch  einzelne  derselben  später  ebenfalls 
entarteten.  Der  Orden  des  hl.  Geistes  war  eine  Schöpfung  des  Pabstes 
Innocenz  III. ,  der  ihn  zum  Werkzeug  ausersehen  hatte,  um  dadurch 
der  Krankenpflege  eine  die  ganze  Christenheit  umfassende  Organisation 
zu  geben.2  Es  macht,  wie  Vikchow  schreibt,  einen  ergreifenden  und 
zugleich  versöhnenden  Eindruck,  zu  sehen,  wie  „dieser  gewaltige  Mann, 
welcher  den  Kaiser  demüthigte  und  Könige  entsetzte,  der  unerbittliche 
Verfolger  der  Albigenser,.  seinen  Blick  mitleidsvoll  auf  die  Armen  und 
Kranken  wendete  und  die  Hilflosen  und  Elenden  aufsuchte".3 

Der  Orden  des  hl.  Geistes  wird  zuerst  in  einer  Urkunde  v.  J.  1198 
erwähnt;  damals  besass  er  bereits  zwei  Hospitäler  in  Eom,  eines  in 
Montpellier  und  noch  sieben  andere  in  Frankreich.  Im  J.  1204  wurde 
das  von  Innocenz  III.  erbaute  Hospital  zu  S.  Spirito  in  Rom  eingeweiht; 
der  Boden,  auf  dem  es  errichtet  wurde,  soll  schon  unter  dem  Pabst 
Symmachus  im  6.  Jahrhundert  das  alte  Sachsen-Hospiz  getragen  haben.4 

Der  Orden  zum  hl.  Geist  entfaltete  eine  ausserordentliche  Thätig- 
keit.  Schon  bald  nach  seiner  Entstehung  stiftete  er  an  verschiedenen 
Orten,  wie  z.  B.  in  Zürich,  Halberstadt,  Wien,  Spandau,  Breslau,  Riga, 
Lübeck,  Bremen  und  Hamburg,  Krankenhäuser  oder  übernahm  die 
Leitung  von  Anstalten,  welche  wie  diejenigen  zu  Memmingen,  Frei- 
burg i/Br.,  Mainz  und  Ulm,  schon  in  früherer  Zeit  bestanden.  Vikchow 
hat  die  Nachrichten  über  154  Krankenhäuser  dieses  Ordens  in  Deutsch- 
land, welche  mit  wenigen  Ausnahmen  im  13.  und  14.  Jahrhundert 
gegründet  wurden,  gesammelt.5  Daneben  bestanden  noch  viele  Spitäler, 
welche  von  anderen  Krankenpfleger -Genossenschaften  geleitet  wurden. 

Die   Gründung   von  Wohlthätigkeits- Anstalten  folgte  dem  Wege, 


1  F.  v.  Raumer  a.  a.  0.  VI,  534. 

2  Hurter:  Geschichte  des  Pabstes  Innocenz  III.,  Hamburg  1842. 

3  Virchow:  Gesammelte  Abhandlungen,  Berlin  1879,  II,  S.  24. 

4  C.  L.  Morichini:  Degli  istituti  cli  carita,  Roma  1870,  p.  99.  —  Grecjorovius: 
Geschichte  der  Stadt  Rom  im  Mittelalter,  Stuttgart  1859,  II,  467. 

5  Virchow  a.  a.  0.  II,  45  u.  ff. 


218  Der  medioinisöhe    Unterricht  im  Mittelalter. 


auf  welchem  sich  die  Cultur  in  Europa  verbreitete.  Italien,  Frankreich 
und  das  südliche  und  westliche  Deutschland  gingen  voran,  und  die 
nördlichen  und  östlichen  Länder  unseres  Welttheils  folgten  ihnen.  Um 
ein  Urtheil  über  diese  Thätigkeit  und  ihre  Erfolge  im  Einzelnen  zu 
erhalten,  ist  es  am  besten,  ein  beschränktes  Gebiet  ins  Auge  zu  fassen. 
Thüringen,  Sachsen,  Brandenburg,  Pommern  und  Schlesien,  also  die- 
jenigen Länder,  welche  damals  etwa  die  Grenze  der  Cultur  bildeten, 
waren  schon  im  13.  Jahrhundert  reich  versehen  mit  Hospitälern  und 
Leproserien ; 1  selbst  kleine  Orte,  deren  Namen  in  der  Geschichte  kaum 
genannt  werden,  besassen  derartige  Anstalten.  In  Schlesien  gab  es 
deren  zu  Breslau  (1214),  Kloster-Trebnitz ,  Neisse  (1226),  Neumarkt 
(1234),  Bunzlau  (1261),  Brieg  (1273),  Glatz  (1275),  Münsterberg  (1276), 
Liegnitz  (1280),  Sagan  (1283),  Steinau(1290),  Katibor  (1295),  Gr.  Glogau 
(1296),  Görlitz  (1298),  Sprottau  und  Schweidnitz  (1299),  Beuthen  (1302). 
Oels  (1307),  Frankenstein  (1319),  Freistadt  (1320),  Löwenberg  (1322), 
Leubus  (1330),  Strehlen  (1347),  Goldberg  (1348)  u.  a.  0.  Allerdings 
sind  die  Angaben,  welche  darüber  gemacht  werden,  unvollständig  und 
ungenau;  aber  sie  liefern  doch  ein  Bild  von  dem  Keichthum  an  An- 
stalten, welche  man  zur  Pflege  der  Kranken  getroffen  hatte. 

Es  darf  wohl  angenommen  werden,  dass  es  in  jenen  Ländern, 
deren  Cultur  älter  und  mehr  entwickelt  und  deren  Reichthum  grösser 
war,  jedenfalls  nicht  schlechter,  sondern  wahrscheinlich  noch  besser 
damit  bestellt  war.  Frankfurt  a/M.  besass  im  13.  Jahrhundert  schon 
drei  oder  vier  Krankenhäuser.2  Das  für  Kranke  und  Sieche  errichtete 
Katharinen- Hospital  zu  Regensburg  hatte  in  der  Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts 250  Pfleglinge.  Eine  derartige  Zahl  bildete  damals  sicherlich 
eine  Ausnahme;  denn  die  meisten  Hospitäler  jener  Zeit  waren  klein 
und  konnten  nur  wenige  Personen  aufnehmen. 

Die  Leiter  der  Regensburger  iinstalt  machten  auch  darauf  auf- 
merksam, dass  dieselbe  überfüllt  war,  und  dass  in  Folge  dessen  die 
Luft  verpestet  und  Krankheiten  auf  gesunde  Leute  übertragen  wurden. 
Welche  Unreinlichkeit  und  sanitätswidrigen  Verhältnisse  noch  im 
15.  Jahrhundert  in  einzelnen  dieser  Spitäler  herrschten,  zeigen  die 
drastischen  Mittheilungen,  welche  Thomas  Platter  über  seinen  Aufent- 
halt im  Krankenhause  zu  Breslau  hinterlassen  hat.3 

Es  ist  leider  noch  wenig  erforscht,  inwieweit  und  in  welcher  Art 


1  Virchow's  Archiv,  Bd.  18,  S.  150  u.  ff.    275  u.  ff.    310  u.  ff. 

2  Gr.  L.  Kriege:  Deutsches  Bürgerthum  im  Mittelalter,  Frankfurt  a/M.  1868, 
I,  S.  76  u.  ff.  —  W.  Stricker:  Geschichte  der  Heilkunde  in  Frankfurt  a/M., 
1847,  S.  129. 

3  Platter  a.  a.  O.  S.  22. 


Die  ärztlichen  Prüfungen.  .      219 


die  Spitäler  des  Mittelalters  zum  Unterricht  der  Studierenden  der  Me- 
dicin  und  jungen  Ärzte  verwendet  wurden. 

Die  Errichtung  von  Krankenanstalten  erfolgte  an  vielen  Orten 
früher,  als  sich  dort  wissenschaftlich  gebildete  Ärzte  niederliessen.  Die 
Krankenpflege  ging  somit  häufig  der  Krankenbehandlung  voraus. 


Die  ärztlichen  Prüfungen. 

Die  medicinischen  Prüfungen,  welche  die  Studierenden  der  Heil- 
kunde ablegen  mussten,  bevor  sie  zur  Praxis  zugelassen  wurden,  hatten 
ihr  Vorbild  an  den  Einrichtungen,  die  der  Kaiser  Friedrich  IL  zu 
Salerno  geschaffen  hatte. 

Im  Verlauf  der  Zeit  traten  jedoch  an  die  Stelle  des  einen  Examens, 
welches  am  Schluss  der  Studien  stattfand,  die  Prüfungen  für  das  Bacca- 
laureat,  die  Licenz  und  das  Magisterium  oder  Doktorat.  Diese  aka- 
demischen Grade  wurden  zuerst,  wie  es  scheint,  in  Bologna  und  Paris 
eingeführt.  In  Salerno  und  Neapel  wurden  sie  von  Carl  von  Anjou 
1278  und  1280  angeordnet,  wie  aus  den  von  S.  de  Eenzi  citirten 
Documenten  hervorgeht. 1 

Wer  sich  um  das  Baccalaureat  der  Medicin  bewarb,  musste  zwei 
oder  drei  Jahre  hindurch  medicinische  Vorlesungen  gehört  haben  und 
dann  in  einem  mündlichen  Examen,  welches  vor  den  Mitgliedern  der 
medicinischen  Facultät  stattfand,  den  Nachweis  liefern,  dass  er  sich 
eine  allgemeine  theoretische  Kenntniss  der  einzelnen  Zweige  der  Heil- 
kunde erworben  hatte.  Durch  einen  feierlichen  Aj^t,  die  Determination, 
bei  welcher  der  Candidat  eine  ihm  gestellte  wissenschaftliche  Frage 
erörterte,  wurde  er  aus  der  Klasse  der  Scholaren  in  diejenige  der 
„Baccalarien",  wie  es  in  dem  corrumpirten  Latein  des  Mittelalters  heisst, 
versetzt.  Das  Wort  wird  von  einigen  Erklärern  mit  baculum,  dem 
Stock,  in  Verbindung  gebracht,  der  den  Baccalaureen  angeblich  als 
Zeichen  ihrer  neuen  Würde  überreicht  worden  sein  soll. 2  Mit  grösserer 
Wahrscheinlichkeit  wird  es  von  bacca  lauri  abgeleitet;  es  erinnert  an  die 
Krönungen  der  Dichter  mit  dem  Lorbeerkranz,  von  denen  die  Geschichte 
des  Mittelalters  erzählt. 

Auf  das  Baccalaureat  folgten  nach  einem  Zeitraum  von  zwei  oder 
drei  Jahren,   welche  der  Candidat  zu  seiner  weiteren   fachwissenschaft- 


1  S.  de  Renzi:  Storia  docura.  della  scuola  med.  di  Salerno,  Doc.  No.  287.  291. 

2  de  Renzi:  Storia  docum.  della  scuola  med.  di  Salerno,  p.  556: 


220     .  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

liehen,  namentlich  aber  zur  praktischen  Ausbildung  benutzte,  die  Prü- 
fungen, welche  der  Ertheilung  der  Licenz  vorausgingen.  Bei  der  Zu- 
lassung wurde  vorausgesetzt,  dass  der  Baccalaureus  ausser  den  Vor- 
lesungen, die  er  besucht  hatte,  an  den  Disputationen  Theil  genommen 
und  dabei  den  Professoren  mehrmals  geantwortet,  einige  Vorträge  ge- 
halten, den  anatomischen  Demonstrationen  beigewohnt  und  sich  in  der 
praktischen  Heilkunst  ausgebildet  habe.  Die  Examina  wurden  ebenfalls 
von  der  medicinischen  Facultät  abgehalten,  bestanden  in  der  Erklärung 
eines  Hippokratischen  Aphorismus,  der  Beschreibung  einiger  Krank- 
heiten und  der  Beantwortung  der  Fragen,  welche  daran  geknüpft 
wurden.  War  das  Ergebniss  günstig,  so  wurde  der  Candidat  durch 
zwei  Mitglieder  der  Facultät  dem  Kanzler  der  U-niversität  vorgestellt, 
welcher  ihm  in  feierlicher  Weise  die  Licenz  ertheilte. 

Da  die  Kanzler- Würde  überall  von  hohen  Geistlichen  bekleidet 
wurde,  welche  sich  als  Vertreter  des  Pabstes,  des  obersten  Schutzherrn 
des  Unterrichts,  betrachteten,  so  fand  dieser  Akt  in  der  Kirche  statt. 
Derselbe  trug  daher  gleichsam  einen  religiösen  Charakter,  welcher 
Andersgläubige,  z.  B.  die  Juden,  von  der  Erlangung  der  Licenz  aus- 
schloss;  doch  scheint  man  schon  in  sehr  früher  Zeit  einen  Ausweg  ge- 
funden zu  haben,  indem  man  die  Verleihung  der  Licenz  in  solchen 
Fällen  der  Facultät  überliess.1 

Die  Ärzte,  welche  in  den  Prüfungen  ihre  Befähigung  zur  Aus- 
übung der  ärztlichen  Praxis  gezeigt  und  die  Erlaubniss  dazu  erhalten 
hatten,  wurden  Meister  oder  Magistri  genannt.  Nachdem  bei  den  Ju- 
risten zu  Bologna  der  Doktor-Titel  üblich  geworden  war2  und  in  allen 
Rechtsschulen  Eingang  gefunden  hatte,  begannen  auch  die  medicinischen 
Facultäten,  denselben  zu  gebrauchen. 

Das  Wort  „Doctor"  kommt  schon  in  der  Literatur  des  Alterthums 
vor3  und  bezeichnet  dort  einen  Lehrer  (von  docere).  In  diesem  Sinne 
wurde  der  Doktor-Titel  auch  von  den  medicinischen  Facultäten  zunächst 
Denjenigen  ertheilt,  welche  als  Lehrer  der  Heilkunde  thätig  waren. 
Dies  geschah  an  den  meisten  Hochschulen  bereits  im  13.  Jahrhundert. 
Da  das  Recht,  zu  lehren,  jedem  Arzt  zustand,  welcher  zur  Ausübung 
seiner  Kunst  legitimirt  war,  so  wurde  auch  der  Doktor-Titel  allmälig 
allen  Ärzten  gegeben. 


1  de  Renzi  a.  a.  0.  p.  558.  572. 

2  Savigny  a.  a.  0.  I,  476.  —  Gruner's  Almanach  für  Ärzte,  Jena  1789, 
S.  250  u.  ff. 

3  Cicero:  de  orat.  I,  19.  —  Sueton:  Caesar  c.  42.  —  Valer.  Maxim.  II,  3. 
—  Quintilian:  Instit.  orat.  XI,  3,  XII,  2.  —  Ersch  u.  Gruber:  Encyklop.  sect.  I, 
Th.  25,  S.237  u.  ff. 


Die  ärztlichen  Prüfungen.  221 

Als  man  anfing,  zwischen  den  Doctores  legentes  et  non  legentes, 
zwischen  Denjenigen ,  welche  die  Lehrthätigkeit  ausübten,  und  Jenen, 
welche  dies  unterliessen,  zu  unterscheiden,  entstand  der  Gebrauch,  die 
ersteren  Professoren  zu  nennen.  Auch  dieser  Ausdruck  stammt  aus 
dem  Alterthum;1  er  kommt  von  profiteri,  „eine  Kunst  oder  Wissen- 
schaft öffentlich  ausüben  oder  lehren".  An  den  deutschen  Universitäten 
kam  der  Titel  „Professor"  erst  im  16.  Jahrhundert  auf,  und  zwar 
wurden  damit  nur  diejenigen  Lehrer  der  Hochschule  bezeichnet,  welche 
mit  der  Abhaltung  von  Vorlesungen  beauftragt  waren  und  für  diese 
Lehrthätigkeit  eine  Besoldung  oder  Remuneration  bezogen.  Es  waren 
dies  also  die  Mitglieder  des  Lehrer-Collegiums,  welche  man  früher 
Doctores  regentes  genannt  hatte. 

Der  Wechsel  in  der  Bedeutung  der  Titulaturen  und  Formen  der 
Höflichkeit,  wie  er  sich  im  Verlauf  der  Zeiten  vollzieht,  hat  seinen 
Grund  zum  grossen  Theile  in  der  menschlichen  Eitelkeit.  Heut  ergeht 
es  dem  Professor-Titel  wie  einst  dem  Doktor-Titel;  er  wird  an  Ärzte 
verliehen,  welche  dem  Lehramt  gänzlich  fernstehen,  während  manche 
Lehrer  der  Hochschulen  schon  nicht  mehr  so  gern  den  Titel  von  Pro- 
fessoren, als  denjenigen  von  Geheimen  Käthen,  Hofräthen  oder  Re- 
gierungsräthen  führen. 

Die  Würde  eines  Doktors  der  Mediän  konnte  Jeder  erlangen,  der 
die  Licenz  zur  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis  besass.  Zu  diesem  Zweck 
waren  keine  besonderen  Prüfungen  erforderlich;  dagegen  wurde  ver- 
langt, dass  der  Candidat  von  ehrenhafter  und  ehelicher  Abkunft,  un- 
bescholten und  sittsam,  mindestens  26  Jahre  alt,  ohne  körperliche 
Mängel  und  wohlgestaltet  sei.  An  einigen  Universitäten  wurde  das 
Alter  auf  28  Jahre  festgesetzt  und  ein  Nachlass  in  dieser  Hinsicht  nur 
dann  gestattet,  wenn  der  Candidat  nicht  zu  weibisch  und  jugendlich 
aussah.  Personen,  welche  missgestaltet  oder  abschreckend  hässlich 
waren,  sollten  nicht  zugelassen  werden  und  zwar  aus  einem  sonder- 
baren Grunde;  man  befürchtete  nämlich,  dass  sich  schwangere  Frauen 
an  ihnen  versehen  könnten. 

Der  Promotions-Akt  war  mit  einer  öffentlichen  Disputation  und 
verschiedenen  Ceremonien  verbunden,  welche  die  Aufnahme  des  Can- 
didaten  in  die  ärztliche  Zunft  versinnbilden  und  ihm  die  hohe  Bedeu- 
tung seiner  neuen  Würde  deutlich  vor  Augen  führen  sollten.  Die 
Feier  wurde  unter  Glockengeläute  und  Theilnahme  der  ganzen  Facultät 


1  Celsus:  Praef.  u.  II,  6.  —  Sueton:  Rhetor.  5.  —  Quintilian:  Institut 
orat.  Prooem.  u.  I,  9.  XII,  11.  —  Savigny  a.  a.  0.  I,  396.  —  H.  Conring:  Autiq. 
acad.  I,  25. 


222  Der  medizinische   Unterricht  im  Mittelalter 


vollzogen.  Sie  begann  mit  einem  Vortrage  des  Doktoranden,  dessen 
Verdienste  von  dem  Professor,  welcher  den  Akt  leitete,  in  einer  Rede 
beleuchtet  wurden.  Der  Candidat  legte  dann  einen  Eid  ab,  dass  er 
jeder  Zeit  seine  Pflichten  gegen  die  Facultät  und  den  ärztlichen  Stand 
überhaupt  erfüllen  werde;  hierauf  wurde  ihm  der  sogenannte  Doktorhut 
aufgesetzt,  ein  Ring  an  den  Finger  gesteckt  als  Zeichen  des  ritterlichen 
Ranges,  dem  die  Doktorwürde  gleichgeachtet  wurde,  ein  goldener  Gürtel 
umgelegt,  und  ein  Buch  des  Hippokeates  vor  ihm  aufgeschlagen. 
Dann  wurde  er  eingeladen,  sich  an  der  Seite  des  Promotors  nieder- 
zulassen, von  Diesem  umarmt  und  ihm  der  Segen  ertheilt.  Mit  dem 
Dank  des  neuen  Doktors  schloss  die  Feier,  welcher  ein  Grastmahl  folgte, 
an  welchem  alle  Mitglieder  der  Facultät  Theil  nahmen. 

Die  Ausgaben  dafür,  sowie  die  Taxen,  welche  gezahlt,  und  die 
Geschenke,  die  an  verschiedene  Personen  vertheilt  wurden,  machten  die 
Doktor-Promotion  zu  einer  ziemlich  kostspieligen  Sache.  In  Wien  hatte 
der  Candidat  die  Verpflichtung,  einem  Doktor  der  medicinischen  Facultät 
einen  vollständigen  Anzug  zu  schenken;  es  mussten  dazu  14  Ellen 
Tuch  von  guter  Qualität  verwendet  werden.  Übrigens  blieb  es  ihm 
unbenommen,  mehrere  seiner  Collegen  auf  diese  Weise  zu  erfreuen. 
Ferner  erhielt  jeder  Doktor  der  Facultät  ein  Barett  und  ein  Paar  ge- 
wirkter Handschuhe,  jeder  Licentiat  und  Baccalaureus  ein  Paar  gewöhn- 
licher Handschuhe,  „wobei  jedoch  der  Anstand  und  die  Ehre  der  Facultät 
zu  berücksichtigen  sind."1  Ähnliche  Anforderungen  wurden  auch  an 
anderen  Universitäten  gestellt.  Am  meisten  betrugen  die  Ausgaben, 
welche  die  Promotion  in  Paris  verursachte.  Armen  Doktoranden  wurden, 
wenn  sie  sich  durch  ihre  Kenntnisse  auszeichneten,  die  hohen  Spesen 
ausnahmsweise  erlassen,  und  an  einzelnen  Hochschulen  geschah  dies  regel- 
mässig in  bestimmten  Zeiträumen.2 

Manche  wurden  durch  die  mit  der  Promotion  verbundenen  Un- 
kosten von  der  Bewerbung  abgeschreckt  und  begnügten  sich  damit,  als 
Licentiaten  die  ärztliche  Praxis  auszuüben.  Die  letzteren  genossen  in 
dieser  Hinsicht  die  gleichen  Rechte  wie  die  Doktoren.  Es  bestand 
zwischen  ihnen  nur  der  einzige  Unterschied,  dass  die  Doktoren  voll- 
berechtigte Mitglieder  der  Facultät  waren,  über  die  Angelegenheiten 
derselben  Berathungen  pflegten  und  Beschlüsse  fassten  und  an  einzelnen 
Beneficien  Theil  nahmen. 

In  dem  Wesen  des  Studium  generale  lag  es,  dass  die  Doktor- Würde 
in  allen  Ländern  der  Christenheit  Geltung  hatte.     Allerdings  wurden 


1  Eosas  a.  a.  0.  I,  S.  35.  —  Hautz  a.  a.  0.  I,  160. 
9  Coppi  a.  a.  0.  p.  204. 


Die   Chirurgie  und  Geburtshilfe.  223 


schon  in  früher  Zeit  einige  Beschränkungen  geltend  gemacht;  doch 
richteten  sich  dieselben  nicht  so  sehr  gegen  das  Recht,  überall  die 
ärztliche  Berufsthätigkeit  auszuüben,  als  gegen  den  Anspruch,  als  voll- 
berechtigtes Mitglied  in  die  medicinische  Facultät  einer  anderen  Uni- 
versität aufgenommen  zu  werden.  Die  Facultäten  sahen  in  der  Pro- 
motion eine  wichtige  Einnahmequelle,  welche  geschmälert  wurde,  wenn 
Doktoren,  die  an  fremden  Hochschulen  promovirt  worden  waren,  ohne 
Weiteres  als  Mitglieder  derselben  betrachtet  wurden.  So  weigerten  sich 
die  Ärzte  von  Bologna  i.  J.  1298,  einen  Collegen,  den  Sohn  eines 
dortigen  Bürgers,  in  ihre  Genossenschaft  aufzunehmen,  weil  er  in 
Salerno  die  medicinische  Doktorwürde  erworben  hatte  und  noch  nicht 
30  Jahre  alt  war.  Derselbe  antwortete  selbstbewusst,  dass  er  den  Mangel 
an  Jahren  durch  Kenntnisse  ersetze.1 

Zwischen  Paris  und  Montpellier  herrschten  beständig  derartige 
Streitigkeiter],  und  ebenso  war  es  auch  an  anderen  Hochschulen.  Den- 
selben wurde  erst  ein  Ende  gemacht,  als  bestimmt  wurde,  dass  die 
Doktoren,  wenn  sie  die  Aufnahme  in  eine  Facultät  nachsuchten,  von 
welcher  sie  nicht  ihren  akademischen  Grad  erhalten  hatten,  einige 
Prüfungen,  die  jedoch  in  der  Hauptsache  nur  eine  Formalität  waren, 
ablegten  und  bestimmte  Taxen  bezahlten. 

Die  zur  Praxis  berechtigten  Ärzte,  welche  an  den  Universitäten 
ihre  theoretische  Ausbildung  erlangt  hatten,  zerfielen  also  in  die  Dok- 
toren und  die  Licentiaten,  die  sich  aber  nicht  durch  ihr  Wissen,  sondern 
lediglich  durch  den  Titel  unterschieden. 


Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe. 

Nach  ihrer  Thätigkeit  sonderten  sich  die  Ärzte  in  solche,  welche 
hauptsächlich  innere  Krankheiten,  und  in  solche,  welche  äussere  Leiden 
behandelten.  Die  Trennung  der  Chirurgie  von  der  internen  Medicin 
bestand,  wie  früher  auseinandergesetzt  worden  ist,  schon  im  Alterthum. 
Sie  dürfte  sich  auch  nachher  während  der  ersten  Jahrhunderte  des  Mittel- 
alters erhalten  haben,  ohne  dass  jedoch  eine  strenge  Scheidung  der  Ver- 
treter dieser  beiden  Disciplinen  stattfand.  W^enn  sie  durch  ihre  Kennt- 
nisse und  ihre  Tüchtigkeit  einander  ebenbürtig  waren,  so  werden  sie 
sicherlich  auch  im  gesellschaftlichen  Leben  dasselbe  Mass  von  Achtung 
genossen  haben. 


1  Meiners:  Geschichte  der  hohen  Schulen,  Bd.  II,  S.  267. 


224  Der  medieinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


In  der  Studienordnung  des  Kaisers  Friedrich  II.  wurde  die  Zu- 
sammengehörigkeit dieser  beiden  Theile  der  Heilkunst  hervorgehoben; 
und  die  medicinischen  Schulen  zu  Salerno  und  Montpellier  widmeten 
der  Chirurgie  im  Lehrplan  die  gebührende  Aufmerksamkeit  und  bil- 
deten beide  Kategorien  der  Ärzte  aus.  Man  bezeichnete  die  Heil- 
kundigen als  medici  physici  und  medici  chirurgi  und  wollte  damit  viel- 
leicht andeuten,  dass  sie  eine  äquivalente  fachmännische  Ausbildung 
besassen.     Auch  wurde  der  Titel  Phvsici  anstatt  Medici  gebraucht. 

Leider  vernachlässigten  später  die  meisten  Universitäten  nach  dem 
Vorgange  von  Paris  den  Unterricht  in  der  praktischen  Heilkunde,  be- 
sonders in  der  Chirurgie.  Da  gleichzeitig  den  Ärzten,  welche  dem 
geistlichen  Stande  angehörten,  die  Ausübung  der  Chirurgie  untersagt 
wurde,  so  stellte  sich  das  Bedürfniss  heraus,  dass  eine  Klasse  von  Heil- 
kundigen existire,  welche  die  Wundarzneikunst  zu  ihrer  besonderen 
Aufgabe  machten.  Dazu  kam,  dass  die  Kriege  und  beständigen  Fehden 
zwischen  den  kleinen  Territorialherren,  die  Kreuzzüge,  namentlich  aber 
die  grossen  Seuchen,  welche  im  Mittelalter  die  Länder  verheerten,  den 
Beweis  lieferten,  dass  die  vorhandenen  Ärzte  weder  nach  ihrer  Zahl, 
noch'  nach  ihren  Kenntnissen  den  Bedürfnissen  genügten.  Diese  Um- 
stände begünstigten  die  Bildung  eines  chirurgischen  Standes,  die  eigent- 
lich erst  im  1 3.  Jahrhundert  deutlich  hervortrat. 1 

Derselbe  setzte  sich  zusammen  aus  Doktoren  und  Licentiaten  der 
Medicin,  welche  hervorragende  Neigung  oder  Begabung  zur  Chirurgie 
führte,  aus  Heilkünstlern,  denen  aus  religiösen  oder  socialen  Gründen 
die  Erlangung  akademischer  Grade  versagt  war,  und  aus  jener  Masse 
von  Empirikern,  welche  sich  eine  bemerkenswerthe  Sicherheit  in  der 
Behandlung  chirurgischer  Leiden  erworben  hatten.  Er  barg  also  Ele- 
mente von  sehr  verschiedener  wissenschaftlicher  Qualität  in  sich. 

Die  Chirurgen  Italiens  und  Frankreichs  standen  im  Allgemeinen 
den  Ärzten  ihrer  Heimath  ebenbürtig  zur  Seite.  Sie  besuchten  einige 
Zeit  hindurch  die  Vorlesungen  an  der  Universität2  und  erwarben  sich 
eine  allgemein-wissenschaftliche  und  fachmännische  Bildung,  welche  den 
Forderungen  jener  Zeit  entsprach.  Viele  waren  zugleich  zur  Behand- 
lung der  inneren  Krankheiten  berechtigt  und  zeichneten  sich  darin 
eben  so  sehr  aus  als  in  der  Chirurgie.  Die  Namen  eines  Hugo  und 
Teodoeico  Boegognoni,  Bruno  von  Longobuego,  Wilhelm  von 
Saliceto,  Lanfeanchi,  Henei  de  Mondeville,  Guy  von  Chauliac, 


1  A.  Chiapelli:    Studii   sull'    esercizio  della  medicina  in  Italia  negli  ultimi 
tre  secoli  del  medio  evo,  Milano  1885,  p.  5. 

2  Coppi  a.  a/O.  p.  199. 


Die   Ohirwgie  und  Geburtshilfe.  225 

Peter  von  Argelata,  Marcello  Cumano,  Leon.  Bertapaglia  u.  A. 
gehören  zu  den  glänzendsten,  welche  die  chirurgische  Literatur  jener 
Zeit  wie  die  Geschichte  der  Heilkunde  überhaupt  aufweisen  kann. 

Die  Pariser  Chirurgen  bildeten  schon  um  die  Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts eine  Genossenschaft,  welche  sich  nach  dem  Muster  der  medi- 
cinischen  Facultät  organisirte.  Sie  wurde  nach  dem  hl.  Cosmas,  welchen 
sie  zu  ihrem  Schutzpatron  wählte,    das  College  de  St.  Cöme  genannt. 

Die  Mitglieder  desselben  hielten  regelmässige  Versammlungen  ab, 
in  welchen  sie  die  Standes-  und  Unterrichtsangelegenheiten  besprachen, 
und  ertheilten  ihren  Schülern  Unterricht  in  ihrer  Kunst.  Der  letztere 
war,  wie  es  scheint,  vorzugsweise  praktischer  Natur,  indem  die  Lehr- 
linge ihre  Meister  zu  den  Kranken  begleiteten  und  dort  die  chirurgischen 
Verrichtungen  kennen  lernten.  Lanfranchi,  welcher  am  College  de 
St.  Cöme  lehrte,  führte  in  Gegenwart  seiner  Schüler  die  chirurgischen 
Operationen  aus  und  wurde  dabei  von  ihnen  unterstützt.  Auch  wohnten 
die  Schüler  den  öffentlichen  unentgeltlichen  Krankenordinationen  bei, 
welche  die  Mitglieder  des  College  abhielten,  und  besuchten  mit  ihnen 
die  Hospitäler,  an  denen  ihre  Lehrer  angestellt  waren.  Einzelne  ver- 
sahen dort  vielleicht  die  Funktionen,  welche  unsere  Heilgehilfen  und 
Krankenwärter  verrichten.  Ausserdem  wurden  sie  zu  anatomischen  De- 
monstrationen zugezogen,  wenn  sich  dazu  die  Gelegenheit  bot. 

Die  Schüler  mussten  sich  am  Schluss  ihrer  Studien  einer  Prüfung 
unterziehen;  schon  1254  verlangten  die  Chirurgen,  dass  zu  diesem  Zweck 
Examinatoren  ernannt  würden.  Ein  Edikt  Philipp  des  Schönen  v.  J. 
1311  bestimmte,  dass  Niemand  die  chirurgische  Praxis  ausüben  dürfe, 
der  nicht  von  den  Meistern  für  fähig  erachtet  und  vom  Leibchirurgen 
des  Königs  die  Licenz  dazu  erhalten  habe.1  Später  wurden  die  Stu- 
dierenden der  Chirurgie  genöthigt,  an  der  Universität  den  Grad  eines 
Magister  artium  zu  erwerben  und  einige  Vorlesungen  an  der  medici- 
nischen  Facultät  zu  hören. 

Im  J.  1416  wurde  das  College  de  St.  Cöme  als  besondere  Facultät 
der  Pariser  Hochschule  einverleibt. 

Die  Zöglinge  desselben  erlangten  somit  eine  wissenschaftliche  Aus- 
bildung, welche  keineswegs  hinter  derjenigen  der  Ärzte  zurückstand. 
Trotzdem  wurden  sie  ihnen  in  der  socialen  Kangordnung  nicht  gleich- 
geachtet. Diese  Zurücksetzung  des  chirurgischen  Standes,  welche  zuerst 
in  Paris  zu  Tage  trat,  hatte  ihren  Grund  theils  in  dem  schon  erwähnten 
Umstände,  dass  sich  der  Klerus,  welcher  damals  im  gesellschaftlichen 
Leben  die  erste  Stelle  behauptete,  von  ihm  fern  hielt,  theils  darin,  dass 


1  Buchez:  De  la  faculte  de  med.  de  Paris  a.  a.  0.   1822. 
Puschmann,   Unterricht.  15 


226  Der  mcdieinisehe   Unterricht  im  Mittelalter. 

sich  unter  den  Berufsgenossen  der  Chirurgen  auch  viele  ungebildete 
Leute  von  niederem  Herkommen  befanden,  vor  Allem  aber  in  den 
Eifersüchteleien  und  Streitigkeiten  mit  der  medicinischen  Facultät, 
welche  eine  unberechtigte  wissenschaftliche  Superiorität  in  Anspruch 
nahm. 

Der  Kampf  zwischen  den  Ärzten  und  den  Chirurgen  dauerte  bis 
zum  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  und  wurde  mit  einer  Erbitterung- 
geführt, welche  auf  beiden  Seiten  beklagenswerthe  Ausschreitungen  im 
Gefolge  hatte.  Die  medicinische  Facultät  zu  Paris  legte  i.  J.  1350 
ihren  Mitgliedern  und  Studierenden  die  Verpflichtung  auf,  keine  Chirurgie 
auszuüben,  und  schloss  dieselben  aus,  wenn  sie  dieses  Verbot  über- 
traten.1 Da  sie  bei  den  Chirurgen  zu  wenig  Demuth  und  Unter- 
würfigkeit fand,  so  setzte  sie  es  1372  durch,  dass  den  Barbierern  das 
Recht  ertheilt  wurde,  nicht  blos  den  Aderlass  auszuführen,  sondern  die 
ganze  sogenannte  kleine  Chirurgie  auszuüben  und  Geschwüre  und 
Wunden  zu  behandeln,  so  lange  sie  nicht  lebensgefährlich  seien.  Übrigens 
mag  sich  auch  wohl  die  Notwendigkeit  einer  Klasse  von  Heilgehilfen 
ergeben  haben,  welche  den  Ärzten  zu  jeder  Zeit  zu  Diensten  standen, 
um  die  alltäglichen  niederen  chirurgischen  Verrichtungen  auszuführen; 
denn  die  eigentlichen  Wundärzte  mit  fachmännischer  Bildung  waren 
selten  und  daher  sehr  beschäftigt. 

Durch  diese  Einrichtungen  wurde  die  Grenze  zwischen  den  Chirurgen 
und  den  Barbierern,  welche  wahrscheinlich  niemals  unübersteigbar  war, 
noch  mehr  verwischt.  Die  Pariser  medicinische  Facultät  war  bestrebt, 
den  letzteren  die  Möglichkeit,  sich  zu  Chirurgen  heranzubilden,  zu  er- 
leichtern, indem  sie  i.  J.  1491  Vorlesungen  für  sie  eröffnete,  welche 
in  französischer  Sprache  gehalten  wurden  und  die  verschiedenen  Theile 
der  Chirurgie  und  Operationskunst  behandelten.2  In  der  That  gingen 
auch  aus  dem  Stande  der  Barbierer  eine  grosse  Anzahl  von  Chirurgen 
hervor,  von  denen  sich  Einige  um  die  Vervollkommnung  der  Heilkunst, 
unvergängliche  Verdienste  erworben  haben. 

In  den  übrigen  Ländern  des  christlichen  Europas  befand  sich  die 
Chirurgie  auf  einer  niedrigeren  Stufe,  als  in  Italien  und  Frankreich. 
Wenn  der  Niederländer  Jehan  Yperman  im  13.  Jahrhundert  und  der 
Engländer  John  Ardern  im  14.  Jahrhundert  ihre  Berufsgenossen  in 
der  Heimath  an  Wissen  weit  überragten,  so  verdankten  sie  dies  lediglich 
dem  Umstände,  dass  sie  ihre  fachmännische  Bildung  in  Frankreich  er- 
halten hatten. 


1  A.  F.  Thery:  Histoire  de  l'education  en  France,  Paris  1858. 

2  Hazon  a.  a.  0. 


Die   Chirurgie  und  Geburtshilfe.  227 


Nur  in  Spanien  scheinen  einige  Zeit  hindurch  günstigere  Verhält- 
nisse bestanden  zu  haben.  In  Saragossa  wurden  die  Ärzte  in  der 
Chirurgie  geprüft  und  erhielten  den  Titel  von  Medico-Chirurgen ;  eine 
Einrichtung,  die  erst  i.  J.  1585  aufgehoben  wurde.1 

AVelche  Art  von  Heilkünstlern  in  Deutschland  die  Chirurgie  aus- 
übte, zeigen  einige  Thatsachen,  die  aus  dem  Ende  des  12.  Jahrhunderts 
berichtet  werden.  Als  der  Markgraf  Dedo  von  Rochlitz  und  Groiz  den 
Kaiser  Heinrich  VI.  i.  J.  1190  nach  Italien  begleiten  sollte,  fürchtete 
er  wegen  seiner  Dickleibigkeit  das  heisse  Klima  und  die  Strapazen  der 
Reise  und  liess  einen  Arzt  kommen,  der  ihm  ohne  Weiteres  den  Leib 
aufschnitt,  um  das  Fett  herauszunehmen.  Der  Markgraf  ging  an  dieser 
seltsamen  Operation  natürlich  zu  Grunde.2 

Der  Herzog  Leopold  V.  von  Österreich  brach  sich  i.  J.  1195  durch 
einen  Sturz  vom  Pferde  den  Unterschenkel,  so  dass  die  Bruchenden 
des  Knochens  durch  die  Haut  hindurch  drangen.  Seine  Ärzte  behan- 
delten ihn  mit  Pflastern  und  Arzneien,  bis  der  Brand  eintrat.  Sie 
weigerten  sich,  die  Amputation  vorzunehmen,  obwohl  der  Patient  sie 
verlangte.  Einer  seiner  Diener  vollzog  sie  dann;  aber  der  Erfolg  war, 
wie  vorauszusehen,  ein  ungünstiger.  Der  Herzog  starb  am  folgenden 
Tage.3  Verwegenheit  und  Feigheit,  die  Kinder  der  Unwissenheit,  waren 
die  Eigenschaften,  welche  die  grosse  Masse  der  deutschen  Chirurgen 
jener  Zeit  kennzeichneten. 

Selbst  die  Bündth-Erzney  des  deutschen  Ordensritters  Heineich 
von  Pfolspeundt,  des  hervorragendsten  Wundarztes,  welchen  unser 
Vaterland  im  15.  Jahrhundert  hervorgebracht  hat,  kann  sich  nicht 
mit  den  chirurgischen  Werken  der  Italiener  und  Franzosen  messen; 
denn  sie  war  eigentlich  nicht  viel  mehr  als  eine  Anleitung  zum  Ver- 
binden und  Behandeln  der  Wunden  und  äusseren  Schäden. 

Nirgends  vermochte  sich  die  Chirurgie  während  des  Mittelalters 
zu  der  Höhe  zu  erheben,  welche  sie  im  Alterthum  erreicht  hatte. 
Allerdings  finden  sich  in  den  Schriften  einzelner  Wundärzte  Bemerkungen, 
welche  eine  richtige  Erkenntniss  der  Aufgaben  der  Chirurgie,  eine  vor- 
treffliche Beobachtungsgabe  und  eine  reiche  Erfahrung  bekunden;  aber 
der  Grundton  derselben  war  die  geistige  UnSelbstständigkeit,  die  das 
ganze  Zeitalter  beherrschte. 

Teod.  BorgtOGtNOni  empfahl  eine  möglichst  einfache  Behandlungs- 


1  V.  de  la  Fuente  a.  a.  0.  II,  p.  479. 

2  Chron.   mont.   seren.   ed.   Eckstein  im   Progr.   d.   Latein.   Hauptschule   zu 
Halle,  Halle  1844,  p.  53. 

3  Will,  op  Newburgh:  Hist.  rer.  Angl.  lib.  V,  c.  8  in  Rer.  brit.  med.  aevi 
Script,  T.  82,  Abth.  2,  p.  432  u.  ff.,  London  1885. 

15* 


228  Der  medioinisehe   Unterricht  im  Mittelalter. 


weise  und  wies  auf  die  Heilung  per  primam  hin.1  Unter  den  Blut- 
stillungsmitteln wurde  von  Lanfranchi  u.  A.  auch  die  Unterbindung- 
erwähnt.  Derselbe  suchte  ferner  die  Diagnostik  der  Schädel-Frakturen 
zu  fördern  und  beschränkte  die  Trepanation  auf  diejenigen  Fälle,  in 
denen  das  Gehirn  durch  eingedrungene  Knochen-Fragmente  in  Mitleiden- 
schaft gezogen  war.2  Guy  von  Chauliac  schrieb,  dass  der  Verletzte, 
wenn  man  einen  Metallstab,  den  er  zwischen  den  Zähnen  hält,  berührt, 
einen  Schmerz  an  der  Stelle  des  Schädels,  wo  der  Bruch  ist,  empfindet. 
Er  stellte  ebenfalls  die  Indicationen  zur  Trepanation  fest  und  schilderte 
die  Ausführung  derselben.3 

Der  Amputation  ging  er  aus  dem  Wege;  trat  Brand  in  einer  Ex- 
tremität auf,  so  wartete  er,  bis  sich  derselbe  in  dem  zunächst  gelegenen 
Gelenk  abgrenzte  und  sich  das  Glied  von  selbst  ablöste. 4  Bei  der  Be- 
handlung der  Fraktur  des  Oberschenkels  wendete  er  die  dauernde  Ex- 
tension des  Gliedes  an,  die  er  durch  ein  Gewicht,  welches  an  einer 
über  Rollen  laufenden  Schnur  zog,  herbeizuführen  suchte.5  Die  Binden, 
die  zum  Verband  gebrochener  Extremitäten  gebraucht  wurden,  bestrich 
man  vorher  mit  Eiweiss,  welches  nach  der  Gerinnung  eine  gewisse  Un- 
beweglichkeit  des  Gliedes  bewirkte.6 

Man  kannte  die  Schlundsonde  und  benutzte  sie  zur  künstlichen 
Ernährung. 7 

Fisteln  wurden  durch  die  Enzianwurzel  erweitert  oder  mit  dem 
Messer  in  offene  Wunden  umgewandelt.8  In  der  Operation  der  Mast- 
darmfisteln genoss  John  Aedeen  einen  grossen  Ruf.9  Die  Hernien 
wurden  durch  andauernde  Rückenlage  oder  durch  Bruchbänder  be- 
handelt.10 Eine  wesentliche  Förderung  erfuhr  die  Herniologie  durch 
Guy  v.  Chauliac,  welcher  verschiedene  Formen  der  Hernien  nach 
ihren  Bruchpforten  unterschied  und  die  Varicocele,  Hydrocele  und 
Sarcocele  überhaupt  davon  absonderte.11    Die  Radikalheilung  suchte  man 


1  Chirurg.  II,  c.  27.  2  Lanfranchi:  Chir.  parva,  c.  7. 

3  Guy  v.  Chauliac:  Ars  chirurg.  tr.  III,  doctr.  2,  cap.  1,  Venet.  1546. 

4  Guy  v.  Chauliac  a.  a.  0.  tr.  VI,  d.  1,  c.  8. 

5  Guy  v.  Chauliac  a.  a.  0.  tr.  V,  d.  1,  c.  7  (ad  pedem  ligo  pondus  plumbo 
transeundo  chordam  super  parvam  polegeam;  itaque  tenebit  tibiam  in  sua 
longitudine).  6  Guy  v.  Chauliac  a.  a.  0.  tr.  V,  d.  1,  c.  1. 

7  M.  C.  Broekx:  La  Chirurgie  de  M.  J.  Yperman  in  den  Annal.  de  Tacad. 
d'archeol.  de  Belgique,  Anvers  1863,  p.  128—326. 

8  Guy  v.  Chauliac  a.  a.  0.  tract.  IV,  d.  1,  c.  5. 

9  A.  Gore  im  Dublin  Journal  of  medical  science  1883,  p.  269  u.  ff. 

10  Broekx:  Yperman  a.  a.  0.  p.  178. 

11  Guy  v.  Chauliac  a.  a.  0.  tr.  VI,  d.  2,  c.  6.  7.  —  E.  Albert:  Die  Hernio- 
logie d.  Alten,  S.  161   u.  ff. 


Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe.  229 


durch  Ätzungen  der  Bruchpforte  nach  Keposition  der  vorgefalleneu 
Eingeweide  zu  erzielen.  Zu  der  Entfernung  des  Hodens,  welche  bei 
Scrotal-Hernien  angewendet  wurde,  entschlossen  sich  nur  die  herum- 
ziehenden Empiriker. 

Auch  der  Steinschnitt,  welcher  nach  der  Methode  des  Celsus  aus- 
geführt wurde,  lag  in  den  Händen  von  Specialisten  dieser  Art.  Bei 
Strikturen  der  Harnröhre  wurden  Bougies  aus  Wachs,  Zinn  oder  Silber 
gebraucht.  Bei  Erkrankungen  der  Bl-ase  und  beim  Tripper  verordnete 
John  Aedeen  Einspritzungen. 

Einzelne  Beschreibungen  von  Geschwüren  und  brandigen  Zer- 
störungen an  den  Geschlechtstheilen  beziehen  sich  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit auf  venerische  Affectionen.  Auf  die  ältere  Geschichte  der 
Syphilis,  von  der  man  lange  Zeit  irrthümlicher  Weise  annahm,  dass 
sie  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  überhaupt  erst  entstanden  sei,  wirft 
die  Erzählung,  dass  Ypeeman  mit  einer  Quecksilber-Salbe  viele  „Aus- 
sätzige" geheilt  habe,  ein  klärendes  Licht.1  Übrigens  wurde  dieses 
Mittel  damals  häufig  bei  Geschwüren  und  Hautleiden  gebraucht,2 
Guy  v.  Chauliac  gab  den  Rath,  hartnäckige  Geschwüre  durch  Auf- 
legen einer  Bleiplatte,  welche  mit  Quecksilbersalbe  bestrichen  war,  zu 
behandeln.  Beim  Carcinom  empfahl  er  das  Glüheisen  und  den  subli- 
mirten  Arsenik.3 

Eine  bedeutende  Bereicherung  erhielt  die  Chirurgie  durch  das 
Wiederaufleben  der  plastischen  Operationen,  welche,  wie  erwähnt,  schon 
im  Alterthum  bekannt  waren.  In  Norcia  und  Preci  in  Calabrien  be- 
schäftigten sich  die  Mitglieder  mehrerer  Familien  seit  jeher  mit  der 
Ausführung  einzelner  chirurgischer  Operationen,  z.  B.  der  Bruchoperation, 
dem  Steinschnitt,  der  Staaroperation  u.  a.  m.  Hier  tauchte  auch  die 
erste  Kenntniss  der  Rhinoplastik  auf.  Der  Wundarzt  Beanca,  welcher 
im  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  zu  Catania  in  Sicilien  die  Praxis  aus- 
übte, erregte  durch  die  Kunst,  fehlende  Nasen  und  Lippen  durch 
Herüberziehen  benachbarter  Theile  der  Gesichtshaut  zu  ersetzen,  be- 
rechtigtes Aufsehen.4  Auch  sein  Sohn  Antonio  besass  darin  eine 
grosse  Geschicklichkeit;  doch  wurde  später  statt  der  Haut  des  Gesichts 
eine  geeignete  Stelle  der  Haut  des  Oberarms  zum  Ersatz  des  Substanz- 
verlustes verwendet.      Dieses    Operationsverfahren   wurde   allmälig   bei 


1  Broekx:  Yperman  a.  a.  0.  p.  145. 

2  Annalen  von  Waverley  bei  Alf.  Corradi:  Nuovi  documenti  per  la  storia 
delle  malattie  veneree  in  Ann.  univ.  di  med.  Milano  1884,  vol.  269,  p.  289. 

s  Guy  v.  Chauliac  a.  a.  0.  tr.  IV,  doetr.  2,  c.  6. 

4  Barth.  Factus:  De  viris  illustr.  Florent.  1745,  p.  38.  —  E.  Zeis:  Geschichte 
der  plast.  Chirurgie,  Leipzig  1863,  S.  188  u.  ff. 


230  Der  medioinische   Unterricht  im  Mittelalter. 


den  Chirurgen  bekannt  und  gelangte  sogar  nach  Deutschland,  wie  aus 
Pfolspeundt's  Buch  hervorgeht. 

Nicht  unerwähnt  darf  bleiben,  dass  man  bei  den  grossen  chirur- 
gischen Operationen  bereits  anästhesirende  Inhalationen  anwendete. 
Sie  wurden  zuerst  im  Antidotarium  des  Nicolaus  Praepositus  erwähnt; 
man  Hess  zu  diesem  Zweck  Lösungen  narkotischer  Substanzen,  z.  B.  von 
Opium,  Hyoscyamus  u.  a.,  von  einem  neuen  Schwamm  aufsaugen,  der 
hierauf  an  der  Sonne  getrocknet,  vor  dem  Gebrauch  in  heisses  Wasser 
gelegt  und  dann  dem  Kranken  an  die  Nase  gehalten  wurde,  damit  die 
aufsteigenden  Dünste  ihn  in  einen  Zustand  von  Betäubung  und  Schmerz- 
losigkeit  versetzen. l 

Die  Augenheilkunde  lag  grösstentheils  in  den  Händen  von  Em- 
pirikern, welche  mit  Salben  und  Medicamenten  die  Heilung  der  Krank- 
heiten des  Auges  versuchten.  Die  besten  Augenärzte  gab  es,  wie 
Al.  Benedetti  sagt,  im  Orient;2  von  dort  kamen  Einzelne,  wie 
Benvenutüs  Geapheus,  nach  Europa  und  erzielten  durch  ihre  Kunst 
grosse  Erfolge.  Die  Staaroperation  wurde,  wie  im  Alterthum,  durch 
Depression  der  erkrankten  Linse,  ausgeführt;  Guy  v.  Chauliac  schreibt, 
dass  man  sie,  um  ihr  Wiederaufsteigen  zu  verhüten,  so  lange  darnieder- 
halten soll,   bis  man  drei  Vaterunser  oder  ein  Miserere  gebetet  hat.3 

Noch  schlimmer  als  mit  der  Augenheilkunde,  stand  es  mit  der 
Geburtshilfe  im  Mittelalter.  Die  Ärzte,  welche  dem  geistlichen  Stande 
angehörten,  durften  sich  nicht  damit  befassen,  damit  sie  vor  einer  un- 
ziemlichen Vertraulichkeit  mit  Erauen  bewahrt  wurden,  und  die  übrigen 
Heilkünstler  thaten  es  auch  nicht.  Unwissenheit,  Bequemlichkeit  und 
andere  Ursachen  hielten  die  Ärzte  ab,  Geburtshilfe  zu  treiben.  Sie 
wurden  zu  Gebärenden  nur  gerufen,  wenn  es  sich  darum  handelte, 
abgestorbene  Früchte  aus  dem  Mutterleibe  zu  entfernen  oder  die  nach 
der  Geburt  zurückgebliebene  Nachgeburt  zu  lösen.  Auf  diese  beiden 
Aufgaben  beschränkte  sich  im  Allgemeinen  die  ärztliche  Thätigkeit  auf 
diesem  Gebiet.  Guy  v.  Chauliac  sagt  in  seinem  chirurgischen  Werk, 
dass  er  sich  dabei  nicht  lange  aufhalten  wolle,  weil  die  Geburtshilfe 
gewöhnlich  nur  von  Frauen  ausgeübt  werde. 

Allerdings  ist  in  dem  naturwissenschaftlichen  Werk  des  Thomas 
von  Cantimpee,  sowie  in  dem  Breviarium,  welches  vielleicht  mit  Un- 
recht dem  Aenald  von  Villanova  zugeschrieben  wird,  von  der  Wendung 


1  Guy  v.  Chauliac:    Chirurg.,  tr.  I,  doct.  1,  c.  8.  —  A.  Corradi:  Escursioni 
d'  im  medico  nel  Decamerone  in  Atti  dell'  istituto  Lombardo,  1878,  p.  127  u.  ff. 

2  A.  Hirsch:  Geschichte  der  Augenheilkunde  a.  a.  0.  S.  295. 

3  Guy  v.  Chauliac  a.  a.  0.  tr.  VI,  doctr.  2,  c.  2. 


Die   Chirurgie  und  Geburtshilfe.  231 

auf  den  Kopf  und  die  Füsse  die  Kede, 1  und  auch  Guy  spricht  von  der 
Umwandelung  der  anomalen  Kindeslage  in  eine  normale;  aber  es  lässt 
sich  nicht  entscheiden,  inwieweit  diese  Bemerkungen  nicht  blos  auf 
literarischen  Reminiscenzen,  sondern  auf  eigenen  Erfahrungen  beruhten. 

Der  Kaiserschnitt  wurde  ausgeführt,  wenn  die  Schwangere  vor  der 
Geburt  starb,  um  wenn  möglich  das  Leben  des  Kindes  zu  retten.  Auch 
an  Lebenden  wurde  die  Operation  in  einzelnen  Fällen  unternommen. 
Schon  der  wegen  seiner  ärztlichen  Geschicklichkeit  berühmte  Bischof 
Paulus  von  Meeida,  welcher  im  6.  Jahrhundert  lebte,  entfernte  bei 
einer  Extra-Uterin-Schwangerschaft  durch  einen  Einschnitt  in  den  Unter- 
leib ein  abgestorbenes  Kind.2  Im  J.  1350  wurde  an  einer  schwangeren 
Frau  zu  Medingen  in  Schwaben,  welche,  weil  sie  angeblich  drei  Hostien 
gestohlen  hatte,  um  sie  den  Juden  zu  verkaufen,  zum  Tode  verurtheilt 
worden  war,   der  Kaiserschnitt  vollzogen,  bevor  sie  verbrannt  wurde.3 

Die  Geburtshilfe  lag  hauptsächlich  den  Hebammen  ob,  welche  auch 
die  bei  der  Geburt  erforderlichen  manuellen  Eingriffe  unternahmen. 
Ihre  Ausbildung  geschah  wahrscheinlich  handwerksmässig.  Ihre  me- 
dicinischen  Kenntnisse  waren  sehr  verschieden  in  den  einzelnen  Ländern. 
In  Italien  und  Frankreich  erhoben  sich  Einzelne  derselben  zu  Ärztinnen, 
deren  Wissen  sich  über  die  gesammte  Heilkunde  erstreckte;  in  Deutsch- 
land waren  sie  selten  mehr  als  geübte  Wartefrauen,  welche  in  der 
Geburtshilfe  einige  Erfahrungen  gesammelt  hatten. 

Prüfungen  wurden  Anfangs  nicht  von  ihnen  verlangt.  Über  ihre 
Befähigung  urtheilte  die  öffentliche  Meinung,  welche  in  diesem  Falle 
durch  die  angesehensten  Frauen  des  Ortes  vertreten  wurde.  Dieselben 
führten  auch  eine  gewisse  Aufsicht  über  die  Hebammen.  Später  standen 
die  letzteren  unter  den  Stadtärzten,  welche  sie  über  ihre  Kenntnisse 
examinirten.  Um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  begannen  einzelne 
Städte  in  Deutschland,  Hebammen  anzustellen.  Ihre  Besoldung  war 
freilich  nicht  bedeutend;  so  erhielt  die  erste  Stadt -Hebamme  in 
Frankfurt  a.  M.  jährlich  vier  Gulden,  und  von  den  übrigen  jede  zwei 
Gulden.4 


1  Arnald  v.  Villanova:  Breviarium,  lib.  III,  c.  4. 

2  C.  F.  Heusinger  im  Janus  I,  764  u.  ff. 

3  G.  Lammert  :  Volksmedicin  u.  medicin.  Aberglaube  in  Bayern,  Würzburg 
1868,  S.  12. 

4  Kriegk  a.  a.  0.  I,  14. 


232  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter 


Der  ärztliche  Stand  und  die  medicinische  Literatur 

jener  Zeit. 

Ausser  den  Ärztea  für  innere  Krankheiten,  den  Chirurgen  und 
Augenärzten  gab  es  Zahnärzte  und  Specialisten  für  verschiedene  innere 
und  äussere  Leiden.^ 

Die  Barbierer  und  Bader  waren  ebenfalls  zu  gewissen  ärztlichen 
Verrichtungen  berechtigt.  Sie  unterschieden  sich  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten des  Mittelalters  von  einander  und  verschmolzen  erst  später 
zu  einer  Zunft.  Die  Bader  waren  damals  zahlreicher  als  heut,  weil 
die  Sitte  des  Badens  allgemeiner  verbreitet  war.  Jede  Stadt,  ja  sogar 
viele  Dörfer  hatten  öffentliche  Bäder.  Frankfurt  a.  M.  besass  im  J.  1387 
wenigstens  15 2  und  zählte  unter  seinen  Bürgern  29  Bader;  Mainz  hatte 
im  14.  Jahrhundert  4,  Würzburg  im  15.  Jahrhundert  8,  Ulm  11,  Nürn- 
berg 13,  Augsburg  17  und  Wien  29  öffentliche  Bäder.3 

Zu  diesem  zur  Heilkunst  durch  die  gesetzlichen  Verordnungen 
mehr  oder  weniger  legitimirten  Heilpersonal  traten  noch  andere  Kate- 
gorien, welche  das  Herkommen  als  Rechtstitel  für  diese  Beschäftigung 
betrachten  durften.  Hierher  gehörte  zunächst  der  Scharfrichter  und 
zwar  nicht  etwa  in  dem  Sinne,  dass  derselbe  durch  seine  Berufsthätig- 
keit  allen  Leiden  des  Menschen  in  summarischer  Weise  ein  Ende  macht, 
sondern  der  Henker  verrichtete  in  der  That  ärztliche  Dienste,  indem 
er  die  Wunden,  welche  die  Folter  geschlagen  hatte,  behandelte,  die 
ausgerenkten  Glieder  wieder  einrichtete  u.  a.  m. 

Die  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis  war  allerdings  in  den  meisten 
Ländern  nur  Denjenigen  gestattet,  welche  durch  erfolgreiche  Prüfungen 
ihre  Befähigung  dazu  nachgewiesen  hatten.  In  Paris  wurde  die  Kur- 
pfuscherei schon  i.  J.  1220  verboten.  Übertretungen  dieses  Gesetzes 
wurden  streng  bestraft,  wie  die  Akten  eines  darauf  bezüglichen  Pro- 
zesses v.  J.  1311  beweisen.4  Es  kam  sogar  zur  Excommunication. 
Auch  in  Wien  wurden  Leute  dieser  Art  vom  Empfang  der  Sakramente 
ausgeschlossen.5    Gleichwohl  fehlte  es  nicht  an  Kurpfuschern  beiderlei 


1  Chiapelli  a.  a.  0.  p.  7  u.  ff.  —  S.  de  Renzi:  Storia  docum.  della  scuola 
med.  di  Salerno,  p.  559. 

2  Kriege  a.  a.  0.  II,  15  u.  ff. 

3  G.  Zappert:  Über  das  Badewesen  mittelalterlicher  und  späterer  Zeit  im 
Archiv  für  Kunde  österr.  Geschichtsquellen,  Wien  1858,  Bd.  21.  —  R.  Hoffmann: 
Die  Augsburger  Bäder  und  das  Handwerk  der  Bader  in  d.  Zeitschr.  d.  histor. 
Vereins  f.  Schwaben,  1886,  Jahrg.  12. 

4  Hazon  a.  a.  0.  5  Rosas  a.  a.  0.  I,  124  u.  ff. 


Der  ärztliche  Stand  und  die  medicinisclte  Literatur  jener  Zeit.        233 


Geschlechts.  Übrigens  kam  es  nicht  selten  vor,  dass  Empiriker,  welche 
keine  systematische  medicinische  Ausbildung  erhalten  hatten,  von  hohen 
Herren  und  Behörden  Zeugnisse  und  Diplome  empfingen,  wenn  sie 
Erfolge  in  der  Heilkunst  erzielten,  und  Mangel  an  Ärzten  herrschte. 

Über  die  Höhe  der  ärztlichen  Honorare  lässt  sich  ein  ungefähres 
Urtheil  fällen,  wenn  man  die  gesetzlichen  Taxen,  die  in  einzelnen 
Orten  bestanden,  in  Betracht  zieht.  Darnach  wurde  im  14.  und  15.  Jahr- 
hundert zu  Venedig  für  jede  ärztliche  Visite  bei  alltäglichen  Krank- 
heiten 10  Soldi  gezahlt;  in  Mailand  durfte  der  Arzt  für  jeden  Tag  der 
Behandlung  12 — 20  Soldi,  für  einen  Besuch  in  der  Nacht  einen  Du- 
katen, und  ausserhalb  der  Stadt  für  jeden  Tag  4 — 6  Lire  fordern.1 
John  Ardern  verlangte  für  die  Operation  der  Mastdarmfistel  ein  Ho- 
norar von  mindestens  100  Gold-Sols.  Keiche  und  vornehme  Patienten 
beschenkten  ihre  Ärzte  mit  grossen  Summen  und  Landgütern,  während 
die  Armen  ihre  Schuld  durch  ein  Paar  Hühner,  durch  Eier,  oder 
Früchte  abzutragen  suchten.2 

Auch  die  Besoldungen,  welche  die  Leibärzte  und  Stadtärzte  be- 
zogen, zeigen,  wie  hoch  die  ärztlichen  Dienste  damals  geschätzt  wurden. 
Die  Herzöge  von  Savoyen,  welche  bekanntlich  nicht  zu  den  reichen 
Fürsten  gehörten,  gaben  ihren  Leibärzten  einen  jährlichen  Gehalt  von 
40  bis  60  Gulden;  am  Hofe  zu  Neapel  erhielten  sie  dagegen  100  bis 
300  Dukaten.  In  Prag  wurde  den  königlichen  Leibärzten  der  Niess- 
brauch  mehrerer  Landgüter  eingeräumt. 

Das  Institut  der  Archiatri  populäres,  der  besoldeten  Stadtärzte,  wie 
es  im  Alterthum  bestand,  hat  sich  in  manchen  Städten  Italiens  wahr- 
scheinlich ohne  Unterbrechung  durch  das  ganze  Mittelalter  erhalten. 
Die  Ostgothen  und  Longobarden  übernahmen  es  von  den  Kömern  und 
überlieferten  es  vielleicht  unverändert  ihren  Nachfolgern  in  der  Herr- 
schaft Italiens. 

In  Born,  ebenso  wie  in  Dänemark  und  Schweden,  war  der  Name 
Archiater  als  Titel  für  einen  höheren  Medicinalbeamten  bis  in  die 
neueste  Zeit  üblich. 

Die  Stadtärzte  hatten  die  Pflicht,  die  städtischen  Beamten,  sowie 
die  Armen  der  Stadt  unentgeltlich  zu  behandeln,  den  ärztlichen  Dienst 
in  den  städtischen  Krankenhäusern  zu  versehen,  den  Gerichtsbehörden 
als  Sachverständige  zur  Seite  zu  stehen  und  in  Kriegszeiten  die  Bürger 
ins  Feld  zu  begleiten;  ferner  führten  sie  die  Aufsicht  über  die  Apo- 
theken und  öffentlichen  Häuser  und  leiteten  die  öffentliche  Gesundheits- 


1  Chiapelli  a.  a.  0.  p.  29. 

2  Chiapelli  a.  a.  0.  p.  28. 


234  Der  medicinisclie  Unterricht  im  Mittelalter. 


pflege.  Später  übernahmen  sie  an  manchen  Orten  auch  den  Unterricht 
des  niederen  Heilpersonals  und  examinirten  dasselbe. 

In  Venedig  gab  es  12  Ärzte  und  12  Chirurgen,  welche  von  der 
Stadt  angestellt  waren;  davon  empfingen  die  ersteren  Jahrgelder  von 
15  bis  zu  100  Dukaten,  die  letzteren  von  10  bis  130  Dukaten.  Selbst 
kleinere  Orte  widmeten  diesem  Zweck  in  ihrem  Ausgaben-Budget  eine 
bestimmte  Summe.  Treviso  zahlte  seinen  drei  Communalärzten  728  Lire 
jährlich,  Conegliano  den  Ärzten  350,  den  Chirurgen  250  Lire,  und 
Palermo  bewilligte  den  beiden  dortigen  Stadtärzten  50  Goldunzen 
jährlich. 1 

In  Deutschland  wurden  erst  im  14.  Jahrhundert  Communalärzte 
angestellt.  In  einer  Verordnung  des  Kaisers  Siegmund  v.  J.  1426 
heisst  es:  „Es  soll  in  jeder  Reichsstadt  ein  Meister- Arzt  sein;  der  soll 
haben  hundert  Gulden.  Die  mag  er  niessen  von  einer  Kirche.  Und 
soll  männiglich  arzneien  umsonst  und  soll  seine  Pfründt  verdienen 
ernstlich  und  getreulich."2  Frankfurt  a.  M.  hatte  1348  einen  Stadt- 
arzt, welcher  die  Kleidung  und  10  Malter  Korn  erhielt;3  später  gab 
es  deren  drei,  deren  Besoldungen  sich  zwischen  10  und  100  Gulden 
bewegten. 

Auch  für  das  Militär,  die  Hospitäler,  die  Klöster  und  für  einzelne 
Gefängnisse  wurden  Ärzte  gehalten,  welche  eine  bestimmte  Besoldung 
erhielten. 

Die  Ärzte,  wenigstens  die  Stadtärzte,  genossen  an  vielen  Orten 
Steuerfreiheit  und  andere  Vorrechte.  Einige  erhielten  von  den  Städten, 
in  denen  sie  sich  niedergelassen  hatten,  kostenfrei  das  Bürgerrecht.  In 
gesellschaftlicher  Beziehung  standen  sie  im  Range  der  Adeligen. 

Die  Mitglieder  des  ärztlichen  Standes  gehörten  grösstenteils  den 
wohlhabenden  Klassen  an;  man  findet  unter  ihnen  z.  B.  die  Namen 
der  vornehmsten  Familien  Italiens  vertreten.  Dagegen  gingen  die 
Chirurgen,  namentlich  in  Deutschland,  wohl  vorzugsweise  aus  den  ärmeren 
Ständen  hervor. 

Ungemein  zahlreich  waren  die  Juden  unter  den  Ärzten.  Als 
während  der  ersten  Jahrhunderte  des  Mittelalters  das  medicinische 
Studium  in  den  christlichen  Staaten  des  Abendlandes  darniederlag,  war 
es  ihnen  vergönnt,  durch  die  Berührung  mit  der  arabischen  Cultur 
und  aus  den  Forschungen  gelehrter  Rabbiner  Belehrung  zu  schöpfen. 
Es  war  daher  nicht  wunderbar,  dass  sie  ihre  christlichen  Zunftgenossen 

1  Chiapelli  a.  a.  O.  p.  22.  31. 

2  Moehsen:  Geschichte  der  Wissenschaften  in  Brandenburg,  Berlin  1783, 
S.  564.  —  P.  Frank:  System  der  medicin.  Polizei,  Wien  1817.  VI,  1,  S.  174. 

3  Krieok  a.  a.  0.  S.  8. 


Der  ärztliche  Stand  und  die  medicinische  Literatur  jener  Zeit.        235 


an  Wissen  und  Geschicklichkeit  übertrafen.  So  kam  es,  dass  sie,  be- 
sonders in  jenen  Ländern,  in  denen  wie  z.  B.  in  Deutschland,  die 
Heilkunst  am  meisten  vernachlässigt  wurde,  die  gesuchtesten  Ärzte 
wurden. 

Nicht  blos  Fürsten  und  regierende  Herren,  selbst  Bischöfe  und 
Päbste  hatten  jüdische  Leibärzte;  in  den  meisten  Klöstern  waren  Juden 
als  Ärzte  angestellt,  wie  Abnald  von  Villanova  schreibt.1  In  Prag 
war  im  12.  Jahrhundert  fast  die  ganze  ärztliche  Praxis  in  den  Händen 
jüdischer  Ärzte;  ähnlich  scheint  es  in  Avignon  gewesen  zu  sein.2  In 
Frankfurt  a.  M.  war  i.  J.  1574  Adam  Lonicerus  der  einzige  christ- 
liche Arzt;  seine  dortigen  Collegen  gehörten  sämmtlich  dem  israelitischen 
Glauben  an.3  Es  erklärt  sich  dies  zum  Theil  daraus,  dass  den  Juden 
die  meisten  übrigen  gelehrten  Carrieren  verschlossen  waren.  Allerdings 
wurde  auf  mehreren  Kirchen -Concilien  bestimmt,  dass  die  Christen 
keine  jüdischen  Ärzte  zu  Eath  ziehen  sollten;  aber  die  Geistlichen 
kehrten  sich  selbst  nicht  an  dieses  Verbot.  Auch  hatte  es  keine  Geltung, 
wenn  an  dem  Ort  gar  kein  oder  wenigstens  kein  tüchtiger  Arzt  des 
christlichen  Glaubens  vorhanden  war. 

Als  die  Wogen  der  religiösen  Leidenschaften  höher  gingen,  und 
die  Judenverfolgungen  begannen,  machten  sich  die  Folgen  auch  auf 
diesem  Gebiet  bemerkbar.  In  den  Statuten  der  medicinischen  Facultät 
zu  Ingolstadt  v.  J.  1472  wurde  den  christlichen  Ärzten  verboten,  mit 
ihren  jüdischen  Collegen  Consilien  abzuhalten,4  und  in  der  Hebammen- 
Ordnung,  welche  1451  zu  Begensburg  erlassen  wurde,  heisst  es,  dass 
dieselben  zu  jeder  ihrer  Hilfe  bedürftigen  Frau  gehen  sollen,  „nur  allein 
zu  einer  Jüdin  sollen  sie  nit  kommen".5 

Der  Klerus  wurde  von  der  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis  sowohl 
durch  die  Gesetze  der  Kirche  als  durch  die  zunehmende  ärztliche  Con- 
currenz,  welche  ihm  seit  der  Gründung  der  Universitäten  entgegentrat, 
mehr  und  mehr  zurückgeschreckt.  Auf  den  Concilien  zu  Rheims  (1131), 
im  Lateran  (1139),  zu  Montpellier  (1162),  Tours  (1163),  Paris  (1212), 
im  Lateran  (1215)  und  durch  die  Deere talen  der  Päbste  Alexander  III. 
(1180)  und  Honorius  III.  (1219)  wurde  den  Geistlichen  untersagt,  ärzt- 
liche Praxis,  besonders  Chirurgie,  zu  treiben. 

Dieses  Verbot  wurde  wahrscheinlich  nicht  befolgt,  weil  es  so  oft 

1  Güdemann:  Geschichte  des  Erziehungswesens  der  Juden,  Wien,  I,  S.  155. 

2  J.  v.  Hasner  in  der  Prager  Vierteljahrsschrift  1866,  Bd.  90.  —  G.  Bayle 
a.  a.  0.  p.  68. 

3  W.  Stricker:  Geschichte  der  Heilkunde  in  Frankfurt  a.  M.,  1847,  S.  68. 

4  Prantl  a.  a.  0.  II,  47. 

5  G.  Lammert:  Geschichte  des  bürgerlichen  Lebens,  Regensburg  1880,  S.  289. 


236  Der  medicinische   Unterricht  im  Mittelalter. 

wiederholt  werden  musste,  jedenfalls  aber  häufig  umgangen,  wozu 
Stipendien,  Dispensationen1  und  manche  andere  Einrichtungen  sogar 
direkt  aufforderten.  Immerhin  wurde  soviel  erreicht,  dass  sich  die 
Geistlichen  wenigstens  von  der  Ausführung  chirurgischer  Operationen 
und  der  Behandlung  der  Frauen  fernhielten.  Dagegen  blieb  das 
medicinische  Lehramt  an  manchen  Hochschulen  noch  lange  Zeit  in 
ihren  Händen.  Es  lag  dies  daran,  dass  mit  den  Lehrstellen  zuweilen 
Pfründen  verbunden  waren,  deren  Genuss  den  geistlichen  Charakter 
ihres  Inhabers  zur  Voraussetzung  hatte.  So  war  z.  B.  der  Professor 
der  Medicin  an  der  Wiener  Universität  H.  Luecz  zugleich  Pfarrer  von 
Hohlfeld  in  Bayern;  er  hielt  sich  dort  einen  Vikar,  während  er  selbst 
in  Wien  die  Lehrthätigkeit  ausübte.2 

In  Folge  dieser  Verhältnisse  wurde  auch  an  vielen  Universitäten 
das  Cölibat  von  den  Lehrern  der  Medicin  gefordert.  Als  i.  J.  1479  der 
Kurfürst  Philipp  einen  Laien  als  Professor  der  Heilkunde  in  Heidel- 
berg anstellen  wollte,  protestirte  die  Hochschule  dagegen,  weil  er  kein 
Kleriker  war.  Es  wurde  erst  durchgesetzt,  nachdem  der  Pabst  i.  J.  1482 
gestattet  hatte,  dass  auch  Laien,  sogar  verheirathete,  zu  Professoren  der 
Medicin  ernannt  wurden.3 

In  Paris,  wo  man  das  Cölibat  so  streng  beobachtet  hatte,  dass 
dem  Jean  de  Pois  i.  J.  1395,  weil  er  sich  verheirathet  hatte,  sogar 
die  Licenz  entzogen  wurde,  wurden  diese  Bestimmungen  durch  den 
Cardinal  d'Estouteville  1452  aufgehoben.  An  manchen  Orten  setzte 
man  sich  stillschweigend  darüber  hinweg  und  gewährte  in  solchen 
Fällen  auch  Pfründen  an  Bewerber,  welche  nicht  allen  Vorschriften  der 
kanonischen  Gesetze  zu  genügen  vermochten.4 

Der  Klerikalismus  machte  sein  Übergewicht  auf  allen  Gebieten 
des  öffentlichen  und  privaten  Lebens  geltend.  Er  blickte  aus  allen 
geistigen  Bestrebungen,  welche  die  Periode  der  Scholastik  erfüllten, 
siegesgewiss  hervor.  Auch  die  naturwissenschaftliche  und  medicinische 
Literatur  wurde  davon  beherrscht.  Sie  diente  ebenfalls  nur  dem  einen 
Zweck,  die  Wissenschaft  zur  Begründung  und  Stütze  des  theologischen 
Dogma  zu  machen. 

Die  naturwissenschaftlichen  Werke  des  13.  Jahrhunderts  trugen 
einen  encyklopädischen  Charakter.  Die  hervorragendsten  Autoren  waren 
der  Dominikanermönch  und  spätere  Bischof  von  Regensburg  Albertus 

1  A.  Corradi  in  Eend.  d.  R.  ist.  Lomb.  1873,  ser.  II,  v.  VI,  p.  863. 

2  Aschbach  a.  a.  0.  I,  S.  410. 

3  J.  F.  Hautz  a.  a.  0. 

4  Paulsen  in  Sybel's  histor.  Zeitschr.  Bd.  45,  S.  310.  434.  —  Hefele:  Con- 
ciliengeschichte  VII,  355. 


Der  ärztliche  Stand  und  die  medicinische  Literatur  jener  Zeit.        237 


Magnus,  der  Minorit  Bartholomäus  Anglicus,  die  Franzosen  Thomas 
von  Cantimpre  und  Vincenz  von  Beauvais,  die  Italiener  Brunetto 
Latini,  der  Lehrer  Dante's,  und  Ristorio  d'Arezzo  und  der  Deutsche 
Kunrat  von  Megenberg;  auch  die  von  Mönchen  des  Klosters  Mainau 
verfasste  Naturlehre  gehört  hierher. 

Die  eigentliche  ärztliche  Literatur  lieferte  hauptsächlich  Erklärungs- 
schriften zu  den  Werken  der  Alten  und  der  durch  lateinische  Über- 
setzungen bekannten  arabischen  Schriftsteller.  Dieser  Art  waren  die 
Arbeiten  von  Taddeo  Alderotti,  genannt  Florentinus,  Dino  und 
Tommaso  di  Garbo,  Bartolomeo  Varignana,  Torrigiano,  Giacomo 
della  torre,  glovanni  und  marsilio  di  s.  sofia,  glacomo  de  dondi, 
Francesco  di  Piedimonte  und  Jacques  Despars  aus  Tournay. 

Kurze  für  den  Unterricht  der  Studierenden  und  den  Gebrauch  der 
Ärzte  berechnete  Auszüge  der  umfangreichen  therapeutischen  Werke  der 
Araber  und  gedrängte  Zusammenstellungen  der  gebräuchlichsten  Heil- 
mittel entsprachen  den  Bedürfnissen  des  Tages.  Hierher  gehören  der 
Clavis  sanationis  des  Simon  von  Genua,  die  medicinischen  Pandekten 
des  Matthäus  Sylvaticus,  der  Aggregator  Brixianus  des  Guglielmo 
Corvi,  die  medicinischen  Compendien  des  Gilbertus  Anglicus  und 
des  Schotten  Gordon,  und  die  Schriften  des  Johann  von  Tornamira, 
des  Portugiesen  Valescus  von  Taranta,  des  Florentiners  Niccolo 
Falcucci,  des  Michele  Savonarola,  Antonio  Guaineri  u.  A. 

Einen  unabhängigeren  Standpunkt  nahm  der  durch  seine  natur- 
wissenschaftlichen Kenntnisse  hervorragende  Peter  von  Abano  ein, 
welcher  in  seinem  Conciliator  differentiarum  eine  strenge,  zuweilen  zer- 
setzende Kritik  der  damaligen  Theorien  der  Heilkunde  lieferte.  Um 
dieselbe  Zeit  traten  der  Engländer  Roger  Bacon  und  der  Catalonier 
Arnald  von  Villanova  für  die  Freiheit  der  Forschung  ein  und  er- 
klärten, dass  die  Naturwissenschaften  und  die  Medicin  nur  allein  durch 
die  Beobachtung  und  die  Erfahrung  eine  sichere  Grundlage  erhalten. 
Sie  bahnten  dadurch  eine  selbstständigere  Richtung  in  der  Heilkunde 
an,  welche  sich  in  den  Schriften  ihrer  Anhänger,  besonders  an  den 
Schulen  zu  Montpellier  und  Prag,  kund  gab  and  sich  auch  in  den 
zahlreichen  Sammlungen  von  Krankengeschichten  äusserte,  welche  im 
14.  und  15.  Jahrhundert  verfasst  wurden.  Bei  allem  Festhalten  an  den 
herrschenden  Lehren  brachten  sie  doch  manche  werthvolle  eigene  Be- 
obachtung, welche  eine  Bereicherung  der  medicinischen  Wissenschaft 
bildete. 

So  beschrieb  Hugo  Bencio  Fälle  von  periodischem  Wahnsinn, 
Spermatorrhoe  und  Syphilis.  Matteo  Ferrari  de  Gradibus  behandelte 
einen  Studenten,  der  am  Schreibkrampf  litt,  und  beobachtete  die  mit 


238  Der  medicinisehe   Unterricht  im  Mittelalter 


Verzerrung  des  Gesichts  verbundene  Lähmung  des  N.  Facialis,  Hallu- 
cinationen  des  Gesichts  und  hartnäckigen  Speichelfluss.  Baverius  be- 
richtete über  einen  Paralysis  der  oberen  Extremitäten  mit  Störung  der 
Sprache  und  Gedächtnissschwäche,  welche  angeblich  nach  einer  heftigen 
Halsentzündung  zurückgeblieben  war.1  Henri  de  Mondeville  und 
Guy  Von  Chauliac  sahen  Fälle  von  Verletzungen  des  Gehirns  mit 
Verlust  von  Substanz  desselben,  ohne  dass  dauernde  geistige  Störung 
eintrat. 2 

Gleichzeitig  mit  dem  Wiederbeginn  einer  selbstständigen  Kranken- 
beobachtung wurde  ein  regeres  Studium  der  Anatomie  und  ein  erfolg- 
reicher Aufschwung  der  Chirurgie  vorbereitet,  wie  ich  an  einer  früheren 
Stelle  auseinandergesetzt  habe.  Auch  andere  Zweige  der  Heilkunde 
wurden  gefördert;  es  entstand  eine  durch  den  Reichthum  ihrer  Erzeug- 
nisse bemerkenswerthe  balneologische  Literatur,  welche  die  meisten  der 
damals  bekannten  Bäder  in  Betracht  zog.  Auch  Deutschland  war 
darunter  vertreten;  der  Nürnberger  Barbier  und  Meistersänger  Hanns 
Folz  verfasste  i.  J.  1400  ein  „Büchlein  von  allen  Bädern,  die  von 
Natur  heiss  sind." 

Daneben  erschienen  besonders  in  Deutschland  auch  viele  populäre 
medicinische  Schriften;  es  waren  dies  für  den  häuslichen  Gebrauch 
bestimmte  Receptsammlungen  oder  diätetische  Verhaltungsmassregeln, 
die  nach  dem  Muster  des  Regimen  Salernitanum  bearbeitet  waren,  wie 
das  Arzneibuch  des  Ortolf  von  Bayerland,  der  Mainzer  Gesundheits- 
garten u.  a.  m. 

Das  Mittelalter  war  somit  in  geistiger  Beziehung  keineswegs  so 
öde  und  unfruchtbar,  als  es  von  manchen  Schriftstellern  dargestellt 
wird.  Es  herrschte  ein  reges  Leben  auf  allen  Gebieten  der  intellektuellen 
Thätigkeit.  Wenn  die  Ergebnisse  derselben  nicht  den  Mühen  und 
Arbeiten,  welche  aufgewendet  wurden,  entsprachen,  so  lag  dies  daran, 
dass  die  letzteren  eine  falsche  Richtung  verfolgten  oder  auf  ihrem  Wege 
Hemmnisse  fanden,  die  sie  nicht  überwinden  konnten.  Das  Joch  der 
Scholastik  lastete  auf  der  Wissenschaft,  und  die  Autorität  der  Kirche 
wies  ihr  Ziele  an,  welche  ihrem  Wesen  fern  lagen  und  unerreichbar 
waren. 


1  Ch.  Daremberg  a.  a.  O.  I,  p.  338  u.  ff. 

2  Guy  v.  Chauliac  a.  a.  0.  tract.  III,  doctr.  1,  c.  1. 


III.  Der  medicinische  Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Der  Charakter  des  16.  Jahrhunderts. 

Jemehr  das  Wissen  sich  vermehrte  und  verbreitete,  desto  mehr 
brach  sich  die  Überzeugung  Bahn,  dass  der  Gedanke  von  den  Fesseln, 
welche  ihn  darnieder  hielten,  erlöst  werden  müsse.  Was  im  13.  Jahr- 
hundert nur  von  wenigen  auserlesenen  Geistern  gefühlt  und  kühn  und 
unerschrocken  verkündet  worden  war,  erfüllte  am  Schluss  des  15.  Jahr- 
hunderts die  Herzen  aller  Gebildeten.  Der  Drang  nach  Freiheit  und 
Selbstständigkeit  machte  sich  auf  allen  Gebieten  des  geistigen  Lebens 
geltend  und  bildete  in  der  Kunst  wie  in  der  Wissenschaft,  in  der  Ke- 
ligion  wie  in  der  Politik  den  Grundton,  der  überall  hindurchklang. 

Mächtige  culturhistorische  Bewegungen,  wie  diejenigen  des  16.  Jahr- 
hunderts, entstehen  nicht  plötzlich,  sondern  sind  die  Frucht  einer  langen 
vorbereitenden  Thätigkeit.  Sie  bestehen  längst,  bevor  sie  in  die  Er- 
scheinung treten,  der  oberflächlichen  Betrachtung  entzogen  und  nur 
dem  kundigen  Auge  erkennbar.  Gleich  den  Keimen  der  Pflanzen, 
welche  den  Erdboden  erfüllen,  reifen  sie  in  der  Verborgenheit  und 
brechen  hervor,  wenn  ihre  Zeit  gekommen  ist. 

Die  Wurzeln  der  reformatorischen  Bestrebungen  des  16.  Jahr- 
hunderts reichen  weit  in  das  Mittelalter  zurück.  Ihre  Geschichte  erzählt 
von  vergeblichen  Versuchen,  fruchtlosen  Mühen,  zertretenen  Hoffnungen 
und  blutigen  Opfern.  Um  die  Freiheit  des  Gedankens  wurde  schon 
in  früheren  Jahrhunderten  mit  Begeisterung  und  Hingebung  gerungen; 
aber  die  Kämpfer  standen  vereinzelt  und  wurden  von  ihren  Gegnern 
überwältigt. 

Luther  und  Melanchthon  hatten  ihre  Vorläufer,  welche  für  ihre 
Überzeugung  in  den  Tod  gingen. 

Die  Unterdrückung  des  Raubritter wesens  und  die  Angriffe  gegen 
den  Feudalismus  wurden  durch  die  Entwickelung  eines  unabhängigen 
wohlhabenden  Bürgerthums  vorbereitet  und  begünstigt. 


240  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Kunst  und  Wissenschaft  wurden  durch  den  Humanismus,  welcher 
seit  Petrarca  in  Italien  gepflegt  wurde,  zum  Studium  der  Antike  und 
der  Beobachtung  der  Natur  zurückgeführt.  Die  Künstler  machten  sich 
von  den  mittelalterlichen  Traditionen  los  und  gaben  ihren  Gestalten 
einen  freieren  Ausdruck,  welcher  der  Natur  abgelauscht  und  darum 
wahr  war  und  die  Herzen  erwärmte. 

Was  für  die  Kunst  die  Früh-Renaissance,  das  war  für  die  Wissen- 
schaft das  Studium  der  römischen  und  griechischen  Originalwerke  und 
der  Beginn  einer  selbstständigen  Naturforschung.  In  den  Schulen  des 
Mittelalters  hatte  man  die  Schriften  der  römischen  Classiker  nur  selten 
und  diejenigen  der  griechischen  niemals  in  ihrem  ursprünglichen  Text 
kennen  gelernt.  Das  Latein,  welches  beim  Unterricht  und  im  täglichen 
Verkehr  zwischen  den  Lehrern  und  Schülern  gesprochen  wurde,  war 
sehr  verschieden  von  der  Sprache  eines  Cicero  oder  Quintilian.  Die 
griechische  Sprache  wurde  nirgends  in  den  Bereich  des  Unterrichts 
gezogen,  und  die  Kenntniss  derselben  war  so  selten,  dass  Petrarca 
i.  J.  1360  kaum  zehn  Gelehrte  in  Italien  zu  nennen  vermochte,  welche 
sie  verstanden.1 

In  den  übrigen  Ländern  stand  es  damit  jedenfalls  nicht  besser. 
Die  literarischen  Werke  des  Alterthums  wurden  dem  Mittelalter  haupt- 
sächlich durch  lateinische  Übersetzungen,  Bearbeitungen  und  Auszüge 
zugänglich  gemacht,  welche  häufig  nicht  nach  dem  Original,  sondern 
nach  arabischen  Übertragungen  angefertigt  wurden.  Auf  die  Form 
und  den  Ausdruck  der  Sprache  legte  man  dabei  wenig  Gewicht;  denn 
sie  wurde  nicht  als  Bildungsmittel  des  Geistes  betrachtet,  sondern  galt 
nur  als  die  werthlose  Schale  für  den  kostbaren  Inhalt,  den  man  suchte. 
Aber  auch  dieser  erhielt  sich  nicht  rein  und  unverfälscht;  denn  er 
erfuhr  diejenigen  Änderungen,  welche  man  im  Zeitalter  der  Scholastik 
für  die  Autorität  der  Kirche  und  das  Seelenheil  der  Gläubigen  für 
nothwendig  hielt. 

Als  man  erkannte,  dass  man  bei  diesem  Verfahren  nicht  in  den 
vollen  ungeschmälerten  Besitz  der  reichen  Schätze  des  Wissens  gelangte, 
welche  das  Alterthum  hinterlassen  hatte,  begann  man,  die  Schriften 
derselben  wieder  in  ihrer  ursprünglichen  Überlieferung  zu  studieren. 
Die  heidnischen  Classiker  erwachten  zu  ueuem  Leben  und  verkündeten 
mit  flammenden  Worten  die  Grösse  und  den  Ruhm  der  Vergangenheit. 

Am  frühesten  geschah  dies  in  Italien,  wo  zahlreiche  Überreste  von 
Bauwerken,  Statuen  und  Inschriften  an  die  Cultur  der  Römer  erinnerten. 


1  G.  Voigt:  Die,  Wiederbelebung  des  classisehen  Alterthums,  Berlin  1881, 
II,  107. 


Der    Charakter  des  16.  Jahrhunderts.  241 


Auf  diesem  Boden  lernte  man  zuerst  wieder  die  echte  Latinität  kennen, 
und  von  dort  gelangte  diese  Wissenschaft  im  15.  Jahrhundert  auch  in 
andere  Länder.  An  den  deutschen  Hochschulen  wurden  Lehrkanzeln 
für  lateinische  Eloquenz  und  Rhetorik  errichtet,  deren  Inhaber  durch 
ihre  Reden  und  Dichtungen  die  Bewunderung  und  den  Neid  ihrer  Zeit- 
genossen erregten.  Gleichzeitig  erlangte  die  Kenntniss  der  griechischen 
Sprache  eine  allgemeine  Verbreitung  in  den  Kreisen  der  Gelehrten. 
Es  war  dies  zum  grossen  Theile  das  Verdienst  der  griechischen  Flücht- 
linge, welche  nach  der  Unterwerfung  ihres  Vaterlandes  durch  die  Türken 
nach  Italien  kamen  und  dort  eine  neue  Heimath  fanden.  Chetsolaeas, 
Geoegios  von  Teapezunt,  Theodoeos  Gaza,  Bessaeion,  Konstantin 
Laskaeis  u.  A.  brachten  viele  werthvolle  griechische  Handschriften  mit 
und  sammelten  einen  Kreis  von  auserwählten  Schülern  um  sich. 

An  den  Höfen  der  für  Kunst  und  Wissenschaft  empfänglichen 
Fürsten  Italiens,  namentlich  unter  den  Mediceern,  entwickelte  sich  ein 
Cultus  des  Hellenenthums,  welcher  die  hervorragendsten  Männer  des 
Staates  vereinigte.  Gelehrte  Gesellschaften,  welche  sich  Platonische 
Akademien  nannten,1  machten  die  Pflege  der  griechischen  Literatur  zu 
ihrer  Lebensaufgabe.  Die  heiteren  Formen  des  griechischen  Lebens 
zauberten  ihnen  Bilder  lachenden  Menschenglücks  vor  die  Seele,  die 
sie  dem  traurigen  Ernst  der  christlichen  Entsagung  entrückten,  welcher 
die  Freude  hasste  und  verdammte.  An  den  Idealen  der  Freiheit  und 
antiken  Heldengrösse  richteten  sie  sich  auf,  wenn  sie  die  Betrachtung 
der  trostlosen  politischen  Zustände  der  Gegenwart  darnieder  drückte. 
Die  Schriften  der  Weisen  des  Alterthums  boten  ihnen  reiche  Anregung 
und  Belehrung  auf  allen  Gebieten  der  wissenschaftlichen  Thätigkeit; 
hier  fanden  sie  die  Grundlagen  der  Philosophie,  Rechtswissenschaft, 
Mathematik,  Astronomie,  Geographie  und  Physik,  der  Naturwissenschaften 
und  der  Heilkunde. 

Mit  der  Wiederbelebung  der  griechischen  und  römischen  Literatur 
erschloss  sich  eine  Welt  von  Ideen  und  Bestrebungen,  welche  geeignet 
erschienen,  an  die  Stelle  der  abgestorbenen  Lebensformen  des  Mittel- 
alters zu  treten.  Der  nach  einer  modernen  Entwicklung  der  Cultur 
ringende  Geist  des  Zeitalters  glaubte  darin  eine  wirksame  Waffe  fin- 
den grossen  Kampf  gegen  die  Kirche  und  die  Scholastik  zu  finden 
und  täuschte  sich  nicht.  Allerdings  blieb  der  Humanismus  auf  einen 
kleinen  Kreis  beschränkt;  aber  derselbe  bestand  aus  der  geistigen  Elite 
der  Völker. 


1  P.  Villari:  Nicolo  Macchiavelli  und  seine  Zeit,  Deutsche  Übers.,  Rudol- 
stadt  1882,  I,  147  u.  ff. 

Puschmann,  Unterricht.  \Q 


242  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Die  Ideen  des  Humanismus  ergriffen  die  Gemüther  mit  solcher 
Macht ,  dass  sich  ihnen  Niemand  entziehen  konnte ,  nicht  einmal  Die- 
jenigen, welche  darin  ihre  natürlichen  Feinde  sehen  mussten,  die  Ver- 
treter der  Kirche  und  des  Klerikalismus.  Selbst  am  päbstlichen  Hofe 
fanden  sie  gastliche  Aufnahme.  Nicolaus  V.  war  ihr  wohlwollender 
Freund  und  Gönner,  wenn  auch  vielleicht  mehr  aus  persönlicher  Eitel- 
keit, als  aus  innerer  Überzeugung.  Pius  IL  hatte  vor  seiner  Thron- 
besteigung, als  er  noch  den  Namen  Aeneas  Sylvius  führte,  mit  grossem 
Eifer  für  ihre  Verbreitung  in  Deutschland  gewirkt  und  blieb  allezeit 
ihr  treuer  Anhänger  und  Vertheidiger  in  Wort  und  Schrift. 

Ihre  Wirkungen  äusserten  sich  übrigens  weniger  in  der  Religion 
als  in  der  Kunst  und  Wissenschaft.  Die  Humanisten  vermieden  im 
Allgemeinen  direkte  Angriffe  gegen  die  Dogmen  der  Kirche.  Auch  war 
nicht  zu  befürchten,  dass  die  lustigen,  bisweilen  sogar  etwas  frivolen 
Götter  Griechenlands  den  christlichen  Cultus  verdrängen  würden,  wenn 
dies  auch  manchen  Vertretern  des  Humanismus  nach  der  Art  eines 
Peter  Luder,  Buschiüs  oder  Ulrich  von  Hütten  vielleicht  erwünscht 
gewesen  wäre.  Der  Einfluss,  welchen  die  humanistischen  Studien  auf 
die  christliche  Religion  ausübten,  lag  hauptsächlich  darin,  dass  sie  zu 
einer  Vergleichung  mit  den  supranaturalistischen  und  ethischen  An- 
schauungen des  Alterthums  herausforderten  und  dadurch  eine  freiere 
Beurtheilung  der  christlichen  Lehren  ermöglichten. 

Reiche  Anregung  verdankte  die  Kunst  der  Antike.  Der  eng- 
begrenzte Ideenkreis  der  jüdisch-christlichen  Legende,  welcher  bis  dahin 
den  Künstlern  nahezu  ausschliesslich  die  Stoffe  geliefert  hatte,  die  durch 
die  beständige  Wiederholung  allmälig  monoton  wurden,  erhielt  eine 
angenehme  Bereicherung  durch  die  Mythologie  der  Griechen  und  die 
Heldengeschichte  Roms.  Dabei  zeigte  die  Behandlung  der  Form  einen 
ungezwungenen  kühnen  Charakter,  welcher  einen  wohlthuenden  Gegen- 
satz zu  der  Steifheit  und  Unbeholfenheit  früherer  Zeiten  bildete. 

Dadurch  traten  die  Gestalten,  selbst  diejenigen,  welche  der  trans- 
cendenten  Welt  der  religiösen  Mystik  entnommen  wurden,  dem  Fühlen 
des  Menschen  näher.  Verklärt  von  den  Idealen  des  Guten,  Schönen 
und  Wahren  erschienen  sie  dem  Auge  nicht  mehr  finster-drohend,  über- 
irdisch-gewaltig, sondern  als  Frohsinn  verkündende,  Segen  spendende 
Mächte. 

Wer  kennt  nicht  das  glänzende  Dreigestirn  in  Florenz:  Lionardo 
da  Vinci,  Raeael  Sanzio  und  Michelangelo  Buonarotti?  Ein 
Jahrhundert,  welches  drei  solche  Künstler  neben  einander  sah,  durfte 
sich  wohl  dem  vielgepriesenen  Zeitalter  des  Perikles  vergleichen.  Alle 
Drei  umfassten  die  Kunst  als  Ganzes;  alle  Drei  waren  Maler,  Bildhauer 


Der-  Charakter  des  16.  Jahrhunderts.  243 


und  Architekten  zugleich  und  schufen  in  jeder  dieser  Künste  Grosses, 
der  Unsterblichkeit  Werthes.  Lionaedo  war  aber  nicht  blos  Künstler, 
sondern  auch  Mathematiker,  Ingenieur,  Physiker  und  Physiologe  und 
hat  sich  in  der  Geschichte  der  Wissenschaft  ebenfalls  einen  ehrenvollen 
Platz  erworben. 

Die  Blüthe  der  italienischen  Kunst  wirkte  anregend  auch  auf  die 
übrigen  Länder,  namentlich  auf  Deutschland  und  die  Niederlande.  Die 
Namen  Albrecht  Dürer,  Hans  Holbein  und  Lucas  Cranach  geben 
Zeugniss  davon. 

In  Nürnberg  gediehen  die  Holzschneidekunst  und  die  Goldschmiede- 
kunst zu  hoher  Vollendung.  Deutschlands  freie  Städte  erzeugten  ein 
Bürgerthum,  welches  kunstsinnig  und  kunstverständig  war  und  heitere 
Lebenslust  mit  sittlichem  Ernst  verband.  In  ihm  fanden  die  künst- 
lerischen und  wissenschaftlichen  Bestrebungen  eifrige  Anhänger  und 
Vertreter. 

Auf  dem  Felde  der  Wissenschaft  wurde  der  Humanismus  vorzugs- 
weise von  den  gelehrten  Vereinigungen  gepflegt,  welche  allenthalben 
nach  dem  Muster  der  sogenannten  Platonischen  Akademien  entstanden. 
Am  bekanntesten  unter  ihnen  wurde  die  Rheinische  Gesellschaft,  zu 
deren  Mitgliedern  Männer  wie  der  gelehrte  Abt  Trithemius,  der  Nürn- 
berger Patricier  Willibald  Pirkheimer,  ferner  Rudolf  Agricola, 
der  Dichter  Conrad  Celtes,  Joh.  Reuchlin,  Erasmus  von  Rotterdam 
u.  A.  gehörten. 

Das  wachsende  Interesse  für  die  Literatur  der  Griechen  und  Römer 
hatte  zunächst  die  Folge,  dass  die  überlieferten  Texte  mit  einander  ver- 
glichen und  auf  Grund  linguistischer  und  sachlicher  Erwägungen  ein 
Wortlaut  festgestellt  wurde,  welcher  allen  Anforderungen  zu  entsprechen 
schien.  Damit  begann  die  wissenschaftliche  Behandlung  der  Philologie, 
welche  auf  die  Culturentwickelung  der  folgenden  Zeiten  den  weittragend- 
sten Einfluss  ausübte.  Die  Philologie  übernahm  die  Rolle  des  Zauberers, 
der  das  in  tausendjährigem  Schlafe  befangene  Dornröschen  der  Wissen- 
schaft erlöste,  und  blieb  ihr  auch  später  ein  väterlicher  Freund,  welcher 
ihre  ersten  Schritte  mit  ängstlicher  Sorgfalt  überwachte.  Der  Philologie 
verdanken  es  die  Wissenschaften  und  nicht  am  wenigsten  die  Natur- 
wissenschaften, dass  sie  die  richtige  Methode  der  Forschung  einschlugen; 
denn  von  ihr  lernten  sie  die  peinliche  Genauigkeit  in  der  Sichtung  des 
wissenschaftlichen  Materials  und  die  strenge  Kritik  der  gewonnenen 
Ergebnisse. 

Auch  bei  der  Neugestaltung  der  Medicin  leistete  die  Philologie 
wesentliche  Dienste.  Es  wurden  Ausgaben  der  meisten  medicinischen 
Autoren  des  Alterthums  veranstaltet.    Die  Ärzte,  welche  sich  an  dieser 

16* 


244  Der  medicinische   Unterricht  in  der  'Neuzeit. 


literarischen  Thätigkeit  betheiligten ,  bereiteten  sich  dazu  durch  eine 
tüchtige  philologische  Bildung  vor;  nicht  wenige  von  ihnen  wirkten  als 
Lehrer  der  alten  Sprachen,  bevor  sie  sich  der  Heilkunde  zuwandten. 
Die  Kenntniss  des  Griechischen  galt  in  jener  Zeit  als  notwendiges 
wissenschaftliches  Hilfsmittel  für  Jeden,  der  auf  den  Namen  eines  ge- 
bildeten Arztes  Anspruch  erhob,  ähnlich  wie  man  heut  von  ihm  verlangt, 
dass  er  mit  dem  Mikroskop  umzugehen  versteht. 

Wenn  die  durch  den  Humanismus  angefachte  literarische  Wirk- 
samkeit der  Ärzte  in  ungeahnter  Weise  sich  entfaltete  und  zur  Ver- 
breitung der  medicinischen  Wissenschaft  beitrug,  so  war  dies  allerdings 
zum  grössten  Theile  das  Verdienst  der  Buchdruckerkunst,  welche  im 
15.  Jahrhundert  erfunden  wurde.  Sie  trat  nicht  unvermittelt  ins  Leben; 
denn  sie  war  vorbereitet  durch  die  Holzschneidekunst,  durch  die  Kupfer- 
stecherei,  durch  die  vielleicht  aus  China  nach  Europa  gebrachte,  ziem- 
lich unvollkommene  Methode  des  Druckes  mit  feststehenden  Lettern 
und  durch  andere  Umstände.  Gleichwohl  war  es  ein  ausserordentlicher 
Fortschritt,  als  man  um  das  Jahr  1440  begann,  beim  Druck  beweg- 
liche Typen  zu  gebrauchen. 

Erst  dadurch  wurde  der  Druck  umfangreicher  Werke,  der  Betrieb 
im  Grossen,  ermöglicht.  Freilich  litt  die  Buchdruckerkunst  im  Anfang 
an  vielen  Mängeln;  sie  war  sehr  mühsam  und  in  Folge  dessen  auch 
sehr  kostspielig.  So  dauerte  z.  B.  der  Druck  der  Bibel,  des  ersten 
grossen  Werkes,  das  aus  der  von  Guttenbekg  gegründeten,  später 
FusT-ScHöFFER'schen  Buchdruckerei  in  Mainz  hervorging,  11  Jahre 
und  erforderte  4000  Gulden,  bevor  noch  der  12.  Bogen  vollendet  war. 
Mit  den  Verbesserungen,  welche  die  Buchdruckerkunst  erfuhr,  nahm 
sie  allmälig  einen  grösseren  Aufschwung.  Dabembekg  schätzt  die  Zahl 
der  medicinischen  Schriften,  welche  bis  zum  J.  1500  gedruckt  wurden, 
auf  ungefähr  800. x 


i& 


Die  neue  Erfindung  übte  auf  die  geistigen  Bewegungen  des 
16.  Jahrhunderts  eine  mächtige  Wirkung  aus.  Die  Kanzel,  welche  bis 
dahin  der  einzige  Ort  gewesen  war,  von  dem  aus  zum  Volke  gesprochen 
wurde,  erhielt  einen  Nebenbuhler,  welcher  ihr  gelegentlich  feindlich 
entgegen  trat.  Die  freiheitlichen  Ideen  fanden  hier  einen  Bundesge- 
nossen, und  der  Kampf  gegen  die  bisherigen  Autoritäten  wurde  mit 
wirksamen  Waffen  geführt.  ,  Aber  die  grösste  Bedeutung  erlangte  die 
Buchdruckerkunst  für  die  Entwickelung  der  Wissenschaft;  denn  die 
geistigen  Errungenschaften  konnten  jetzt  zum  Gemeingut  Aller  und 
Jedem  leicht  zugänglich  gemacht  werden. 


1  Ch.  Daremberg:  Histoire  des  sciences  medicales,  T.  I,  313. 


Der   Charakter  des  16.  Jahrhunderts.  245 


Das  Studium  der  aus  dem  Alterthum  übernommenen  Überlieferungen 
regte  zur  kritischen  Prüfung  ihrer  realen  Begründung  an,  und  die  da- 
durch hervorgerufenen  eigenen  Beobachtungen  führten  zur  Berichtigung 
alter  Irrthümer  und  zur  Entdeckung  neuer  Thatsachen. 

Die  Reformation  der  Wissenschaft  welche  sich  auf  diese  Weise 
vollzog,  bildet  neben  derjenigen  des  religiösen  und  politischen  Lebens  die 
markanteste  Erscheinung  der  durch  die  Emancipation  des  individuellen 
Urtheils  charakterisirten  Strömung  der  Zeit. 

Diese  Richtung  erhielt  eine  unerwartete  Förderung  durch  die  Ent- 
deckung Amerikas,  welche  am  Schluss  des  15.  Jahrhunderts  die  Ver- 
wunderung und  das  Staunen  der  Menschen  erregte.  Man  fand  dort 
eine  Bevölkerung,  die  körperlich  ebenso  gebildet,  geistig  ebenso  geartet 
war,  wie  diejenige  Europas,  und  eine  Cultur,  welche  viele  Ähnlichkeiten 
zeigte  mit  manchen  Einrichtungen  der  alten  Welt.  Von  diesen  Dingen, 
sowie  von  der  Thierwelt  und  dem  Pflanzen-Reichthum  des  neuen  Welt- 
theils  hatte  weder  die  Kirche  noch  das  Alterthum  etwas  gewusst.  Von 
den  beiden  höchsten  Autoritäten,  welche  man  damals  kannte,  verlassen 
wurden  die  Denker  und  Forscher  plötzlich  selbstständig  und'  genöthigt, 
auf  ihre  eigenen  Beobachtungen  zu  vertrauen. 

Wenige  Decennien  nach  der  Entdeckung  Amerikas  erfolgte  die 
erste  Umschiffung  der  Erde,  und  damit  wurde  der  unwiderlegbare 
Beweis  geliefert,  dass  die  Erde  rund  ist.  Schon  die  griechischen  Natur- 
philosophen ahnten  die  Kugelgestalt  derselben,  und  Aristoteles  nahm 
sie  als  sicher  an;  aber  Lactantius  und  andere  Kirchenväter1  hatten 
diese  Ansicht  verworfen  und  für  absurd  erklärt.  Ihre  Autorität  erlitt 
somit  eine  bemerkenswerthe  Niederlage.  Noch  mehr  wurde  die  Autorität 
der  Kirche  erschüttert,  als  die  angeblich  schon  von  Pythagoeas  auf- 
gestellte heliocentrische  Theorie  durch  Kopeenikus  und  Kepler  be- 
gründet wurde.2  Die  Theologen  bekämpften  dieselbe,  weil  sie  sehr 
richtig  erkannten,  dass  mit  ihrer  Annahme  die  Erde  nur  als  einer  der 
unzählbaren  Sterne,  welche  das  Firmament  beleben,  erscheinen  und  der 
Mensch  als  ihr  Bewohner  die  ihm  von  der  christlichen  Weltanschauung 
vindicirte  herrschende  Stellung  verlieren  werde.  Auch  der  Streit  zwischen 
der  heliocentrischen  und  der  geocentrischen  Lehre  wurde  gegen  die 
Kirche  entschieden. 

Es  ist  begreiflich,  dass  durch  diese  Ereignisse  der  Glaube  an  die 
Unzulänglichkeit  des  menschlichen  Erkenntniss-Apparats,    welchen  die 


1  0.  Peschel  a.  a.  0.  S.  96  u.  ff.  —  W.  Whewell  a.  a.  O.  I,  226  u.  ff. 

2  Whewell  a.  a.  0.  I,  381  u.  ff.  —  J.  W.  Draper:  Geschichte  der  geistigen 
Entwicklung  Europas,  Leipzig  1871,  S.  521  u.  ff. 


246  Der  medioinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

von  der  kirchlichen  Autorität  gestützte  Scholastik  gepredigt  hatte,  unter- 
graben wurde.  Am  weitesten  ging  der  Protestantismus,  indem  er  die 
Berechtigung  des  menschlichen  Urtheils  sogar  auf  das  theologische 
Dogma  ausdehnte. 

Auf  keinem  Gebiet  des  geistigen  Schaffens  wirkte  die  errungene 
geistige  Selbstständigkeit  tiefer  und  nachhaltiger  als  auf  demjenigen  der 
Naturwissenschaften  und  der  Medicin. 

Die  Mineralogie  erfuhr  zum  ersten  Male  eine  wissenschaftliche  Be- 
trachtung; der  Arzt  Georg  Agricola  machte  den  Versuch,  die  Mine- 
ralien auf  Grund  ihrer  äusseren  Merkmale  in  verschiedene  Gruppen 
einzutheilen.  Die  Botanik  begann  aus  dem  Abhängigkeits-Verhältniss. 
in  welches  sie  zur  Arzneimittel-  und  Nahrungsmittellehre  gerathen  war. 
herauszutreten  und  sich  zu  einer  Wissenschaft  zu  entwickeln,  die  um 
ihrer  selbst  willen  getrieben  wurde.  Sie  wurde  durch  eine  Menge  von 
Pflanzenbeschreibungen  bereichert,  und  die  Flora  Europas  sowohl  wie 
diejenige  der  neu  entdeckten  überseeischen  Länder  genau  erforscht. 
Einige  Botaniker  unternahmen  es,  zur  leichteren  Übersicht  die  Pflanzen 
nach  bestimmten  Ähnlichkeiten  in  verschiedene  Abtheilungen  zu  scheiden ; 
Conrad  Gessner  und  A.  Cesalpini  benutzten  dazu  bereits  die  Blüthen 
und  Früchte,  waren  also  gleichsam  Vorläufer  Linne's. 

Auch  für  die  Zoologie  begann  eine  neue  Periode  ihrer  Geschichte. 
Des  gelehrten.  Gessner's  grosses  Werk  bildete  den  Markstein  derselben; 
es  enthielt  nicht  blos  alle  Thatsachen,  welche  auf  diesem  Gebiet  in  den 
vorangegangenen  Zeiten  festgestellt  worden  waren,  sondern  noch  eine 
grosse  Anzahl  neuer  Beobachtungen.  Andere  Forscher  wählten  einzelne 
Klassen  des  Thierreichs  zum  Gegenstande  ihrer  Untersuchungen,  wie 
z.  B.  Belon  die  Vögel  und  Rondelet  die  Fische,  oder  beschäftigten 
sich  mit  der  Thierwelt  fremder  Länder. 

Ebenso  machte  sich  in  der  Physik  und  Chemie  eine  rege  Thätig- 
keit  bemerkbar.  Schon  Nicolaus  Cusanus,  der  freisinnige  Bischof  von 
Brixen,  und  der  grosse  Künstler  Lionardo  da  Vinci  bearbeiteten  die 
Physik  mit  glücklichem  Erfolge.1  Während  dann  die  Mathematik  durch 
Hieronymus  Cardanus,  Tartaglia,  welcher  die  Lösung  der  Gleichungen 
dritten  Grades  entdeckte,  u.  A.  gefördert  wurde,  machte  auch  die  Optik 
erhebliche  Fortschritte,  die  sie  hauptsächlich  dem  Giambattista  Porta, 
dem  Erfinder  der  Camera  obscura,  und  Joh.  Kepler  verdankte.  Be- 
deutende Erfolge  errangen  die  Physik  und  Chemie  jedoch  erst  im 
17.  Jahrhundert;  erst  in  dieser  Zeit  erlangten  sie  für  die  Medicin  eine 
grosse  Bedeutung. 


1  Poggendorf  a.  a.  0.  S.  11 3  u.  ff. 


Die  Emancipation  vorn  Autoritätsglauben  auf  dem  Gebiet  der  Medicin  etc.    247 


Die  Emancipation  vom  Autoritätsglauben  auf  dem  Gebiet 
der  Medicin  und  die  Portschritte  der  Wissenschaft. 

Die  Heilkunde  machte  den  gleichen  Entwickelungsprozess  durch, 
wie  die  ganze  übrige  Cultur;  sie  schüttelte  das  Joch  der  nur  auf  Tra- 
ditionen beruhenden  Autoritäten  ab  und  wurde  selbstständig.  Nur  in 
Verbindung  mit  den  die  ganze  Zeitrichtung  erfüllenden  Bestrebungen 
erscheint  diese  Thatsache  natürlich  und  begreiflich;  losgelöst  von  ihnen 
kann  sie  sich  wohl  dem  Gedächtniss,  nicht  aber  dem  Verstände  ein- 
prägen. 

Die  Emancipationsbewegung  gab  sich  in  allen  Zweigen  der  Medicin 
kund  und  erreichte  in  einzelnen  Disciplinen,  namentlich  in  der  Ana- 
tomie, Arzneimittellehre,  Chirurgie  und  Geburtshilfe,  bereits  im  16.  Jahr- 
hundert beachtenswerthe  Resultate. 

Die  Anatomen  hörten  auf,  an  die  Unfehlbarkeit  Galen's  zu  glauben, 
und  fingen  an,  eigene  Untersuchungen  an  der  Leiche  anzustellen. 
Gabkiele  Zeebi  sonderte  in  seiner  anatomischen  Beschreibung  des 
menschlichen  Körpers  bereits  die  Knochen,  Muskeln  und  Gefässe;  er 
machte  auf  die  schrägen  und  kreisförmigen  Muskelfasern  des  Magens 
aufmerksam  und  erwähnte  die  Thränenpunkte,  die  Ligamenti  uteri 
u.  a.  m. 1  Al.  Achillini  bemerkte  die  Einmündung  des  Ductus  cholc- 
dochus  in  den  Zwölffingerdarm,  sowie  die  Blinddarmklappe. 2  Berengar 
von  Carpi  berichtigte  verschiedene  Irrthümer  Mondino's  und  gilt  als 
der  Entdecker  der  Keilbeinhöhlen  und  des  Wurmfortsatzes;  ferner  wies 
er  darauf  hin,  dass  beim  Mann  der  Thorax,  beim  Weibe  das  Becken 
eine  grössere  Breite  besitzt.3  Canani  lieferte  eine  vortreffliche  Schil- 
derung der  Muskeln  und  sah  zuerst  die  Venen-Klappen  an  der  Vena 
azygos. 4 

Alle  diese  Forscher  übertraf  an  Keichthum  der  Entdeckungen  An- 
dreas Vesalius,  den  man  den  Reformator  der  Anatomie  nennen  kann. 
Er  stammte  von  einer  deutschen  Familie  ab,  welche  ursprünglich  den 
Namen  Witing  führte  und  von  Wesel  nach  Brüssel  übergesiedelt  war. 

Vesal's  Untersuchungen  umfassten  alle  Theile  der  Anatomie  und 
schufen  die  Basis  eines  neuen  anatomischen  Lehrgebäudes.5  Er  gab 
Aufschlüsse  über  die  Ernährung  der  Knochen  durch  die  Gefässe  des 


1  Medici  a.  a.  0.  p.  43. 

2  Bürggraeve  a.  a.  0.  p.  55.  —  Medici  a.  a.  0.  p.  51. 

3  Carpi:  Comuientaria  cum  ampl.  addition.  super  anat.  Mundini,  Bonon.  1521. 

4  Amatus  Lusitanus:  Curat,  med.  cent.,  Basil.  1556,  p.  84. 

5  Bürggraeve  a.  a.  0.  p.  72  u.  ff. 


248  Der  medizinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Periosts  und  die  Vasa  nutrienia  und  zeigte  zuerst,  dass  der  Nerv  in 
den  Muskel  eindringt.  An  den  Gefässwänden  unterschied  er  zwei  Lagen, 
von  denen  die  innere  eine  stärkere  Consistenz  besitze  und  aus  Muskel- 
fasern zusammengesetzt  sei.  Ziemlich  richtig  beschrieb  er  das  Herz, 
seine  Lage,  Bewegungen  und  Gestalt-Veränderungen,  sowie  die  Klappen- 
Apparate;  doch  vermochte  er  sich  niemals  vollständig  von  dem  alten 
Irrthum  zu  befreien,  dass  das  Blut  durch  die  Scheidewand  des  Herzens 
hindurchtrete.  Aber  während  er  in  der  ersten  Ausgabe  seines  ana- 
tomischen Hauptwerkes  v.  J.  1543  daran  noch  gar  nicht  zweifelte,  er- 
klärte er  in  der  zweiten  Auflage  v.  J.  1555,  vielleicht  unter  dem  Ein- 
fluss  Servet's,  dass  er  nicht  einsehen  könne,  wie  es  möglich  sei,  dass 
das  Blut,  wenn  auch  nur  in  einer  sehr  geringen  Menge,  aus  dem 
rechten  Herzen  in  das  linke  durch  die  dichte  feste  Substanz  des  Septums 
hin  durchschwitze. 1 

Ein  bedeutender  Fortschritt  zeigt  sich  in  seiner  Beschreibung  des 
Bauchfells  und  Magens,  sowie  in  der  Schilderung  der  Leber  und  der 
männlichen  und  weiblichen  Geschlechtstheile.  Er  kannte  die  Schwell- 
körper und  die  Samenkanälchen,  deutete  auf  die  Samenbläschen  hin, 
und  erörterte  die  Veränderungen,  welche  der  Uterus  durch  die  Schwanger- 
schaft erfährt.  Grosse  Sorgfalt  widmete  er  der  Untersuchung  des  Ge- 
hirns; er  hob  den  Unterschied  zwischen  der  grauen  und  weissen  Substanz 
hervor  und  bemerkte  das  Corpus  callosum,  das  Septum  lucidum,  die 
Zirbeldrüse,  die  Vierhügel  u.  a.  m. 

Vesal's  Entdeckungen  riefen  ein  unerhörtes  Aufsehen  hervor; 
nicht  blos  in  den  Kreisen  der  Ärzte  war  man  erstaunt  über  die  Kühn- 
heit, mit  der  er  die  Unrichtigkeit  dessen  nachwies,  was  man  bisher 
für  wahr  gehalten  hatte.  Die  Verehrer  des  Alten,  die  Anhänger  der 
geltenden  Autorität,  befeindeten  ihn  aufs  heftigste,  Allen  voran  sein 
früherer  Lehrer  Sylvius,  der  ihn  mit  einem  gerade  nicht  sehr  feinen 
W  ortspiel  auf  seinen  Namen  einen  Vesanus,  einen  Verrückten,  nannte, 
der  mit  seinem  giftigen  Hauche  Europa  verpeste.2 

Die  Entdeckungen  Vesal's  wurden  in  vielen  Punkten  verbessert 
und  ergänzt  durch  seine  Zeitgenossen  Eustachio  und  Ealoppio.  Der 
erstere  beschäftigte  sich  namentlich  mit  der  Struktur  der  Nieren  und 
erwähnte  bereits  die  Bellinischen  Köhren. 3  Dagegen  wird  ihm  mit 
Unrecht  die  Entdeckung  der  nach  ihm  genannten  Klappe  an  der  Mün- 
dung der  unteren  Hohlvene  zugeschrieben,    da   dieselbe    schon    früher 


1  H.  Tollin  im  Biolog.  Centralblatt  1885,  Bd.  5,  S.  474  u.  ff. 

2  Jacob.  Sylvius:  Vesani  cujusdam  calumniarum  in  Hipp,  et  Galen  depulsior 
Paris  1551. 

3  Burggraeve  a.  a.  0.  p.  201  u.  ff. 


Die  Emancipation  vom  Autoritätsglauben  auf  dem  Gebiet  der  Mcdicin  etc.    249 


bekannt  war.  Er  bereicherte  ausserdem  die  Kenntniss  des  Gehörorgans, 
beobachtete  die  Muskeln  der  Paukenhöhle,  die  Spindel  der  Schnecke 
und  die  Ohrtrompete,  welche  noch  jetzt  seinen  Namen  führt,  und 
hinterliess  eine  vorzügliche  Beschreibung  der  Grundfläche  des  Gehirns. 

Faloppio,  der  geniale  Schüler  Vesal's,  controllirte  die  Entdeckungen 
seines  Lehrers  mit  gewissenhafter  Sorgfalt,  und  berichtigte  und  ver- 
vollständigte sie  durch  eine  Menge  neuer  Thatsachen.  Neben  Yesal 
hat  er  am  meisten  zur  Neubegründung  der  Anatomie  beigetragen. 

Er  gab  werthvolle  Aufschlüsse  über  die  Entwicklung  der  Knochen 
und  Zähne,  beschrieb  das  Felsenbein  genauer,  bereicherte  die  Myologie 
durch  musterhafte  Schilderungen  der  Muskeln  des  äusseren  Ohres,  des 
Antlitzes,  des  Gaumens  und  der  Zunge,  sprach  sich  über  die  anasto- 
motischen  Verbindungen  einiger  Gefässe  aus,  z.  B.  zwischen  den  Caro- 
tiden  und  den  Vertebral-Arterien,  und  entdeckte  den  Nervus  trochlearis. 
Auch  die  Anatomie  der  Sinnesorgane  verdankte  ihm  einige  Fortschritte; 
er  stellte  sehr  genaue  Untersuchungen  an  über  die  einzelnen  Theile 
des  Gehörorgans  und  des  Auges,  wobei  er  z.  B.  das  Ligamentum  ciliare, 
die  Tunica  hyaloidea  und  die  Linse  besser  kennen  lehrte.  Ebenso  war 
dies  mit  den  weiblichen  Geschlechtsorganen  der  Fall ;  die  Eileiter  haben 
seinen  Namen  in  der  anatomischen  Terminologie  verewigt. 

Von  den  übrigen  Anatomen  jener  Zeit  haben  sich  Ingrassias  durch 
seine  osteologischen  Arbeiten,  besonders  durch  die  Entdeckung  des 
Steigebügels  und  der  unteren  Muscheln  des  Siebbeins,  Aeanzio,  welcher 
die  Anatomie  des  Fötus  eingehend  studierte,  Varolio,  an  den  die 
Brücke  erinnert,  durch  seine  Untersuchungen  des  Gehirns  und  Nerven- 
systems, Volcher  Koyter  durch  seine  Beiträge  zur  Entwicklungs- 
geschichte und  pathologischen  Anatomie,  Fabrizio  ab  Aquapendente 
durch  die  erste  vollständige  Beschreibung  der  Venenklappen,  Casserio 
durch  seine  Arbeiten  über  die  Organe  der  Stimme  und  des  Gehörs, 
Adrian  van  den  Spigel,  der  seine  Aufmerksamkeit  vorzugsweise  der 
Leber  zuwandte,  von  welcher  ein  Lappen  noch  heut  seinen  Namen 
trägt,  Salomon  Alberti  durch  seine  Schilderung  der  Thränen- Werk- 
zeuge und  Peter  Paaw,  welcher  zuerst  auf  die  Bassen-Verschieden- 
heiten  der  Schädel  aufmerksam  machte,  um  die  Entwickelung  der  ana- 
tomischen Wissenschaft  verdient  gemacht.1 

Geringer  waren  die  Fortschritte,  welche  die  Physiologie  in  jener 
Zeit  machte.  Es  war  dies  auch  ganz  begreiflich;  denn  man  musste 
erst  das  Vorhandensein  der  anatomischen  Thatsachen  feststellen,    ehe 


1  K.  Sprengel:  Versuch  einer  pragmat.  Geschichte  der  Arzneikunde,  Halle 
1827,  III,  64  u.  ff. 


250  Der  medieinisehe   Unterricht  in  der  Neu: eil. 


man  nach  dem  Zweck  derselben  fragen  durfte.  Doch  erkannte  man 
wenigstens  die  Fruchtlosigkeit  der  spekulativen  Richtung  und  kehrte 
wieder  auf  den  Weg  der  induktiven  Forschung  zurück,  den  schon  Aei- 
stoteles  gezeigt  hatte. 

So  injicirte  Eustachio  Wasser  in  die  Nieren- Arterie,  um  die  Bil- 
dung des  Urins  kennen  zu  lernen.1  Recht  bezeichnend  für  die  voll- 
ständige Veränderung,  welche  sich  in  der  Denkweise  der  medicinischen 
Forscher  vollzog,  sind  die  Worte  Realdo  Colombo's,  dass  man  aus 
der  Zergliederung  eines  Hundes  an  einem  Tage  mehr  lernt,  als  wenn 
man  beständig  den  Puls  fühlt  oder  mehrere  Monate  hindurch  Gtalen's 
Schriften  studiert.2 

Michael  Servet  und  Realdo  Colombo,  der  Prosector  und  Nach- 
folger Vesals  im  Lehramt  zu  Padua,  waren  die  Ersten,  welche  den 
alten  Irrthum  berichtigten,  dass  das  Blut  durch  die  Scheidewand  des 
Herzens  aus  dem  rechten  Herzen  in  das  linke  übertrete,  und  auf  den 
Weg  durch  die  Lungen  hinwiesen.  Wem  von  Beiden  die  Priorität 
dieser  Entdeckung  gebührt,  lässt  sich  nicht  sicher  feststellen,  wenn  auch 
eine  Menge  von  W^ahrscheinlichkeitsgründen  für  Servet  sprechen.3 
Übrigens  hat  weder  der  Eine,  noch  der  Andere  klar  und  unzweideutig 
auseinandergesetzt,  wie  der  Übertritt  des  Blutes  aus  der  Lungen-Arterie 
in  die  Lungenvenen  erfolgt. 

Der  Aufschwung  der  Physiologie  begann  erst  im  17.  Jahrhundert, 
als  mit  der  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  die  Experimentalforschung 
zur  Herrschaft  gelangte. 

Die  Fortschritte  in  der  Anatomie  mussten  namentlich  auf  die 
Chirurgie,  also  den  Theil  der  Heilkunde,  der  auf  die  Kenntniss  des 
Baues  des  menschlichen  Körpers  am  meisten  angewiesen  ist,  einen  an- 
regenden und  fördernden  Einfluss  ausüben.  Die  Operationsmethoden 
der  Chirurgen  des  Alterthums  waren  zum  Theil  seit  langer  Zeit  ver- 
gessen oder  wurden  doch  nur  von  Wenigen  ausgeübt,  die  sie  wie  ein 
Geheimniss  bewahrten  und  deren  Kenntniss  im  engsten  Kreise  ver- 
erbten. Sie  mussten  gleichsam  wieder  aufs  Neue  erfunden  werden; 
diese  Aufgabe  lösten  einige  geniale  Praktiker,  welche  das  Bedürfniss 
zur  Verbesserung  der  bisherigen  Heilmethoden  führte. 

Nur  in  beschränktem  Maass  wirkte  darauf  die  Wiederbelebung  des 
Studiums  der  alten  Literatur  hin;  denn  die  ungelehrten  Wundärzte 
wurden  im  Allgemeinen  davon  nicht  berührt,  und  den  studierten  Ärzten 


1  Barth.  Eustachius:  De  renurn  structura,  Venet.  1564,  c.  37.  46. 

2  Realdo  Columbo:  De  re  anatomica,  Venet.  1559,  lib.  XIV,  p.  258. 

3  H.  Tollin  im  Deutschen  Archiv  f.  Gesch.  d.  Med.,  Bd.  VII,  1884,  S.  171 
u.  tf.  und  in  Virchow's  Archiv,  Bd.  91,  S.  39  u.  ff". 


Die  Emancipation  vom  Autoritätsglauben  auf  dem  (reblet  der  Med  lein  etc.    251 


fehlte  häutig  das  praktische  Verständniss  für  die  Beurtheilung  der  von 
den  Alten  hinterlassenen  Erfahrungen. 

Eine  ausserordentliche  Bedeutung  für  die  Entwicklung  der  Chirurgie 
hatte  die  Einführung  der  Schusswaffen  in  die  Kriegskunst.  Während 
man  vorher  hauptsächlich  nur  Hieb-  und  Stichwunden  zur  Behandlung 
bekam,  traten  jetzt  die  Schusswunden  in  den  Vordergrund.  Die  da- 
durch erzeugten  Verletzungen  hatten  Erscheinungen  im  Gefolge,  die 
bis  dahin  vollständig  unbekannt  waren.  Die  Schriften  der  Alten  gaben 
darüber  natürlich  gar  keine  Auskunft.  Die  Chirurgen  waren  daher 
genöthigt,  selbst  Beobachtungen  anzustellen  und  Erfahrungen  zu  sam- 
meln, wie  die  Schusswunden  zu  beurtheilen  und  zu  behandeln  sind. 
Dadurch  erhielt  ihre  Emancipation  von  der  traditionellen  Autorität  und 
ihre  geistige  Selbstständigkeit  eine  mächtige  Förderung. 

Die  Grösse  der  durch  die  Schusswaffen  herbeigeführten  Zerstörungen 
und  manche  Zufälle  und  Nachkrankheiten,  welche  dabei  beobachtet 
wurden,  erregten  den  Verdacht,  dass  ausser  der  mechanischen  Ver- 
letzung noch  andere  Umstände  wirksam  sind.  So  kamen  die  Chirurgen 
auf  die  Vermuthung,  dass  die  Schuss wunden  durch  Verbrennung  und 
Vergiftung  erzeugt  werden,  und  erklärten  dies  durch  die  Natur  der 
Stoffe,  nämlich  des  Pulvers  und  Bleis,  welche  die  Verletzung  hervor- 
rufen. Um  diese  vermeintliche  Wirkung  unschädlich  zu  machen,  be- 
handelten sie  die  Schuss  wunden  mit  reizenden  und  ätzenden  Mitteln. 

Diese  Kurmethode  erlangte  allgemeine  Gültigkeit,  bis  ein  glück- 
licher Zufall  einer  richtigeren  Erkenntniss  die  Wege  ebnete.  Es  fehlte 
nach  einer  Schlacht  an  heissem  Ol,  um  die  Verwundeten  zu  cauterisiren. 
Der  berühmte  französische  Chirurg  Ambroise  Pake,  welcher  diese 
Thatsache  in  sehr  anschaulicher  Weise  geschildert  hat,1  wendete  daher 
statt  dessen  nur  einen  Verband  aus  einfacher  Digestiv-Salbe  an  und 
sah  mit  Besorgniss  den  Folgen  entgegen,  welche  dieses  Verfahren  haben 
würde.  Wer  aber  beschreibt  sein  Erstaunen,  als  er  am  nächsten  Morgen 
fand,  dass  diejenigen  Wunden,  welche  er  auf  diese  Weise  behandelt 
hatte,  ein  gutes  Aussehen  darboten  und  weder  schmerzhaft  noch  ent- 
zündet und  geschwollen  waren,  wie  die  übrigen  Wunden,  die  nach  der 
alten  Methode  cauterisirt  worden  waren.  Wiederholte  Versuche  be- 
stätigten diese  Erfahrung,  und  die  günstigen  Erfolge,  welche  man  mit 
dieser  einfachen  Behandlungsweise  erzielte,  beseitigten  allmälig  die  dem 
Kranken  wie  dem  Arzt  unbequeme  Cauterisation. 


1  Oeuvres  d'Ambroise  Pare  ed.  par  J.  F.  Malgaigne,  Paris  1840,  T.  II, 
p.  127  u.  ff.  —  Le  Paulmier:  Ambroise  Pare  d'apres  des  nouveaux  documents, 
Paris  1885. 


252  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Parü  und  Maggi  lieferten  ferner  den  Nachweis,  dass  die  Schuss- 
wunden auch  nicht  durch  Verbrennung  erzeugt  werden,  da  man  Flinten- 
kugeln auf  Säcke,  die  mit  Schiesspulver  gefüllt  sind,  abfeuern  könne, 
ohne  dass  dieselben  dadurch  in  Brand  gerathen. l 

Jedenfalls  aber  wurde  das  Wesen  der  Verletzungen  durch  die  neue 
Art  der  Kriegsführung  wesentlich  verändert.  Die  Geschosse  führten 
grosse  Zerstörungen  der  Knochen  herbei,  welche  mit  den  früher  üblichen 
Waffen  gar  nicht  oder  nur  selten  erzeugt  werden  konnten. 

Die  bis  dahin  wenig  geübte  Amputation  wurde  daher  jetzt  häufiger 
erforderlich.  Mit  den  vermehrten  Erfahrungen  gewannen  die  Wund- 
ärzte grössere  Sicherheit  in  der  Ausführung  dieser  Operation  und  fingen 
an,  die  bisherigen  Methoden  zu  verbessern.  Die  hauptsächlichsten 
Fehler  derselben  bestanden  darin,  dass  man  die  Amputation  zu  lange 
hinauszuschieben  pflegte,  sie  im  kranken,  im  brandigen  Fleisch  aus- 
führte und  den  Stumpf  mit  dem  Glüheisen  oder  heissem  Öl  cauterisirte, 
um  die  Blutungen  zu  stillen  und  die  nekrotischen  Gewebstheile  zur 
Abstossung  zu  bringen. 

Es  war  daher  ein  bedeutender  Fortschritt ,  als  Botallo  die 
Fordeiung  aufstellte,  dass  die  Amputation  sofort  unternommen  werde, 
wenn  sich  die  Zeichen  des  drohenden  Brandes  zeigen,  als  ferner  die 
Chirurgen  wieder  begannen,  die  Abtrennung  in  den  gesunden  Theilen 
vorzunehmen,  und  als  Hanns  von  Gersdorf,  welcher  sich  rühmen 
durfte,  ungefähr  200  Amputationen  ausgeführt  zu  haben,  den  Stumpf 
mit  einer  feuchten  Thierblase  bedeckte  und  mit  kühlenden  Mitteln  be- 
handelte. Er  gewann  dadurch  eine  ausreichende  Bedeckung  des  Stumpfes 
mit  Haut-  und  Weichtheilen ,  welche  bei  der  Anwendung  des  Glüh- 
eisens in  zu  umfangreicher  Weise  zerstört  worden  waren. 

Um  der  mit  der  Operation  verbundenen  Gefahr  der  Verblutung 
vorzubeugen,  wurde  das  Glied  oberhalb  der  Einschnittslinie  mit  Binden 
fest  umschnürt.  Durch  den  Druck,  welchen  die  letzteren  auf  die  Blut- 
gefässe und  Nerven  ausübten,  hoffte  man,  wie  A.  Pare  schreibt,2  nicht 
blos  die  Blutungen  zu  verhüten,  sondern  zugleich  die  Schmerzen  zu 
vermindern  und  eine  lokale  Unempfindlichkeit  herbeizuführen. 

Die  meiste  Sicherheit  gegen  die  drohenden  Blutverluste  gewährte 
die  Unterbindung  der  Arterienstämme,  welche  durch  A.  ParE  wieder 
empfohlen  wurde.3      Sie  war,   wie  erwähnt,   schon   den   Chirurgen  des 


1  Oeuvres  d'Ambr.  Pare  a.  a.  0.  T.  II,  134. 

2  Oeuvres  dAmbr.  Pare  a.  a.  0.  T.  II,  p.  222. 

3  Oeuvres  dAmbr.  Pare  a.  a.  0.  T.  II,  226  u.  ff.  —  Adamkiewicz:  Die 
mechanischen  Blutstillungsmittel  bei  verletzten  Arterien  von  Pare  bis  auf  die 
neueste  Zeit,  Würzburg  1872. 


Die  Emancipation  vorn  Autoritätsglauben  auf  dem  Gebiet  der  Medicin  etc.    253 


Alterthums  bekannt;  auch  im  Mittelalter  wurde  sie  von  einzelnen  hervor- 
ragenden Operateuren  gelegentlich  ausgeübt.  Park  erzählt,  dass  er 
durch  das  Studium  Galens  zu  dem  Versuch,  die  Gefässe  zu  unter- 
binden, angeregt  worden  sei;  er  brachte  dieses  Verfahren  i.  J.  1552  bei 
einer  Amputation  des  Unterschenkels  zuerst  wieder  zur  Anwendung. 
Später  nahm  er  anstatt  der  Unterbindung  der  isolirten  Arterien  die 
Ligatur  en  masse  vor,  indem  er  die  Nerven  mit  den  Gelassen  zusammen 
unterband.  Man  glaubte  dadurch  das  Ausströmen  des  „Nervengeistes" 
zu  verhüten.  Bei  Nachblutungen  wurden  die  Gefässstämme  von  aussen 
mit  den  Fingern  comprimirt;  auch  ist  von  einer  Methode  die  Rede, 
welche  nach  der  etwas  dunkelen  Beschreibung  von  A.  Pake  der  per- 
cutanen  Ligatur  zu  entsprechen  scheint. 

Unter  den  in  Folge  von  Verwundungen  auftretenden  Krankheiten 
wurde  das  Erysipel,  der  Hospitalbrand,  die  Diphtherie,  die  Pyaemie, 
sowie  Trismus  und  Tetanus  beobachtet.1 

Eine  bedeutende  Bereicherung  erfuhr  die  Technik  des  Steinschnitts 
im  16.  Jahrhundert.  Die  bis  dahin  gebräuchliche,  von  Celsus  be- 
schriebene und  von  Paulus  Aegineta  vereinfachte  Methode  wurde 
dadurch  verbessert,  dass  vor  der  Operation  eine  katheterartig  gekrümmte 
Hohlsonde,  welche  mit  der  Convexität  nach  dem  Perineum  drängte,  in 
die  Harnröhre  eingeführt  wurde.  Indem  der  Schnitt  in  die  Pars 
membranaeea  in  der  Rinne  dieser  Hohlsonde  gezogen  wurde,  erhielt  die 
Hand  des  Operateurs  eine  sichere  Leitung,  welche  für  den  Erfolg  von 
grosser  Bedeutung  war.  Man  nannte  dieses  Verfahren  die  Operation 
mit  der  grossen  Geräthschaft  und  betrachtet  Bernardo  di  Rapallü 
als  den  Erfinder  derselben.  Allgemeiner  bekannt  wurde  sie  durch 
Mariano  Santo. 

Die  Nachtheile,  welche  der  Steinschnitt  vom  Perineum  aus  zu- 
weilen im  Gefolge  hatte,  namentlich  die  Vereiterung  der  Prostata  und 
der  Samenausführungsgänge  und  die  dadurch  hervorgerufene  Zeugungs- 
Unfähigkeit,  vor  allen  Dingen  aber  die  Unmöglichkeit >  sehr  grosse 
Steine  oder,  wenn  sich  dieselben  abgesackt  haben,  auf  diesem  Wege 
durch  die  Perineal- Wunde  zu  entfernen,  regten  zu  dem  Gedanken  an, 
ob  es  nicht  möglich  sei,  den  Stein  von  oben  her  durch  einen  Ein- 
schnitt über  der  Schambeinfuge  herauszuholen.2  Pierre  Franco  führte 
den  hohen  Steinschnitt  zum    ersten  Male  i.  J.  1560  mit  glücklichem 


1  F.  Würtz:  Practica  der  Wundartzney,  Basel  1642,  S.  271.  538.  645  u.  ff. 
—  Th.  Billroth:  Historische  Studien  über  die  Beurtheilung  und  Behandlung 
der  Schusswunden,  Berlin  1859,  S.  15  u.  ff.  —  Wolzendorff  im  Deutschen  Archiv 
f.  Gesch.  d.  Medicin,  Bd.  II,  S.  23  u.  ff.,  Leipzig  1879. 

2  C.  B.  Günther:  Der  hohe  Steinschnitt  seit  seinem  Ursprünge,  Leipzig  1851. 


254  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Erfolge  bei  einem  zweijährigen  Kinde  aus,  nachdem  er  vergeblich  ver- 
sucht hatte,  den  Stein,  der  die  Grösse  eines  Hühnereies  hatte,  nach 
der  alten  Methode  zu  entfernen.  Er  fühlte  sich  dazu  besonders  da- 
durch veranlasst,  dass  die  Blase  stark  nach  vorn  drängte.  Rousset 
gab  deshalb  auch  später  den  sehr  vernünftigen  Rath,  die  Harnblase 
mit  Wasser  anzufüllen,  bevor  man  zur  Operation  schreitet. 

Auch  der  hohe  Steinschnitt  hatte  manche  Gefahren,  welche  den 
Erfolg  der  Operation  in  Frage  stellten.  Schon  Pierre  Franco  er- 
kannte dies  und  beschäftigte  sich  aus  diesem  Grunde  wieder  mit  dem 
Perineal-Steinschnitt,  für  welchen  er  eine  neue  Methode  angab.  Darnach 
wurde  der  Schnitt  auf  der  in  die  Harnröhre  eingeführten  Furchensonde 
seitlich  von  der  Raphe  ausgeführt  und  durch  die  Prostata  verlängert. 
Der  Seitensteinschnitt,  wie  dieses  Verfahren  genannt  wurde,  hatte 
wenigstens  den  Yortheil,  dass  dabei  selbst  Steine  von  bedeutendem 
Umfange  entfernt  werden  konnten. 

P.  Franco  machte  darauf  aufmerksam,  dass  Blasensteine  beim 
weiblichen  Geschlecht  häufig  durch  eine  einfache  Erweiterung  der 
Harnröhre  herausgebracht  werden. 

Die  Lithothrypsie  war  nahezu  in  Vergessenheit  gerathen.  Aless. 
Benedetti  erzählte,  dass  einige  Chirurgen  den  Blasenstein,  ohne  dass 
ein  Einschnitt  gemacht  wird,  mit  eisernen  Instrumenten  zertrümmerten,1 
hielt  aber  von  diesem  Verfahren  nicht  viel. 

Eine  eigenthümliche  Methode  beschrieb  Prosper  Alpini,2  welche 
er  in  Ägypten  kennen  gelernt  hatte.  Sie  bestand  darin,  dass  die 
Harnröhre  erweitert  und  der  Stein  von  aussen  in  dieselbe  hinein- 
gedrängt wurde. 

Die  Hernien  suchte  man  durch  anhaltende  Rückenlage  oder  Bruch- 
bänder zur  Heilung  zu  bringen;  auch  entschloss  man  sich  nicht  selten 
zur  Radikaloperation.  Zu  diesem  Zweck  wurde  bei  Leistenbrüchen  die 
Pforte  nach  der  Reposition  der  vorgefallenen  Eingeweide  mit  einem 
feinen  goldenen  oder  bleiernen  Draht  oder  einem  Faden  vernäht. 
Ambroise  ParE  erwarb  sich  das  grosse  Verdienst,  dass  er  das  operative 
Eingreifen  so  viel  als  möglich  auf  die  eingeklemmten  Hernien  be- 
schränkte. Nur  in  diesen  Fällen  führte  er  die  regelrechte  Herniotomie 
aus.  Allerdings  haben  andere  Chirurgen,  wie  P.  Franco  und  Rousset, 
dies  schon  vor  ihm  gethan;  aber  erst  durch  A.  Pare  wurde  dieses 
Verfahren  bei  eingeklemmten  Hernien  wissenschaftlich  begründet  und 


1  Al.  Benedictus:  Omnium  a  vertice  ad  calcem  morborum  signa,  causae  etc., 
Basil.  1508,  lib.  XXH,  c.  48. 

2  De  medicina  Aegyptorum  III,  c.  14. 


Die  Emancipation  vom  Autoritätsglauben  auf  dem  Gebiet  der  Mediein  etc.    255 


damit  den  Kranken  dieser  Art,  welche  man  früher  häufig  ihrem  Schicksal 
überlassen  hatte,  die  Aussicht  auf  Rettung  geboten.1 

Auch  die  operative  Beseitigung  der  Harnröhren-Strikturen  durch 
gewaltsame  Trennung  mit  dem  Messer,  welche  schon  die  Chirurgen  der 
römischen  Kaiserzeit  gekannt  hatten,  wurde  durch  A.  Pak£  wieder  der 
Vergessenheit  entrissen.  Ausserdem  wendete  man  gegen  dieses  Leiden 
Bougies  an,  die  mit  geeigneten  Arzneistoffen  bestrichen  waren;  sie 
wurden  namentlich  von  Lagttna  empfohlen. 

Die  Kenntniss  der  plastischen  Operationen  hatte  im  1 6.  Jahrhundert 
längst  aufgehört,  das  Geheimniss  der  Empiriker  von  Norcia  und  Preci 
zu  sein.  Mehrere  tüchtige  Wundärzte  befassten  sich  damit  und  er- 
warben sich  in  der  Ausführung  dieser  Operationen  eine  grosse  Ge- 
schicklichkeit. Die  meisten  Erfolge  auf  diesem  Gebiet  erzielte  Gaspaee 
Tagliacozzi,  Professor  in  Bologna,  welcher  das  Verfahren  ausführlich 
beschrieben  hat.2 

Zum  Ersatz  des  Substanzverlustes  benutzte  er,  wie  schon  Ant.  Branca, 
die  Haut  des  Oberarms.  Aus  ganz  Europa  kamen  die  Patienten  zu  ihm, 
um  sich  von  ihm  operiren  zu  lassen.  Wenn  es  auch  nur  eine  witzige 
Anekdote  ist,  dass  er  einst  in  seinem  Hospital  zu  gleicher  Zeit  1 2  deutsche 
Grafen,  19  französische  Marquis,  100  spanische  Granden  und  einen  eng- 
lischen Esquire  gehabt  habe,  welche  sämmtlich  durch  Liederlichkeit  ihre 
Nasen  eingebüsst  hatten  und  neue  von  ihm  verlangten,3  so  zeigt  sie 
doch,  wie  weit  verbreitet  sein  Ruf  als  Operateur  war. 

Tagliacozzi  erntete  für  seine  menschenfreundlichen  Handlungen 
wenig  Dank.  Ein  bornirter  Glaubensfanatismus  sah  in  seinen  Ver- 
suchen, den  Verlust  der  Nase  oder  der  Lippen  zu  ersetzen,  einen  frevel- 
haften Eingriff  in  die  Rechte  des  Schöpfers.  Als  er  gestorben  war, 
hörten  die  frommen  Schwestern  des  Klosters,  in  welchem  man  seine 
irdischen  Überreste  bestattet  hatte,  mehrere  Wochen  hindurch  eine 
Stimme,  welche  ausrief:  „Tagliacozzi  ist  verdammt!"  Auf  Betreiben  der 
Geistlichkeit  in  Bologna  wurde  seine  Leiche  deshalb  ausgegraben  und 
an  ungeweihter  Stätte  beerdigt.4 

Die  Glaubenseinfalt  des  16.  Jahrhunderts  findet  in  dem  niedrigen 
Culturzustande  jener  Zeit  eine  Entschuldigung.  Die  Menschen  des 
19.  Jahrhunderts  dürfen  aber  nicht  mit  geringschätzendem  Lächeln 
darauf  herabsehen;  denn  als  vor  etwa  40  Jahren  die  Anwendung  der 


1  E.  Albert:   Die  Herniologie  der  Alten,   S.  180  u.  ff.  —  A.  Gyergyai  im 
Deutschen  Arch.  f.  Gesch.  d.  Mediein,  Leipzig  1880,  Bd.  III,  S.  326  u.  ff. 

2  De  chirurgia  curtorum  per  insitionem,  Ed.  Troschel,  Berol.  1831. 

3  J.  Bickerstaff:  The  tatler,  London  1723,  IV,  No.  260. 

4  A.  Corradi:  Dell'  antica  autoplastica  italiana,  Sep.-Abdr.  1874. 


256  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Äther-Narkose  bei  schweren  Geburten  vorgeschlagen  wurde,  eiferten  die 
englischen  Zeloten  dagegen,  indem  sie  sich  auf  das  Wort  der  Bibel 
beriefen:  „Das  Weib  soll  mit  Schmerzen  gebären!" 

Ausser  Tagliacozzi  machten  sich  auch  andere  Chirurgen,  wie 
Griffon  in  Lausanne  und  Cobtesi  in  Bologna,  durch  ihre  glücklichen 
rhinoplastischen  Operationen  bekannt.  Der  Verlust  der  Nase  wurde 
übrigens  nicht  blos  durch  Krankheiten,  besonders  die  Syphilis,  sondern 
zuweilen  auch  auf  Befehl  der  Obrigkeit  herbeigeführt.  Eine  derartige 
Strafe  traf  nach  der  Gesetzgebung  des  Kaisers  Friedrich  II.  Ehe- 
brecherinnen und  Mütter,  welche  ihre  Töchter  der  Prostitution  über- 
lieferten. Das  Augsburger  Stadtrecht  v.  J.  1276  bestimmte,  dass  den 
„fahrenden  Fräulein  oder  Hübschierinnen",  wie  sie  genannt  wurden, 
die  Nase  abgeschnitten  würde,  wenn  sie  sich  während  der  Fastenzeit 
oder  Samstags  Nachts  auf  der  Strasse  herumtrieben,  ausgenommen  wenn 
vornehme  fremde  Herren  in  der  Stadt  anwesend  waren.1 

Die  Augenheilkunde  nahm  an  den  grossen  Fortschritten,  welche 
die  Chirurgie  in  jener  Periode  machte,  keinen  bemerkenswerthen  An- 
theil.  Sie  lag  nahezu  gänzlich  in  den  Händen  herumziehender  Kur- 
pfuscher, welche  oft,  ohne  irgend  welche  Kenntniss  von  dem  Bau  des 
Auges  und  dem  Wesen  der  Krankheiten,  die  sie  behandelten,  zu  be- 
sitzen, mit  verwegener  Dreistigkeit  die  schwierigsten  Operationen  unter- 
nahmen. Als  einer  dieser  Leute,  welcher  kurz  vorher  noch  Bedienter 
gewesen  war,  gefragt  wurde,  wie  er  denn  so  keck  sein  könne,  den  Staar 
zu  stechen,  antwortete  er,  dass  der  Patient  dabei  ja  nichts  zu  verlieren 
habe;  denn  wenn  die  Operation  misslinge,  so  bleibe  er  doch  nur  blind 
wie  vorher. 

Auch  die  Geburtshilfe  wurde  während  der  ersten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  vollständig  vernachlässigt.  Wie  gering  die  Kennt- 
nisse der  Ärzte  auf  diesem  Gebiet  damals  waren,  zeigt  das  Lehrbuch 
für  Hebammen,  welches  Euchaeiüs  Röslin  i.  J.  1512  unter  dem  Titel: 
„Der  schwangeren  Frauen  Rosengarten"  herausgegeben  hat.  Dasselbe 
enthält  unglaubliche  Irrthümer  und  Abbildungen  von  verschiedenen 
Kindeslagen,  die  nur  von  einer  fruchtbaren  Phantasie  ersonnen,  in 
der  Wirklichkeit  aber  niemals  beobachtet  werden  können. 

Auf  einem  ähnlichen  Standpunkt  befanden  sich  seine  Nachahmer 
W^ alther  Reiff  und  Jacob  Rueff,  Bürger  und  Steinschneider  zu 
Zürich,  auch  als  Dichter  geistlicher  Komödien  bekannt.  Noch  un- 
bedeutender   war   die    der    Lucrezia  Borgia    gewidmete    Schrift    des 


1  Huillard-Breholles:  Hist.  dipl.  Fried.  II,  a.  a.  0.  IV,  p.  168,  170,  Hb.  III, 
tit.  74.  80.  —  Lammert:   Zur  Geschichte   des  bürgerlichen  Lebens  a.  a.  0.  S.  76. 


Die  Emancipation  vom  Autoritätsglauben  auf  dem  Gebiet  der  Medicin  etc.    257 


Lud.  Bonacciuoli,  Professor  in  Ferrara,  in  welcher  unter  Anderem 
erzählt  wird,  dass  von  Schwangeren  manchmal  70  und  mehr  Früchte 
gleichzeitig'  abgingen;  der  Verfasser  scheint  dieselben  mit  Eingeweide- 
würmern verwechselt  zu  haben.1 

Erst  mit  dem  Aufschwung  der  Anatomie  und  Chirurgie  eröffnete 
sich  auch  für  die  Geburtshilfe  die  Aussicht  auf  eine  wissenschaftliche 
Gestaltung.  Wiederum  war  es  Ambeoise  Pake,  welcher  richtigere 
Anschauungen  und  bessere  Behandlungsmethoden  anbahnte.  Er  be- 
stimmte die  Indicationen  für  die  Vornahme  der  Wendung,  welche  zwar 
schon  im  Alterthum  bekannt  war,  aber  nachher  nur  selten  geübt  wurde, 
und  gab  eine  Anleitung  zu  ihrer  Ausführung.2  Ihm  war  es  zu  danken, 
dass  dieselbe  fortan  einen  dauernden  Platz  in  der  operativen  Geburts- 
hilfe behauptete. 

Seine  Lehren  wurden  von  Pierre  Franco  und  Jacques  Guille- 
meau  weiter  entwickelt  und  fester  begründet.  Der  erstere  empfahl, 
zur  Extraktion  des  Kindes  ein  dreiarmiges  Speculum  in  die  Scheide 
einzuführen,  in  welches  er  den  Kopf  oder  die  Füsse  zu  leiten  suchte; 
er  kam  somit  der  Erfindung  der  Geburtszange  schon  ziemlich  nahe.3 
Guillemeau  beobachtete  bereits  die  Plaeenta  praevia,  ohne  dass  er 
jedoch  die  Art  ihrer  Entstehung  erkannte,  und  führte  bei  der  Tochter 
des  A.  Pare  das  Aceouckement  force  aus. 

Der  Kaiserschnitt  wurde  an  Lebenden  unternommen;  doch  scheint 
es  sich  in  mehreren  Fällen,  über  welche  berichtet  wird,  nur  um  den 
Bauchschnitt  bei  Extra-Uterin-Schwangerschaft  gehandelt  zu  haben.  So 
erzählt  Bauhin,  dass  Jacob  Nufer,  ein  Schweizer  Hodenschneider, 
i.  J.  1500  seiner  schwangeren  Frau,  nachdem  13  Hebammen  und 
mehrere  Chirurgen  vergeblich  versucht  hatten,  dieselbe  auf  natürlichem 
Wege  zu  entbinden,  den  Leib  aufgeschnitten  habe,  „wie  er  es  bei  den 
Schweinen  zu  thun  gewohnt  war".4  Dabei  soll  er  sofort  nach  dem 
ersten  Schnitt  ein  lebendes  Kind  herausbefördert  haben. 

Dagegen  müssen  andere  Fälle  auf  den  eigentlichen  Kaiserschnitt 
bezogen  werden.5  Man  scheint  denselben  sogar  häufiger,  als  noth- 
wendig  war,  ausgeführt  zu  haben;  A.  Pare  warnte  davor  und  wies  auf 
die  Gefahren  der  Operation  hin.  Aber  man  war  noch  nicht  so  weit 
in  der  Wissenschaft  vorgeschritten,  um  die  Bedingungen  feststellen  zu 


1  E.  C.  J.  v.  Siebold  a.  a.  0.  II,  17. 

2  Oeuvres  d'Ambroise  Pare  ed.  Malgaigne,  T.  II,  628  u.  ff. 

3  Siebold  a.  a.  0.  II,  83. 

4  C.  J.  v.  Siebold  a.  a.  0.  II,  94  u.  ff. 

5  Siebold  a.  a.  0.  II,  106  u.  ff.  —  0.  Wachs:  Der  Wittenberger  Kaiserschnitt 
von  1610,  Leipzig  1868. 

Puschmann,   Unterricht.  ]  7 


258  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


können,  unter  welchen  der  Kaiserschnitt  vorgenommen  werden  soll, 
wenn  auch  Aranzios  Arbeiten  über  die  Beckenenge  den  Ärzten  vielleicht 
eine  Ahnung  davon  verschafften. 

Auch  auf  anderen  Gebieten  der  Heilkunde  regte  sich  der  Geist 
des  Kriticismus  und  rüttelte  an  den  durch  die  herrschenden  Autoritäten 
gestützten  Lehren  und  Einrichtungen. 

Pierre  Brissot  erklärte,  dass  es  unrichtig  sei,  den  Aderlass  bei 
entzündlichen  Krankheiten  möglichst  entfernt  von  der  leidenden  Stelle 
vorzunehmen,  wie  es  damals  üblich  war,  und  führte  ihn  im  Gegentheil 
in  der  Nähe  des  erkrankten  Theiles  aus.  Seine  an  den  hergebrachten 
Meinungen  festhaltenden  Gegner  griffen  ihn  deshalb  heftig  an  und 
behaupteten,  dass  seine  Neuerung  eben  so  gefährlich  für  die  Körper 
sei,  als  der  religiöse  Glaube  Luthers  für  die  Seelen.1  Wichtiger  als 
dieser  ganze  Aderlassstreit  war  es,  dass  in  Folge  dessen  Zweifel  auf- 
tauchten, ob  der  Aderlass  überhaupt  in  gewissen  Fällen  immer  er- 
forderlich sei. 

Um  dieselbe  Zeit  bekämpfte  Mich.  Servet  die  irrige  Lehre  von 
der  Kochung  der  Säfte.  Ferner  erfuhr  die  übertriebene  Bedeutung, 
welche  man  dem  Puls  und  der  Harnschau  beilegte,  eine  vernünftige 
und  nothwendige  Einschränkung.  Gewissenlose  Abenteurer  und  un- 
Avissende  Empiriker  trieben  damit  einen  unerträglichen  Missbrauch. 
Das  Uringlas  bildete  gleichsam  das  Wahrzeichen  des  Arztes,  wie  man 
an  den  Bildern  der  niederländischen  Schule  sehen  kann,  und  sollte 
über  die  geheimsten  und  wunderbarsten  Dinge  Auskunft  geben.  Es 
war  begreiflich,  dass  sich  ehrliche  Ärzte  und  verständige  Laien,  wie  der 
Bischof  Dudith  von  Horekowicz,  gegen  dieses  Treiben  wandten  und 
eine  wissenschaftliche  Behandlung  der  Urinlehre  anstrebten. 

Freilich  konnte  dies  erst  dann  mit  Erfolg  geschehen,  wenn  die 
Chemie  eine  höhere  Entwickelung  erreicht  hatte.  In  dieser  Richtung 
hat  Niemand  während  des  16.  Jahrhunderts  mehr  geleistet,  als  Theo- 
phrastus  Bombastus  Paracelsus  von  Hoheuheim.  Dieser  Mann, 
welcher  zu  den  merkwürdigsten  Erscheinungen  der  Culturgeschichte 
gehört,  ist  von  Einigen  über  Gebühr  verherrlicht,  von  Andern  mit  Spott 
und  Verachtung  überhäuft,  selten  aber  vorurtheilslos  und  gerecht  be- 
urtheilt  worden.  Er  war  eine  Faustische  Natur,  welche  die  höchsten 
und  edelsten  Ziele  ins  Auge  fasste,  aber  mit  ihren  kühnen,  weitgreifenden 
Plänen  Schiffbruch  litt  und  im  Kampf  mit  den  umgebenden  Verhält- 
nissen Alles,  sogar  sich  selbst  verlor. 


1  K.   Sprengel:   Geschichte   der  Arzneikunde   TII,    170   nach   Moreait:    De 
miss.  sanguin.  in  pleurit.,  Paris  1630,  p.  102. 


Die  Emancipation  vom  Autoritätsglauben  auf  dem  Gebiet  der  Medicin  etc.    259 


Aber  diese  traurige  Thatsache  kann  ihm  nicht  das  grosse  Ver- 
dienst rauben,  welches  er  sich  um  die  Medicin  erworben  hat,  indem 
er  die  Säftetheorie  der  Alten  bestritt  und  zuerst  dem  Gedanken  Aus- 
druck gab,  dass  der  Lebensprozess  ein  chemischer  ist  und  chemische 
Veränderungen  die  Bedingungen  der  Gesundheit  und  Krankheit  bilden. 
Er  erkannte  die  Unrichtigkeit  der  aus  dem  Alterthum  stammenden 
Lehre,  dass  das  Herz  der  Sitz  der  Wärme  sei,  und  sagte,  dass  jeder 
Körpertheil  seine  Wärmequelle  in  sich  trage. l  Er  wies  auf  die  Analogie 
der  Gicht  mit  den  Steinleiden  hin,  indem  es  bei  beiden  Krankheiten 
zur  Ablagerung  fester  Stoffe  komme,  und  empfahl  in  diesen  Fällen  den 
Gebrauch  alkalinischer  Säuerlinge.  Die  innere  Anwendung  verschiedener 
chemischer,  besonders  mineralischer  Substanzen  wurde  von  ihm  zuerst 
versucht;  zu  diesen  gehören  das  Quecksilber  in  verschiedener  Gestalt, 
mehrere  Bleiverbindungen,  antimonhaltige  Arzneien,  die  Schwefelmilch, 
der  Kupfervitriol,  der  Eisensafran  und  andere  Eisenpräparate. 

Paeacelsus  erklärte,  dass  die  Chemie  nicht  die  Aufgabe  habe, 
Gold  zu  fabriciren,  sondern  Arzneien  darzustellen.  Er  widmete  dieser 
Wissenschaft  ein  eifriges  Studium2  und  war  z.  B.  der  Erste,  der  sich 
zur  Bestimmung  des  Eisengehalts  der  Mineralwässer  der  Galläpfel- 
tinktur bediente.  Die  übelen  Folgen,  welche  der  länger  fortgesetzte 
Gebrauch  einzelner  mineralischer  Stoffe,  z.  B.  des  Quecksilbers,  hinter- 
lässt,  entgingen  ihm  keineswegs;  er  hatte  sie  an  den  Arbeitern  der 
Bergwerke  von  Idria  kennen  gelernt.  Ebenso  schilderte  er  die  Wirkungen 
des  Arseniks  und  die  Krankheiten,  denen  die  Bergleute  beim  Schmelzen 
mancher  Metalle  ausgesetzt  sind.  Indem  er  die  Chemie  aus  den  Händen 
der  Alchy misten  befreite  und  der  Heilkunde  nutzbar  machte,  gab  er 
die  Anregung  zur  wissenschaftlichen  Bearbeitung  der  Chemie  und  zur 
Begründung  der  medicinischen  Chemie. 

Die  Wirkungen  dieser  Thatsachen  zeigten  sich  in  der  Pharma- 
kologie; zahlreiche  halb-  oder  ganz  vergessene  Arzneien  wurden  wieder 
in  Erinnerung  gebracht  und  andere  neu  erfunden.  Gleichzeitig  erfuhr 
der  Arzneischatz  durch  die  Medicamente,  welche  aus  Amerika  einge- 
führt wurden,  manche  Bereicherung. 

Kaiser  Carl  V.  gebrauchte  auf  Vesals  Verordnung,  als  er  an  der 
Gicht  darniederlag,  eine  Abkochung  der  China-Wurzel.  Das  Guajak- 
holz  erlangte  einen  grossen  Ruf  als  specifisches  Mittel  gegen  die  S}^philis. 
Ulrich  yon  Hütten,  welcher  selbst  an  dieser  Krankheit  viele  Jahre 
litt,  hat  die  Wirkungen  des  Guajakholzes  ausführlich  geschildert.3 

1  Paracelsus:  Paramirum,  Lib.  I.        2  Kopp:  Gesch.  der  Chemie  a.  a.  0. 1,  96. 

3  U.  V.  Hütten:  De  Guajaci  medicina,  Mogunt.  1519.  —  F.  F.  A.  Potton: 

Livre  du  Chevalier  allemand  Ulrich  de  Hütten  sur  la  maladie  fran^aise,  Lyon  1865. 

17* 


260  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Auf  dem  Felde  der  inneren  Medicin  förderte  der  durch  den  Kampf 
gegen  den  Autoritätsglauben  geweckte  Geist  der  Selbstständigkeit  eine 
Menge  von  Beobachtungen  zu  Tage,  welche  zur  Kenntniss  der  Krank- 
heiten viel  beitrugen.  Das  Wesen  der  Syphilis,  die  damals  mit  un- 
gewöhnlicher Heftigkeit  und  in  seuchenhafter  Ausbreitung  auftrat,  und 
deshalb  für  eine  neue  Krankheit  gehalten  wurde,  die  aus  den  neuent- 
deckten überseeischen  Ländern  nach  Europa  gelangt  sei,  wurde  durch 
die  Feststellung  der  genetischen  Beziehungen  zwischen  den  secundären 
und  tertiären  Folgezuständen  und  der  primären  Lokal-Affektion  in  ein 
überraschendes  Licht  gestellt.  Mit  dem  Verlauf,  den  Erscheinungen 
und  der  Behandlung  dieses  Leidens  beschäftigten  sich  zahlreiche 
Schriften,  welche  alle  Theile  des  Krankheitsbildes  berücksichtigten. 

Aus  derselben  Zeit  stammen  die  ersten  Mittheilungen  über  den 
Scorbut.  Vasco  de  Gama  verlor  auf  seiner  Expedition  i.  J.  1498  nicht 
weniger  als  55  seiner  Schiffsgefährten,  die  an  dieser  Krankheit  zu 
Grunde  gingen.1  Auch  in  den  Küstenländern  der  Nord-  und  Ostsee 
und  in  einzelnen  andern  Gegenden  wurde  das  Auftreten  derselben 
beobachtet. 

In  das  Ende  des  16.  Jahrhunderts  fallen  ferner  die  ältesten  Berichte 
über  die  Kriebelkrankheit,  den  Ergotismus  convulsivus,  der  sich  von 
der  gangränösen  Form  dieser  Intoxication ,  welche  man  in  früheren 
Zeiten  gewöhnlich  als  Ignis  sacer  bezeichnete,  sowohl  durch  die  Krank- 
heitserscheinungen als  durch  die  geographische  Verbreitung  unterschied. 

Durch  das  sorgfältigere  Studium  der  Krankheitserscheinungen  und 
den  Fortschritt  der  medicinischen  Wissenschaft  gelangte  man  auch 
allmälig  dahin,  dass  die  vielumfassenden  nosologischen  Begriffe  des 
Aussatzes  und  der  Pest  in  die  einzelnen  Krankheiten,  aus  denen  sie 
sich  zusammengesetzt  hatten,  zerlegt  werden  konnten.  In  Folge  dessen 
erlangten  neben  verschiedenen  Leiden,  die  sich  durch  Ablagerungen  in 
der  Haut  kennzeichnen,  die  typhösen  Erkrankungen  einen  selbststän- 
digen Platz  in  der  wissenschaftlichen  Pathologie. 

Fkacastorio,  der  hervorragendste  Epidemiograph  des  16.  Jahr- 
hunderts, veröffentlichte  die  erste  Beschreibung  des  exanthematischen 
Typhus.  Baillou  hinterliess  die  ersten  unzweideutigen  Schilderungen 
des  Keuchhustens  und  des  Croups. 

Ausser  diesen  fundamentalen  Arbeiten  verdient  die  casuistische 
Literatur  hervorgehoben  zu  werden,  welche  für  die  Entwickelung  der 
Heilkunde  von  grosser  Bedeutung  war.    Einzelne  Beobachtungen  bieten 


1  A.  Hirsch:  Handbuch  der  historisch-geographischen  Pathologie,  Stuttgart 
1883,  II,  358  u.  ff. 


Die   Universitäten  im  16.  Jahrhundert.  261 

noch  jetzt  Interesse,  wie  diejenigen  über  Gallensteine  von  Al.  Benedetti, 
ferner  die  durch  eine  Abbildung  illustrirte  Beschreibung  der  Nieren- 
steine des  Herzogs  Albrecht  V.  von  Bayern,  denen  der  Volksglaube  die 
Gestalt  von  Jesuiten-Köpfen  andichtete,1  der  von  F.  Vallekiola  erzählte 
Fall,  in  dem  eine  Pistolenkugel,  welche  in  die  Bauchhöhle  eingedrungen 
war,  nach  einiger  Zeit,  ohne  weitere  Folgen  zu  hinterlassen,  durch  den 
After  entleert  wurde,2  der  Bericht  des  Dodonaeus,  welcher  bei  der 
Sektion  eines  französischen  Prinzen,  der  lange  Zeit  am  Tripper  und  an 
Nierenschmerzen  gelitten  hatte,  Vereiterung  der  Ureteren  und  Ver- 
härtung der  Nieren  fand,3  die  psychiatrischen  Erfahrungen  Felix 
Plattebs,  welcher  sich  gegen  die  Zwangsmassregeln  und  die  Ein- 
sperrung der  Geisteskranken  in  Gefängnisse  aussprach,  u.  ä.  m. 

Welche  reiche  Vermehrung  des  Inhalts  die  medicinische  Wissen- 
schaft im  16.  Jahrhundert  erfahren  hat,  lässt  sich  hier  leider  nur 
andeuten ;  denn  eine  ausführliche  Schilderung  der  einzelnen  Fortschritte 
würde  zu  weit  führen  und  ist  nicht  die  Aufgabe  dieses  Buches.  Die 
angeführten  Beispiele  werden  genügen,  um  zu  zeigen,  wie  sich  der 
Zeitgeist  in  der  Entwickelung  der  Medicin  wiederspiegelte. 


Die  Universitäten  im  16.  Jahrhundert. 

Das  mit  ungeahnter  Kraft  sich  entfaltende  Geistesleben  hatte  die 
Gründung  zahlreicher  Universitäten  zur  Folge.  In  Spanien  und  Por- 
tugal, welche  durch  die  überseeischen  Entdeckungen  in  den  Vorder- 
grund der  öffentlichen  Interessen  gedrängt  wurden,  wurden  Hochschulen 
zu  Toledo  (1520),  Baeza  (1533),  Compostella  (1534),  Granada  (1540), 
Ossuna  und  Gandia  (1549),  Almagro  (1552),  Orchuela  (1555),  Terra- 
gona  (1572)  und  Oviedo  (1580)  errichtet;  selbst  in  der  neuen  Welt, 
in  Lima  (1551)  und  Mexiko  (1553),  entstanden  Universitäten. 

Aber  ihre  Bedeutung  für  die  Entwickelung  der  Wissenschaft  blieb 
gering.  Sie  sanken  rasch  in  Vergessenheit,  als  Spanien,  dem  das 
Schicksal  die  Bolle  der  leitenden  Seemacht  zugedacht  hatte,  durch  die 
kurzsichtige  Glaubenspolitik  seiner  Herrscher  und  den  beschränkten 
Klerikalismus  seines  Volkes  von  der  politischen  Höhe,  die  es  erreicht 
hatte,  herabgestürzt  wurde. 


1  Crede  u.  Distel  in  Virchow's  Archiv,  Bd.  96,  S.  501  u.  ff. 

2  Observat.  medicin.,  lib.  IV,  c.  9,  Lugd.  1605. 

3  Medic.  observat.  exempla  rara,  Harderwjk  1521,  p.  72,  c.  41. 


262  Der  medicinische   Unterricht  m  der  Neuzeit. 


England  und  die  Niederlande ,  welche  an  Spaniens  Stelle  traten 
und  bald  den  Handel  und  Verkehr  mit  den  überseeischen  Ländern 
beherrschten,  wussten  besser  den  Vortheil  ihrer  Lage  auszunutzen. 
Sie  blühten  empor  und  wurden  die  wohlhabendsten  Länder  der  Welt. 
Sie  vereinigten  die  Reichthümer  Amerikas  mit  den  Schätzen  Asiens 
in  ihrem  Besitz;  denn  auch  der  Orienthandel,  welcher  bis  dahin  seinen 
Weg  über  Italien  genommen  hatte,  schlug  eine  andere  Richtung  ein 
und  gelangte  zur  See  nach  den  Küsten  Britanniens,  Hollands  und 
Norddeutschlands. 

In  dieser  Thatsache  liegt  die  Erklärung  der  merkwürdigen  Er- 
scheinung, dass  diese  Länder  fortan  auch  auf  den  geistigen  Gebieten, 
in  der  Kunst  und  Wissenschaft,  eine  hervorragende  Rolle  spielten, 
während  sie  andererseits  auf  den  Verfall  Italiens,  der  mit  jener  Zeit 
begann  und  am  Schluss  des  17.  Jahrhunderts  deutlich  zu  Tage  trat, 
ein  Licht  wirft. 

Italien  erhielt  im  16.  Jahrhundert  nur  zwei  Hochschulen,  nämlich 
zu  Macerata  (1540)  und  zu  Messina  (1548).  In  Frankreich  wurden 
Universitäten  zu  Rheims  (1558),  Douai  (1561),  Besancon  (1564)  und 
Pont-ä-Mousson  (1572)1  gegründet,  denen  sich  die  in  der  französischen 
Schweiz  gelegenen  Universitäten  zu  Lausanne  (1536)  und  Genf  (1569) 
anschlössen.  Ausserdem  errichtete  der  König  Franz  I.  das  College  de 
France,  an  welchem  unentgeltliche  Vorlesungen  gehalten  wurden,  deren 
Besuch  Jedermann  gestattet  war.  Unter  den  reich  dotirten  12  Lehr- 
kanzeln befand  sich  auch  eine  für  Medicin. 

Auf  den  britt.ischen  Inseln  erhielt  Edinburg  1583  und  Dublin  1591 
eine  Universität.  In  den  Niederlanden  entstanden  derartige  Anstalten 
zu  Leyden  (1575)  und  Franecker  (1585).  An  der  östlichen  Grenze 
der  Cultur  wurde  Wilna  (1597)  zum  Sitz   einer  Hochschule  gemacht. 

Auch  die  Zahl  der  deutschen  Universitäten  wurde  erheblich  ver- 
mehrt. Schon  auf  dem  Reichstage  zu  Worms  i.  J.  1495  richtete  der 
Kaiser  Maximilian  I.  an  die  Kurfürsten  die  Aufforderung,  dass  Jeder 
in  seinem  Lande  eine  Hochschule  gründe.  Was  die  Kurfürsten  thaten, 
das  wollten  auch  die  übrigen  Landesherren  durchsetzen,  wenn  es  irgend 
möglich  war.  So  wurde  eine  Menge  von  Universitäten  ins  Leben  ge- 
rufen, von  denen  manche  kaum  die  notdürftigsten  Mittel  zu  ihrer 
Existenz  erhielten. 

Im  J.  1502  errichtete  der  Kurfürst  Friedrich  der  Weise  von  Sachsen 
mit  kaiserlicher  Genehmigung  die  Hochschule  zu  Wittenberg,  welche 


1  Toürdes:  Origine  de  l'enseignement  med.  au  Lorraine.    La  faculte  de  med. 
de  Pont-ä-Mousson,  Paris  1876.  —  Legrand;  L'universite  de  Douai,  Douai  II 


Die   Universitäten  im  16.  Jahrhundert.  263 


in  den  folgenden  Decennien  den  Mittelpunkt  der  religiösen  Reform- 
bewegung bildete.  Darauf  folgte  1506  die  Gründung  der  Universität 
zu  Frankfurt  a/O.  für  die  Markgrafschaft  Brandenburg. 

Die  erste  Hochschule,  die  nach  der  Kirchenspaltung  entstand  und 
einen  ausgesprochen  protestantischen  Charakter  trug,  war  diejenige  zu 
Marburg  in  Hessen,  welche  1527  errichtet  wurde,  aber  erst  1541  die 
Bestätigung  des  Kaisers  erhielt.  Gleich  der  Marburger  Universität 
entstand  auch  diejenige  zu  Königsberg  in  Preussen  (1544)  unter 
Melanchthüns  Einfluss;  sein  Schwiegersohn  Sabin us  war  ihr  erster 
Rector.1 

In  Dillingen  gründete  der  Augsburger  Bischof  0.  von  Truchsess 
i.  J.  1549  eine  Bildungsanstalt  für  Kleriker,  welcher  1554  vom  Pabst 
die  Hechte  einer  Universität  verliehen  wurden.  Sie  wurde  später  von 
den  Jesuiten  geleitet  und  1804  aufgehoben.2 

Die  Entstehung  der  Universität  Jena  (1558)  hatte  darin  ihren 
Grund,  dass  der  Kurfürst  Johann  Friedrich  von  Sachsen,  als  er  nach 
der  unglücklichen  Schlacht  bei  Mühlberg  genöthigt  wurde,  sein  Land 
gegen  dasjenige  seines  Vetters  Moritz  zu  vertauschen,  eine  Universität 
in  der  Nähe  seiner  Residenz  haben  wollte.  —  Seinem  Beispiel  folgte 
Herzog  Julius  von  Braunschweig  und  schuf  1576  die  Universität 
Helmstädt,  welche  bis  1809  existirte.  Die  medicinische  Facultät  der- 
selben führte  in  ihrem  Wappen  einen  gekrönten  Ochsen  unter  einem 
Stern.3 

In  den  Ländern  der  Habsburgischen  Dynastie  wurden  Hochschulen 
zu  Olmütz  (1573)  und  Graz  (1585)  mit  katholischem  Charakter  errichtet, 
die  jedoch  nicht  mit  allen  Facultäten  ausgestattet  waren. 

Nur  die  Universität  zu  Würzburg,  welche  i.  J.  1582  vom  Fürst- 
bischof Julius  Echter  wiedereröffnet  wurde,  besass  reichere  Hilfsmittel 
für  das  medicinische  Studium.  Übrigens  hatten  auch  die  übrigen  der 
neu  entstandenen  Universitäten  selten  mehr  als  einen  Professor  der 
Medicin.     Die  Theologie  stand  immer  noch  im  Vordergrunde. 

Die  protestantischen  Hochschulen  kämpften  nicht  weniger  eifrig 
für  den  neuen  Glauben,  als  die  katholischen  Universitäten  unter  jesuiti- 
scher Führung  die  Autorität  des  Pabstes  verth eidigten.  An  der  Hoch- 
schule zu  Helmstädt  wurde  Niemand  geduldet,  der  nicht  dem  luthe- 
rischen Glauben  anhing.  Der  Herzog  von  Braunschweig  erklärte  1584 
dem  General -Consistorium,    dass  es  besser  sei,   wenn  derartige  Leute 


1  M.  Toppen:  Die  Gründung  der  Universität  zu  Königsberg,  1844. 

2  Paulsen:  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  a.  a.  0.  S.  268. 

3  Geschichte  der  ehemaligen  Hochschule  zu  Helmstädt,  Helmstädt  1876. 


264  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

„zum  Teufel  führen,  als  dass  sie  seine  Kirchen  und  Schulen  verunreinten 
und  befleckten".1  Aber  es  war  doch  schon  ein  grosser  Fortschritt  zur 
Toleranz,  dass  er  die  Andersgläubigen  nur  ins  Jenseits  wünschte  und 
nicht  mehr  gewaltsam  dorthin  befördern  liess. 

Leider  kam  auch  dies  unter  der  Herrschaft  des  Protestantismus 
nur  zu  oft  vor,  wie  abgesehen  von  den  grausamen  und  blutigen  Ver- 
folgungen, deren  Schauplatz  England  und  die  ihm  unterworfenen  Länder 
waren,  das  Beispiel  des  unglücklichen  Michael  Servet  beweist,  der  auf 
Calvins  Betreiben  in  Genf  den  Scheiterhaufen  besteigen  musste,  weil 
ihm  das  Verständniss  für  die  Dreieinigkeit  Gottes  nicht  gelang.2 

Die  Wirkung  der  Kirchenspaltung  auf  die  Universitäten,  welche 
sich  der  religiösen  Reformbewegung  anschlössen,  äusserte  sich  zunächst 
in  der  Loslösung  von  Rom,  in  der  Beseitigung  der  päbstlichen  Ingerenz. 
Aber  der  kirchliche  Einfluss  wurde  dadurch  nicht  aufgehoben;  es  traten 
nur  an  die  Stelle  der  katholischen  Theologen  die  protestantischen,  deren 
Herrschaft  in  manchen  Ländern,  z.  B.  in  England,  sehr  drückend  war 
und  sich  in  unberechtigter  Weise  auf  alle  möglichen  Gebiete  des  geistigen 
Lebens  ausdehnte. 

Ein  freierer  Geist  beseelte  die  protestantischen  Hochschulen  Deutsch- 
lands. Die  Geistlichkeit  der  neuen  Kirchen  gewann  hier  geringere 
Macht  und  entwickelte  sich  allmälig  zu  einem  Organ  der  Staatsgewalt, 
die  aus  Gründen  der  politischen  Zweckmässigkeit  brutale  Ausbrüche 
der  religiösen  Intoleranz  vermeiden  musste.  In  Frankreich  wurde  die 
Verstaatlichung  der  Universitäten  und  überhaupt  des  gesammten  Schul- 
wesens, welche  in  den  protestantischen  Ländern  Deutschlands  unter  dem 
Einfluss  der  Kirchenspaltung  zu  Stande  kam,  durch  die  Kraft  der  Re- 
gierungen allmälig  herbeigeführt. 

In  den  katholischen  Ländern  Deutschlands  vollzog  sich  dieser 
Prozess  erst  im  18.  Jahrhundert,  in  anderen  Staaten,  z.  B.  in  Italien, 
im  19.  Jahrhundert.  Derselbe  hatte  manche  Veränderungen  in  der 
Organisation  der  Universitäten  im  Gefolge.  Die  Kanzler-Würde  wurde, 
wenn  man  sie  nicht  gänzlich  abschaffte,  mit  hohen  Beamten  oder  Ver- 
trauensmännern der  Staatsregierung  besetzt  und  die  Licenz  nicht  mehr 
von  der  Kirche,  sondern  vom  Staat  ertheilt. 

Der  kosmopolitische  Charakter  der  Universitäten  hörte  damit  auf; 
sie  waren  fortan  nichts  weiter  als  die  höchsten  Lehranstalten  des  Staates, 
und  ihre  akademischen  Grade  hatten  nicht  mehr,  wie  früher,  Geltung 


1  Paulsen  a.  a.  0.  S.  178  nach  E.  L.  T.  Henke:  Georg  Calixtus  und  seine 
Zeit,  Halle  1853. 

2  W.  E.  H.  Lecky:  Geschichte  der  Aufklärung  in  Europa  II,  31  u.  ff. 


Die   Universitäten  im  IG.  Jahrhundert.  265 


für  alle  Länder  der  Christenheit,  sondern  nur  für  einen  engbegrenzten 
politischen  Bezirk.  Die  schrankenlose  Freizügigkeit,  deren  sich  die  ge- 
lehrten Stände  im  Mittelalter  erfreuten,  wurde  aufgehoben,  und  es  ent- 
wickelte sich  allmälig  ein  Prohibitivsystem,  welches  die  Wissenschaft 
nur  anerkannte,  wenn  sie  innerhalb  der  eigenen  Grenzpfähle  erworben 
worden  war. 

Eine  grosse  Umwälzung  erfuhren  im  Allgemeinen  die  finanziellen 
Verhältnisse  der  Universitäten  Deutschlands  und  mehrerer  anderer 
Länder,  welche  sich  dem  Protestantismus  anschlössen.  Die  Professoren 
verloren  die  Aussicht  auf  eine  Vermehrung  ihrer  Einnahmen  durch 
fette  Kirchenpfründen.  Die  geringe  Erhöhung  ihrer  Besoldungen,  welche 
bei  der  Säcularisation  der  Kirchengüter  erfolgte,  bot  dafür  nur  einen 
dürftigen  Ersatz.  Überall  fühlte  man,  dass  der  sichere  Rückhalt,  den 
man  an  den  reichen  Geldmitteln  der  Kirche  gehabt  hatte,  nicht  mehr 
vorhanden  war. 

Wie  geringfügig  die  Mittel  waren,  welche  damals  die  Erhaltung 
einer  Universität  erforderte,  zeigt  das  Jahres-Budget  der  Tübinger  Hoch- 
schule von  1541/42.  Die  Einnahmen  betrugen  5176  fl.,  die  Ausgaben 
4853  fl.;  in  den  letzteren  waren  die  Professoren-Gehälter  für  3  Theo- 
logen, 6  Juristen,  2  Medianer  und  10  Artisten  mit  je  40 — 200  fl., 
im  Ganzen  2394  fl.  enthalten.1 

Die  Bedürfnisse  einer  kleinen  Universität  in  jener  Zeit  waren  nicht 
bedeutend,  wie  das  Beispiel  von  Greifs wald  zeigt,  wo  sich  sämmtliche 
Räumlichkeiten  derselben  in  einem  einzigen  Hause  befanden.  Sie  be- 
standen aus  drei  Hörsälen,  dem  Senatssaal,  dem  Laden  für  die  aka- 
demische Buchhandlung,  dem  Bibliot.hekzimmer,  dem  Archiv,  zwei 
Professoren- Wohnungen,  mehreren  Kammern,  in  denen  Studenten  wohnten, 
und  dem  Carcer  im  Souterrain.2 

Die  katholischen  Hochschulen  befanden  sich  in  dieser  Beziehung 
in  einer  günstigeren  Lage.  Pabst  Julius  III.  erliess  i.  J.  1553  eine 
Bulle,  nach  welcher  es  gesetzlich  gestattet  war,  geistliche  Pfründen  an 
weltliche  Professoren  zu  verleihen,  was  übrigens  schon  seit  langer  Zeit 
gebräuchlich  war  und  stillschweigend  geduldet  wurde. 

Das  Cölibat  der  Universitätslehrer  wurde  dadurch  gegenstandslos 
und  hörte  allmälig  auch  in  den  katholischen  Ländern  auf.  An  den 
protestantischen  Hochschulen  war  es  selbstverständlich  ausgeschlossen; 
doch  wirkte  die  Gewohnheit  so  mächtig,  dass  man  z.  B.  in  Tübingen 
daran   noch   festhielt   und  es  sogar  von  den  Professoren  der  Medicin 


1  F.  Paulsen  in  Sybel's  histor.  Zeitschr.  1881,  Bd.  45,  S.  278  u.  ff. 

2  F.  Paulsen  a.  a.  0.  S.  304.  407. 


266  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


verlangte,    nachdem    die    Universität   schon   längst  protestantisch    ge- 
worden war. 

Die  Besoldungen  der  Professoren  waren  verschieden  in  den  ein- 
zelnen Ländern  und  Facultäten;  diejenigen  der  Mediciner  standen  denen 
der  Theologen  und  Juristen  im  Allgemeinen  nach.  In  Paris  erhielt 
jeder  Professor  der  Heilkunde  i.  J.  1505  12  livres  jährlich.1  In 
Königsberg  wurden  den  beiden  Lehrern  der  Medicin  i.  J.  1544  Be- 
soldungen von  200  und  150  fl.  ausgesetzt.2  In  Heidelberg  bezogen 
die  drei  Professoren  der  Medicin  vor  der  Reformation  Jahresgehälter 
von  180,  160  und  140  fl.  Im  J.  1588  wurden  dieselben  erhöht  auf 
270,  180  und  170  fl. ;  ausserdem  erhielt  Jeder  freie  Wohnung,  sowie 
ein  Puder  Wein  und  12  Malter  Korn  jährlich. 3 

Der  Herzog  Wilhelm  von  Bayern  stellte  1537  einen  Kechtslehrer 
in  Ingolstadt  mit  300  fl.  Gehalt  an.  Dies  war  die  höchste  Besoldung, 
die  damals  auf  einer  deutschen  Universität  gezahlt  wurde.4 

Die  Studentenschaft  wurde  von  den  grossen  Begebenheiten  der 
Zeit  ebenfalls  mächtig  ergriffen.  Der  auf  allen  Linien  eröffnete  Kampf 
gegen  die  Autorität,  der  Humanismus,  welcher  in  den  ungezwungenen 
Lebensformen  der  antiken  Welt  seine  Ideale  fand,  vor  Allem  aber  die 
Kirchenspaltung  erzeugten  einen  Geist  der  Freiheit  und  Unabhängigkeit, 
welcher  sich  manchmal  gegen  jede  Beeinträchtigung  der  Selbstständig- 
keit auflehnte. 

Die  Senatsprotokolle  der  Tübinger  Universität  enthalten  merk- 
würdige Belege  für  die  Sittengeschichte  der  Studierenden  des  16.  Jahr- 
hunderts. So  beschwerten  sich  die  Nonnen  von  Suchen  in  einem 
Schreiben  v.  J.  1564  beim  Senat,  dass  sie  durch  die  häufigen  und  zu- 
dringlichen Besuche  der  Studenten  belästigt  wurden.  Viele  Studenten 
in  Tübingen  waren  verheirathet  und  Familienväter;  i.  J.  1575  wurde 
den  jungen  Studierenden  verboten,  sich  ohne  Einwilligung  ihrer  Eltern 
zu  verehelichen.  Im  J.  1589  wurde  dem  Senat  angezeigt,  dass  eine 
Wittwe  mit  Studenten  Unzucht  trieb;  zur  Strafe  dafür  wurde  sie  „in 
einem  Stüblein  an  die  Kette  gelegt".5 


1  Hazon  a.  a.  0. 

2  D.  H.  Aknoldt:  Historie  der  Königsbergischen  Universität,  Königsberg  1746. 

3  Hautz  a.  a.  0. 

4  Meiners:  Geschichte  der  Entstehung  der  hohen  Schulen,  Göttingen  1802. 

5  R.  v.  Mohl:  Nach  Weisungen  über  die  Sitten  und  das  Betragen  der  Tü- 
binger Studierenden  während  des  16.  Jahrhunderts,  Tübingen  1871.  —  Jon. 
Huber:  Deutsches  Studentenleben  in  Kleine  Schriften,  Leipzig  1871,  S.  364  u.  ff. 
—  B.  Gebhardt  in  der  Zeitschr.  f.  allgem.  Gesch.  her.  v.  Zwiedineck- Südenhorst, 
Bd.  IV,  1887,  S.  962. 


Die   Universitäten  im  16.  Jahrhundert.  267 


In  Wittenberg  kamen  ähnliche  Excesse  vor.1  Auch  unter  den 
Studenten  katholischer  Universitäten  herrschte  ein  roher  gewaltthätiger 
Ton,  wie  die  Nachrichten  über  Ingolstadt  beweisen.2 

Die  Studenten  wohnten  theils  in  Bursen  oder  Convikten,  wie  sie 
schon  im  Mittelalter  existirten,  theils  bei  Privatleuten  oder  Professoren. 
Die  letzteren  fanden  in  dem  Gelde,  welches  sie  für  die  Aufnahme  und 
Verpflegung  der  Studierenden  empfingen,  eine  bisweilen  recht  erwünschte 
Einnahme-Quelle.  Maetin  Lutheu's  Sohn  hielt  eine  vielbesuchte 
Studenten-Pension  in  Wittenberg.3  In  Heidelberg  kam  es  nicht  selten 
vor,  dass  die  Professoren  den  Wein,  welcher  einen  Theil  ihrer  Gehalts- 
bezüge bildete,  öffentlich  ausschenken  Hessen;  sie  durften  sicher  darauf 
rechnen,  dass  ihre  Hörer  dabei  mindestens  ebenso  fleissig  erscheinen 
würden,  als  in  ihren  Vorlesungen. 

Arme  Studenten  waren  der  bittersten  Noth  ausgesetzt.  Ein  er- 
greifendes Bild  dieses  traurigen  Daseins  hat  Thomas  Platter  in  seiner 
Selbstbiographie  gezeichnet.  Hungernd  und  frierend,  in  Lumpen  ge- 
hüllt und  bettelnd  durchzog  er  mit  seinen  Gefährten  die  Schweiz  und 
Deutschland.  Die  fahrenden  Studenten  bildeten  ein  Vagabundenthum, 
welches  die  Leichtgläubigkeit  und  Unwissenheit  brandschatzte  und  in 
manchen  Gegenden  zu  einer  argen  Landplage  wurde. 

Eine  tiefe  gesellschaftliche  Kluft  trennte  diese  Bettelstudenten  von 
den  reichen  und  vornehmen  Studierenden,  welchen  an  den  meisten 
Universitäten  eine  bevorzugte  Stellung  eingeräumt  wurde.  Dieselben 
suchten  häufig  durch  kostspielige  Schmausereien  und  Gelage,  durch  ein 
verschwenderisches  Auftreten  und  übertriebenen  Kleiderluxus  Aufsehen 
zu  erregen.  So  kosteten  z.  B.  die  Pluderhosen  mancher  Studenten  über 
100  fl.:  eine  Summe,  deren  Bedeutung  man  erst  begreift,  wenn  man 
bedenkt,  dass  der  aus  drei  Gängen  und  einem  Quart  Wein  bestehende 
Mittagstisch  für  die  Tübinger  Studenten  damals  mit  38  fl.  jährlich  be- 
zahlt wurde.  Gesetze,  Predigten  und  Bücher  eiferten  gegen  die  Ver- 
schwendungssucht der  Studenten,  aber,  wie  es  scheint,  ohne  Erfolg. 

Professor  Musculus  zu  Frankfurt  a/O.  geisselte  die  Sitte  der  Pluder- 
hosen in  einer  Schrift,  welche  den  Titel  führte:  „Vermahnung  und 
Warnung  vom  zerluderten,  zucht-  und  ehrverwegenen  pludrichten  Hosen- 
teufel. (Frankfurt  a/O  1556.)"  Ein  Senatsbeschluss  der  Tübinger  Hoch- 
schule v.  J.  1554  verwarnte  „die  Edelleute,  so  neuerlich  hierher  ge- 
kommen, wegen  ihrer  Bruttalhosen  und  Blossgesäss  und  forderte  sie 
auf,  solch'  unfläthig  und  kriegerisch  Kleid  abzulegen." 


1  J.  F.  A.  Gillet:  Crato  von  Crafftheim,  Frankfurt  a/M.  1860,  I,  101. 

2  B.  Gebhardt  a.  a.  0.  S.  957.       3  Paulsen:  Gesch.  d.  gel.  Unterrichts  S.  161. 


268  Der  medicinische  Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Der  medicinische  Unterricht. 

Die  Veränderungen,  welche  die  medicinische  Wissenschaft  erfuhr, 
äusserten  ihren  Einfluss  auf  den  medicinischen  Unterricht  dadurch,  dass 
die  Summe  des  Lehrstoffes  sowohl  wie  die  Anzahl  der  Professuren  und 
die  Lehrmittel  vermehrt  wurden,  und  die  Methode  der  ärztlichen  Aus- 
bildung, entsprechend  der  grösseren  Bedeutung,  welche  die  Anatomie 
und  Chirurgie  erlangt  hatten,  allmälig  eine  etwas  mehr  praktische 
Richtung  erhielt.  Die  culturhistorischen  Ereignisse,  die  Erfindungen 
und  Entdeckungen,  übten  ebenfalls  eine  mächtige  Wirkung  auf  das 
Unterrichtswesen  aus. 

Vor  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  gehörten  Bibliotheken 
zu  den  seltensten  und  kostbarsten  Dingen.  Die  medicinische  Facultät 
zu  Paris  besass  i.  J.  1395  nicht  mehr  als  9  Werke,  unter  welchen 
der  Continens  des  Khazes  am  höchsten  geschätzt  wurde.  Als  der 
König  Ludwig  XL  dieses  Werk  i.  J.  1471  ausleihen  wollte,  um  es  ab- 
schreiben zu  lassen,  fanden  deshalb  lange  Berathungen  der  Facultät 
statt,  und  dieselbe  ertheilte  ihre  Bewilligung  erst,  nachdem  der  König 
eine  Caution  von  12  Mark  Silber  erlegt  und  100  Thaler  Gold  herge- 


liehen hatte.1 

Privatleute  waren  nur  mit  Aufwand  grosser  Mittel  im  Stande,  sich 
Büchersammlungen  anzulegen.  Selbst  ein  so  hervorragender  und  ver- 
mögender Arzt,  wie  Taddeo  Aldebotti,  hinterliess  bei  seinem  Tode 
nur  4  Bücher;  im  Nachlass  des  Arztes  Fkeidank  fand  man  nicht  mehr 
als  3  Bücher.2 

Die  Anfertigung  der  Abschrift  eines  Werkes  nahm  Jahre  des  an- 
gestrengtesten Fleisses  in  Anspruch  und  setzte  Kenntnisse  voraus,  die 
damals  wenig  verbreitet  waren.  Mit  der  Erfindung  des  Bücherdrucks 
vollzog  sich  in  dieser  Hinsicht  ein  Umschwung,  ähnlich  demjenigen, 
der  in  neuester  Zeit  geschah,  als  die  Maschinen-Arbeit  den  Handbetrieb 
in  der  Herstellung  der  Waaren  ersetzte. 

Die  Gründung  und  Vermehrung  der  Bibliotheken  der  Hochschulen 
wurde  dadurch  erleichtert  oder  eigentlich  erst  ermöglicht.  Die  Uni- 
versitäten gewannen  damit  ein  Lehrmittel,  welches  die  Entwicklung 
des  Geistes  und  Charakters  in  gleicher  Weise  förderte.  Sie  erkannten 
die  Wichtigkeit  desselben  sehr  gut  und   waren   bemüht,    die   für   die 


1  J.  C.  Sabatier  a.  a.  0.  —  Koseoarten  (Geschichte  der  Universität  Greifs- 
wald, Greifswald  1857,  II,  232)  giebt  ein  Verzeichniss  der  Bücher,  welche  sich 
1482  im  Besitz  der  dortigen  medicinischen  Facultät  befanden. 


2  Kriege:  a.  a.  0.  I,  17. 


Der  medicinisohe   Unterricht.  269 


Erwerbung  von  Büchern  erforderlichen  Geldmittel  herbeizuschaffen  und 
die  Benutzung-  der  Sammlungen  durch  zweckmässige  Einrichtungen 
und  Vorschriften  zu  regeln. x  Die  Bibliotheksordnimg  der  medicinischen 
Facultät  zu  Montpellier  v.  J.  1534  bestimmte,  dass  die  Bibliothek  im 
Sommer  um  6  Uhr,  im  Winter  um  8  Uhr  früh  geöffnet  und  Nach- 
mittags um  4  Uhr  geschlossen  wurde,  und  machte  die  Studierenden, 
welche  sie  benutzten,  für  jeden  Schaden,  der  durch  Verlust  oder  Ver- 
unreinigung der  Bücher  entstand,  verantwortlich.2 

Im  16.  Jahrhundert  begann  man  auch,  die  Universitäten  mit  bo- 
tanischen Gärten  auszustatten.  Die  Kepublik  Venedig  ging  darin  allen 
übrigen  Staaten  mit  gutem  Beispiel  voran,  indem  sie  1545  in  Padua 
einen  botanischen  Garten  anlegen  Hess.3  Darauf  entstanden  diejenigen 
zu  Pisa  (1547)  und  Bologna  (1568),  wo  später  A.  Cesalpini,  „der 
grösste  Botaniker  seines  Jahrhunderts",  lehrte  und  wirkte.  Leyden  er- 
hielt 1577,  Montpellier  1593  einen  botanischen  Garten.  An  den  deut- 
schen Hochschulen  wurden  die  ersten  zu  Leipzig  (1580),  Breslau  (1587), 
Basel  (1588)  und  Heidelberg  (1593)  gegründet.4  Sie  hatten  zunächst 
wohl  nur  den  Zweck,  das  Studium  der  Arzneipflanzen  zu  begünstigen. 

Der  Unterricht  in  der  Botanik  wurde  mit  Demonstrationen  der 
Pflanzen  verbunden,  welche  das  Verständniss  des  Vortrags  ausser- 
ordentlich erleichterten.  Ausserdem  wurden  dazu  Herbarien,  Samm- 
lungen getrockneter  Pflanzen,  welche  ungefähr  seit  der  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts  eingeführt  wurden,5  sowie  Abbildungen  der  Pflanzen 
benutzt. 

Schon  im  iUterthum  pflegte  man  botanische  Werke  mit  Zeich- 
nungen zu  verzieren.  Diejenigen  der  Handschriften  des  Dioskoeides, 
welche  sich  im  Besitz  der  kaiserlichen  Hofbibliothek  zu  Wien  befinden, 
stammen  aus  dem  5.  Jahrhundert.  Auch  aus  der  späteren  Zeit,  be- 
sonders aus  dem  15.  Jahrhundert,  haben  sich  mehrere  Pflanzen-Zeich- 
nungen erhalten.6 

Durch  die  Erfindung  des  Holzschnitts  und  Kupferstichs  wurde  es 
möglich,  die  Abbildungen  in  wünschenswerther  Weise  zu  vervielfältigen. 
Hervorragende  Künstler,  ja  sogar  die  Meisterhand  eines  Guido  Reni, 
entwarfen  die  Zeichnungen  dazu.     Die  botanische  Literatur  wurde  im 


1  Prantl  a.  a.  0.  I,  215. 

2  Dübouchet  in  der  Gaz.  hebd.  des  scienc.  med.  de  Montpellier  1887,  No.  11, 
p.  124.  Vergl.  auch  das  sehr  detaillirte  Reglement  der  Bibliothek  der  Ecole  de 
medecine  zu  Paris  v.  J.  1395  bei  Sabatier  a.  a.  0. 

3  Meyer  a.  a.  0.  IV,  256  u.  ff.  4  Hatttz  a.  a.  0. 

5  Meyer  a.  a.  0.  IV,  266  u.  ff. 

6  Meyer  a.  a.  0.  IV,  273  u.  ff. 


270  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


15.  und  16.  Jahrhundert  mit  einer  grossen  Anzahl  von  illustrirten 
Werken  dieser  Art  bereichert. 

Noch  mehr  verdankte  die  Anatomie  der  bildenden  Kunst.  Die 
berühmtesten  Maler  jener  Zeit  widmeten  der  Anatomie  des  mensch- 
lichen Körpers  ein  eifriges  Studium.  Lionakdo  da  Vinci  liess  sich 
von  seinem  Freunde,  dem  Anatomen  Maec  Antonio  della  Toeee, 
über  den  Verlauf  und  die  Form  der  Muskeln  und  die  Lage  der  ein- 
zelnen Theile  des  menschlichen  Körpers  belehren.  Er  lieferte  ihm  die 
Zeichnungen  zu  einem  anatomischen  Werk,  welches  derselbe  heraus- 
geben wollte,  das  aber  niemals  erschienen  ist.  Dieselben  kamen  später 
grösstentheils  in  die  Biblioteca  Ambrosiana  nach  Mailand  und  dann 
nach  Paris;  ein  Theil  gelangte  in  den  Besitz  des  englischen  Königs- 
hauses und  wurde  theils  durch  den  Stich,  theils  mit  Hilfe  der  Photo- 
graphie veröffentlicht. x 

Auch  Michelangelo  beschäftigte  sich  viele  Jahre  hindurch  mit 
anatomischen  Studien  und  wurde  dabei  während  seines  Aufenthalts  in 
Rom  vom  Anatomen  Realdo  Colombo  unterstützt,  der  ihm  den  Leichnam 
eines  wunderbar  schönen  jungen  Negers  zu  diesem  Zweck  überliess.2  An 
den  Leichen  in  den  Kellern  von  S.  Spirito  zu  Florenz  betrachtete  er 
den  Bau  des  Menschen;  mit  grosser  Aufmerksamkeit  folgte  er  den 
Sektionen,  welchen  er  beizuwohnen  Gelegenheit  erhielt.  Es  ging  sogar 
die  Sage,  dass  er,  als  er  den  Heiland  am  Kreuz  darstellen  musste, 
einen  lebenden  Menschen  als  Modell  benutzt  habe,  gerade  so,  wie  man 
dies  bekanntlich  auch  im  Alterthum  von  Paeehasios  erzählte,  als  er 
den  vom  Geier  zerfleischten  Prometheus  malte.3 

Von  den  anatomischen  Zeichnungen  Michelangelo's  mag  die 
Skizze  einer  Leichen-Sektion  und  das  Bild  eines  männlichen  Körpers, 
dessen  Muskeln  stark  hervortreten,  erwähnt  werden;  das  letztere  ist 
durch  die  genaue  Abgrenzung  der  Proportionen  ausgezeichnet.  Auch 
Rafaels  Skelett-Studien  sind  streng  nach  der  Natur  gezeichnet;  durch 
innere  Wahrheit  und  den  Ernst  des  Ausdrucks  machen  sie  einen  er- 
greifenden Eindruck. 


1  Vasari:  Leben  der  ausgezeichneten  Maler,  Bildhauer  und  Baumeister. 
Deutsche  Übersetzung,  Stuttgart  1843,  Bd.  III,  S.  26.  —  R.  Knox:  Great  Artists 
and  great  Anatomists,  London  1852.  —  Choulant  a.  a.  0.  p.  6  u.  ff.  —  K.  F.  H. 
Marx:  Über  Marc  Antonio  della  Torre  und  Lionardo  da  Vinci  in  Abhdlgn.  der 
Göttinger  Soc.  d.  Wissensch.,  Bd.  IV,  177  u.  ff.  —  C.  Langer  in  d.  Sitzungsber. 
d.  k.  k.  Akad.  d.  Wiss.  Math.-Naturwiss.  KL,  Wien  1867,  Bd.  55,  I,  637. 

2  A.  Corradi  in  Rendic.  del  R.  Ist.  Lomb.  di  sc.  e  lett. ,  vol.  VI ,  ser.  II, 
p.  643. 

3  Haeser  a.  a.  0.  II,  27.  —  Choulant  a.  a.  0.  p.  10  u.  ff.  -  -  Ann.  Seneca: 
Controvers.,  lib.  X,  c.  5  (No.  34). 


Der  medicinisvhe   Unterricht.  271 


Vortreffliche  Darstellungen  der  Muskeln  und  des  Skeletts  des 
menschlichen  Körpers  gab  Rosso  de  Rossi,  ein  Schüler  des  Andrea 
del  Sarto,  welche  durch  den  Kupferstich  vervielfältigt  wurden. l  Auch 
die  Skulptur  wurde  von  dieser  Richtung  beeinflusst,  wie  die  im  Mai- 
länder Dome  befindliche,  von  Marco  Agrate  herrührende  Statue  des 
hl.  Bartholomäus  beweist,  an  welcher  die  Muskeln  blosgelegt  erscheinen. 

Yesals  anatomische  Tafeln  und  die  seinen  beiden  grösseren  Werken 
beigegebenen  Zeichnungen  stammen  aus  der  Schule  Tizians,  wahr- 
scheinlich grösstenteils  von  Johann  Calcar,  einzelne  Blätter  und  Ver- 
besserungen auf  anderen  vielleicht  von  Tizian  selbst.  Möglicherweise 
gehört  dazu  ausser  den  beiden  bekannten  Figuren  eines  männlichen 
und  weiblichen  Körpers  auch  das  Titelblatt,  auf  welchem  Vesal  er- 
scheint, wie  er  im  anatomischen  Theater  in  Gegenwart  eines  grossen 
Zuschauer-Publikums  die  Zergliederung  einer  Leiche  ausführt. 

Geringeren  Werth  haben  die  anatomischen  Tafeln  der  Vor-Vesalischen 
Periode,  wie  z.  B.  Bart.  Passarotti's  Aderlassfigur,  welche,  wie  es  scheint, 
zum  Unterricht  der  Chirurgen  und  Bader  diente.2 

Albrecht  Dürer  und  Lionardo  da  Vinci  gaben  Werke  über  die 
menschlichen  Proportionen  heraus,3  welche  in  fremde  Sprachen  über- 
setzt wurden  und  einen  grossen  Einfluss  ausübten,  wie  aus  den  Arbeiten 
mehrerer  spanischen  Künstler  hervorgeht.  Einzelne  Anatomen  lieferten 
ebenfalls  werth  volle  anatomische  Zeichnungen,  Das  Bild,  welches  Varolio 
von  der  unteren  Fläche  des  Gehirns  entwarf,  zeigt  richtige,  wenn  auch 
derbe  Contouren  und  war  offenbar  für  den  Unterricht  bestimmt.4 

Berengar  von  Carpi  war  nach  dem  Zeugniss  von  Benvenuto 
Cellini  nicht  blos  ein  erfahrener  Arzt  und  Anatom,  sondern  auch  ein 
geschickter  Zeichner.  Er  stattete  seine  anatomischen  Werke  mit  Holz- 
schnitten aus,  welche  ebenso  sehr  die  Interessen  der  Künstler  als  die- 
jenigen der  Ärzte  berücksichtigten.  Auch  die  Myologie  des  Cannani, 
sowie  die  anatomischen  Schriften  von  Charles  Estienne  (Stephanus), 
Eustachio  und  Volcher  Koyter,  welche  selbst  viele  anatomische  Zeich- 
nungen machten,  des  Spaniers  Valverde  de  Hamusco,  ferner  von 
Guidi  (Vidiüs),  Jacques  Guillemeau,  Felix  Platter,  Salomon  Al- 
berti,  Giulio  Casserio  und  Adrian  van  den  Spigel  waren  mit  Ab- 
bildungen versehen. 

Neben  den  anatomischen  Zeichnungen,  welche  für  die  ärztliche 
Ausbildung  ohne  Zweifel  eine  grosse  Bedeutung  hatten,  und  dem  theo- 


1  Choulant  a.  a.  0.  S.  16  u.  ff.  2  Choulant  a.  a.  0.  S.  39  u.  ff. 

3  A.  W.  Becker:  Kunst  und  Künstler  des  16.  Jahrhunderts,  Leipzig  1863, 
Bd.  T,  341.  IV,  163. 

4  Choulant  a.  a.  0.  S.  69. 


272  Der  medieinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


retischen  Vortrag  bildeten  die  praktischen  Demonstrationen,  zu  welchen 
die  Leichen-Zergliederungen  Gelegenheit  boten,  das  gebräuchlichste  Lehr- 
mittel in  der  Anatomie.  Dieselben  wurden  im  Verlauf  des  16.  Jahr- 
hunderts an  allen  Universitäten,  welche  mit  medicinischen  Facul täten 
verbunden  waren,  eingeführt., 

Anfangs  gingen  sie  in  der  Weise  vor  sich,  dass  der  Professor  vom 
Katheder  aus  die  Beschreibungen  und  Erklärungen  der  einzelnen  Theile 
des  Körpers  vortrug,  während  die  Sektion  selbst  von  einem  Chirurgen 
oder  Barbier  ausgeführt  wurde.  Die  gelehrten  Doktoren  glaubten  häufig, 
dass  ihre  Würde  herabgesetzt  werde,  wenn  sie  sich  mit  der  Zergliederung 
von  Leichen  befassten.  Als  Vesal  in  Paris  studierte,  lag  der  ana- 
tomische Unterricht  dort  gänzlich  in  den  Händen  „unwissender  Bart- 
scherer",  wie  er  erzählt,1  „welche  sich  darauf  beschränkten,  die  Muskeln 
des  Unterleibs  in  zerrissenem  und  schmählich  zerfetztem  Zustande  vor- 
zuzeigen, sonst  aber  keinen  andern  Muskel  und  keinen  Knochen  demon- 
strirten  und  noch  weniger  eine  geordnete  Übersicht  der  Arterien,  Venen 
und  Nerven  gaben".  Guinter  von  Andernach,  2  welcher  in  Paris  den 
anatomischen  Unterricht  ertheilte,  hielt  sich  von  praktischen  Arbeiten 
fern;  Vesal  sagt  von  ihm,  dass  er  das  Messer  wohl  niemals  zu  andern 
Dingen,  als  zum  Zerschneiden  des  Bratens  gebraucht  habe. 

Die  italienischen  Anatomen  schlugen  eine  richtigere  Methode  ein, 
indem  sie  selbst  die  Leichen-Sektionen  ausführten.  Diesem  Umstände 
war  es  gewiss  hauptsächlich  zu  verdanken,  dass  fast  alle  grossen  ana- 
tomischen Entdeckungen  jener  Zeit  von  Italien  ausgingen. 

Die  anatomischen  Schulen  dieses  Landes  waren  die  besten  auf  der 
ganzen  Welt.  Alle  hervorragenden  Anatomen  des  16.  Jahrhunderts 
haben  hier  ihre  Ausbildung  erhalten;  unter  ihren  Lehrern  finden  sich 
die  glänzendsten  Namen,  welche  die  Geschichte  dieser  Wissenschaft 
kennt.  Man  beschränkte  sich  bei  der  Auswahl  derselben  keineswegs 
auf  Italien,  sondern  nahm  die  tüchtigsten  Lehrkräfte  aller  Länder;  auch 
mehrere  Niederländer  und  Deutsche  wirkten  als  Lehrer  der  Anatomie 
an  italienischen  Hochschulen. 

Auf  Aless.  Benedetti's  Veranlassung  wurde  i.  J.  1490  in  Bologna 
ein  anatomisches  Theater  errichtet.  Nach  dem  Muster  desselben  ent- 
standen später  auch  in  Padua  (1548),  Amsterdam  (1555)  und  an  anderen 
Hochschulen  derartige  Anstalten.3 

Ein  grosses  Hemmniss  der  Entwicklung  des  anatomischen  Unter- 


1  Vesalius:  Epist.  dedicat.  zu  De  corp.  hum.  fabrica. 

2  Über  diesen  Gelehrten  s.  E.  Turner  in  der  Gaz.  hebdom.  de  med.  Paris. 
1881,  No.  27.  28.  32. 

3  Cervetto:  Di  alcuni  illustri  anatomici,  Verona  1842,  p.  150  u.  ff. 


Der  medicinische   Unterricht.  273 

richts  war  der  Mangel  an  Leichen,  welcher  nur  ganz  allmälig  beseitigt 
wurde.  Noch  Yesal  erklärte,  dass  er  so  selten  Gelegenheit  gehabt 
habe,  den  Uterus  schwangerer  Frauen  zu  seciren,  dass  er  eigentlich 
gar  nicht  wisse,  wodurch  sich  derselbe  von  demjenigen  einer  schwangeren 
Hündin  unterscheide. l  Als  Student  in  Paris  und  später  in  Löwen  be- 
suchte er  mit  seinen  Gefährten  Nachts  die  Friedhöfe,  um  menschliche 
Knochen  auszugraben  und  zu  sammeln ;  einmal  soll  er  bei  einem  solchen 
Ausflug  sogar  auf  den  Galgen  gestiegen  sein  und  das  Skelett  des  ge- 
henkten Verbrechers  herabgeholt  haben.2 

Ähnlich  ging  es  auch  an  anderen  Orten  zu.  Felix  Platter 
berichtet,  dass  er  als  Student  in  Montpellier  mit  seinen  Freunden,  unter 
denen  sich  ein  „verwegener  Mönch  des  Augustiner-Klosters"  befand,  bei 
Nacht,  „nachdem  sie  einen  tüchtigen  Trunk  gethan",  auf  dem  Kirch- 
hofe mit  den  Händen  Leichen  ausgegraben  und  die  Knochen  heimlich 
in  die  Stadt  getragen  habe. 3  Aber  nicht  blos  die  Studierenden,  sondern 
auch  die  Professoren  beklagten  sich  über  den  Mangel  an  Leichen. 
Kondelet  in  Montpellier  soll  deshalb  sogar  seinen  eigenen  Sohn,  als 
dieser  gestorben  war,  secirt  haben.  Ferner  wird  von  ihm  erzählt,  dass 
er  seinen  Collegen  Fontano,  während  derselbe  schwer  krank  darnieder- 
lag, gebeten  habe,  dass  er  seinen  Körper  nach  dem  Tode  anatomischen 
Zwecken  widmen  möge.4 

Allerdings  gab  es  in  den  Statuten  der  medicinischen  Facultäten 
Bestimmungen,  dass  jährlich  eine  oder  mehrere  anatomische  Demon- 
strationen stattfinden  und  die  Behörden  das  dafür  erforderliche  Leichen- 
Material  liefern  sollten.  Aber  die  letzteren  kamen  diesen  Verpflichtungen 
nicht  immer  nach,  und  selbst,  wenn  dies  geschah,  so  genügte  das 
Studien-Material  kaum  für  den  Unterricht,  geschweige  denn,  dass  es 
für  die  Untersuchungen  der  anatomischen   Forscher  ausreichend  war. 

Es  war  daher  erklärlich,  dass  sie  sich  dasselbe,  wenn  sie  es  nicht 
auf  legalem  Wege  erlangen  konnten,  auf  andere  Weise  zu  verschaffen 
suchten.  Der  Kauf  und  der  Diebstahl  der  Leichen  waren  in  Folge 
dessen  nicht  selten  und  wurden  von  den  Behörden  mit  einer  gewissen 
Toleranz  betrachtet,  wenn  es  zu  wissenschaftlichen  Zwecken  geschah. 
Aber  man  scheint  dies  manchmal  zu  offenkundig  getrieben  und  auch 
missbraucht  zu  haben,  sodass  dagegen  eingeschritten  werden  musste. 

In  Padua  verlangte  das  Volk  i.  J.  1550,  dass  die  Gesetze  gegen 


1  Vesalius:  Epist.    radic.  chyn.  decoct.  rat.  pertractans   nach  A.   Corradi 
a.  a.  0.  p.  634. 

2  H.  Tollin  im  Biolog.  Centralblatt  1885,  Bd.  V,  276  u.  ff. 

3  Felix  Platter:  Selbstbiographie  a.  a.  0.  S.  152. 

4  Corradi  a.  a.  0.  p.  643.  —  Portal:  Hist.  de  lanatomie  I,  522. 
Puschmann,  Unterricht.  18 


274  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


die  Entweihung  der  Gräber  und  den  Leichenraub  strenger  gehandhabt 
würden. 1 

Der  Vornahme  der  Leichen-Sektionen  standen  nicht  mehr,  wie 
früher,  religiöse,  sondern  sociale  Vorurtheile  entgegen.  Nur  das  Wohl- 
wollen einsichtsvoller  Behörden  und  die  thatkräftige  Unterstützung 
vornehmer  Herren,  welche  sich  für  die  Anatomie  interessirten,  ermög- 
lichte es  den.  Forschern,  das  nothwendige  Studien-Material  zu  erwerben. 

Faloppio  erhielt  Gelegenheit,  in  einem  einzigen  Jahre  7  mensch- 
liche Leichen  zu  seciren,  Realdo  Colombo  brachte  es  sogar  auf  14.2 
Felix  Platter  berichtet,  dass  er  während  einer  30  jährigen  Thätigkeit 
mehr  als  50  Leichen  zergliedert  habe:3  eine  Zahl,  welche  für  jene  Zeit 
aussergewöhnlich  hoch  war.  Vesal  erhielt  während  seiner  erfolgreichen 
Wirksamkeit  an  den  Hochschulen  zu  Padua,  Pisa  und  Bologna  soviel 
Leichen,  als  er  wünschte;  sie  wurden  ihm  von  den  Richtstätten  wie 
aus  den  Spitälern  geliefert.  Die  Richter  hatten  die  Gefälligkeit,  für 
die  Verurtheilten  eine  Todesart  zu  wählen,  welche  Vesal  im  Interesse 
der  unversehrten  Erhaltung  der  Körper  vorschlug,  oder  die  Hinrichtung 
auf  seinen  Wunsch  aufzuschieben  bis  zu  einer  Zeit,  in  welcher  Mangel 
an  Leichen  herrschte. 

Dieses  Entgegenkommen  ging  soweit,  dass  Cosimo  von  Medici 
ihm,  als  er  behufs  Lösung  der  damals  noch  unentschiedenen4  Frage,  ob 
das  Hymen  virginitatis  existire,  in  Verlegenheit  war,  woher  er  ein 
passendes  weibliches  Objekt  nehmen  sollte,  den  Leichnam  einer  frommen 
Nonne,  welche  kurz  vorher  gestorben  war,  zur  Verfügung  stellte.  Da- 
durch konnte,  wie  Hyrtl  bemerkt,  dieses  wichtige  Attribut  der  Jungfern- 
schaft in  seine  Rechte  eingesetzt  werden,  was  vorher  nicht  möglich 
war,  da  die  Jungfern,  welche  vom  Galgen  geliefert  wurden,  sich  ge- 
wöhnlich nicht  mehr  im  Besitz  desselben  befanden. 

Der  praktische  Unterricht  in  der  Anatomie  bestand  hauptsächlich 
in  der  Demonstration  der  Leiche ntheile;  nur  ausnahmsweise  erhielten 
die  Studierenden  Gelegenheit,  selbst  an  der  Zergliederung  mitzuarbeiten. 
Aus  den  Statuten  der  medicinischen  Facultäten  lässt  sich  übrigens  er- 
kennen, dass  die  Zahl  der  jährlichen  Sektionen,  welche  zur  Ausbildung 
der  Ärzte  gehörten,  allmälig  zunahm. 

In  Leipzig  wurde  1519  angeordnet,  dass  jedes  Jahr  eine  Leiche 
öffentlich    zergliedert   werde,    da   ohne   anatomische  Zergliederung   die 


1  Corradi  a.  a.  O.  p.  642. 

2  K.  Colombo  a.  a.  0.  lib.  XV,  p.  262. 

3  F.  Platerus:   De  corp.  hum.  structura  ot  usu,  Basil.  1583,   in  der  Wid- 
mung nach  dem  Titelblatt. 

4  H.  Tollin  im  Biolog.  Centralbl.  V,  347. 


Der  medicinische   Unterricht.  275 


Kenntniss  des  menschlichen  Körpers  und  seiner  Krankheiten  unmöglich 
sei.1  Die  gleiche  Vorschrift  findet  sich  in  den  Statuten,  welche  der 
Herzog  Ulrich  für  Tübingen  erliess. 

In  Prag  lag  nicht  blos  das  anatomische  Studium  darnieder,  sondern 
die  ganze  Universität  war  herabgekommen.  Der  Priester  Jacob  an  der 
Teynkirche  nannte  sie  i.  J.  1517  ein  „verrostetes  Kleinod". 2  Medicin 
wurde  im  15.  und  16.  Jahrhundert  kaum  mehr  gelehrt.  Anatomische 
Demonstrationen  wurden  erst  durch  Johann  Jesensky  (Jessenius)  ein- 
geführt, welcher  dort  am  Schluss  des  16.  Jahrhunderts  eine  Professur 
der  Medicin  übernahm.3 

Nicht  viel  besser  war  es  in  Wien  während  der  ersten  Hälfte  des 
1 6.  Jahrhunderts.  Erst  nachdem  Aichholtz  das  Lehramt  der  Anatomie 
angetreten  hatte,  fanden  wenigstens  in  jedem  Winter  einmal  öffentliche 
Zergliederungen  statt.  Doch  hörte  dies  später  wieder  auf;  denn  1567 
baten  die  Studierenden  der  Medicin,  dass  wieder  einmal  eine  Sektion 
vorgenommen  werde,  da  dies  seit  mehreren  Jahren  nicht  geschehen  sei. 
Ihr  Gesuch  wurde  aber  abgewiesen;  sie  wiederholten  es  daher  im 
folgenden  Jahre,  aber  mit  dem  gleichen  Erfolge;  erst  1571  wurde  ihr 
Wunsch  erfüllt.4 

In  Basel  hat  Vesal  um  1542  die  erste  Zergliederung  einer  mensch- 
lichen Leiche  veranstaltet.  Das  Skelett  derselben  wird  neben  demjenigen, 
welches  von  Felix  Platter  präparirt  worden  ist,  noch  jetzt  im  ana- 
tomischen Museum  der  dortigen  Universität  aufbewahrt.5  Der  letztere 
unternahm  in  Gegenwart  der  Ärzte  und  Wundärzte  und  anderer  Zu- 
schauer in  den  Jahren  1559,  1563  und  1571  öffentliche  Sektionen. 
Regelmässige  anatomische  Demonstrationen  wurden  jedoch  erst  ein- 
geführt, nachdem  C.  Bauhin  zum  Professor  der  Anatomie  und  Botanik 
ernannt  worden  war.  In  Edinburg  erhielt  die  Chirurgen-Zunft  i.  J.  1505 
die  Erlaubniss,  einmal  im  Jahre  die  Leiche  eines  Gerichteten  zu  zergliedern. 

Die  Statuten  der  medicinischen  Eacultät  zu  Montpellier  v.  J.  1534 
enthalten  genaue  Angaben,  wie  sich  die  Studierenden  bei  den  Sektionen 
zu  verhalten  und  wieviel  sie  dafür  zu  bezahlen  hatten.  Im  J.  1598 
wurde  dort  ein  anatomisches  Theater  errichtet  und  ein  Prosector  mit 
100  Thalern  Gehalt  angestellt.6 


1  Zabncke:  Statutenb lieber  der  Universität  Leipzig,  1861,  S.  39. 

2  W.  Tomek:  Geschieh te  der  Prager  Universität,  1849. 

3  J.  Hyrtl:  Geschichte  der  Anatomie  in  Prag,  Prag  1841,  p.  11. 

4  Rosas  a.  a.  0.  II,  85.  89.  104. 

5  His  im  Correspond.-Blatt  der  Schweizer  Ärzte,  1879,  S.  121  u.  ff. 

6  Dubouchet  in  der  Gaz.  hebd.  d.  scienc.  med.  de  Montpellier,  1887,  No.  11 
u.  17.  —  Astruc  a.  a.  0.  p.  66  u.  ff. 

18* 


276  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


In  Paris  wurde  das  Amt  desselben  schon  1576  geschaffen;  es 
wurde  mit  einem  Chirurgen  besetzt,  welcher  die  praktischen  Ver- 
richtungen ausführte,  während  ein  Baccalaureus  der  Medicin,  der  sich 
durch  seine  anatomischen  Kenntnisse  auszeichnete,  die  theoretischen 
Erklärungen  aus  der  Literatur  zusammenstellen  und  vortragen  musste. 
Der  letztere  führte  den  Titel  Archidiaconus.  Der  Prosector  hatte  eine 
sehr  abhängige  Stellung.  Er  stand  unter  der  Aufsicht  des  Professors 
der  Anatomie,  welcher,  wie  es  in  den  Statuten  von  1598  heisst,  darauf 
achten  sollte,  dass  sich  der  Prosector  nicht  herumtreibe,  sondern  fleissig 
mit  anatomischen  Zergliederungen  und  Demonstrationen  beschäftige 
(non  sinat  dissectorem  divagari,  sed  contincat  in  officio  dissecandi  et 
demonstrandi).  Es  wurde  ferner  bestimmt,  dass  jährlich  mindestens  zwei 
öffentliche  Sektionen  veranstaltet  würden.  Gleichzeitig  wurden  die  Be- 
hörden angewiesen,  keine  Leiche  ohne  Wissen  des  Dekans  der  me- 
dicinischen  Facultät  zu  anatomischen  Zwecken  herzugeben  und  bei  der 
Lieferung  derselben  zunächst  die  Professoren  und  Doktoren  der  Medicin 
zu  berücksichtigen,  und  sie  nur,  wenn  die  letzteren  darauf  verzichteten, 
den  Chirurgen  zu  überlassen.1 

Die  mit  den  anatomischen  Demonstrationen  verbundenen  Kosten 
wurden  überall  von  den  Zuschauern,  also  von  den  Studenten,  getragen,2 
während  die  theoretischen  Vorlesungen  der  Professoren  seit  dem  Beginn 
des  16.  Jahrhunderts  unentgeltlich  abgehalten  wurden. 

Bei  weitem  später  als  die  anatomischen  Zergliederungen  wurde  der 
praktische  Unterricht  in  der  Heilmittellehre  und  der  Behandlung  der 
Krankheiten  in  den  Bereich  der  Universitäten  gezogen. 

Die  Arzneistoffe  und  ihre  Zusammensetzung  lernten  die  Studierenden 
in  den  Apotheken  kennen.  In  Paris  wurde  1536  gesetzlich  angeordnet, 
„dass  die  Baccalaureen  der  Medicin  die  Ärzte  bei  der  Visitation  der 
Apotheken  begleiten  sollten,  damit  sie  sich  über  die  Droguen  unter- 
richten könnten".3  Apotheken  gab  es  damals  bereits  fast  in  allen 
Städten.  Sie  waren  mit  Destillations-Apparaten,  chemisch-pharma- 
ceutischen  Feuerheerden  und  Öfen,  pharmaceutischen  Waaren  und  ver- 
schiedenen chirurgischen  Utensilien,  welche  dort  zum  Verkauf  vorräthig 
gehalten  wurden,  ausgestattet.4 


1  D.  Puylon:  Statuts  de  la  faculte  de  medecine  cn  Tuniversite  de  Paris 
1672,  Art.  56  u.  Nachtr.  Art.  5.  —  A.  Pinet:  Lois,  decrets,  reglements  et  circu- 
laires  conc.  les  facultes  et  les  ecoles  preparatoires  de  medecine,  Paris  1880,  I, 
Art.  56,  Nachtr.  Art.  8. 

2  Vergl.  Cervetto  a.  a.  0.  p.  139. 
8  Philippe  a.  a.  0.  S.  153. 

4  H.  Peters:  Aus  pharmaceutischer  Vorzeit,  Berlin  1886,  S.  25  u.  ff.,  111  u.  ff. 


Der  medicinische   Unterricht.  277 


Durch  ein  Edikt  Ludwig  XII.  v.  J.  1514  wurden  die  Apotheker 
von  Paris  von  der  Gemeinschaft  mit  den  Gewürzkrämern,  mit  denen 
sie  bis  dahin  zu  einer  Zunft  vereinigt  waren,  befreit.  Wer  sich  dem 
Beruf  des  Apothekers  widmete,  musste,  wie  es  in  den  von  Franz  I.  er- 
lassenen Statuten  heisst,  eine  gute  Schulbildung  erhalten  und  soviel 
Latein  gelernt  haben,  dass  er  die  in  lateinischer  Sprache  geschriebenen 
Lehrbücher  der  Pharmacie  und  die  Pharmakopoen  verstehen  konnte, 
und  hierauf  eine  vierjährige  Lehrzeit  in  einer  Apotheke  durchmachen. 
In  Paris  wurde  die  Einrichtung  getroffen,  dass  sie  während  der  Dauer 
eines  Jahres  in  jeder  Woche  zwei  Vorlesungen  über  die  Apothekerkunst 
hörten,  welche  ein  dazu  geeignetes  angesehenes  Mitglied  der  medicinischen 
Facultät  hielt.  Die  Prüfung  fand  vor  einer  aus  Ärzten  und  Apothekern 
bestehenden  Commission  statt  und  bestand  aus  einem  theoretischen  und 
einem  praktischen  Theile;  in  dem  letzteren  musste  der  Candidat  zeigen, 
dass  er  in  der  Kenntniss  der  Arzneipflanzen  erfahren  war,  und  durch 
die  Herstellung  von  fünf  Compositionen  sein  Meisterstück  liefern.1 

Auch  der  Unterricht  am  Krankenbett  lag  ausserhalb  des  Lehr- 
plans der  Universität.  Die  Studierenden  der  Medicin  wandten  sich  zu 
diesem  Zweck  an  ihren  Lehrer  oder  einen  anderen  beschäftigten  Arzt, 
der  ihnen  in  seiner  Privatpraxis  oder  einem  Hospital,  an  welchem  er 
thätig  war,  die  Gelegenheit  bieten  konnte,  Kranke  zu  beobachten  und 
ihre  Behandlung  zu  lernen. 

An  einigen  Hochschulen  wurden  die  Professoren  durch  gesetzliche 
Bestimmungen  aufgefordert,  ihren  Schülern  die  dazu  erforderliche  An- 
leitung zu  geben.  In  Wien,  Heidelberg,  Würzburg,  Ingolstadt  u.  a.  0. 
erhielten  sie  den  Auftrag,  die  Studierenden  zuweilen  an  das  Bett  ihrer 
Patienten  zu  führen,  vorausgesetzt  dass  die  letzteren  dadurch  nicht  be- 
lästigt würden.  In  Basel  war  der  Stadtarzt,  welcher  zugleich  das  Lehr- 
amt der  praktischen  Heilkunde  bekleidete  und  das  städtische  Hospital 
leitete,  verpflichtet,  den  Studierenden  der  Medicin  den  Zutritt  zu  dem- 
selben zu  gestatten  und  die  Patienten,  welche  in  diesem  Krankenhause 
behandelt  wurden,  vorzustellen. 2  In  Paris  durften  die  Baccalaureen  der 
Medicin  unter  der  Aufsicht  der  Mitglieder  der  Facultät  und  in  ihrer 
Vertretung  die  ärztliche  Praxis  ausüben.3 

Aber   die   systematische  Anleitung  zur  Behandlung  der  Kranken 


1  Philippe  a.  a.  0.  S.  165  u.  ff. 

2  0.  Becker:  Zur  Geschichte  der  medicin.  Facultät  in  Heidelberg,  1876.  — 
A.  v.  Kölliker:  Zur  Geschichte  der  medicin.  Facultät  in  Würzburg,  1871.  — 
F.  Miescher:  Die  medicin.  Facultät  in  Basel,  1860,  S.  32  u.  ff.  —  W.  Vischer: 
Gesch.  d.  Univ.  Basel,  Basel  1860. 

3  Pinet  a.  a.  0.  u.  Puyton  a.  a.  0.  Art.  59. 


278  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit 

fehlte;  diesen  Mangel  konnten  gelegentliche  Beobachtungen  und  zu- 
sammenhanglose Erfahrungen  nicht  ersetzen.  Nicht  blos  die  Ärzte,  wie 
z.  B.  der  schwedische  Leiharzt  W.  Lemnius,1  sondern  auch  verständige 
Laien  sahen  dies  ein.  Der  Philosoph  P.  Ramus  forderte  i.  J.  1562  in 
einem  Briefe  an  Carl  IX.  von  Frankreich,  in  welchem  er  verschiedene 
Reformen  des  Unterrichtswesens  vorschlug,  die  Einrichtung  klinischer 
Lehranstalten. 2 

Dieser  Gedanke  war  damals  bereits  verwirklicht  worden  und  zwar 
in  Padua.  Giambattista  da  Monte  (Montanus),  welcher  gleichzeitig 
mit  Vesal  dort  lehrte,  soll  die  klinische  Unterrichtsmethode  schon  1543 
angewendet  haben.3  Aber  nach  seinem  Tode  (1551)  hörte  diese  Ein- 
richtung auf  und  wurde  erst  1578  wieder  erneuert. 

Um  diese  Zeit  begannen  die  Professoren  Albertino  Bottoni  und 
Marco  Oddo,  von  denen  der  eine  die  Abtheilung  für  Männer,  der 
andere  diejenige  für  Frauen  im  Hospital  des  hl.  Franciscus  leitete,  auf 
Verlangen  der  deutschen  Studenten  dort  Klinik  zu  halten;  auch  wurden 
die  Leichen  der  Patienten,  welche  im  Krankenhause  starben,  wenn  es 
die  Jahreszeit  gestattete,  geöffnet,  um  den  Studierenden  den  Sitz  und 
die  Ursachen  der  Krankheiten  zu  zeigen  (sed  cum  in  fine  Octobris  coeli 
constitutio  frigidior  esset,  professores  cadavera  aperiunt  et  loca  affeeta 
auditoribus  demonstrant) .  Leider  wurden  die  Sektionen  schon  nach  kurzer 
Zeit  verboten,  weil  Ungehörigkeiten  vorgekommen  und  Leichentheile 
aus  der  Anstalt  verschleppt  worden  waren.4 

Als  Bottoni  und  Oddo  starben,  Hess  der  Eifer  unter  den  Lehrern 
und  Schülern  nach,  und  der  Unterricht  beschränkte  sich  zuletzt  haupt- 
sächlich auf  die  Untersuchung  des  Pulses  und  des  Urins. 

Die  Versuche,  den  Unterricht  in  der  Heilkunde  praktisch  zu  ge- 
stalten, traten  jedoch  im  Lehrplan  der  medicinischen  Facultäten  weit 
zurück  gegenüber  den  theoretischen  Vorlesungen,  welche  die  mass- 
gebende Stellung  behaupteten.  Nach  den  Statuten  der  Würzburger 
medicinischen  Facultät  v.  J.  1587  gab  es  dort  drei  Lehrkanzeln  der 
Pleilkunde.     Der  Inhaber  der  ersten,   der  Professor  der  Theorie  sollte 


1  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  2,  S.  189. 

2  Ch.  Jourdain:  Histoire  de  l'universite  de  Paris  au  17  et  au  18  siecle, 
Paris  1862—66,  T.  I,  p.  3. 

3  G.  Cervetto:  Di  Giambattista  da  Monte  e  della  medicina  italiana  nel 
secolo  XVI,  Verona  1839,  S.  51. 

4  A.  Comparetti:  Saggio  della  scuola  clinica  nello  spedale  di  Padova  1793, 
p.  6  u.  ff.  —  C.  Neubert  in  d.  Beiträgen  zur  prakt.  Heilkunde,  her.  v.  Clarus 
u.  Radius,  Leipzig  1836,  II,  148  u.  ff.  —  Dagegen  bringt  P.  A.  0.  Mahon  (Hi- 
stoire de  la  m^decine  clinique,  Paris  1804)  nichts  über  den  klinischen  Unterricht. 


Der  medizinische   Unterricht.  279 


im  ersten  Jahre  primam  primi  libri  Avicennae  et  libros  Galeni  de  mor- 
borum  differentiis ,  causis  et  symptomatibus ,  im  zweiten  Galeni  artein 
medicinalem  cum  Hippocratis  prognosticis,  im  dritten  de  pidsibus  et  winis 
nach  Actuakius,  ferner  de  victus  ratione  in  morbis  acutis  nach  Hippo- 
krates,  Galeni  de  alimentorum  facullatibus  und  Avicennae  tertiam  primi 
vortragen,  der  Professor  der  Praxis  im  ersten  Jahre  über  allgemeine 
Therapie  lesen  und  dabei  auch  den  Aderlass  und  die  Purgationen,  sowie 
das  Wesen  der  Fieber  nach  Avicenna  erörtern,  im  zweiten  und  dritten 
specielle  Pathologie  und  Therapie  der  einzelnen  Krankheiten  vortragen, 
und  der  Professor  der  Chirurgie  im  ersten  Jahre  de  tumoribus  nach 
Gtalen,  im  zweiten  über  Geschwüre  und  Wunden  nach  Galen,  Hippo- 
keates  und  den  Arabern,  und  im  dritten  über  Frakturen  und  Luxationen 
nach  Galen  und  Hippokrates  sprechen.  Daneben  musste  er  im  Sommer 
Arzneimittellehre  vortragen  und  die  officinellen  Pflanzen  vorzeigen,  und 
im  Winter  Anatomie  und  Physiologie  lehren.  Genauer  wurde  das 
Lektionsverzeichniss  von  den  Professoren  in  den  Hundstagsferien  fest- 
gestellt, damit  es  mit  demjenigen  der  übrigen  Facultäten  in  den  Katalog 
aufgenommen  und  veröffentlicht  werden  konnte.1 

In  einem  amtlichen  Bericht,  welcher  1569  über  die  Lehrthätigkeit 
der  Professoren  der  Medicin  in  Heidelberg  erstattet  wurde,  heisst  es: 
1 .  Professor  Curio  liest  de  generibus  morborum  ex  Galeno,  erklärt  Hippo- 
cratis  de  morborum  signis  und  hat  3 — 4  Zuhörer.  2.  Professor  Erastus 
hält  keine  Vorlesungen,  weil  er  sich  auf  der  Messe  in  Frankfurt  a.  M. 
befindet.  3.  Professor  Siegmund  Melanchthon  trägt  über  die  Heil- 
kunst nach  Galen  vor  und  hat  etwa  5  Schüler.2 

Dieser  Bericht  wirft  auch  ein  Licht  auf  die  Frequenz  der  me- 
dicinischen  Facultäten  jener  Zeit.  Dieselbe  war  im  Vergleich  zu  heut 
sehr  gering.  In  Leipzig  gab  es  selten  mehr  als  4 — 6  Mediciner.  Die 
Hochschule  zu  Basel  zählte  1556  2  Professoren  und  2  Studenten  der 
Medicin.3  In  Erfurt  wurden  in  dem  Zeitraum  von  1392 — 1520  neben 
120  Doktoren  der  Theologie  und  40  der  Jurisprudenz  nur  5  Doktoren 
der  Medicin  creirt. 

Viele  Deutsche  bezogen  Universitäten  des  Auslandes,  namentlich 
Paris,  Bologna,  Padua  und  Montpellier.  In  Padua  gab  es  i.  J.  1564 
ungefähr  200  Deutsche,  welche  die  Kechts Wissenschaft  studierten.4  Die 
Mediciner  suchten  vorzugsweise  Montpellier  und  Padua  auf,   wie   aus 


1  A.  v.  Kölliker  a.  a.  0.  S.  58.  —  F.  v.  Wegele:   Geschichte  der  Univer- 
sität Würzburg,  1885,  II,  191  —  199. 

2  J.  F.  Hautz  a.  a.  0.  3  Platter  a.  a.  0.  S.  169. 

4  Meiners:  Geschichte  der  Entstehung  u.  Entwickelung  der  hohen  Schulen, 
Göttingen  1802. 


280  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


zahlreichen  Lebensbeschreibungen  hervorragender  Ärzte  des  16.  Jahr- 
hunderts hervorgeht.1  Ein  Göttinger  Arzt  hinterliess  in  seinem  Testa- 
ment 1420  ein  Legat  von  600  Fl.,  aus  dessen  Zinsen  ein  armer  Student 
der  Medicin  durch  4  Jahre  in  Montpellier  erhalten  werden  sollte.2 
Auch  Felix  Platter  begab  sich  von  Basel  dorthin,  um  die  me- 
dicinischen  Studien  zu  absolviren. 


Der  ärztliche  Stand  und  seine  Stellung  zu  den 
Bewegungen  des  16.  Jahrhunderts. 

Die  ärztlichen  Prüfungen  geschahen  nach  den  gleichen  Vorschriften, 
wie  früher.  Doch  sanken  die  akademischen  Grade  durch  die  Leicht- 
fertigkeit, mit  der  sie  an  manchen  Hochschulen  verliehen  wurden,  sehr 
im  Werth.  Schon  1503  klagte  man  darüber,  dass  „Pferdehändler,  Vieh- 
händler und  andere  gemeine  Leute,  die  von  Aristoteles  nicht  das 
Geringste  wissen  und  nicht  einmal  die  ersten  Elemente  der  Grammatik 
kennen",  die  Magister-Würde  in  der  philosophischen  Facultät  zu  Paris 
erlangten. 3 

An  einigen  französischen  Universitäten  wurde  sogar  der  medicinische 
Doktor-Grad  für  Geld  verkauft.  König  Franz  I.  fühlte  sich  dadurch 
veranlasst,  nur  die  medicinischen  Diplome  von  Paris  und  Montpellier 
anzuerkennen. 4 

In  Padua  entstand  die  seltsame  Sitte,  dass  die  Examinanden  Bei- 
stände zur  Prüfung  mitbringen  durften,  welche  ihnen  die  Antworten 
auf  die  Fragen,  die  gestellt  wurden,  zuflüsterten.  Noch  bequemer  wurde 
es  den  Prüflingen  gemacht,  wenn  man  ihnen,  wie  Augustin  Leyser 
in  Helmstädt  berichtet,  die  Fragen  nebst  den  Antworten  vorher  schrift- 
lich übergab.5  Dazu  kam,  dass  die  Doktor-Würde  nicht  blos  von  den 
Universitäten,  sondern  auch  vom  Pabst  und  vom  Kaiser  verliehen  wurde. 


1  Melchior  Adam:  Vitae  G-ermanorum  medicorum,  Heidelberg  1620.  — 
A.  Budinszky:  Die  Universität  Paris  und  die  Fremden  an  derselben  im  Mittel- 
alter, Berlin  1876,  S.  115  u.  ff. 

2  Schmidt:  Göttinger  Urkundenbuch  II,  20. 

3  Bulaeus:  Hist.  Universität.  Paris  1673,  T.  VI,  p.  11. 

4  H.  Tollin  in  Virchow's  Archiv  1880,  Bd.  80,  S.  66  u.  im  Biol.  Centralblatt 
Bd.  V,  S.  341. 

5  C.  Meiners:  Über  die  Verfassung  und  Verwaltung  deutscher  Universi- 
täten, Göttingen  1801,  I,  328  u.  ff.  u.  C.  Meiners:  Geschichte  der  Entstehung  u. 
Entwickelung  der  hohen  Schulen,  I,  188. 


Der  ärztliche  Stand  u.  seine  Stellung  zu  den  Beivegungen  des  16.  Jahrh.    281 

Im  14.  Jahrhundert  erhielten  sogar  die  Pfalzgrafen  das  Recht,  Doktoren 
zu  ernennen,  ebenso  wie  sie  bekanntlich  auch  befugt  waren,  uneheliche 
Kinder  zu  legitimiren. 

Für  solche  Verhältnisse  mochte  manchmal  die  drastische  Schilderung 
passen,  welche  Petrarca  von  der  Doktor-Promotion  hinterlassen  hat. 
„Da  erscheint  der  junge  Mann,  bläht  sich  auf  und  murmelt  einiges 
unverstandenes  Zeug,  während  ihn  das  Volk  anstaunt  und  seine  Freunde 
ihn  mit  Beifall  begrüssen.  Dabei  werden  die  Glocken  geläutet,  Trompeten 
geblasen,  Ringe  und  Küsse  gewechselt  und  ihm  das  runde  Barett  des 
Meisters  auf  das  Haupt  gesetzt.  Hierauf  kommt  derjenige,  welcher  als 
Dummkopf  den  Katheder  bestiegen  hatte,  als  weiser  Mann  herab.  Dies 
ist  eine  Verwandlung,  von  welcher  Ovid  nichts  wusste". l 

Viele  Studierende  verzichteten  wegen  der  Kostspieligkeit  und  der 
geringen  Achtung  der  Doktor- Würde  gänzlich  darauf,  dieselbe  zu  er- 
werben. Daraus  erklärt  es  sich  vielleicht,  dass  man  die  Diplome  ver- 
schiedener hervorragender  Ärzte,  wie  Jac.  Sylvius,  Vesal,  M.  Servet, 
J.  Thibault  u.  A.  nicht  aufzufinden  vermochte. 

Die  Chirurgen  waren  von  der  Erlangung  des  medicinischen  Doktor- 
Grades  überhaupt  ausgeschlossen.  Nur  in  Italien,  wo  die  Trennung  der 
Chirurgie  von  der  übrigen  Heilkunde  niemals  so  vollständig  war,  wie 
in  den  übrigen  Ländern,  machte  man  eine  Ausnahme. 

Auch  in  Frankreich  empfingen  die  Chirurgen  eine  wissenschaftliche 
Ausbildung.  Das  College  de  St.  Cöme  erhielt  1545  das  Recht,  akademische 
Grade  zu  verleihen.  Die  Zöglinge  desselben  mussten  4  Jahre  studieren 
und  nicht  blos  Vorlesungen  über  Chirurgie,  sondern  auch  über  Anatomie, 
Arzneimittellehre  u.  a.  m.  hören.  Leider  dauerten  die  Eifersüchteleien  und 
Streitigkeiten  zwischen  der  chirurgischen  Facultät,  wie  man  das  College 
de  St.  Cöme  nennen  kann,  und  der  medicinischen  zum  Schaden  der 
gemeinsamen  Wissenschaft  auch  in  dieser  Zeitperiode  fort. 

Die  Ärzte  waren  bemüht,  den  Chirurgen  in  den  sogenannten 
Barbier-Chirurgen  ebenbürtige  Gegner  zu  schaffen,  indem  sie  Sorge 
trugen,  dass  die  letzteren  eine  grössere  Summe  von  allgemeinen  und 
fachwissenschaftlichen  Kenntnissen  erwarben.  Wenn  dies  zu  manchen 
Unzuträglichkeiten  zwischen  den  beiden  Klassen  von  Wundärzten  führte, 
so  hatte  es  doch  das  Gute,  dass  dadurch  hochbegabten  Mitgliedern  des 
niederen  Chirurgen-Standes  die  Möglichkeit  geboten  wurde,  sich  zu 
Chirurgen,  zu  Operateuren  in  unserem  Sinne  zu  entwickeln.  Das  Bei- 
spiel eines  Ambroise  Pare  zeigt,  wieviel  die  Chirurgie  und  damit  die 
Medicin  überhaupt,  diesem  Umstände  zu  verdanken  hat. 


1  Petrarca:  De  vera  sapienta,  Dial.  I.    (Op.  ed.  Basil.  1554,  p.  365.) 


282  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeil. 


Freilich  verfolgte  die  medicinische  Facultät  bei  ihrem  Vorgehen 
nicht  diesen  löblichen  Zweck,  sondern  sie  wollte  das  Ansehen  der 
Chirurgie  darnieder  drücken  und  die  Vertreter  derselben  zu  ihren  er- 
gebenen Dienern  machen,  welche  ihre  geistige  Überlegenheit  bereitwillig- 
anerkannten.  Dieser  Standpunkt  kennzeichnet  sich  deutlich  in  den 
Worten  M.  Servins,  welcher  1607  schrieb,  „que  la  science  n'est  pour 
ceux  qui  n'ont  que  la  main,  qu'ils  doivent  laisser  ä  juger  aux  medecins.1 
Als  einer  der  Professoren,  Robert  le  Secq,  in  der  Prüfung  der  Chirurgen 
i.  J.  1606  auch  die  Physiologie  berührte  und  auf  die  Thätigkeit  der 
Muskeln,  den  Mechanismus  der  Respiration  u.  ä.  m.  einging,  protestirte 
die  medicinische  Facultät  dagegen,  weil  dies  wissenschaftliche  Streit- 
fragen seien.2 

In  Deutschland  und  anderen  Ländern  erhob  sich  die  Chirurgie 
selten  über  das  Handwerk.  Nur  an  einzelnen  Universitäten  wurde  die- 
selbe gelehrt.  In  Wien  wurde  1537  ein  Professor  der  Chirurgie  an- 
gestellt, welcher  eine  jährliche  Besoldung  von  52  fl.  erhielt.3 

Die  deutschen  Wundärzte  gingen  fast  ohne  Ausnahme  aus  dem 
Stande  der  Barbierer  und  Bader  hervor.  Sie  erlernten  bei  einem  Meister 
die  Behandlung  der  Wunden  und  Geschwüre,  der  Frakturen  und  Luxa- 
tionen und  bildeten  sich  dann  in  Spitälern  und  im  Militärdienst  weiter 
aus.  Einzelne,  wie  Hieronymus  Brunschwyg,  Hanns  von  Gersdore, 
Felix  Würtz  u.  A.  erwarben  sich  eine  bedeutende  operative  Geschick- 
lichkeit. 

Der  Mangel  an  studierten  Ärzten,  welcher  in  Deutschland  herrschte, 
und  die  vielen  Kriege  und  Seuchen,  welche  dieses  Land  im  16.  Jahr- 
hundert zu  ertragen  hatte,  Hessen  die  Chirurgen  als  eine  Notwendig- 
keit erscheinen;  dazu  kam,  dass  ihnen  mit  der  Behandlung  der  äusseren 
Leiden  auch  diejenige  der  Geschlechtskrankheiten  zufiel.  Da  sie  die 
Ärzte  an  praktischer  Gewandtheit  und  Erfahrung  häufig  übertrafen, 
dem  Volk  in  socialer  Beziehung  näher  standen  und  billigere  Forde- 
rungen für  ihre  Dienste  stellten,  so  erfreuten  sie  sich  einer  grossen 
Beliebtheit.  Viele  wurden  als  Leibärzte  an  fürstlichen  Höfen,  im  Com- 
munaldienst  oder  in  hervorragenden  ärztlichen  Stellungen  beim  Heere 
beschäftigt. 

Die  Ärzte  nahmen  an  den  geistigen  Bewegungen  des  16.  Jahr- 
hunderts lebhaften  Antheil.  Wie  immer,  so  schlössen  sie  sich  auch 
damals  in  ihrer  grossen  Mehrheit  der  freiheitlichen  Richtung  an. 

Es  war  leicht  begreiflich,   dass    der  zum  Radikalismus  neigende 

1  D.  Püylon:  Statuts  de  la  faculte  de  medeciue,  Paris  1672. 

2  Hazon  a.  a.  0.  3  Rosas  a.  a.  0.  IT,  51. 


Der  ärztliche  Stand  u.  seine  Stellung  zu  den  Bewegungen  des  16.  e/ahrh.    283 

Paracelsus  allen  Strömungen,  welche  sich  gegen  die  bestehenden  Auto- 
ritäten richteten,  mit  Begeisterung  folgte  und  ihr  Anwachsen  zur  ver- 
heerenden Fluth  ersehnte.  Aber  auch  die  besonnenen,  ruhig  urtheilenden 
Männer  führte  ihre  Überzeugung  in  das  Lager  der  Reformation,  nament- 
lich als  sie  sahen,  dass  sich  dieselbe  innerhalb  der  Grenzen  der  natür- 
lichen Entwicklung  vollzog. 

Die  Heerführer  des  Protestantismus  widmeten  der  Medicin  ein 
reges  Interesse.  Martin  Luther  Hess  seinen  Sohn  Paul  die  Heilkunde 
studieren;  derselbe  wirkte  später  als  Leibarzt  in  Gotha,  Berlin  und 
Dresden  und  trat  auch  als  medicinischer  Schriftsteller  auf.  Melanch- 
thon's  Schwiegersohn,  Caspar  Peucer,  war  Professor  der  Medicin  in 
Wittenberg,  sein  Neffe  Siegmund  in  Heidelberg.  Adam  von  Boden- 
stein, der  Sohn  des  Theologen  Karlstadt,  übte  in  Basel  die  ärztliche 
Praxis  aus.  Crato  von  Crafftheim  vertauschte  auf  Martin  Luther's 
Rath  das  Studium  der  Theologie,  welches  er  unter  dessen  Leitung  be- 
gonnen hatte,  mit  demjenigen  der  Heilkunde;  er  hat  darin  grosse  Er- 
folge errungen  und  als  Leibarzt  in  Wien  bei  drei  Kaisern  hervorragende 
Dienste  geleistet.  Er  war  der  Mittelpunkt  des  Protestantismus  in 
Breslau  und  später  der  eifrigste  Vertreter  desselben  am  Wiener  Hofe. 1 
Auch  sein  College  Diomedes  Cornarus  (Hagenbutt),  Leibarzt  des 
Kaisers  Maximilian  IL,  gehörte  wahrscheinlich  diesem  Glauben  an. 

In  Wien  erklärten  sich  i.  J.  1584  drei  Ärzte  vor  ihrem  Tode  für 
confessionslos,  und  ein  vierter  verbat  sich  das  Glockengeläut  bei  seinem 
Begräbniss  und  verlangte,  dass  sein  Leichnam  in  ungeweihter  Erde 
bestattet  werde.  Der  Doktor  der  Medicin  Caspar  Pirchpach  liess, 
als  er  1568  das  Rectorat  der  Wiener  Universität  bekleidete,  die  For- 
derung der  Statuten,  dass  sich  die  Lehrer  derselben  zum  römisch-katho- 
lischen Glauben  bekennen  sollen,  beseitigen  und  das  Wort  eatholicae 
durch  christianae  (fidei)  ersetzen.  Gleichzeitig  wurde  bestimmt,  dass 
Angehörige  der  Augsburgischen  Confession  zur  Doktor -Promotion  zu- 
gelassen wurden.2  Sogar  in  Ingolstadt,  dem  Mittelpunkt  der  kirchlichen 
Reaktion,  huldigten  mehrere  Professoren  der  medicinischen  Facultät 
einer  freieren  religiösen  Meinung;  sie  wurden  deshalb  durch  den  Je- 
suitismus, der  bald  darauf  dort  zur  Herrschaft  gelangte,  aus  ihren  Stel- 
lungen gedrängt.3 

Als  das  16.  Jahrhundert  zu  Ende  ging,  hatten  die  geistigen  Be- 
wegungen, mit  denen  es  begonnen  hatte,  fast  überall  den  Sieg  errungen. 


1  J.  F.  A.  Gillet:  Crato  von  Crafftheim  u.  seine  Freunde,  Frankfurt  a/M. 
1860,  IT,  14. 

2  Patjlsen:  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts,  S.  272. 


3  Prantl  a.  a.  0.  T,  319. 


284  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Soweit  sie  einen  revolutionären  Charakter  trugen,  waren  sie  allerdings 
gescheitert;  aber  sie  erreichten  ihr  Ziel,  wenn  sie  sich  innerhalb  ver- 
nunftgemässer  Reformen  bewegten.  Ihr  grösster  Erfolg  bestand  jedoch 
darin,  dass  selbst  ihre  Gegner  genöthigt  wurden,  ihre  Berechtigung 
anzuerkennen,  die  bisherigen  Wege  verliessen  und  neue  Bahnen  ein- 
schlugen. 

Wohl  nirgends  hatte  die  Pflugschar  der  geistigen  Arbeit  tiefere 
Furchen  gezogen,  als  auf  dem  Boden  der  Naturwissenschaften  und  der 
Medicin.  Doch  muss  ihre  Bedeutung  nicht  so  sehr  in  Dem,  was  er- 
reicht wurde,  gesucht  werden,  als  in  Dem,  was  die  Zukunft  der  wissen- 
schaftlichen Forschung  versprach. 

Erleuchtete  Geister,  wie  Francis  Bacon  von  Yeeulam,  begannen 
zu  erkennen,  welche  massgebende  Rolle  den  Naturwissenschaften  in  der 
Cultur- Entwicklung  der  Menschheit  beschieden  war.  Dieser  hervor- 
ragende englische  Staatsmann  und  Philosoph,  welcher  gleichsam  das 
Facit  aus  den  geistigen  Errungenschaften  des  16.  Jahrhunderts  zog, 
erklärte,  dass  der  induktive  Empirismus  allein  die  Lösung  der  Fragen 
zu  bieten  vermag,  welche  die  wissenschaftliche  Forschung  anstrebt. 

War  er  auch  selbst  nicht  im  Stande,  die  Wissenschaft  durch  neue 
Entdeckungen  zu  bereichern,  so  hat  er  ihr  doch  die  Wege  gewiesen, 
welche  zu  ihnen  führen.  Er  hat  allerdings  den  richtigen  Zusammen- 
hang mancher  Erscheinungen  geahnt,  deren  klare  Erkenntniss  den 
späteren  Jahrhunderten  vorbehalten  war.  So  sprach  er  bereits  die 
Vermuthung  aus,  dass  die  Luft  der  Pflanze  zur  Nahrung  dient,  dass 
die  Farbe  eine  Modifikation  des  Lichts,  die  Wärme  eine  Form  der  Be- 
wegung sei,  und  dass  es  dereinst  gelingen  werde,  die  Mineralquellen 
künstlich  nachzubilden.1  Er  wies  auf  den  Werth  der  Vivisektionen, 
auf  die  Bedeutung  der  pathologischen  Anatomie,  der  Statistik  der 
Heilungs-Resultate  u.  a.  m.  hin.  Aber  seine  verdienstvollsten  Leistungen 
liegen  auf  dem  Gebiet  der  Erkenntnisstheorie;  er  hat  die  Methode  der 
Forschung  so  klar  und  ausführlich  entwickelt,  wie  es  vor  ihm  noch 
niemals  geschehen  war. 

Bacon  war  weder  jener  seichte  hohle  Schwätzer  ohne  jede  Origi- 
nalität der  Gedanken,  wie  ihn  Einige  dargestellt  haben,  noch  jener 
schöpferische  Genius,  aus  dessen  Haupt  die  Wissenschaft  in  vollendeter 
Schönheit  entsprang,  wie  ihn  Andere  geschildert  haben.  Er  glich  dem 
Zeiger  am  Zifferblatt  der  Uhr,  welcher  uns  sagt,  wie  weit  die  Zeit 
vorgeschritten  war. 


1  H.  v.  Bamberger:  Über  Bacon  von  Verulam,  Würzburg  1865,  S.  15.  21  u.  ff. 


Die  experimentelle  Richtung  der  Naturwissensch.  etc.  während  d.  1 7.  Jahrh.    285 


Die  experimentelle  Richtung  der  Naturwissenschaften, 
der  Physik  und  Chemie  während  des  17.  Jahrhunderts. 

Die  Erwartungen,  welche  der  Aufschwung  der  Naturwissenschaften 
im  16.  Jahrhundert  erregt  hatte,  wurden  im  folgenden  Jahrhundert 
im  reichsten  Maasse  erfüllt.  Hatte  man  sich  vorher  darauf  beschränkt, 
die  Thatsachen  in  der  Natur  zu  beobachten  und  die  Existenz  der  Dinge 
festzustellen,  so  begann  man  jetzt,  nach  deren  Ursachen  zu  forschen 
und  ihre  gegenseitigen  Beziehungen  zu  ergründen.  Man  wollte  die 
Vorgänge  im  organischen  Leben  in  ihrer  Entwickelung  kennen  lernen 
und  stellte  zu  diesem  Zweck  Versuche  an,  bei  denen  das  Vorgehen  der 
Natur  auf  künstliche  Weise  nachgeahmt  wurde. 

Das  Experiment  trat  in  den  Vordergrund  und  gab  der  Denkweise 
des  17.  Jahrhunderts  eine  charakteristische  Färbung.  Kein  Gebiet  des 
geistigen  Schaffens  wurde  dadurch  mehr  berührt,  als  die  Naturwissen- 
schaften und  die  Medicin.  Sie  verdankten  dieser  Eichtung  die  An- 
regung zu  neuen  Forschungen  und  gewannen  dabei  diejenige  Sicherheit 
ihrer  Lehren,  welche  zum  Wesen  der  Wissenschaft  gehört. 

Die  Physik,  Chemie  und  Physiologie,  also  diejenigen  Disciplinen, 
welche  hauptsächlich  auf  das  Experiment  angewiesen  sind,  wurden  in 
dieser  Zeit  durch  eine  Menge  Entdeckungen  bereichert.  Für  sie  begann 
eine  neue  Periode  ihrer  Geschichte. 

Auch  die  Mineralogie,  Botanik,  Zoologie  und  Anatomie  machten 
bedeutende  Fortschritte.  Die  Krystallographie  wurde  durch  die  Beobach- 
tungen Nie.  Steno's  und  Gulielmini's  über  die  Streifung  und  Zu- 
sammensetzung der  Krystalle  und  die  Unveränderlichkeit  der  Winkel 
gefördert.  Bob.  Boyle  bemerkte  die  Krystallisation  des  Wismuths  aus 
dem  Schmelzfluss,  und  der  dänische  Arzt  Eeasmus  Baetholinus  fand 
am  isländischen  Kalkspath  die  doppelte  Strahlenbrechung  (1670),  welche 
dann  von  Huygens  genauer  untersucht  wurde  und  für  seine  Undu- 
lations-Theorie  des  Lichts  von  Bedeutung  war.1 

Gleichzeitig  erfuhr  die  Botanik  wichtige  Veränderungen.  Während 
die  specielle  Pflanzenkenntniss  durch  zahlreiche  Arbeiten  über  die  Flora 
einzelner  Gegenden  und  Länder  vermehrt  wurde,  trugen  die  verschie- 
denen Versuche,  die  Pflanzen  nach  der  Ähnlichkeit  ihrer  Organe  in 
Familien  und  Gruppen  zu  sondern,  dazu  bei,  dass  ihr  Bau  genauer 
studiert  wurde.  Aber  erst  die  Begründung  der  Phytotomie  durch 
Malpighi  und  Geew  und  ihre  vortrefflichen  Untersuchungen  der  fei- 


1  F.  v.  Kobell:  Geschichte  der  Mineralogie,  München  1864,  S.  8  u.  ff. 


286  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

neren  Struktur  der  Pflanzen,  besonders  ihre  Arbeiten  über  die  Blüthen, 
Früchte  und  Samen,  sowie  der  experimentelle  Beweis  der  Sexualität  im 
Pflanzenreiche  durch  R.  J.  Camerarius  ermöglichten  die  Aufstellung 
eines  Systems,  welches  den  Forderungen  der  Wissenschaft  entsprach. 

Linne,  welcher  diese  Aufgabe  löste,  gab  der  Botanik  durch  die 
mit  der  Durchführung  der  binären  Nomenclatur  verbundene  methodische 
Charakteristik  der  Gattungen  und  Arten  eine  bestimmte  abgeschlossene 
Form,  neben  welcher  die  Entdeckung  eines  natürlichen  Systems  als 
wünschenswerthes  Postulat  der  Zukunft  vorbehalten  blieb.1 

Der  Zoologie  wurde  mit  der  Verwendung  der  Loupe  und  des 
Mikroskops  zu  wissenschaftlichen  Untersuchungen  eine  neue  Welt  von 
Lebewesen  erschlossen,  von  deren  Dasein  man  bis  dahin  keine  Ahnung 
gehabt  hatte.  Leeuwenhoek  entdeckte  die  Infusionsthierchen,  beschrie  1) 
einzelne  Räderthiere,  beobachtete  die  facettirten  Augen  der  Insekten 
und  studierte  die  Entstehung  und  Entwickelung  verschiedener  niederer 
Thierarten.  Malpighi  gab  über  die  Struktur  und  Zusammensetzung 
der  Organe  des  thierischen  Körpers  merkwürdige  Aufschlüsse  und 
sprach  bereits  den  Gedanken  aus,  dass  der  complicirte  Bau  der  höher 
entwickelten  Organismen  dem  einfacheren  der  niederen  Wesen  analog 
ist  und  durch  ihn  verständlich  wird.  Er  kam  sogar  der  Entdeckung 
der  thierischen  Zelle  schon  ziemlich  nahe,  während  Rob.  Hooke  auf 
den  zelligen  Bau  der  Pflanzen  aufmerksam  machte. 

Die  zootomischen  Arbeiten  Swammerdams,  von  deren  Genauigkeit 
seine  Untersuchungen  mehrerer  Mollusken,  der  Urogenital-Organe  des 
Frosches,  der  Anatomie  der  Biene  u.  a.  m.  Zeugniss  geben,  und  die 
Beobachtungen  F.  Redi's  über  die  Urzeugung,  durch  welche  er  den 
Nachweis  lieferte,  dass  sich  im  faulenden  Fleische  keine  Maden  ent- 
wickeln, wenn  man  die  Fliegen  davon  abhält,  übten  natürlich  auf  die 
wissenschaftlichen  Anschauungen  einen  klärenden  Einfluss  aus.  Auf 
Grund  dieser  Ergebnisse  durften  dann  John  Ray,  J.  Tn.  Klein,  Linne 
u.  A.  den  Versuch  machen,  durch  eine  systematische  Klassifikation  der 
Thiere  das  Studium  derselben  zu  erleichtern  und  eine  übersichtliche 
Darstellung  der  zoologischen  Wissenschaft  zu  liefern.2 

Die  bedeutendsten  Umgestaltungen  erlebten  in  jener  Zeit  aber  die 
Physik  und  die  Chemie.  Als  die  letztere  durch  Paeacelsus  und  seine 
Anhänger  von  der  Alchymie  abgelenkt  und  auf  die  Arzneimittellehre 
hingewiesen  wurde,    da  nahm  sie  einen  Aufschwung,  welcher  für  die 


1  J.  Sachs:  Geschichte  der  Botanik,  München  1875,  S.  84  u.  ff.,  246  u.  ff., 
417  u.  ff. 

2  V.  Cakus:  Geschichte  der  Zoologie,  München  1872,  S.  386  u.  ff. 


Die  experimentelle  Richtung  der  Naturwissensch.  etc.  ivährend  d.  17.  Jahrh.    287 


Medicin  wie  für  die  Chemie  gleich  segensreich  war.  Es  wurde  eine 
grosse  Anzahl  neuer  Arzneien  entdeckt  und  die  Technik  ihrer  Bereitung 
in  mannigfacher  Weise  gefördert. 

Vielleicht  nicht  weniger  bedeutend  war  die  Wirkung,  welche  die 
chemischen  Anschauungen  und  Kenntnisse  auf  die  Physiologie  und 
Pathologie  ausübten.  Ein  Theil  der  Ärzte  sah  in  allem  organischen 
Geschehen  Gährungs-  und  Zersetzungsprozesse  und  wollte  die  meisten 
Äusserungen  des  gesunden  und  kranken  Körpers  durch  chemische  Vor- 
gänge erklären.  Diese  chemiatrische  Richtung  ging  manchmal  zu  weit, 
indem  sie  sich  an  Aufgaben  wagte,  deren  Lösung  bei  der  geringen 
Entwicklung,  welche  die  Chemie  zu  jener  Zeit  erlangt  hatte,  unmög- 
lich war;  aber  sie  hatte  das  grosse  Verdienst,  dass  sie  die  Ärzte  an 
den  Gedanken  gewöhnte,  von  der  Spekulation  wenig,  von  der  Unter- 
suchung der  Thatsachen  viel,  wenn  nicht  Alles  zu  erwarten. 

Die  Chemie  verdankte  dieser  Erkenntniss  viele  Entdeckungen  und 
eine  bedeutende  Vermehrung  ihres  Inhalts.  Der  Arzt  Libavius  erfand 
die  Bereitung  der  Schwefelsäure  aus  Schwefel  und  Salpeter  und  er- 
kannte, dass  sie  identisch  war  mit  derjenigen,  welche  sich  aus  Vitriol 
oder  Alaun  bildet.  Er  stellte  zuerst  das  Doppelt-Chlorzinn  durch 
Destillation  des  Quecksilbersublimats  mit  Zinn  dar  und  kannte  die 
Färbung  der  Glasflüsse  durch  Zusatz  von  Gold.  Turquet  de  Mayerne 
lehrte  die  Sublimation  der  Benzoe-Blumen. 

Auch  J.  B.  van  Helmont  bereicherte  die  Chemie  mit  einer  Menge 
neuer  Thatsachen.  Er  sprach  den  Satz  aus,  dass  nur  diejenigen  Metalle 
aus  einer  Lösung  ausgeschieden  werden,  welche  schon  vorher  darin  ent- 
halten waren,  und  gab  damit  der  Goldmacherkunst  den  Todesstoss.  Er 
entdeckte  die  Kohlensäure  und  führte  den  Begriff  der  Gase  für  Luft- 
arten, welche  nicht  mit  der  atmosphärischen  Luft  übereinstimmen,  in 
die  Chemie  ein.  Von  der  experimentellen  Methode  seiner  Forschung 
liefert  der  Versuch,  welchen  er  anstellte,  um  den  Antheil  des  Bodens, 
des  Wassers  und  der  Luft  an  der  Ernährung  der  Pflanze  zu  studieren, 
einen  deutlichen  Beweis. 

In  den  Schriften  Glaubers,  welcher  über  das  schwefelsaure  Natron 
und  mehrere  andere  Salze  genauere  Aufschlüsse  gab,  findet  sich  sogar 
schon  ein  ahnungsvolles  Verständniss  der  chemischen  Verwandtschaft.1 
Eine  tiefere  Begründung  erhielt  dieselbe  durch  Robert  Boyle,  welcher 
in  seiner  Corpuscular-Theorie  die  Auflösung  chemischer  Verbindungen 
in  ihre  Bestandtheile  und  deren  Vereinigung  mit  denjenigen  anderer 


1  Kopp  a.  a.  0.  I,  111.  114.  120  u.  ff  130. 


288  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit 

chemischer  Verbindungen  durch  die  Anziehung  und  Abstossung,  welche 
sie  aufeinander  ausüben,  zu  erklären  suchte. 

Mit  Boyle  begann  die  Zeit,  da  man  die  Chemie  um  ihrer  selbst 
willen  studierte  und  nicht  mehr  als  blosses  Hilfsmittel  betrachtete,  um 
den  Stein  der  Weisen  zu  finden,  wie  die  Alchymisten,  oder  um  neue 
Medicamente  darzustellen,  wie  die  Chemiatriker.  Er  entdeckte  die 
Phosphorsäure,  das  Kupferchlorür,  die  flüchtige  Schwefelleber  und  war 
der  Erste,  welcher  das  entgegengesetzte  Verhalten  der  Säuren  und 
Alkalien  gegenüber  gewissen  Pflanzenfarben  beobachtete.  Von  ihm 
rührt  der  Gebrauch  her,  Papierstreifen  mit  Pflanzenfarben  zu  tränken 
und  als  Reagentien  zu  benutzen.  Boyle  erwarb  sich  grosse  Verdienste 
um  die  Begründung  der  analytischen  Chemie,  sowie  um  die  Verwendung 
der  Chemie  zu  technischen  Zwecken.1 

An  dem  weiteren  Aufbau  der  wissenschaftlichen  Chemie  nahmen 
Kunkel,  Becher,  W.  Homberg,  Lemery,  Stahl,  F.  Hoeemann,  welcher 
sich  vorzugsweise  mit  der  chemischen  Untersuchung  der  Mineralquellen 
beschäftigte  und  z.  B.  in  dem  Seidlitzer  Mineralwasser  das  Bittersalz 
auffand,  Marggraf,  der  Begründer  der  Runkelrübenzucker-Fabrikation, 
du  Hamel,  der  auf  die  Verschiedenheit  des  Natrons  und  Kali  auf- 
merksam machte,  die  Darstellung  der  Soda  lehrte  und  ihr  Vorkommen 
in  der  Asche  von  Pflanzen,  die  an  der  Meeresküste  wachsen,  nachwies, 
H.  Cavendish,  dessen  Untersuchungen  über  das  Wasserstoffgas,  welches 
er  leider  für  das  gesuchte,  nicht  existirende  Phlogiston  hielt,  über  die 
Wirkungen,  das  specifische  Gewicht  und  die  Absorbirbarkeit  der  Kohlen- 
säure durch  Wasser,  Öl  und  Alkohol  hier  Erwähnung  verdienen,  Berg- 
mann, welcher  die  Lehre  von  der  chemischen  Verwandtschaft  bearbeitete, 
Scheele,  der  sich  um  die  organische  Chemie  Verdienste  erwarb  und 
ausser  verschiedenen  Pflanzensäuren  die  Milchsäure  und  die  Harnsäure 
entdeckte,  aber  auch  die  anorganische  Chemie  durch  die  Auffindung 
mehrerer  neuer  Elemente,  wie  das  Chlor  und  Mangan,  förderte,  u.  A. 
einen  hervorragenden  Antheil.  Viele  unter  ihnen  waren  zugleich  Ärzte 
und  widmeten  daher  den  Beziehungen  der  Chemie  zur  Medicin  ihre 
besondere  Aufmerksamkeit. 

Leider  wurde  der  Fortschritt  der  Chemie  beeinträchtigt  durch  vor- 
gefasste  irrige  Meinungen,  welche  sich  zu  Dogmen  von  allgemeiner 
Geltung  entwickelt  hatten.  So  nahm  man  an,  dass  der  Verbrennungs- 
prozess  von  dem  Vorhandensein  eines  Stoffes,  den  man  Phlogiston 
nannte,  abhängig  sei,  und  dass  die  grössere  oder  geringere  Verbrenn- 
lichkeit   eines   Körpers   darauf   beruhe,   in   welcher   Menge   er   diesen 


1  Kopp  a.  a.  0.  I,  165  u.  ff. 


Die  eorperimentelle  Richtung  der  Natur  luissensch.  etc.  während  d.  17.  Jahrh.  289 


hypothetischen  Brennstoff  enthalte.  Die  phlogistische  Theorie,  nach 
deren  Analogie  man  den  Säuren  einen  sauern  Stoff,  die  sogenannte 
Ursäure,  und  den  kaustischen  Alkalien  einen  kaustischen  Stoff  zu  Grunde 
legte,  beherrschte  die  Geister  nahezu  ein  Jahrhundert  und  wurde  erst 
durch  Lavoisiee  beseitigt. 

Ein  glücklicherer  Stern  waltete  über  der  Physik,1  indem  die 
Forscher  hier  nicht  durch  haltlose  unbegründete  Hypothesen  in  ihrem 
Urtheile  beeinflusst  und  auf  Irrwege  geleitet  wurden,  sondern  ihre  ganze 
geistige  Kraft  dazu  gebrauchten,  Bausteine  herbeizutragen,  welche  zu 
der  Errichtung  eines  Lehrgebäudes  der  wissenschaftlichen  Physik  ver- 
wendet werden  konnten. 

Galilei,  dessen  Leistungen  in  der  Astronomie  und  dessen  Martyrium 
für  seine  Überzeugung  bekannter  sind  als  seine  Verdienste  um  die 
Physik,  entdeckte  die  Fall-  und  Pendelgesetze.  Er  erkannte  die  Be- 
deutung des  Satzes  vom  Parallelogramm  der  Kräfte  und  versuchte  -  mit 
Hilfe  desselben  die  Bahn  geworfener  Körper  zu  bestimmen.  Gleich- 
zeitig mit  Stevinus  bearbeitete  er  auch  die  Hydrostatik  und  Hydro- 
dynamik. „Wenn  ein  Einzelner  auf  die  Ehre  des  Begründers  einer  so 
vielfach  verzweigten  Wissenschaft,  wie  die  Physik  ist,  Anspruch  machen 
kann,  schreibt  Poggendoree  (a.  a.  0.  S.  268),  so  ist  sie  unbedenklich 
keinem  Andern  als  Galilei  zu  ertheilen;  denn  er  hat  den  Grund  zu 
der  wissenschaftlichen  Mechanik  gelegt,  die  alle  übrigen  Theile  der 
Physik  mehr  oder  weniger  als  Nerv  durchzieht". 

Schon  1597  verfertigte  Galilei  einen  Thermometer,  mit  dessen 
Herstellung  sich  auch  Bob.  Fludd,  Sanctoeius  und  Coen.  Dbebbel 
beschäftigt  haben. 

Galilei's  hochbegabter  Schüler  Toericelli  stellte  die  Gesetze  des 
Ausfliessens  von  Flüssigkeiten  aus  Röhren  fest,  erfand  (1643)  den  Baro- 
meter und  erklärte  die  Veränderungen  des  Luftdruckes  für  die  Ursachen 
des  Steigens  und  Fallens  der  Quecksilbersäule.  Pascal  lieferte  dafür 
unwiderlegbare  Beweise  und  zeigte,  dass  man  mit  Hilfe  des  Barometers 
die  Höhenunterschiede  zweier  Orte  feststellen  kann.  Maeiotte,  J.  Pecquet 
und  Sinclair  führten  diesen  Gedanken  weiter  aus  und  brachten  ihn 
seiner  Verwirklichung  näher.  Pascal  construirte  einen  Wein-Barometer, 
während  Berti  und  0.  v.  Guericke  statt  des  Quecksilbers  Wasser  in 
die  Röhre  einschlössen. 

Der  Bürgermeister  von  Magdeburg  und  ehemalige  Ingenieur  der 
Festung  Erfurt,  Otto  von  Guericke,  ersann  die  Luftpumpe  und  setzte 
die  auf  dem  Reichstage  zu  Regensburg  i.  J.  1654  versammelten  Fürsten 


1  J.  C.  Poggendorff,  Geschichte  der  Physik,  Leipzig  1879,  S.  204  u.  ff. 
Puschmann,   Unterricht.  ig 


290  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


durch  die  Versuche,  welche  er  damit  anstellte,  in  kein  geringes  Er- 
staunen. Er  machte  gute  Beobachtungen  über  das  Gewicht  der  Luft 
und  verfertigte  den  ersten  Manometer,  um  den  Grad  der  Dichtigkeit  und 
des  Druckes  der  Luft  zu  messen.  Auch  wies  er  nach,  dass  im  luftleeren 
Baume  kein  Ton  zu  Stande  kommt  und  keine  Verbrennung  stattfindet. 

Seine  Beobachtungen  wurden  durch  Boyle  vervollständigt,  welcher 
die  Elasticität  der  Luft  genauer  studierte  und  das  irriger  Weise  nach 
Mariotte  genannte  Gesetz  entdeckte,  dass  die  Volumina  derselben  Luft- 
masse im  umgekehrten  Verhältnisse  zu  dem  auf  ihnen  lastenden  Drucke 
stehen. 

Um  die  gleiche  Zeit  versuchte  man  die  Geschwindigkeit  des  Schalles 
zu  bestimmen.  Gassendi  gab  an,  dass  derselbe  in  einer  Sekunde  einen 
Weg  von  1473  Fuss  zurücklege.  Meksenne  kam  der  Wahrheit  schon 
etwas  näher,  indem  er  diese  Zahl  auf  1380  Fuss  ermässigte.  Waren 
auch  die  Kesultate,  zu  denen  sie  gelangten,  unrichtig,  so  schlugen  sie 
doch  die  richtige  Methode  der  Untersuchung  ein,  und  dies  war  schon 
ein  ausserordentlicher  Fortschritt.  Selbst  ein  Newton  vermochte  nicht 
alle  Fehlerquellen  zu  vermeiden;  er  berechnete  die  Geschwindigkeit  des 
Schalles  auf  906  Pariser  Fuss  in  der  Sekunde,  weil  er,  wie  Laplace 
gezeigt  hat,   den  Einfluss  der  Wärme  nicht  genügend  berücksichtigte. 

Die  bedeutendsten  Fortschritte  geschahen  in  der  Optik.  Sie  wurden 
begünstigt  und  zum  Theil  überhaupt  erst  ermöglicht  durch  verschiedene 
Instrumente,  deren  Erfindung  in  jene  Zeit  fiel.  Das  Fernrohr  befähigte 
das  Auge  zum  Sehen  in  die  Ferne,  das  Mikroskop  eröffnete  ihm  die 
Einsicht  in  die  Welt  des  Kleinen.  Durch  diese  beiden  optischen  Hilfs- 
mittel wurde  das  menschliche  Sehvermögen  in  ungeahnter  Weise  ver- 
stärkt und  der  Forschung  Gebiete  erschlossen,  welche  jenseits  der  natür- 
lichen Grenzen  des  menschlichen  Erkennens  lagen. 

Die  Heimath  dieser  Erfindungen  war  Holland.  Wem  ihre  Priorität 
gebührt,  ist  zweifelhaft;  doch  scheint  es,  dass  die  Brüder  Janssen, 
welche  im  Beginn  des  17.  Jahrhunderts  als  Glasschleifer  in  Middelburg 
lebten,  wenigstens  in  Bezug  auf  das  zusammengesetzte  Mikroskop  die 
meisten  Ansprüche  darauf  haben.  Es  ist  hier  nicht  meine  Aufgabe, 
auf  die  Geschichte  dieser  Entdeckung  näher  einzugehen,  und  auch  über- 
flüssig, da  sie  von  Haeting  eine  ziemlich  erschöpfende  Darstellung 
erfahren  hat. l  Welche  ausserordentliche  Bedeutung  das  Mikroskop  für 
die  Naturwissenschaften  erlangt  hat,  lässt  sich  mit  Worten  nicht  ge- 
nügend schildern. 


',->■ 


1  P.  HARTrNG:   Das  Mikroskop,    ins  Deutsche  übers,  v.  Theile,  III.  Theil, 
Braunschweig  1866. 


Die  experimentelle  Richtung  der  Naturwissensch.  etc.  während  d.  17.  Jahrh.    291 

Die  Instrumente  wurden  allmälig  in  mannigfacher  Weise  ver- 
bessert und  vervollkommnet.  Die  Erfindung  der  Spiegel-Teleskope  durch 
James  Gregory,  diejenige  des  Mikrometers  oder  Fadenkreuzes  durch 
Bob.  Hooke,  die  erste  Construktion  achromatischer  Linsen  aus  einer 
Combination  von  Krön-  und  Flintglas  durch  More  Hall  u.  a.  m. 
schlössen  sich  später  daran  an. 

Man  wagte  sich  jetzt  sogar  an  die  schwierigen  Probleme  des  Lichts 
und  der  Farben.  Der  grosse  Denker  Descartes  (Cartesius),  dem  die 
Mathematik  die  Einführung  der  negativen  Wurzeln  der  Gleichungen 
und  die  Begründung  der  analytischen  Geometrie  verdankt,  versuchte 
eine  Erklärung  des  Kegenbogens  und  entwickelte  dabei  das  Gesetz  des 
Einfalls-  und  Keiiexwinkels.  Snell  stellte  das  Verhältniss  der  Medien 
zu  der  Brechung  der  Lichtstrahlen  fest,  und  Grimaldi  entdeckte  die 
Diffraction  oder  Inflexion  des  Lichts,  sowie  die  Dispersion  oder  Farben- 
zerstreuung. 

Schon  der  Letztere,  noch  mehr  aber  Hooke,  als  er  seine  Be- 
obachtungen über  die  Farben  dünner  Blättchen  veröffentlichte,  hatte 
eine  Ahnung  von  der  wellenförmigen  Bewegung  des  Lichts,  welche 
Huygens,  gestützt  auf  das  Phänomen  der  doppelten  Strahlenbrechung, 
in  seiner  Undulations- Theorie  zu  einer  wissenschaftlichen  Thatsache 
erhob.  Freilich  dauerte  es  länger  als  ein  Jahrhundert,  bis  sie  allgemein 
anerkannt  wurde;  denn  Newton  hatte  behauptet,  dass  das  Licht  aus 
konkreten  Theilchen  bestehe,  die  mit  grosser  Schnelligkeit  vom  leuchten- 
den Körper  ausgesandt  werden,  und  seine  Autorität  war  so  mächtig,  dass 
ihr  gegenüber  alle  Versuche,  der  Wahrheit  zum  Siege  zu  verhelfen, 
vergeblich  waren.  Erst  1815  gelang  es  den  Bemühungen  eines  Fresnel 
und  Araoo,  der  Undulations-Theorie  überall  Eingang  zu  verschaffen. 

Aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  stammen  auch  die  ersten 
Mittheilungen  über  die  Erscheinungen  der  Polarisation,  welche  Newton 
zwar  beobachtete,  aber  selbstverständlich  nicht  zu  erklären  vermochte. 
Dagegen  kam  er  bei  seinen  Versuchen  über  die  Dispersion  des  Sonnen- 
lichts, welche  er  in  der  Weise  anstellte,  wie  es  schon  Grimaldi  und 
vor  diesem  der  Prager  Arzt  Marcus  Marci  von  Kronland  gethan  hatten, 
zu  dem  wichtigen  Ergebniss,  dass  das  weisse  Licht  aus  unzählig  vielen 
Farbenstrahlen  von  verschiedener  Brechbarkeit  zusammengesetzt  wird 
und  jedem  Grade  von  Brechbar keit  eine  bestimmte  Farbe  entspricht. 
Newtons  Ansicht  über  die  Entstehung  und  das  Wesen  der  Farben  war 
nicht  richtig;  es  scheint,  dass  hier  Leonh.  Euler  zuerst  (1746)  den 
richtigen  Zusammenhang  geahnt  hat. 

Dem  17.  Jahrhundert  gehören  ferner  eine  Anzahl  physikalischer 
Entdeckungen  an,  welche   die  Cultur  nach  verschiedenen  Richtungen 

19* 


292  Der  medicinisehe   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


mächtig  gefördert  haben.  Hooke  vervollkommnete  die  Taschenuhren 
durch  die  Spiralfeder,  und  Huygens  erfand  die  Pendel-Uhren. 

Der  Marquis  von  Worcester,  der  Kapitän  Savery,  Moreland, 
Papin  u.  A.  studierten  die  Dampfkraft  genauer  und  ersannen  Maschinen 
zu  ihrer  praktischen  Verwerthung.  Dieselben  litten  Anfangs  an  manchen 
Unvollkommenheiten.  So  musste  das  Öffnen  und  Schliessen  der  Hähne 
am  Einspritzrohr  und  Dampfrohr  von  Menschenhand  besorgt  werden. 
Da  bemerkte  eines  Tages  ein  kluger  Bursche,  dem  dieses  Geschäft  an- 
vertraut war,  dass  das  Drehen  der  Hähne  mit  der  Bewegung  des 
Balanciers  zusammenhing.  Er  verband  sie  daher  mit  Bindfäden  und 
sah,  dass  die  Maschine  fortan  von  selbst  ging.  Der  Bindfaden  wurde 
später  natürlich  durch  andere  praktische  Vorrichtungen  ersetzt.  Papin 
machte  sogar  schon  den  Vorschlag,  die  Dampfkraft  zur  Bewegung  von 
Schiffen  zu  benutzen. 

Auch  die  ersten  Beobachtungen  der  elektrischen  Erscheinungen 
reichen  in  jene  Periode  zurück.1  Der  Engländer  Gilbert,  welcher  den 
tellurischen  Magnetismus  entdeckte,  fand,  dass  die  Elektricität  durch 
Reiben  entsteht,  aber  nicht  in  allen  Körpern  erzeugt  werden  kann  und 
vom  Magnetismus  verschieden  ist.  0.  v.  Guericke  beobachtete  mit 
Hilfe  eines  von  ihm  construirten  Apparates,  der  eine  Vorstufe  zur 
Elektrisirmaschine  bildete,  ausser  der  schon  bekannten  elektrischen  An- 
ziehung auch  die  Abstossung,  von  der  man  bis  dahin  nichts  wusste, 
sowie  das  Leuchten  und  Knistern  beim  Elektrisiren.  Den  eigentlichen 
elektrischen  Funken  beschrieb  dann  der  englische  Forscher  Wall 
i.  J.  1698,  welcher  dieses  Licht  und  das  beim  Elektrisiren  entstehende 
Knistern  bereits  mit  dem  Blitz  und  Donner  verglich.  Stephan  Gray 
stellte  (1729)  den  Unterschied  zwischen  Leitern  und  Nichtleitern  der 
Elektricität  durch  Experimente  fest,  zeigte,  dass  die  Elektricität  von 
einem  Körper  dem  andern  mitgetheilt  wird,  und  dass  dazu  nicht  immer 
die  direkte  Berührung  erforderlich  ist,  sondern  schon  die  Annäherung 
genügt;  er  wies  ferner  nach,  dass  es  bei  der  Elektrisirung  der  Körper 
nicht  auf  deren  Masse,  sondern  nur  auf  ihre  Oberfläche  ankommt,  und 
war  der  Erste,  welcher  das  Wasser  und  den  Menschen  elektrisirte  und 
sich  dabei  bereits  des  Isolirschemmels  bediente. 

Bald  darauf  machte  Düfay  die  wichtige  Entdeckung,  dass  es  zwei 
verschiedene  Arten  der  Elektricität  giebt,  von  denen  die  eine  am  Glase, 
die  andere  am  Harz  haftet.  Daran  schlössen  sich  die  Verbesserungen 
der  Apparate  zur  Erzeugung  von  Elektricität  durch  Böse,  J.  H.  Winkler 
u.  A.,  welche  zur  Construktion  der  Elektrisirmaschine  führten,    ferner 


1  E.  Hoppe:  Geschichte  der  Elektricität,  Leipzig  1884. 


Die  experimentelle  Richtung  der  Naturwissensch.  etc.  während  d.  17.  Jahrh.   293 


die  Erfindung  der  Verstärkungsflasche,  die  ziemlich  gleichzeitig  von 
Musschenbroek  in  Leyden  und  dem  Baron  Kleist  in  Pommern  ge- 
macht wurde,  sowie  die  Entdeckung  der  atmosphärischen  Elektricität 
durch  Le  Monnier,  die  Erfindung  des  Blitzableiters  durch  Benjamin 
Franklin  und  die  Herstellung  des  ersten  Elektrometers  durch  John 
Canton. 

Endlich  müssen  hier  noch  einige  Fortschritte  in  der  Physik  er- 
wähnt werden,  welche  der  gleichen  Zeit  angehören.  Der  Thermometer 
wurde  auf  Anregung  des  Mediceers  Ferdinand  IL  verbessert.  Man  erfand 
auch  schon  den  Differential-Thermometer.  Amontons,  der  das  Hygroskop 
ersann  und  den  Einfluss  der  Wärme  auf  den  Barometer  studierte,  ver- 
fertigte den  ersten  wirklichen  Luft-Thermometer.  Durch  die  Graduirung 
und  Anbringung  einer  Skala  am  Thermometer,  wodurch  sich  nament- 
lich der  Danziger  Fahrenheit  Verdienste  erwarb,  wurde  seine  prak- 
tische Verwendbarkeit  sehr  erhöht. 

In  Florenz  machte  man  die  ersten  Beobachtungen  über  die  spe- 
cifische  Wärme,  die  man  Wärme-Kapacität  nannte. 

Ale.  Borelli  gab  Aufschlüsse  über  die  schon  von  Lionardo  da 
Vinci  gekannten  Erscheinungen  der  Capillarität. 

Aber  alle  diese  Thatsachen  traten  an  Bedeutung  zurück  vor  J.  New- 
ton's  Entdeckung  der  allgemeinen  Gravitation.1  durch  welche  die  unendlich 
complicirten  Bewegungen  der  Himmelskörper  nach  den  allgemein  gül- 
tigen Gesetzen  der  Mathematik  und  Physik  erklärt  und  der  Beweis  ge- 
liefert wurde,  dass  die  letzteren  im  ganzen  Weltall  Geltung  haben. 
Dieser  Gedanke  übte  den  grössten  Einfluss  auf  die  Emancipation  des 
menschlichen  Geistes  von  den  mystisch-transcendenten  Gewalten  aus 
und  gab  ihm  eine  Macht,  die  in  das  Gebiet  des  Überirdischen  zu 
reichen  schien. 

Wenn  sich  Newton  sonst  kein  Verdienst  um  die  Physik  erworben 
hätte,  so  würde  die  Gravitationstheorie  genügen,  seinen  Namen  in  der 
Geschichte  dieser  Wissenschaft  unter  den  Ersten  zu  nennen.  Er  war 
einer  der  grössten  Mathematiker  und  Physiker,  die  jemals  gelebt  haben. 
Will  man  die  für  die  Physik  an  Ergebnissen  und  Entdeckungen  so  un- 
gemein fruchtbare  Geistesrichtung  jener  Zeit  mit  einem  Wrorte  be- 
zeichnen, so  darf  man  nur  an  Newton  erinnern,  der  ihr  hervorragendster 
Vertreter  war. 

Welcher  mächtige  Umschwung  in  der  Denkweise  hatte  sich  voll- 
zogen in  dem  Zeiträume  von  Galilei  bis  Newton!    Die  Naturwissen- 


1  W.  Whewell:  Geschichte  der  inductiven  Wissenschaften,  Stuttgart  1840, 


II,  158  u.  ff. 


294  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

schaften,  welche  noch  im  16.  Jahrhundert  von  den  herrschenden  Auto- 
ritäten unterdrückt  und  bevormundet,  von  der  öffentlichen  Meinung  mit 
Gleichgültigkeit  oder  Missachtung  behandelt  und  nur  von  Wenigen  ge- 
pflegt und  thatkräftig  gefördert  wurden,  standen  jetzt  im  Brennpunkte 
der  geistigen  Interessen  und  durften  ohne  Scheu  die  höchsten  Probleme 
des  menschlichen  Daseins  in  den  Bereich  ihrer  Untersuchungen  ziehen. 

Mit  jugendlichem  Feuereifer  ging  die  Naturforschung  an  ihre  Auf- 
gaben, und  die  raschen,  alle  Erwartungen  übersteigenden  Erfolge,  die 
sie  errang,  schienen  zu  der  Hoffnung  zu  berechtigen,  dass  ihr  keine 
Schranke  gesetzt  sei.  Als  sich  dieselbe  nicht  erfüllte  und  der  mensch- 
lichen Erkenntniss  unüberwindliche  Hindernisse  entgegentraten,  da  er- 
lahmte der  Fleiss,  und  die  Arbeit  begann  zu  stocken.  Man  wandte 
sich  wiederum  anderen  Bestrebungen  zu,  welche  mehr  Erfolg  versprachen, 
als  die  Beschäftigung  mit  den  Naturwissenschaften. 

Auf  den  siegreichen  Aufschwung,  welchen  die  Naturwissenschaften 
im  16.  und  17.  Jahrhundert  erlebten,  folgte  ihr  Niedergang  oder  Still- 
stand im  18.  Jahrhundert,  welches  keine  wesentliche  Vermehrung  des 
Wissensinhalts  brachte,  aber  unter  dem  Einfluss  einer  encyklopädischen 
Richtung  der  Geister  zu  einer  Sammlung  und  Sichtung  der  gewonnenen 
Ergebnisse  führte,  die  für  ihre  weitere  Entwickelung  nützlich  und  noth- 
wendig  war. 


Die  mikroskopische  Forschung  in  der  Anatomie  und 
das  Experiment  in  der  Physiologie. 

Das  16.  Jahrhundert  sah  die  glänzenden  Triumphe  der  Anatomen, 
welche  den  Bau  des  menschlichen  Körpers  erforschten;  dem  17.  Jahr- 
hundert drückte  das  physiologische  Experiment,  welches  eine  auf  That- 
sachen  begründete  Wissenschaft  schuf,  die  Signatur  auf. 

Die  Anatomie  wurde,  soweit  es  durch  Untersuchungen  mit  dem 
unbewaffneten  Auge  möglich  war,  in  ihren  wesentlichen  Grundzügen 
schon  im  16.  Jahrhundert  festgestellt.  Die  folgenden  Zeiten  hatten 
die  Aufgabe,  die  errungenen  Wissens-Resultate  zu  prüfen,  zu  berich- 
tigen und  durch  Detailforschungen  zu  vervollständigen  und  weiter  aus- 
zuarbeiten. 

Diese  Untersuchungen  gewannen  durch  die  Loupe  und  das  Mikro- 
skop eine  Tiefe  und  Gründlichkeit,  welche  man  früher  nicht  erreichen 
konnte.  Die  Anatomen  widmeten  daher  ihre  Aufmerksamkeit  haupt- 
sächlich  der  feineren  Struktur  der  Organe,    welche   mittelst   der   neu 


Die  mikroskop.  Forschg.  in  d.  Anatomie  u.  d.  Experiment  in  d.  Physiologie.    295 


entdeckten  optischen  Instrumente  in  erfolgreicher  Weise  untersucht 
wurde.  Die  besten  Mikroskope  besass  Leeuwenhoek,  welcher  sie  selbst 
zusammensetzte.  Sie  ermöglichten  eine  160 — 270 fache  Vergrößerung, 
während  die  Instrumente,  welche  andere  Forscher  benutzten,  höchstens 
eine  143  fache  Vergrößerung  zuliessen. 

Leeuwenhoek  schilderte  den  röhrigen  Bau  der  Knochen  und  be- 
merkte bereits  die  Knochen -Körperchen,  welche  später  von  Purkinje 
wieder  entdeckt  und  genauer  beschrieben  wurden. l  Er  wies  ferner  auf 
die  Schmelzsubstanz  der  Zähne  hin,  deren  übrige  Struktur  von  Malpighi 
aufgeklärt  wurde.  Clopton  Havers  entdeckte  die  noch  jetzt  seinen 
Namen  führenden  Knochenkanäle;2  du  Hamel  studierte  die  Bildung 
des  Knochengewebes  und  erkannte,  dass  sich  dasselbe  unter  Betheiligung 
des  Periosts  aus  Knorpel  entwickelt,  wobei  die  Gefässe  nach  seiner  An- 
gabe das  erforderliche  Bildungsmaterial  zuführen;  J.  Th.  Klinkosch 
in  Prag  lehrte  dann  die  Entstehung  des  Knochens  aus  Bindegewebe, 
während  Haller  an  der  Entwicklung  desselben  aus  Knorpel  festhielt 
und  die  Umwandlung  von  den  Gefässen,  welche  die  von  ihm  entdeckten 
Primordial-Knochenkerne  umspinnen,  ausgehen  liess. 

Daneben  wurde  auch  die  makroskopische  Kenntniss  der  Osteologie 
bereichert.  Nath.  Highmore  entdeckte  die  Höhle  des  Oberkiefers, 
Olaus  Worm  beschrieb  die  nach  ihm  genannten,  schon  von  Eustachio 
gekannten  Nahtknochen,  Th.  Kerckring  verfolgte  die  Entwickelung 
des  Skeletts  am  Fötus,  und  Friedr.  Kuysch  machte  auf  die  Ver- 
schiedenheiten des  männlichen  und  weiblichen  Skeletts,  namentlich  auf 
die  Unterschiede  in  der  Form  des  Beckens  und  des  Brustkorbes  bei 
beiden  Geschlechtern  aufmerksam.  Die  Bänderlehre  erfuhr  durch  Josias 
Weitbrecht  eine  sorgfältige  Bearbeitung.3 

Die  Struktur  der  äusseren  Haut  wurde  von  Malpighi,  an  den  das 
Bete  mucosum  noch  heut  erinnert,  und  Leeuwenhoek  untersucht, 
welcher  die  glatten  Schuppen  der  Epidermis,  sowie  die  durch  die  Bil- 
dung von  Schwielen  und  Narben  erzeugten  Veränderungen  der  Haut 
und  die  Ablagerung  des  Pigments  bei  farbigen  Menschenrassen  beob- 
achtete. Über  die  Struktur  und  die  Funktion  der  Nasenschleimhaut 
gab  C.  V.  Schneider  einige  Aufschlüsse.4 

Mit  der  Zusammensetzung  der  Muskelsubstanz  beschäftigten  sich 
A.  Borelli,    R.  Hooke  und  vor  Allen  Nicolaus  Steno,   welcher  auf 


1  P.  J.  Haaxmann  in  der  Nederl.  Tijdschr.  v.  Geneesk  1871,  II,  1—86. 

2  Cl.  Havers:  Observationes  de  ossibus,  Amstelod.  1731,  p.  63. 

3  Jos.  Weitbrecht:  Syndesmologie,  Deutsche  Ausgabe,  Strassburg  1779. 

4  K.  F.  H.  Marx  in  den  Abhandlungen  d.  kgl.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen, 


Bd.  19,  1873. 


296  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit 

die  Gleichartigkeit  ihres  Baues  bei  Menschen  und  Thieren  hinwies  und 
zeigte,  dass  Gefässe  und  Nerven  in  die  Muskeln  eintreten,  und  dass  die 
letzteren  aus  Fibrillenbündeln  bestehen  und  von  einer  Haut  umgeben 
sind,  welche  auch  zwischen  die  einzelnen  Fibrillenbündel  eindringt. 
Leeuwenhoek  bemerkte  die  Querstreifung  der  Muskelbündel  und  lehrte, 
dass  das  Wachsthum  der  Muskeln  nicht  durch  die  Vermehrung,  sondern 
durch  die  Vergrößerung  der  Primitivbündel  erfolgt.  Er  erklärte,  dass 
die  Muskel  Substanz  aus  kleinen  Kugeln  zusammengesetzt  sei.  K.  Hooke 
hielt  dieselben  für  Prismen. 

Das  Studium  der  Gefässlehre  wurde  durch  das  neu  entdeckte  In- 
jektions-Verfahren, um  dessen  Vervollkommnung  sich  Swammeedam  und 
Kuysch  die  meisten  Verdienste  erwarben,  ausserordentlich  erleichtert.1 
Zur  Einspritzung  in  die  Gefässe  verwendeten  sie  gefärbte,  leicht  gerinn- 
bare harzige  Flüssigkeiten.  Ruysch,  von  dem  man  sagte,  dass  er  die 
Hände  einer  Fee  und  die  Augen  eines  Luchses  besitze,  konnte  dadurch 
das  Vorhandensein  und  die  Vertheilung  der  Blutgefässe  an  Körper- 
stellen nachweisen,  die  man  früher  für  gefässlos  gehalten  hatte.  Er 
beschrieb  auch  die  Bronchialgefässe  und  die  Kranzgefässe  des  Herzens; 
Keeckeing  fand  an  der  Pfortader  des  Pferdes  die  Vasa  vasorum,  und 
Leeuwenhoek  erläuterte  die  Struktur  der  Gefässhäute. 

Der  Bau  des  Herzens  wurde  von  Steno,  Lowee  und  Vieussens 
aufgeklärt.  Daran  schlössen  sich  später  die  Arbeiten  von  Winslow  und 
Senac  an.  Die  Lungen  wurden  von  Malpighi  sorgfältig  untersucht; 
derselbe  wies  nach,  dass  sie  aus  kleinen  Bläschen  bestehen,  deren  Wände 
mit  Gefässen  reich  versehen  sind.2  Eine  musterhafte  Darstellung  der 
anatomischen  Verhältnisse  der  Leber  gab  Glisson,3  während  Malpighi, 
welcher  auch  zuerst  den  acinösen  Bau  der  Drüsen  erkannte,4  der  Milz 
seine  Aufmerksamkeit  widmete. 

Die  Ausbreitung  des  Bauchfells  schilderte  James  Douglas,  dessen 
Name  sich  noch  durch  andere  Beobachtungen  in  der  Geschichte  der 
Anatomie  erhalten  hat.  Die  Schweizer  Ärzte  Peyee  und  Beunnee  ent- 
deckten die  Drüsen  des  Darmkanals.  G.  Wiesung  fand  den  Ductus 
pancreaticus ,  Steno  den  Ausführungsgang  der  Parotis,  Whaeton  den- 
jenigen der  Unterkieferdrüse  und  Quieinus  üivinus  denjenigen  der 
Glandula  subungualis. 

Den  Bau  der  Nieren  untersuchten  Malpighi,  Bellini  und  Beetin, 


1  Burggraeve  a.  a.  0.  p.  294  u.  ff. 

2  De  pulmonibus   epist.  duae  in   Malpighi:   Op.  omnia,  London  1686,  III, 
133  u.  ff. 

3  F.  Glisson:  Anatomia  hepatis,  Amstelod.  1659. 

4  M.  Malpighi:  De  structura  glandularum  conglob.,  London  1697. 


Die  mikroskop.  Forschg.  in  d.  Anatomie  u.  d.  Experiment  in  d.  Physiologie.  297 


während  die  Kenntniss  der  Sexualorgane  durch  W.  Cowper,  der  die 
nach  ihm  genannten,  schon  früher  bekannten  Drüsen  beschrieb,  durch 
Reinier  de  Graae,  welcher  die  Follikel  des  Eierstocks  schilderte,  durch 
D.  Santorini,  der  die  corpora  lutea  einer  näheren  Untersuchung  unter- 
zog, und  besonders  durch  William  Hunter  gefördert  wurde,  welcher 
die  besten  Beobachtungen  über  die  Anatomie  des  Hodens  anstellte  und 
die  erste  richtige  Darstellung  der  Veränderungen,  welche  der  Uterus 
durch  die  Schwangerschaft  erfährt,  veröffentlichte. 

Auf  einem  niedrigen  Standpunkte  befand  sich  die  Neurologie. 
Steno  gestand  offenherzig,  dass  er  von  dem  Bau  des  Gehirns  nichts 
verstehe,  und  meinte,  dass  es  den  übrigen  Anatomen  ebenso  ergehe. 
Er  verlangte,  dass  man  die  Nervenfasern  durch  die  Gehirnsubstanz  ver- 
folge, war  sich  indessen  der  Schwierigkeiten  dieser  Untersuchungs- 
methode wohl  bewusst,  und  zweifelte,  ob  man  jemals  ohne  besondere 
Apparate  damit  zum  Ziele  kommen  werde.1 

Willis,  der  Entdecker  des  Nervus  accessorius,  Sylvius  und  Humphr y 
Ridley  lieferten  gute  Beschreibungen  des  Gehirns;  J.  J.  Wepeer  schil- 
derte die  Verbreitung  der  Blutgefässe  desselben;  Vieussens  bemerkte 
die  Pyramiden  und  Oliven  der  Medulla  oblongata  und  fand,  dass  die 
harte  Hirnhaut  Nervenfäden  vom  Trigeminus  erhält;2  Lancisi  machte 
auf  die  Faserung  des  Corpus  callosum  aufmerksam  und  untersuchte  den 
Bau  der  Zirbeldrüse;  Malpighi  gab  über  die  Vertheilung  der  grauen 
und  weissen  Substanz  des  Gehirns  Aufschlüsse  und  beobachtete  den 
Übergang  der  Faserzüge  des  Rückenmarks  in  das  Gehirn.3 

In  Betreff  der  feineren  Struktur  der  Gehirnmasse  gelangte  man 
zu  keiner  klaren  Anschauung.  Man  huldigte  im  Allgemeinen  der 
Hypothese,  dass  die  graue  Substanz  des  Gehirns  aus  Blutgefässen  und 
kleinen  Follikeln  bestehe,  von  denen  weisse  Nervenfasern  ausgehen. 

Die  peripherischen  Nerven  wurden  genauer  beschrieben  und  mehrere 
Ganglien  entdeckt,  wie  z.  B.  das  Ganglion  Gasseri  am  Nervus  trige- 
minus. 4 

Mit  grösserem  Erfolge  wurde  die  Anatomie  der  Sinnesorgane  be- 
arbeitet. Ruysch  entdeckte  die  nach  ihm  genannte  Membran  der 
Chorioidea  des  Auges;  Leeuwenhoek  schilderte  die  Zusammensetzung 
der   Linse  aus  Fasern,    die  sich  zu  Blättern  vereinigen;    Meibom  be- 


1  W.  Plenkers   in  den  Maria  -  Laacher  Stimmen  1884,  VII,  H.  25.  26.  — 
Th.  Puschmann  in  der  Wiener  Neuen  freien  Presse  1886,  26.  November. 

2  R.  Vieussens:  Neurographia  universalis,  Lugd.  1685,  p.  82.  170. 

3  M.  Malpighi:  De  cerebro  in  Op.  omnia  a.  a.  0.  III,  1  u.  ff. 

4  A.  B.  R.  Hirsch:  Paris  quinti  nervorum  encephali  disquisitio  anatomica, 
Vienn.  1765,  p.  20. 


298  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


schrieb  (1666)  die  in  der  Substanz  des  Augenlidknorpels  eingelagerten 
Drüsen1  und  Steno  die  Thränen-Organe ;  Poureotjr  du  Petit  fand 
den  zwischen  den  beiden  Blättern  der  Membrana  hyaloidea  des  Glas- 
körpers um  den  Rand  der  Linsenkapsel  verlaufenden  Kanal;  Zinn 
machte  auf  die  Zonida  ciliaris  aufmerksam;  Demours  beobachtete  die 
seinen  Namen  führende  Haut  an  der  hinteren  Fläche  der  Cornea. 

Mit  der  Anatomie  des  Gehörorgans  beschäftigten  sich  Duverney, 
Yieussens,  Yalsalva,  Cassebohm,  Cotuono  u.  A.,  während  der  Bau  der 
Stimmwerkzeuge,  besonders  des  Kehlkopfes,  durch  die  Untersuchungen 
von  Drelincourt,  Santorini  und  Wrisberg  aufgeklärt  wurde. 

Die  grössten  Erfolge  feierte  die  physiologische  Forschung.  Das 
Zeitalter  des  Experiments,  wie  man  das  1 7.  Jahrhundert  nennen  kann, 
führte  eine  vollständige  Umwälzung  der  bisherigen  Anschauungen  herbei 
und  machte  die  Physiologie  zu  einer  Wissenschaft. 

Die  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  bildete  den  Grundstein,  auf 
dem  das  Lehrgebäude  derselben  errichtet  wurde.  Schon  Servet  und 
Realdo  Colombo  lehrten,  dass  das  Blut  aus  dem  rechten  Herzen  durch 
die  Lungen- Arterie  und  die  Lungen-Yenen  in  das  linke  Herz  gelange; 
aber  erst  Will.  Harvey  lieferte  den  Beweis  dafür,  indem  er  auf  diesem 
Wege  Wasser  von  der  A.  pulmonalis  in  das  linke  Herz  trieb. 

Es  lag  nahe,  dieses  Schema  auch  auf  die  übrigen  Gefässe  des 
Körpers  zu  übertragen.  Dieser  Annahme  stand  jedoch  die  damals 
herrschende  Lehre  entgegen,  dass  die  Arterien  hauptsächlich  Luft,  und 
nur  wenig  Blut  enthalten,  und  dass  das  Blut  ebensowohl  in  den  Yenen, 
wie  in  den  Arterien  in  centrifugaler  Richtung  fliesse. 

Harvey  beseitigte  diese  Irrthümer.2  Er  öffnete  Arterien  unter 
Wasser  und  sah,  dass  keine  Luftblasen  aufsteigen;  er  schnitt  Arterien 
auf  und  beobachtete,  welche  Menge  von  Blut  sie  enthalten.  Er  be- 
schäftigte sich  ferner  mit  dem  Mechanismus  der  kurz  vorher  entdeckten 
Yenenklappen  und  machte  den  Yersuch,  von  den  Stämmen  aus  Luft 
in  die  mit  Klappen  versehenen  Yenen  einzublasen.  Dabei  fand  er,  dass 
die  Klappen  so  gestellt  sind,  dass  sie  den  Blutstrom  in  der  Richtung 
von  den  Stämmen  zur  Peripherie  hemmen  und  erschweren,  in  der  um- 
gekehrten, also  centripetalen  Richtung  dagegen  erleichtern  und  fördern. 

War  diese  Thatsache  richtig,  so  tauchte  die  Frage  auf,  woher  das 
in  den  feinen  Yerästelungen  der  Yenen  vorhandene  Blut  stamme.  Da 
sich  nicht  denken  liess,  dass  das  Arterienblut  in  den  Organen  voll- 
ständig verbraucht  wird,  so  ergab  sich  von  selbst  die  Erklärung,  dass 


1  H.  Meibom:  De  vasis  palpebrarum  novis,  Lugd.  Batav.  1723,  p.  185  u.  ff. 

2  W.  Harvey:  Works  ed.  by  R.  Wri.us,  London  1847. 


Die  mikroskqp.  Forschg.  in  d.  Anatomie  u.  d.  Experiment  in  d.  Physiologie.  299 


es,  wie  es  beim  Lungenkreislauf  nachgewiesen  worden  war,  in  die  Venen 
übertritt.  Die  Art,  wie  sich  dieser  Übergang  vollzieht,  wurde  erst  von 
Malpighi  aufgeklärt,  welcher  die  Capillaren  entdeckte  und  zuerst  mit 
dem  Mikroskop  den  Übertritt  des  Blutes  aus  den  Venen  in  die  Arterien 
beobachtete. 

Haevey  hielt  an  der  irrigen  Ansicht  fest,  dass  die  Leber  die  Be- 
reitungsstätte des  Blutes  bilde.  Den  richtigen  Sachverhalt  erkannte 
man  erst,  als  Gaspaee  Aselli  die  Chylus-Gefässe,  Jean  Pecquet  den 
Ductus  thoracicus  und  0.  Kudbeck  und  Th.  Baktholinus  das  Lymph- 
gefässsystem  auffanden  und  auf  deren  Bedeutung  für  die  Bereitung  des 
Blutes  hinwiesen. 

An  die  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  schlössen  sich  eine  Keihe 
von  Untersuchungen  über  das  Gefässsystem,  das  Blut,  seine  Zusammen- 
setzung, Bereitung,  Bewegung  u.  a.  m.  an.  A.  Boeelli  führte  zuerst 
den  Gedanken  aus,  dass  das  Gefässsystem  einem  hydraulischen  Werke 
gleiche,  und  versuchte  die  Kraft  zu  berechnen,  mit  welcher  das  Blut 
durch  die  Gefässe  fiiesst.  Er  kam  dabei  freilich  zu  falschen  ^Resultaten, 
da  die  dabei  in  Betracht  kommenden  Verhältnisse  noch  nicht  genügend 
bekannt  waren.  So  schätzte  er  z.  B.  den  Widerstand,  den  die  sich 
immer  mehr  verengernden  Arterien  leisten,  ausserordentlich  hoch.1 
William  Cole  machte  deshalb  darauf  aufmerksam,  dass  die  Summe 
der  Querschnitte  der  Gefässe  mit  ihrer  Entfernung  vom  Herzen  zunimmt 
und  das  Gefässsystem  sich  als  ein  Kegel  darstellt,  dessen  Grundfläche 
in  der  Peripherie  des  Körpers  uud  dessen  Spitze  sich  am  Herzen 
befindet. 2 

Bellini  zeigte,  dass  das  Blut  um  so  langsamer  fiiesst,  je  mehr 
sich  die  Gefässe  in  Zweige  vertheilen.  Stephan  Hales  suchte  die 
Stärke  des  Blutdruckes  und  die  Geschwindigkeit  der  Blutbewegung  durch 
eine  Reihe  von  Experimenten  festzustellen  und  führte  zu  diesem  Zweck 
eine  Glasröhre  in  die  durchschnittene  Arterie  eines  lebenden  Thieres 
ein,  um  zu  beobachten,  wie  hoch  das  Blut  getrieben  wird.3  Molyneux 
und  Leeuwenhoek  beobachteten  unter  dem  Mikroskop  die  Geschwin- 
digkeit der  Blutbewegung.4 

Der  irländische  Arzt  Allen  Moulin  machte  den  ersten  Versuch, 
die  Menge  des  im  Körper  enthaltenen  Blutes  zu  bestimmen.  Er  öffnete 
die  Herzen  lebender  Thiere  und  berechnete  aus  der  Blutmenge,  die  sie 


1  Alf.  Borelli:  De  motu  animalium.  Lugd.  Bat.  1685,  I,  p.  94  u.  ff. 

2  Will.  Cole:  De  secretione  animali,  Genev.  1696,  c.  7,  p.  26. 

3  St.  Hales:  Haemostatique   ou  la  statique   des  animaux,  Französ.  Übers, 
mit  Bemerkungen  von  de  Sauvage,  Geneve  1744. 

4  Pliilos.  Transactions,  London  1685,  No.  177,  p.  1286. 


300  Der  medicinisehe   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


fassten,  und  der  Geschwindigkeit  der  Blutbewegung  die  Quantität  des 
im  Körper  enthaltenen  Blutes.  Bei  dieser  ziemlich  unvollkommenen 
Methode  gelangte  er  zu  dem  Ergebnisse  dass  das  Gewicht  der  Blut- 
menge ungefähr  den  zwanzigsten  Theil  des  Körpergewichts  ausmache.1 

Auf  die  Zusammensetzung  des  Blutes  warf  die  Entdeckung  der 
Blutkörperchen,  welche  Malpighi  zuerst  bemerkte ,  ein  aufklärendes 
Licht.  Sie  wurden  von  Swammerdam  als  eiförmige  Gebilde,  von 
Malpighi  als  korallenartige  Schnüre,  und  von  Leeuwenhoek,  der  ihre 
Gestalt  an  verschiedenen  Thierklassen  studierte,  als  flach-ovale  Kugel- 
chen  beschrieben.  Hewson  glaubte,  dass  sie  ein  kleines  Bläschen  ent- 
halten, und  sprach  die  Ansicht  aus,  dass  sie  hauptsächlich  in  der  Milz 
entstehen.  Vieussens  und  Chieac  dachten  sogar  schon  an  die  che- 
mische Untersuchung  des  Blutes.  A.  Badia  und  Menghini  lieferten 
den  Nachweis,  dass  das  Blut  Eisen  enthält;  F.  Quesnay,  der  um  die 
National-Okonomie  hochverdiente  Begründer  des  plrysiokratischen  Systems, 
lehrte,  dass  das  Blut  folgende  Bestandtheile  enthält:  1)  Wasser,  2)  Ei- 
weissartige  Stoffe,  welche  in  der  Hitze  gerinnen  und,  wenn  sie  faulen, 
eine  alkalische  Schärfe  entwickeln,  3)  Fette,  welche  in  der  Kälte  starr 
werden,  in  der  Wärme  zerfliessen  und  eine  ranzige  Schärfe  erzeugen, 
4)  Gelatinöse  Stoffe  und  5)  Gallige,  seifenartige  Substanzen.2  Hewson 
setzte  die  Untersuchungen  über  das  physikalische  und  chemische  Ver- 
halten des  Blutes  fort  und  beschäftigte  sich  eingehend  mit  der  Gerin- 
nung desselben,  deren  Ursachen  er  durch  verschiedene  Experimente  zu 
erforschen  bemüht  war.3 

Man  hatte  beim  Aderlass  oft  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt,  dass 
das  Blut  sich  röther  färbt,  wenn  es  mit  der  Luft  in  Berührung  kommt. 
Ebenso  war  schon  den  Alten  die  Thatsache  bekannt,  dass  das  arterielle 
Blut  heller  ist,  als  das  venöse.  Die  Iatrophysiker,  wie  Malpighi,  Pit- 
caien  u.  A.  erklärten  diese  Erscheinung  dadurch,  dass  das  Blut  durch 
die  eingeathmete  Luft  eine  feine  Zertheilung  erfahre,  während  die  Che- 
miatriker  einen  chemischen  Einfluss  der  Luft  annahmen.  Ihre  Versuche, 
den  Bestandtheil  derselben,  der  diese  Wirkung  äussert,  zu  ergründen, 
führten  natürlich  nicht  zum  Ziele.  K.  Bathurst  und  N.  Henshaw 
sprachen  die  Ansicht  aus,  dass  es  derselbe  Stoff  sei,  welcher  auch  in 
der  Salpetersäure  eine  wichtige  Rolle  spiele. 

Die  Art,  in  welcher  die  Luft  auf  das  Blut  wirkt,  wurde  von  Dom. 


1  Philosophical  Transactions,  London  1687,  Decemb.,  No.  191,  p.  433  u.  ff. 

2  F.  Quesnay:   Essai  physique  sur  l'economie  animale,  Paris  1747,  II,  342 
u.  ff.,  III,  31  u.  ff".  —  Haeser  a.  a.  0.  II,  592. 

3  Will.  Hewson:  Vom  Blut,  Deutsche  Übers.,  Nürnberg  1780.  —  E.  Brücke: 
Vorlesungen  über  Physiologie,  Wien  1885,  I,  81  u.  ff. 


Die  mikroskop.  For selig,  in  d.  Anatomie  u.  d.  Experiment  in  d.  Physiologie.  301 


Mistichelli  genauer  untersucht,  indem  er  durch  Einblasen  von  Luft 
in  die  Lungen  sterbender  Thiere  nicht  blos  den  Farbenwechsel  des 
Blutes  hervorzurufen,  sondern  auch  die  Bewegungen  des  Herzens  gleich- 
sam neu  zu  beleben  vermochte.1  Um  die  gleiche  Zeit  stellten  Peyer 
und  Härder  Experimente  mit  den  Herzen  abgestorbener  Thiere  und 
gehenkter  Menschen  an,  welche  sie  durch  Einblasen  von  Luft  wieder 
in  Bewegung  setzten.2 

Santokio,  welcher  sich  durch  die  Erfindung  verschiedener  physi- 
kalischer Instrumente  bekannt  machte, 3  wollte  das  Verhältniss  zwischen 
den  Einnahmen  und  Ausgaben  des  Körpers  bestimmen,  unternahm  zu 
diesem  Zweck  durch  30  Jahre  genaue  Wägungen  der  Nahrung,  die  er 
zu  sich  nahm,  und  der  Excremente,  welche  ausgeschieden  wurden,  ver- 
glich die  Ergebnisse  mit  dem  Körpergewicht  und  fand  dabei,  dass  ein 
Theil  der  aufgenommenen  Nahrung  auf  unsichtbare  Weise  in  der  Form 
von  Gasen  (Perspiratio  insensibilis)  den  Körper  verlässt.4  Denys  Dodart 
wiederholte  diese  Versuche  und  bemerkte  dabei,  dass  bei  zunehmendem 
Alter  die  sichtbaren  Produkte  der  Ausscheidung  vermehrt  werden. 

Die  Prozesse  der  Verdauung,  Ernährung  und  Absonderung  wurden 
von  den  Iatrophysikern  und  den  Chemiatrikern  in  verschiedenartiger 
Weise  beurtheilt.  Während  die  Einen  der  Ansicht  huldigten,  dass  der 
Magen  eine  zerkleinernde,  zerreibende  Wirkung  auf  die  Nahrung  ausübe, 
glaubten  die  Anderen,  dass  dieselbe  durch  die  chemischen  Kräfte  des 
Speichels,  des  Magensaftes,  des  pankreatischen  Saftes  und  der  Galle 
zersetzt  und  in  einen  Brei  verwandelt  werde.  Die  künstlichen  Ver- 
dauungsversuche, welche  Spallanzani  und  Carminati  später  anstellten, 
zeigten,  inwieweit  beide  Momente  in  Frage  kommen.5 

Ähnlich  verhielt  man  sich  dem  Vorgang  der  Absonderung  und 
Ernährung  der  Organe  gegenüber;  doch  war  es  keinem  Zweifel  unter- 
worfen, dass  die  Erklärung  der  latrophysiker,  welche  auf  den  Blut- 
druck, die  Form,  die  Verästelungen  und  Krümmungen  der  Gefässe, 
und  die  Porosität  der  Capillaren  hinwiesen,  sich  mehr  auf  dem  Boden 
der  Thatsachen  bewegte,  als  diejenige  der  Chemiatriker. 

Die  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  lenkte  die  Aufmerksamkeit  der 
Forscher  auf  die  thierische  Bewegung  überhaupt.    Nicol.  Steno  machte 


1  Philosoph,  [experiinents  aiid  observations  of  Rob.  Hooke  etc.  p.  by  W.  Der- 
ham,  London  1726,  p.  372  u.  ff. 

2  Peyeri:  Parerga  anatom.  et  medica,  Genev.  1681,  p.  198. 

3  K.  Sprengel  a.  a.  0.  IV,  422  u.  ff. 

4  Sanct.  Sanctorius:  De  statica  medicina,  Venet.  1614,  sect.  I. 

5  Spallanzani:   Versuche  über  das  Verdauungsgeschäft  des  Menschen   und 
verschiedener  Thierarten,  Deutsche  Übers.,  Leipzig  1785. 


302  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


den  ersten  Versuch,  die  Thätigkeit  der  Muskeln  nach  den  allgemein- 
gültigen Lehrsätzen  der  Mechanik  zu  erklären. x  Bei  dieser  Gelegenheit 
veröffentlichte  er  seine  Beobachtungen  über  die  Veränderungen  der 
Form  und  Consistenz,  welche  der  Muskel  bei  der  Zusammenziehung 
und  Ausdehnung  erfährt. 

Wenige  Jahre  später  (1680)  erschien  A.  Borelli's  berühmtes 
Werk  de  motu  animalium,  in  welchem  die  complicirten  BeAvegimgen  in 
die  Thätigkeitsäusserungen  der  einzelnen  Muskeln  aufgelöst  wurden.2 
Der  Verfasser  verglich  darin  die  Knochen  und  die  sich  daran  ansetzenden 
Muskeln  mit  physikalischen  Hebel-Apparaten.  Um  die  Kraft  eines 
Muskels  zu  bestimmen,  hing  er  an  demselben  so  viele  Gewichte  an,  bis 
seine  Fasern  zerrissen. 

Schon  Steno  machte  die  Beobachtung,  dass  die  Muskelsubstauz 
das  vom  Einfiuss  der  Gefässe  und  Nerven  unabhängige  Vermögen  be- 
sitze, zu  Bewegungen  angeregt  zu  werden,  wie  es  de  Maechettis  nur 
für  das  Herz  und  die  Darmmuskeln  angenommen  hatte.  Durch  Ex- 
perimente an  Fröschen  und  Schildkröten  wurde  festgestellt,  dass  die 
Bewegungsfähigkeit  selbst  nach  der  Entfernung  des  Gehirns  noch  vor- 
handen ist.  Steno  wies  auf  die  Rolle  hin,  welche  dabei  das  Blut  spielt; 
er  unterband  die  absteigende  Aorta  des  Frosches  und  zeigte,  dass  darauf 
die  Lähmung  der  Muskeln  des  Hinterleibes  folgt.  Auch  Baglivi  suchte 
die  Ursache  der  dem  Muskelgewebe  innewohnenden  Contractilität  im 
Blute  und  sah  in  den  Nerven  nur  die  Erreger  der  Bewegung.  Er 
machte  bei  dieser  Gelegenheit  Andeutungen,  welche  sich  auf  die  Unter- 
scheidung der  glatten  von  den  quergestreiften  Muskelfasern  beziehen 
lassen.3  Mayow  hob  dagegen  den  Einfiuss  der  atmosphärischen  Luft 
auf  die  Muskelthätigkeit  hervor. 

Glisson  betrachtete  die  Irritabilität  als  eine  der  Materie  über- 
haupt zukommende  Eigenschaft;4  Willis  schrieb  dieselbe  nur  den 
Muskeln  zu.  Auf  Grund  einer  grossen  Anzahl  von  Untersuchungen 
und  Vivisektionen  stellte  A.  Haller  später  fest,  welchen  Grad  von 
Sensibilität  und  Irritabilität  die  verschiedenen  Gewebe  und  Organe  des 
Körpers  besitzen.  Er  kam  dabei  zu  dem  Schluss,  dass  die  Sensibilität 
an  das  Vorhandensein  von  Nerven,  die  Irritabilität  an  dasjenige  von 
Muskelsubstanz  gebunden  sei. 


1  Nie.   Stenonis    elemcntorum   myologiae   speeimen  scu    rnusculi  descriptio 
geometrica,  Flor.  1667.  2  a.  a.  0.  I,  p.  19  u.  ff. 

3  Gr.  Baglivi:  De  fibra  motrice  et  morbosa  in  dessen  Opera  omnia  medico- 
pract.  et  anatom.,  Antwerpen  1719. 

4  Glisson:   De  ventriculo   et  intestinis,  Amstelod.  1677,    p.  168  u.  ff.   nach 
G.  H.  Meyer  in  Haeser's  Archiv,  Jena  1843,  V,  p.  1  u.  ff. 


Die  mikroskop.  Forschg.  in  d.  Anatomie  u.  d.  Experiment  in  d.  Physiologie.  303 


Die  Nerven  dachte  man  sich  mit  einem  Fluidum  gefüllt,  nnd 
Glisson  sprach  sogar  von  Strömen,  die  in  den  Nerven  auf  und  nieder 
gehen.  Selbstverständlich  haben  dieselben  mit  dem,  was  man  heute 
darunter  versteht,  nur  die  Ähnlichkeit  des  Ausdrucks  gemein. 

In  der  Erklärung  der  Nerven-Thätigkeit  gingen  die  Iatrophysiker 
und  die  Chemiatriker  auseinander,  indem  Jene  mit  Newton  Vibrationen, 
Spannungen  und  Erschlaffungen,  Diese  chemische  Umsetzungen  des 
Nerven-Inhalts  annahmen.  Diejenigen,  welche  weder  die  eine  noch  die 
andere  Deutung  befriedigte,  nahmen  ihre  Zuflucht  zu  den  hypothetischen 
Lebensgeistern,  die  auf  alle  Fragen  die  gewünschte  Antwort  gaben. 

Das  Gehirn  galt  allgemein  als  das  Centrum  der  geistigen  Thätig- 
keit.  Willis  wagte  sogar,  die  verschiedenen  Seelen- Vermögen  in  den 
einzelnen  Theilen  des  Gehirns  zu  lokalisiren;  so  verlegte  er  den  Sitz 
der  Empfindung  in  die  Streifenhügel,  des  Gedächtnisses  in  die  Mark- 
substanz, und  der  animalischen  Funktionen  in  das  Kleinhirn. 

E.  Whytt  lieferte  durch  eine  Menge  von  Vivisektionen  den  Nach- 
weis, dass  die  Bewegungsfähigkeit  noch  lange  Zeit  nach  dem  Tode  er- 
halten bleibt,  und  wies  darauf  hin,  dass  sich  enthauptete  Frösche  „plan- 
mässig  und  wie  mit  Bewusstsein  bewegen".  Er  schloss  daraus,  dass 
das  Gehirn  nicht  das  einzige  Centrum  der  geistigen  Thätigkeit  sein 
könne.1  Die  physiologischen  Funktionen  des  Rückenmarks  suchte 
Caldani  zu  erforschen,  der  zu  diesem  Zweck  partielle  Zerstörungen 
desselben  vornahm. 

Der  grosse  Astronom  Kepler  entwarf  die  Grundzüge  einer  richtigen 
Theorie  des  Sehens,  bemerkte  die  Verschiedenheit  der  Kugelabschnitte 
an  der  vorderen  und  hinteren  Fläche  der  Linse,  erklärte,  dass  dieses 
Organ  keinesAvegs  der  Sitz  des  Sehvermögens  sei,  wie  man  damals 
glaubte,  sondern  dazu  diene,  die  einfallenden  Lichtstrahlen  in  ent- 
sprechender Weise  zu  brechen,  verfolgte  die  Schicksale  der  letzteren, 
bis  sie  die  Netzhaut  treffen,2  und  zeigte,  dass  Kurzsichtigkeit  und  Fern- 
sichtigkeit  auf  Anomalien  der  brechenden  Medien  beruhen  und  durch 
passende  Brillen  mit  coneaven  oder  convexen  Gläsern  ein  richtiges  Bild 
des  Sehobjekts  hervorgebracht  wird.  Pater  Scheiner  in  Wien  vervoll- 
ständigte diese  Untersuchungen  und  bewies  durch  das  nach  ihm  ge- 
nannte Experiment,  dass  ein  Gegenstand  nur  innerhalb  einer  bestimmten 
Entfernung  vom  Auge  deutlich  gesehen  wird.  Er  machte  dabei  auch 
die  Beobachtung,  dass  sich  die  Pupille  bei  der  Betrachtung  naher  Gegen- 

1  Kob.  Whytt:  An  essay  on  the  vital  and  involuntary  motions  of  animals, 
Edinburgh  1751,  p.  344  u.  ff.,  384  u.  ff.  —  R.  Whytt:  Physiological  essays,  Edin- 
burgh 1755,  p.  107  u.  ff,  214  u.  ff. 

2  Poggendorff  a.  a.  0.  S.  168  u.  ff. 


304  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

stände  verengert.  Der  Prior  des  Klosters  zu  St.  Martin,  E.  Mariotte, 
machte  die  Entdeckung,  dass  die  Eintrittsstelle  des  Sehnerven  für  Licht- 
strahlen unempfindlich  ist.1 

Die  Physiologie  des  Gehörs  wurde  von  Cl.  Perkault,  dem  be- 
rühmten Arzt  und  Architekten,  dem  Erbauer  des  Louvre  in  Paris,  be- 
gründet. Er  sah  zuerst  die  auf  dem  Spiralblatt  der  Schnecke  sich 
ausbreitenden  Nervenfäden  und  erklärte  sie  für  das  Organ  der  Gehör- 
Empfindung;2  auch  erkannte  er  die  Rolle,  welche  das  Labyrinth  mit 
den  halbzirkelförmigen  Kanälen  bei  der  Eortleitung  des  Schalles  spielt. 
Duverney  verfolgte  die  Verbreitung  des  Gehörnerven  im  innern  Ohre 
genauer  und  ergänzte  die  Ergebnisse  Perrault's  in  einzelnen  Punkten. 
Darauf  folgten  Valsalva's  vortreffliche  Arbeiten. 

Cl.  Perrault  versuchte  auch  die  Entstehung  der  Stimme  zu  er- 
klären, indem  er  auf  den  Bau  des  Kehlkopfes  hinwies.  Denys  Dodart 
meinte,  dass  der  Ton  durch  die  in  Folge  der  Schwingungen  der  Luft 
entstehende  Zusammenziehung  oder  Erweiterung  der  Stimmritze  erzeugt 
wird;  Ant.  Eerrein  erkannte,  dass  dabei  die  Vibrationen  der  Stimm- 
bänder die  wichtigste  Bedeutung  haben.3 

P.  Camper  wollte  aus  den  Verschiedenheiten  im  Bau  der  Stimm- 
werkzeuge verschiedener  Thierklassen  die  Differenzen  ihrer  Stimmen 
erklären.  Mit  der  Physiologie  der  Sprache  beschäftigten  sich  Ammann, 
W.  v.  Kempelen  und  Kratzenstein,  welche  die  ersten  Maschinen  zur 
Nachahmung  der  menschlichen  Sprache  construirten. 

Als  Organe  des  Geschmacksinns  wurden  schon  von  Malpighi  und 
Bellini  die  Papillen  der  Zunge  erklärt.  In  die  Papillen  der  Haut 
verlegte  Malpighi  den  Sitz  der  Tastempfindung.  Bohn  wies  auf  die 
Verschiedenheit  des  Tastsinns  vom  Wärme-Sinn  hin,  und  der  Genfer 
Philosoph  Bonnet  warf  bereits  die  Frage  auf,  ob  die  Zunge  für  jede 
Art  von  Geschmacksempfindung  besondere  Nerven  und  das  Ohr  für 
jeden  Ton  eine  besondere  Chorde  besitze.4 

Zu  den  wichtigsten  Tagesfragen,  welche  die  Naturforscher  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  beschäftigten,  gehörte  die  Lehre  von  der 
Erzeugung  und  Ent Wickelung  des  thierischen  Embryo.    Auch  hier  war 


1  Lettres  ecrites  par  Mariotte,  Pecquet  et  Perraui/t  sur  Je  sujet  d'une 
nouvelle  decouverte  touehant  la  veue  par  Mariotte  im  Recueil  de  plusieurs  traitez 
de  mathematique  de  I'acad.  royale  des  sciences,  Paris  1676. 

2  Oeuvres  diverses  de  physique  et  de  mechanique,  Leyden  1721,  Vol.  I, 
p.  247  u.  ff.  (du  bruit,  partie  III). 

3  Hist.  de  I'acad.  royale  des  sciences  avec  les  memoires  etc.,  Paris  1700, 
p.  244  u.  ff.,  1706  p.  136  u.  ff,  388  u.  ff.,  1707  p.  66  u.  ff,  1741  p.  409  u.  ff. 

4  Brief  Bonnets  an  Haller  nach  Haeser  a.  a.  0.  II,  596. 


Die  mikroskop.  Forschg.  in  d.  Anatomie  u.  d.  Experiment  in  d,  Physiologie.  305 


es  Will.  Harvey,  welcher  den  Untersuchungen  eine  feste  Basis  gab, 
indem  er  den  Satz  aussprach:  Omne  animal  ex  ovo.  Er  lehrte,  dass 
sich  die  Frucht  aus  dem  von  der  Mutter  stammenden  Ei  entwickele 
und  der  männliche  Samen  nur  die  Anregung  zu  diesem  Vorgänge  gebe. 

Man  huldigte  der  Meinung,  dass  sich  das  Ei  während  der  Be- 
gattung vom  Ovarium  loslöse;  aber  schon  Kerckrino  berichtet,  dass 
ihm  weibliche  Personen  erzählt  hätten,  es  werde  bei  jeder  Menstruation 
ein  Ei  ausgestossen. 1  Die  Eiertheorie  wurde  noch  mehr  begründet  durch 
Swammerdam,  Malpighi  und  Redi,  welche  den  HARVEY'schen  Satz 
in  Omne  vivum  ex  ovo  erweiterten  und  sogar  auf  die  Pflanzen  an- 
wendeten. 

Eine  mächtige  Erschütterung  erfuhr  diese  Lehre  durch  die  Ent- 
deckung der  Samenthierchen,  welche  Joh.  Ham  i.  J.  1677  zuerst  be- 
merkte. Leeuwenhoek,  welcher  diese  Beobachtung  bestätigte  und  die 
Spermatozoen  als  geschwänzte,  mit  einem  runden  Kopf  versehene,  in 
fortwährender  Bewegung  begriffene,  ausserordentlich  kleine  Thierchen 
beschrieb,  stellte  auf  Grund  dessen  die  Hypothese  auf,  dass  nicht  die 
Eier,  sondern  die  Samenthierchen  die  Keime  der  Frucht  bilden.  Hart- 
soeker  glaubte  eine  Ähnlichkeit  zwischen  den  Spermatozoen  und  der 
menschlichen  Gestalt  zu  erkennen  und  betrachtete  dieselben  als  präfor- 
mirte  Embryonen.  Der  schöngeistige  Leibnitz  sprach  sogar  von  der 
Unsterblichkeit  der  Samenthierchen. 

Diesen  Träumereien  machte  Antonio  Vallisneri  ein  Ende,  indem 
er  die  hohe  Bedeutung  des  Eies  für  die  Entwickelung  der  menschlichen 
Frucht  bestätigte;  doch  beging  er  den  Fehler,  dass  er  die  Spermatozoen 
für  unwesentliche  zufällige  Bestandteile  des  Samens  hielt  und  daher 
als  einflusslos  für  die  Zeugung  erklärte.  Diese  Ansicht  wurde  auch  von 
Bufeon,  Haller  u.  A.  vertheidigt  und  erlangte  nahezu  allgemeine 
Geltung;  erst  Spallanzani  beschäftigte  sich  wieder  genauer  mit  der 
Frage,  wo  die  wirkende  Ursache  der  Befruchtung  liege,  und  unternahm 
zu  diesem  Zweck  eine  Reihe  künstlicher  Befruchtungs versuche  mit 
männlichem  Samen.2 

Über  die  Entwickelung  der  Frucht,  besonders  über  die  Bildung 
des  Gefässsystems  gab  Haller  einige  werthvolle  Aufschlüsse;  der  fötale 
Kreislauf  wurde  schon  von  Duverney  ausführlich  dargestellt. 

Die  meisten  Forscher  huldigten  der  alten  theologischen  Evolutions- 
Theorie,    nach    welcher    die    Keime    der    organischen    Wesen    von    der 


1  Th.  Kerckring:  Anthropogenia  ichnographica,  Amstelod.  1671,  p.  3. 

2  Spallanzani:    Versuche   über  die  Erzeugung    der  Thiere    und    Pflanzen, 
Deutsche  Übers.,  Leipzig  1786. 

Puschmann,   Unterricht.  20 


306  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Schöpfung  des  ersten  derselben  präformirt  seien  und  gleichsam  schachtel- 
artig in  einander  stecken.  Sie  wurde  beseitigt  durch  die  Lehre  von 
der  Epigenesis,  in  welcher  Caspar  Friedr.  Wolef  auf  Grund  einer 
grossen  Anzahl  sorgfältiger  Beobachtungen  den  Nachweis  lieferte,  dass 
die  Organe  in  ihrer  Anlage  nicht  von  Anfang  an  vorhanden  sind, 
sondern  dass  die  einzelnen  Theile  des  Körpers  in  Folge  einer  Reihe 
von  Differenzirungen  allmälig  in  die  Erscheinung  treten.1 

Mit  grossem  Scharfsinn  wies  er  auf  die  analoge  Entwicklung  der 
Pflanzen  und  Thiere  hin  und  machte  dabei  bereits  Andeutungen  der  von 
Goethe  entwickelten  Metamorphosenlehre  im  Pflanzenreiche,  ebenso  wie 
er  auch  bemerkte,  dass  das  Nervensystem,  der  Darmkanal  und  die  Ge- 
fässe  und  Muskeln  des  thierischen  Körpers  aus  gesonderten  Keimlagen 
hervorgehen.  Für  die  Grundbestandtheile  des  Körpers  erklärte  er  kleine 
Kügelchen  oder  Bläschen;  vielleicht  spricht  sich  darin  bereits  eine 
Ahnung  der  Zelle  aus?  — 


Die  Fortschritte  in  den  übrigen  Theilen  der  Heilkunde 
während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts. 

Wie  in  der  Physiologie,  so  machten  sich  auch  in  der  Pathologie 
die  Gegensätze  zwischen  den  Iatrophysikern  und  den  Chemiatrikern 
geltend.  Man  versuchte  die  Krankheiten  theils  durch  mechanische 
Störungen,  z.  B.  durch  Stockungen  des  Blutes  oder  des  Nerven-Inhalts, 
theils  durch  chemische  Vorgänge,  durch  Gährungen  und  Zersetzungen 
zu  erklären.  Hervorragende  Denker  unter  den  Ärzten,  wie  Borellt, 
Pitcairn,  Helmont,  Sylvius,  Willis,  Boerhaae  und  Fr.  Hoeemann 
errichteten  auf  diesen  Theorien  kunstvolle  Lehrgebäude  der  Patho- 
logie, deren  Hinfälligkeit  mit  dem  Fortschritt  der  Wissenschaft  zu 
Tage  trat. 

Die  Lücken  und  Fehler,  besonders  die  Einseitigkeit,  welche  einige 
dieser  medicinischen  Systeme  zeigten,  führte  dazu,  dass  man  sie  mit 
dynamischen  Hypothesen  verschmolz,  wie  es  schon  von  Paracelsus  ver- 
sucht und  dann  von  Helmont  und  Willis  wiederholt  wurde.  Doch 
wurde  die  dynamische  Theorie,  welche  in  manchen  Beziehungen  an  die 
Lehren  der  Pneumatiker  des  Alterthums  erinnerte,  aber  selbstverständ- 


1  C.  F.  Wolff:  Theoria  generationis ,  Halle  1759.  —  C.  F.  Wolff:   Über 
die  Bildung  des  Darmkanals  im  bebrüteten  Hühnchen,  Berlin  1812,  S.  57.  125.  148. 


Die  Fortschritte  in  d.  übrigen  Theilen  d.  Heilk.  ivährend  des  17.  u.  18.  Jahrh.  307 


lieh  dem  christliehen  Glauben  entsprechend  umgeformt  worden  war, 
zunächst  nur  zur  Erklärung  der  letzten  Ursachen  des  organischen  Ge- 
schehens benutzt. 

Stahl  entwickelte  dieselbe  zu  einem  Animismus,  der  die  wissen- 
schaftliche Erforschung  der  Medicin  als  überflüssig  betrachtete.  Zu 
einem  ähnlichen  Schluss,  wenigstens  in  Bezug  auf  die  theoretischen 
Grundlagen  der  Medicin,  gelangten  jene  Ärzte,  welche,  wie  Sydenham, 
unbefriedigt  von  den  Versuchen,  die  Theorie  mit  der  Praxis  zu  ver- 
söhnen, an  der  Lösung  dieser  Aufgabe  verzweifelten  und  die  auf  der 
Erfahrung  ruhende  Heilkunst  für  das  einzige  Ziel  ihres  Strebens  er- 
klärten. 

Die  künstlichen  Schulsysteme,  welche  dem  Scharfsinn  und  der 
Phantasie  entsprangen,  überlebten  sich  rasch  und  glichen  den  schil- 
lernden Seifenblasen,  welche  durch  ihren  Farbenreichthum  einen  Augen- 
blick blenden,  um  dann  spurlos  unterzugehen.  Nur  was  die  Erfahrung 
in  jener  Zeit  errungen,  was  die  Beobachtung  der  Wissenschaft  erschlossen 
hat,  das  ist  geblieben  und  einer  der  vielen  Bausteine  geworden,  welche 
das  Fundament  der  Heilkunde  bilden. 

Eine  reiche  casuistische  Literatur  förderte  die  Kenntniss  der  Krank- 
heiten im  Einzelnen  und  lenkte  die  Aufmerksamkeit  der  Ärzte  auf 
Symptomen -Gruppen,  welche  früher  nur  wenig  oder  gar  nicht  be- 
achtet worden  waren.  Gleichzeitig  wurde  die  Diagnostik  der  Leiden 
mit  neuen  Hilfsmitteln  bereichert  und  mit  der  Sammlung  der  Berichte 
über  die  Veränderungen  an  den  Leichen  die  wissenschaftliche  Bear- 
beitung der  pathologischen  Anatomie  vorbereitet.  Sylvius  beschrieb 
die  Tuberkelherde  der  Lungen  und  leitete  von  dem  eiterigen  Zerfalle 
derselben  die  Schwindsucht  ab.1  Willis  schilderte  den  Diabetes  mellitus 
und  hob  dabei  den  süssen  Geschmack  des  Urins  hervor,  den  er  sich 
nicht  zu  erklären  vermochte.2  Werlhoe  lieferte  die  erste  Beschreibung 
der  Blutflecken-Krankheit.3 

Aus  dem  17.  Jahrhundert  stammen  auch  die  frühesten  Mitthei- 
lungen über  die  Bachitis,  deren  Erscheinungen  schon  von  B.  Reusner 
skizzirt,  von  Whistler,  A.  de  Boot  und  Glisson  ausführlicher  dar- 
gestellt wurden.  In  die  gleiche  Zeit  fallen  verschiedene  Berichte  über 
das  endemische  Vorkommen  des  Kretinismus,  welches  schon  Paracelsus 
in  einigen  Alpengegenden  beobachtet  hatte,  sowie  die  ältesten  Nach- 
richten  über   das    epidemische  Auftreten    der   unter   dem  Namen  der 

1  Fr.  de  le  Boe  Sylvii  Opera  medica,  Traject.  ad  Rhenum  et  Amstelod. 
1695,  p.  692  u.  ff. 

2  Th.  Willis:  De  urinis  in  Op.  omnia,  Amstelod.  1668,  p.  338  u.  ff. 

3  P.  G.  Werlhof:  Opera  med.  ed.  Wichmann,  Hannover  1775,  II,  p.  624.  761. 

20* 


308  Der  medieinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Sibbens  in  Schottland  und  unter  dem  der  Rades jge  in  Skandinavien 
bekannten  Syphilisformen. 

Auch  die  Diagnostik  der  Krankheiten  erfuhr  in  dieser  Periode 
einige  bemerkenswerthe  Fortschritte,  deren  volle  Bedeutung  allerdings 
erst  später  erkannt  wurde.  Ausser  der  Untersuchung  des  Urins  und 
des  Pulses,  über  welchen  Solano  de  Luques,  Th.  Bordeu  u.  A.  neben 
vielen  seltsamen  und  sogar  absurden  Angaben  auch  einzelne  neue  werth- 
volle  Mittheilungen  machten,  begann  man  noch  andere  diagnostische 
Hilfsmittel  anzuwenden. 

Santorio  benutzte  den  Thermometer  zur  Bestimmung  der  Wärme 
des  Körpers,  und  Boerhaave,  Cockburn  u.  A.  machten  davou  in  der 
ärztlichen  Praxis  einen  ausgedehnten  Gebrauch.1  Anton  de  Haen 
stellte  auf  diese  Weise  fest,  dass  die  Temperatur  des  Körpers  während 
des  Fieberfrostes  nicht  herabgesetzt,  wie  man  damals  allgemein  annahm, 
sondern  im  Gegentheil  erhöht  sei,  machte  zuerst  auf  die  merkwürdige 
Erscheinung  der  postmortalen  Wärme  aufmerksam  und  beobachtete, 
dass  das  subjektive  Wärmegefühl  der  wirklichen  Temperatur  zuweilen 
gar  nicht  entspricht,  und  dass  die  Temperatur  gelähmter  Gliedmassen 
niedriger  ist  als  diejenige  gesander.2 

Grosses  Interesse  erregten  die  Erkrankungen  des  Herzens.  Lancisi 
brachte  die  Undulation  der  Jugularvenen  mit  der  durch  die  Insufficienz 
der  Tricuspidalklappe  erzeugten  Erweiterung  des  rechten  Herzens  in 
Verbindung.3  Albertini  bemerkte  sehr  treffend,  dass  die  Schwierigkeit 
der  Diagnose  der  Herzkrankheiten  zum  grossen  Theile  darin  ihren 
Grund  habe,  dass  bei  ihnen  Krankheitszustände  verschiedener  Art  zu- 
sammentreffen, und  gab  den  Rath,  bei  der  Untersuchung  des  Herzens 
die  Hand  auf  die  Herzgegend  des  Kranken  aufzulegen.* 

Weitaus  die  grösste  Errungenschaft,  welche  die  Diagnostik  dieser 
Zeit  zu  verdanken  hat,  war  die  Entdeckung  der  Percussion  durch  den 
Wiener  Arzt  Auenbrugger.5  Leider  blieb  sie  fast  gänzlich  unbeachtet; 
erst  im  19.  Jahrhundert  wurde  sie  zu  einer  „Fackel,  welche,  wie 
Ch.  G.  Ludwig  in  Leipzig  i.  J.  1763  sagte,  Licht  brachte  in  die  Fin- 
sterniss,  die  über  den  Krankheiten  der  Brusthöhle  lagerte". 

Auch  die  pathologische  Anatomie  that  einen  mächtigen  Schritt 
nach  vorwärts.     Man  hörte  auf,  in  den  Veränderungen  an  der  Leiche 


1  Wunderlich:  Das  Verhalten  der  Eigenwärme  in  Krankheiten,  Leipzig  1870. 

2  Th.  Puschmann:  Die  Medicin  in  Wien,  1884,  S.  19. 

3  Lancisi:   De  motu  cordis   et  aneurysmatibus,  Lugd.  Batav.  1740,  p.  306, 
pars  II,  cap.  6,  prop.  60. 

4  Albertini:  Opuscula  ed.  M.  H.  Romberg,  Berol.  1828. 

5  Auenbrugger:  Inventum  novum,  Vindob.  1761. 


Die  Fortschritte  in  d.  übrigen  T heilen  d.  Heilk.  während  des  17.  u.  18.  Jahrh.  309 


nichts  weiter  als  Curiositäten  zu  sehen,  welche  die  Schaulust  der  nach 
Seltenheiten  haschenden  Sammler  befriedigten,  und  begann  ihren  Zu- 
sammenhang mit  den  Erscheinungen  am  Kranken  zu  ahnen  und  zu 
erforschen.  Schon  W.  Harvey  erklärte,  dass  man  aus  der  Sektion  eines 
Menschen,  der  an  der  Schwindsucht  oder  einer  anderen  chronischen 
Krankheit  gestorben  sei,  mehr  lernen  könne  als  aus  der  Zergliederung 
von  zehn  Gehenkten.  Benevieni,  Th.  Bartholinus,  Bonet,  Ridley, 
Lancisi,  Valsalva  u.  A.  legten  in  ihren  Schriften  eine  Menge  werth- 
voller  Beobachtungen  nieder. 

Wepfer  machte  den  ersten  Versuch,  die  Lehre  von  den  Erkran- 
kungen des  Gehirns  von  dem  Wust  mystisch -transcendenter  Spekula- 
tionen zu  befreien  und  durch  die  pathologisch-anatomischen  Verände- 
rungen dieses  Organs  zu  begründen.  Er  beobachtete  die  Vernarbung 
apoplektischer  Herde  und  beschrieb  bereits  den  später  nach  Fothergill 
genannten  Gesichtsschmerz.  Im  18.  Jahrhundert  machte  Fontana  die 
wichtige  Entdeckung,  dass  die  Drehkrankheit  der  Schafe  durch  Hyda- 
tiden  im  Gehirn  verursacht  wird. 

Die  Pathologie  des  Gefässsystems  verdankte  den  Arbeiten  von 
Vieussens,  Lancisi  und  Senac  wesentliche  Fortschritte.  Vieussens1 
beobachtete  die  Verwachsung  des  Herzens  mit  dem  Herzbeutel  und  be- 
schrieb den  Hydrops  pericardii  und  die  Pericarditis.  Mit  bewunderungs- 
würdiger Klarheit  schilderte  er  die  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen 
den  pathologischen  Veränderungen  an  der  Leiche  und  den  Erschei- 
nungen am  Lebenden  in  einem  Falle,  in  dem  er  von  der  Stenose  des 
linken  Ostium  venosum  die  Erweiterung  der  Pulmonalvenen,  das  Lungen- 
ödem, die  Vergrösserung  des  rechten  Herzens,  die  wassersüchtige  An- 
schwellung der  Füsse  und  die  Kleinheit  des  Pulses  ableitete,  sowie  bei 
einer  anderen  Gelegenheit,  wo  er  Verknöcherung  der  Aorta  ascendens 
und  Verknöcherung  mit  Insufficienz  der  Semilunarklappen  beobachtete 
und  daraus  den  theilweisen  Rückfluss  des  Blutes  in  das  linke  Herz 
und  das  Herzklopfen  erklärte. 

Lancisi  gab  nähere  Aufschlüsse  über  die  krankhaften  Verände- 
rungen, besonders  die  Verknöcherungen  der  Klappen  und  die  Erwei- 
terung und  Vergrösserung  des  Herzens.2  Senac  machte  zuerst  auf  die 
durch  pathologische  Verhältnisse  hervorgerufene  rechtsseitige  Lagerung 
des  Herzens  aufmerksam.8  Bedauerlicher  Weise  standen  der  richtigen 
Beurtheilung  der  Tbatsachen  häutig  die   irrigen  Ansichten  der  Ärzte 


1  J.  Philipp  im  Janus  II,  580—598.  III,  316—326. 

2  Philipp  im  Janus  III,  318  u.  ff. 

3  Senac:  Traite  de  la  structure  du  coeur,  Paris  1749. 


310  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


über  die  Bedeutung  der  sogenannten  Herzpol jpen  entgegen,  obwohl 
schon  Keeckeing  dieselben  für  eine  Leichenerscheinung  erklärt  hatte.1 

Ihren  Höhepunkt  erreichte  die  pathologische  Anatomie  jener  Periode 
in  J.  B.  Moegagni,  der  im  Besitze  des  gesammten  Wissens,  wel- 
ches sich  auf  diesem  Gebiete  angesammelt  hatte,  die  gewonnenen  Er- 
gebnisse durch  zahlreiche  eigene  Erfahrungen  berichtigte  und  ergänzte 
und  die  Aufgabe  dieser  Disciplin  zum  ersten  Male  klar  und  deutlich 
entwickelte. 2 

Er  zog  bei  seinen  Untersuchungen  auch  das  Experiment  zu  Rath.3 
Auch  Stephan  Hales  bediente  sich  desselben  und  erzeugte  mittelst 
Einspritzung  von  Wasser  in  das  Gefässsystem  künstlichen  Hydrops. 

Hallee's  Arbeiten  über  die  Sensibilität  und  Irritabilität  stützten 
sich  hauptsächlich  auf  Versuche  an  Thieren  und  Vivisektionen.  Er  er- 
kannte deren  Nutzen  und  erklärte:  „Ein  einziges  derartiges  Experiment 
hat  oft  die  aus  der  Arbeit  ganzer  Jahre  hervorgehenden  Täuschungen 
beseitigt.  Diese  Grausamkeit  hat  der  Physiologie  mehr  genutzt  als  fast 
alle  anderen  Künste,  deren  Zusammenwirken  unsere  Wissenschaft  ge- 
kräftigt hat."4 

Grosses  Aufsehen  erregten  Spallanzani's  Versuche  über  die  Wie- 
dererzeugung abgefallener  Glieder  bei  niederen  Thieren.5 

Am  meisten  trug  John  Huntee  dazu  bei,  dass  die  experimentelle 
Methode  in  die  Pathologie  eingeführt  wurde. 

Aber  nicht  blos  die  ersten  Anfänge  der  experimentellen  Patho- 
logie, sondern  auch  diejenigen  der  Bakteriologie  fallen  in  diese  Periode. 
Leeuwenhoek  beschrieb  Bakterien  von  runder,  stäbchenförmiger,  faden- 
artiger und  schraubenförmiger  Gestalt,  welche  er  zwischen  den  Zähnen 
der  menschlichen  Mundhöhle  gefunden  zu  haben  behauptete.6  In  Folge 
dieser  Entdeckungen  entwickelte  sich  die  Theorie,  dass  manche  Krank- 
heiten durch  solche  „kleine  Thiere"  verursacht  würden.  Diese  Ansicht 
liess  sich  damals  freilich  nicht  beweisen;  aber  gleichwohl  hielten  ein- 
zelne hervorragende  Naturforscher,  wie  Linne  und  Plencicz,  am  Con- 
tayiiim   animatum  fest. 

Werthvolle  Vorarbeiten  für  die  Begründung  der  Hygiene  lieferten 
Lancisi,  welcher   sich   mit  den  Ausdünstungen  der  Sümpfe  und  der 


1  Th.  Kerckring:  Spicilegium  anatomicum,  Amstelod.  1670,  p.  145. 

2  F.  Falk:  Die  pathol.  Anatomie  des  J.  B.  Morgagni,  Berlin  1887. 

3  Philipp  in  der  deutschen  Klinik,  1853,  No.  45. 

4  Vergl.  Ad.  Valentin  in  der  Denkschrift  auf  A.  v.  Haller,  Bern  1877,  S.  78. 

5  Spallanzani:  Sopra  le  riproduzioni  animali,  Modena  1768. 

6  F.  Löffler:  Vorlesungen  über  die  geschichtliche  Entwickelung  der  Lehre 
von  den  Bakterien,  Leipzig  1887,  Th.  I. 


Die  Fortschritte  in  d.  übrigen  Titeilen  d.  Ileilk.  'während  des  1 7.  u.  18.  Jahrh.  311 


Assanirung  der  römischen  Campagna  beschäftigte,1  und  Pringle,  der 
sich  grosse  Verdienste  um  die  Militär-Gesundheitspflege  erwarb  und 
Untersuchungen  über  septische  und  antiseptische  Substanzen  anstellte. 

Der  Arzneischatz  wurde  durch  mehrere  Heilmittel  bereichert.  Man 
erkannte  die  Wirkung  der  Chinarinde  gegen  das  Fieber,  entdeckte  in 
der  Ipecacuanha- Wurzel  ein  kräftiges  Brechmittel  und  empfahl  den 
Gebrauch  des  Arseniks  beim  Krebs. 

Auch  suchte  man  über  die  Ursachen,  auf  denen  die  Heilwirkungen 
der  Arzneistoffe  beruhen,  sowie  über  die  geeignetste  Art  ihrer  Anwen- 
dung richtigere  Anschauungen  zu  gewinnen.  Schon  AVillis  forderte 
zu  Untersuchungen  über  die  Veränderungen  auf,  welche  die  Medica- 
mente im  Magen,  im  Blut  und  in  den  einzelnen  Organen  hervorrufen. 
Dieser  Gedanke  wurde  von  Wepeer  und  in  grösserem  Massstabe  später 
von  A.  Stürck  ausgeführt,  welche  zahlreiche  pharmakodynamische  Ex- 
perimente mit  verschiedenen  arzneilichen  Substanzen  anstellten.2 

Unter  dem  Einfluss  der  Entdeckung  des  Blutkreislaufs  wurden 
auch  die  ersten  Versuche  unternommen,  Arzneistoffe  in  die  Venen  zu 
injiciren,  sowie  grosse  Blutverluste  durch  Ueberführung  von  Blut  aus 
einem  anderen  Körper  zu  ersetzen. 3  Aber-  die  ungünstigen  Erfolge 
dieser  Operationen,  welche  zum  Theile  in  der  mangelhaften  Technik 
ihrer  Ausführung  ihren  Grund  hatten,  brachten  die  Infusion  und  Trans- 
fusion bald  in  Miskredit  und  allmälig  in  Vergessenheit. 

C.  Stalpert  van  der  Wiel  wendete  zur  künstlichen  Ernährung 
bereits  eine  Art  von  Schlundsonde  an.4 

Die  specielle  Therapie  förderten  Bennet  durch  seine  Empfehlung 
der  Inhalationen  bei  der  Schwindsucht,5  Dolaeus,  welcher  gegen  das 
Podagra  die  Milchkur  verordnete,  sowie  Edw.  Baynard  und  J.  Floyer, 
die  bei  starkem  Fieber  den  Kranken  in  kaltes  Wasser  eintauchen  Hessen. 
Die  beiden  Hahn,  Brandis  und  Currie  empfahlen  die  Uebergiessung 
mit  kaltem  AVasser  beim  Typhus  und  gaben  dadurch  die  Anregung 
zum  Aufschwünge  der  Hydrotherapie,  während  die  Balneotherapie  durch 
K.  Boyle  und  Fr.  Hoeemann  auf  eine  wissenschaftliche  Grundlage 
gestellt  wurde. 

Geringere  Fortschritte  als  die  übrigen  Disciplinen  der  Heilkunde 

1  C.  Langer  in  den  Mitth.  d.  Ver.  d.  Ärzte  in  Nieder-Österreich  1875,  No.  2. 

2  Puschmann  a.  a.  0.  S.  35  u.  ff. 

3  P.  Scheel:  Die  Transfusion  des  Blutes  und  Einspritzung  in  die  Adern, 
Kopenhagen  1802.  —  Dieffenbach  in  Kust's  Handwörterbuch,  Berlin  1838. 

4  Stalp.  v.  d.  Wiel:  Observat.  rar.  cent.  II,  27  und  Krül  im  Weekbl.  v. 
h.  Nederl.  Tijdschr.  v.  Geneesk,  1883,  No.  47. 

5  Chr.  Bennet:  Tabidorum  theatrum,  Lugd.  Bat.  1714,  cap.  28, 


312  Der  medicinisehe   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


machte  die  Chirurgie  im  17.  Jahrhundert.  Es  lag  dies  theils  daran, 
dass  die  begabtesten  Vertreter  der  ärztlichen  Wissenschaft  sich  vorzugs- 
weise den  Erfolg  versprechenden  chemischen  und  physikalischen  For- 
schungen, sowie  der  Physiologie  und  mikroskopischen  Anatomie  zu- 
wandten, theils  an  der  sich  mehr  und  mehr  erweiternden  Kluft  zwischen 
der  inneren  Medicin  und  der  Chirurgie,  durch  welche  die  studierten 
Ärzte  von  der  Beschäftigung  mit  der  Wundarzneikunst  abgehalten  wur- 
den, während  die  empirisch  gebildeten  Praktiker  vollauf  damit  zu  thun 
hatten,  den  grossartigen  Umschwung  ihrer  Kunst,  welchen  das  voran- 
gegangene Jahrhundert  in  Bezug  auf  die  chirurgischen  Operations- 
methoden herbeigeführt  hatte,  zu  verstehen  und  in  sich  aufzunehmen. 
Allerdings  fehlte  es  nicht  an  einzelnen  Verbesserungen  in  der  Technik 
der  Operationen;  aber  ein  alle  Zweige  der  Chirurgie  umfassendes, 
reformirendes  und  in  neue  Bahnen  drängendes  Genie,  wie  Ambroise 
Pake,  war  nicht  vorhanden. 

Erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  vollzog  sich  in 
der  Chirurgie  ein  neuer  Aufschwung,  der  sich  aber  nicht  so  sehr  in 
der  Entwicklung  der  Operationskunst,  als  in  der  Begründung  der 
chirurgischen  Pathologie  äusserte. 

Zur  Stillung  der  Blutungen  bediente  man  sich  nur  selten  der 
Unterbindung,  weil  sie  mehr  anatomische  Kenntnisse  voraussetzte,  als 
den  meisten  Chirurgen  zu  Gebote  standen.  Dazu  kamen  die  zahlreichen 
Misserfolge  derselben,  welche  zum  Theile  in  der  unvollkommenen,  rohen 
Methode  der  Ausführung  ihren  Grund  hatten.  Man  wendete  daher 
lieber  die  Compression  der  Gefässe  an,  welche  durch  die  Erfindung  des 
Knebel-Tourniquets  von  Morel  i.  J.  1674  bedeutend  erleichtert  wurde. 
Petit  ersetzte  den  Knebel  1718  durch  eine  Schraube.  Auch  kam  die 
Digital-Compression  durch  Saviard  und  Louis  wieder  in  Gebrauch. 
Die  preussischen  Chirurgen  Theden  und  Schmucker  empfahlen  die 
Tamponade.  Daneben  wurden  das  Glüheisen,  die  Kälte  und  verschiedene 
styptische  Mittel  zur  Anwendung  gebracht. 

Die  Unterbindung  fand  bei  den  Chirurgen  erst  allgemeinere  An- 
erkennung, als  man  den  Fehler  erkannte,  welchen  man  durch  die 
Hereinziehung  der  Nerven,  Venen  und  des  umliegenden  Zellgewebes 
in  die  Ligatur  begangen  hatte,  und  anfing,  die  Arterie  isolirt  zu  unter- 
binden. Man  wagte  sich  nun  selbst  an  die  Unterbindung  grosser  Ge- 
fässstämme,  wie  der  A.  cruralis  und  axillaris  \  Warner  und  Else 
unternahmen  i.  J.  1775  sogar  die  LTnterbindung  der  Carotis. 

Die  Amputation  wurde  hauptsächlich  am  Fuss,  Unterschenkel, 
Vorderarm  und  an  der  Hand,  seltener  oberhalb  des  Ellenbogens  und 
des  Kniees  ausgeführt.    Die  Technik  dieser  Operation  erfuhr  durch  die 


Die  Fortschritte  in  d.  übrigen  Theilen  d.  Heilk.  währenddes  17.  u.  18.  Jahrli.  313 


Einführung  des  zweizeitigen  und  dreizeitigen  Zirkelschnitts,  des  Lappen- 
schnitts und  Trichterschnitts,  durch  welche  die  ausreichende  Erhaltung 
von  Hauttheilen  zur  Bedeckung  des  Stumpfes  bezweckt  wurde,  einige 
Bereicherungen. 

Die  Amputation  wurde  übrigens  häufiger  ausgeführt,  als  nothwendig 
war.  So  berichtet  Schmucker,  dass  er  i.  J.  1738  im  Hotel  Dieu  zu 
Paris  einen  Kranken  sah,  welchem  beide  Oberschenkel  wegen  einfacher 
Fraktur  derselben  amputirt  worden  waren.  Die  conservativen  Chirurgen 
traten  diesem  unter  dem  Einfluss  der  französischen  Schule  entstandenen 
Missbrauch  entgegen  und  suchten  die  Amputation  in  vernünftigerweise 
einzuschränken. 

Die  Vermehrung  der  anatomischen  Kenntnisse  und  die  Verbesse- 
rungen in  der  Technik  der  chirurgischen  Operationskunst  ermuthigten 
auch  zu  Exartikulationen ,  welche  im  Ellenbogen  schon  von  A.  Pare, 
im  Kniegelenk  zuerst  von  Fabry  von  Hilden  und  in  der  Schulter 
von  Morand  und  Le  Dran  ausgeführt  wurden.  Die  nach  Chopart 
genannte  Exartikulationsmethode  im  Eusswurzelgelenk  wurde  1791  ver- 
öffentlicht. Die  Exartikulation  im  Hüftgelenk  wurde  zwar  versucht, 
aber  wegen  ihrer  ungünstigen  Erfolge  wieder  aufgegeben. 

Auch  wurde  die  Besektion  einzelner  Knochen  oder  Knochentheile, 
z.  B.  am  Oberarm  von  Ch.  White,  am  Schlüsselbein  von  Cassebohm 
unternommen,  während  die  ersten  erfolgreichen  Gelenk-Resektionen  am 
Knie  von  Filkin  (1762)  und  Park  (1781)  und  'an  der  Schulter  von 
Ch.  White  (1768)  und  J.  Bent  (1771)  ausgeführt  wurden. 

Die  Trepanation  geschah  häutig  aus  ganz  geringfügigen  Ursachen; 
es  ist  unglaublich,  mit  welcher  Leichtfertigkeit  man  sich  dazu  ent- 
schloss.  Am  Prinzen  Phil.  Wilhelm  von  Oranien  wurde  sie,  wie  Corn. 
Solingen  erzählt,  17  mal  ausgeführt.  Nur  vereinzelte  Stimmen  erhoben 
sich  gegen  diese  gefährliche  Operationswuth. 

In  jene  Zeit  fällt  auch  die  erste  operative  Eröffnung  der  Kiefer- 
höhle bei  Erkrankungen  derselben.  —  Der  Katheterismus  der  Tuba 
Eustachii  verdankte  dem  tauben  Postmeister  Guyot  in  Versailles, 
welcher  ihn  an  sich  selbst  erprobte,  seine  Entdeckung.1 

Die  Tracheotomie  wurde  nicht  blos  zur  Entfernung  von  fremden 
Körpern  und  zur  Erleichterung  der  Bespiration,  sondern  auch  bei  Croup 
und  Diphtherie  empfohlen  und  ausgeführt.2 

Die  Oesophagotomie  wurde  im  18.  Jahrhundert  zum  ersten  Male 
unternommen,    während   die   erste  Gastrotomie   schon  im  Jahre   1635 


1  Machines  et  inventions,  appr.  par  l'academie  royale,  Paris  1724,  IV,  No.  253. 

2  B.  Schuchardt  in  Langenbeck's  Archiv  1887,  Bd.  36,  H.  3. 


314  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

geschah.1  Über  die  erste  erfolgreiche  Exstirpation  der  Milz  berichtete 
Giov.  Fantoni.2 

In  der  Lehre  von  den  Hernien  machte  sich  das  Studium  der  ana- 
tomischen Verhältnisse,  welche  ihr  zu  Grunde  liegen,  geltend.  Man 
begann  neben  den  Leisten-  und  Nabelbrüchen  auch  andere  Formen  der 
Hernien  zu  unterscheiden,  und  wurde  auf  die  Schenkelhernie,  diejenige  der 
grossen  Schamlippen,  die  Hernia  obturatoria  und  ischiadica  aufmerksam. 
Auch  suchte  man  über  die  Entstehung  der  Brüche  Klarheit  zu  ge- 
winnen; Haller  wies  auf  die  Beziehungen  der  angeborenen  Hernien 
zur  Embryologie  hin. 

Bei  der  Behandlung  erlangten  die  Bruchbänder  eine  grössere  An- 
erkennung, besonders  seitdem  Nicol.  Lequin  1663  die  elastischen 
federnden  eingeführt  hatte.  Die  Radikal-Operation  wurde  seltener  aus- 
geführt und  allmälig  mehr  auf  die  eingeklemmten  Brüche  eingeschränkt. 
Man  war  dabei  darauf  bedacht,  den  Samenstrang  zu  erhalten;  nur  bei 
Geistlichen  hielten  es  manche  Chirurgen,  wie  Dionis,  für  gestattet,  die 
Castration  mit  der  Operation  zu  verbinden. 

Die  Operation  der  Mastdarmfistel  kam  dadurch  auf  die  Tages- 
ordnung, dass  Ludwig  XIV.  sich  derselben  unterziehen  musste.  Diese 
Krankheit  übte  einen  grossen  Einfluss  auf  die  Politik  aus;  Michelet 
hat  die  Regierungszeit  dieses  Monarchen  bekanntlich  in  die  Perioden 
avant  et  apres  la  fistule  eingetheilt. 3  Die  Debatten  über  die  Ausführung 
der  Operation  führten  zur  Erfindung  verschiedener  Fistelmesser,  unter 
denen  dasjenige  von  Pott  mit  den  Verbesserungen  von  Savigny  die 
meiste  Beachtung  verdiente.  Die  Colotomie  behufs  Herstellung  eines 
künstlichen  Afters  bei  angeborenem  Verschluss  der  natürlichen  Öffnung 
desselben  wurde  1783  zum  ersten  Male  unternommen. 

Unter  den  Methoden  des  Steinschnitts  gewann  die  Sectio  lateralis 
die  meiste  Verbreitung.  Cheselden  modificirte  das  Verfahren  einiger- 
maassen,  und  Frere  Cöme  empfahl  zur  Ausführung  das  Lithotome  cache. 
Seltener  kam  der  hohe  Steinschnitt  über  der  Schamfuge  zur  Anwendung. 
Die  Lithothrypsie  wurde  von  Ciucci  beschrieben,  welcher  dabei  eine 
dem  Civiale'schen  Lithotryptor  ähnliche,  in  einer  Scheide  befindliche 
Canülen-Zange  mit  gezähnten  Branchen  gebrauchte. 

Bei  der  Behandlung  der  Harnröhren -Strikturen  genossen  die  von 
Daran  empfohlenen  elastischen  Bougies,  welche  in  der  Harnröhre  auf- 
quollen, grosses  Ansehen. 

Hendrik  van  Deventer,  A.  J.  Venel  u.  A.  entwarfen  die  Prin- 


1  Hagens  in  der  Berliner  klinischen  Wochenschr.  1883,  No.  7. 

2  J.  Fantoni:  Opusc.  med.  Genev,  1738.  3  Haeser  a.  a.  0.  II,  432. 


Die  Fortschritte  in  d,  übrigen  Tlieilen  d.  lleilk.  während  des  17.  u.  18.  Jahrh.  315 


cipien  der  Orthopädie.  Um  dieselbe  Zeit  machten  Hendiuk  van  Roon- 
hüyse  und  später  Tulp  die  ersten  Versuche,  mittelst  Durchschneidung 
des  M.  sternocleidomastoideus  die  Heilung  des  Caput  obstipum  zu  be- 
wirken. I.  J.  1784  liess  M.  G.  Thilenius  die  erste  Trennung  der 
Achillessehne  beim  Klumpfuss  ausführen. 

Die  chirurgische  Pathologie  erfuhr  durch  Peecival  Pott,  welcher 
die  chronische  Gelenkentzündung,  den  Tumor  albus,  und  die  nach  ihm 
genannte  Caries  der  Wirbel  zum  Gegenstande  sorgfältiger  Beobachtungen 
machte,  wesentliche  Bereicherungen,  während  J.  L.  Petit  auf  die  nach 
Verletzungen  auftretende  eiterige  Osteomyelitis  aufmerksam  machte. 
Petit  und  John  Hunter  beschäftigten  sich  auch  mit  den  feineren 
Vorgängen,  welche  sich  bei  der  Thrombus-Bildung,  der  Eiterung,  Ver- 
narbung und  Granulation  in  den  Geweben  abspielen. 

Einen  wichtigen  Fortschritt  machte  die  Ophthalmologie  in  jener 
Periode,  indem  der  alte  Irrthum  beseitigt  wurde,  dass  die  Cataracta 
durch  eine  extrabulbäre  Feuchtigkeit  erzeugt  werde,  die  sich  in  der 
Form  eines  undurchsichtigen  Hautchens  vor  der  Linse  lagere,  und  der 
Nachweis  geliefert  wurde,  dass  sie  in  einer  Erkrankung  der  Linse  selbst 
besteht. 

Eine  glänzende  Bestätigung  erhielt  diese  Entdeckung  durch  die 
Extraktions-Methode,  nach  welcher  Da  viel  i.  J.  1746  die  erste  Staar- 
operation  ausführte.  Die  Extraktion  behauptete  fortan  neben  der  De- 
pression des  Staares  einen  ständigen  Platz  in  der  operativen  Oculistik. 

Eine  weitere  Errungenschaft  der  letzteren  war  die  künstliche  Pu- 
pille nbildung,  welche  von  Woolhouse  angeregt  und  von  Cheselden 
i.  J.  1728  zuerst  ausgeführt  wurde.  Das  Verfahren  bestand  in  der 
Incision  der  Iris;  der  ältere  Wentzel  änderte  es  dahin  ab,  dass  er 
statt  dessen  ein  Stück  der  Iris  ausschnitt,  also  die  Iridectomie  vornahm. 

Die  Geburtshilfe  verdankte  dieser  Zeit  die  segensreiche  Erfindung 
der  Zange.  Längst  vorbereitet  durch  die  Instrumente,  deren  sich  die 
Geburtshelfer  zur  Herausbeförderung  abgestorbener  Früchte  bedienten, 
trat  sie  im  17.  Jahrhundert  ins  Leben  und  nahm  Formen  an,  welche 
sie  für  ihren  Zweck  geeignet  erscheinen  Hessen. 

Die  Chamberlen  gebrauchten  bei  schweren  Geburten  Vorrichtungen, 
welche  aus  Hebeln  oder  stählernen,  mit  Leder  überzogenen  Blättern 
bestanden.  Diese  Erfindung  blieb  Geschäftsgeheimniss,  bis  sie  durch 
Jean  Palfyn,  der  sie  in  mehrfacher  Hinsicht  verbesserte,  der  Öffent- 
lichkeit übergeben  wurde.1     Sie   wurde    dann    weiter   vervollkommnet 


1  J.  H.  Aveling:   The   Chamberlens    and    the  midwifery   forceps,    London 
1882.  —  A.  Goffin:  Jean  Palfyn,  Bruxelles  1887. 


316  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


von  Dusle,  welcher  die  Kreuzung  der  beiden  Löffel  einführte,  vom 
jüngeren  Gregoire,  der  sie  fenstern  und  durch  ein  Schloss  verbinden 
liess,  und  vor  Allem  von  Levret,  welcher  die  gerade  Torrn  der  Löffel 
in  eine  gekrümmte  umänderte,  ihre  Verbindung  durch  einen  beweg- 
lichen Stift  bewerkstelligte  und  die  Indicationen  für  den  Gebrauch  der 
Zange  feststellte. 

Um  den  Gefahren  des  Kaiserschnitts,  der  ziemlich  selten  ausgeführt 
wurde,  auszuweichen,  wurde  die  Symphyseotomie  empfohlen,  durch 
welche  man  irrthümlicher  Weise  eine  Erweiterung  des  Beckens  herbei- 
zuführen hoffte;  die  übelen  Folgen  dieser  Operation  zeigten  sich  bald 
und  bewirkten,  dass  sie  allgemein  verurtheilt  wurde. 

Dagegen  errang  sich  das  von  Camerarius  und  Slevogt  zuerst 
empfohlene  Verfahren,  in  Fällen,  wo,  wie  beim  verengten  Becken,  auf 
natürlichem  Wege  kein  ausgetragenes  Kind  geboren  werden  kann,  im 
7.  oder  8.  Monat  die  künstliche  Frühgeburt  einzuleiten,  den  Beifall  der 
Geburtshelfer  und  erhielt  sich  in  der  gynaekologischen  Therapie. 

Auch  die  erste  wissenschaftliche  Bearbeitung  der  gerichtlichen 
Medicin,  z.B.  die  Verwerthung  der  Lungenprobe  zu  forensischen  Zwecken,1 
sowie  die  ersten  Anfänge  einer  systematischen  Medicinalstatistik  gehören 
dieser  Zeit  an.2 

Wenn  man  den  Gang  der  Entwickelung  der  Medicin  während  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  verfolgt,  so  erkennt  man  dieselben  Phasen, 
welche  die  Gesammt-Cultur  jener  Periode  kennzeichnen.  Die  erfolg- 
reiche Forscherthätigkeit,  welche  sich  in  dem  rastlosen  Ansammeln  em- 
pirischen Wissens-Materials  äusserte,  gelangte  allmälig  zu  einem  gewissen 
Abschluss,  und  es  machte  sich  das  Bedürfniss  geltend,  die  gewonnenen 
Ergebnisse  zu  sichten  und  in  ihren  Beziehungen  zu  einander  und  zum 
geistigen  Leben  der  Menschheit  überhaupt  zu  betrachten.  Wie  der 
Wanderer,  wenn  er  nach  anstrengendem  Marsche  eine  Höhe  erklommen 
hat,  mit  stolzer  Befriedigung  auf  den  Weg  zurückblickt,  den  er  zurück- 
gelegt hat,  so  hält  auch  der  Genius  der  Cultur  nach  grossen  Errungen- 
schaften eine  kurze  Rast,  bevor  er  sich  zu  neuen  Thaten  rüstet. 

Ein  solcher  Augenblick  war  für  die  Geschichte  der  Menschheit 
im  18.  Jahrhundert  gekommen,  und  die  Bestrebungen  der  Encyklopä- 
disten  gaben  dieser  Thatsache  einen  deutlichen  Ausdruck.  Auch  in  der 
Medicin  machte  sich  diese  Richtung  der  Geister  bemerkbar  und  trat 
in  einer  Reihe  von  Arbeiten  zu  Tage,  welche  hauptsächlich  die  Ge- 
schichte der  Heilkunde  behandelten. 


1  Blumenstock    in  der  Vierteljahrsschr.   f.  gerichtl.  Medicin,  1884,  Bd.  38, 
S.  252—69.  Bd.  39,  S.  1—12. 

2  J.  Geaetzer:  Daniel  Gohl  und  Christ.  Kundmann,  Breslau  1884. 


Der  Charakter  jener  Zeit  in  der  Kunst  und  Philosophie.         317 


Die  ersten  hervorragenden  Vertreter  der  historischen  Literatur  der 
Medicin  waren  Daniel  Leclerc,  John  Freind  und  Joh.  Heinr. 
Schulze.  An  Boerhaave  und  namentlich  an  Haller,  welcher  sich 
durch  die  Herausgabe  medicinischer  Schriften  des  Alterthums  und  durch 
seine  bibliographischen  Werke  unvergängliche  Verdienste  um  die  Ge- 
schichte der  Heilkunde  erworben  hat,  fand  sie  einflussreiche  Freunde 
und  Förderer.  Auch  Portal,  der  eine  Geschichte  der  Anatomie  ver- 
fasste,  Werthof,  Hensler  und  Grüner,  deren  gediegene  Untersuchungen 
über  die  Geschichte  der  Krankheiten  einen  dauernden  Werth  besitzen, 
Astruc,  Baldinger,  Triller,  Moehsen,  Ackermann,  Mezler  u.  A. 
gaben  Zeugniss  dafür,  dass  der  Sinn  für  historische  Forschungen  unter 
den  Ärzten  des  18.  Jahrhunderts  weit  verbreitet  war  und  reiche 
Früchte  trug. 


Der  Charakter  jener  Zeit  in  der  Kunst  und 

Philosophie. 

Das  geistige  Leben  des  18.  Jahrhunderts  hatte  einen  anderen 
Charakter  als  sein  Vorgänger.  Diese  Veränderung  gab  sich  entweder 
in  einem  Nachlass  der  empirischen  Forschung  kund,  wie  in  den  Natur- 
wissenschaften, oder  führte  eine  Wandelung  der  Richtung  herbei,  in 
welcher  sich  die  Thätigkeit  bewegte,  wie  dies  am  deutlichsten  die  Lei- 
stungen der  bildenden  Kunst  zeigten.  Das  17.  Jahrhundert  sah  einen 
Guido  Reni,  Salvator  Rosa,  die  Spanier  Velasquez  und  Murillo, 
die  französischen  Meister  Nicolas  Poussin  und  Claude  Lorrain  und 
die  grossen  Niederländer  Rubens  und  Rembrandt.  Das  18.  Jahrhun- 
dert vermochte  diesen  Künstlern  nur  Wenige  an  die  Seite  zu  stellen, 
deren  Namen  vor  dem  Glanz,  den  Jene  ausstrahlten,  nicht  gänzlich 
erblassen. 

An  die  Stelle  der  classischen  Schönheit  der  Formen,  welche  durch 
die  grossartige  Einfachheit  der  Linien  und  durch  die  richtige  Abwägung 
der  Farbentöne  ein  Muster  für  alle  Zeiten  geworden  sind  und  selbst, 
wenn  sie  wie  bei  Rubens  einen  derbsinnlichen  Naturalismus  zur  Schau 
tragen,  niemals  blos  die  Sinne  fesseln,  sondern  immer  zum  Herzen 
sprechen,  trat  eine  ungesunde  Überladung  mit  barocken  Zuthaten, 
welche  durch  die  Sucht,  originell  zu  erscheinen,  hervorgerufen  wurde 
und  die  Kunst  auf  Abwege  brachte. 

Ein  wahrheitsgetreues  Spiegelbild  der  geistigen  Kämpfe  und  Wan- 
delungen jener  Periode    lieferten  die    philosophischen  Meinungen  und 


318  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Systeme,  welche  damals  aufgestellt  wurden.  Der  induktive  Empirismus 
Bacon's,  welcher  in  dem  Aufschwünge  der  Naturwissenschaften  und 
einer  Menge  von  Entdeckungen  und  Erfindungen  eine  alle  Erwartungen 
hei  weitem  übersteigende  Rechtfertigung  erhielt,  entwickelte  sich  unter 
dem  Einfluss  der  letzteren  auf  einer  materialistischen  Grundlage,  wel- 
cher der  Pantheismus  einen  idealistischen  Zug  verlieh.  Was  der  un- 
glückliche Giordano  Bruno  als  seine  heilige  Überzeugung  verkündet 
hatte,  für  die  er  den  Tod  in  den  Flammen  erlitt,  Das  suchte  sein 
späterer  Gesinnungsgenosse,  der  wegen  seines  religiösen  Freisinns  aus 
dem  Judenthum  ausgestossene  Baeuch  Spinoza  durch  wissenschaftliche 
Thatsachen  zu  begründen  und  zur  allgemeinen  Weltanschauung  zu 
machen.  Er  lehrte  die  Gesetzmässigkeit  alles  Geschehens  und  die 
Einheit  der  Substanz,  die  sich,  wie  er  im  Anschluss  an  Cartesius  er- 
klärte, in  zweifacher  Form,  nämlich  als  Geist  und  Materie,  äussere. 

Einen  Schritt  weiter  ging  John  Locke.  Als  Arzt  gewohnt,  das 
Metaphysische  aus  dem  Kreise  der  Erörterungen  zu  bannen,  stellte  er 
sich  auf  den  Boden  des  reinen  Empirismus  und  verkündete,  dass  es 
keine  angeborenen  Ideen  gebe,  sondern  dass  sich  alle  Erkenntniss  auf 
die  Erfahrung  gründet.  Die  menschliche  Seele  gleicht,  wie  er  schreibt, 
bei  der  Geburt  einem  leeren  Blatt,  auf  welchem  die  Sinn  es  wahr  nehmungen 
als  Erfahrungen  niedergelegt  werden,  bis  sie  durch  die  Reflexion,  durch 
den  Verstand,  den  Locke  den  inneren  Sinn  nennt,  zu  Vorstellungs- 
bildern  zusammengestellt  werden.  Er  führte  somit  die  Philosophie 
wieder  in  die  Arme  der  Naturforschung  zurück,  indem  er  die  Erkennt- 
nisstheorie auf  die  Untersuchung  der  Dinge  mittelst  der  sinnlichen 
Beobachtung  anwies. 

Der  Sensualismus  Locke's  fand  in  Frankreich  hervorragende  Ver- 
treter an  E.  B.  de  Condillac  und  Voltaire  und  regte  in  England 
zum  Skepticismus  an,  wie  er  von  David  Hume  zum  Ausdruck  gebracht 
wurde,  während  ihm  in  Deutschland  in  Leibnitz  ein  mächtiger  Gegner 
entgegentrat. 

Der  Letztere  verband  die  angeborenen  Ideen  Platon's  mit  den 
Grundzügen  der  Demokrit'schen  Atomistik,  an  welche  schon  G.  Bruno 
und  P.  Gassendi  angeknüpft  hatten,  und  passte  dies  den  christlichen 
Lehren  von  der  WTeisheit  des  Schöpfers  und  der  Zweckmässigkeit  der 
Natur  an.  Er  nahm  untheilbare  und  unräumliche,  metaphysische 
Punkte  an,  die  er  Monaden  nannte  und  mit  einem  Vorstellungs-Inhalt 
begabt  dachte;  ihre  gegenseitigen  Beziehungen  und  Verbindung  zu  der 
Einheit  des  Bewusstseins  glaubte  er  durch  die  phantastische  Hypothese 
einer  vor  Beginn  aller  Zeiten  festgesetzten  „praestabilirten"  Harmonie 
zu  erklären. 


Der  Charakter  jener  Zeil  in  der  Kunst  und  Philosophie.        319 


Auf  die  Ent  Wickelung  der  Naturwissenschaften  und  speciell  der 
Medicin  hat  Leibnitz  keinen  fördernden  Einfluss  ausgeübt;  für  die 
Philosophie,  wie  überhaupt  für  die  Literatur,  hat  er  vielleicht  grössere 
Bedeutung  erlangt,  als  er  verdient.  Sein  System  blieb  hauptsächlich 
auf  Deutschland  beschränkt,  wo  Christian  Wolff  sein  eifrigster  Apostel 
wurde.  Er  ordnete  die  Ideen,  die  Leibnitz  in  wilder  Ungebundenheit 
hingeworfen  hatte,  mit  schulmeisterhafter  Pedanterie  zu  einem  Schema- 
tismus, der  dort,  wo  Jener  Lücken  zeigte  oder  eine  zu  hochfliegende 
Phantasie  walten  liess,  sich  aus  den  Lehren  anderer  Philosophen  ergänzte. 

Consequenter  und  einheitlicher  im  Aufbau,  aber  rücksichtsloser 
und  erschreckender  in  seinen  Folgerungen  war  der  Materialismus,  wie 
er  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  Frankreich  auftrat.  Der 
radikalste  Vertreter  desselben,  der  französische  Arzt  Lamettrie,  machte 
in  seiner  Histoire  naturelle  de  l'äme  und  seinem  Werke  „L'homme 
machine"  den  Versuch,  sogar  die  Denkprozesse,  die  geistigen  Fähig- 
keiten und  sittlichen  Gefühle  aus  dem  Wesen  der  Materie,  aus  der 
körperlichen  Organisation  abzuleiten.  Den  transcendenten  Charakter 
der  menschlichen  Seele  bestritt  er,  indem  er  sich  dabei  unter  Anderem 
auch  auf  die  Thatsache  der  auf  Veränderungen  des  Gehirns  beruhenden 
psychischen  Erkrankungen  bezog.  Die  Unsterblichkeit  gab  er  zu,  jedoch 
nur  insoweit,  als  die  Materie,  aus  welcher  die  Dinge  dieser  Welt  be- 
stehen, nicht  untergeht,  sondern  nur  die  Form  ändert  und  wieder  an 
einem  anderen  Körper  Theil  nimmt. 

Leider  predigte  Lamettrie  gleichzeitig  einen  Hedonismus,  welcher 
auf  eine  schamlose  Verherrlichung  des  Vergnügens,  bes.  der  Wollust 
hinauslief.  Lediglich  in  diesem  Umstände,  keineswegs  aber  in  seinen 
philosophischen  Theorien  liegt  der  Grund  der  heftigen  Angriffe,  die  er 
erfahren  musste.  Es  mag  ja  sein,  dass  er  in  seinem  Leben  keineswegs 
dem  frivolen  Cynismus  huldigte,  welchen  er  in  seinen  Schriften  zur 
Schau  trug;  aber  selbst  F.  A.  Lange,  welcher  die  Ehrenrettung Lamettries 
unternahm,  vermochte  zu  dessen  Vertheidigung  nur  anzuführen,  dass  er 
weder  seine  Kinder  ins  Findelhaus  geschickt,  wie  Kousseau,  noch  zwei 
Bräute  betrogen  habe,  wie  Swift,  nicht  der  Bestechung  überführt 
worden  sei,  wie  Bacon,  und  sich  auch  nicht  der  Urkundenfälschung 
verdächtig  gemacht  habe,  wie  Voltaire.1  Jedenfalls  hat  Lamettrie 
durch  seine  Lehren  die  Sittlichkeit  schwer  geschädigt  und  viele  reine 
Gemüther  vergiftet,  und  ist  vorzugsweise  schuld  daran,  dass  die 
materialistische  Philosophie  lange  Zeit  von  unverständigen  Menschen  mit 
der  schrankenlosen  Befriedigung  des  Sinnesgenusses  identificirt  wurde. 


1  F.  A.  Lange:  Geschichte  des  Materialismus,  Iserlohn  1876,  I,  349. 


320  Der  medieinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Die  übrigen  Anhänger  des  Materialismus,  namentlich  diejenigen, 
welche  unter  dem  Namen  der  Encyklopädisten  bekannt  geworden  sind, 
suchten  ihre  Aufgaben  weniger  in  der  wissenschaftlichen  Begründung 
ihrer  philosophischen  Meinungen,  als  in  der  Bekämpfung  der  kirchlichen 
und  politischen  Autoritäten.  Der  Verfasser  des  Systeme  de  la  nature 
entwickelte  den  Kreislauf  des  Lebens  und  die  innigen  Wechsel- 
beziehungen der  drei  Naturreiche;  aber  ungleich  grösseren  Werth  legte 
er  auf  die  rationalistische  Aufklärung  und  die  Erörterungen  über  das 
Becht  der  Völker  auf  Selbstregierung,  welche  er  damit  verband. 

Diese  Theorien  trugen  ohne  Zweifel  viel  dazu  bei,  die  mächtigen 
Umwälzungen  vorzubereiten,  welche  am  Schluss  des  18.  Jahrhunderts 
Frankreich  und  dann  ganz  Europa  erschütterten,  und  erklären  es  zum 
Theile,  dass  der  Materialismus  von  Manchen  als  die  Quelle  der  Irreligio- 
sität und  als  Feind  der  Monarchie  betrachtet  wurde. 


Die  gelehrten  Gesellschaften  und  Universitäten  im 
17.  und  18.  Jahrhundert. 

Wie  im  16.  Jahrhundert,  so  wurde  auch  im  17.  Jahrhundert  die 
Entwickelung  des  wissenschaftlichen  Geistes  wesentlich  gefördert  durch 
die  Gründung  von  gelehrten  Gesellschaften  und  Universitäten.  In 
Italien  stiftete  der  Fürst  Federigo  Cesi  i.  J.  1603  die  Accademia  dei 
Lincei,  so  genannt,  weil  deren  Mitglieder  zu  ihren  Untersuchungen 
gleichsam  Luchsaugen  bedurften  und  im  Vereins-Wappen  einen  Luchs 
führten;  in  Florenz  entstand  unter  dem  Schutz  der  Mediceer  1657  die 
Accademia  del  cimento,  welche  die  Pflege  des  Experiments  zu  ihrer 
Aufgabe  erklärte. 

Nach  diesem  Muster  bildeten  sich  auch  in  andern  Ländern  gelehrte 
Vereinigungen.  In  Deutschland  wurde  Schweinfurt  der  Mittelpunkt 
einer  Gesellschaft  von  Ärzten  und  Naturforschern,  welche  i.  J.  1672 
vom  Kaiser  Leopold  zu  einer  Akademie  erhoben  wurde.  In  Paris  trat 
die  Academie  des  sciences  um  das  Jahr  1666  ins  Leben,  welche  1793 
in  das  Institut  national  umgewandelt  wurde.  Auch  die  königliche  Ge- 
sellschaft der  Wissenschaften  in  London,  deren  Verhandlungen  in  nahezu 
ununterbrochener  Reihenfolge  bis  heut  erschienen  sind  und  eines  der 
wichtigsten  und  inhaltsreichsten  Aktenstücke  zur  Geschichte  der  Wissen- 
schaften bilden,1  wurde  1666  gegründet.    Es  folgten  darauf  die  Akademie 


1  Ch.  E.  Weldc  History  of  the  royal  society,  London  1848,  2  Bde. 


Die  gelehrten  Gesellschaften  u.  Universitäten  im  17.  u.  18.  Jahrhundert.     321 


zu  Berlin,  welche  i.  J.  1700  auf  Leibnitz'  Betreiben  gestiftet  wurde,  die 
Göttinger  gelehrte  Gesellschaft  i.  J.  1733,  die  Akademie  zu  Peters- 
burg 1725,  welche  zwar  auf  russischem  Boden  entstand,  aber  haupt- 
sächlich eine  deutsche  Schöpfung  war,  die  Akademie  zu  Mannheim  1755 
und  diejenige  zu  München  1760. 

Das  wissenschaftliche  Leben  jener  Periode  brachte  in  England  und 
den  Niederlanden  die  reichsten  Früchte  hervor.  Auch  Italien  zeitigte 
noch  einzelne  Spätlinge,  welche  an  die  besten  Zeiten  der  grossen  Ver- 
gangenheit dieses  Landes  erinnerten. 

Auf  Frankreich  warf  der  glänzende  Hof  Ludwig  XIV.  ein  weithin 
strahlendes  Licht,  welches  neben  mancher  inneren  Hohlheit  eine  über- 
raschende Fülle  von  Talent  und  Thatkraft  beleuchtete.  Während  des 
18.  und  bis  tief  hinein  in  das  19.  Jahrhundert  stand  das  französische 
Volk  an  der  Spitze  des  geistigen  Fortschritts;  seine  Gelehrten  und 
Forscher  wirkten  nicht  blos  in  formaler  Hinsicht  bahnbrechend  für  die 
Wissenschaft,  sondern  sie  erweiterten  auch  den  Umfang  der  letzteren 
und  vertieften  ihren  Inhalt  nach  verschiedenen  Eichtungen. 

Deutschland  wurde  durch  den  unglückseligen  Eeligionskrieg,  welcher 
es  30  Jahre  hindurch  verwüstete,  in  seiner  politischen  und  geistigen 
Entwickelung  gehemmt  und  fand  erst  zwei  Jahrhunderte  später  die 
sichere  Euhe  zur  vollen  Bethätigung  seiner  Kraft. 

Als  das  16.  Jahrhundert  zu  Ende  ging,  bestanden  in  den  einzelnen 
Ländern  bereits  so  viele  Hochschulen  und  Bildungsanstalten,  dass  den 
vorhandenen  Bedürfnissen  im  Allgemeinen  Genüge  geleistet  wurde.  In 
England  bildeten  die  alten  Universitäten  zu  Oxford  und  Cambridge  den 
wichtigsten  Mittelpunkt  der  höheren  Studien.  Frankreich  centralisirte 
die  Wissenschaften  mehr  und  mehr  in  Paris.  Holland  erhielt  neue 
Hochschulen  zu  Groningen  (1614),  Utrecht  (1634)  und  Harderwyk(1648). 
In  Italien  entstanden  Universitäten  zu  Parma,  Cagliari,  Mantua,  Urbino, 
Piacenza,  Sassari  und  Mailand,  von  denen  einzelne  ihre  Entstehung  wohl 
nur  einer  kleinlichen  Eifersüchtelei  dieser  Städte  und  ihrer  Beherrscher 
verdankten.  Im  J.  1608  wurde  in  Pampellona  eine  Universität  errichtet, 
die  jedoch  ebenso  unbekannt  blieb,  als  die  übrigen  Hochschulen  Spaniens. 
Auch  die  Anstalten  dieser  Art,  welche  im  östlichen  Europa  gegründet 
wurden,  wie  diejenige  zu  Tyrnau  in  Ungarn,  welche  später  nach  Pest 
verlegt  wurde,  zu  Klausenburg  in  Siebenbürgen  und  zu  Kiew  und 
Moskau  traten  nicht  sonderlich  hervor.  Für  Finnland  wurde  1640  zu 
Abo  eine  Hochschule  gestiftet,  die  1828  nach  Helsingfors  kam,  und 
Schweden  erhielt  1668  eine  zweite  Universität  zu  Lund. 

Unverhältnissmässig  gross  war  die  Zahl  der  Hochschulen,  welche 
während  dieser  Periode  in  Deutschland  entstanden.    Zum  Theil  wurden 

Puschmann,  Unterricht.  21 


322  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

sie  keineswegs  durch  das  Bedürfniss  nach  akademischer  Bildung,  sondern 
nur  durch  die  Eitelkeit  der  kleinen  Territorialherren  hervorgerufen, 
welche  in  der  Gründung  einer  Hochschule  ein  nicht  zu  kostspieliges 
Mittel  sahen,  um  ihre  Souverainetät  zu  documentiren  und  sich  in  Keden 
und  Gedichten  als  Beschützer  der  Wissenschaften  preisen  zu  lassen. 

Als  1652  das  Gymnasium  zu  Herborn  in  Nassau  zur  Universität 
erhoben  wurde,  kostete  es  dem  Landesfürsten  grosse  Mühe,  die  für  die 
Ertheilung  der  kaiserlichen  Privilegien  erforderliche  Taxe  von  4100  fl. 
zu  schaffen.  Die  Stadt  Einteln  besass,  als  sie  im  J.  1621  zum  Sitze 
einer  Universität  gemacht  wurde,  weder  eine  Apotheke  noch  einen  Gast- 
hof. 1  Die  Theilung  der  hessischen  Länder  unter  verschiedene  Linien 
der  Dynastie  führte  im  J.  1607  zur  Errichtung  der  Hochschule  zu 
Giessen;  doch  war  sie  von  1625 — 1650  wieder  mit  ihrer  benachbarten 
Schwester-Anstalt  zu  Marburg  vereinigt. 

Die  Universität  Strassburg  ging  aus  dem  dortigen  akademischen 
Gymnasium  hervor,  an  welchem  ausser  andern  Facultätswissenschaften 
auch  Medicin  gelehrt  wurde;  sie  erhielt  1566  und  1621  die  kaiserliche 
Bestätigung.  Im  J.  1602  studierten  dort  70  Theologen,  77  Juristen, 
11  Medianer  und  145  Philosophen.2  Später  sank  die  Frequenz  der 
Hochschule  und  betrug  im  Durchschnitt  jährlich  nicht  viel  mehr  als 
4  Studierende  in  sämmtlichen  Facultäten;  erst  seit  1718  hob  sie  sich 
wieder,  nachdem  unter  der  französischen  Herrschaft  ruhige  politische 
Zustände  eingetreten  waren.3 

In  ähnlicher  Weise  entstand  im  J.  1622  die  Universität  Altdorf 
auf  dem  Gebiet  der  freien  Reichsstadt  Nürnberg. 4  Das  Gymnasium  zu 
Bremen  glich  ebenfalls  einer  Hochschule;  im  J.  1610  wurde  dort  auch 
eine  Lehrkanzel  der  Heilkunde  errichtet.  Denselben  Charakter  trugen 
die  höheren  Lehranstalten  zu  Steinfurt,  welche  für  die  Grafschaft  Bent- 
heim-Tecklenburg,  zu  Neustadt  an  der  Haardt,  die  für  die  Pfalz  be- 
stimmt war,  zu  Hanau  und  zu  Lingen.  In  Duisburg  entstand  1655 
und  in  Kiel  1665  eine  Universität.  Die  Hochschule  zu  Dorpat  ver- 
dankte ihre  Errichtung  im  J.  1632  dem  Könige  Gustav  Adolf  von 
Schweden;  doch  bestand  sie  nur  wenige  Jahrzehnte  und  erwachte  erst 
1802  wieder  zu  neuem  Leben. 

In  den  katholischen  Staaten  Deutschlands  kam  das  höhere  Unter- 


1  A.  Tholuck:  Das  akademische  Leben  des  17.  Jahrhunderts,  Halle  1854, 
Bd.  I,  Abth.  2,  S.  96.  303. 

2  Tholuck  a.  a.  0.  I,  2,  122. 

3  F.  Wieger:  Geschichte  der  Medicin  in  Strassburg,  1885,  S.  71. 

4  G.  A.  Willis:  Geschichte  und  Beschreibung  der  Universität  Altdorf,  Alt- 
dorf 1795. 


Die  gelehrt en  Gesellschaften  u.  Universitäten  im  17.  u.  18.  Jahrhundert.     323 


richtswesen  allmälig  vollständig  in  die  Hände  des  Jesuiten-Ordens. 
Mehrere  neue  Anstalten,  welche  auf  dessen  Betreiben  errichtet  wurden, 
waren,  auch  wenn  sie  die  Rechte  einer  Universität  erhielten,  eigentlich 
nur  geistliche  Seminarien.  So  entstand  zu  Molsheini  im  Elsass  ein 
Jesuiten- Gymnasium,  welches  1617  vom  Pabst  zur  Universität  erhoben, 
1702  nach  Strassburg  verlegt  und  mit  der  dortigen  Hochschule  ver- 
einigt wurde.  Gleichzeitig  erhielt  die  Domschule  zu  Paderborn  den 
Charakter  einer  Universität;  ebenso  geschah  dies  mit  der  Domschule 
zu  Osnabrück.  Die  1647  zu  Bamberg  errichtete  Akademie  entwickelte 
sich  allmälig  ebenfalls  zu  einer  vollständigen  Universität.  Im  J.  1734 
wurde  auch  das  Jesuiten-Gymnasium  zu  Fulda  zur  Universität  erhoben, 
während  die  Domschule  zu  Münster  erst  1780  dieses  Ziel  erreichte. 

Dazu  kamen  eine  Anzahl  von  Hochschulen  in  den  Ländern  der 
habsburgischen  Krone.  In  Salzburg  errichteten  gelehrte  Benediktiner 
eine  höhere  Unterrichtsanstalt,  welche  der  Pabst  im  J.  1623  zur  Univer- 
sität erhob.  Die  gleiche  Ehre  widerfuhr  1673  dem  Jesuiten-Gymnasium 
zu  Innsbruck.  Auch  das  Jesuiten-Collegium  zu  Breslau  entwickelte  sich 
nach  und  nach  zur  Universität  und  wurde  1702  als  solche  anerkannt. 
Die  Anstalt  zu  Brunn  erhielt  erst  1779  die  Privilegien  einer  Univer- 
sität, als  die  Olmützer  Hochschule  dorthin  verlegt  und  mit  ihr  ver- 
einigt wurde.  Aber  schon  nach  wenigen  Jahren  verlor  sie  diesen 
Charakter  wieder  und  wurde  in  ein  Lyceum  umgewandelt,  welches 
später  mit  einer  medicinisch-chirurgischen  Lehranstalt  verbunden  wurde 
und  in  Olmütz  seinen  Sitz  erhielt.1 

Einen  hervorragenden  Einfluss  auf  die  Entwickelung  des  wissen- 
schaftlichen Geistes  erlangten  die  Universitäten  Halle  und  Göttingen. 
Die  erstere  wurde  1694  errichtet,  nachdem  das  Erzstift  Magdeburg  mit 
den  dazu  gehörigen  Landestheilen  an  Brandenburg  gefallen  war. 

Schon  der  grosse  Kurfürst  hatte  sich  mit  der  Gründung  einer  Art 
von  Akademie  beschäftigt,  welche  einen  Vereinigungspunkt  aller  wissens- 
werthen  Dinge  bilden,  mit  einem  chemischen  Laboratorium,  physikalisch- 
technologischen Institut,  zoologischen  und  botanischen  Garten,  Maschinen- 
hause, Museen  u.  a.  m.  ausgestattet  und  allen  Lernbegierigen  ohne  Unter- 
schied der  Nationalität  und  des  religiösen  Bekenntnisses  zugänglich  sein 
sollte.2  Für  die  Ausführung  eines  solchen  grossartigen,  der  ratio- 
nalistischen Denkweise  des  18.  Jahrhunderts  vorauseilenden  Planes  war 
aber  weder  die  Zeit  reif,  noch  das  erforderliche  Geld  vorhanden. 


1  F.  J.  Richter:  Geschichte  der  Olmützer  Universität,  Olmütz  1841. 

2  Erman  u.  Reclam:  Mem.  p.  servir  a  l'histoire  des  refugies  francois,  T.  III, 
p.  293  u.  ff,  Berlin. 

21* 


324  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Auch  die  Universität  Halle  war  in  ihren  finanziellen  Mitteln  ziem- 
lich beschränkt;  ihre  Jahresdotation  betrug  bis  1786  nicht  mehr  als 
7000  Thaler,  womit  die  Besoldungen  sämmtlicher  Lehrer  und  überhaupt 
alle  Ausgaben  der  Hochschule  bestritten  werden  mussten.  Vergeblich 
baten  die  Professoren,  dass  ihr  die  Präbenden  der  ehemaligen  Dom- 
stifte von  Magdeburg  und  Halberstadt  überwiesen  würden.1  Der  Tüchtig- 
keit ihrer  Lehrkräfte,  unter  denen  sich  die  Juristen  Stryk  und  Tho- 
masiüs,  der  Theologe  Francke,  der  Philologe  Cellarius  und  die 
Mediciner  Stahl  und  F.  Hofemann  befanden,  war  es  zu  danken,  dass 
die  Universität  Halle  lange  Zeit  den  ersten  Platz  unter  den  deutschen 
Hochschulen  behauptete. 

Sie  trat  erst  zurück,  als  die  hannoversche  Eegierung  im  J.  1734 
in  Göttingen  eine  Universität  errichtete,  für  deren  Unterhalt  die  Summe 
von  16  000  Thalern  jährlich  bewilligt  wurde.  Bei  der  Besetzung  der 
Professuren  und  der  Ordnung  der  Studienverhältnisse  waltete  ein  freier 
Geist,  welcher  den  Forderungen  der  Zeit  nach  jeder  Richtung  gerecht 
zu  werden  bemüht  war. 

Den  Naturwissenschaften  wurde  eine  grössere  Berücksichtigung  zu 
Theil  als  an  anderen  Hochschulen.  Werlhoe,  welcher  beauftragt  wurde, 
die  Vorschläge  für  die  Einrichtung  der  medicinischen  Facultät  zu  er- 
statten, stellte  in  seinem  Gutachten  vom  16.  Dezember  1733  den  Antrag, 
Lehrkanzeln  für  Anatomie,  Botanik,  Chemie  nebst  Arzneimittellehre, 
sowie  für  medicinische  Theorie  und  medicinische  Praxis  zu  gründen, 
einen  botanischen  Garten  und  ein  chemisches  Laboratorium  anzulegen, 
sowie  ein  Krankenhaus  zu  erbauen,  welches  für  den  LTnterricht  der 
Studierenden  der  Medicin  benutzt  werden  sollte.2 

Kleinere  Universitäten  entstanden  im  18.  Jahrhundert  zu  Erlangen 
(1743),  zuBützow  in  Mecklenburg  (1760),  zu  Stuttgart  (1781),  die  aus 
der  Karlsschule  hervorging,  und  zu  Bonn  (1784),  welche  sich  aus  einem 
Jesuiten-Gymnasium  zur  Hochschule  erhob,  aber  als  solche  damals  kaum 
ein  Jahrzehnt  bestand. 

Deutschland  besass  somit  bei  einer  Bevölkerung,  welche  kaum  die 
Hälfte  der  heutigen  betrug,  ungefähr  die  doppelte  Anzahl  von  Hoch- 
schulen, als  gegenwärtig  bestehen.  Schon  aus  dieser  Thatsache  ergiebt 
sich,  dass  die  damaligen  Universitäten  von  den  heutigen  in  manchen 
Beziehungen  verschieden  waren.  Sie  dienten  nicht  so  ausschliesslich 
der  Vorbereitung  für  einen  speciellen  Lebensberuf,  wie  jetzt,  sondern 
in  vielen  Fällen  nur  zur  Vervollständigung  der  Allgemeinbildung;  sie 


1  J.  Ch.  Förster:   Geschichte  der  Universität  Halle  in  ihrem  ersten  Jahr- 
;,  Halle  1799. 
E.  F.  Rössler:  Die  Gründung  der  Universität  Göttingen,  Göttingen  1855. 


hundert,  Halle  1799 

2 


Die  gelehrten  Gesellschaften  u.  Universitäten  im  17.  u.  18.  Jahrhundert.     325 


begnügten  sich  ferner  mit  einer  weit  niedrigeren  Frequenz  von  Stu- 
dierenden,- da  die  Unterhaltungskosten  auch  viel  geringer  waren,  als 
gegenwärtig. 

In  Wien  studierten  i.  J.  1723  nur  25  Mediciner,  in  Göttingen  in 
der  Periode  von  1767—78  jährlich  50  bis  80.  Jena  zählte  1768  17 
und  1773  42  Studierende  der  Medicin;  in  Altdorf  promovirten  in  der 
Zeit  von  1623 — 1794  nicht  mehr  als  386  Mediciner.  In  Würzburg 
lagen  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  die  medicinischen  Studien 
gänzlich  darnieder.  Der  russische  Leibarzt  M.  A.  Weikaed  erzählt  in 
seiner  Selbstbiographie  (Berlin  und  Stettin  1784):  „Als  ich  i.  J.  1761 
mit  C.  C.  Siebold  und  Seneet  in  Würzburg  Medicin  zu  studieren 
anfing,  waren  seit  mehreren  Jahren  keine  Zuhörer  dagewesen,  und 
hatten  folglich  auch  keine  Collegien  stattgefunden.  Ein  Jahr  vorher 
hatten  zwei  angefangen,  und  später  mehrte  sich  die  Zahl  auf  neun. 
Die  Lehrer,  die  nur  200  —  300  Gulden  Gehalt  hatten,  betrachteten 
natürlich  ihr  Lehramt  als  eine  Nebensache  und  waren  auch  entwöhnt 
vom  Schulgeschäft,  und  mussten  wir  mehrmals  beim  Kector  magnificus 
klagen,  ehe  wir  sie  sämmtlich  dahin  brachten,  wieder  Collegien  zu  lesen. 
Sie  mussten  durch  Ermahnungen  und  ernstliche  Drohungen  hierzu  ge- 
zwungen werden.  Dessen  ungeachtet  ging  es  damit  äusserst  sparsam 
zu;  es  war  oft  Vierteljahre  lang  Stillstand  und  doch  bei  alledem  der 
Yerlust  nicht  sonderlich."1 

Stärker  war  der  Besuch  einiger  ausländischer  Hochschulen.  Alex. 
Moneo  hatte  während  seiner  50jährigen  Lehrthätigkeit  in  Edinburg 
14  000  Schüler;  die  Zahl  der  dortigen  Mediciner  betrug  in  der  zweiten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  durchschnittlich  400.  In  Leiden  gab  es 
i.  J.  1709  gegen  300  Studenten.  In  Padua  betrachtete  man  es  als  ein 
schlechtes  Jahr,  als  1613  nicht  mehr  als  1400  Studierende  dort  im- 
matriculirt  waren.  Pavia  hatte  1782  unter  2000  Studenten  200  Me- 
diciner. 2 

Die  deutschen  medicinischen  Facultäten  waren  mangelhafter  und 
dürftiger  eingerichtet  als  diejenigen  Hollands,  Italiens  und  Frankreichs. 
Aus  diesem  Grunde  begaben  sich  viele  Studierende  der  Medicin  aus 
Deutschland  dorthin,  um  ihre  fachmännische  Ausbildung  zu  vervoll- 
ständigen. Namentlich  genossen  die  Universitäten  Leiden,  Padua,3 
Montpellier  und  Paris  in  dieser  Hinsicht  einen  grossen  Ruf  und  wurden 
gern  besucht. 


1  Kölliker  a.  a.  0.  S.  21. 

2  G.  Fischer:  Chirurgie  vor  100  Jahren,  Leipzig  1876,  S.  77. 

3  S.  das   Namensverzeichniss    der    Studenten,    welche    dort    immatriculirt 
waren,  in  Dell'  universita  di  Padova,  Padova  1841. 


326  Der  medicinisehe   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Dazu  kam,  dass  sich  Frankreich  allmälig  zum  Mittelpunkt  der 
weltmännischen  Bildung  entwickelte,  welche  an  den  deutschen  Univer- 
sitäten leider  sehr  vernachlässigt  wurde.  Im  16.  Jahrhundert  hatten 
die  letzteren  wohl  ihrer  Aufgabe  entsprochen  und  jene  Summe  von 
Wissen  geboten,  welche  damals  als  Inbegriff  einer  höheren  Allgemein- 
bildung galt.  Als  aber  die  Vornehmen  nicht  mehr  darnach  trachteten, 
durch  ihre  Kenntniss  der  lateinischen  oder  griechischen  Sprache  zu 
glänzen,  und  die  Entdeckungen  und  Fortschritte  in  den  Naturwissen- 
schaften einen  anderen  Ideenkreis  in  den  Vordergrund  drängten,  ge- 
nügte der  Studienplan  der  deutschen  Universitäten  den  Anforderungen 
nicht  mehr,  und  man  suchte  im  Auslande  Das  zu  erwerben,  was  die 
Heimath  nicht  gewährte.1 

Auf  diese  Weise  entstand  ein  Zwiespalt  zwischen  der  gelehrten 
und  der  weltmännischen  Bildung,  der  sich  zum  Theil  bis  auf  unsere 
Tage  erhalten  hat.  Die  Universitäten  wehrten  sich  gegen  die  Aufnahme 
von  neuen  Bildungs-Elementen,  und  die  auf  den  politischen,  militäri- 
schen, künstlerischen,  technischen  und  industriellen  Gebieten  hervor- 
ragenden Männer,  welche  durch  den  Aufenthalt  im  Auslande  einen 
weiteren  Gesichtskreis  gewonnen  hatten,  spotteten  über  die  Einseitigkeit 
der  Stubengelehrten,  die  durch  die  Unbeholfenheit  ihrer  äusseren  Er- 
scheinung manchmal  eine  klägliche  Rolle  spielten. 

An  den  deutschen  Universitäten  jener  Zeit  herrschte  ein  wüstes, 
rohes  Leben.  „Auf  unsern  deutschen  hohen  Schulen  nimmt  man  unter 
den  Studierenden  statt  der  Bücher  nichts  als  Streitigkeiten,  statt  der 
Hefte  Dolche,  statt  der  Feder  Degen  und  Federbüsche,  statt  gelehrter 
Unterhaltungen  blutige  Kämpfe,  statt  des  fleissigen  Arbeitens  unauf- 
hörliches Saufen  und  Toben,  statt  der  Studierzimmer  und  Bibliotheken 
Wirthshäuser  und  Hurenhäuser  wahr",  schreibt  der  Arzt  Lotichius 
i.  J.  1631.2  Der  Pennalismus,  d.  i.  die  durch  das  Herkommen  zur  fest- 
stehenden Einrichtung  gewordene  Sitte  der  älteren  Studenten,  die  jün- 
geren zu  tyrannisiren,  führte  zu  entsetzlichen  Ausschreitungen,  zu 
Grausamkeiten  und  sogar  zu  Verbrechen.  Auch  gegen  die  Bürgerschaft 
erlaubten  sich  die  Studenten  manche  Unverschämtheiten.3 

Der  Senat  der  Universität  Leipzig  sah  sich  1625  veranlasst,  den 

1  Biedermann  (Deutschland  im  18.  Jahrhundert,  Leipzig  1858,  II,  1,  S.  18) 
schreibt:  „Die  Mehrzahl  (der  deutschen  Universitäten)  war  zu  Tummelplätzen 
orthodoxer  Beschränktheit,  pedantischer  Buchstabengelehrsamkeit  und  schola- 
stischer Spitzfindigkeiten  ausgeartet." 

2  Oratio  de  fatalibus  academiarum  in  Germania  periculis  in  acad.  Eintel, 
rec.  1631,  p.  67  nach  Meiners:  Gesch.  d.  hohen  Schulen. 

3  Tiioluck  a.  a.  0.  I,  1,  264  u.  ff. 


Die  gelehrten  Gesellschaften  u.  Universitäten  im  17.  u.  18.  Jahrhundert.     327 


dortigen  Studierenden  zu  verbieten ,  „die  Hochzeiten  zu  stören,  die 
Gäste  zu  stossen,  die  Frauen  und  Jungfrauen  durch  obseöne  Bemer- 
kungen zu  beleidigen  oder  ihnen  gar  ein  Bein  zu  stellen."1  In  Jena 
lieferten  die  Studenten  i.  J.  1660  der  Polizei  eine  wirkliche  Schlacht, 
bei  der  mehrere  todtgeschossen  wurden.  Ähnliche  Excesse  ereigneten 
sich  auch  in  Ingolstadt.  Aber  es  war  kein  Wunder,  wenn  unter  den 
Studenten  derartige  Dinge  vorkamen ;  denn  der  Ton,  welcher  unter  den 
dortigen  Professoren  herrschte,  war  manchmal  auch  nicht  viel  besser. 
Im  J.  1663  wurde  ein  Professor  vom  Bector  mit  Carcer  bestraft,  weil 
er  seinen  Schwiegervater  geprügelt  hatte.2  Die  Universität  Helmstädt 
wurde  vom  Landesherrn  ermahnt,  bei  Neubesetzungen  der  Lehrkanzeln 
keine  „versoffenen  Professoren"  in  Vorschlag  zu  bringen.3  Von  der 
Universität  Herborn  berichtet  Steubing:  „Die  ganze  hohe  Schule  war 
nicht  nur  in  Parteien  getheilt,  sondern  obendrein  ein  Professor  dem 
andern  zuwider.  Sie  stichelten  nicht  nur,  wo  sie  konnten,  in  ihren  Vor- 
lesungen auf  einander,  sondern  befehdeten  sich  auch  vor  der  Begierung." 4 
Derartige  Verhältnisse  existirten  noch  ein  Jahrhundert  später;  als  sich 
i.  J.  1760  ein  Professor  beim  Senat  der  Universität  Ingolstadt  beklagte, 
dass  er  von  der  medicinischen  Facultät  beleidigt  worden  sei,  erklärte 
dieselbe,  „dass  sie  den  Kläger  wegen  seiner  niederträchtigen  Handlungen 
allerdings  für  einen  schlechten  Kerl  halte,  sich  aber  gerade  nicht  er- 
innere, ihn  officiell  so  betitelt  zu  haben."5 

Es  war  begreiflich,  dass  sich  eine  Beaktion  gegen  diese  Verwil- 
derung der  Sitten  und  LTmgangsformen  geltend  machte.  Die  Universität 
Göttingen  begann  damit,  indem  sie  ihren  Studierenden  höflichere  Ma- 
nieren empfahl.  Man  nahm  dabei  das  französische  Wesen  zum  Muster, 
welches  überall  an  den  Fürstenhöfen  Eingang  gefunden  hatte.  Was 
die  den  Kreisen  der  Vornehmen  an  gehörigen  Studenten  schätzen  lern- 
ten, fand  bald  auch  bei  den  übrigen  Anklang.  So  entwickelte  sich  bei 
einem  Theile  der  deutschen  Studentenschaft  das  anerkennenswerthe  Be- 
streben, das  gesellige  Leben  durch  gefällige  Formen  zu  veredeln. 

Die  urwüchsige  Derbheit,  welche  sich  auf  vielen,  namentlich  den 
kleineren  Hochschulen  breit  machte,  sah  darauf  mit  Verachtung  herab 
und  bezeichnete  es  als  „Petit-Maiterei"  und  unpatriotische  Nachäffung 
fremdländischer  Sitten.  Auch  ernste  Historiker  haben  diese  Auffassung 
getheilt  und  dabei  zu  wenig  berücksichtigt,  dass  eine  Beform  nach 
dieser  Bichtung  nothwendig  war.     Das  deutsche  Volk  hat  dem  Um- 


1  Gerhardt  in  Zwiedineck-Südenhorst's  Zeitschr.  1887,  IV,  955. 

2  Prantl  a.  a.  0.  I,  500.  503.  3  Tholuck  a.  a.  0.  I,  1,  142. 
4  Tholuck  a.  a.  O.  T,  1,  140.  5  Prantl  a.  a.  0.  I,  606. 


328  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

stände,  dass  es  stets  beflissen  war,  seine  Mängel  zu  verbessern  und  von 
seinen  Freunden  wie  von  seinen  Feinden  zu  lernen,  ohne  Zweifel  sehr 
viel  zu  verdanken. 

Im  Beginn  des  17.  Jahrhunderts  umfasste  die  allgemeine  Vorbil- 
dung der  Studenten  hauptsächlich  die  lateinische,  griechische  und 
hebräische  Sprache,  Eechnen  nebst  etwas  Mathematik,  Kirchengeschichte 
und  die  Lektüre  alter  Autoren,  welche  zur  Mittheilung  historischer, 
geographischer  und  naturwissenschaftlicher  Bemerkungen  Gelegenheit 
bot.  Allmälig  aber  wurde  den  letzteren  ein  grösserer  Spielraum  ge- 
währt. 

Schon  am  Schluss  dieses  Jahrhunderts  erschienen  die  französische 
und  englische,  manchmal  auch  die  italienische  oder  spanische  Sprache, 
die  Geschichte,  Geographie,  Physik  und  Naturwissenschaften  neben  dem 
Tanzen,  Fechten  und  Reiten  als  systemisirte  Unterrichtsgegenstände  im 
Studienplan  der  für  die  Söhne  der  Adeligen  bestimmten  Gymnasien. 
Man  nannte  diese  Wissenschaften  und  Künste  die  „galanten",  wie  man 
ja  auch  in  andern  Beziehungen  diesen  Ausdruck  für  „ritterlich"  oder 
„den  vornehmen  Ständen  vorbehalten"  zu  gebrauchen  pflegte. 

Leibnitz,  Seckendorfe,  Thomasius  und  andere  vorurteilsfreie 
Männer  verlangten  mit  Entschiedenheit,  dass  die  Realien  in  den  Lehr- 
plänen eine  grössere  Berücksichtigung  erhielten.  Aber  noch  weit  mehr 
als  diese  wurde  die  Muttersprache  an  den  deutschen  Unterrichtsanstalten 
vernachlässigt.  In  Pommern  wurde  den  Lehrern  an  den  Lateinschulen 
i.  J.  1690  eingeschärft,  sie  möchten  mit  ihren  Schülern  stets  lateinisch, 
niemals  deutsch  reden,  weil  das  letztere  leichtfertig,  ärgerlich  und  schäd- 
lich sei.1  Der  Pädagog  Francke  in  Halle  klagte  i.  J.  1709  darüber, 
dass  es  selten  einen  Studenten  gebe,  welcher  einen  deutschen  Brief  ohne 
orthographische  Fehler  zu  schreiben  im  Stande  sei.  Auch  auf  diesem 
Gebiet  war  eine  Reform  dringend  geboten. 

Die  Modernisirung  der  gelehrten  Schulen  begann  im  18.  Jahr- 
hundert und  vollzog  sich  auf  Kosten  der  Studien  in  den  alten  Spra- 
chen, welche  im  Lehrplan  eine  wohlthätige  Beschränkung  erfuhren. 
Einige  verrannte  Philologen  jammerten  zwar  darüber  und  prophezeiten 
für  Deutschland  die  Wiederkehr  „der  Barbarei  des  Mittelalters";  aber 
ihre  Worte  erfüllten  sich  nicht,  wenn  man  nicht  in  dem  Auftreten  von 
Lessing  und  Klopstock  einen  Rückschritt  der  Cultur  erblicken  will, 
wie  Paulsen  witzig  bemerkt.2 


1  Tholuck  a.  a.  0.  I,  1,  173.  —  Biedermann  a.  a.  0.  II,  1,  511, 

2  Paulsen  a.  a.  0.  S.  378. 


Der  medicin.  Unterricht  in  den  theoret.  Fächern,  sowie  in  der  Anatomie  etc.    329 


Der  medicinische  Unterricht  in  den  theoretischen 

Fächern,  sowie  in  der  Anatomie,  Botanik,  Chemie 

und  Arzneimittellehre. 

In  der  Organisation  des  Unterrichts  nnd  im  Lehrbetrieb  der  Uni- 
versitäten änderte  sich  während  des  17.  Jahrhunderts  nur  wenig.  Selbst 
bei  den  medicinischen  Facultäten  bildeten  die  theoretischen  Vorlesungen 
die  Hauptsache,  wenn  auch  die  Bedeutung  der  praktischen  Demonstra- 
tionen mehr  als  früher  anerkannt  wurde. 

In  einem  Lektionskatalog  der  Universität  Würzburg  v.  J.  1604 
werden  folgende  Vorlesungen  von  der  medicinischen  Facultät  angekün- 
digt: 1)  Heem.  Birkman  liest  über  die  drei  prognostischen  Schriften 
des  Hippokrates.  2)  Jon.  Stengel  bespricht  die  Krankheiten  der 
Brust  und  einiger  anderer  Organe.  3)  Georg  Leyer  trägt  über  die 
Unterschiede  und  die  Ursachen  der  Krankheiten  und  ihrer  Erschei- 
nungen nach  Galen  vor.1  Die  Professoren  behandelten  ihre  Lehr- 
aufgaben mehr  nach  der  literargeschichtlichen  Methode  der  Scholastik, 
als  im  Sinne  des  induktiven  Empirismus  der  Neuzeit. 

Eine  strenge  Scheidung  der  Lehrkanzeln  nach  den  verschiedenen 
Disciplinen  kam  erst  im  18.  Jahrhundert  allmälig  zu  Stande.  Sie 
wurde  nothwendig,  als  die  Entwickelung  des  praktischen  Unterrichts 
in  der  Medicin  eine  Summe  von  Specialkenntnissen  in  einzelnen  Dis- 
ciplinen verlangte.  Während  vorher  die  Professoren  ohne  Schaden  für 
den  Unterricht  ihre  Lehrkanzeln  wechseln  durften,  da  der  Zustand  der 
Wissenschaft  eine  gleichmäcsige  Ausbildung  in  derselben  gestattete, 
blieben  sie  von  jetzt  ab  auf  ein  bestimmtes  Fach  beschränkt,  damit  sie 
sich  auf  diesem  Gebiete  zum  Meister  entwickeln  konnten.  Doch  brachte 
es  die  durch  die  niedrigen  wissenschaftlichen  Anforderungen  ermöglichte 
und  durch  die  ärmliche  finanzielle  Lage  der  Universitäten  gebotene 
geringe  Anzahl  von  systemisirten  Lehrkanzeln  mit  sich,  dass  von  dem- 
selben Lehrer  fast  überall  mehrere  Disciplinen  gleichzeitig  vertreten 
wurden.  So  war  an  den  meisten  Hochschulen  das  Lehramt  der  Botanik 
und  Chemie  mit  dem  der  Arzneimittellehre,  dasjenige  der  Anatomie 
mit  dem  der  Chirurgie,  dasjenige  der  Physiologie  mit  dem  der  Ana- 
tomie oder  allgemeinen  Pathologie  vereinigt. 

Es  kam  sogar  vor,  dass  Professoren  einer  andern  Facultät,  z.  B. 
der  philosophischen,  Vorlesungen  über  einzelne  Theile  der  Heilkunde 


1  F.  v.  Wegele:   Geschichte   der  Universität  Würzburg,    Würzburg   1885, 
II,  226. 


330  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

hielten,  wie  es  sich  auch  andererseits  nicht  selten  ereignete,  dass  Medi- 
aner ihre  Lehrthätigkeit  auf  Wissenschaften  ausdehnten,  die  ihrem 
Berufe  fern  lagen. 

H.  Coneing  in  Helmstädt  lehrte  nicht  blos  Medicin,  sondern  auch 
Philosophie  und  Politik  und  wurde  „der  Begründer  der  deutschen 
Rechtsgeschichte",  wie  0.  Stobbe  sagt.  Meibom  las  neben  der  Medicin 
noch  über  Geschichte  und  Dichtkunst,  und  Joh.  Heine.  Schulze 
hatte  in  Altdorf  neben  seiner  medicinischen  Professur  den  Lehrstuhl 
für  griechische  Sprache  und  in  Halle,  wohin  er  später  übersiedelte, 
denjenigen  der  Beredsamkeit  und  Archäologie  inne. 

Die  damaligen  Universitäten  waren  in  dieser  Hinsicht  unsern 
heutigen  Gymnasien  ähnlich,  an  denen  ja  auch  bisweilen  ein  Mathe- 
matiker einen  Theil  der  Unterrichtsstunden  des  Philologen  übernimmt 
oder  umgekehrt.  Es  wurde  in  jener  Zeit  vom  akademischen  Lehrer 
nicht  verlangt,  dass  er  die  Wissenschaft,  welche  er  vortrug,  durch  eigene 
Arbeiten  gefördert  habe.  Protektionen,  Vetterschaften,  persönliche  Vor- 
züge und  allerlei  Zufälligkeiten  waren  oft  die  Ursachen,  welche  die 
Verleihung  einer  Professur  bewirkten. 

Übrigens  waren  die  damit  verbundenen  Besoldungen  manchmal  so 
gering,  dass  sich  kaum  Bewerber  darum  fanden.  An  kleinen  Hoch- 
schulen musste  man  zufrieden  sein,  wenn  einer  der  dortigen  Ärzte  sich 
bereit  erklärte,  eine  Lehrkanzel  der  medicinischen  Facultät  zu  über- 
nehmen, die  er  dann  vielleicht  verliess,  wenn  sich  ihm  die  Aussicht 
auf  eine  einträgliche  Praxis  in  einer  grösseren  Stadt  darbot. 

An  den  deutschen  Universitäten  war  es  üblich,  dass  der  Lehrer 
seinen  Vorlesungen  eine  Schrift  oder  ein  Lehrbuch,  welches  den  Gegen- 
stand behandelte,  zu  Grunde  legte.  An  den  Inhalt  desselben  pflegte 
er  seine  eigenen  Bemerkungen  anzuschliessen. 

Die  lateinische  Sprache,  welche  dabei  gebraucht  werden  musste, 
war  nicht  geeignet,  ein  allseitiges  tiefes  Verständniss  der  Sache  zu  er- 
möglichen; sie  verleitete  zu  Missverständnissen  und  gewöhnte  an  hohle 
Redensarten,  hinter  denen  sich  die  anspruchsvolle  Oberflächlichkeit  zu 
verbergen  suchte.  Es  lässt  sich  leicht  ermessen,  dass  diese  Zustände 
für  die  Ausbildung  des  Arztes  die  übelsten  Folgen  haben  mussten. 

Freie  Vorträge  wurden,  wenigstens  an  deutschen  Universitäten, 
selten  gehalten;  denn  sie  setzten  voraus,  dass  der  Lehrer  sowohl  sein 
Fach  gründlich  beherrschte,  als  auch  eine  ausserordentliche  Gewandt- 
heit im  Gebrauche  der  lateinischen  Sprache  besass. 

Erst  im  19.  Jahrhundert  gelang  es,  diese  das  Lehren  und  Lernen 
ohne  Noth  erschwerende  Sitte  abzuschaffen.  Niemals  kann  die  Schuld 
für  den  Schaden,  der  dadurch  den  Studierenden  und  den  Kranken,  der 


Der  medicin.  Unterricht  in  den  theoret.  Fächern,  sowie  in  der  Anatomie  etc.    331 


medicinischen  Wissenschaft,  wie  der  deutschen  Culturentwickelung  zu- 
gefügt wurde,  gesühnt  werden. 

Der  praktische  Unterricht  in  der  Medicin  lag,  wie  erwähnt,  An- 
fangs ausserhalb  des  Studienplanes  der  Universitäten.  Er  wurde  nur 
allmälig  in  denselben  aufgenommen;  am  frühesten  geschah  dies  mit 
der  Anatomie,  am  spätesten  mit  der  klinischen  Unterweisung  am 
Krankenbett. 

Die  Fortschritte,  welche  der  anatomische  Unterricht  in  dieser 
Periode  machte,  bestanden  in  der  Vermehrung  des  Studien-Materials, 
der  vollständigeren  Ausnutzung  desselben,  der  Gründung  anatomischer 
Sammlungen,  der  Errichtung  von  besonderen  Professuren  und  Instituten 
für  dieses  Fach  und  in  der  Theilnahme  der  Studierenden  an  den  Zer- 
gliederungen. 

Der  Mangel  an  menschlichen  Leichen  nöthigte  freilich  dazu,  dass 
häufig  in  der  früher  üblichen  Weise  thierische  Körper  zu  anatomischen 
Studien  verwendet  wurden;  doch  geschah  dies  jetzt  mit  grösserem 
Nutzen  für  die  anatomische  Ausbildung  und  führte  zur  Beobachtung 
mancher  werthvollen  zootomischen  und  vergleichend -anatomischen 
Thatsache. 

Wenn  die  Zahl  der  menschlichen  Leichen,  welche  den  anatomischen 
Lehranstalten  zur  Verfügung  standen,  klein  war,  so  muss  man  bedenken, 
dass  auch  nicht  viele  Studierende  vorhanden  waren,  so  dass  der  Ein- 
zelne Alles  deutlich  sehen  und  beobachten  konnte.  Doch  wurden  dem 
anatomischen  Unterricht  durch  die  Nachlässigkeit,  mit  welcher  die  Be- 
hörden die  Lieferung  des  erforderlichen  Leichenmaterials  betrieben,  durch 
die  ermüdenden  Weitläufigkeiten  und  zeitraubenden,  von  unverständigen 
Bureaukraten  ersonn enen  Schreibereien,  die  damit  verbunden  waren,1 
und  vor  Allem  durch  die  unter  dem  Volke  herrschenden  Vorurtheile 
viele  Schwierigkeiten  bereitet. 

In  den  Kreisen  der  Vornehmen  Hessen  dieselben  allerdings  nach; 
sie  machten  hier  einer  wissenschaftlichen  Neugier  Platz,  welcher  bis- 
weilen eine  Haut-göut-artige  Sinnlichkeit  nicht  fehlte.  Die  Leichen- 
Sektionen  erschienen  als  piquante  Schauspiele,  zu  denen  sich  die  Zu- 
schauer drängten;  den  Höhepunkt  der  dramatischen  Situation  bezeichnete 
die  Demonstration  der  sexuellen  Organe,  für  welche  ein  erhöhtes  Ein- 
trittsgeld gefordert  wurde.  Als  der  regierende  Herzog  von  Würtem- 
berg  im  J.  1604  den  Besuch  von  drei  sächsischen  Prinzen  empfing, 
führte  er  sie,  um  ihnen  eine  Unterhaltung  zu  verschaffen,  nach  Tübingen, 
wo  sie  der  Zergliederung  einer  menschlichen  Leiche  beiwohnten,  welche 


1  Prantl  a.  a.  0.  T,  490. 


332  Der  medicinische  Unterricht  in  der  Neuzeit. 

acht  Tage  dauerte.1  Der  Anatom  Werner  Kolfink  in  Jena  wurde  an 
den  Hof  nach  Weimar  beschieden,  wo  er  in  Gegenwart  von  Fürsten  und 
vornehmen  Herren  eine  Sektion  ausführen  musste;  sie  bildete  gleichsam 
einen  Theil  der  Vergnügungen,  welche  der  Herzog  seinen  Gästen  bot.2 
In  Frankreich  wurde  das  wissenschaftliche  Interesse  Modesache;  selbst 
hochstehende  Damen  scheuten  sich  nicht,  Gefallen  an  anatomischen 
Demonstrationen  zu  finden. 

Anders  dachte  das  Volk  darüber.  Hier  erhielt  sich  der  fromme 
Aberglaube,  welcher  in  der  anatomischen  Zergliederung  des  mensch- 
lichen Körpers  ein  Verbrechen  sah,  das  an  ihm  ausgeübt  wurde.  Dazu 
kam  das  aus  alten  Zeiten  stammende  Mährchen',  dass  die  Anatomen, 
wenn  sie  keine  Leichen  zur  Verfügung  haben,  auch  lebende  Menschen 
zu  ihren  Untersuchungen  verwendeten.  Die  dadurch  erzeugte  Er- 
bitterung wurde  noch  gesteigert  durch  die  illegale  Art,  in  welcher  viele 
Leichen  in  den  Besitz  der  anatomischen  Anstalten  gelangten. 

In  Jena  erbaten  sich  Verbrecher,  welche  zum  Tode  verurtheilt 
waren,  bevor  sie  dem  Henker  übergeben  wurden,  die  Gnade  aus,  dass 
ihre  Körper  nicht  dem  Professor  Kolfink  überliefert  würden,  und  die 
Bauern  in  der  Umgegend  von  Jena  Hessen  die  Gräber  ihrer  An- 
gehörigen bewachen,  damit  deren  Leichen  nicht  „gerolfinkt"  würden. 
J.  Becher  musste  1661  aus  Würzburg  fliehen,  weil  er  den  Leichnam 
eines  hingerichteten  Wreibes  zergliedert  hatte.3  In  Berlin  und  Lyon 
wurden  die  anatomischen  Anstalten  von  dem  aufgeregten  Volk  gestürmt 
und  die  Anatomen  gemisshandelt;4  aus  dem  gleichen  Grunde  wurde 
auch  die  Anatomie  zu  Edinburg  im  J.  1725  vom  Pöbel  zerstört.5  Noch 
heut  ist  dieses  Vorurtheil  nicht  gänzlich  verschwunden.  Vor  wenigen 
Jahren  richteten  die  Pfründner  der  Stadt  Wien  an  den  dortigen 
Magistrat  die  Bitte,  dass  ihre  Leichen  nicht  der  Anatomie  übergeben 
würden. 

Glücklicher  Weise  war  man  nicht  überall  so  engherzig.  Vieussens 
hatte  in  Montpellier  Gelegenheit,  über  500  Leichen  zu  zergliedern. 
LiEüTAUD  konnte  sich  auf  1200  Sektionsberichte  stützen.  Haller  er- 
zählt, dass  er  während  seiner  Lehrthätigkeit  in  Göttingen  (1736 — 1753) 
ungefähr   350  Sektionen   ausgeführt   habe;    die   unter   seiner   Leitung 


1  J.   Säxinger:    Über    die  Entwiekelung    des   medicin.   Unterrichts   an   der 
Tübinger  Hochschule,  1883. 

2  G.  W.  Wedel:  Oratio  fimebr.  Rolfincio  dicta,  Jena  1675. 

3  Kölliker  a.  a.  0.  S.  11. 

4  J.   P.   Frank:    System    der    medicinischen    Polizei,    Wien   1817,    VI,    2, 
S.  60  Anm. 

5  A.  Grant:  The  story  of  the  university  of  Edinburgh,  London  1884. 


Der  rtiedicin.  Unterricht  in  den  theoret.  Fächern,  sowie  in  der  Anatomie  etc.    333 


stehende  dortige  Anatomie  erhielt  jährlich  30 — 40  Leichen.1  Ebenso 
günstig  stand  es  in  Strassburg;  im  Winter  d.  J.  172,5  wurden  in  der 
dortigen  Anatomie  30,  1760  sogar  60  Leichen  zergliedert.2  In  Paris, 
Leyden  und  an  einigen  italienischen  Hochschulen  war  man  so  viel  als 
möglich  bemüht,  die  anatomischen  Lehranstalten  mit  dem  nothwendigen 
Studien-Material  zu  versorgen.  Albeetini  in  Bologna  erzählte,  dass 
man  ihm  selbst  in  wohlhabenden  Familien  bereitwillig  die  Erlaubniss 
zur  Sektion  ertheilt  habe,  wenn  es  sich  darum  handelte,  die  Ursache 
einer  Krankheit  zu  ergründen. 

An  andern  Orten  hatte  die  Vernachlässigung  der  anatomischen 
Demonstrationen  nicht  so  sehr  in  dem  Mangel  an  Leichen,  als  in  der 
Bequemlichkeit  und  dem  Unverstand  der  Professoren  ihren  Grund.  In 
Prag  wurden  in  einem  Zeitraum  von  22  Jahren  (1690 — 1712)  nur  drei 
Zergliederungen  vorgenommen.3  In  Wien  fand  während  des  Jahres  1741 
nicht  ein  einziger  Actus  anatomicus  statt;  als  der  Professor  dieses  Faches 
von  der  Regierung  deshalb  getadelt  wurde,  brachte  er  unter  Anderem 
zu  seiner  Entschuldigung  vor,  dass  er  keinen  Prosector  zur  Unter- 
stützung gehabt  habe.4  Die  medicinische  Facultät  zu  Ingolstadt  be- 
antragte im  J.  1753  sogar,  die  Professur  der  Anatomie  gänzlich  auf- 
zuheben, da  es  am  besten  sei,  diese  Wissenschaft  erst  nach  der  Ab- 
solvirung  der  medicinischen  Studien  während  der  ärztlichen  Praxis  zu 
erlernen. 5 

Doch  traf  man  im  18.  Jahrhundert  in  den  meisten  deutschen 
Staaten  Einrichtungen,  um  dem  beständigen  Leichen-Mangel,  an  welchem 
die  anatomischen  Lehranstalten  litten,  abzuhelfen.  Im  J.  1716  verord- 
nete die  kurfürstlich  sächsische  Regierung,  dass  die  Leichen  aller  zum 
Tode  verurtheilten  Verbrecher  des  Leipziger  Kreises  auf  Verlangen  der 
dortigen  medicinischen  Facultät  ohne  Weiteres  der  Anatomie  übergeben 
würden.  Desgleichen  wurde  auch  für  die  Bedürfnisse  der  Anatomie  zu 
Wittenberg  Sorge  getragen.  Im  J.  1723  wurde  bestimmt,  dass  auch 
Leichen  von  ertrunkenen  und  todt  gefundenen  Personen,  insofern  es 
sich  nicht  um  „honoratiores"  handelte,  sowie  von  Selbstmördern  und 
Sträflingen,  die  in  den  Gefängnissen  starben,  zu  anatomischen  Zwecken 
verwendet  werden  sollten;  ferner  wurde  verfügt,  dass  die  armen  Leute, 
welche  in  den  Krankenhäusern  auf  öffentliche  Kosten  verpflegt  wurden, 
wenn  sie  dort  starben,  und  ihre  Angehörigen  die  Begräbnisskosten  nicht 
erschwingen  konnten,  den  medicinischen  Facultäten  überliefert  wurden, 


1  A.  Valentin  in  der  Denkschrift  über  A.  v.  Haller,  Bern  1877,  S.  72. 

2  Wieger  a.  a.  0.  S.  82. 

3  Hyrtl:  Geschichte  der  Anatomie  in  Prag,  1841,  S.  26. 

4  Rosas  a.  a.  0.  II,  256.  5  Prantl  a.  a.  0.  I,  607. 


334  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


,  jedoch  nur  zur  blossen  Sektion  und  Demonstrirung  der  Viscerum,  nicht 
aber  zur  völligen  Anatomirung".1 

Die  preussische  Regierung  erliess  ebenfalls  geeignete  Verordnungen, 
damit  das  zum  anatomischen  Studium  erforderliche  Material  nicht  fehle. 
Die  Anatomie  zu  Göttingen  erhielt  die  Leichen  der  Prostituirten  und 
der  unehelichen  Kinder.  In  Wien  mussten  seit  1749  die  Hospitäler, 
wenn  keine  Hinrichtungen  stattfanden,  die  Leichen  für  die  anatomischen 
Untersuchungen  und  Demonstrationen  liefern.2  M.  Stoll  erwartete  eine 
erhebliche  Vermehrung  des  Studien-Materials,  wenn  auch  die  Leichen 
von  Bankerottierern  diesem  Zweck  überwiesen  würden.  Die  Anatomie 
zu  Abo  in  Finnland  durfte  sogar  die  Leichen  aller  Derjenigen,  welche 
eine  Unterstützung  vom  Staat  genossen,  in  Anspruch  nehmen. 

In  dieser  Periode  begann  man  auch  besondere  Gebäude  für  die 
Anatomie  zu  errichten.  Hazon  hat  eine  Beschreibung  des  anatomischen 
Amphitheaters  hinterlassen,  welches  im  J.  1 604  zu  Paris  erbaut  wurde. 
Die  Herstellung  desselben  geschah  binnen  14  Tagen;  es  war  sehr 
klein  und  durchaus  nicht  solid.  Schon  nach-  kurzer  Zeit  wurde  an 
seiner  Stelle  ein  grösseres  und  zweckmässigem  Gebäude  errichtet, 
welches  indessen  auch  recht  schlecht  war.  Es  hatte  z.  B.  keine  Fenster, 
sondern  nur  Luftlöcher,  wie  Hazon  erzählt,  der  darin  als  Student  im 
J.  1730  Vorlesungen  hörte,  und  war  daher  der  Kälte  und  dem  Winde 
zugänglich. 

Auf  Winslows  Veranlassung  und  unter  seiner  Leitung  erhielt  die 
Pariser  Anatomie  im  J.  1744  ein  Gebäude  aus  Quadersteinen,  welches 
mit  Glasfenstern  versehen  war.  Die  anatomische  Lehranstalt  zu  Leiden 
war  mit  Skeletten  von  Menschen  und  Thieren  verschiedener  Arten  aus- 
gestattet und  geräumig  eingerichtet.3  Die  Chirurgen zunft  in  Edinburg 
gründete  1697  ein  anatomisches  Theater,  in  welchem  Demonstrationen 
stattfanden,  und  schuf  1705  eine  Professur  der  Anatomie. 

In  Würzburg  wurde  im  J.  1724  ein  anatomisches  Theater  er- 
richtet; es  war  ein  Kuppelbau  mit  Oberlicht,  hatte  fressendes  Wasser 
und  kostete  10  000  fl.  Im  Parnassus  boicus  (München  1725,  p.  310)  wird 
darüber  berichtet:  „Zur  Aufnamb  des  Studii  anatomici  und  chirurgici 
spahret  man  keine  Kosten,  und  ist  ein  berühmter  Chirurgus  auß  Paris, 
Monsieur  Sivert,  unter  einer  starken  Besoldung  (nämlich  400  Reichs- 
thaler) dahin  beruften  worden,  umb  die  chirurgischen  Griff  geschickt 
zu  zeigen  und  die  Anatomie  oder  Zergliederung  deß  menschlichen  Leibs 


1  J.  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  2,  S.  73  u.  ff. 

2  J.  D.  John:  Lexikon  der  k.  k.  Medicinalgesetze,  Prag  1798,  VI,  712  u.  ff. 

3  Alb.  Kyper:  Medicinam  rite  discendi  et  exercendi  methodus,  Lugd.  Batav. 
1643,  p.  112. 


Der  medioin.  Unterricht  in  den  thcoret.  Fächern,  sowie  in  der  Anatomie  etc.    335 


zu  lehren,  worzu  ihm  aus  dem  prächtigen  Spitall  die  Körper  angeschafft 
werden:  wie  er  denn  unlängst  an  einer  in  Raserey  verstorbenen  Frauen- 
Person  ein  Probstuck  abgelegt."  Im  J.  1788  wurde  die  anatomische 
Anstalt  zu  Würzburg  erweitert,  indem  an  das  Amphitheater  zwei  Säle, 
in  denen  die  anatomische  Sammlung  untergebracht  wurde,  ein  Saal  für 
die  Präparir-Übungen  der  Studierenden,  ein  Zimmer,  in  welchem  der 
Professor  arbeitete,  und  eine  Küche  angebaut  wurden.1 

Die  Universität  Breslau  wurde  1745,  und  diejenige  zu  Königsberg 
1738  mit  einem  anatomischen  Theater  ausgestattet;  das  letztere  ver- 
dankte seine  Existenz  dem  damaligen  Professor  der  Anatomie,  der  es 
auf  seine  eigenen  Kosten  erbauen  liess.2  Das  anatomische  Theater  zu 
Pavia  fasste  400  Zuschauer,  war  sehr  hell  und  mit  den  Bildnissen  der 
berühmtesten  Anatomen  geschmückt.  In  dem  daran  stossenden  Saale, 
welcher  mit  breiten  Steinplatten  belegt,  mit  einem  Herde,  mit  grossen 
Kesseln  und  beständig  fliessendem  reinen  Wasser  versehen  war,  fanden 
die  Secir-Übungen  der  Studenten  statt.3 

Derartige  Anstalten  wurden  auch  in  Städten,  welche  keine  Uni- 
versität besassen,  wie  in  Berlin,  Bremen,  Frankfurt  a.  M.,  Nürnberg  u.  a.  0. 
errichtet  und  den  dortigen  Ärzten  und  Chirurgen  zum  Gebrauch  über- 
geben. An  manchen  Orten  wurde  ein  Schuppen  oder  ein  anderes  Lokal, 
welches  nicht  benutzt  wurde,  für  die  anatomischen  Sektionen  und  Demon- 
strationen verwendet. 

Ausser  den  anatomischen  Instituten  entstanden  auch  anatomische 
Museen,  welche  bald  als  werthvolles  Lehrmittel  beim  medicinischen 
Unterricht  erkannt  wurden.  F.  Ruysch  legte  eine  Sammlung  ana- 
tomischer Präparate  an,  welche  er  im  J.  1717  um  den  enormen  Preis 
von  30  000  fl.  an  Peter  den  Grossen  verkaufte.  Binnen  zehn  Jahren 
gelang  es  ihm,  eine  neue  Sammlung  herzustellen,  welche  zum  grössten 
Theile  vom  polnischen  Könige  Johann  Sobieski  erworben  wurde,  der 
dafür  20  000  fl.  bezahlte. 

John  Hunters  berühmtes  Museum  enthielt  1 4  000  anatomische 
Präparate;  es  wurde  nach  seinem  Tode  von  der  englischen  Regierung 
für  15  000  Pfd.  Sterling  angekauft  und  dem  R.  College  of  Surgeons  zum 
Geschenk  gemacht,  wo  es  sich  noch  heut  befindet.  Grossen  Ruf  ge- 
nossen auch  J.  N.  Lieberkühn's  Injektions-Präparate,  sowie  J.  G.  Waltee's 
anatomische  Sammlung,  die  Frucht  einer  angestrengten  Arbeit  von 
54  Jahren;  sie  bestand  aus  2868  Nummern,  wurde  im  J.  1803  von  der 


1  Kölliker  a.  a.  0.  S.  25.  75.  78. 

2  D.  H.  Arnoldt  a.  a.  0.  —  Frank  a.  a.  0.  VI?  2,  S.  88. 

3  J.  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  1,  S.  327. 


336  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

preussischen  Regierung  für  100  000  Thaler  erworben  und  bildete  den 
Grundstock  des  anatomisch-zoo tomischen  Museums  der  Berliner  Hoch- 
schule. 

Auch  wurden  von  geübten  Künstlern  Nachbildungen  anatomischer 
Präparate  in  Wachs  angefertigt,  welche  zum  medicinischen  Unterricht 
dienten.  Einzelne  Italiener  erreichten  in  den  Modellir-Arbeiten  dieser 
Art  eine  bewunderungswürdige  Geschicklichkeit.  Der  Kaiser  Josef  IL 
liess  eine  berühmte  Sammlung  von  Wachs-Präparaten,  welche  in  Florenz 
unter  Eontana's  Leitung  hergestellt  worden  war,  für  30  000  fl.  an- 
kaufen, nach  Wien  bringen  und  als  Lehrmittel  der  militärärztlichen 
Akademie  übergeben.  Übrigens  machte  schon  P.  Frank  darauf  auf- 
merksam, dass  diese  Wachs-Nachbildungen  sich  nicht  so  sehr  für  den 
anatomischen  Unterricht  der  Studierenden  der  Medicin  eignen,  als  sie 
zu  empfehlen  sind,  wenn  es  gilt,  Laien,  welche  einen  unüberwindlichen 
Abscheu  vor  Leichen  haben,  eine  allgemeine  oberflächliche  Kenntniss 
des  menschlichen  Körpers  und  seiner  verschiedenen  Theile  zu  ver- 
schaffen. 

Ein  wichtiges  Lehrmittel  für  den  anatomischen  Unterricht  bildeten 
ferner  die  anatomischen  Tafeln  und  Zeichnungen,  welche  theils  selbst- 
ständig erschienen,  theils  den  Lehrbüchern  der  Anatomie  beigegeben 
wurden.  Joh.  Bemmelin  nahm  die  schon  früher  geübte  Methode 
wieder  auf,  durch  aufgeklebte  und  hinwegzuschlagende  Bilder  die  Lage- 
rung der  Muskelschichten  und  Eingeweide  kenntlich  zu  machen;1  in 
derselben  Weise  verfuhr  Clopton  Havers. 

Vortreffliche  anatomische  Tafeln,  namentlich  über  die  Vertheilu  ng 
der  Nerven,  verdankt  man  dem  Maler  Pietro  da  Cortona;  die  Titel- 
vignette der  Ausgabe  von  1741  stellt  die  Blut-Transfusion  dar.  Gerard 
de  Lairesse  lieferte  die  Zeichnungen  für  das  anatomische  Lehrbuch 
des  G.  Bidloo.  Vorzugsweise  für  Künstler  berechnet  waren  das  ana- 
tomische Werk  von  B.  Genga  mit  den  Zeichnungen  Ch.  Errards,  die 
Anatomia  dei  pütori  des  Carlo  Cesio,  welche  auch  in  deutscher  Über- 
setzung erschien,  ferner  das  vom  spanischen  Anatomen  und  Maler 
Martinez  entworfene  Bild  der  Muskeln  des  Körpers,  welches  sich  durch 
seine  tadellosen  Proportionen  auszeichnet,  die  Tafeln  von  Ercole  Lelli 
u.  a.  m.  Auch  die  Kupfer,  welche  die  anatomischen  Schriften  von 
W.  Cheselden  und  Dom.  Santorini  zierten,  ragten  durch  ihren  hohen 
künstlerischen  Werth  hervor;  die  letzteren  wurden  von  Morgagni  für 
Musterbilder  erklärt. 

Ein  weiterer  Fortschritt  bestand  in  der  Einführung  colorirter  Zeich- 


1  Choulant:  Geschichte  der  anat.  Abbildung,  Leipzig  1852,  S.  39.  82  u.  ff. 


Der  medicin.  Unterricht  in  den  theoret.  Fächern,  sowie  in  der  Anatomie  etc.    337 


nungen  für  anatomische  Darstellungen;  dadurch  konnten  die  Arterien, 
Venen,  Nerven  und  die  einzelnen  Organe  schärfer  unterschieden  werden. 
Zum  ersten  Male  kam  dies  in  den  Holzschnitten  zur  Anwendung,  mit 
welchen  C.  Aselli  seine  Arbeit  über  die  Chylus-Gefässe  ausstattete. 
Im  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  machte  der  Miniatur-Maler  J.  Che. 
le  Blon  die  ersten  Versuche  in  gefärbter  Schabkunst;  1721  veröffent- 
lichte er  das  erste  anatomische  Blatt,  das  nach  diesem  Verfahren  her- 
gestellt worden  war.  Aber  in  weiteren  Kreisen  bekannt  und  für  die 
anatomischen  Darstellungen  verwerthet  wurde  die  neue  Erfindung  des 
Buntkupferdrucks  erst  durch  Jan  Ladmieal,  welcher  mehrere  Ab- 
handlungen der  Anatomen  B.  S.  Albinus  und  F.  Kuysch  mit  der- 
artigen Abbildungen  versah,  sowie  durch  J.  F.  Gautieb  d'Agoty 
der  dabei  hauptsächlich  anatomische  Präparate  Duveeney's  als  Vorlage 
benutzte. 

Albinus  hinterliess  eine  ausführliche  Beschreibung  der  Herstellung 
anatomischer  Zeichnungen  und  gab  dabei  beachtenswerthe  Kathschläge, 
welche  Fehler  zu  vermeiden  und  welche  Regeln  zu  berücksichtigen 
sind. *  Er  verwendete,  wie  er  selbst  erzählt,  die  Summe  von  24  OOO  Gul- 
den aus  seinem  eigenen  Vermögen  auf  die  Anfertigung  anatomischer 
Tafeln.2  Als  Zeichner  stand  ihm  Jan  Wandelaee  zur  Seite.  Auch 
Hallee,  welcher  eine  Sammlung  anatomischer  Abbildungen  veranstal- 
tete, und  W.  Hüntee,  dem  man  die  beste  Darstellung  des  schwangeren 
Uterus  verdankte,  wurden  von  tüchtigen  Künstlern  unterstützt.  End- 
lich gab  Pietee  Campee,  welcher  den  Zeichenstift  ebenso  geschickt  zu 
führen  verstand  als  das  Secirmesser,  werthvolle  Aufschlüsse  über  die 
mathematische  Conformation  des  Kopfes  und  machte  auf  die  Bedeutung 
des  nach  ihm  genannten  Gesichtswinkels  für  die  Beurtheilung  der 
geistigen  Begabung  der  Menschen  aufmerksam. 

Über  die  Art,  in  welcher  der  anatomische  Unterricht  ertheilt 
wurde,  erhalten  wir  durch  mehrere  Bilder  der  niederländischen  Schule, 
auf  denen  hervorragende  Ärzte  jener  Zeit  dargestellt  werden,  wie  sie, 
umgeben  von  ihren  Schülern  oder  befreundeten  Collegen,  über  ana- 
tomische oder  chirurgische  Fragen  Vorträge  halten,  eine  klare  An- 
schauung. 

Rembeandt's  berühmtes  Gemälde:  „Die  anatomische  Vorlesung", 
welches  zu  den  bedeutendsten  Schöpfungen  dieses  grossen  Meisters  ge- 
hört, zeigt  den  Amsterdamer  Anatomen  Nie.  Tulp,  der  damals  zugleich 


1  B.  S.  Albinus:   Acad.  annotat.,  Lugd.  Bat.  1754,  lib.  I,  Praef.  p.  7  u.  ff., 
lib.  VIII,  p.  30.  50. 

2  Albinus  a.  a.  0.  lib.  III,  p.  73. 

Puschmann,  Unterricht.  22 


338  Der  medieinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

die  Würde  des  Bürgermeisters  bekleidete,  in  dem  Augenblick,  da  er 
seinen  ärztlichen  Collegen  eine  Leiche  demonstrirt;  das  Bild  befindet 
sich  gegenwärtig  in  der  königlichen  Gallerie  im  Haag  und  ist  durch 
den  Kupferstich  sehr  bekannt  geworden.  Auf  einem  anderen  Bilde  hat 
Rembeandt  den  Dr.  Deymann,  den  Nachfolger  Tulp's  im  Lehramt, 
dargestellt,  wie  er  nach  Entfernung  des  Schädeldaches  ein  Gehirn 
präparirt. 

Ähnliche  Gemälde  werden  in  Amsterdam  und  anderen  Orten 
Hollands    aufbewahrt;    es    befinden   sich    darunter   Werke   von   Aaet 

PlETEESEN,    TH.    DE    KEYSEE,    MlCH.   MlEEWELL,    ADEIAN    BaKEE,    COEN. 

Teoost  und  T.  Regtees.  Sie  waren  grösstentheils  für  die  Chirurgen- 
Gilde  in  Amsterdam  bestimmt. l  Sie  bilden  wichtige  Documente  sowohl 
für  die  Geschichte  des  medicinischen  Unterrichts  als  für  die  sociale 
Stellung,  welche  die  Ärzte  zu  jener  Zeit  in  den  Niederlanden  einnahmen. 

Der  anatomische  Unterricht  beschränkte  sich  nicht  mehr,  wie  in 
früheren  Zeiten,  auf  die  Demonstration  der  Organe  der  grossen  Körper- 
höhlen, sondern  unterzog  auch  die  Muskeln,  Gefässe  und  Nerven  einer 
eingehenden  Betrachtung. 

Auch  wurden  die  Studierenden  veranlasst,  selbst  an  den  anatomi- 
schen Arbeiten  Theil  zu  nehmen.  Halles  hatte  als  Student  in  Leyden 
Gelegenheit,  unter  der  Leitung  seines  Lehrers  Albinus  drei  Leichen 
zu  seciren.2  Am  College  de  St.  Cöme  zu  Paris  wurden  i.  J.  1750  ana- 
tomische Secirübungen  für  die  Studierenden  eingerichtet.3  In  Wien 
führte  der  geistreiche  Josef  Baeth  die  Präparir-Übungen  für  die  Stu- 
dierenden ein.  Stoll  und  P.  Feank  entwickelten  die  Notwendigkeit, 
dass  sich  die  künftigen  Ärzte  an  den  Zergliederungen  selbst  bethei- 
ligten. 4 

An  den  meisten  Universitäten  fiel  dem  Anatomen  zugleich  die 
Aufgabe  zu,  die  pathologischen  Veränderungen  an  der  Leiche  zu  demon- 
striren  und  zu  erklären.  Weelhof  forderte  dies  ausdrücklich  in  seinem 
Gutachten  über  die  Einrichtung  der  medicinischen  Facultät  in  Göttingen. 
Es  geht  dies  auch  aus  der  Thatsache  hervor,  dass  die  bedeutenden 
Anatomen  jener  Periode,  wie  Lancisi,  Valsalva,  Moegagni,  Lieutaud, 
Poetal,  Sandifoet,  J.  Huntee,  Hallee  u.  A.  zugleich  die  Grund- 
lagen der  pathologischen  Anatomie  gezeichnet  haben. 


1  J.  B.  Tilanus:  Beschrijving  der  Schilderijen  afkomstig  van  het  Chirur- 
gijnsgild  te  Amsterdam,  Amsterdam  1865.  —  P.  Triaire:  Les  le^ons  d'anatomie 
et  les  peintres  Hollandais,  Paris  1887. 

2  Valentin  a.  a.  0.  S.  68. 

3  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  2.  Abth.,  S.  331,  Anm. 

4  Frank  a.  a.  O.  VI,  2,  S.  87. 


Der  medicin.  Unterricht  in  den  theoret.  Fächern,  sowie  in  der  Anatomie  etc.    339 


Man  begann  auch  schon  Sammlungen  pathologisch -anatomischer 
Präparate  anzulegen.  Bereits  im  17.  Jahrhundert  bewahrte  G.  Riva  in 
Rom  eine  Anzahl  derselben  auf,  die  er  als  Hospitalarzt  gewonnen  hatte. 
Später  geschah  dies  häutiger.  Sömmering  besass  eine  reichhaltige 
pathologisch-anatomische  Sammlung ,  welche  auf  Brambilla's  Veran- 
lassung um  den  Preis  von  400  Dukaten  für  das  Josefinum  in  Wien 
erworben  wurde.1 

Zum  Unterricht  in  der  Heilmittellehre  boten  die  botanischen  Gär- 
ten, in  denen  die  Arzneipflanzen  gezogen  wurden,  und  die  Apotheken 
Gelegenheit.  Der  Jardin  des  plantes  zu  Paris  wurde  i.  J.  1626  auf 
Betreiben  des  königl.  Leibarztes  Labrosse  angelegt.  Gleichzeitig  be- 
stimmte ein  Dekret  des  Königs  Ludwig  XIII. ,  dass  „in  Anbetracht, 
dass  an  den  medicinischen  Schulen  die  pharmaceutischen  Operationen 
nicht  gelehrt  werden,  drei  Doktoren  aus  der  Pariser  Facultät  ausgewählt 
würden,  welche  den  Schülern  das  Innere  der  Pflanzen  und  aller  Medi- 
camente demonstriren  und  die  Bereitung  jeder  Art  von  Arzneien  auf 
einfachem  und  chemischem  Wege  zeigen  sollten,  und  dass  in  einem 
Zimmer  Proben  sämmtlicher  Arzneien  und  allerlei  seltener  Naturgegen- 
stände aufgestellt  würden."2  Für  die  Erhaltung  dieser  Anstalt  wurde 
eine  jährliche  Summe  von  21  000  Livres  angewiesen.  Naturforscher 
wie  Touknefort,  die  beiden  Jussieu,  Dufay,  Daubenton  und  vor 
Allen  Buffon,  welche  hier  thätig  waren,  machten  den  botanischen 
Garten  zu  Paris  zu  einer  europäischen  Berühmtheit. 

Im  Verlauf  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  wurden  die  meisten 
Universitäten  mit  botanischen  Gärten  ausgestattet.  Durch  seinen  Reich- 
thum  an  officinellen  Pflanzen  zeichnete  sich  besonders  derjenige  zu 
Chelsea  (London)  aus,  welchen  Sir  Hans  Sloane  i.  J.  1686  der  Lon- 
doner Apotheker-Genossenschaft  schenkte. 

Botanische  Gärten  entstanden  ferner  zu  Amsterdam,  Utrecht,  Kopen- 
hagen und  Upsala  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts,  in  Oxford 
(1632),  Edinburg  (1680),  Cambridge  (1702),  Härder wyk  (1709)  und 
Petersburg  (1725).  In  Deutschland  wurden  die  Hochschulen  zu  Giessen 
(1609),  Altdorf  (1626),  Jena  (1629),  Helmstädt  (1634),  Kiel  (1669), 
Halle,  Tübingen  (1675),  Würzburg  (1695),  Wittenberg  (1711),  Ingol- 
stadt (1723),  Göttingen  (1737),  Frankfurt  a.  0.  (1744),  Wien  (1749), 
Greifswald  (1765),  Prag  (1776),  Salzburg,  Marburg  und  Rostock  mit 
botanischen  Gärten  verbunden. 


1  Rud.  Wagner:  Soemmerings  Leben,  Leipzig  1844,  II,  89. 

2  Esquiros  und  Weil:   Die  wissenschaftlichen  Institute  zu  Paris,   Stuttgart 
1850,  I,  S.  28. 

22* 


340  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Auch  dienten  dem  botanischen  Unterricht  die  Sammlungen  ge- 
trockneter Pflanzen,  sowie  die  botanischen  Bilder- Atlanten ,  von  denen 
manche  durch  ihre  Naturtreue  überraschen. 1  Zu  dem  gleichen  Zweck 
unternahmen  die  Studierenden  mit  ihrem  Lehrer  gemeinsame  botanische 
Ausflüge,  welche  Herbationen  genannt  wurden. 

Ebenso  wie  beim  botanischen  Unterricht  wurden  auch  beim  chemi- 
schen vorzugsweise  die  Interessen  der  Pharmakologie  und  Pharmacie 
berücksichtigt.  Es  gab  in  jener  Zeit  bereits  an  mehreren  Universitäten 
Lehrkanzeln  der  Chemie  und  chemische  Laboratorien,  in  denen  die  Her- 
stellung pharmaceutischer  Präparate  erlernt  werden  konnte.  Das  Ver- 
halten des  Senates  der  Universität  zu  Innsbruck,  welcher  i.  J.  1740  die 
Errichtung  von  Professuren  für  Botanik  und  Chemie  ablehnte,  bildete 
sicherlich  eine  Ausnahme;  er  begründete  dies  damit,  dass  ein  gründlicher 
botanischer  Unterricht  10  Jahre  erfordere,  „da  bei  diesem  neugierigen 
saeculo  immer  etwas  Neues  in  vegetabilibus  in  Vorschein  komme",  während 
eine  Lehrkanzel  für  Chemie  zu  viel  Geld  koste.2  Die  beste  Gelegenheit 
zum  Unterricht  in  der  Chemie  boten  die  Apotheken,  deren  innere  Ein- 
richtungen durch  H.  Peters,  welcher  in  seinem  Buche  Bilder  der  Hof- 
apotheke zu  Rastadt  v.  J.  1700,  der  Sternapotheke  zu  Nürnberg  v.  J. 
1710  und  der  Apotheke  zu  Klattau  in  Böhmen  v.  J.  1733  veröffent- 
lichte, allgemein  bekannt  geworden  sind.3 

Die  Ausbildung  der  Apotheker  geschah  handwerksmässig.  Die 
naturwissenschaftlichen  Kenntnisse,  welche  von  ihnen  verlangt  wurden, 
waren  nicht  bedeutend.4  So  schrieb  Fr.  Hoffmann:  „Dem  Apotheker 
soll  bekannt  sein,  dass  ein  Acidum  mit  einem  Aleali  ebullieret;  aber 
es  ist  schon  genug,  wenn  er  nur  den  Effekt  weiss,  obschon  er  die 
Ursache  davon  nicht  sagen  kann." 

Den  Apothekern  fiel  neben  der  Bereitung  der  Arzneien  auch  die 
Aufgabe  zu,  Klystiere  zusammenzusetzen  und  beizubringen.  Diese  Be- 
schäftigung war  sehr  einträglich  zu  einer  Zeit,  da  Ludwig  XIII.  in 
einem  einzigen  Jahre  ausser  215  Purgan tien  212  Klystiere  zu  sich  nahm. 
Ein  Kanonikus  zu  Troyes  brachte  es  binnen  zwei  Jahren  sogar  zu  der 
unglaublichen  Zahl  von  2190,  welche  dem  Andenken  der  Nachwelt 
aufbewahrt  worden  ist,  weil  er  sich  weigerte,  das  dafür  geforderte 
Honorar  zu  bezahlen,  und  deshalb  verklagt  wurde.  Die  Klystiere  wur- 
den Modesache,  und  die  Pariser  Damen  raunten  sich  vertraulich  zu, 


1  H.  Peters  a.  a.  0.  S.  57. 

2  J.  Probst:  Geschichte  der  Universität  zu  Innsbruck,  Innsbruck  1869. 

3  H.  Peters  a.  a.  0.  S.  78  u.  ff. 

4  Fr.  Hoffmann:  Medicus  politicus,  Lugd.  Batav.  1746,  II,  2,  c.  16. 


Der  klinische   Unterricht  im  17.  und  18.  Jahrhundert.  341 

dass  das  Geheimniss  der  Ninon  de  l'Enclos,  durch  welches  sie  sich  ihre 
vielbewunderte  Schönheit  bis  ins  hohe  Alter  erhielt,  lediglich  auf  dem 
öfteren  Gebrauche  dieses  Mittels  beruhte.1 


Der  klinische  Unterricht  im  17.  und  18.  Jahrhundert. 

Die  grösste  Errungenschaft,  welche  der  medicinische  Unterricht 
dieser  Periode  verdankte,  bestand  darin,  dass  die  klinische  Unterweisung 
an  den  meisten  Universitäten  eingeführt  und  in  den  Studienplan  der- 
selben aufgenommen  wurde.  Die  ersten  Versuche,  welche  damit,  wie 
erwähnt,  im  16.  Jahrhundert  zu  Padua  angestellt  wurden,  hatten  keinen 
dauernden  Erfolg  und  übten  auch  keinen  sichtbaren  Einfluss  aus  auf 
andere  Hochschulen. 

Der  Universität  Leyden  gebührt  das  Verdienst,  den  klinischen 
Unterricht  zu  einer  bleibenden  Einrichtung  gemacht  und  durch  ihre 
Schüler  auch  nach  andern  Orten  verpflanzt  zu  haben.  Die  Professoren 
Otto  van  Heurne  und  Ew.  Schrevelius  eröffneten  denselben  um  das 
Jahr  1630  im  Krankenhause  zu  Leyden. 

Dabei  wurde  die  Methode  eingeschlagen,  dass  die  Studierenden 
zunächst  den  Kranken  über  sein  Leiden  examinirten  und  untersuchten, 
dass  hierauf  ein  Jeder  derselben  seine  Ansicht  über  das  Wesen,  die  Ur- 
sachen, Symptome,  Prognosis  und  Behandlung  der  Krankheit  äusserte, 
und  der  Professor  zuletzt  die  richtige  bestätigte,  die  falsche  widerlegte 
und  die  notwendigen  Erklärungen  dazu  abgab.  Aber  dieses  Verfahren 
gefiel  den  Studenten  nicht,  weil  sie  dabei  Gefahr  liefen,  durch  Fragen, 
die  sie  nicht  beantworten  konnten,  biosgestellt  zu  werden,  und  0.  v.  Heurne 
sah  sich  daher  zu  seinem  Bedauern  veranlasst,  dasselbe  aufzugeben,  statt 
dessen  selbst  die  Krankenuntersuchung  vorzunehmen  und  daran  seine 
Anleitung  zur  Behandlung  zu  knüpfen. 

Die  Patienten,  welche  im  Hospital  starben,  wurden  secirt,  um  über 
die  Ursache  und  den  Sitz  der  Krankheiten  Sicherheit  zu  gewinnen. 
Auch  gehörte  zu  diesem  Hospital  eine  Apotheke,  in  welcher  die  Studieren- 
den die  Bereitung  der  Arzneien  sehen  und  lernen  konnten.2 

Im  J.  1648  übernahm  Albert  Kyper  aus  Königsberg  in  Preussen, 
dem  wir  diese  Nachrichten  verdanken,  die  Leitung  der  Klinik  zu  Leyden. 


1  Philippe  a.  a.  0.  S.  131  u.  ff. 

2  Alb.  Kyper  a.  a.  0.  p.  112  u.  ff.,  256  n.  ff. 


342  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Ihm  folgte  schon  nach  wenigen  Jahren  Franz  de  le  Boe  (Sylvius), 
welchen  sein  College  Lucas  Schacht  in  seiner  klinischen  Wirksamkeit 
geschildert  hat.1  „Wenn  er  mit  seinen  Schülern  zum  Kranken  kam 
und  den  Unterricht  begann,  so  schien  er  über  die  Ursache  und  Art 
seines  Leidens,  die  Krankheitserscheinungen  und  die  Behandlung  voll- 
ständig im  Unklaren  zu  sein  und  äusserte  sich  Anfangs  gar  nicht  über 
den  Krankheitsfall;  er  fing  nun  an,  durch  Fragen,  die  er  bald  an  diesen, 
bald  an  jenen  der  Zuhörer  richtete,  Alles  herauszufischen  (expiscabatur), 
und  vereinigte  die  auf  diese  Weise  ermittelten  Thatsachen  zu  einem 
Krankheitsbilde,  so  dass  die  Studierenden  den  Eindruck  empfingen,  als 
ob  sie  die  Diagnose  nicht  von  ihm  erfahren,  sondern  selbst  aufgefunden 
hätten."  Unter  seiner  Leitung  erlangte  die  Klinik  in  Leyden  einen 
solchen  Kuf,  dass  Studierende  und  Ärzte  aus  Ungarn,  Russland,  Polen, 
Deutschland,  Dänemark,  Schweden,  aus  der  Schweiz,  Italien,  Frankreich 
und  England,  also  fast  aus  allen  Ländern  Europas,  dorthin  kamen,  wie 
Schacht  erzählt. 

Die  Leydener  Klinik  behauptete  lange  Zeit  den  ersten  Rang  unter 
allen  derartigen  Anstalten.  Boerhaave,  welcher  bis  1738  an  der  Spitze 
derselben  stand,  war  in  der  ganzen  Welt  bekannt  und  zählte  zu  seinen 
Schülern  Haller,  G.  van  Swieten,  A.  de  Haen,  Pringle,  H.  D.  Gaub, 
Ribeiro  Sanchez  u.  A.,  welche  das  18.  Jahrhundert  mit  ihrem  Ruhm 
erfüllten. 

Auch  an  andern  Hochschulen  Hollands,  dessen  Krankenhäuser  von 
Augenzeugen  sehr  gelobt  wurden,2  wurde  klinischer  Unterricht  ertheilt. 
In  Utrecht  lehrte  Wilh.  van  der  Straten,  dessen  Methode,  die  Studieren- 
den zur  Erkenntniss  der  Krankheiten  anzuleiten,  den  uneingeschränkten 
Beifall  Kypers  fand.3 

Im  Hospital  von  S.  Spirito  zu  Rom  wurde  auf  Lancisi's  Veran- 
lassung im  J.  1 7 1 5  eine  klinische  Lehranstalt  errichtet.  Die  Universität 
zu  Edinburg  erhielt  1738  ein  Spital,  welches  seit  1746  zum  klinischen 
Unterricht  benutzt  wurde.4 

In  Paris  wurde  im  J.  1644  die  poliklinische  Unterweisung,  welche 
dort  seit  Jahrhunderten  bestand,  dem  Lehrplane  der  medicinischen 
Facultät  einverleibt.  Den  Anlass  dazu  gab,  wie  es  scheint,  Theophraste 
Renaudot. 

Dieser  geistvolle  und  unternehmende  Mann,  welcher  das  erste  Leih- 
haus und  das  erste  Adressbureau  in  Paris  gründete  und  die  erste  Zeitung, 


1  Oratio  funebris  in  obitum  F.  de  le  Boe  Sylvii  in  Sylvii    opera  medica, 
Amstelod.  1680,  p.  931  und  Neubert  a.  a.  0.  1836,  II,  162. 

2  Vergl.  Tholuck  a.  a.  0.  I,  2,  S.  205.  3  Kyper  a.  a.  0.  p.  255. 
4  A.  Grant  a.  a.  0. 


Der  klinische   Unterrieht  im  17.  und  18.  Jahrhundert.  343 


welche  in  Frankreich  erschien,  nämlich  die  Gazette  de  France,  redigirte, 
schuf  im  Verein  mit  andern  ärztlichen  Collegen  auch  ein  ambulato- 
risches Institut,  in  welchem  arme  Kranke  unentgeltlich  behandelt 
wurden  Von  der  medicinischen  Facultät,  mit  der  er  in  bestandiger 
Fehde  lebte,  weil  er  sich  dem  Zunftgeist  derselben  nicht  fügen  wollte, 
erfuhr  er  deshalb  viele  Anfeindungen.  Als  sein  Gönner,  der  machtige 
Cardinal  Richelieu,  gestorben  war,  setzte  sie  es  sogar  durch,  dass  die 
Poliklinik  Renaudot's,  welche  der  ärmeren  Bevölkerung  eine  Wohlthat 
gewesen  war,  geschlossen  wurde.1 

Dafür  übernahm  die  medicinische  Facultät  nun  die  Pflicht,  selbst 
eine  derartige  Anstalt  zu  erhalten.  Es  wurde  daher  angeordnet,  dass 
6  Doktoren,  und  zwar  3  alte  und  3  junge,  damit  beauftragt  wurden, 
zweimal  wöchentlich  in  der  Ecole  de  medecine  unentgeltlich  ambulante 
Kranke  zu  untersuchen  und  ihnen  Arzneimittel  zu  verabreichen.  Die 
chirurgischen  Operationen  sollten  sie  entweder  selbst  vornehmen  oder 
durch  einen  tüchtigen  Chirurgen  ausführen  lassen.  In  schwierigen 
Fällen  mussten  sie  einander  zu  Rath  ziehen;  auch  wurde  dem  Dekan 
der  Facultät  befohlen,  dabei  oft  anwesend  zu  sein. 

Arme  Kranke,  welche  wegen  ihres  Zustandes  nicht  zur  Consul- 
tation  kommen  konnten,  wurden  in  ihren  Wohnungen  besucht  und 
unentgeltlich  behandelt.  Die  Baccalaureen,  also  die  älteren  Studierenden 
der  Medicin,  wurden  verpflichtet,  den  poliklinischen  Consultationen  bei- 
zuwohnen; sie  wurden  dabei  zugleich  beschäftigt,  indem  sie  die  Recepte, 
welche  die  Doktoren  diktirten,  niederschrieben  und  andere  Dienst- 
leistungen verrichteten.  Ebenso  sollten  sie  an  den  ärztlichen  Besuchen 
im  Hotel  Dien  oder  einem  andern  Hospitale  Theil  nehmen.2  Diese 
poliklinischen  Studien  dauerten  zwei  Jahre.  Erst  am  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts wurden  in  Paris  stationäre  Kliniken  eingerichtet. 

Auch  in  Deutschland  entstanden  die  ersten  Kliniken  nicht  vor  der 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts.  Allerdings  beantragte  Werlhoe  bei 
der  Gründung  der  Universität  Göttingen  die  Errichtung  einer  damit 
verbundenen  Klinik,  aber  vergeblich.  Ähnlich  erging  es  der  medi- 
cinischen Facultät  zu  Wien  im  J.  1718. 

Auch  F.  Hoefmann  in  Halle  betonte,  dass  durch  den  Besuch 
medicinischer  Vorlesungen  allein  Niemand  zum  Arzt  ausgebildet  werde, 
sondern  dass  dazu  die  klinische  Unterweisung  gehöre.3  Die  Über- 
zeugung, dass  die  Klinik  für  den  medicinischen  Unterricht  nothwendig 


1  Gilles  de  la  Tourette:  Theophraste  Renaudot,  Paris  1884. 

2  Hazon  a.  a.  0.  —  Sabatier  a.  a.  0. 

3  F.  Hoffmann:  Medicus  politicus,  Halle  1746,  I,  1,  6. 


344  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

sei,  war  also  allgemein;  aber  die  Ohnmacht  der  Professoren  der  Heil- 
kunde, die  Gleichgültigkeit  der  Behörden  und  vor  Allem  der  Mangel 
an  Geldmitteln  trugen  Schuld,  dass  die  Verwirklichung  der  dafür  er- 
forderlichen Anstalten  stets  auf  spätere  Zeiten  verschoben  wurde. 

Wien  war  die  erste  deutsche  Universität,  welche  eine  Klinik  er- 
hielt. Auf  Gerhaed  van  Swietens  Veranlassung  wurde  im  J.  1753 
im  sogen.  Bürgerspital  eine  klinische  Abtheilung  eingerichtet,  welche 
aus  6  Betten  für  Männer  und  6  Betten  für  Weiber  bestand;  doch 
wurde  dem  Vorstande  derselben  das  Hecht  eingeräumt,  Kranke  aus  den 
übrigen  Abtheilungen  dieser  Anstalt,  sowie  aus  dem  Dreifaltigkeits- 
Hospitale,  wenn  es  im  Interesse  des  Unterrichts  lag,  in  die  Klinik  ver- 
legen zu  lassen. 

Zur  Leitung  derselben  wurde  der  Niederländer  A.  de  Haen  be- 
rufen, welcher  sie  vollständig  nach  dem  Vorbilde  der  Leydener  Klinik 
organisirte.  „Täglich  erschien  er  in  früher  Morgenstunde  im  Spital  und 
untersuchte  die  Kranken,  um  sich  von  den  etwaigen  Veränderungen 
in  ihrem  Zustande  zu  unterrichten.  Um  8  Uhr  begann  die  Klinik,  in 
welcher  die  Kranken  unter  seiner  Leitung  von  den  Studierenden  unter- 
sucht und  behandelt  wurden.  Er  befolgte  dabei  eine  sehr  empfehlens- 
werthe  Lehrmethode;  jeder  seiner  Schüler  musste  ihm  das  Resultat 
seiner  Untersuchung  leise  ins  Ohr  flüstern,  und  de  Haen  theilte  am 
Schluss  mit  lauter  Stimme  die  richtige  Diagnosis  mit,  so  dass  sich  Die- 
jenigen, welche  sich  geirrt  hatten,  davon  überzeugen  konnten,  ohne  dass 
sie  einer  Beschämung  ausgesetzt  waren. 

Nach  der  Klinik  begann  die  ärztliche  Ordination  für  jene  Kranken, 
welche  nicht  im  Spital  verpflegt  wurden.  Auch  dieser  wohnten  die 
Studierenden  bei.  Hier  sowohl,  wie  in  der  Klinik  wurde  über  jeden 
Kranken  Buch  geführt  und  dessen  Leidensgeschichte  nebst  den  ge- 
troffenen Verordnungen  eingetragen.  Wenn  Patienten  in  der  Klinik 
starben,  so  wurde  von  de  Haen  in  Gegenwart  der  Studierenden  die 
Sektion  gemacht,  das  Ergebniss  derselben  mit  der  während  des  Ver- 
laufs der  Krankheit  gestellten  Diagnose  verglichen  und  der  Werth  und 
Nutzen  der  eingeschlagenen  Behandlung  besprochen."1 

De  Haen  begründete  den  Ruhm  der  Wiener  Klinik.  Sein  Nach- 
folger Maximilian  Stoll  vermehrte  denselben  durch  seine  grossen 
Lehrerfolge  und  zog  Studierende  und  Ärzte  aus  allen  Ländern  dorthin. 
Unter  ihm  erreichte  sie  „eine  Stufe  der  Vollkommenheit,  auf  der  sie 


1  Freimüthige  Briefe  an  den  Herrn  Grafen  von  V.,  Frankfurt  a/M.  und 
Leipzig  1774,  S.  69  u.  ff.  —  Th.  Püschmann:  Die  Medicin  in  Wien  während  der 
letzten  hundert  Jahre,  Wien  1884,  S.  17. 


Der  klinische   Unterricht  im  17.  und  18.  Jahrhundert.  345 

unbedingt  als  ein  Vorbild  aller  klinischen  Schulen  aufgestellt  werden 
konnte." l 

Die  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Paris  legte  dem  Könige 
Ludwig  XVI.  von  Frankreich  den  Plan  vor,  dort  eine  Klinik  nach  dem 
Muster  der  von  Stoll  geleiteten  Lehranstalt  zu  errichten.2  Für  die 
Kliniken,  welche  in  den  übrigen  Provinzen  Österreichs,  sowie  in  Deutsch- 
land entstanden,  war  die  Einrichtung  der  Wiener  massgebend. 

Prag  erhielt  1769  eine  Klinik,  welche  unter  Plencicz  im  J.  1778 
von  8  auf  50  Betten  vermehrt  wurde  und  daneben  das  unbedingte 
Recht  besass,  Kranke,  welche  für  den  Unterricht  erwünscht  waren,  aus 
den  übrigen  Abtheilungen  des  Krankenhauses  zu  fordern.3  In  Pavia 
führte  Borsieri  1770  den  klinischen  Unterricht  ein;  in  Modena  nahm 
er  1774  seinen  Anfang. 

In  Würzburg  wurden  die  Studierenden  der  Medicin  schon  seit 
langer  Zeit  angewiesen,  den  ärztlichen  Besuchen  im  Julius-Hospitale 
beizuwohnen.  Auch  wurden  dort  schon  1729  unter  Beringers  Leitung 
klinische  Übungen  veranstaltet;  doch  scheinen  dieselben  später  nicht 
fortgesetzt  worden  zu  sein  oder  nur  zeitweise  stattgefunden  zu  haben,4 
da  in  der  Studienordnung  von  1749  wiederum  darauf  hingewiesen 
werden  musste,  wie  nothwendig  es  zur  Vollständigkeit  der  ärztlichen 
Bildung  gehöre,  dass  die  Professoren  die  Studierenden  und  jungen  Ärzte 
in  die  Hospitäler  und  zu  den  Kranken  ihrer  Privatpraxis  mitnehmen 
und  dort  mit  der  Kra.nkenbehandlung  bekannt  machen. 

Ein  regelmässiger  systematischer  klinischer  Unterricht  wurde  in 
Würzburg  erst  1769  eingeführt.  Auch  in  Strassburg  kamen  seit  1738 
zuweilen  klinische  Demonstrationen  vor;  zu  den  Besuchern  derselben 
gehörte  bekanntlich  auch  Goethe,  als  er  1770  dort  studierte.5  Aber 
ein  Recht  auf  die  Benutzung  des  Lehrmaterials  im  dortigen  Bürger- 
spital wurde  der  Strassburger  Klinik  erst  viel  später  eingeräumt.6 

Göttingen  wurde  1764  durch  R.  A.  Vogel  mit  einem  Collegium 
clinicum  ausgestattet,  an  dessen  Stelle  im  J.  1781  eine  stationäre  Klinik 
trat.  In  Halle  begann  Johann  Juncker  klinische  Übungen  abzuhalten; 
doch  wurde  eine  zum  Universitäts-Unterricht  gehörige  stationäre  Klinik 


1  J.  F.  C.  Hecker:  Geschichte  der  neueren  Heilkunde,  Berlin  1839,  S.  506. 

2  M.  Stoll:   Über  die  Einrichtung   der   öffentlichen  Krankenhäuser,   Wien 
1788,  S.  28. 

3  Sebald:  Geschichte  der  medicinisch-praktischen  Schule  zu  Prag,  Prag  1796. 

4  J.  N.  Thomann:   Annales  instituti  medico  -  clinici  Wirceb.,  Vol.  I,  p.  24, 
Würzburg  1799. 

5  Aus  meinem  Leben  in  Goethe's  Werken,  Leipzig  1870,  IV,  167. 

6  F.  Wieger  a.  a.  0.  S.  113  u.  ff. 


346  Der  medioinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


dort  erst  1810  errichtet.1  Erlangen  erhielt  1779,  Altdorf  1786,  Kiel  1788, 
Jena  1791,  Tübingen  1793,  Leipzig  1798  eine  Klinik.2 

An  den  meisten  übrigen  Universitäten  beschränkte  man  sich  auf 
poliklinische  Anstalten  oder  suchte  die  Studierenden  zum  Besuch  der 
Spitäler  anzuregen,  damit  sie  Gelegenheit  hatten,  Kranke  zu  beobachten. 
Auch  in  andern  Ländern  musste  man  sich  mit  dieser  Lehrmethode  be- 
gnügen, wenn  ein  eigentlicher,  mit  Vorträgen  am  Krankenbett  ver- 
bundener klinischer  Unterricht  fehlte. 

Eine  wohlthätige  Ergänzung  erfuhr  die  praktische  Ausbildung  in 
der  Heilkunst  durch  die  sehr  verbreitete  Sitte,  dass  ältere  Studierende 
oder  junge  Ärzte  längere  Zeit  als  Praktikanten  in  einem  Krankenhause 
wirkten  und  dort  von  den  leitenden  Ärzten  mit  den  Anforderungen 
der  Praxis  vertraut  gemacht  wurden.  In  Frankreich  und  England,  wo 
diese  Einrichtung  noch  heut  besteht,  nahmen  viele  Hospital-Ärzte  Schüler 
an,  welche  für  die  praktische  Unterweisung,  die  ihnen  zu  Theil  wurde, 
ein  bestimmtes  Lehrgeld  entrichteten.  Wie  J.  Hunczovsky  berichtet, 
bot  sich  dazu  die  Gelegenheit  im  St.  Bartholomews-Hospital  in  London, 
im  Matrosen-Spital  zu  Portsmouth,  sowie  im  Hotel  Dieu  in  Paris  und 
zu  Eouen.3 

In  Italien  scheinen  ähnliche  Verhältnisse  bestanden  zu  haben. 
Lancisi  trat,  nachdem  er  die  medicinischen  Studien  absolvirt  hatte,  in 
das  Hospital  S.  Spirito  in  Rom  ein,  um  sich  durch  mehrere  Jahre  für 
die  ärztliche  Praxis  vorzubereiten.4  Er  empfahl  den  Studierenden  der 
Heilkunde,  viele  Kranke  zu  beobachten  und  Hospitäler  zu  besuchen, 
und  rieth  ihnen,  mehrere  Jahre  auf  dieses  Studium  zu  verwenden.5 

Auch  im  Dreifaltigkeitsspitale  in  Wien  fanden  stets  eine  Anzahl 
von  Studierenden  der  Heilkunde  als  Praktikanten  Aufnahme.6  Im 
städtischen  Krankenhause  zu  Bremen  gaben  die  dort  angestellten  Ärzte 
den  Studierenden,  welche  sich  an  den  Visiten  betheiligten,  ebenfalls 
klinischen  Unterricht. 7 

Es    unterliegt   keinem    Zweifel,    dass    derartige   Einrichtungen   an 


1  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  2,  S.  221. 

2  G.  W.  A.  Fikentscher:   Geschichte   der  Universität  Erlangen,   Nürnberg 
1806,  II,  104. 

3  J.  Hunczovsky  :  Medicinisch-chirurgische  Beobachtungen  auf  Reisen  durch 
England  und  Frankreich,  Wien  1783,  S.  7.  62.  84.  162. 

4  Eus.   Sguarius:    Vita    Lancisi    in    der    Vorrede    zu    Lancisii    opera    vera, 
Venet.  1739. 

5  Lancisi:  De  recta  medicorum  studiorum  ratione  instituenda,  Romae  1715. 

6  Nachrichten  von  dem  Kranken-Spital  zur  allerheil.  Dreifaltigkeit,  Wien  1742. 

7  Kulenkampff:  Die  Krankenanstalten  der  Stadt  Bremen,   ihre  Geschichte 
und  ihr  jetziger  Zustand,  Bremen  1884. 


Der  Unterricht  in  der  Chirurgie,  Augenheilkunde  u.  Geburtshilfe.       347 

vielen  Krankenhäusern  bestanden.  Die  Archive  mancher  Anstalten 
dürften  darüber  wichtige  Aufschlüsse  enthalten;  eine  dankenswerthe 
Aufgabe  wäre  es,  das  in  dieser  Beziehung,  namentlich  für  Deutschland, 
noch  sehr  unvollständige  Material  herbeizuschaffen  und  zu  vervollstän- 
digen. Aber  die  angeführten  Thatsachen  werden  genügen,  um  zu  be- 
weisen, dass  die  in  den  medicinischen  Geschichtswerken  bis  zum  Über- 
druss  wiederholte  Ansicht,  dass  vor  der  Gründung  klinischer  Lehranstalten 
die  jungen  Ärzte  ihre  fachmännischen  Kenntnisse  lediglich  aus  Büchern 
und  durch  theoretische  Vorlesungen  erlangt  hätten,  in  dieser  Allgemein- 
heit jedenfalls  unrichtig  ist. 

Zu  diesem  Irrthume  dürfte  der  Umstand  beigetragen  haben,  dass 
der  praktische  Unterricht  am  Krankenbett  im  Allgemeinen  ausserhalb 
des  Studienplanes  der  Universitäten  lag  und  häufig  erst  nach  der  Be- 
endigung der  Studien  und  der  Doktor -Promotion  aufgesucht  wurde. 
Auch  mag  es  wohl  bisweilen  vorgekommen  sein,  dass  junge  Doktoren 
der  Medicin  im  Hochgefühl  ihrer  neuen  Würde  gewissenlos  und  ver- 
messen genug  waren,  die  Praxis  zu  beginnen,  bevor  sie  sich  die  dazu 
erforderliche  praktische  Befähigung  erworben  hatten;  aber  die  Meisten 
erkannten  die  Notwendigkeit  der  praktischen  Ausbildung  und  besuchten 
die  Hospitäler  zu  diesem  Zweck,  wie  aus  zahlreichen  Lebensbeschrei- 
bungen und  Schriften  hervorragender  Ärzte  jener  Zeit  deutlich  hervorgeht. 


Der  Unterricht  in  der  Chirurgie,  Augenheilkunde 

und  Geburtshilfe. 

Nur  ein  spärlicher  Raum  wurde  der  Chirurgie  in  dem  Lehrplane 
der  Universitäten  zugemessen.  Man  gab  den  Studierenden  der  Medicin 
eine  allgemeine  Übersicht  dieser  Disciplin  und  zeigte  ihnen  an  der 
Leiche  die  wichtigsten  Operationen. 

Haller,  welcher  neben  seinen  übrigen  Obliegenheiten  auch  eine 
Zeitlang  die  Lehrkanzel  der  Chirurgie  in  Göttingen  versah,  konnte  sich, 
wie  er  erzählt,  niemals  entschliessen,  an  einem  lebenden  Menschen  zu 
operiren,  obgleich  er  sich  an  Leichen  sehr  geübt  hatte.  Da  die  Ärzte 
damals  nicht  die  Aufgabe  hatten,  chirurgische  Operationen  auszuführen, 
so  konnte  dieser  theoretische  Unterricht  vielleicht  genügen,  um  ihnen 
ein  Yerständniss  der  Bedeutung  der  Chirurgie  für  die  innere  Medicin 
zu  verschaffen;  aber  er  war  in  keiner  Weise  ausreichend,  um  ihnen  ein 
Urtheil  über  chirurgische  Fragen  zu  gestatten.    Wenn  man  den  Ärzten 


348  Der  medicinisehe   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

das  Kecht  einräumte,  die  Chirurgen  in  ihrer  Thätigkeit  zu  beaufsich- 
tigen und  zu  belehren,  und  den  letzteren  die  Pflicht  auferlegte,  jene 
wegen  der  Notwendigkeit  und  der  Art  der  chirurgischen  Eingriffe  zu 
Kath  zu  ziehen,  so  musste  dies  zu  Streitigkeiten  führen.  Der  Arzt 
wurde  dadurch  der  Gefahr  ausgesetzt,  sich  durch  Unwissenheit  blos  zu 
stellen,  und  der  Chirurg'  sah  mit  Kecht  in  der  Zumuthung,  sich  einem 
Manne  unterzuordnen,  der  wenig  oder  gar  nichts  von  der  Sache  ver- 
stand, eine  unverdiente  Kränkung. 

F.  Hoeemann  gab  den  Ärzten  im  „Politischen  Medicus"  den  ver- 
nünftigen Kath,  „sie  möchten  sich  mit  den  Chirurgen  gut  stellen,  sie 
in  Gegenwart  der  Kranken  nicht  scharf  anfahren,  sondern  modeste 
ermahnen,  auch  nicht  mit  ihnen  disputiren,  namentlich  nicht  über 
chirurgische  Dinge,  weil  die  Chirurgen  ihnen  darin  an  Erfahrung  über- 
legen seien."  Aber  bei  den  meisten  Doktoren,  besonders  denen,  welchen 
die  Erfahrung  mangelte,  war  der  Hochmuth  grösser  als  die  Klugheit, 
und  sie  sahen  mit  dünkelhafter  Verachtung  auf  die  Chirurgen  und  die 
Chirurgie  herab.  Der  Verfasser  des  Buches:  „Des  getreuen  Eckharts 
unwürdiger  Doctor  (Augsburg  und  Leipzig  1698)"  schildert  diese  Ver- 
hältnisse (S.  428  u.  ff.)  und  erklärt  dabei  voll  Ärger:  „Es  ist  wohl  ein 
stoltzes  Thier  umb  einen  jungen  Doctor,  be voraus  wann  das  Gehirn 
mit  allerhand  Vanitäten  und  Phantastereien  angefüllt  ist  und  sich  gar 
auf  keine  Art  will  ändern  noch  regieren  lassen.  Er  meinet,  Jedermann 
müsse  ihm  weichen  und  ihm  an  der  Stirne  ansehen,  dass  er  ein 
Doctor  sei." 

Allerdings  hatte  die  gedrückte  sociale  Stellung  der  Wundärzte 
zum  grossen  Theile  darin  ihren  Grund,  dass  ihre  Allgemeinbildung 
sehr  gering  war,  und  die  Trennung  zwischen  ihnen  und  den  Badern 
und  Barbierern  nicht  streng  durchgeführt  wurde.  In  Paris  kam 
i.  J.  1655  sogar  ihre  officielle  Vereinigung  mit  denselben  zu  Stande; 
doch  dauerte  sie  glücklicher  Weise  nur  bis  1699. 

Das  College  de  St.  Cöme  verlor  unter  diesen  Verhältnissen  an 
Bedeutung  und  Ansehen.  Bessere  Zustände  traten  erst  wieder  ein,  als 
es  i.  J.  1724  den  Bemühungen  der  königlichen  Leibchirurgen  Mak£- 
schal  und  La  Peyronie,  welche  am  Hofe  grossen  Einfluss  besassen, 
gelang,  die  Anstellung  von  fünf  Lehrern  für  Anatomie,  theoretische 
und  praktische  Chirurgie,  Operationskunst  und  Geburtshilfe  durchzusetzen. 

Noch  mehr  trug  zur  Hebung  des  Chirurgenstandes  die  Gründung 
der  Academie  de  Chirurgie  zu  Paris  bei,  welche  1743  die  königliche 
Bestätigung  erhielt.  Sie  bildete  fortan  den  Mittelpunkt  aller  bedeu- 
tenden Vertreter  der  Chirurgie,  und  zwar  nicht  blos  in  Frankreich, 
sondern  zählte  auch  viele  hervorragende  Wundärzte  des  Auslandes  zu 


Der  Unterricht  in  der  Chirurgie,  Augenheilkunde  u.  Geburtshilfe.      349 

ihren  Mitgliedern.  Durch  Preisaufgaben  über  chirurgische  Fragen, 
welche  alljährlich  gestellt  wurden,  durch  materielle  Unterstützungen, 
die  den  Forschern  zu  Theil  wurden,  und  durch  die  Herausgabe  ihrer 
Memoiren,  in  denen  werthvolle  Beobachtungen  und  Erfahrungen  ver- 
öffentlicht wurden,  förderte  sie  die  Entwickelung  der  Chirurgie  und 
befestigte  die  wissenschaftlichen  Grundlagen  derselben.  Sie  wurde  der 
medicinischen  Facultät  im  Range  gleichgestellt,  von  ihr  unabhängig 
gemacht  und  erhielt  das  Recht,  den  akademischen  Grad  eines  Magisters 
der  Chirurgie  zu  verleihen;  doch  wurde  bestimmt,  dass  Niemand  den- 
selben erlangen  solle,  der  nicht  die  Würde  eines  Magisters  der  Philo- 
sophie besitze.  Auch  trat  die  Academie  de  Chirurgie  zum  College  de 
St.  Come  in  Beziehungen,  indem  mehrere  hervorragende  Mitglieder  der 
ersteren  als  Lehrer  am  letzteren  wirkten. 

Im  J.  1750  wurde  angeordnet,  dass  der  Lehrcursus  für  die  Chi- 
rurgen, welche  im  College  de  St.  Come  studierten,  drei  Jahre  dauere; 
auch  wurden  praktische  Übungen  in  der  Anatomie  und  Operationskunst 
eingeführt.1  Die  medicinische  Facultät  verlor  ihren  Einüuss  auf  die 
Erziehung  der  Chirurgen  nahezu  vollständig  und  war  nur  noch  bei 
ihrer  Promotion  zum  Magisterium  vertreten.  Sie  bekämpfte  zwar  die 
Emancipation  des  Chirurgenstandes  mit  allen  Mitteln,  suchte  durch 
historische  Auseinandersetzungen  und  durch  Gutachten  der  medicinischen 
Facultäten  zu  Göttingen  und  Halle  den  Beweis  zu  führen,  dass  die 
Unterordnung  desselben  unter  die  Ärzte  sowohl  zu  allen  Zeiten  bestanden 
habe,  als  nothwendig  und  in  der  Natur  der  Sache  begründet  sei,  und 
verstieg  sich  sogar  zu  der  absurden  Behauptung,  dass  der  Besitz  einer 
grösseren  Allgemeinbildung  den  Wundärzten  Schaden  bringe;  aber  Alles 
war  vergeblich.  Die  Chirurgen  behaupteten  die  Selbstständigkeit,  um 
welche  sie  Jahrhunderte  hindurch  gerungen  hatten,  und  ihre  Leistungen 
zeigten,  dass  sie  derselben  würdig  waren. 

An  der  chirurgischen  Hochschule  zu  Paris  empfing  nur  die  Elite 
der  Wundärzte  ihre  fachwissenschaftliche  Ausbildung;  die  meisten 
lernten  die  Chirurgie  gleich  einem  Handwerk  bei  einem  Meister  und 
erwarben  sich  als  Gesellen  und  chirurgische  Praktikanten  in  den 
Krankenhäusern  die  erforderliche  Übung  und  Gewandtheit.  Es  wurde 
bestimmt,  dass  kein  Meister  mehr  als  einen  Lehrling  halte,  damit  er 
sich  mit  dem  Unterricht  desselben  genügend  beschäftigen  konnte.  In 
Städten,  in  denen  mehrere  Chirurgen  ihre  Thätigkeit  ausübten,  bildeten 
sie  Vereinigungen,   versahen  abwechselnd  den  Dienst  in  den  Spitälern 


1  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  2,  S.  331,  Anm.,  ou  les  eleves  feront  eux-memes  les 
dissections  et  les  Operations  qui  leur  auront  ete  enseignees. 


350  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


und  unterstützten  den  Unterricht  ihrer  Schüler  durch  Vorträge  und 
praktische  Demonstrationen  aus  der  Anatomie  und  Chirurgie.  Im 
Beginn  des  Jahres  schickte  jede  chirurgische  Zunft  ein  Verzeichniss 
sämmtlicher  Meister  derselben  an  den  königlichen  Leibchirurgen,  welcher 
an  der  Spitze  aller  Wundärzte  Frankreichs  stand.1 

In  England  und  Holland  lag  das  höhere  chirurgische  Unterrichts- 
wesen vollständig  in  den  Händen  der  Chirurgen -Gilden,  welche  dort 
schon  sehr  früh  als  geschlossene  Corporationen  mit  bestimmten  Rechten 
auftraten.  Eine  Einrichtung  von  kurzer  Dauer  war  es,  als  Cromwell 
i.  J.  1656  das  College  of  Physicians  in  Edinburg  ermächtigte,  die  Chi- 
rurgie auszuüben,  weil  die  letztere  ja  eigentlich  ein  Theil  der  Medicin  sei.2 

Die  Chirurgen -Genossenschaften  zu  London,  Edinburg,  Dublin, 
Amsterdam,  im  Haag  u.  a.  0.  richteten  Unterrichtscurse  für  die  Stu- 
dierenden der  Chirurgie  ein  und  sorgten  dafür,  dass  sie  sich  in  der 
Anatomie  und  Chirurgie  praktisch  ausbilden  konnten.  John  Kay  wurde 
schon  unter  Heinrich  VIII.  nach  London  berufen,  um  die  Chirurgen 
in  der  Ausführung  von  Sektionen  zu  unterrichten.3  Welche  Sorgfalt 
die  holländischen  Wundärzte  den  anatomischen  Zergliederungen  wid- 
meten, zeigen  die  schon  erwähnten  Bilder  der  niederländischen  Maler. 
In  der  Privatpraxis  ihres  Lehrers  und  im  Spitaldienste  erhielten  die 
Schüler  Gelegenheit,  Kranke  zu  beobachten  und  chirurgische  Operationen 
zu  sehen. 

Die  deutschen  Chirurgen  befanden  sich  im  Allgemeinen  auf  dem 
Standpunkte  des  Barbierers;  nur  Wenige  ragten  darüber  hervor  und 
waren  einer  wissenschaftlichen  Betrachtung  der  Wundarzneikunst  fähig. 
Wer  diesen  Lebensberuf  ergriff,4  lernte  zunächst  bei  einem  Meister  die 
Kunst,  zu  rasiren  und  Haare  zu  schneiden,  Pflaster  zu  streichen,  zu 
schröpfen  und  zur  Ader  zu  lassen.  Später  wurde  ihm  gezeigt,  wie 
Wunden  und  Geschwüre  behandelt,  Verrenkungen  eingerichtet  und 
Knochenbrüche  geheilt  werden.  An  grössere  chirurgische  Operationen 
wagten  sich  nur  solche  Chirurgen,  welche  in  der  Schule  der  Erfahrung 
gereift  waren,  oder  Specialisten,  die  sich  auf  einem  streng  umgrenzten 
Gebiete  eine  hervorragende  Geschicklichkeit  erworben  hatten. 

Dem  Stadtwundarzt  in  Zürich  wurde  i.  J.  1716  befohlen,  junge 
Chirurgen  zu  den  Operationen,  welche  er  unternahm,  beizuziehen,  „damit 
sie  den  Anlass  haben  mögen,  in  solchen  Kuren  mehrere  Wissenschaft 


1  G.  Fischer:  Chirurgie  vor  hundert  Jahren,  Leipzig  1876,  S.  254  u.  ff. 

2  Historical  sketsch   of  the  R.  College   of  Physicians  of  Edinburgh,   Edin- 
burgh 1882. 

8  A.  Corradi  a.  a.  0.  ser.  II,  vol.  VI,  p.  638. 

4  0.  Büchner:  Aus  Giessens  Vergangenheit,  Giessen  1885,  S.  27. 


Der  Unterricht  in  der  Chirurgie,  Augenheilkunde  n.  Geburtshilfe.      351 

zu  erlangen." 1  In  Würzburg  wurde  der  Oberchirurg  am  Julius-Hospital 
i.  J.  1725  beauftragt,  Unterricht  in  seiner  Kunst  am  Krankenbett  zu 
ertheilen. 

In  der  Schrift:  „Des  getreuen  Eckharts  verwegener  Chirurgus 
(Augsburg  1698)"  wurde  den  Studierenden  der  Chirurgie  empfohlen, 
tüchtig  Anatomie  zu  treiben,  und  zwar,  falls  es  an  menschlichen  Leichen 
fehle,  an  thierischen  Cadavern;  denn  wenn  sich  gelehrte  Doktoren  nicht 
scheuen,  daran  zu  studieren,  so  „würde  es  einem  naseweisen  Barbier- 
oder Badergesellen  an  seiner  Ehre  auch  nicht  schaden."  Ferner  wurde 
ihnen  der  Bath  ertheilt,  nach  der  Lehrzeit  Hospitäler  zu  besuchen  und 
den  Operationen  beizuwohnen,  welche  berühmte  Chirurgen  vornahmen. 
Auf  ihre  gesellschaftliche  Bildung  werfen  die  übrigen  Ermahnungen, 
die  ihnen  ertheilt  werden,  ein  bezeichnendes  Licht.  So  heisst  es:  „Er 
soll  nicht  auf  den  Bierbänken  von  seinen  Kuren  plaudern,  den  Kranken 
nicht  wie  die  Sau  den  Bettelsack  anfahren  und  mit  ihm  tyrannisch  und 
nach  seiner  Wuth  umspringen.  Er  soll  nicht  12  Thaler  fordern,  wo 
er  nur  2  Thaler  verdient.  Nicht  blindlings  darf  er  darauf  losschneiden; 
denn  es  ist  Menschenfleisch  und  kein  abgeschlachtetes  Bindfleisch  oder 
Schweinefleisch;  die  Haut  wird  gar  theuer  angeschrieben.  Auch  soll 
er  in  gefährlichen  Umständen  die  Medicos  und  andere  Mit-Meister  zu 
Bath  ziehen."2  Auch  M.  G.  Purmann  klagte  darüber,  dass  die  Chi- 
rurgen, um  sich  gegenseitig  ihre  Patienten  abzuschwatzen,  „Bänke  und 
falsche  Tücke  mit  der  Scheererei"  verübten.3 

Auf  eine  höhere  Stufe  gelangten  die  Chirurgen  in  Deutschland, 
als  man  anfing,  Lehranstalten  zu  ihrer  Ausbildung  zu  errichten.  Sie 
waren  zunächst  dazu  bestimmt,  das  für  das  Militär  erforderliche  Heil- 
personal heranzubilden;  aber  das  Bedürfniss  nach  Ärzten  führte  bald 
dazu,  dass  auch  Zöglinge  aus  dem  Civilstande  aufgenommen  wurden. 

Im  J.  1716  wurde  eine  derartige  Anstalt  in  Hannover  gestiftet. 
Berlin  erhielt  1713  ein  Theairum  anatomicum,  welches  den  Anfang  der 
für  den  Unterricht  von  Militärärzten  und  Medico-Chirurgen  bestimmten 
Lehranstalt  bildete,  die  1724  eröffnet  wurde  und  mit  dem  Charite- 
Krankenhause,  dessen  Gründung  wenige  Jahre  später  erfolgte,  in  Ver- 
bindung trat.  Den  Unterricht  ertheilten  6  Professoren  und  ein  De- 
monstrator  der  chirurgischen  Operationen;  er  umfasste  nicht  blos 
Anatomie  und  Chirurgie,  sondern  auch  Pathologie,  Arzneimittellehre, 
Botanik,   Chemie   und  sogar  Mathematik.     „Nach    dem  Beispiele    von 


1  Meier- Ahrens  :  Geschichte  des  Zürcherischen  Medicinalwesens,  Basel  1840. 

2  G.  Fischer  a.  a.  0.  S.  33  u.  ff. 

3  G.  Purmann:  Lorbeerkranz  oder  Wimdartzney,  Frankfurt  u.  Leipzig  1722. 


352  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Paris,  London  und  Amsterdam  sollte  in  der  Charite  allen  Medicis  und 
Chirurgis  hinlänglich  Gelegenheit  gegeben  werden,  sowohl  die  inner- 
lichen als  die  äusserlichen  Kuren  zu  sehen  und  zu  begreifen."1 

In  Dresden  wurde  1748  eine  militärärztliche  Schule  errichtet.  Die 
Schüler  dieser  Anstalten  waren  befähigte  Barbierer,  welche  bereits  län- 
gere Zeit  als  Chirurgen  beim  Heere  Dienste  geleistet  hatten  oder  in 
Spitälern  und  in  der  Privatpraxis  thätig  gewesen  waren,  also  keineswegs 
Anfänger,  sondern  Leute,  welche  bereits  eine  Summe  von  Erfahrungen 
in  der  Heilkunst  besassen.  Sie  sollten  in  der  chirurgischen  Schule  eine 
wissenschaftliche  Fachbildung  erhalten,  damit  sie  später  hervorragende 
Stellungen  als  Operateure  und  Lehrer  der  Chirurgie  einnehmen  konnten. 

Auch  die  militärärztliche  Lehranstalt  in  Wien,  welche  1781  er- 
öffnet wurde,  hatte  Anfangs  diese  Einrichtung.  Diese  später  nach  ihrem 
Stifter,  dem  Kaiser  Josef,  genannte  Schule  erhielt  1785  ein  neues  Lehr- 
gebäude, welches  mit  einem  Kostenaufwande  von  einer  Million  Gulden 
hergestellt  wurde;  es  befanden  sich  darin  die  Hörsäle,  die  Bibliothek, 
die  wissenschaftlichen  Sammlungen  und  die  Wohnungen  der  Lehrer. 
Mit  dieser  Schule  wurde  das  Militärspital  verbunden,  welches  Kaum 
für  1200  Personen  bot  und  auch  zwei  Krankensäle  für  schwangere 
Soldatenweiber,  also  eine  kleine  geburtshilfliche  Abtheilung  enthielt.2 
Ferner  wurde  in  der  Nähe  der  Anstalt  ein  botanischer  Garten  angelegt 
und  ein  kleines  chemisches  Laboratorium  eingerichtet. 

Der  Unterrichtscursus  dauerte  zwei  Jahre;  zu  demselben  wurden 
30  der  geschicktesten  Feldärzte  commandirt,  welche  nach  der  Beendi- 
gung dieser  Studien  zu  Regimentschirurgen  befördert  wurden.  Daneben 
wurde  die  Anstalt  von  Studierenden  besucht,  welche  sich  für  den  chirur- 
gischen Beruf  erst  vorbereiteten. 

Den  Lehrkörper  bildeten  Anfangs  5  Professoren,  von  denen  einer 
die  Anatomie  und  Physiologie  nebst  den  zum  Verständniss  derselben 
erforderlichen  Elementen  der  Mathematik  und  Physik,  der  zweite  die 
allgemeine  Pathologie  und  Therapie  nebst  der  Hygiene  lehren,  der 
dritte  die  Instrumenten-  und  Bandagenlehre  vortragen,  die  chirurgische 
Klinik  und  die  Operations  Übungen  leiten  und  Geburtshilfe  und  gericht- 
liche Medicin  vertreten,  der  vierte  Vorlesungen  über  innere  Medicin 
halten  und  die  Klinik  der  inneren  Krankheiten  leiten,  und  der  fünfte 
Botanik,  Chemie  und  Arzneimittellehre  vortragen  und  den  botanischen 
Garten  beaufsichtigen  sollte;  ausserdem  wurde  ein  Prosector  angestellt, 


1  A.    Guttstadt:    Die    naturwissenschaftlichen    und   medicinischen    Staats- 
anstalten Berlins,  Berlin  1886,  S.  344. 

2  deLuca  :  Wiens  gegenwärtiger  Zustand  unter  Josephs  Regierung,  Wien  1787. 


Der  Unterricht  in  der  Chirurgie,  Augenheilkunde  u.  Geburtshilfe.      353 

welcher  die  für  den  Unterricht  erforderlichen  anatomischen  Präparate 
anfertigen  und  die  Sektionen  der  Kranken,  welche  im  Militärspital 
starben,  vornehmen  musste. l  Zur  Richtschnur  beim  Unterricht  sollten 
die  Worte  des  Kaisers  dienen:  „Meine  Absicht  geht  keineswegs  dahin, 
da ss  den  Chirurgen,  die  hier  formirt  werden  sollen,  nur  die  Oberfläche 
von  einer  jeden  der  angegebenen  Wissenschaften  beigebracht  und  sie 
blos  mit  der  Kenntniss  der  Kunstwörter  und  einer  übereilten  und 
seichten  Lehre  von  hier  abgefertigt  werden.  Ich  will  vielmehr,  dass 
sie  ihre  Kenntnisse  gründlich  fassen  und  mit  solchen  versehen  zu  den 
Regimentern  zurückkehren." 2 

Mit  der  Anstalt  wurde  eine  Akademie  verbunden,  welche  nach  dem 
Muster  der  Academie  de  Chirurgie  in  Paris  organisirt  war,  Preisauf- 
gaben für  die  Lösung  chirurgischer  Fragen  ausschrieb  und  die  Arbeiten 
zur  Veröffentlichung  brachte.3  Sie  erhielt  die  Rechte  und  Ehren  einer 
Universität  und  durfte  die  Grade  eines  Magisters  und  Doktors  der  Chi- 
rurgie verleihen.  Die  gebildeten  Chirurgen  wurden  dadurch  den  Ver- 
tretern der  inneren  Medicin  in  der  socialen  Rangordnung  gleichgestellt. 

Vernünftige,  vorurteilslose  Ärzte  begrüssten  diese  Einrichtungen 
mit  Begeisterung  als  den  ersten  Schritt  zu  der  ersehnten  Wiederver- 
einigung der  Chirurgie  mit  der  internen  Medicin.  Prof.  Aug.  Richtee 
in  Göttingen  gab  den  Erwartungen,  die  man  daran  knüpfte,  in  den 
Worten  Ausdruck:  „Ganz  Deutschland  nimmt  gewiss  Antheil  an  der 
Ehre  dieser  Akademie,  an  dem  glücklichen  Fortgange  ihrer  Bemühungen, 
an  der  Wahl  ihrer  Mitglieder;  denn  diese  sind  es,  von  denen  nun  die 
Chirurgie  Deutschlands  Leitung,  Richtung  und  Aufklärung  erwarten 
wird;  nach  dem  glücklichen  oder  unglücklichen  Erfolge  ihrer  Bemühun- 
gen wird  der  Ausländer  in  der  Folge  den  Werth  oder  Unwerth  der 
ganzen  deutschen  Chirurgie  beurtheilen;  unter  ihnen  wird  man  immer 
die  angesehensten  Wundärzte  Deutschlands,  in  ihren  Akten  wird  man 
jedes  wichtige  deutsche  chirurgische  Produkt  suchen."4  Diese  Hoff- 
nungen erfüllten  sich  nur  in  geringem  Maasse.  Der  frühe  Tod  des 
Kaisers  Josef  IL,  an  dem  die  Akademie  einen  wohlwollenden  und  frei- 
gebigen Gönner  verlor,  die  politischen  Ereignisse  und  beständigen  Kriege, 
welche  den  Militärärzten  die  Müsse  zu  wissenschaftlichen  Arbeiten  nah- 
men und  vor  Allem    die    geringe  Entwickelung   und   unselbstständige 


1  G.  Pizzighelli:  Accademia  medico-chirurgica  Giuseppina,  Vienna  1837. 

2  Allerh.  Entschliess.  v.  3.  April  1781  im  Archiv  des  k.  k.  Kriegsministeriums. 

3  J.  A.  v.  Brambilla:   Verfassung  und  Statuten  der  Jos.   med.-chir.  Aka- 
demie, Wien  1786.  —  Th.  Püschmann  a.  a.  0.  S.  96  u.  ff. 

4  A.  Gr.  Richter:   Chirurgische  Bibliothek,  Göttingen  1788,  Bd.  IX,   St.  2, 
S.   191. 

Püschmann,   Unterricht.  23 


354  Der  medieimsohe   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Stellung  der  deutschen  Chirurgie  trugen  Schuld,  dass  die  hochgesteckten 
Ziele  nicht  erreicht  wurden. 

Nach  dem  Vorbilde  des  Wiener  Josefinums  entstanden  die  medi- 
cinisch-chirurgischen  Schulen  zu  Petersburg  (1783)  und  Kopenhagen 
(1785).  In  Spanien  wurde  1748  zu  Cadix  eine  Schule  zur  Ausbildung 
von  Marineärzten  gegründet,  welche  von  einem  Direktor  und  10  Lehrern 
geleitet  wurde.1 

Ausserdem  wurden  im  18.  Jahrhundert  eine  Menge  von  Unter- 
richtsanstalten errichtet,  in  welchen  Barbierer-  und  Badergesellen  in 
einem  zweijährigen  oder  dreijährigen  Lehrcursus  zu  Landärzten  und 
Chirurgen  herangebildet  wurden.  In  Österreich  bildeten  diese  Schulen 
theils  Abtheilungen  der  medicinischen  Facultäten  oder  Lyceen,  theils 
besondere  Anstalten,  wenn  sich  an  dem  gleichen  Ort  keine  Hochschule 
befand.  In  den  übrigen  deutschen  Ländern  entstanden  solche  Anstalten 
in  Frankfurt  a/M.,  Hamburg,  Begensburg,  Braunschweig,  Bruchsal, 
Celle,  Kassel,  Gotha,  Dillingen,  Zürich  u.  a.  0. 

Um  die  gleiche  Zeit  begann  man  auch  an  den  Universitäten  dem 
praktischen  Unterricht  in  der  Chirurgie  grössere  Beachtung  zu  schenken. 
Die  Kliniken,  welche  damals  entstanden,  beschränkten  sich  freilich  zu- 
nächst nur  auf  die  Behandlung  der  inneren  Krankheiten;  die  chirur- 
gischen Verrichtungen,  welche  dabei  vorkamen,  wurden  gewöhnlich  von 
einem  Wundarzt,  der  dem  Vorstande  der  Klinik  untergeordnet  war, 
besorgt. 

Nur  in  Holland  erhielten  die  Studierenden  der  Medicin  Gelegen- 
heit, in  den  Spitälern  den  chirurgischen  Operationen  beizuwohnen. 
J.  J.  Bau  in  Leiden  veranstaltete  chirurgische  Operationscurse  an  der 
Leiche,  für  welche  er  ein  Honorar  von  100  holländischen  Thalern  for- 
derte. Viele  deutsche  Mediciner  begaben  sich  daher,  wenn  sie  prak- 
tische Kenntnisse  in  der  Chirurgie  erwerben  wollten,  nach  Holland, 
wie  es  ihnen  Fried.  Hoffmann  in  seinem  „Politischen  Medicus"  (I,  1 ,  6) 
empfahl.  Desgleichen  wurden  auch  Frankreich  und  England  aus  diesem 
Grunde  aufgesucht. 

In  Deutschland  entstand  die  erste  chirurgische  Klinik  i.  J.  1769 
zu  Würzburg;  Carl  Caspar  Siebold  organisirte  dieselbe  sehr  zweck- 
mässig, erläuterte  die  chirurgischen  Vorlesungen  durch  die  Demonstra- 
tionen anatomischer  Präparate  und  führte  chirurgische  Operationsübungen 
an  der  Leiche  ein.2  In  Wien  wurde  1774  eine  chirurgische  Klinik 
eröffnet.     Göttingen  erhielt  ein  derartiges  Institut  i.  J.  1781;  Deutsch- 


1  Morejon  a.  a.  0.  T.  VI,  341. 

2  F.  v.  Wegele  a.  a.  0. 


Der  Unterricht  in  der  Chirurgie,  Augenheilkunde  u.  Geburtshilfe.      355 

lands  berühmtester  Lehrer  der  Chirurgie  A.  G.  Kichter  ertheilte  hier 
den  klinischen  Unterricht. 

Auch  die  Augenheilkunde  und  die  Geburtshilfe,  welche  zur  Zeit 
Boerhaave's  mit  den  übrigen  Vorlesungen,  besonders  mit  der  Chirurgie, 
vereinigt  gelehrt  wurden,  fanden  allmälig  im  Studienplan  grössere  Be- 
rücksichtigung. 

Frankreich,  England  und  Italien  brachten  einige  tüchtige  Augen- 
ärzte hervor,  denen  sich  erst  am  Schluss  des  18.  Jahrhunderts  mehrere 
Deutsche  ebenbürtig  zur  Seite  stellten.  Hervorragende  Augen-Operateure 
wurden  ähnlich,  wie  es  gegenwärtig  mit  berühmten  Tenoren  geschieht, 
aus  weiter  Ferne  berufen,  um  Vorstellungen  in  ihrer  Kunst  zu  geben. 
N.  J.  Palucci  kam  auf  Gr.  van  Swieten's  Veranlassung  nach  Wien 
und  führte  in  Gegenwart  der  Studierenden  der  Medicin  und  Chirurgie 
im  Dreifaltigkeits- Hospitale  Staaroperationen  aus.  Zu  dem  gleichen 
Zweck  kam  später  der  ältere  Wentzel  dorthin,  unter  dessen  Anleitung 
sich  Jos.  Barth  zum  Augenarzt  ausbildete. 

Die  Erfolge  des  letzteren  auf  diesem  Gebiete  bewogen  den  Kaiser 
Josef,  ihm  den  Auftrag  zu  ertheilen,  zwei  junge  Ärzte  in  der  Augen- 
heilkunde zu  unterrichten.  Es  wurde  ihm  dafür  ein  ausserordentliches 
Honorar  von  1000  Gulden  ausgesetzt,  welches  ihm  jedoch  erst  aus- 
gezahlt werden  durfte,  nachdem  Jene  durch  sechs  glückliche  Cataract- 
Operationen  den  Beweis  ihrer  Befähigung  geliefert  hatten.  Seine  ersten 
Schüler  waren  sein  Prosector  Ehrenritter,  der  sehr  früh  starb,  und 
Adam  Schmidt,  denen  sich  später  noch  G.  J.  Beer  zugesellte,  welcher 
zuerst  von  Barth  als  Zeichner  beschäftigt  wurde.  Sie  wurden  die 
Begründer  der  Wiener  ophthalmologischen  Schule,  welcher  die  Welt 
eine  Reihe  tüchtiger  Augenärzte  verdankt. 

Gleichzeitig  begann  man  auch  in  Göttingen,  Jena,  Leipzig  u.  a.  0. 
die  Augenheilkunde  in  den  Bereich  des  klinischen  Unterrichts  zu  ziehen. 

Die  Geburtshilfe  wurde  noch  im  17.  Jahrhundert  nahezu  aus- 
schliesslich von  Hebammen  ausgeübt.  Sie  erwarben  ihre  Kenntnisse  in 
diesem  Fach  durch  die  persönliche  Unterweisung  einer  älteren  erfahrenen 
Kunstgenossin  und  wurden  darin  von  angesehenen  Frauen  oder  von  den 
Ärzten  der  Stadt,  in  welcher  sie  sich  niederlassen  wollten,  geprüft.  In 
Leipzig  leitete  die  Gemahlin  des  Bürgermeisters  die  Examina  der 
Hebammen;  aber  an  den  meisten  Orten  unterzogen  sich  die  Ärzte  und 
Chirurgen,  besonders  diejenigen,  welche  im  Communaldienste  angestellt 
waren,  dieser  Aufgabe. 

In  Folge  dessen  begannen  die  letzteren  auch,  den  Hebammen 
Unterricht  zu  ertheilen.  Dies  war  freilich  sehr  nothwendig;  denn 
Gervais  de  la  Touche   berichtet,    dass   durch  die  Unwissenheit  der 

23* 


356  Der  medicinisclie   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Hebammen  alljährlich  eine  Anzahl  von  Frauen  und  Kindern  bei  der 
Geburt  zu  Grunde  gingen;  und  Fabry  von  Hilden  erzählt,  dass  die 
Hebammen  vom  Bau  der  weiblichen  Geschlechtsorgane  und  von  den 
Obliegenheiten  der  Hebamme  keine  Ahnung  hatten.1  Einzelne  hoch- 
begabte Frauen,  wie  Louise  Bourgeois,  welche  die  Maria  von  Medicis, 
Gemahlin  des  Königs  Heinrich  IV.,  entband  und  die  Geburtshilfe  auch 
literarisch  förderte,  machten  davon  eine  Ausnahme. 

In  Paris  erhielten  die  Hebammen  eine  s}^stematische  Ausbildung. 
Im  Hotel  Dieu  befand  sich  eine  Entbindungsanstalt,  in  welcher  die 
Hebammen-Schülerinnen  von  der  Ober-Hebamme  unterrichtet  wurden; 
in  dieser  Stellung  wirkte  lange  Zeit  die  bekannte  Marguerite  de  la 
Marche,  deren  Lehrbuch  für  Hebammen  zu  den  besten  literarischen 
Produkten  jener  Zeit  gehört.  Der  Lehrcursus  währte  drei  Monate; 
während  der  zweiten  Hälfte  desselben  mussten  die  Schülerinnen  alle 
Dienste,  die  bei  Geburten  erforderlich  sind,  selbst  verrichten.  Nur  in 
ausserordentlichen  Fällen  wurde  der  Chirurg  der  Abtheilung,  welcher 
zugleich  Geburtshelfer  war,  zu  Eath  gezogen. 

Im  Allgemeinen  weigerten  sich  die  schwangeren  Frauen,  männ- 
liche Hilfe  anzunehmen.  Eine  Stütze  gewann  diese  übel  angebrachte 
Schamhaftigkeit  in  der  Unwissenheit  der  meisten  Ärzte  und  Chirurgen, 
welche  keine  Gelegenheit  gehabt  hatten,  Erfahrungen  in  der  Geburts- 
hilfe zu  erwerben.  Diese  Verhältnisse  änderten  sich  erst,  als  man  die 
übertriebene  Prüderie  aufgab2  und  männliche  Hilfe  bei  den  Geburten 
in  Anspruch  nahm.  Die  Herzoginnen  de  la  Valliere  und  de  Mon- 
tespan  und  andere  Damen  des  französischen  Hofes  machten  damit  den 
Anfang;  „ihr  Beispiel  fand  bald  Nachahmung,  wie  P.  Dionis  schreibt, 
und  sogar  die  Frauen  aus  dem  Volke  erklärten,  dass  sie  die  männlichen 
Geburtshelfer  den  Hebammen  vorziehen  würden,  wenn  sie  nicht  durch 
die  hohen  Honorarforderungen  derselben  abgehalten  würden".3 

Im  J.  1720  wurde  im  Hotel  Dieu  zu  Paris  eine  Lehranstalt  für 
Geburtshelfer  errichtet.  Im  J.  1743  wurden  auch  an  der  chirurgischen 
Schule  gynaekologische  Unterrichts-Curse  eröffnet,  und  1754  fühlte  sich 
sogar  die  medicinische  Facultät  veranlasst,  eine  Lehrkanzel  für  Geburts- 
hilfe zu  schaffen. 

Holland  besass  schon  im  17.  Jahrhundert  ein  geordnetes  Hebammen- 
wesen.    Die  Frauen,  welche  sich  diesem  Berufe  widmeten,  wurden  von 


1  C.  J.  v.  Siebold  a.  a.  0.  II,  132  u.  ff. 

2  Bei  anderen  Gelegenheiten  war  man  weit  entfernt  davon.     S.  Les  con- 
sultations  de  Mad.  de  Sevigne  ed.  p.  P.  Menieee,  Paris  1864,  p.  21  u.  ff. 

3  Siebold  a.  a.  0.  II,  189.  —  Sue  d.  Jüngere:  Versuch  einer  Geschichte  der 
Geburtshilfe,  Deutsche  Übers.,  Altenburg  1786,  S.  99. 


Der  Unterricht  in  der  Chirurgie,  Augenheilkunde  u.  Geburtshilfe.      357 


Chirurgen,  die  in  der  Geburtshilfe  geübt  und  erfahren  waren,  unter- 
richtet und  geprüft.     Zu  ihren  Lehrern  gehörten  Männer,  wie  H.  van 

liOONHUYSEN,    Fr.  KUTSCH   U.  A. 

In  England  entstanden  während  des  18.  Jahrhunderts  eine  Anzahl 
von  Entbindungsanstalten,  welche  zum  Theil  für  den  geburtshilflichen 
Unterricht  der  Hebammen  und  Studierenden  benutzt  wurden.  Das  auf 
J.  Leake's  Anregung  durch  Privatwohlthätigkeit  im  J.  1765  gegründete 
Westminster  Lying-in-Hospital  zu  London  bot  den  jungen  Ärzten  und 
Chirurgen  die  Gelegenheit,  sich  in  der  Geburtshilfe  praktisch  aus- 
zubilden. Ausserdem  nahmen  mehrere  Ärzte,  welche  Entbindungs- 
Institute  leiteten,  Schüler  auf,  die  sie  zu  Geburtshelfern  heranbildeten.1 
An  der  Universität  Edinburg  wurde  1726  eine  Professur  der  Geburts- 
hilfe gestiftet.  In  Dublin  eröffnete  das  Collegium  der  Ärzte  und  später 
auch  dasjenige  der  Wundärzte  Lehrcurse  in  diesem  Fache.  Die  im 
J.  1746  dort  errichtete  Gebär- Anstalt  erlangte  einen  grossen  Ruf. 

Deutschland  hat  im  1 7.  Jahrhundert  keinen  einzigen  Geburtshelfer 
von  Bedeutung  hervorgebracht;  dagegen  machten  sich  einzelne  Hebam- 
men allgemein  bekannt.  Die  „Chur-Brandenburgische  Hoff-Wehe-Mutter 
Justine  Siegemundin,  geb.  Dittrichin",  die  „Mutter  Grete",  welche 
der  Herzogin  Dorothea  Sibylla  zu  Brieg  gleichsam  als  „wahre  Geheim- 
räthin" zur  Seite  stand,  wie  Siebold  (a.  a.  0.  II,  207)  sagt,  und  die  Auf- 
sicht über  die  „Hofjungfern"  'führte,  und  die  Braunschweigische  Stadt- 
Hebamme  A.  Elis.  Horenburg  verschafften  ihrer  Kunst  durch  ihre 
Leistungen  verdientes  Ansehen  und  trugen  durch  ihre  Schriften  zur 
Verbreitung  und  Förderung  derselben  bei. 

Die  Geburtshelfer  wurden  selten  zu  Rath  gezogen.  Die  Auffassung, 
welche  manche  derselben  von  ihren  Aufgaben  hatten,  musste  die  Hilfe 
suchenden  Frauen  mit  Furcht  und  Schrecken  erfüllen.  Lorenz  Heister 
erzählt,  dass  sie  „in  Wendung  und  Herausziehung  sehr  schlecht  er- 
fahren waren;  wenn  sie  was  thun  sollten,  so  kamen  sie  mit  Hakens 
und  zerrissen  auf  eine  erbärmliche  und  erschreckliche  Weise  die  Kinder 
im  Mutterleibe  in  viele  Stücken,  die  sie,  wenn  sie  behörige  Wissen- 
schaft davon  gehabt  hätten,  noch  sehr  oft  mit  den  blossen  Händen 
wohl  hätten  bekommen  können  und  dadurch  verhindern,  dass  nicht  so 
oft,  wie  geschehen,  die  Gebärmutter  der  unglücklichen  Frauen  mit 
ihren  Haken  nebst  den  Kindern  zugleich  wären  zerrissen  und  ums 
Leben  gebracht  worden".2 


1  C.  G-.  Baldinger's  Medicin.  Journal,  Göttingen  1787,  St.  15. 

2  Lor.  Heister:  Medieinische,  chirurgische  und  anatomische  Wahrnehmungen, 
Rostock  1753,  Vorrede. 


358  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Der  Dr.  Deisch,  welcher  in  Augsburg  seinen  „Würgungskreis" 
hatte,  wurde  vom  Volk  der  „Kinder-  und  Weiber-Metzger"  genannt; 
„er  perforirte  und  zerstückelte  die  Kinder  ohne  Unterlass,  sie  mochten 
noch  am  Leben  sein  oder  nicht,  und  schnitt  ihnen  die  Hälse  durch. 
Hatte  er  die  Wendung  unternommen,  so  war  er  erstaunt,  wenn  das 
Kind  lebend  zur  Welt  kam".  Im  J.  1753  gebrauchte  er  unter  61  Ge- 
burten 29  Mal  scharfe  Instrumente,  wobei  10  Gebärende  zu  Grunde 
gingen.  Sein  College  Mittelhäuser,  welcher  als  Physicus  zu  Weissen- 
fels  in  Sachsen  eine  ähnliche  Thätigkeit  verübte,  betrachtete  es  als 
einen  besonderen  Erfolg,  dass  ihm  von  zehn  Frauen,  die  er  entband, 
nur  zwei  starben.1 

An  anderen  Orten  scheint  es  zuweilen  nicht  viel  besser  gewesen 
zu  sein;  Nichols  köstliche  Satyre:  The  petition  of  the  unborn  babies 
(London  1751),  in  welcher  sich  dieselben  über  die  schlechte  Behandlung 
beklagten,  die  sie  von  Seiten  der  Geburtshelfer  erfuhren,  sowie  die 
Figur  des  Dr.  Slop,  des  mit  seinen  Instrumenten  kampfbereiten  Ge- 
burtshelfers in  L.  StEßNE's  Tristram  Shandy,  waren  sicherlich  mehr 
als  blosse  Phantasien  des  Dichters. 

Es  war  begreiflich,  dass  sich  der  allgemeine  Unwille  gegen  diese 
Art  von  Geburtshilfe  erhob.  Die  Fortschritte,  welche  diese  Wissen- 
schaft im  18.  Jahrhundert  machte,  brachten  eine  richtigere  Erkenntniss 
des  Waltens  der  Natur  beim  Gebär-Akt  und  humanere  Anschauungen 
über  die  Rolle,  welche  dabei  der  Kunst  des  Geburtshelfers  zufällt,  zur 
Geltung. 

Einen  bemerkenswerthen  Antheil  an  diesem  wohlthätigen  Um- 
schwünge hatte  die  Einführung  eines  geordneten  geburtshilflichen  Unter- 
richts an  den  Universitäten  und  die  Vermehrung  der  Entbindungs- 
Anstalten.  Neben  den  theoretischen  Vorlesungen  über  Geburtshilfe, 
welche  an  den  meisten  Hochschulen  in  Verbindung  mit  den  chirur- 
gischen gehalten  wurden,  begann  man  auch  mit  der  praktischen  Unter- 
weisung der  Studierenden. 

Strassburg  ging  darin  allen  übrigen  deutschen  Universitäten  voran ; 
im  J.  1728  wurde  in  der  dortigen  Entbindungsanstalt,  welche  schon 
seit  langer  Zeit  zum  Hebammenunterricht  verwendet  wurde,  eine  Schule 
für  Geburtshelfer  eingerichtet.2  Sie  stand  unter  Fried's  Leitung  und 
wurde,  wie  Osiander  sagt,  die  Mutterschule  aller  andern  Institute 
dieser  Art  in  Deutschland.  Die  Schüler  übten  die  geburtshilflichen 
Griffe  zuerst  am  Phantom,  untersuchten  ferner  die  Schwangeren  und 
überwachten  die  Geburten.     Das  Honorar,  welches  sie  dem  Lehrer  für 


1  Siebold  a.  a.  0.  II,  420  u.  ff.  2  Wieger  a.  a.  0.  S.  100  u.  ff. 


Der  medicin.  Unterricht  am  Schluss  des  18.  Jahrh.  u.  der  ärztliche  Stand.     359 


diesen  Unterricht  zahlen  mussten,    war  ziemlich  hoch;  es  betrug  un- 
gefähr 100  Thaler. 

Aus  dieser  Schule  gingen  mehrere  der  bedeutendsten  Geburts- 
helfer des  vorigen  Jahrhunderts  hervor,  unter  ihnen  J.  Gr.  Roederek, 
welcher  1751  als  Professor  der  Geburtshilfe  und  Direktor  der  neu  er- 
richteten Entbindungsanstalt  nach  Göttingen  berufen  wurde.  Gleich- 
zeitig wurde  in  der  Berliner  Charite  eine  geburtshilfliche  Schule  er- 
öffnet. Im  J.  1 786  gab  es  im  Königreiche  Preussen  ohne  die  Provinz 
Schlesien  bereits  14  Lehrer  dieser  Disciplin.  Ebenso  entstanden  in  den 
übrigen  deutschen  Ländern  derartige  Anstalten,  in  welchen  Hebammen 
und  Studierende  in  der  Geburtshilfe  Unterricht  empfingen,  z.  B.  in 
Würzburg(l  739),  Kopenhagen  (1 760),  Kassel  (1763),  Braunschweig  (1 768), 
Karlsruhe,  Dresden  (1774),  Jena  (1781),  Marburg  (1792),  Detmold,  Mann- 
heim, Weimar,  Bern  (1782)  u.  a.  0.  In  Wien  wurde  1748  der  Hebammen- 
Unterricht  eingeführt  und  1754  an  der  Universität  eine  Lehrkanzel  der 
Geburtshilfe  gestiftet.  Eine  besondere  Klinik  dieses  Faches  wurde  1789 
eingerichtet,  nachdem  schon  seit  1774  geburtshilfliche  Lehrcurse  in 
einem  Spital  eingerichtet  worden  waren  und  Fälle  dieser  Art  auch  in 
der  chirurgischen  Klinik  Aufnahme  gefunden  hatten.  Aber  an  manchen 
Universitäten  blieb  der  Unterricht  in  der  Geburtshilfe  ebenso  wie  der 
ophthalmologische  bis  tief  hinein  ins  19.  Jahrhundert  mit  dem  chirur- 
gischen vereinigt.1 


Der  medicinische  Unterricht  am  Schluss  des  18.  Jahr- 
hunderts und  der  ärztliche  Stand. 

Die  Veränderungen,  welche  der  medicinische  Unterricht  an  den 
Hochschulen  in  der  Periode  vom  Beginn  des  17.  bis  zum  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  erfuhr,  waren  sehr  bedeutend.  An  die  Stelle  der  zwei 
oder  drei  Professoren,  deren  Lehrthätigkeit  sich  auf  einige  theoretische 
Vorlesungen  beschränkte  und  die  praktische  Ausbildung  in  der  Anatomie, 
Arzneimittellehre  und  eigentlichen  Heilkunst  nur  gelegentlich  in  Betracht 
zog,  waren,  wenigstens  an  den  grösseren  Universitäten,  Lehrer-Collegien 
getreten,  deren  Mitglieder  die  verschiedenen  Disciplinen  der  Heilkunde 
vertraten  und  anatomische  Lehranstalten,  Laboratorien  und  klinische 
Institute  zu  ihrer  Verfügung  hatten. 


1  A.  Gusserow:   Zur  Geschichte   und   Methode   des   klinischen   Unterrichts, 
Berlin  1879. 


360  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

Nach  der  Studienordnung  v.J.  1749  bestanden  an  der  medicinischen 
Facultät  zu  Würzburg  5  ordentliche  Lehrkanzeln.  Von  ihren  Inhabern 
sollte  der  erste  den  Studierenden  eine  gedrängte  Übersicht  der  Ge- 
schichte der  Medicin  geben,  die  Institutionen  (Physiologie)  auf  wissenschaft- 
lich-physikalischer Grundlage  vortragen,  die  Ursachen  und  Wirkungen 
von  Gesundheit  und  Krankheit  (allgemeine  Pathologie)  mit  Berück- 
sichtigung der  Anatomie  erörtern  und  auf  diese  Weise  den  Weg  zur 
ärztlichen  Praxis  ebnen,  der  zweite  Botanik  lehren  und  den  botanischen 
Garten  leiten,  der  dritte  Chemie  vortragen  und  in  der  zum  Julius- 
Spital  gehörigen  Apotheke  die  Zubereitung  der  Arzneien  zeigen,  der 
vierte  Vorlesungen  über  specielle  Pathologie  und  Therapie  der  inneren 
Krankheiten  halten,  die  Schüler  in  die  Hospitäler  führen  und  mit  der 
Krankenbehandlung  vertraut  machen,  und  der  fünfte  den  Unterricht 
in  der  Anatomie  und  Chirurgie  ertheilen;  dem  letzteren  stand  dabei 
ein  Prosector  zur  Seite,  welcher  zugleich  als  Oberchirurg  und  Lehrer 
der  Geburtshilfe  thätig  war.1  Der  medicinische  Lehrkörper  zu  Heidel- 
berg hatte  1763  vier  ordentliche  Professoren,  derjenige  zu  Göttingen 
1784  deren  sechs  und  zu  Pavia  um  die  gleiche  Zeit  acht.2  Der  Studien- 
plan, welchen  P.  Frank  1785/86  für  die  medicinische  Facultät  in  Pavia 
entwarf,  zeigt,  welche  Anforderungen  ein  Fachmann  damals  stellte.3 

Die  Naturwissenschaften  nahmen  eine  angesehenere  Stellung  ein, 
als  früher;  es  zeigt  sich  dies  deutlich  in  einem  Erlass  des  regierenden 
Fürstbischofs  von  Würzburg  v.  J.  1782,  in  welchem  es  heisst:  „Wenn 
man  es  in  vorigen  Zeiten  für  eine  ausgemachte  Wahrheit  hat  halten 
dürfen,  dass  die  Physik  für  diejenigen,  welche  sich  der  Arzneykunst  zu 
widmen  gedenken,  ein  nicht  nur  sehr  nützliches,  sondern  sogar  unent- 
behrliches Studium  sei,  so  wird  man  wohl  in  unseren  Tagen,  wo  die 
Physik  eine  vielverbesserte  Gestalt  angenommen  hat,  um  so  weniger 
daran  zweifeln;  und  wenn  gleich  die  Physik  für  den  Theologen  und 
Juristen  von  geringerem  Nutzen  als  für  den  Arzney-Beflissenen  sein 
mag,  so  sind  auch  die  Vortheile,  welche  künftige  Theologen  und  Juristen 
von  der  Mathematik  und  der  sogenannten  praktischen  Philosophie  sich 
zu  versprechen  haben,  längstens  entschieden".4 

Die  medicinische  Facultät  zu  Wien  besass  im  J.  1780  bereits 
9  systemisirte  Lehrkanzeln,  welche  sich  auf  Anatomie,  Physiologie, 
Naturgeschichte,  Chemie  und  Botanik,  allgemeine  Pathologie  und 
Therapie  nebst   Arzneimittellehre,   interne  Medicin  und   Klinik,  theo- 


1  Wegele  a.  a.  0.  —  Kölliker  a.  a.  0.  S.  75. 

2  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  2,  S.  46. 

3  P.  Frank  a.  a.  0.  Suppl.-Band  I,  S.  176  u.  ff. 

4  Wegele  a.  a.  0.  II,  428. 


Der  medicin.  Unterricht  am  Schluss  des  18.  Jahrh.  u.  der  ärztliche  Stand.     361 

retische  Chirurgie,  chirurgische  Klinik  und  Geburtshilfe  vertheilten; 
ausserdem  betheiligten  sich  an  der  Lehrthätigkeit  noch  mehrere  Assi- 
stenten und  ein  Prosector,  da  dem  Professor  der  Anatomie  die  Pflicht 
oblag,  „ein  Subjectum,  welches  zu  seiner  Zeit  ihm  zu  succediren  fähig, 
auf  eigene  Unkosten  abzurichten".  Der  Kaiser  Josef  IL  widmete  dem 
medicinischen  Unterrichtswesen  eine  rege  Aufmerksamkeit.  In  einem 
Rescript  vom  27.  April  1786  gab  er  den  Bedenken  gegen  die  Studien- 
pläne der  medicinischen  Facultäten,  welche  ihm  vorgelegt  worden  waren, 
mit  den  Worten  Ausdruck:  „Dass  die  Lehre  der  Chirurgie,  aller  Opera- 
tionen und  Bandagen  in  sechs  Monaten  soll  hinlänglich  gegeben  werden 
können,  scheint  mir  nicht  leicht  möglich,  und  überhaupt  theile  ich  das 
medicinische  Studium  auf  folgende  Art  ein.  Das  erste  Jahr  Anatomie 
mit  der  Physiologie  verbunden,  dergestalt,  dass,  wie  man  z.  B.  eine 
Lunge  in  der  Anatomie  vorgezeigt,  man  auch  zugleich  deren  Noth- 
wendigkeit  und  Wirkung  in  dem  gesunden  Körper  anführe  und  so  auch 
weiter  bis  auf  jeden  Muskel  im  Leibe,  wie  er  zur  Bewegung  dienet. 
Dieses  Schuljahr  müssten  medici  und  chirurgi  absolviren;  dem  Professor 
anatomiae  et  physiologiae  müsste  man  die  nöthigen  prosectores  und 
was  er  gebraucht,  zugeben,  um  sein  Lehramt  gut  zu  verwalten.  Zu- 
gleich würde  im  ersten  Jahr  für  die  Mediciner  Botanik  und  Chemie, 
und  für  die  chirurgos  Operazionen,  Bandagen  und  Geburtshilfe  gelehrt. 
Im  zweiten  Jahr  müssten  die  Wundärzte  die  chirurgische  und  me- 
dicinische Praxis  und  clinicam  im  Spital  erlernen  und  im  Spital  auch 
die  Geburtshilfe  praktiziren,  und  da  wären  sie  fertig;  die  medici  aber 
müssten  materiam  medicam,  Pathologie  und  alles  was  zum  gelehrten 
Fach  der  Medicin  gehört,  hören,  im  dritten  Jahr  aber  sich  ganz  mit 
der  praxis  und  clinica,  auch  Praktizirung  im  Spital  abgeben.  Und  auf 
diese  Art  würden  in  zwei  Jahren  für  das  Land  geschickte  chirurgi  und 
in  drei  Jahren  medici  für  die  Stadt  gebildet  werden.  Nach  diesem 
Sinne  erwarte  ich  die  weitere  Ausarbeitung.     Josef."1 

Die  Studienordnung,  welche  bald  darauf  erlassen  wurde,  wich  von 
diesen  Grundsätzen  zunächst  darin  ab,  dass  für  die  Studierenden  der 
Medicin  und  Chirurgie  eine  Studienzeit  von  vier  Jahren  bestimmt  und 
ein  gemeinsamer  Lehrplan  festgesetzt  wurde,  nach  welchem  der  Unter- 
richt in  den  meisten  Fächern  für  beide  Kategorien  vereinigt  war  und 
sich  nur  dadurch  unterschied,  dass  Jene  mehr  Zeit  auf  die  Arznei- 
mittellehre, Chemie  und  innere  Medicin  verwenden,  Diese  sich  ein- 
gehender mit  der  Chirurgie  und  den  damit  verbundenen  Lehrgegen- 
ständen beschäftigen  und  dies  in  den  Prüfungen  beweisen  müssten. 


Archiv  des  k.  k.  Unterrichtsministeriums  zu  Wien. 


362  Der  7nedicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 


Damit  wurde  endlich  auch  in  Österreich  und  Deutschland  der 
Chirurgie  eine  würdigere  Stellung  eingeräumt,  wie  dies  in  andern 
Staaten  bereits  geschehen  war.  Die  internen  Mediciner  und  Chirurgen 
wurden  als  gleichstehende  Klassen  von  Ärzten  anerkannt,  welche  eine 
gleichwerthige  Bildung  besitzen  und  sich  nur  durch  die  Form  ihrer 
Thätigkeit  unterscheiden. 

Daneben  entstand  eine  niedere  Art  von  Ärzten,  welche,  mit  ge- 
ringeren Kenntnissen  ausgestattet,  hauptsächlich  für  die  Landbevölkerung- 
bestimmt  waren  und  sowohl  die  innere  als  die  äussere  Praxis  ausübten. 
Die  Gegensätze,  welche  bisher  zwischen  den  Ärzten  und  den  Chirurgen 
bestanden  hatten,  wurden  nun  auf  die  Beziehungen  zwischen  den  höher 
gebildeten  Ärzten  und  den  weniger  unterrichteten  Medico- Chirurgen 
übertragen.  Bei  der  Beurtheilung  der  Zustände,  welche  sich  daraus 
entwickelten,  darf  man  daher  nicht  vergessen,  dass  eine  Verschiebung 
der  in  Frage  kommenden  Faktoren  stattgefunden  hatte,  welche  später 
Manches  rechtfertigte,  was  vorher  unhaltbar  und  ungerecht  erschien. 

Es  ist  ja  zweifellos,  dass  die  Chirurgen  des  17.  Jahrhunderts  einen 
niedrigen  Bildungsstandpunkt  einnahmen;  aber  war  es  vielleicht  mit 
den  Ärzten  jener  Zeit  anders?  —  Der  todte  Wust  einer  unfruchtbaren 
Gelehrsamkeit  trübte  Vielen  den  Blick  für  das  frische  Leben  der  Gegen- 
wart. „Sie  kannten  den  Galen,  aber  ihre  Kranken  gar  nicht",  wie 
Montaigne  sagte.  Die  Figur  des  Dr.  Diafoirus,  welche  Moliere  in 
seinem  „eingebildeten  Kranken"  gezeichnet  hat,  soll  der  Wirklichkeit 
abgelauscht  sein.1 

Der  grosse  Haufe  der  Ärzte  suchte  dem  Publikum  durch  das  hohle 
Wrortgetön  der  griechisch -lateinischen  Terminologie  zu  imponiren;  sie 
meinten  den  Kranken  einen  Dienst  erwiesen  zu  haben,  wenn  sie,  wie 
Kant  schreibt,  ihren  Leiden  einen  Namen  gegeben  hatten.2  Durch 
Pillen  und  Pflaster,  Arzneien,  Klystiere  und  oft  wiederholte  Blut- 
entziehungen bemühten  sie  sich,  die  Krankheit  zu  beseitigen,  so  dass 
zuweilen  eine  kräftige  Constitution  dazu  gehörte,  um  diesen,  häufig 
unzweckmässigen  oder  verkehrten  Massregeln  Widerstand  zu  leisten. 

Der  Titel  eines  Doktors  der  Medicin  bot  keineswegs  die  Garantie, 
dass  der  Träger  desselben  ärztliche  Kenntnisse  besass.  Ausser  den 
Universitäten  nahm  auch  der  Kaiser,  der  Pabst  und  seine  Bevollmäch- 
tigten und  die  Pfalzgrafen  das  Recht  in  Anspruch,  diese  WTürde  zu 
verleihen.    In  Neapel  genoss  die  Familie  d'Avellino-Carraciolo  noch 


1  M.  Raynaud:  Les  medecins  au  temps  de  Moliere,  Paris  1862. 

2  Im.  Kant:  Versuch  über  die  Krankheiten  des  Kopfes  in  der  Ausg.  sämmtl. 
Werke  von  Rosenkrantz  u.  Schubert,  Leipzig  1838,  VII,  16. 


Der  medicin.  Unterricht  am  Schluss  des  18.  Jahrh.  u.  der  ärztliche  Stand.     363 


im  vorigen  Jahrhundert  das  Privilegium,  Doktoren  der  Medicin  und 
des  Rechts  zu  ernennen;  sie  machte  davon  reichlichen  Gebrauch  und 
liess  es  sich  entsprechend  bezahlen. 

Aber  auch  an  einzelnen  Hochschulen  wurde  mit  der  Doktor-Pro- 
motion ein  schändlicher  Missbrauch  getrieben.  Manche  Professoren 
sahen  in  den  Taxen,  welche  dafür  entrichtet  wurden,  eine  erwünschte 
Vermehrung  ihrer  Einnahmen  und  suchten  die  Bewerber  dadurch  an- 
zulocken, dass  sie  möglichst  geringe  Anforderungen  an  deren  Wissen 
stellten.  Die  Prüfungen  wurden  entweder  erlassen  oder  sanken  zu 
einer  werthlosen  Formalität  herab.  Die  Doktor-Dissertationen  konnten 
von  gelehrten  Lieferanten,  welche  die  Anfertigung  derartiger  Arbeiten 
gewerbsmässig  betrieben,  zu  bestimmten  Preisen  gekauft  werden.1  In 
Greifswald  erwarb  i.  J.  1788  ein  Schuster  das  medicinische  Doktor- 
Diplom,  und  zwar  auf  Grund  einer  Dissertation  über  die  Heilwirkungen 
des  Pechs.  Die  Universität  Erfurt  creirte  in  einem  einzigen  Jahre 
97  Doktoren  der  Medicin,  während  sie  überhaupt  nicht  mehr  als 
30  Studenten  in  sämmtlichen  Facultäten  zählte. 

An  anderen  Hochschulen  waren  die  mit  der  Erlangung  der  Doktor- 
würde verbundenen  Unkosten  so  gross,  dass  unbemittelte  Candidaten 
darauf  verzichten  mussten.  Sie  holten  sich  dieselbe  in  Folge  dessen 
entweder  an  Orten,  wo  man  weniger  Geld  dafür  verlangte,  oder  be- 
gnügten sich  damit,  als  Licentiaten  der  Medicin  die  ärztliche  Praxis 
auszuüben.  In  Wien  kostete  die  medicinische  Doktor -Promotion  bis 
z.  J.  1749  ungefähr  1000  Gulden,  in  Göttingen  1765  etwa  130  Thaler, 
in  Paris  7000  Livres  und  in  Oxford  100  Pfund  Sterling.2  Dabei  ge- 
währte dieselbe  keineswegs  überall  besondere  Vorrechte. 

Ausser  zahlreichen  anderen  Heilkünstlern,  welche  durch  die  gesetz- 
lichen Einrichtungen  zur  ärztlichen  Praxis  berechtigt  waren,  erhielten 
auch  herumziehende  Empiriker,  Bruchschneider,  Steinoperateure  und 
Staarstecher  an  vielen  Orten  ohne  besondere  Schwierigkeiten  die  Er- 
laubniss,  ihre  Kunst  auszuüben.  In  auffallendem  Aufzuge,  behängt 
mit  allerlei  buntem  Flitterstaat  und  begleitet  von  einem  Harlekin,  wie 
der  im  Volksliede  verewigte  Dr.  Eisenbart,  zogen  sie  auf  den  Jahr- 
märkten und  Kirchweihen  umher  und  erzählten  dem  Publikum  von 
den  wunderbaren  Kuren,  die  sie  angeblich  verrichtet  hatten.  Mit  un- 
verschämten Worten  priesen  sie  die  Heilkraft  ihrer  Medicamente  gegen 
Schwindsucht,  Taubheit  und  alle  möglichen  unheilbaren  Leiden.  Manche 
erklärten,  dass  sie  im  Stande  seien,  das  Sehvermögen,  auch  wenn  es 


1  Kais.  priv.  Eeichsanzeiger,  Gotha  1802,  No.  169—170. 

2  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  3,  S.  291. 


364  Der  medicinische   Unterricht  in  der  Neuzeit. 

seit  vielen  Jahren  verloren  worden,  sofort  wieder  herzustellen;  Andere 
empfahlen  Pillen  gegen  Unfruchtbarkeit,  welche  nach  ihrer  Angabe 
sogar  ohne  Coitus  die  gewünschte  Wirkung  hervorbrachten. 

Die  Scharfrichter,  die  unter  den  Kurpfuschern  eine  hervorragende 
Stelle  behaupteten,  verkauften  Menschenblut,  welches  in  frischem  schäu- 
menden Zustande  als  Heilmittel  gegen  die  Epilepsie  betrachtet  wurde; 
sie  hatten  dafür  einen  bestimmten  Tarif,  je  nach  dem  Menschen,  von 
dem  es  stammte;  am  theuersten  war  das  Blut  einer  Jungfrau  oder 
eines  Jünglings,  am  billigsten  dasjenige  eines  Juden.1 

Das  grössjte  Unheil  richteten  jedoch  die  herumziehenden  Operateure 
an.  Wenn  sie  auf  öffentlichen  Plätzen  der  staunenden  Menge  unter 
dem  Schmettern  der  Trompeten  und  Wirbeln  der  Trommeln,  welche 
die  Schmerzensschreie  der  beklagenswerthen  Patienten  übertönen  mussten, 
Proben  ihrer  Kunst  zeigten,  so  dachte  Niemand  an  die  traurigen  Folgen, 
welche  diese  chirurgischen  Eingriffe  häufig  zurückliessen.  Aber  gilt 
denn  nicht  noch  heut  das  Wort  Bacon's,  dass  jeder  Charlatan  und 
jedes  alte  Weib  als  Nebenbuhler  des  tüchtigsten  Arztes  angesehen  wird 
und  mit  ihm  um  den  Vorzug  am  Krankenbett  ringen  darf?  — 


1  G-.  Fischer  a.  a.  0.  S.  49  u.  ff.  —  Des  getreuen  Eckharts  medicinischer 
Maulaffe  oder  der  entlarvte  Marktschreier,  Frankfurt  und  Leipzig  1719.  —  The 
tatler,  London  1723,  IV,  No.  243.  —  0.  Buchner  a.  a.  0.  S.  145  u.  ff. 


IV.  Der  niedicinische  Unterricht  in  der 
neuesten  Zeit. 


Die  naturwissenschaftliche  Weltanschauung  des 

19.  Jahrhunderts. 

Mit  den  gewaltigen  Ereignissen  der  letzten  Decennien  des  18.  Jahr- 
hunderts begann  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit.  Die  politischen  und 
culturhistorischen  Gestaltungen  der  Gegenwart  haben  mit  der  franzö- 
sischen Revolution  und  den  geistigen  Bewegungen  jener  Periode  ihren 
Anfang  genommen. 

Die  französische  Revolution  war  nicht  so  sehr  gegen  die  Monarchie 
als  gegen  den  Feudalismus  gerichtet,  dessen  Vertreter  ihre  bevorzugte 
Stellung  in  unerhörter  Weise  gemissbraucht  hatten.  Zum  ersten  Male 
wurde  das  schwere  Unrecht,  welches  darin  lag,  dass  ein  Theil  der  Be- 
völkerung alle  Lasten  des  öffentlichen  Gemeinwesens  tragen  musste, 
während  der  andere  sämmtliche  Vorrechte  und  Vortheile  davon  genoss, 
allgemein  anerkannt  und  der  Grundsatz  ausgesprochen,  dass  Diejenigen, 
welche  den  Staat  erhalten,  auch  auf  die  Verwaltung  desselben  einen 
massgebenden  Einfiuss  auszuüben  berechtigt  sind. 

Dieser  Gedanke  bildete  gleichsam  den  festen  Rückstand  in  den 
mannigfachen  politischen  Zersetzungs-  und  Umwandelungs- Prozessen, 
welche  damals  stattfanden.  Er  führte  zum  Parlamentarismus,  der  im 
19.  Jahrhundert  fast  in  allen  civilisirten  Leandern  zur  gesetzlichen  In- 
stitution erhoben  wurde.  Mit  der  Beseitigung  der  historischen  Privi- 
legien und  der  ständischen  Gliederung,  mit  der  Aufhebung  der  Leib- 
eigenschaft, mit  der  Einführung  der  bürgerlichen  Selbstständigkeit  und 
Gleichberechtigung  der  einzelnen  Individuen  und  der  Thei Inahme  der 
breiten  Schichten  des  Volkes  an  der  Regierung  vollzog  sich  eine  sociale 
Umwälzung  von  weittragender  Bedeutung. 

Gleichzeitig  mit  der  politischen  Emancipation  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft begann  auch  der  Aufschwung  der  Tagespresse,  die  Entwicklung 


366  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


des  Journalismus  und  die  Popularisirung  von  Kunst  und  Wissenschaft. 
Das  Interesse  für  die  Bestrebungen  auf  diesen  Gebieten  drang  in  Kreise 
der  Bevölkerung,  welche  früher  gänzlich  unberührt  davon  geblieben 
waren. 

An  der  Culturentwickelung  betheiligten  sich  alle  gebildeten  Na- 
tionen, namentlich  aber  die  Franzosen,  die  Engländer  und  die  Deutschen. 
Die  letzteren,  welche  schon  im  18.  Jahrhundert  einen  Lessing,  Herder, 
Goethe,  Schiller,  Mozart,  Beethoven,  Kant  und  andere  erleuchtete 
Geister  hervorgebracht,  und  in  der  Dichtkunst  und  Literatur,  in  der 
Musik  und  Philosophie  eine  Achtung  gebietende  Stellung  errungen 
hatten,  übernahmen  allmälig  auch  in  der  Medicin  und  in  den  Natur- 
wissenschaften die  Führung.  Während  in  der  Geschichte  derselben 
Anfangs  neben  einzelnen  Engländern  hauptsächlich  Franzosen  genannt 
werden,  gewannen  seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  die  deutschen 
Gelehrten  und  Forscher  einen  überwiegenden  Einfluss. 

Anders  gestaltete  sich  das  Yerhältniss  in  der  Philosophie,  welche 
in  Deutschland  unter  dem  Banne  der  Schulgelehrsamkeit  leider  den 
Zusammenhang  mit  dem  praktischen  Leben  verlor  und  erst  in  neuester 
Zeit  wieder  gefunden  hat. 

Mit  kritischer  Schärfe  hatte  der  grosse  Denker  von  Königsberg 
die  Quellen,  den  Umfang  und  die  Grenzen  des  menschlichen  Denkens 
gezeichnet;  aber  die  auf  Kant  folgenden  Philosophen  haben  seiner 
Erkenntniss-Theorie  nur  wenig  hinzuzufügen  vermocht  und  sich  darauf 
beschränkt,  diese  oder  jene  Kichtung  seines  Systems  weiter  zu  ent- 
wickeln. Indem  sie  dabei  gerade  an  die  Frage  nach  dem  Wesen  und 
letztem  Grunde  der  Dinge,  welche  Kant  für  überflüssig  und  unlösbar 
erklärt  hatte,  als  er  die  Forschung  auf  die  Welt  der  Erscheinungen 
verwies,  anknüpften,  verlegten  sie  die  Aufgabe  der  Philosophie  wiederum 
in  das  mystisch-transcendente  Gebiet  der  Spekulation. 

Die  geistvollen  Hypothesen  eines  Fichte,  welcher  die  Lösung  des 
Eäthsels  des  Daseins  in  dem  Ich-Begriff  suchte  und  damit  zu  einem 
unbeschränkten  Idealismus  gelangte,  eines  Schelling,  der  die  Identität 
von  Natur  und  Geist  verkündete  und  damit  die  Naturphilosophie  be- 
gründete, eines  Hegel,  welcher  alles  Heil  in  der  absoluten  Idee  sah, 
und  eines  Schopenhauer,  der  die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
erklärte,  konnten  wohl  eine  Zeitlang  fesseln,  keineswegs  jedoch  dauernd 
überzeugen.  Keines  dieser  Systeme  hat  auf  die  Naturwissenschaften 
grösseren  Einfluss  ausgeübt,  als  die  Naturphilosophie. 

Hervorragende  Ärzte  und  Naturforscher,  wie  Blumenbach,  Oken, 
Kielmeyer,  J.  Döllinger,  Oersted,  Burdach,  Nees  v.  Esenbeck, 
Kieser,  K.  G.  Carus  u.  A.  schlössen  sich  ihr  an,  weil  sie  in  ihr  be- 


Die  naturwissenschaftliche  Weltanschauung  des  19.  Jahrhunderts.     367 


stimmte  Gesichtspunkte  zur  Beurtheilung  der  empirisch  gesammelten 
Thatsachen  fanden.  Gleich  der  Romantik,  welche  damals  die  Kunst  und 
Literatur  beherrschte,  ein  echtes  Kind  dieser  nach  einem  befriedigenden 
Abschluss  der  gegensätzlichen  und  unfertigen  Bestrebungen  ringenden 
Zeit,  verfolgte  auch  die  Naturphilosophie  durchaus  edle  Ziele,  indem  sie 
sich  in  die  Tiefen  des  Gemüths  versenkte,  der  Medicin  ihre  erhabenen 
ethischen  Aufgaben  ins  Gedächtniss  rief  und  die  Einheit  der  verschie- 
denen Naturwissenschaften  zum  Ausdruck  brachte. 

Der  empirischen  Forschung  stellte  sie  sich  erst  feindlich  gegenüber, 
als  sie,  vom  religiösen  Mysticismus  angekränkelt,  die  Metaplrysik  zu 
ihrem  Tummelplatz  wählte  und,  um  mit  Hamann's  Worten  zu  reden, 
„aus  einer  allgemeinen  Wissenschaft  des  Möglichen  zu  einer  allgemeinen 
Unwissenheit  des  Wirklichen"  wurde.  Wenn  die  Naturphilosophie  in 
greisenhafter  Selbstüberhebung  ihre  vagen  und  oft  veralteten  Begriffs- 
bestimmungen der  täglich  fortschreitenden  Naturwissenschaft  entgegen- 
hielt, so  erreichte  sie  damit  nur,  dass  sich  dieselbe  gänzlich  von  ihr 
abwandte. 

Nicht  wenig  trug  die  vorzugsweise  durch  Hegel  in  die  Philosophie 
eingeführte  schwerfällige  Form  der  Darstellung,  welche  sich  in  einer 
selbst  fabricirten  Sprache  abmühte,  die  einfachsten  Dinge  möglichst 
unverständlich  zu  machen,  zu  der  Entfremdung  bei,  welche  allmälig 
in  Deutschland  zwischen  der  Naturwissenschaft  und  der  Philosophie 
stattfand. 

In  andern  Ländern  war  es  damit  in  mancher  Beziehung  besser 
bestellt.  Hier  behielt  die  Philosophie  enge  Fühlung  mit  den  Wissen- 
schaften und  Künsten  des  realen  Lebens  und  stellte  bei  der  methodi- 
schen Bearbeitung  derselben  ihre  Kräfte  in  deren  Dienst.  In  Frank- 
reich begründete  Auguste  Comte,  welcher  gleich  Kant,  an  den  er 
anknüpfte,  mathematisch  und  naturwissenschaftlich  geschult  war,  den 
Positivismus,  welcher  im  Einklang  mit  dem  mächtigen  Aufschwung, 
den  die  empirische  Forschung  in  jener  Zeit  dort  erlebte,  die  Metaphysik 
und  den  Teleologismus  ausschloss  und  alles  philosophische  Denken, 
alle  Wissenschaft,  auf  die  durch  die  Erfahrung  festgestellten  Thatsachen 
gestützt  wissen  wollte. 

Diese  Richtung  musste  den  Naturforschern  genehm  erscheinen  und 
fand  daher  unter  ihnen  viele  Anhänger  und  Vertreter.  In  Deutschland 
verkündeten  Fechnee,  H.  Lotze,  H.  Czolbe  und  andere  hervorragende 
Männer  der  Naturwissenschaft  diese  Lehren  und  trugen  das  zu  ihrer 
Begründung  nothwendige  Material  herbei.  Die  exakte  Schule  der  Gegen- 
wart begann  wieder  mit  der  Philosophie  zu  rechnen,  und  einer  der 
grössten  Naturforscher,  Karl  Rokitansky,  wies  auf  den  Nutzen  und 


368  Der  medicinischc   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


die  Bedeutung  hin,  welche  dieselbe  für  die  Naturwissenschaften  und 
die  Medicin  besitzt.  Aber  auch  die  Philosophen  erkannten,  dass  die 
positive  Kenntniss  der  wissenschaftlichen  Thatsachen  die  selbstverständ- 
liche Voraussetzung  ihrer  Thätigkeit  sein  muss,  wenn  sich  dieselbe 
fruchtbringend  gestalten  soll  und  ernste  Beachtung  beanspruchen  will. 
An  einzelnen  Hochschulen  wurden  die  philosophischen  Lehrkanzeln 
Naturforschern  übertragen,  welche  den  Werth  der  Beobachtung  und 
des  Experiments  erprobt  hatten  und  damit  der  Bedeutung,  welche  die 
naturwissenschaftliche  Weltanschauung  für  die  Culturentwickelung  der 
Gegenwart  gewonnen  hat,  ein  deutlicher  Ausdruck  gegeben.  Dieselbe 
erhielt  ihre  Begründung  in  der  Fülle  von  neuen  Thatsachen,  mit 
welchen  die  verschiedenen  Naturwissenschaften  im  19.  Jahrhundert 
bereichert  wurden,  und  in  der  Erkenntniss  ihrer  gegenseitigen  Be- 
ziehungen und  gemeinsamen  Gesetze,  welche  eine  einheitliche  Betrach- 
tung des  Lebens  der  Natur  ermöglichte. 

Wenn  ich  hier  einige  Thatsachen  aus  der  Geschichte  der  ver- 
schiedenen Naturwissenschaften  hervorhebe,  so  geschieht  es  nur,  um 
den  Gang  ihrer  Entwickelung  mit  wenigen  Worten  zu  kennzeichnen. 

Schon  im  18.  Jahrhundert  versuchte  man,  die  Mineralien  nach 
rationellen  Gesichtspunkten  zu  ordnen.  Linne  und  Wallerius  legten 
ihrer  Eintheilung  derselben  die  äusseren  Merkmale  und  Ähnlichkeiten 
zu  Grunde.  Der  Schwede  Axel  von  Cronstedt  betrachtete  dagegen 
die  chemischen  Bestandtheile  als  massgebend;  der  sächsische  Bergrath 
Abraham  Gottlob  Werner  stellte  dann  ein  Schema  auf,  welches  sich 
auf  die  chemischen  und  physikalischen  Eigenschaften  sowohl  als  auf 
die  äusseren  Erscheinungsformen  stützte.  Ihm  gebührt  auch  das  Ver- 
dienst, die  Oryktognosie  und  Geognosie  von  einander  abgegrenzt  und 
die  letztere  begründet  zu  haben. 

Die  wissenschaftliche  Bearbeitung  der  Krystallographie l  begann 
mit  Kome  de  l'Isle  und  Hauy  und  wurde  von  Weiss  und  Mohs  in 
erfolgreicher  Weise  fortgesetzt.  Andere  beschäftigten  sich  mit  den 
chemischen,  optischen  und  elektrischen  Eigenschaften,  mit  der  Phosphor- 
escenz  und  den  Polarisations-Erscheinungen,  welche  bei  einigen  Mine- 
ralien beobachtet  wurden.  Die  Verwerthung  der  Chemie  für  die  Mine- 
ralogie führte  zu  einer  innigen  Verbindung  dieser  beiden  Wissenschaften, 
welche  nach  vielen  Richtungen  anregend  und  befruchtend  wirkte. 

In  der  Geognosie  und  Geologie  wirkte  Leopold  von  Buch  bahn- 
brechend.    Gleichzeitig  wurde  auch  die  Petrefacten-Kunde,  auf  welche 


1  Cuvier:  Geschichte  der  Fortschritte  in  den  Naturwissenschaften  seit  1789, 
Deutsche  Übers.,  Leipzig  1828,  4  Bde. 


Die  naturwissenschaftliche  Weltanschauung  des  19.  Jahrhunderts.     369 


Scheuchzer  zuerst  die  Aufmerksamkeit  gelenkt  hatte,  fleissig  getrieben 
und  bot  die  Materialien  zur  Lösung  mancher  Fragen  der  Geologie  und 
Anthropologie. 

In  der  Botanik  wurden  verschiedene  Versuche  unternommen,  ein 
natürliches  System  der  Pflanzen  aufzufinden.  Adanson  erklärte:  „Die 
Natur  stellt  uns  überall  natürliche  Ordnung  dar/'  und  meinte,  dass 
sich  dieselbe  sicherlich  nicht  auf  die  Ähnlichkeiten  oder  Unterschiede 
eines  einzelnen  Organs,  sondern  nur  auf  die  Gesammt- Erscheinung, 
auf  den  Total-Habitus  stützen  könne.  Um  dieses  System  zu  entdecken, 
verglich  er  die  einzelnen  Pflanzen  in  Bezug  auf  ihre  verschiedenen 
Organe  und  ordnete  sie  in  die  Klassen  der  Nächststehenden,  der  Nahe- 
stehenden u.  s.  w..  je  nachdem  sie  mehr  oder  weniger  mit  einander 
übereinstimmten.  Diese  Eintheilung  entbehrte  vor  Allem  der  Übersicht- 
lichkeit und  vermochte  sich  daher  keinen  Beifall  zu  erringen. 

Eine  richtigere  Methode  schlugen  A.  L.  de  Jussieu,  Pykame  de 
C andolle,  Robert  Brown  u.  A.  ein,  indem  sie  zunächst  auf  eine 
genaue  Feststellung  und  Begrenzung  der  Pflanzen-Familien  drangen 
und  eine  Reihe  werthvoller  Vorarbeiten  dazu  lieferten.  Dabei  begründete 
P.  de  Candolle,  der  selbst  mehr  als  hundert  Familien  sorgfältig  be- 
schrieb, die  Lehre  von  der  Symmetrie  der  Pflanzengestalt. 

Von  fundamentaler  Bedeutung  für  die  Morphologie  waren  ferner 
die  Untersuchungen  Jos.  Gaertners  über  die  Früchte  und  Samen  der 
Pflanzen  und  Rob.  Brown's  monographische  Arbeiten.  Goethe's  Metamor- 
phosenlehre regte  mehr  die  Naturphilosophen,  als  die  Naturforscher  an. 
Sie  war  verschwommen  und  unbestimmt  und  erfuhr  erst  durch  Schimper 
und  Alexander  Braun,  welche  über  die  Blattstellung  und  dieEntwickelung 
der  Pflanzen  werth volle  Aufschlüsse  gaben,  eine  wissenschaftliche  Klärung.1 

Die  Anatomie  der  Pflanzen  fand  fleissige  Bearbeiter  an  Brisseau- 
Mirbel,  dem  jüngeren  Moldenhawer,  Link,  Meyen,  Hugo  Mohl  u.  A., 
welche  die  Ansichten  über  den  Bau  der  Pflanzen  zu  einem  gewissen 
Abschluss  brachten.  Auch  die  mikroskopische  Struktur  derselben  wurde 
genauer  untersucht,  und  die  Entdeckung,  dass  die  Zelle  das  alleinige 
Grundelement  derselben  ist,  wies  der  morphologischen  Forschung  eine 
neue  Richtung.  Sie  drängte  zu  einer  grösseren  Berücksichtigung  der 
Histogenese.  Man  begann  diese  Verhältnisse  an  den  niederen  Krypto- 
gamen  zu  studieren,  weil  man  hier  mit  einfacheren,  leichter  zu  durch- 
schauenden Thatsachen  rechnen  durfte,  und  ging  dann  allmälig  zu  den 
höher  organisirten  Pflanzen  über. 


1  Wigand:   Geschichte  und  Kritik  der  Lehre   von  der  Metamorphose   der 
Pflanzen,  Leipzig  1846. 

Puschmann,   Unterricht.  24 


370  Der  medicinisehe   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Die  dabei  gewonnenen  Ergebnisse  warfen  ein  merkwürdiges  Licht 
auf  die  Entstehung  und  das  Wachsthum  der  Organe.  Mohl  beob- 
achtete bereits  verschiedene  Arten  der  Sporenbildung  und  beschrieb 
1835  einen  Fall  von  vegetativer  Zelltheilung.  Schleiden  stellte  1838 
eine  Theorie  der  Zellbildung  auf,  die  aber  an  so  vielen  Fehlern  litt, 
dass  sie  bald  nachher  wieder  aufgegeben  wurde.  An  ihre  Stelle  trat 
Naegelis  Theorie,  welche  umfassender  war,  die  verschiedenartigen 
Fälle  ins  Auge  fasste  und  das  ihnen  zu  Grunde  liegende  Gesetz 
feststellte. 

Im  Jahre  1839  sprach  Schwann  den  Satz  aus,  dass  die  thierische 
Zelle  der  vegetablischen  analog  ist,  und  1855  machte  Ungee  auf  die 
Ähnlichkeit  des  Protoplasma  der  Pflanzenzelle  mit  der  Sarcode  der 
niedersten  Thiere  aufmerksam,  welche  durch  die  Untersuchungen  über 
die  Myxomyceten  eine  weitere  Bestätigung  erhielt. 

Diese  Thatsachen  führten  zu  einer  richtigeren  Beurtheilung  der 
räthselhaften  Beziehungen  zwischen  dem  Pflanzen-  und  Thierreich  und 
trugen  ebenfalls  dazu  bei,  die  Lehre  von  der  Constanz  der  Arten, 
welche  lange  Zeit  als  ein  unumstössliches  Dogma  gegolten  hatte,  zu 
beseitigen. 

Die  Befruchtung  der  Pflanzen  wurde  von  Du  Hamel  studiert, 
welcher  die  Bestäubungseinrichtungen  der  Blüthen  und  die  Rolle,  welche 
manche  Insekten  dabei  spielen,  beschrieb.  Eine  gründliche  Bearbeitung 
erfuhr  dieser  Gegenstand  seit  1830,  indem  die  Prozesse  im  Innern  der 
Samenknospen  zum  Gegenstande  sorgfältiger  Untersuchungen  gemacht 
und  die  Sexualität  auch  bei  den  Kryptogamen  nachgewiesen  wurde. 

Auch  die  Vorgänge  der  Ernährung,  Stoff-Aufnahme  und  -Abgabe 
und  des  Wachsthums  fanden  eine  ausführliche  Darstellung.  Die  Saft- 
bewegung, über  welche  schon  Stephan  Hales  interessante  Experimente 
angestellt  hatte,  wurde  hauptsächlich  durch  Duteochet,  der  die  dios- 
motischen  Erscheinungen  zu  ihrer  Erklärung  heranzog,  aufgeklärt. 
Ingenhouss  fand,  dass  die  grünen  Pflanzentheile  unter  dem  Einfluss 
des  Lichts  Kohlensäure  aufnehmen,  Sauerstoff  ausscheiden  und  auf  diese 
Weise  den  Kohlenstoff  erhalten,  den  die  Pflanzen  in  der  Form  orga- 
nischer Verbindungen  in  sich  aufhäufen,  und  begründete  somit  die 
Lehre  von  der  Athmung  und  Ernährung  der  Pflanze.  Daran  schlössen 
sich  Senebiees  Untersuchungen  über  den  Einfluss  des  Lichts  auf  das 
Leben  der  Pflanze  an. 

Zahlreiche  Arbeiten  beschäftigten  sich  dann  mit  dem  Chemismus 
der  Ernährung  und  den  Bewegungserscheinungen  der  Pflanzen.1    Auch 


1  Sachs  a.  a.  0.  S.  27G  u.  ff. 


Die  naturwissenschaftliche  Weltanschauung  des  19.  Jahrhunderts.     371 


die  Pathologie  derselben  fand  Beachtung  und  wurde  namentlich  in 
neuester  Zeit  ausserordentlich  gefördert.  Endlich  trat  auch  die  Pflanzen- 
Geographie  ins  Leben,  welche  dadurch,  dass  sie  die  Abhängigkeit  der 
Pflanzenwelt  vom  Klima  und  Boden  nachwies  und  erklärte,  grosse  Be- 
deutung für  die  Heilkunde  und  besonders  für  die  medicinische  Geo- 
graphie erlangte. 

Die  Zoologie  erfuhr  durch  die  Auffindung  neuer  Thierarten  und 
die  sorgfältige  Erforschung  ihres  anatomischen  Baues  nicht  nur  eine 
bedeutende  Vermehrung  ihres  Wissens-Inhalts  und  gelangte  zu  einer 
besseren  Systematik,  sondern  vermochte  mit  Hilfe  der  Entwickelungs- 
geschichte,  vergleichenden  Anatomie  uud  Palaeontologie  zu  einer  natur- 
geschichtlichen Gesammt-Anschauung  durchzudringen,  welche  das  ganze 
Gebiet  des  Werdens  und  Vergehens  in  der  Natur  zu  umfassen  schien. 

Buffon1  näherte  sich  bereits  diesem  Standpunkt,  indem  er  erklärte, 
dass  kein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  Thieren  und  Pflanzen  be- 
stehe und  die  Reihenfolge  der  organischen  Wesen  einen  einheitlichen 
Plan  zeige.  Seine  populäre  und  geistvolle  Darstellungsweise,  welche 
den  Reichthum  der  Thatsachen  mit  kühnen  Hypothesen  zu  verweben 
verstand,  regte  die  Forscher  zu  neuen  Untersuchungen  an  und  erweckte 
und  verbreitete  beim  grossen  gebildeten  Publikum  das  Interesse  für 
naturwissenschaftliche  Gegenstände.  Buffon  ging  dabei  auch  auf  die 
geographische  Verbreitung  der  Thierwelt  ein  und  hob,  wie  schon  Linne, 
die  Verschiedenartigkeit  derselben  in  den  einzelnen  Continenten  hervor. 
Wenn  die  arktischen  Thierformen  von  Amerika  und  Europa  überein- 
stimmen, so  schloss  er  daraus,  dass  einst  ein  Zusammenhang  der  beiden 
Welttheile  bestanden  habe  oder  wenigstens  Wanderungen  der  Thiere 
von  einem  zum  andern  möglich  gewesen  seien. 

Die  Bekanntschaft  mit  der  überseeischen  Fauna  wurde  hauptsäch- 
lich durch  die  wissenschaftlichen  Expeditionen,  denen  Naturforscher 
beigegeben  wurden,  herbeigeführt.  So  beschrieb  Sonneeat  mehrere 
Thiere  der  südasiatischen  Inseln;  hauptsächlich  aber  erwarben  sich  der 
ältere  Foestee,  Al.  von  Humboldt  und  Lichtenstein  in  dieser  Rich- 
tung Verdienste. 

Ebenso  wurde  die  Verbreitung  der  Thierwelt  in  den  einzelnen 
Ländern  Europas  genauer  studiert.  Pallas  beschrieb  verschiedene 
neue  Thierformen. 

Gleichzeitig  wurde  die  Kenntniss  der  bekannten  Thierarten  durch 
wichtige  Beobachtungen  bereichert.  Bonnet  bemerkte  zuerst  die  un- 
geschlechtliche Fortpflanzung  der  Blattläuse.    P.  Campee  und  J.  Huntee 


1  V.  Carus  a.  a.  0.  S.  522  u.  ff. 

24' 


372  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

entdeckten  gleichzeitig  und  unabhängig  von  einander  die  Pneumacität 
der  Vogelknochen  und  den  Zusammenhang  ihrer  Lufträume  mit  den 
Lungen.  Fabeicius  und  später  Lateeille  beschäftigten  sich  vorzugs- 
weise mit  der  Entomologie,  während  Rudolphi  die  Helminthologie 
bearbeitete  und  Lamaeck,  0.  F.  Müllee  und  Eheenbeeg  in  der  Welt 
der  Infusorien  Umschau  hielten. 

Die  Zootomie  gab  über  den  Bau  der  verschiedenen  Thiere  werth- 
volle  Aufschlüsse,  und  die  Vergleichung  ihrer  Organisation  eröffnete 
beachtenswerthe  Gesichtspunkte  für  eine  einheitliche  Beurth eilung  der- 
selben. Die  vergleichende  Anatomie  und  Physiologie  erhielt  durch 
J.  Huntee,  F.  Vicq  d'Azye,  Blumenbach,  Kielmeyee,  Geoeeeoy 
St.  Hilaiee,  Cuviee,  Tiedemann,  C.  G.  Caeus,  J.  F.  Meckel  und 
Joh.  Müllee  eine  Fülle  wissenschaftlichen  Materials  zugeführt  und 
wurde  als  das  eigentliche  Ziel  der  Zootomie  betrachtet.  Ignaz  Döllingee 
schrieb  1814:  „Die  Aufgabe  der  Zootomie  ist,  den  Bau  der  Thiere  zu 
entwickeln  und  in  demselben  die  Natur  des  Lebensprozesses  nach- 
zuweisen. Damit  wird  das  Vergleichen  des  Zootomen  Geschäft;  er  soll 
Thatsachen  zusammenstellen  und  untersuchen,  worin  sie  sich  ähnlich 
und  worin  sie  sich  unähnlich  sind;  er  soll  sie  mit  der  Idee  des  Lebens 
zusammenhalten  und  erforschen^  wie  sich  ein  und  dasselbe  durch  eine 
Reihe  von  Metamorphosen  durchbildet*'.1 

Geoeeeoy  St.  Hilaiee  stellte  leitende  Grundsätze  auf,  welche  den 
Forsebern  als  Richtschnur  dienen  konnten.  Cuviee  entdeckte  das  schon 
von  J.  Heemann  geahnte  Gesetz  der  Correlation  der  Theile,  nach 
welchem  jeder  Organismus  ein  geschlossenes  Ganze  bildet,  dessen  ein- 
zelne Theile  nicht  abgeändert  werden  können,  ohne  dass  auch  an  allen 
übrigen  Organen  Aenderungen  stattfinden. 

Auf  Grund  dieser  neu  erschlossenen  Thatsachen  durfte  man  sich 
auch  an  die  Systematik  wagen.  Batsch  versuchte  zuerst,  die  Knochen- 
thiere  von  den  übrigen  zu  sondern;  aber  erst  Lamaeck  brachte  die 
Eintheilung  in  Wirbelthiere  und  Wirbellose  zum  deutlichen  Ausdruck 
und  zur  allgemeinen  Anerkennung. 

Den  grössten  Fortschritt  in  dieser  Hinsicht  verdankte  man  Cuviee, 
welcher  die  Typenlehre  begründete.  Er  erklärte,  dass  es  im  Thier- 
reiche  vier  neben  einander  stehende  Hauptzweige  oder  „allgemeine 
Pläne  gebe,  nach  denen  die  zugehörigen  Thiere  modellirt  zu  sein  scheinen 
und  deren  einzelne  Unterabtheilungen  nur  leichte,  auf  die  Entwicklung 
oder   das   Hinzutreten  einiger  Theile  gegründete   Modifikationen   sind, 


1  J.  Döllinger:   Über   den  Werth  und   die  Bedeutung  der  vergleichenden 
Anatomie,  Würzburg  1814,  S.  17. 


Die  naturwissenschaftliche  Weltanschauung  des  19.  Jahrhunderts.     373 

in  denen  aber  an  der  Wesenheit  des  Planes  nichts  geändert  wird". 
K.  E.  v.  Baer  bestimmte  den  Begriff  des  Typus  genauer  und  berichtigte 
die  Theorie,  namentlich  in  Bezug  auf  die  Entwicklungsgeschichte, 
welche  Cuvier  gänzlich  unberücksichtigt  gelassen  hatte. 

Die  wissenschaftliche  Bearbeitung  der  letzteren  begann  damals 
mehr,  als  bisher,  hervorzutreten  und  auf  die  verwandten  Disciplinen 
Einfluss  auszuüben.  Pander  veröffentlichte  seine  bahnbrechenden  Unter- 
suchungen über  die  Entwickelung  des  Huhns,  in  welchen  er  den  Nach- 
weis lieferte,  dass  sich  der  Yogelkörper  aus  drei  Keimblättern  bildet. 
K.  E.  v.  Baer  zog  auch  die  übrigen  Klassen  der  Wirbelthiere  in  Be- 
tracht und  wies  auf  die  verschiedenen  Sonderlings  Vorgänge  am  Keime 
hin.  Auch  von  Anderen  wurden  die  Veränderungen  des  Eies  nach  der 
Befruchtung  beobachtet  und  die  Eurchungsprozesse  beschrieben.  Ferner 
wurde  die  Entwickelung  einzelner  Organe,  z.  B.  diejenige  des  Gehirns, 
des  Auges,  der  WoLFF'schen  Körper  u.  a.  m.  zum  Gegenstande  besonderer 
Untersuchungen  gemacht. 

Dabei  wurde  man  auf  die  Ähnlichkeit  in  der  Entwickelung  der 
Embryonen  verschiedener  Thierformen  aufmerksam.  John  Hunter, 
Kielmeyer  und  später  Oken  begründeten  die  Theorie,  dass  die  Em- 
bryonen der  höher  organisirten  Thiere  die  Entwickelungsstadien  der 
niederen  Klassen  durchlaufen.  Die  entwickelungsgeschichtlichen  That- 
sachen  in  Verbindung  mit  den  palaeontologischen  Funden,  welche  die 
Verschiedenheiten  zwischen  den  fossilen  Pflanzen  und  Thieren  und  den 
heutigen  Bepräsentanten  ihrer  Art  erkennen  Hessen,  erschütterten  auch 
in  der  Zoologie  den  Glauben  an  die  Unveränderlichkeit  der  Form  und 
bereiteten  die  Descendenztheorie  vor. 

Schon  i.  J.  1804  erklärte  Lamarck  unter  Hinweis  auf  die  Bastardirung 
und  Varietätenbildung,  dass  der  Begriff  der  Art  nur  dem  an  ein  kurzes 
Zeitmass  gewöhnten  Urtheil  der  Menschen  unveränderlich  erscheine,  in  der 
Wirklichkeit  aber  wechsele  und  sich  den  äusseren  Lebensverhältnissen  an- 
passe. Im  J.  1830  veröffentlichte  Lyell  seine  Principles  of  Geology,  in 
denen  er  auseinander  setzte,  dass  es  zur  Erklärung  der  Veränderungen  der 
Erdrinde  durchaus  nicht  immer  der  Annahme  grosser  gewaltiger  Katastro- 
phen bedürfe,  sondern  dass  dazu  die  langsam,  aber  stetig  wirkenden  Kräfte 
der  Natur  ausreichen.  Er  wies  auf  die  Wirkungen  der  Flüsse  und  Meere, 
der  Mineralquellen  und  Gletscher  hin  und  verglich  die  Veränderungen  der 
unorganischen  Welt  mit  dem  Minutenzeiger  der  Uhr,  „dessen  Vorrücken 
man  sieht  und  hört,  während  die  Fluktuationen  der  lebenden  Schöpfung 
kaum  sichtbar  sind  und  der  Bewegung  des  Stundenzeigers  gleichen".1 


1  0.  Schmidt:  Descendenzlehre  und  Darwinismus,  Leipzig  1873,  S.  117. 


374  Der  medieinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Das  Dogma  der  Constanz  der  Arten  wurde  allmälig  von  den 
meisten  Naturforschern  verlassen.  Man  sah,  dass  die  Arten  sich  inner- 
halb gewisser  morphologischer  Grenzen  verändern,  und  wurde  dadurch 
zu  der  Vermuthung  gedrängt,  dass  sie  sich  auf  diese  Weise  zu  ihrer 
gegenwärtigen  Form  entwickelt  haben.  Ch.  Dakwin  hat  das  unver- 
gängliche Verdienst,  diese  Hypothese  zur  wissenschaftlichen  Thatsache 
erhoben  zu  haben.  Gestützt  auf  ein  reiches  Beobachtungs-Material, 
unternahm  er  es,  die  Ursachen  zu  ergründen,  welche  die  Entstehung 
der  Arten  erklären,  und  kam  zu  dem  Eesultat,  dass  der  Kampf  ums 
Dasein  und  die  natürliche  Zuchtwahl  zu  einer  Auslese  des  Besseren  und 
Passenderen  führen,  welche  den  Untergang  des  unterliegenden  Theiles 
und  die  allmälige  Vervollkommnung  des  siegenden  im  Gefolge  haben. 
Diese  Theorie,  welche  von  Wallace,  Naegeli  u.  A.  in  einzelnen  Punkten 
berichtigt  und  ergänzt  wurde,  bildete  den  Grundstein  einer  neuen  natur- 
wissenschaftlichen Weltanschauung. 

Als  bald  darauf  der  Versuch  gemacht  wurde,  darauf  eine  natür- 
liche Schöpfungsgeschichte  aufzubauen,  und  dabei  auch  die  Stellung 
des  Menschen  gegenüber  den  übrigen  Bewohnern  der  Erde  in  den  Kreis 
der  Erörterung  gezogen  wurde,  erregte  die  neue  Lehre  den  heftigen 
Unwillen  aller  Derjenigen,  welche  darin  einen  Angriff  auf  die  Beligion 
und  die  Menschenwürde  erblickten.  Die  Lückenhaftigkeit  der  That- 
sachen,  besonders  in  der  Palaeontologie,  und  die  mangelhafte  Kennt- 
niss  mancher  physiologischen  und  entwickelungsgeschichtlichen  Vorgänge 
gestattete  allerdings  nicht  Schlussfolgerungen  von  solcher  Tragweite, 
wie  sie  bisweilen  zu  Tage  traten;  aber  dieselben  hüllten  sich  in  das 
anspruchslose  Gewand  der  Hypothese  und  forderten  nicht  bedingungs- 
lose Unterwerfung,  sondern  eine  freimüthige  Kritik.  Die  Religion  wird 
niemals  von  der  Wissenschaft  bedroht  werden,  wenn  sie  es  unterlässt, 
die  Freiheit  der  Forschung  anzufeinden,  und  in  der  ethischen  Erziehung 
des  Menschengeschlechts,  in  der  Veredelung  des  Gemüthslebens  ihre 
einzigen  Aufgaben  erkennt. 


Physik  und  Chemie  in  den  letzten  hundert  Jahren. 

Während  sich  die  Mineralogie,  Botanik  und  Zoologie  aus  be- 
schreibenden Naturwissenschaften  in  erklärende  umwandelten,  gewannen 
auch  die  Physik  und  Chemie  durch  die  Verbesserungen  der  Unter- 
suchungsmethoden und  die  Fülle  neuer  Entdeckungen  eine  andere 
Gestalt. 


Physik  und  Chemie  in  den  letzten  hundert  Jahren.  375 


In  der  Chemie  wurde  diese  Periode  eingeleitet  durch  die  Ent- 
deckung des  Sauerstoffs  und  die  Beseitigung  der  Phlogiston-Theorie  und 
charakterisirt  durch  die  Methode  der  quantitativen  Untersuchungen. 
Im  J.  1774  fand  Jos.  Peiestley  den  Sauerstoff,  indem  er  rothes  Queck- 
silberoxyd zum  Erhitzen  brachte.  Zu  gleicher  Zeit  beobachtete  er,  dass 
das  dabei  gewonnene  Gas  die  Athmu ng  und  Verbrennung  besser  unter- 
hält, als  die  gewöhnliche  Luft;  aber  er  vermochte  nicht,  die  daraus  sich 
ergebenden  Schlüsse  zu  ziehen.  Er  war  ein  genialer  Dilettant,  der  die 
Wissenschaft  mehr  in  der  Breite  als  in  der  Tiefe  erforschte.  Er  hat 
die  Chemie  mit  einer  Menge  von  Entdeckungen  bereichert,  und,  wie 
Kopp  sagt,  für  die  Kenntniss  der  Gase  mehr  geleistet,  als  die  berufs- 
mässigen Naturforscher. 1 

Erst  Lavoisiee  erkannte  die  volle  Bedeutung  der  Entdeckung  des 
Sauerstoffs.  Schon  zwei  Jahre  vor  derselben  lieferte  er  den  experi- 
mentellen Nachweis,  dass  sowohl  bei  der  Verkalkung  der  Metalle,  als 
bei  der  Verbrennung  von  Phosphor  und  Schwefel  im  Widerspruch  mit 
der  phlogistischen  Theorie  eine  Gewichtszunahme  erfolgt,  welche  auf 
der  Absorption  von  Luft  beruht;  aber  er  wusste  nicht,  ob  dabei  die 
Luft  im  Ganzen  oder  nur  ein  Theil  derselben  wirksam  ist.  Als  er 
durch  Peiestley  den  Sauerstoff  kennen  lernte,  kam  er  auf  den  Ge- 
danken, in  ihm  die  Ursache  dieser  Erscheinungen  zu  suchen.  Durch 
zahlreiche  Versuche  stellte  er  fest,  dass  sich  nur  ein  Fünftel  der 
atmosphärischen  Luft  an  der  Verbrennung  betheiligt,  und  dass  die  Luft 
aus  einem  Theile  Sauerstoff  und  vier  Theilen  eines  Gases  besteht, 
welches  weder  zur  Verbrennung  noch  zur  Athmung  geeignet  ist.  Seine 
Angaben  über  die  Zusammensetzung  der  Luft,  des  Wassers  und  ver- 
schiedener 'Säuren  wurden  von  Cavendish  bestätigt  und  in  einzelnen 
Punkten  ergänzt.2 

Mit  der  Widerlegung  der  phlogistischen  Theorie  tauchten  ver- 
schiedene Fragen  auf,  welche  bis  dahin  auf  Grund  derselben  oder  nach 
ihrer  Analogie  gelöst  worden  waren.  Da  Lavoisiee  in  allen  Säuren, 
die  er  untersuchte,  Sauerstoff  fand,  so  erklärte  er  denselben  für  den 
diesen  Körpern  gemeinsamen  Bestandtheil,  also  für  Das,  was  man  früher 
als  Ursäure  bezeichnet  hatte;  er  wies  ferner  auf  die  Rolle  hin,  welche 
der  Sauerstoff  bei  der  Oxydation  oder  sogenannten  Verkalkung  der 
Metalle  spielt.  Von  dem  Wesen  der  Kausticität  hatte  Black  schon 
früher  eine  richtige  Darstellung  gegeben. 


1  Kopp  a.  a.  0.  I,  239. 

2  Kopp:    Beiträge  zur  Geschichte   der  Chemie,    Braunschweig   1875,    III, 
254  u.  ff. 


376  Der  medicinischc   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Lavoisier  entwickelte  ferner  die  Bedeutung,  welche  der  Sauerstoff 
für  die  Athmung  und  Blutbereitung  besitzt,  und  gab  dadurch  die  An- 
regung zu  einer  gründlichen  Umänderung  der  physiologischen  Lehren 
über  diese  Vorgänge.  Aber  auch  auf  die  Pathologie  und  Therapie  übte 
die  Entdeckung  des  Sauerstoffs  einen  grossen  Einfluss  aus.  Einzelne 
Ärzte  sahen  in  ihm  die  Lebensluft,  auf  welcher  die  Gesundheit  beruhe. 
Sie  glaubten,  dass  bestimmte  Krankheiten  in  dem  Überschuss  oder 
Mangel  von  Sauerstoff  ihren  Grund  hätten,  und  verwendeten  ihn  daher 
in  der  Therapie. 

Lavoisiees  Lehren  fanden  die  früheste  Aufnahme  in  seinem  Vater- 
lande Frankreich.  Zu  seinen  Anhängern  gehörten  Gutton  de  Morveau, 
der  sich  um  die  Einführung  einer  rationellen  chemischen  Nomenklatur 
verdient  machte,  Fourcroy,  welcher  sich  mit  der  medicinischen 
Chemie  beschäftigte,  und  Berthollet,  der  die  Zusammensetzung  des 
Ammoniaks  ermittelte,  die  bleichende  Kraft  des  Chlors  zuerst  be- 
obachtete und  deren  Bedeutung  für  das  praktische  Leben  erkannte, 
das  chlorsaure  Kali  und  das  Knallsilber  entdeckte,  die  Blausäure  genau 
untersuchte  und  deren  Bestandtheile  feststellte,  den  Irrthum  Lavoi- 
siers  berichtigte,  dass  in  allen  Säuren  Sauerstoff  enthalten  sei,  die 
Lehre  von  der  chemischen  Verwandtschaft  begründete  und  auf  die 
Wichtigkeit  der  quantitativen  Verhältnisse,  welche  dabei  in  Frage  kamen, 
hinwies  und  die  technische  Chemie,  namentlich  die  Stahl-  und  Salpeter- 
fabrikation förderte. 

In  Deutschland  war  Klaproth  der  Erste,  welcher  die  anti- 
phlogistische Theorie  vertheidigte.  Die  Chemie  verdankt  ihm  die  Ent- 
deckung mehrerer  Elemente  und  die  Richtigstellung  verschiedener  irriger 
Angaben,  welche  von  andern  Forschern  gemacht  worden  waren.  Seine 
analytischen  Arbeiten  zeichneten  sich  durch  ihre  Genauigkeit  aus  und 
übertrafen  in  dieser  Beziehung  sogar  diejenigen  Vauquelins,  welcher 
um  die  gleiche  Zeit  die  mineralogische  Chemie  bearbeitete,  und 
dabei  das  Chrom  und  die  Beryllerde  auffand.  Auch  der  organischen 
Chemie  widmete  er  seine  Aufmerksamkeit  und  entdeckte  z.  B.  die 
Chinasäure. 

Im  Beginn  unsers  Jahrhunderts  verkündigte  J.  L.  Proust  das 
Gesetz,  dass  die  chemischen  Verbindungen  stets  eine  bestimmte  Constanz 
ihrer  Zusammensetzung  zeigen.  Ausserdem  lieferte  er  wichtige  Beiträge 
zur  Chemie  einzelner  Metalle  und  entdeckte  den  Traubenzucker.  Der 
Engländer  Dalton  versuchte,  die  Constanz  der  chemischen  Verbindungen 
durch  die  atomistische  Theorie  zu  erklären,  indem  er  annahm,  dass 
sich  die  Atome  verschiedener  Elemente  in  einem  bestimmten,  von  ihrem 
Gewicht  abhängigen  Verhältniss  vereinigen;   dabei  fand  er  das  Gesetz 


Physik  und  Chemie  in  den  letzten  hundert  Jahren.  377 


der  multiplen  Proportionen.1  Die  stöchiometrischen  Untersuchungen 
Daltons  wurden  von  Wollaston,  der  die  Bezeichnung  der  Äquivalente 
anstatt  der  Atomgewichte  einführte,  und  Berzelius  fortgesetzt  und 
ergänzt. 

Eine  Erweiterung  erfuhr  dieser  Gegenstand  durch  Gay-Lussac, 
welcher  bei  der  Untersuchung  der  chemischen  Verbindungen  auch  die 
Volumen -Verhältnisse  der  Körper,  wenn  sie  sich  im  gasförmigen  Zu- 
stande befinden,  zu  berücksichtigen  empfahl.  Im  J.  1805  fand  er  in 
Gemeinschaft  mit  Alexander  von  Humboldt,  dass  sich  das  Wasser 
aus  1  Volumen  Sauerstoff  und  2  Volumen  Wasserstoff  zusammensetzt. 
Später  untersuchte  er  noch  andere  Verbindungen  von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  und  stellte  dabei  fest,  dass  ihre  Bestandtheile,  sobald  sie  im 
gasartigen  Zustande  sind,  auch  in  einem  bestimmten  Raumverhältniss 
zu  einander  stehen;  er  legte  somit  die  Grundlage  zu  der  Volumen- 
Theorie. 

Gay-Lussac  veröffentlichte  ferner  werthvolle  Arbeiten  über  die 
Ausdehnung  der  Gase  durch  die  Wärme,  über  die  Dichtigkeit  der 
Dämpfe,  zu  deren  Bestimmung  er  geeignete  Untersuchungsmethoden 
angab,  über  das  Jod,  welches  kurz  vorher  entdeckt  worden  war,  und 
seine  Verbindungen,  sowie  über  mehrere  Chlorverbindungen.  Er  gab 
die  erste  richtige  Darstellung  der  Zusammensetzung  der  Blausäure,  er- 
läuterte das  Wesen  des  Cyans,  entdeckte  den  Jodwasserstoff-Äther  und 
die  Unterschwefelsäure,  und  vereinfachte  die  Prüfung  verschiedener  im 
täglichen  Leben  gebrauchten  Stoffe. 

Die  Erforschung  der  quantitativen  Verhältnisse  zwischen  den  ein- 
zelnen Bestandtheilen  der  chemischen  Verbindungen  trat  in  ein  neues 
Stadium,  als  die  Thatsache  bekannt  wurde,  dass  der  elektrische  Strom 
die  letzteren  zerlegt.  Nicholson,  Carlisle,  Cruikshank,  sowie  Ber- 
zelius und  Hisinger  machten  darüber  verschiedene  interessante  Be- 
obachtungen, und  Humphry  Davy  gab  ihnen  eine  theoretische  Grund- 
lage. Er  zeigte,  dass  mittelst  des  elektrischen  Stromes  das  Wasser  in 
Sauerstoff  und  Wasserstoff  und  die  Salze  in  Säuren  und  Basen  zerlegt 
werden,  von  denen  sich  die  ersteren  am  positiven,  die  letzteren  am 
negativen  Pol  der  Volta'schen  Säule  niederschlagen,  wies  die  Zerlegbar- 
keit mehrerer  zusammengesetzter  Körper,  z.  B.  der  feuerbeständigen 
Alkalien,  der  alkalischen  Erden,  des  Baryt,  des  Strontian,  der  Bittererde, 
Kalkerde  u.  a.  m.  nach  und  sprach  die  Ansicht  aus,  dass  die  chemischen 
und  elektrischen  Wirkungen  Äusserungen  der  gleichen  Kraft  seien;  er 


1  A.  Wurtz:   Geschichte  der  chemischen  Theorien,  Deutsche  Übersetzung, 
Berlin  1879,  S.  29  u.  ff. 


378  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

glaubte,  dass  dieselben  bei  der  Berührung  grösserer  Massen  in  der 
Form  der  Elektricität,  beim  Zusammentreffen  kleiner  Theilchen  als 
chemische  Verwandtschaft  zu  Tage  treten. 

Davy's  Arbeiten  gaben  die  Anregung  zu  einer  Reihe  von  elektro- 
chemischen Untersuchungen,  welche  von  Thenaed,  dem  Entdecker  des 
Wasserstoffsuperoxyds,  und  G-ay-Lussac  angestellt  wurden  und  die 
Kenntniss  einzelner  Elemente,  besonders  des  Kaliums  und  Natriums, 
ebenso  wie  die  Technik  der  Forschungsmethoden  wesentlich  förderten. 
Zu  gleicher  Zeit  gaben  Schweiggee  und  Beezelius  neue  Aufschlüsse 
über  die  Theorie  des  Elektrochemismus;  der  letztere  ging  von  der  An- 
nahme der  elektrischen  Polarität  der  Atome  der  Körper  aus  und  er- 
klärte demgemäss  die  Entstehung  chemischer  Verbindungen  als  ein 
Aneinanderlagern  der  entgegengesetzten  Pole  der  Atome  verschiedener 
Körper. 

Im  J.  1834  fand  Eaeaday  die  wichtige  Thatsache,  dass  dieselbe 
Menge  cirkulirender  Elektricität  auch  stets  denselben  chemischen  Effekt 
hervorbringt.  Damit  gewann  er  ein  Maass  für  die  vorhandene  Elek- 
tricität. Indem  er  ferner  die  Wirkungen  derselben  auf  die  verschiedenen 
Verbindungen  studierte,  machte  er  die  Beobachtung,  dass  die  Gewichts- 
mengen der  Stoffe,  welche  vom  elektrischen  Strom  zerlegt  werden,  ihrem 
chemischen  Äquivalentgewicht  entsprechen.  Auf  diese  Weise  erhielt 
die  Lehre  von  der  chemischen  Verwandtschaft  eine  Beleuchtung,  welche 
sich  auf  das  ganze  Gebiet  des  Elektrochemismus  erstreckte. 

Auch  die  übrigen  Theile  der  Chemie  wurden  erfolgreich  bearbeitet. 
H.  Davy  berichtigte  die  irrigen  Ansichten  über  das  Chlor  und  führte 
den  Begriff'  der  Wasserstoffsäuren  ein;  ferner  machte  er  zuerst  auf  die 
berauschende  Wirkung  des  von  Peiestley  entdeckten  Stickoxyds  auf- 
merksam. Erwähnung  verdienen  auch  seine  Untersuchungen  über  die 
Malerfarben  an  antiken  Kunstwerken  und  über  die  Mittel,  um  die  in 
Pompeji  gefundenen  Handschriften  in  einen  lesbaren  Zustand  zu  bringen. 

Beezelius  wirkte  nach  allen  Richtungen  der  Chemie  anregend 
und  fördernd  und  schuf  eine  Schule,  aus  welcher  eine  Reihe  der  her- 
vorragendsten Chemiker  des  19.  Jahrhunderts,  wie  Che.  Gmelin,  Mit- 
scheelich,  die  beiden  Rose,  Wöhlee,  Magnus,  Aefvedson  und  Andere 
hervorgingen.  Er  erleichterte  die  quantitative  Analyse,  indem  er  die 
Löthrohr- Untersuchungen  mehr  in  Aufnahme  brachte,  entdeckte  und 
beschrieb  mehrere  bis  dahin  nicht  bekannte  Elemente  und  lieferte  vor- 
treffliche Beiträge  zur  Zoochemie.  Faeaday  beschäftigte  sich  mit  der 
Flüssigmachung  der  Gase  und  mit  Verbesserungen  der  Stahl-  und  der 
Glasfabrikation,  während  Dumas  Untersuchungen  über  das  specifische 
Gewicht  verschiedener  Gase  anstellte. 


Physik  und  Chemie  in  den  letzten  hundert  Jahren.  379 

Mitscherlich  unternahm  die  künstliche  Nachbildung  anorganischer 
Körper  und  zeigte,  dass  sie  identisch  sind  mit  den  in  der  Natur  vor- 
kommenden Mineralien,  veröffentlichte  wichtige  Arbeiten  über  die  Ver- 
bindung des  Natrons  mit  Jod,  sowie  über  die  Oxydationsstufen  des 
Mangans,  und  bahnte  durch  seine  Entdeckung  des  Isomorphismus  und 
Dimorphismus  in  der  Chemie  eine  physikalische  Richtung  an,  die  auch 
für  die  Mineralogie  von  Bedeutung  war.  Die  Thatsache,  dass  Körper 
von  verschiedener  chemischer  Zusammensetzung  die  gleiche  Krystall- 
gestalt  besitzen  und  ihre  Bestandteile  durch  andere  Elemente  ersetzt 
werden  können,  ohne  dass  sich  ihre  Form  ändert,  während  andere 
Körper,  wie  der  Schwefel,  bei  gleicher  chemischer  Zusammensetzung, 
unter  verschiedenen  Gestalten  erscheinen,  übte  auf  die  weitere  Ent- 
wickelung  der  Chemie  einen  grossen  Einfiuss  aus. 

Mit  Liebig  und  Wöhler  trat  die  organische  Chemie  in  den 
Vordergrund.  Hier  eröffnete  sich  der  wissenschaftlichen  Forschung  ein 
Arbeitsfeld,  welches  bis  dahin  noch  wenig  oder  gar  nicht  bebaut  worden 
war.  Die  Untersuchung  der  organischen  Verbindungen,  ihrer  Zusammen- 
setzung und  Eigenschaften  und  die  Versuche,  sie  künstlich  darzustellen, 
boten  eine  Fülle  von  Aufgaben,  deren  Lösung  die  Chemiker  des  19.  Jahr- 
hunderts vollauf  beschäftigte. 1 

Dazu  kam  die  Erkenntniss  der  vielfachen  und  tiefgreifenden  Be- 
ziehungen, welche  die  Chemie  zum  praktischen  Leben  hat,  und  ihre 
Verwerthung  für  die  Landwirtschaft,  für  verschiedene  Handwerke  und 
Gewerbe,  die  Malerei,  die  Kriegskunst,  die  Nahrungsmittellehre,  die 
Physiologie,  Pharmakologie  und  Pharmaceutik.  Die  Agricultur-Chemie, 
die  technologische,  physiologische  und  pharmaceutische  Chemie  haben 
sich  allmälig  zu  besonderen  Disciplinen  entwickelt,  und  die  Chemie  ist 
zur  Wissenschaft  des  täglichen  Lebens  geworden,  welche  die  Bedürfnisse 
des  Menschen  regelt  und  befriedigt.2 

In  der  Physik  wurde  diese  Periode  mit  der  Entdeckung  der  merk- 
würdigen Erscheinungen  des  Galvanismus  eröffnet,  welchen  Al.  Volta 
die  richtige  Deutung  gab.  Sie  erregte  ausserordentliches  Aufsehen  und 
veranlasste  eine  Reihe  von  Arbeiten,  deren  Ergebniss  die  Verbesserung 
der  Volta'schen  Säule,  die  Feststellung  ihrer  Wirkungen  und  der  Be- 
dingungen, unter  denen  sie  zu  Stande  kommen,  und  die  Entdeckung- 
anderer  wichtiger  Thatsachen  bildete.     Man  erkannte  die  wesentliche 


1  A.  Ladenburg:  Vorträge  über  die  Entwickelungsgeschichte  der  Chemie 
in  den  letzten  hundert  Jahren,  Braunschweig  1887,  S.  117  u.  ff.  —  H.  Kopp: 
Die  Entwickelung  der  Chemie  in  der  neueren  Zeit,  München  1873,  S.  518  u.  ff. 

2  Kopp:  Geschichte  der  Chemie,  I,  270  u.  ff. 


380  Der  mcdicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Identität  des  Galvanismus  mit  der  Elektricität  und  stellte  das  Verhalten 
der  verschiedenen  Metalle  dagegen  fest. 

Von  fundamentaler  Bedeutung  war  Oersted's  Beobachtung,  dass 
die  Magnetnadel  durch  den  Strom  abgelenkt  wird;  denn  man  wurde 
dadurch  auf  den  Zusammenhang  zwischen  Elektricität  und  Magnetismus 
hingewiesen.  Akago  und  Gay-Lussac  zeigten  bald  darauf,  dass  der 
Strom  nicht  blos  ablenkt,  sondern  auch  magnetisirt.  Schweigger  con- 
struirte  den  ersten  Multiplicator,  und  Ampere  entdeckte  den  gegen- 
seitigen Einfluss  der  elektrischen  Ströme,  versuchte  eine  Erklärung  des 
Wesens  des  Magnetismus  zu  geben  und  entwickelte  zuerst  die  Idee  des 
elektromagnetischen  Telegraphen. 

Gleichzeitig  beobachtete  man  die  Wechsel- Wirkungen  zwischen  Wärme 
und  Elektricität,  und  Seebeck  fand  in  der  sogenannten  Thermo-Elektricität 
eine  neue  Quelle  der  Elektricität.  Ohm  entdeckte  die  für  die  Leitungs- 
fähigkeit der  Metalldrähte  und  für  das  zwischen  Strom-Intensität,  elek- 
tromotorischer Kraft  und  Widerstand  bestehende  Verhältniss  geltenden 
Gesetze  und  brachte  sie  in  eine  leichtfassliche  mathematische  Formel. 
Faraday  bemerkte  zuerst  die  elektrischen  Induktionsströme  und  stu- 
dierte die  Wechsel- Beziehungen  zwischen  Elektricität  und  Licht.  Die 
Verbesserungen  in  der  Technik  der  Untersuchungsmethoden,  die  Er- 
findung zweckentsprechender  Apparate  und  Instrumente  und  die  darauf 
folgenden  wissenschaftlichen  Ergebnisse  bildeten  weitere  Bereicherungen 
der  Kenntnisse  auf  diesem  Gebiet. 

Für  die  Physiologie  erlangten  hauptsächlich  zwei  physikalische 
Entdeckungen  eine  mächtige  Bedeutung,  nämlich  die  Feststellung  der 
Thatsache,  dass  im  thierischen  Körper  elektrische  Ströme  kreisen  und 
die  Entdeckung  des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  und  Umwandlung  der 
Kraft.  Durch  das  letztere  wurde  bewiesen,  dass  Elektricität,  Wärme 
und  mechanische  Arbeit  oder  Bewegung  ineinander  übergeführt  oder  zur 
Auslösung  gebracht  werden  können  und  äquivalente  Erscheinungsformen 
der  gleichen  Kraft  sind.  Damit  war  das  einheitliche  Band  aufgefunden, 
welches  die  wichtigsten  Funktionen  des  organischen  Lebens  umschlingt. 

Die  Verwendung  der  Elektricität  zu  technischen  Zwecken,  z.  B.  zur 
Telegraphie,  zur  Beleuchtung,  zum  Treiben  von  Maschinen  u.  a.  m. 
gehört  ebenfalls  der  neuesten  Zeit  an.1 

Die  enge  Verbindung,  welche  die  Physik  mit  der  Mathematik 
schloss,  die  sie  als  Pfadfinder  sowohl  wie  zur  Controlle  gebrauchte,  und 
die  gewissenhafte  und  gründliche  Methode  des  Experiments  sicherten 
der  Forschung  auch  in  den  übrigen  Bichtungen    dieser  Wissenschaft 


1  E.  Hoppe:  Geschichte  der  Elektricität,  Leipzig  1884,  S.  118  u.  ff, 


Physik  und  Chemie  in  den  letzten  hundert  Jahren.  381 

bedeutende  Resultate.  Am  deutlichsten  musste  dies  in  der  Mechanik 
hervortreten;  Laplace,  Young,  Gauss  u.  A.  unternahmen  es,  die  den 
verschiedenen  Vorgängen,  z.  B.  der  Capillarität,  zu  Grunde  liegenden 
Gesetze  festzustellen.  Auch  die  Astronomie,  die  Meteorologie  und  Kli- 
matologie  verdankten  diesen  Bestrebungen  manche  Anregung  und  eine 
bedeutende  Vermehrung  des  wissenschaftlichen  Materials. 

Die  Entwickelung  der  Wärmelehre  stand  ebenfalls  unter  diesem 
Einfluss.  Rumford  machte  die  Beobachtung,  dass  durch  Reibung 
Wärme  erzeugt  wird,  und  schuf  dadurch  die  erste  Grundlage  zur  me- 
chanischen Wärmetheorie.1  Die  Mittheilungen  über  die  ungleiche 
Wärme-Capacität  der  Körper,  die  Untersuchungen  über  den  Grad  der 
Ausdehnung,  welche  sie  durch  die  Wärme  erfahren,  über  die  Spann- 
kraft des  Wasserdampfes  und  deren  Verwerthung  für  die  Wärme-Öko- 
nomie der  Dampfmaschine,  die  calorimetrischen  Messungen,  besonders 
die  Versuche  in  Betreff  der  Heizkraft  der  Combustibilien  u.  a,  m.  nahmen 
die  Physiker  umsomehr  in  Anspruch,  als  sie  den  Bedürfnissen  des  prak- 
tischen Lebens  entsprachen.  Das  Gesetz  der  Äquivalenz  von  Wärme 
und  Arbeit  warf  auf  viele  dieser  Fragen  ein  klärendes  Licht  und  zeigte 
den  Weg  zu  ihrer  Lösung. 

Die  Optik  wurde  durch  den  Sieg  der  Undulations- Theorie  des 
Lichts  und  durch  zahlreiche  Entdeckungen  gefördert.  Young  benutzte 
das  Princip  der  Interferenz  des  Lichts  zur  Erklärung  verschiedener 
Erscheinungen,  und  Fresnel  studierte  die  Lichtbeugung.  Im  J.  1809 
entdeckte  Malus  die  Polarisation  des  Lichts  durch  Reflexion,  und  nicht 
lange  nachher  machte  Brewster  2  auf  die  Existenz  zweiaxiger  Krystalle, 
sowie  auf  die  innigen  Beziehungen  zwischen  optischer  und  krystallini- 
scher  Struktur  aufmerksam.  Er  construirte  später  auch  das  erste  diop- 
trische  Stereoskop. 

Ebenso  wurden  die  chemischen  Wirkungen  des  Lichts  einer  ge- 
nauen Untersuchung  unterzogen;  dieselbe  führte  zur  Erfindung  der 
Photographie,  welche  sich  an  die  Namen  von  Daguerre,  Niepce  und 
Talbot  knüpft. 

Fraunhofer  beobachtete,  wie  schon  Wollaston  vor  ihm,  die 
dunkeln  Streifen  im  Sonnen-Spektrum;  aber  eine  Erklärung  derselben 
wurde  erst  von  Kirchhofe  gegeben.  Die  Entdeckung  der  Spektral- 
Analyse  gab  Aufschlüsse  über  die  physikalische  Natur  und  die  chemi- 
sche Zusammensetzung  der  Weltkörper  und  eröffnete  der  Forschung 
ein  neues  Arbeitsfeld. 


1  G.  Berthold:  Rumford  u.  die  mechanische  Wärmetheorie,  Heidelberg  1875. 

2  D.  Brewster  in  den  Philos.  Transactions,  London  1818,  p.  199  u.  ff. 


382  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Die  Verbesserungen  der  optischen  Hilfsmittel,  namentlich  die  Er- 
findung der  achromatischen  Fernrohre,  sowie  diejenige  der  achromati- 
schen Mikroskope,  die  zuerst  von  Hermann  van  Deyl  und  Fraunhofer 
in  der  Zeit  von  1807 — 1811  angefertigt  wurden,  und  die  Vervollkomm- 
nungen, welche  dieselben  später  durch  Plössl,  Selligue,  Chevalier, 
Amici,  Oberhäuser,  Hartnack  u.  A.  erfuhren,  hatten  für  alle  Gebiete 
der  Naturforschung  eine  grosse  Bedeutung. 

Die  Akustik  wurde  durch  Chladni,  Ohm  u.  A.  mit  einigen  werth- 
vollen  Arbeiten  bereichert;  doch  ist  die  wissenschaftliche  Begründung 
dieses  Theiles  der  Physik  eigentlich  erst  der  jüngsten  Zeit  gelungen 
und  hauptsächlich  Helmholtz  zu  verdanken. 

Die  Physik  und  Chemie  sind  die  eigentlichen  Hilfswissenschaften 
der  Medicin  geworden,  welche  in  der  Physiologie  wie  in  der  Pathologie, 
in  der  internen  Heilkunde  wie  in  der  Chirurgie  zu  Rath  gezogen  werden. 


Die  medicinischen  Systeme  und  die  Portschritte  in 
der  Anatomie  und  Physiologie. 

Die  durch  Haller  zur  allgemeinen  Anerkennung  gelangte  Lehre, 
dass  Sensibilität  und  Irritabilität  die  Grundeigenschaften  des  animali- 
schen Organismus  bilden,  die  darauf  folgenden  Entdeckungen  in  der 
Chemie  und  vor  Allem  der  Galvanismus  riefen  eine  Anzahl  medicini- 
scher  Systeme  hervor,  in  denen  der  Versuch  gemacht  wurde,  mit  Hilfe 
dieser  Thatsachen  die  Erscheinungen  des  menschlichen  Körpers  im  ge- 
sunden und  im  kranken  Zustande  zu  erklären  und  bestimmte  Gesichts- 
punkte für  die  Heilung  zu  gewinnen. 

Ein  Theil  der  Ärzte  sah  gleich  den  Methodikern  des  Alter thums 
in  allen  physiologischen  und  pathologischen  Äusserungen  Reizungen 
oder  Erschlaffungen,  deren  Ursachen  bald  in  das  Nervensystem  verlegt 
wurde,  wie  es  Cullen  that,  bald  in  der  grösseren  oder  geringeren 
Erregbarkeit  gesucht  wurde,  wie  es  durch  John  Brown  und  seine  An- 
hänger geschah. 

Die  Erregungstheorie  wurde  von  Chr.  Girtanner,  welcher  den 
Sauerstoff  für  das  wirksame  Princip  der  Erregbarkeit  erklärte,  von 
Röschlaub,  der  auf  den  Einfluss  der  Anlage,  der  Organisation  hinwies, 
von  Broussais,  der  an  die  Stelle  der  Reizung  die  Entzündung  setzte 
und  die  Theorie  durch  die  pathologische  Anatomie  stützen  wollte,  und 
von  Rasori,  welcher  die  für  die  kalten  torpiden  Naturen  des  Nordens 


Die  medicin.  Systeme  u.  die  Fortschritte  in  der  Anatomie  u.  Physiologie.     383 


berechnete  Lehre  Browns  den  Verhältnissen  seiner  südländischen 
Heimath  anpasste,  erweitert  und  ausgearbeitet.  Sie  erlangte  eine  grosse 
Verbreitung,  wurde  aber  ebenso  rasch  wieder  aufgegeben,  als  ihre  Halt- 
losigkeit nachgewiesen  worden  war. 

Der  wissenschaftlichen  Forschung  stand  sie  kalt  und  gleichgültig 
gegenüber,  die  praktische  Heilkunst  belastete  sie  mit  einer  vielgeschäf- 
tigen Polypharmacie,  die  häufig  mehr  Schaden  als  Nutzen  stiftete. 

Einen  tieferen  Gehalt  hatte  der  Vitalismus,  welcher  mit  der  Er- 
regungstheorie um  die  Herrschaft  in  der  Medicin  rang  und  schliesslich 
den  Sieg  davontrug.  Derselbe  nahm  von  Montpellier  seinen  Ausgang 
und  erinnerte  in  manchen  Beziehungen  an  den  Animismus  Stahl's; 
doch  unterschied  er  sich  von  dem  letzteren  in  vortheilhafter  Weise  da- 
durch, dass  er  über  dem  die  Ordnung  und  Harmonie  im  Organismus 
schaffenden  allgemeinen  Lebensprincip  keineswegs  das  Studium  der 
einzelnen  Verrichtungen  und  Theile  des  Körpers  vernachlässigte  und 
nicht,  wie  jener,  die  Seele  zur  Erklärung  aller,  auch  der  einfachsten 
Lebensvorgänge  benutzte,  sondern  nur  dann  darauf  zurückging,  wenn 
er  die  letzten  treibenden  Ursachen  im  thierischen  Organismus  bezeichnen 
wollte.  Er  verlangte  nicht,  auf  dem  Gemälde  der  Medicin  die  Haupt- 
figur zu  sein,  sondern  begnügte  sich  damit,  als  Grundton  verwendet 
zu  werden.  Seine  Vertreter,  zu  denen  in  Frankreich  Forscher  wie 
Bordeu,  Barthez,  Grimaud,  Pinel,  Bichat,  Chaussier  u.  A.,  in  Eng- 
land Erasmus  Darwin,  in  Deutschland  Blumenbach,  J.  C.  Reil  u.  A. 
gehörten,  standen  an  der  Spitze  der  wissenschaftlichen  Bestrebungen 
und  lieferten  durch  ihre  Leistungen  den  Beweis,  dass  der  Vitalismus 
den  Fortschritt  nicht  hemmte.  Dadurch  erklärt  es  sich  zum  grossen 
Theile,  dass  er  auch  fortdauerte,  als  in  Deutschland  die  Naturphilosophie 
und  in  Frankreich  die  physiologische  Schule  die  Medicin  beherrschte. 

Doch  hatte  er  auch  einzelne  Verirrungen  im  Gefolge,  namentlich 
auf  dem  Felde  der  Therapie.  Der  Mesmerismus  sowohl  wie  die  Ho- 
möopathie behaupteten,  dass  ihre  Behandlungs-Methode  unmittelbar  auf 
die  Lebenskraft  einwirke.  Wenn  sie  damit  Heilerfolge  erzielten,  so 
beruhte  dies  in  dem  ersten  Falle  wohl  hauptsächlich  auf  den  Erschei- 
nungen des  Hypnotismus,  der  Metallotherapie  u.  a.,  welche  erst  in 
neuester  Zeit  einer  sorgfältigen  Beobachtung  unterzogen  wurden,  bei 
der  Homöopathie  auf  den  Wirkungen  der  im  Körper  vorhandenen  regu- 
latorischen Vorrichtungen. 

Der  Vitalismus  verlor  den  Boden,  als  es  gelang,  die  complicirten 
Lebensprozesse  in  die  einzelnen  Faktoren  aufzulösen  und  nach  den 
allgemeinen  Naturgesetzen  zu  erklären. 

Die  empirische  Forschung,    welche   alle  erleuchteten   Geister   seit 


384  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Aeistoteles  als  die  einzige  Quelle  der  Erkenntniss  gepriesen  hatten 
wurde  allmälig  die  Losung  des  Tages,  und  man  sah  davon  ab,  medi- 
cinische Systeme  zu  ersinnen,  an  denen  die  Thatsachen  gewöhnlich  nur 
geringen,  die  Hypothesen  und  Spekulationen  den  grössten  Antheil 
hatten.  Wenn  in  der  Geschichte  der  Medicin  des  19.  Jahrhunderts 
zuweilen  eine  besondere  "Richtung  der  Forschung,  z.  B.  die  Physiologie, 
die  pathologische  Anatomie  und  in  jüngster  Zeit  die  Hygiene,  in  den 
Vordergrund  trat  und  die  Entwickelung  der  gesammten  Wissenschaft 
beeinflusste,  so  lag  dies  nicht  an  einer  willkürlichen  Systemsucht, 
sondern  ergab  sich  aus  der  Erfahrung,  dass  die  Bearbeitung  dieses 
einzelnen  Feldes  die  reichsten  Früchte  für  das  Ganze  trug. 

Es  ist  hier  nicht  meine  Aufgabe,  alle  Entdeckungen  und  Fort- 
schritte in  den  einzelnen  Disciplinen  der  Heilkunde,  welche  in  unserem 
Jahrhundert  stattgefunden  haben,  aufzuzählen.  Ich  darf  mich  darauf 
beschränken,  die  grossen  Errungenschaften  der  Medicin  anzuführen,  und 
muss  es  mir  versagen,  jeden  der  Steine  zu  beschreiben,  welche  sich  zu 
dem  Mosaikbilde  der  Gegenwart  zusammensetzen. 

Der  anatomische  Bau  des  menschlichen  Körpers  war  im  Allge- 
meinen der  Wissenschaft  bereits  erschlossen,  als  diese  Periode  begann; 
es  handelte  sich  nur  noch  darum,  die  Lücken  in  der  Kenntniss  ein- 
zelner Gebiete,  namentlich  in  Bezug  auf  das  Gefäss-  und  Nervensystem 
und  die  Sinnesorgane,  zu  ergänzen.  Ferner  galt  es,  über  die  feinere 
Struktur  der  Organe,  welche  nach  der  Verbesserung  der  Mikroskope 
und  der  Einführung  neuer  technischer  Hilfsmittel  mit  grösserer  Aus- 
sicht auf  Erfolg  untersucht  werden  konnte,  eine  klare  Einsicht  zu  ge- 
winnen. 

Ausserdem  versuchte  man,  die  Anatomie  von  einem  anderen  als 
dem  reinen  descriptiven  Gesichtspunkt  zu  betrachten.  Die  einzelnen 
Theile  und  Organe  des  Körpers  wurden  nach  den  verschiedenen  Ge- 
genden geordnet,  in  ihrer  gegenseitigen  Lagerung  studiert  und  die  Be- 
deutung dieser  Verhältnisse  für  die  Chirurgie  erörtert. 

Neben  der  Bearbeitung  der  topographischen  und  chirurgischen 
Anatomie  wurde  ferner  der  Einfluss  der  Entwickelungsgeschichte  auf 
die  Form  und  Gestaltung  der  Theile  des  Körpers  untersucht  und  auf 
diese  Weise  die  eigentlich -morphologische  Betrachtung  der  Anatomie 
angebahnt.  Während  für  die  vergleichende  Anatomie  zwischen  dem 
Menschen  und  den  Thieren  bereits  ein  reiches  Wissens-Material  vorlag, 
welches  beständig  vermehrt  wurde,  begann  man  jetzt  auch,  den  Eigen- 
tümlichkeiten und  Verschiedenheiten  der  menschlichen  Kassen  die 
Aufmerksamkeit  zuzuwenden  und  dadurch  den  Grund  zur  wissenschaft- 
lichen Behandlung  der  Anthropologie  zu  legen. 


DU  mediein.  Systeme  u.  die  Fortschritte  in  der  Anatomie  u.  Physiologie.     385 


Zu  den  hervorragendsten  Anatomen,  welche  am  ScMuss  des  vorigen 
Jahrhunderts  lebten,  gehörte  Th.  Soemmering.  Seine  wissenschaftliche 
Thätigkeit  umfasste  die  verschiedenen  Richtungen,  in  denen  sich  damals 
die  anatomische  Forschung  bewegte.  Schon  seine  Inaugural-Dissertation 
über  die  Basis  des  Gehirns  war  eine  Arbeit  von  bleibendem  Werth. 
Er  hat  die  Erwartungen,  die  er  darnach  erregte,  in  vollem  Maass  er- 
füllt. Seine  vortrefflichen  Abbildungen  des  Auges  und  der  übrigen 
Sinnesorgane,  seine  lichtvolle  Darstellung  des  anatomischen  Baues  des 
menschlichen  Körpers,  seine  Untersuchungen  über  die  körperlichen 
Verschiedenheiten  des  Negers  und  des  Europäers  und  seine  embryolo- 
gischen Schriften  haben  die  Wissenschaft  in  verschiedener  Hinsicht  ge- 
fördert. Er  machte  auch  bereits  den  Versuch,  die  Entstehung  der 
Missbildungen  aus  der  Entwickelungsgeschichte  zu  erklären. 

Die  descriptive  Anatomie  erfuhr  im  Verlauf  der  letzten  hundert 
Jahre  werthvolle  Bereicherungen  des  Inhalts  und  durch  ihre  Verbindung 
mit  der  Entwickelungsgeschichte  und  der  vergleichenden  Anatomie  eine 
grössere  wissenschaftliche  Vertiefung. 

Die  Osteologie  war  in  ihrem  makroskopischen  Theile  zu  einem 
gewiseen  Abschluss  gelangt.  Soemmering  versuchte  die  Formen  eines 
idealen  weiblichen  Skeletts  festzustellen,  wie  es  S.  Albinus  für  das 
männliche  Skelett  gethan  hatte;  er  benutzte  dazu  die  Leiche  eines 
wunderbar  schönen  Mädchens  von  20  Jahren  aus  Mainz,  welche  der 
anatomischen  Anstalt  übergeben  worden  war,  und  verglich  damit  die 
vollendeten  Verhältnisse  der  Antike,  ähnlich  wie  Albinus  die  Gestalt 
des  Apoll  von  Belvedere  seinör  Zeichnung  zu  Grunde  gelegt  hatte.1 
In  der  Myologie  galt  es,  die  Ursprünge  und  Ansätze  der  Muskeln,  ihre 
Lagerung  und  Betheiligung  an  dem  Bau  einzelner  Organe  und  das  Vor- 
kommen etwaiger  Varietäten  zu  beobachten.  Die  meisten  Ergänzungen 
bedurfte  die  Lehre  von  den  Gewissen  und  Nerven.  Die  erstere  wurde 
von  Mascagni,  G.  Breschet,  J.  und  Ch.  Bell,  Tiedemann,  Berres, 
V.  Fohmann  u.  A.  in  erfolgreicher  Weise  bearbeitet.  Die  letztere  ver- 
dankte ihre  bedeutendsten  Fortschritte  Ant.  Scarpa,  welcher  den 
Nervus  nasopalatinus  zuerst  beschrieb  und  neue  Aufschlüsse  über  den 
Verlauf  der  Gehirnnerven  und  über  die  Struktur  der  Nerven  und  der 
Sinnesorgane  gab,  Charles  Bell,  der  eine  umfassende  Darstellung 
des  Gehirns  und  Nervensystems  lieferte,  Emil  Huschke  und  Benedict 
Stilling-,  deren  bewunderungswürdige  Arbeiten  über  die  Faserung  des 
Gehirns  und  Rückenmarks  den  Ausgangspunkt  der  späteren  Forschungen 
über  diesen  Gegenstand  bildeten. 

1  Rud.  Wagner:  Soemmerings  Leben  und  Verkehr  mit  seinen  Zeitgenossen, 
Leipzig  1844,  II,  59. 

Puschmann,   Unterricht.  25 


386  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Die  Untersuchungen  über  den  feineren  Bau  der  einzelnen  Theile 
des  Körpers  führten  zur  Begründung  eines  neuen  Wissenszweiges,  der 
Gewebelehre,  durch  Bichat.  Schon  in  seiner  Dissertation  über  die 
Membranen,  welche  vielleicht  an  die  dasselbe  Thema  behandelnde 
Schrift  von  A.  Bonn  anknüpfte,  hauptsächlich  aber  in  seiner  allgemeinen 
Anatomie  erörterte  er,  dass  der  Körper  aus  verschiedenen  Arten  von 
Geweben  zusammengesetzt  ist,  und  schilderte  deren  Eigentümlichkeiten 
und  Vertheilung. 

Diese  Beobachtungen  waren  nicht  blos  für  die  Anatomie,  sondern 
auch  für  die  Pathologie  von  grosser  Bedeutung;  denn  sie  beleuchteten 
die  Entstehung  und  Verbreitung  der  Krankheiten  von  einer  Seite,  an 
die  man  bis  dahin  noch  gar  nicht  gedacht  hatte. 

Die  Verbesserungen  der  optischen  Hilfsmittel,  und  besonders  die 
Herstellung  achromatischer  Mikroskope,  ermöglichten  die  gründliche 
Erforschung  der  Textur  der  Gewebe.  Die  Ergebnisse  dieser  Unter- 
suchungen, denen  Schwanns  Entdeckung  der  thierischen  Zelle  eine 
histogenetische  Richtung  gab,  betrafen  alle  Organe  des  Körpers  und 
boten  die  Grundlagen  zu  einem  vollständigen  Lehrgebäude  der  mikro- 
skopischen Anatomie,  an  dessen  Aufrichtung  und  weiterem  Ausbau  sich 
nach  Joh.  Müllee,  Eheenbeeg,  Puekinje,  Henle,  B.  Wagnee,  Valentin 
und  Max  Schultze  nahezu  alle  hervorragenden  Anatomen  dieses  Jahr- 
hunderts betheiligt  haben. 

Die  Lehre  von  der  Entstehung  und  Entwicklung  des  menschlichen 
Embryo  erhielt  in  den  Thatsachen  der  allgemeinen  Entwicklungs- 
geschichte und  vergleichenden  Anatomie  und  Zoogenese  ein  werthvolles 
wissenschaftliches  Material.  Auf  die  Arbeiten  Pandees  und  Baees. 
welche  Köllikee   „als  das  Beste  bezeichnet,    was  die  embryologische 


Literatur  aller  Zeiten  und  Völker  aufzuweisen  hat",1  folgte  die  Ent- 
deckung des  Keimbläschens  durch  Puekinje  und  des  Keimfiecks  durch 
Bud.  Wagnee. 

Zahlreiche  Beobachtungen  hervorragender  Forscher,  unter  denen 
hier  nur  Heine.  Rathke,  Beicheet,  Th.  Bischoff  und  Rob.  Kemak 
genannt  werden  sollen,  beschäftigten  sich  dann  mit  den  Vorgängen  der 
Zeugung  und  allmäligen  Bildung  der  menschlichen  Frucht  und  brachten 
eine  befriedigende  Lösung  der  meisten  dieser  ungemein  schwierigen 
Fragen. 

Eine  tieissige  und  erfolgreiche  Bearbeitung  erfuhr  die  vergleichende 
Anatomie.  J.  F.  Blumenbach,  welcher  sich  zuerst  der  Aufgabe  unter- 
zog, die  anatomischen  Verschiedenheiten  zwischen  den  einzelnen  mensch- 


1  A.  Kölliker:  Grundriss  der  Entwicklungsgeschichte,  Leipzig  1884,   p.  3. 


Die  medicin.  Systeme  u.  die  Fortschritte  in  der  Anatomie  u.  Physiologie.     387 

liehen  Rassen,  besonders  den  Europäern,  Negern  und  Indianern  und 
den  anthropoiden  Affen  festzustellen,  und  dabei  auch  die  Ergebnisse 
berücksichtigte,  zu  denen  die  Betrachtung  der  Bildwerke  des  Alter thums 
und  die  Sektionen  mehrerer  ägyptischen  Mumien  führte,  sammelte  alle 
Thatsachen  der  vergleichenden  Anatomie,  welche  von  früheren  Forschern 
in  der  Literatur  niedergelegt  worden  waren,  und  vermehrte  sie  durch 
eine  Menge  eigener  Erfahrungen.  So  fand  er  z.  B.  bei  der  Zergliederung 
eines  Seehund-iUiges,  dass  sich  die  Axe  desselben  leicht  verlängern 
oder  verkürzen  lässt,  damit  das  Thier  in  Medien  von  so  verschiedener 
Dichtigkeit,  wie  die  Luft  und  das  Wasser,  deutlich  sehen  kann.1 
Seine  berühmte  Sammlung  von  Schädeln  verschiedener  Nationen  gab 
die  Anregung   zum  Studium  dieses  wichtigen  Theiles  der  Ethnologie. 

Die  vergleichende  Anatomie  errang  dann  eine  Reihe  bedeutender 
Erfolge  und  bildete  bis  in  die  neueste  Zeit  eine  unerschöpfliche  Quelle 
der  Forschung.  Die  rasch  auf  einander  folgenden  Entdeckungen  be- 
fruchteten die  Zoologie,  die  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte 
und  tragen  hauptsächlich  zur  Begründung  der  tiefen  morphologischen 
Auffassung  des  organischen  Lebens  bei,  welche  gegenwärtig  diese  Dis- 
ciplinen  beherrscht. 

Auch  die  Verwerthung  der  Anatomie  für  die  bildende  Kunst  und 
die  Bearbeitung  derselben  für  die  Zwecke  der  Chirurgie,  wie  sie  von 
Malacaene,  Feoeiep,  Velpeau,  Rosenmüllee,  T.  Boyee  u.  A.  unter- 
nommen wurde,  erzielte  beachtenswerthe  Ergebnisse. 

Weit  mehr  in  die  Augen  fallend  waren  die  Fortschritte,  welche 
die  Physiologie  in  unserm  Jahrhundert  gemacht  hat.  Aus  einem  noch 
grösstenteils  auf  Spekulationen  und  Hypothesen  aufgebauten,  von 
mystischen,  teleologischen  und  vitalistischen  Ideen  beherrschten  Lehr- 
system ist  sie  eine  wirkliche  Naturwissenschaft  geworden,  deren  That- 
sachen sich  auf  mathematische  und  physikalische  Gesetze,  chemische 
Vorgänge  und  anatomische  Beobachtungen  stützen  und  durch  das  Ex- 
periment bewiesen  worden  sind. 

An  die  Stelle  der  vieldeutigen  Lebenskraft,  deren  Name  einst  die 
grosse  Lücke  in  der  Kenntniss  des  organischen  Lebens  verdecken 
musste,  sind  die  einzelnen  physiologischen  Funktionen  des  mensch- 
lichen Körpers  getreten,  deren  Bedeutung  für  den  Lebensprozess  durch 
die  Beobachtung  und  den  Versuch  festgestellt  und  controllirt  wurden. 
Erreicht  wurde  dies  mit  Hilfe  der  verbesserten  Technik  der  Unter- 
suchungsmethoden, welche  durch  die  Erfindung  und  Anwendung  zweck- 


1  K.  F.  H,  Marx  in  den  Sitzungsber.  d.  Gröttinger  Soc.  d.  Wissensch.  vom 
8.  Februar  1840,  S.  22. 

25* 


388  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


entsprechender  Apparate  ermöglicht  und  durch  die  grössere  Exaktheit 
in  der  Stellung  und  Lösung  der  Fragen  und  die  Berücksichtigung  der 
scheinbar  nebensächlichen  Dinge  begünstigt  wurde. 

Das  Experiment  kam  zur  vollen  Geltung,  und  Magendie,  Flourens, 
Cl.  Bernard  und  die  grosse  Zahl  der  deutschen  Forscher  würdigten 
vollständig  die  Bedeutung  dieses  wichtigen  Hilfsmittels  der  Unter- 
suchung. 

Die  Chemie  bot  Aufschluss  über  die  chemische  Zusammensetzung 
des  Körpers  und  seiner  einzelnen  Bestandteile.  Die  Untersuchung  der 
verschiedenen  Gewebe  und  Flüssigkeiten  des  Körpers,  namentlich  des 
Blutes  und  Harns,  führte  zu  einer  neuen  Auffassung  des  menschlichen 
Organismus  und  seiner  Lebensäusserungen.  Dabei  gewann  man  einen 
Einblick  in  den  Chemismus  der  Ernährung  und  lernte  die  Rolle  ver- 
stehen, welche  die  Eiweisskörper,  die  Kohlehydrate  und  Fette  in  der 
Ökonomie  des  menschlichen  Körpers  spielen. 

Die  Beziehungen  zwischen  den  Einnahmen  und  Abgaben  des  Kör- 
pers, der  Stoffwechsel,  die  Blutbereitung,  die  Bildung  der  Sekrete  und 
Exkrete,  die  Entstehung  der  Körperwärme  u.  a,  m.  erhielten  durch  die 
Arbeiten  eines  Liebig,  Wöhler,  Dumas,  Gmelin  und  ihrer  Schüler 
und  Nachfolger  eine  eigenthümliche  Beleuchtung.  Die  Lehre  von  der 
Verdauung  wurde  namentlich  von  Magendie,  Gmelin,  J.  N.  Eberle, 
Helm,  Beaumont,  Blondlot,  deren  Versuche  mit  Magensaft  zu  wich- 
tigen Ergebnissen  führten,  Cl.  Bernard,  welcher  die  Wirkung  des 
pankreatischen  Saftes  auf  die  Fette  untersuchte  und  die  Zuckerbildung 
in  der  Leber  entdeckte,  und  vielen  anderen  ausgezeichneten  Forschern 
bearbeitet. 

Dutrochet  verwendete  die  vom  Abbe  Nollet  entdeckte  Endos- 
mose zur  Erklärung  der  Vorgänge  der  Resorption  und  Absonderung 
und  studierte  die  Diffusionsverhältnisse  der  verschiedenen  thierischen 
Gewebe. 

Andral  und  Gavarret,  Becquerel,  Scherer,  Nasse,  Lehmann 
u.  A.  beschäftigten  sich  mit  der  Physiologie  des  Blutes.  Die  Zusammen- 
setzung und  die  Farbstoffe  desselben,  die  Blutkörperchen,  die  Gerinnung 
u.  a.  m.  wurde  untersucht  und  die  physikalischen  Verhältnisse  der  Blut- 
bewegung in  den  Gefässen,  der  Blutdruck,  die  Mechanik  der  Herzpumpe 
und  die  ganze  Einrichtung  des  Herzens  und  die  Erscheinungen  des 
Pulses  mit  Hilfe  zweckmässig  construirter  Apparate  der  wissenschaft- 
lichen Kenntniss  erschlossen. 

Neben  den  Arbeiten  von  E.  H.  Weber,  Volkmann,  Flourens  u.  A., 
welche  sich  auf  diesem  Gebiet  hervorragende  Verdienste  erwarben,  muss 
hier  auch  der  wichtigen  Untersuchungen  über  den  Einfluss  des  Nerven- 


Die  medioin.  Systeme  u.  die  Fortschritte  in  der  Anatomie  u.  Physiologie.     389 


Systems  auf  die  Herzthätigkeit  und  das  Gefässsystem  gedacht  werden. 
Eduard  Weber  wies  auf  die  Rolle  hin,  welche  der  Vagus  bei  der 
Regulirung  der  Herzbewegung  spielt;  später  erkannte  man,  dass  es  sich 
dabei  eigentlich  um  Fasern  des  Accessorius  handelt.  Cl.  Bernard 
entdeckte  die  vasomotorischen  Eigenschaften  des  Hals-Sympathicus  und 
gab  dadurch  vielleicht  Veranlassung  zu  Untersuchungen,  welche  zur 
Auffindung  des  vasomotorischen  Centrums  in  der  Medulla  oblongata 
führten. 

Das  Centrum  der  Respirationsbewegungen,  der  Point  vital,  wurde 
1837  von  Flourens  entdeckt,  nachdem  schon  Legallois  auf  die  Be- 
deutung des  verlängerten  Marks  für  die  Athmung  aufmerksam  gemacht 
hatte.  Andere  Forscher  erläuterten  den  Mechanismus  der  Respiration 
und  die  Funktionen  der  dabei  betheiligten  Muskeln,  sowie  den  Gas- 
austausch in  den  Lungen  und  die  Beziehungen  desselben  zur  Färbung 
des  Blutes,  und  suchten  die  Kraft,  welche  die  Lunge  bei  der  Inspiration 
und  Exspiration  entfaltet,  und  die  Menge  von  Luft,  die  dabei  verwendet 
wird,  zu  messen.  Die  Begründung  der  Spirometrie  und  der  Manometrie 
der  Lunge,  welche  manche  Anhaltspunkte  für  die  Diagnostik  der  Er- 
krankungen dieses  Organs  bietet,  geschah  vorzugsweise  durch  John 
Hutchinson  und  Waldenburg. 

Die  Bewegungserscheinungen  regten  ebenfalls  zu  eingehenden  Stu- 
dien an.  Die  Flimmerbewegung,  welche  man  früher  auf  niedere  Thiere 
beschränkt  glaubte,  wurde  von  Purkinje  auch  im  menschlichen  Körper 
beobachtet,  während  die  Vorgänge  der  Molekularbewegung  erst  in 
neuester  Zeit  in  den  Kreis  der  Betrachtung  gezogen  wurden. 

Die  Mechanik  der  menschlichen  Gehwerkzeuge  erhielt  durch  die 
Brüder  Eduard  und  Wilhelm  Weber  eine  nahezu  erschöpfende  Dar- 
stellung. 

Die  Entdeckung  des  Muskelstromes  lenkte  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  chemischen  und  physikalischen  Vorgänge,  welche  im  Innern  des 
Muskels  stattfinden.  Desgleichen  stellte  auch  die  Nerven -Elektricität 
eine  Menge  von  Aufgaben,  deren  Lösung  die  Denker  und  Forscher  bis 
heut  in  Anspruch  nimmt.1  Welche  Bedeutung  das  von  Jul.  Rob. 
Mayer  entdeckte  Gesetz  der  Erhaltung  und  Umwandelung  der  Kraft 
für  die  Beurtheilung  der  Leistungen  des  Organismus  hatte,  habe  ich 
schon  früher  angedeutet. 

Im  J.  1811  machte  Charles  Bell  die  schon  von  Galen  geahnte 
anatomische  Verschiedenheit  der  motorischen  und  sensibeln  Nerven  zu 


1  E.  du  Bois-Reymond:  Untersuchungen  über  thierische  Elektricität  Berlin 
1848,  Bd.  I,  S.  29  u.  ff. 


390  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


einer  wissenschaftlichen  Thatsache,  indem  er  den  Nachweis  lieferte,. 
dass  die  ersteren  aus  den  vorderen,  die  letzteren  aus  den  hinteren 
Rückenmarks -Wurzeln  entspringen.  Er  kam  auf  diese  für  die  Nerven- 
Plrysiologie  ausserordentlich  wichtige  Entdeckung  durch  die  Vergleichung 
mit  dem  anatomischen  und  physiologischen  Verhalten  der  Gehirnnervenr 
besonders  der  einzelnen  Äste  des  Trigeminus,  deren  Analogie  mit  den 
Rückenmarks-Nerven  schon  von  Soemmeeino  und  Peochaska  bemerkt 
wurde.  Maoendie,  namentlich  aber  Johannes  Müller  bestätigten 
Bell's  Gesetz  durch  überzeugende  Versuche. 

Daran  schloss  sich  die  bereits  von  Caetesius  aufgestellte  und  von 
Peochaska  ausgesprochene  Lehre  von  den  Reflexbewegungen ,  welche 
Marshall  Hall  1833  durch  Beobachtungen  wissenschaftlich  begründete 
und  Joh.  Müllee  in  einzelnen  Punkten  berichtigte  und  in  klarer,  ver- 
ständlicher Weise  darstellte. 

Die  Funktionen  der  einzelnen  Nerven  und  die  Bedeutung  der  ver- 
schiedenen nervösen  Gebilde,  z.  B.  der  Ganglien,  wurden  durch  Ver- 
suche festgestellt.  Auch  wagte  man  sich  an  die  Lösung  der  schwierigen 
Probleme,  welche  die  Physiologie  des  Central -Nervensystems  bietet. 
F.  J.  Gall  glaubte,  bei  der  Untersuchung  und  Vergleichung  der 
Schädel  von  Personen,  welche  bestimmte  Eigenschaften  des  Geistes  und 
Charakters  besitzen,  die  Beobachtung  gemacht  zu  haben,  dass  gewisse 
Stellen  stärker  hervorragen.  Indem  er  an  die  alte  Theorie  der  Lokali- 
sation der  Seelenvermögen  anknüpfte,  folgerte  er,  dass  die  geistigen 
Centren  im  Gehirn  lokal  begrenzt  seien  und  sich  durch  grössere  Wöl- 
bungen des  Schädels  an  einzelnen  Stellen  seiner  Oberfläche  erkennen 
lassen. 

Obwohl  er  bemüht  war,  diese  Hypothese  durch  anatomische  Unter- 
suchungen zu  stützen,  so  behauptete  doch  die  Spekulation  dabei  einen 
überwiegenden  Einfluss.  Seine  Aufstellung  und  Vertheilung  der  Seelen- 
vermögen war  willkürlich,  und  seine  Annahme,  dass  sich  dieselben 
durch  Merkmale  an  der  Oberfläche  des  Schädels  äussern,  gänzlich  un- 
berechtigt. Trotzdem  muss  ihm  das  Verdienst  zugestanden  werden,  die 
anatomische  LTntersuchung  des  Gehirns  gefördert  und  zur  wissenschaft- 
lichen Bearbeitung  der  Kranioskopie  angeregt  zu  haben,  welche  dann 
von  C.  G.  Caeüs,  Huschke  u.  A.  mit  vielem  Erfolg  unternommen  wurde. 

Erst  den  verbesserten  Untersuchungs- Methoden  der  neuesten  Zeit 
ist  es  gelungen,  einiges  Licht  in  das  dunkele  Gebiet  der  Physiologie 
des  Gehirns  zu  bringen.  Mit  Hilfe  derselben  konnte  der  Verlauf  der 
Nervenfasern  im  Gehirn  und  Rückenmark  genau  verfolgt,  ihre  Bethei- 
ligung an  den  einzelnen  Theilen  derselben  festgestellt  und  der  feinere 
Bau  der  grauen  Substanz  und  die  verschiedenartige  Form  ihrer  Zellen 


Diagnostik, paiJiolog.  Anatomie  u.  experimentelle  Pathologie,  Nosologie  etc.   391 

erkannt  werden,  während  man  gleichzeitig  durch  Versuche  an  lebenden 
Thieren,  welche  die  lokal  begrenzte  Nekrotisirung  und  die  dadurch  er- 
zeugte Aufhebung  der  Lebensäusserungen  gewisser  Partien  des  Central- 
Nervensystems  zum  Zweck  hatten,  deren  Funktionen  zu  erforschen 
suchte  und  mit  den  Ergebnissen  die  Beobachtungen  am  Krankenbett 
und  die  pathologischen  Befunde  der  Sektionen  verglich. 

Auch  die  Physiologie  der  Sinnesorgane  wurde  fleissig  bearbeitet. 
Die  Entstehung  des  Sehakts,  die  Wahrnehmung  der  Farben,  die  Be- 
deutung der  Licht  empfindenden  Theile  des  Auges,  die  Wirkung  der 
optischen  Medien,  die  Accomodations- Vorrichtungen,  die  entommatischen 
Beobachtungen,  das  binoculäre  Sehen,  die  Horopterfrage  u.  a.  m.  wurden 
eingehend  untersucht  und  durch  zahlreiche  Thatsachen  verständlich 
gemacht.  In  der  gleichen  Weise  wurde  auch  das  Gehör,  der  Geruch, 
Geschmack,  Tastsinn  und  das  Gemeingefühl  in  ihren  Einzelnheiten 
studiert  und  der  wissenschaftlichen  Erkenntniss  erschlossen. 

Die  physiologische  Forschung  hat  aber  nicht  blos  die  Aufgabe,  die 
Funktionen  und  Gesetze  des  gesunden  menschlichen  Organismus  auf- 
zufinden und  zu  erklären,  nahezu  vollständig  gelöst;  sie  hat  auch  eine 
Menge  von  Beobachtungen  zu  Tage  gefördert,  welche  die  Deutung  der 
Erscheinungen  des  kranken  Körpers  vorbereitet  und  ermöglicht  haben. 


Diagnostik,  pathologische  Anatomie  und  experimentelle 
Pathologie,  Nosologie  und  Heilmittellehre. 

Die  Lehre  von  der  Krankheit,  die  Pathologie,  machte  ähnliche 
Entwickelungsstadien  durch,  wie  die  Physiologie.  Nachdem  man  die 
Aussichtslosigkeit  der  Versuche,  das  Wesen  der  Krankheit  durch  kühne, 
aber  wenig  begründete  Hypothesen  und  philosophische  Spekulationen 
zu  erfassen,  erkannt  hatte,  schlug  man  auch  hier  die  analytische  Me- 
thode ein  und  begann  mit  der  Feststellung  und  Erforschung  der  ein- 
zelnen Thatsachen,  welche  das  Krankheitsbild  zusammensetzen. 

Die  Vervollkommnung  der  diagnostischen  Hilfsmittel  gestattete 
ein  tieferes  und  gründlicheres  Studium  der  Krankheitserscheinungen, 
und  der  mächtige  Aufschwung  der  pathologischen  Anatomie  versprach 
Aufschluss  über  die  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Veränderungen  des 
Körpers  zu  geben.  Durch  die  Vergleichung  der  Beobachtungen  am 
Kranken  mit  den  Sektionsresultaten  gewann  man  allmälig  mehr  Klar- 
heit über  die  Entwickeluno-  und  das  Wesen  der  meisten  Krankheiten. 


392  Der  medicinisohe   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Die  technischen  Fortschritte  in  der  Diagnostik  waren  hauptsächlich 
der  Physik  und  Chemie  zu  verdanken.  Die  Percussion  wurde  im  vo- 
rigen Jahrhundert  nur  von  Wenigen,  wie  z.  B.  M.  Stoll,  geübt;  sie 
gerieth  nahezu  gänzlich  in  Vergessenheit  und  erhielt  erst  durch  Cor- 
visart  den  ihr  gebührenden  Platz  unter  den  am  Krankenbett  gebräuch- 
lichen diagnostischen  Hilfsmitteln.  Auf  Auenbeugger's  verschollene 
Schrift  aufmerksam  gemacht,  prüfte  er  durch  20  Jahre  die  dort  nieder- 
gelegten Beobachtungen,  berichtigte  und  ergänzte  sie  durch  seine 
eigenen  Erfahrungen  und  veröffentlichte  dann  sein  berühmtes  Werk 
über  die  Percussion,  in  welchem  er  dem  Verdienst  des  Entdeckers  der- 
selben volle  Gerechtigkeit  widerfahren  liess. 

Die  Percussion  wurde  dann  von  Piorry,  welcher  den  Plessimeter 
einführte,  Wintrich,  der  die  Anwendung  eines  Hammers  empfahl, 
namentlich  aber  von  Skoda,  welcher  den  verschiedenen  Schallerschei- 
nungen eine  richtige  Deutung  gab  und  nach  allen  Richtungen  refor- 
mirend  und  bahnbrechend  wirkte,  Traube  u.  A.  vielfach  verbessert. 

Gleichzeitig  erfuhr  auch  die  Auscultation  eine  Umwandelung  und 
wissenschaftliche  Bearbeitung.  Während  sie  früher  nur  gelegentlich 
und  durch  direktes  Anlegen  des  Ohrs  an  den  Körper  ausgeübt  worden 
war,  entwickelte  sie  sich  seit  Laennec,  der  den  Gebrauch  des  Ste- 
thoskops und  damit  die  Auscultation  mediale  einführte,  zur  systemati- 
schen Untersuchung*- Methode,  welche  bei  der  Diagnostik  der  Krank- 
heiten sehr  häutig  zu  Bath  gezogen  wurde. 

Für  die  Erforschung  der  Erkrankungen  der  Lungen  und  des 
Herzens  wurde  sie  geradezu  unentbehrlich,  da  sie  in  diesen  Fällen  die 
wichtigsten,  manchmal  sogar  die  einzigen  diagnostischen  Stützen  darbot. 
Aber  auch  andere  Gebiete  der  Heilkunde  verdankten  ihr  werthvolle 
Bereicherungen;  so  entdeckten  Lejumeau  de  Kergaradec  und  bald 
nachher  Mayor  durch  die  Auscultation  des  schwangeren  Unterleibes 
die  fötalen  Herztöne  und  boten  damit  ein  Mittel,  um  das  Leben  der 
Frucht  zu  erkennen. 

Ausser  den  physikalischen  Untersuchungs-Methoden,  zu  denen  noch 
die  Mensuration  und  die  in  neuester  Zeit  namentlich  von  Wunderlich 
bearbeitete  Thermometrie  kam,  trugen  auch  die  Chemie  und  die  Mi- 
kroskopie zur  Förderung  der  Diagnostik  sehr  viel  bei.  Das  Vorhanden- 
sein mancher  Krankheiten,  ihre  Schwere,  Zunahme  oder  Abnahme 
konnte  nur  durch  den  chemischen  Nachweis  sicher  gestellt  werden, 
dass  bestimmte  Stoffe  in  einigen  Ausscheidungen,  z.  B.  Eiweiss  oder 
Zucker  im  Harn,  in  eiuer  gewissen  Menge  enthalten  sind,  sich  ver- 
mehren oder  vermindern.  Die  chemische  Analyse  der  pathologischen 
Produkte  erlangte  für  das  Studium  der  Krankheiten,   besonders  aber 


Diagnostik, patholog.  Anatomie  it.  experimentelle  Pathologie,  Nosologie  etc.    393 


für  die  Lehre  von  den  Intoxicationen,  eine  grosse  Bedeutung.  Nicht 
weniger  Beachtung  nahm  in  manchen  Fällen  die  mikroskopische  Unter- 
suchung in  Anspruch,  weil  dadurch  auf  die  Anwesenheit  von  histolo- 
gischen Form-Elementen,  welche  zu  gewissen,  die  Art  des  Leidens  be- 
treffenden Schlüssen  berechtigten,  hingewiesen  wurde. 

Die  sorgfältige  Beobachtung  aller  Krankheits- Symptome  und  die 
gewissenhafte  Berücksichtigung  der  dabei  in  Frage  kommenden  Ver- 
hältnisse war  die  selbstverständliche  Voraussetzung  jeder  Diagnose. 
Auch  die  Sektions-Ergebnisse  und  deren  Beziehungen  zu  den  Krank- 
heitserscheinungen wurden  zu  diesem  Zweck  eifrig  studiert. 

Die  pathologische  Anatomie  erhielt  eine  ungeahnte  Bedeutung  für 
die  Lehre  von  der  Krankheit;  sie  übernahm  gleichsam  die  Controlle 
der  Diagnose.  Sie  entwickelte  sich  unter  dem  Einfluss  der  Arbeiten 
Bichat's  zunächst  in  Frankreich;  zahlreiche  Arbeiten  beschäftigten  sich 
mit  den  allgemeinen  Krankheitszuständen  und  mit  der  speciellen  Pa- 
thologie der  Krankheiten,  für  welche  eine  beachtenswerthe  Summe  von 
Thatsachen  ermittelt  wurde.  Auch  in  England,  wo  J.  Hunter's  An- 
regung fortwirkte,  und  in  Deutschland  widmeten  hervorragende  Anatomen 
und  Kliniker,  wie  P.  Frank,  A.  R.  Vetter,  J.  F.  Meckel,  Lobstein, 
Joh.  Müller  u.  A.  ihre  Aufmerksamkeit  der  pathologischen  Anatomie. 
Ihre  Glanzperiode  begann  aber  erst  mit  Rokitansky,  welcher  das  reiche 
Leichenmaterial  des  Wiener  allgemeinen  Krankenhauses  für  sie  ver- 
werthete.  Im  Besitz  einer  Erfahrung,  wie  sie  Keinem  seiner  Zeitgenossen 
zu  Gebot  stand,  vermochte  er  eine  Reihe  natürlicher,  leicht  auffindbarer 
Typen  der  anatomischen  Veränderungen  aufzustellen,  welche  fast  alle 
wichtigen  Krankheiten  umfassen. 

Während  Rokitansky  das  Verständniss  der  pathologischen  Ana- 
tomie förderte,  vermehrte  er  zugleich  deren  Inhalt  durch  eine  Menge 
von  Entdeckungen  und  vertiefte  sie  durch  die  Untersuchung  der  patho- 
genetischen Beziehungen.  Er  fragte  nicht  blos  nach  dem  Was,  sondern 
auch  nach  dem  Wie  und  Warum  der  pathologischen  Prozesse  und  ver- 
suchte, Einsicht  zu  gewinnen  in  ihre  Ursachen  und  Entwicklung;  er 
war,  wie  Wunderlich  sagt,  bestrebt,  die  pathologische  Anatomie  zu 
einer  anatomischen  Pathologie  zu  machen. 

Die  Cellular-Pathologie,  welche  Virchow  auf  der  Zellentheorie  auf- 
baute, drängte  dann  mehr  und  mehr  zur  Untersuchung  der  feineren 
pathologischen  Veränderungen,  der  mikroskopischen  Formelemente,  und 
führte  zur  Begründung  der  pathologischen  Histologie.  Allerdings  wurden 
später  durch  die  Auffindung  mancher  neuen  Thatsachen  einzelne  morsch 
gewordene  Stützen  der  Cellular-Pathologie  beseitigt;  aber  die  Grundlagen 
blieben  erhalten  und  tragen  das  Lehrgebäude  der  Pathologie  noch  heut. 


394  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Es  gewann  ausserordentlich  an  Festigkeit  und  Sicherheit,  als  das  Ex- 
periment in  die  pathologische  Forschung  eingeführt  wurde.  Cl.  Bernard 
erzeugte  durch  die  Verletzung  einer  bestimmten  Stelle  der  Medulla 
oblongata  die  Zuckerkrankheit.  Durch  die  Darreichung  von  Phosphor 
erkannte  man  die  merkwürdige  Wirkung  desselben  auf  das  Knochen- 
gewebe und  seinen  Zusammenhang  mit  der  Phosphor-Nekrose. 

Die  methodische  Anwendung  des  Experiments  war  ein  grosser 
Fortschritt  für  die  Pathologie;  sie  brachte  viele  wichtige  Fragen 
derselben  zur  Entscheidung  und  schuf  die  Physiologie  des  kranken 
Menschen,  welche  im  Verein  mit  der  pathologischen  Anatomie  die 
Biologie  der  Krankheit  begründete  und  den  Beweis  lieferte,  dass  in  der 
Pathologie  dieselben  Naturgesetze  herrschen  wie  in  der  Plrysiologie  des 
gesunden  Organismus. 

Die  Pathologie  hat  sich  auf  Grund  dieser  Thatsachen  zu  einer 
wirklichen  Naturwissenschaft  entwickelt.  Die  allgemeinen  Krankheits- 
prozesse sowohl  wie  die  Vorgänge,  welche  bei  den  besonderen  Er- 
krankungen der  einzelnen  Organe  stattfinden,  wurden  sorgfältig  unter- 
sucht und  dem  wissenschaftlichen  Verständniss  nahe  gerückt. 

Corvisart  studierte  die  pathologischen  Veränderungen  des  Herzens 
und  der  grossen  Gefässe:  ein  Thema,  welches  dann  auch  von  Hodgson, 
Latham,  Hope,  Stokes,  Bouillaud,  Skoda,  Traube  u.  A.  bearbeitet 
wurde.  Später  wurden  auch  die  Veränderungen  des  Blutes  in  den  Kreis 
der  Betrachtungen  gezogen  und  die  Chlorosis  und  Leukaemie  als  selbst- 
ständige Krankheiten  erkannt. 

G.  L.  Bayle  veröffentlichte  Aufsehen  erregende  Untersuchungen 
über  die  Lungenschwindsucht  und  ihre  Beziehungen  zum  Auftreten 
von  Tuberkeln,  auf  deren  Gleichartigkeit  in  verschiedenen  Organen  er 
hinwies.  Andral,  Schönlein,  Trousseau,  welcher  eine  Schrift  über 
die  Larynx-Phthisis  herausgab  u.  A.  beschäftigten  sich  ebenfalls  mit 
diesem  Gegenstande,  welcher  indessen  erst  in  neuester  Zeit  durch  die 
Entdeckung,  dass  die  Tuberkulose  eine  Infektionskrankheit  ist,  einen 
gewissen  Abschluss  erhalten  hat. 

Bretonneau  begründete  mit  seinem  Werk  über  die  Entzündungen 
der  Schleimhäute  die  Lehre  von  der  Diphtheritis,  deren  Verhältniss  zum 
Katarrh  und  zum  Croup  von  späteren  Forschern  erläutert  wurde.  Die 
Erfindung  des  Kehlkopfspiegels  und  seine  Verwerthung  für  die  ärztliche 
Praxis  brachte  eine  vollständige  Umwälzung  in  der  laryngologischen 
Untersuchung  hervor  und  ermöglichte  eine  grössere  Genauigkeit  in  der 
Beobachtung  und  Behandlung  der  Krankheiten  des  Kehlkopfes.  Um 
dieselbe  Zeit  führte  die  schon  früher  versuchte  Endoskopie  auch  auf 
andern  Gebieten  zu  bemerkenswerthen  Ergebnissen. 


Diagnostik, patholog.  Anatomie,  u.  experimentelle  Pathologie,  Nosologie  etc.    395 


Cruveilhier  und  Rokitansky  gaben  Aufschluss  über  die  Ent- 
stehung und  das  Wesen  des  Ulcus  rotundum  des  Magens;  Petit  und 
Serres,  P.  A.  Louis  u.  A.  begründeten  die  Diagnostik  des  Abdominal- 
Typhus,  und  J.  Rud.  Bischoe  beobachtete  die  typhösen  Darmgeschwüre. 
Die  Pathologie  der  Leber  wurde  vorzugsweise  von  Gr.  Budd,  Annesley, 
Frerichs  und  Anderen  und  diejenige  der  Nieren  von  P.  Rayer,  Bright 
und  Traube  gefördert,  der  auf  den  Zusammenhang  zwischen  den  Er- 
krankungen der  Nieren  und  des  Herzens  aufmerksam  machte.  Addison 
beschrieb  zuerst  die  Degeneration  der  Nebennieren,  und  Basedow  schil- 
derte den  nach  ihm  genannten  Symptomen-Complex. 

Die  Dermatologie  fand  durch  Alibert,  Biett,  Willan,  Bateman, 
C.  H.  Fuchs,  Erasmus  Wilson  und  Ferd.  Hebra,  die  Lehre  von  den 
venerischen  Krankheiten  durch  Baerensprung,  K.  W.  Boeck,  Ricord  u.  A. 
eine  wissenschaftliche  Bearbeitung,  während  die  Pathologie  der  Nerven- 
leiden durch  Yalleix,  Duchenne,  Abercrombie,  Romberg,  Remak  u.  A. 
wissenschaftlich  begründet  wurde. 

Auch  die  Psychiatrie,  welche  sich  schon  sehr  früh  zu  einer  selbst- 
ständigen Disciplin  entwickelte,  wurde  allmälig  von  dem  Wust  mystischer 
Träumereien,  die  in  den  Geisteskrankheiten  Folgen  der  Sünde  oder 
Strafen  Gottes,  jedenfalls  aber  lediglich  psychische  Defekte  sahen,  be- 
freit und  gleich  der  übrigen  Pathologie  auf  eine  somatische  Grundlage 
gestellt.  Diese  schon  von  Pinel,  Esquirol  und  Chiarugi  vertretene 
Richtung  wurde  dann  namentlich  von  Spurzheim,  dem  Anhänger  Galls, 
Reil,  Foville,  Calmeil,  der  mit  seiner  Arbeit  über  die  allgemeine  Para- 
lyse die  Beobachtungen  dieses  Leidens  eröffnete,  durch  die  beiden  Falret, 
Morel,  welcher  der  Ätiologie  der  Seelenstörungen  seine  Aufmerksam- 
keit schenkte,  Schroeder  van  der  Kolk,  Guislain,  Jacobi,  Chr.  F. 
Nasse  und  Griesinger  weiter  verfolgt  und  drang  zunächst  auf  Fest- 
stellung und  strenge  Prüfung  der  Sektionsergebnisse.  Gleichwohl  brachte 
sie  es  nicht  dahin,  dass  die  auf  der  Symptomatologie  beruhenden 
Diagnosen  durch  anatomische  ersetzt  wurden ;  diesen  Versuch  darf  man 
erst  jetzt  wagen,  nachdem  die  Anatomie  und  Physiologie  des  Central- 
Xervensystems  in  ein  helleres  Licht  getreten  ist. 

Auffallender   als    die  Fortschritte  in  der  Pathologie  der   Geistes- 


störungen waren  die  Verbesserungen  in  der  Behandlung  derselben. 
Welche  wohlthätige  Veränderung  ist  auf  diesem  Gebiet  erfolgt  seit  der 
Zeit,  da  man  in  Wien  auf  Befehl  des  menschenfreundlichen  Kaisers 
Josef  IL  den  „Narrenthurm"  erbaute  und  die  Kranken  dort  ebenso  wie 
im  St.  Lukas-Hospital  zu  London  dem  nach  einer  Unterhaltung  lüsternen 
Publikum  zeigte  oder  sie  mit  Verbrechern  zusammen  in  Gefängnissen 
einsperrte  und  mit  der  Peitsche  oder  durch  Fasten  für  ihre  „Tollheiten" 


396  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


bestrafte!  Es  war  eine  der  grössten  Errungenschaften  der  Humanität, 
als  es  Pinel  bei  den  Machthabern  der  französischen  Revolution  durch- 
setzte, dass  die  unglücklichsten  aller  Menschen  von  den  Ketten  befreit 
wurden,  welche  das  religiöse  Vorurtheil  geschmiedet  und  der  ärztliche 
Unverstand  befestigt  hatte. 

Den  Irren  wurde  eine  liebevolle  Pflege  und  zweckmässige  ärztliche 
Behandlung  zu  Theil;  man  errichtete  besondere  Anstalten,  in  denen  sie 
Schutz  und  Aufsicht  fanden.  John  Conolly  verkündete  das  No-restraint- 
System,  nach  welchem  die  mechanischen  Zwangsmittel  aus  der  Be- 
handlung der  Geisteskranken  möglichst  verbannt  wurden,  und  die 
Gründung  von  Irren-Kolonien,  wo  die  Kranken  ähnlich  wie  in  Gheel 
neben  einer  sorgsamen  Aufsicht  und  Pflege  ein  gewisses  Maass  von 
Freiheit  geniessen  und  zu  einer  ihnen  zusagenden  Beschäftigung  an- 
gehalten werden,  bildete  einen  weiteren  Fortschritt  auf  diesem  Wege. 

Auf  keinem  Gebiet  der  Pathologie  waren  die  Veränderungen  jedoch 
grösser  als  in  der  Lehre  von  den  Infektionskrankheiten.  Man  lernte 
mehrere  neue  Krankheitsformen  kennen,  welche  früher  nicht  beachtet 
worden  waren,  und  die  dem  nosologischen  Schema  eingereihten  Leiden 
richtiger  und  genauer,  namentlich  in  Bezug  auf  die  Ätiologie,  unter- 
scheiden. Die  Natur  des  Krankheitsgiftes,  die  Entstehung  desselben 
innerhalb  oder  ausserhalb  des  menschlichen  Körpers,  seine  Entwicklung 
in  verschiedenen  Medien,  sein  Verhältniss  zum  Klima,  Boden  u.  a.  m., 
seine  Dauer  und  Verschleppbarkeit  wurde  sorgfältig  untersucht. 

Die  asiatische  Cholera  überschritt  im  19.  Jahrhundert  die  Grenzen 
ihrer  Heimath  und  verbreitete  sich  über  den  ganzen  Erdball.  Die 
schweren  Verluste  an  Menschenleben,  welche  sie  herbeiführte,  forderten 
die  Ärzte  auf,  die  Ursachen  und  das  Wesen  dieser  Krankheit  zu  er- 
forschen. Dabei  beobachtete  man  die  merkwürdigen  Beziehungen,  welche 
zwischen  ihrer  Entstehung  und  Ausbreitung  und  den  Bodenverhältnissen 
bestehen.  Mit  der  Entdeckung  des  Komma-Bacillus,  welche  vor  Kurzem 
gemacht  wurde,  scheint  man  denn  endlich  den  eigentlichen  Krankheits- 
erreger gefunden  zu  haben. 

Das  Gelbfieber,  welches  mehrere  Male  nach  Europa  verschleppt 
wurde,  wurde  ebenso  wie  andere  exotische  Leiden,  z.  B.  Beriberi,  ein- 
gehend studiert.  Das  epidemische  Auftreten  der  Cerebrospinal-Meningitis 
lenkte  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  auf  diese  früher  unbekannte 
Krankheit.  Gleichzeitig  machten  sich  auch  geläuterte  Anschauungen 
über  viele  andere  Krankheiten  geltend. 

Der  Begriff  des  Typhus,  welcher  früher  eine  hauptsächlich  sympto- 
matologische  Bedeutung  besass  und  zu  einer  den  vorwiegenden  Krank- 
heitserscheinungen   entsprechenden    Eintheilung    in    die    Formen    des 


Diagnostik, patholog.  Anatomie  u.  experimentelle  Pathologie,  Nosologie  etc.    397 

Unterleibs-Typhus,  Gehirn-Typhus,  Pneumo-Typhus  und  Fleck-Typhus 
geführt  hatte,  wurde  vollständig  umgeändert,  als  die  ätiologischen 
Momente  in  den  Vordergrund  traten.  Man  erkannte,  dass  sich  drei 
Krankheiten,  welche  bisher  unter  dem  Namen  Typhus  zusammengefasst 
worden  waren,  nämlich  der  exanthematische  Typhus,  der  Abdominal- 
Typhus  und  Recurrens-  oder  Rückfalls-Typhus,  in  ihrer  Entstehung  und 
Verbreitung  sowohl  als  auch  streng  ontologisch  abgrenzen,  so  dass 
niemals  die  eine  aus  der  andern  entsteht. 

Ebenso  kam  mehr  Klarheit  in  die  Lehre  von  den  fieberhaften 
exan thematischen  Krankheiten.  Die  Beziehungen  der  Masern,  Röthein, 
Blattern,  des  Scharlachs  u.  s.  w.  zu  einander  und  zu  andern  Leiden 
wurden  genau  studiert.  Die  Entdeckung,  dass  die  Kuhpocken  vor  der 
Erkrankung  an  Variola,  wenigstens  für  längere  Zeit,  schützen,  führte 
zu  einer  der  segensreichsten  Erfindungen,  mit  denen  die  Menschheit 
jemals  beglückt  worden  ist.  Sie  bildet  das  unvergängliche  Verdienst 
E.  Jenners;  ihren  Nutzen  kann  nur  Der  leugnen,  welcher  die  Ge- 
schichte der  Pocken  nicht  kennt. 

In  ein  neues  Stadium  trat  die  Pathologie  der  Infektionskrankheiten, 
als  man  den  parasitären  Charakter  einer  Anzahl  derselben  erkannte. 
Die  Beobachtungen  an  einigen  Pflanzenkrankheiten,  sowie  an  der 
Muscardine,  einer  durch  Pilze  verursachten  Erkrankung  der  Seiden- 
raupen, die  Untersuchungen  über  die  Krätzmilbe,  über  die  dem  Favus, 
der  Pityriasis  versicolor,  dem  Herpes  tonsurans  und  andern  Hautleiden 
zu  Grunde  liegenden  Pilze,  über  die  verschiedenen  Enterozoen  des 
menschlichen  Körpers  und  die  Entdeckung  der  Trichina  spiralis  und 
der  durch  sie  erzeugten  Krankheitszustände  gaben  die  Anregung,  dass 
den  Parasiten  und  niederen  Organismen  überhaupt  mehr  Beachtung 
geschenkt  und  ihre  pathogene  Bedeutung  erforscht  wurde.  Auch  die 
Erfahrungen  an  der  Pellagra  und  ähnlichen  durch  den  Genuss  ver- 
dorbener Nahrung  entstandenen  Leiden,  sowie  die  Beobachtungen  der 
Krankheiten,  welche  von  Thieren  auf  Menschen  übertragen  werden, 
wirkten  in  dieser  Richtung. 

Als  man  dann  beim  Milzbrand,  Recurrens,  bei  der  Pyaemie,  beim 
Puerperalfieber,  Erysipel,  der  Osteomyelitis  u.  a.  m.  in  dem  Blut,  sowie  in 
einzelnen  Sekreten  oder  Geweben  mikroskopisch  kleine  Lebewesen,  Pilz- 
formen verschiedener  Art,  auffand,  lag  der  Gedanke  nahe,  in  ihnen  die 
Entstehungsursache  des  Leidens  zu  sehen.  Aber  der  wissenschaftliche 
Nachweis,  dass  diese  niederen  Organismen  wirklich  in  einem  ursäch- 
lichen Zusammenhange  mit  bestimmten  Krankheiten  stehen,  war  erst 
möglich,  nachdem  es  gelungen  war,  diese  Lebewesen  durch  geeignete 
Untersuchungsmethoden  zu  isoliren,  auf  gesunde  Thiere  zu  impfen  und 


398  Der  medicinisohe   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


dadurch  die  betreffende  Krankheit  hervorzurufen.  Diese  Bedingungen  sind 
bisher  allerdings  nur  beim  Milzbrand,  Recurrens,  Erysipelas  malignum, 
bei  der  Diphtherie  und  Cholera  asiatica,  erfüllt  worden;  doch  sprechen 
eine  Menge  von  Thatsachen  und  Wahrscheinlichkeitsgründen  dafür,  dass 
auch  bei  der  Entstehung  und  Verbreitung  der  Tuberkulose,  Lepra,  des 
exanthematischen  und  Abdominal -Typhus,  Scharlachs,  der  septicämischen 
Prozesse,  derMalaria  u.a.m.  pathogene  Bakterien  thätig  sind.  Die  Schwierig- 
keiten, welche  sich  bei  diesen  Untersuchungen  dem  Experiment,  nament- 
lich in  Bezug  auf  die  Wahl  eines  zur  Impfung  geeigneten,  für  die  Krank- 
heit empfänglichen  Thieres,  entgegenstellen,  machen  es  erklärlich,  dass 
die  Resultate  langsam  erreicht  werden.  Die  bis  jetzt  festgestellten 
Thatsachen  haben  der  Ätiologie  einen  tieferen  Gehalt  gegeben,  indem 
sie  die  eigentlichen  Krankheitserreger  ans  Licht  zogen  und  damit  auch 
der  Pathologie  und  Therapie  die  Wege  vorgezeichnet,  welche  sie  künftig 
wandeln  sollen. 

Die  Heilmittellehre  hat  sich  in  den  letzten  Decennien  aus  einer 
pharmaceutischen  Waaren künde  in  die  pharmokodynamische  Wissen- 
schaft umgewandelt,  welche  im  engen  Anschluss  an  die  Physiologie  und 
experimentelle  Pathologie  sich  auf  die  Erfahrungen  am  Krankenbett 
und  die  Versuche  an  lebenden  Thieren  stützt.  Dadurch  konnte  die 
tiefe  Kluft  zwischen  ärztlicher  Theorie  und  Praxis  hier  und  dort  über- 
brückt werden. 

Zu  gleicher  Zeit  wurde  der  Arzneischatz  durch  eine  grosse  Anzahl 
von  Heilmitteln  vermehrt.  Die  Chemie  lehrte  die  Darstellung  der  wirk- 
samen Extraktivstoffe  verschiedener  pflanzlichen  und  thierischen  Sub- 
stanzen, so  dass  dieselben  für  sich  allein  in  der  ärztlichen  Therapie 
angewendet  werden  können,  ohne  dass  zugleich  durch  Beimengungen 
noch  andere,  nicht  beabsichtigte  Wirkungen  herbeigeführt  werden.  So 
wurde  eine  Menge  von  Alkaloiden,  besonders  der  narkotischen  Medica- 
mente entdeckt,  z.  B.  das  Morphium  1804  von  Sertürner  und  gleich- 
zeitig von  Seguin,  das  Cantharidin  1812  von  Robiquet,  das  Strychnin 
1818  und  das  Chinin  1820  von  Pelletier  und  Caventon,  das  Veratrin 
1818  von  Meissner,  das  Coffein  1820  von  Runge,  das  Solanin  1821  von 
Deseosses,  das  Coniin  1830  von  Geiger,  das  Atropin  1831  von  Mein, 
das  Aconitin  1833  von  Hesse,  das  Colchicin  von  Geiger  und  Hesse, 
das  Cocain  1859,  das  Cumarin,  Curarin,  Saponin,  Santonin,  Pilocarpin, 
Pepsin,  Pancreatin  u.  a.  m.  und  in  die  Heilkunst  eingeführt. 

Mehrere  andere  Heilmittel,  wie  das  Jod,  welches  1811  von  Courtois 
in  der  Soda  aufgefunden  wurde,  das  Brom,  das  1826  von  Balard  ent- 
deckt wurde,  das  Jodkalium,  Bromkalium,  das  Chloroform,  Jodoform, 
Chloralhydrat,  die  Salicylsäure  und   die  Carbolsäure,    waren  ebenfalls 


Chirurgie,  Augenheilkunde,   Geburtshilfe  und  Staatsarzneikunde.     399 


den  Fortschritten  der  Chemie  zu  verdanken  oder  wurden,  wie  Kamala, 
Kusso,  Cundurango  u.  a.  m.  aus  fremden  Welttheilen  nach  Europa  ge- 
bracht. Man  studierte  dann  ihre  arzneilichen  Wirkungen  auf  den  ge- 
sunden und  kranken  Organismus  und  suchte  die  passendste  Art  ihrer 
Anwendung  ausfindig  zu  machen. 

Auch  in  dieser  Beziehung  hat  die  Heilkunst  im  19.  Jahrhundert 
wichtige  Fortschritte  gemacht;  denn  die  Erfindung  der  subcutanen  In- 
jektionen durch  Peavaz  und  Al.  Wood,  die  Einführung  der  Inhalations- 
Kuren  und  die  Pneumotherapie  mit  ihren  vortrefflichen  Heilapparaten, 
welche  den  erkrankten  Respirationsorganen  die  Luft  in  verdichtetem 
oder  verdünntem  Zustande  übermitteln,  sind  wesentliche  Bereicherungen 
der  therapeutischen  Technik.  Die  wissenschaftliche  Begründung  der 
Balneologie,  Klimatherapie,  Hydrotherapie,  Elektrotherapie  und  der 
schwedischen  Heilgymnastik  sind  ebenfalls  Errungenschaften  unserer  Zeit. 


Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  und 
Staatsarzneikunde. 

Der  Aufschwung  der  pathologischen  Anatomie  und  die  Klärung 
der  pathologischen  Theorien  übten  im  Verein  mit  den  Fortschritten  in 
der  Physik  und  Chemie  auch  auf  die  Chirurgie  einen  mächtigen  Ein- 
fluss  aus. 

Die  Vorgänge  der  Eiterung,  Geschwürsbildung,  Vernarbung,  Re- 
generation der  Gewebe  und  andere  in  das  Gebiet  der  chirurgischen 
Pathologie  fallenden  Fragen  wurden  durch  Beobachtungen  und  Experi- 
mente dem  Verstand niss  erschlossen.  Die  Entwicklung  und  Diagnostik 
der  pathologischen  Neubildungen  beschäftigte  die  Chirurgen  und  die 
pathologischen  Anatomen  im  gleichen  Grade. 

Die  operative  Chirurgie  machte  ebenfalls  bedeutende  Fortschritte. 
Dieselben  bestanden  aber  nicht  so  sehr  in  der  Verbesserung  der  Ope- 
rations-Methoden und  in  der  Erfindung  neuer  Operationen,  als  haupt- 
sächlich darin,  dass  man  zu  der  Einsicht  gelangte,  dass  die  Aufgabe 
des  Chirurgen  nicht  darin  liegt,  erkrankte  Theile  zu  entfernen,  sondern 
wenn  möglich  zu  erhalten.  Dieser  Gedanke  bahnte  die  conservative 
Chirurgie  unserer  Tage  an. 

Er  konnte  nur  verwirklicht  werden  mit  Hilfe  der  anästhesirenden 
Inhalationen,  welche  die  Schmerzen  der  Kranken  während  der  Operation 
und  die  dadurch  hervorgerufene  Reaktion  des  Organismus  beseitigten, 


400  Der  medicinisehe  Unterricht  in  der  nettesten  Zeit. 


und  durch  die  Erfindung  und  Einführung  der  antiseptischen  Wund- 
behandlung, durch  welche  die  im  Gefolge  der  Operationen  auftretenden 
Nachkrankheiten  verhütet  und  der  Heilerfolg  gesichert  wurde.  Diese 
beiden  grossen  Errungenschaften  der  Heilkunst  des  19.  Jahrhunderts 
haben  den  Charakter  der  Chirurgie  vollständig  umgestaltet.  Sie  haben 
den  Operateur  mit  Muth  und  Selbstvertrauen  ausgerüstet;  denn  er 
weiss,  dass  der  Erfolg  seiner  Kunst  nicht  mehr  durch  unberechenbare 
Zufälligkeiten  in  Frage  gestellt  wird  —  und  das  Herz  des  Kranken 
mit  Hoffnung  erfüllt,  so  dass  er  den  Chirurgen  nicht  mit  banger  Furcht 
betrachtet,  sondern  in  ihm  den  Heilung  spendenden  Arzt  erkennt. 

Schon  im  Alterthum  und  im  Mittelalter  hatte  man  zur  Linderung 
der  Schmerzen  narkotisirende  Getränke  und  Inhalationen  angewendet, 
wie  ich  früher  erwähnt  habe.  Die  unvollkommene  Wirkung  dieses 
Verfahrens  und  vor  Allem  die  üblen  Folgen  desselben  lassen  es  aber 
begreiflich  erscheinen,  dass  man  nur  selten  davon  Gebrauch  machte. 
Als  Humphey  Davy  auf  die  berauschende  Wirkung  des  Stickstoffoxy- 
duls aufmerksam  machte,  stellte  man  damit  Versuche  an,  welche  später 
dazu  führten,  dass  es  bei  operativen  Eingriffen,  vorzugsweise  in  der 
Zahnheilkunde,  verwendet  wurde. 

Um  die  gleiche  Zeit  wurden  die  narkotischen  Eigenschaften  des 
Schwefel-Äthers  entdeckt,  welcher  namentlich  von  Jackson  untersucht 
und  empfohlen  wurde.  Im  J.  1847  stellte  Flourens  durch  Experi- 
mente an  Thieren  fest,  dass  das  von  Soubeiran  und  J.  Liebig  gleich- 
zeitig entdeckte  Chloroform  ein  vorzügliches  narkotisches  Mittel  sei. 
Der  Gynäkologe  Simpson  führte  es  bald  darauf  in  die  ärztliche  Praxis 
ein.  Die  Vorzüge,  welche  es  vor  den  übrigen  Mitteln  dieser  Art  besitzt, 
erklären  es,  dass  es  dieselben  allmälig  vollständig  zurückdrängte.1 

Man  hat  noch  verschiedene  andere  Substanzen  zu  anästhesirenden 
Einathmungen  benutzt,  die  Chloroform -Narkose  mit  der  Ätherisation 
oder  mit  Morphium-Injektionen  verbunden,  um  die  betäubende  Wirkung 
zu  erhöhen  oder  zu  verlängern,  und  die  lokale  Anästhesirung  der 
Körpertheile,  welche  operirt  werden  sollen,  durch  die  Kälte,  die  Äther- 
Douche  u.  a.  m.  empfohlen.  Auch  haben  J.  Clocquet,  J.  Braid  und 
Andere  versucht,  während  des  hypnotischen  Schlafes  chirurgische  Ope- 
rationen auszuführen. 

Die  Anwendung  der  anästhesirenden  Inhalationen  gestattete  dem 
Operateur  die  ungehinderte  und  vollständige  Lösung  seiner  Aufgabe. 
Man  durfte  sich  daher  auch  an  die  schwierigen,  viele  Zeit  in  Anspruch 


1  0.  Kappeler  in  „Deutsche  Chirurgie",  her.  v.  Billroth  u.  Luecke,  Stutt- 
gart 1880.  —  Marion  Sims:  The  discoveiy  of  anaesthesia,  Richmond  1877. 


Chirurgie,   Augenheilkunde,    Geburtshilfe   und   Sfaatsarznei  künde.      401 


nehmenden  und  grosse  Schmerzen  verursachenden  Operationen  wagen, 
welche  in  früheren  Zeiten  nicht  ausgeführt  werden  konnten. 

Zur  Verhütung  gefahrdrohender  Blutungen  bei  oder  nach  Opera- 
tionen kam  neben  der  Unterbindung  und  den  anderen  früher  üblichen 
Methoden  auch  die  Torsion  wieder  in  Aufnahme.  Simpson  empfahl 
die  Acupressur,  während  andere  Chirurgen  der  forcirten  Beugung  der 
Glieder,  der  Anwendung  der  styptisehen  Mittel,  wie  des  Liquor  ferri 
sesquiehlorati ,  oder  der  Kälte  oder  Glühhitze  in  verschiedener  Form 
den  Vorzug  gaben.  Brünninghausen  regte  den  Gedanken  an,  den 
Körpertheil,  welcher  operirt  werden  soll,  durch  eine  eng  anliegende 
Binde  vorher  blutleer  zu  machen;  doch  ist  es  erst  einem  genialen  Chi- 
rurgen der  Gegenwart  gelungen,  ein  Verfahren  aufzufinden,  durch 
welches  dieser  Zweck  erreicht  wird. 

Auch  die  Galvanokaustik,  welche  hauptsächlich  durch  Middeldorpf 
begründet  wurde,1  und  die  von  Chassaignac  erfundene  Operations- 
Methode  des  Ecrasement  lincaire  suchten  die  Entfernung  kranker  Theile 
auf  unblutigem  Wege  zu  bewerkstelligen.  Durch  die  erstere  wurde 
zugleich  ein  die  Operationswunde  bedeckender  Schorf  erzeugt,  unter 
dem  der  Heilungsprozess  stattfinden  konnte;  auch  bietet  sie  den  Vor- 
theil,  dass  sie  selbst  bei  sehr  gefässreichen  Weichgebilden,  sowie  bei 
Organen,  welche  dem  Messer  oder  dem  Glüheisen  schwer  zugänglich 
sind,  anwendbar  ist.  Die  Schwierigkeiten,  welche  sich  früher  der  Ent- 
fernung umfangreicher  pathologischer  Neubildungen  entgegenstellten, 
wurden  dadurch  wesentlich  verringert. 

Die  Technik  der  Amputation  machte,  wenn  man  von  der  Einführung 
des  Ovalärschnittes  durch  Scoutetten,  des  Schrägschnittes  durch  Bla- 
sius,  der  dem  letzteren  ähnlichen  elliptischen  Methode  durch  Soupart 
und  den  Verbesserungen  des  Lappenschnittes  absieht,  nur  geringe  Fort- 
schritte. Doch  wurde  auf  die  Nachbehandlung  grössere  Sorgfalt  ver- 
wendet, als  früher. 

In  manchen  Fällen  wurde  die  Exartikulation  der  Amputation  vor- 
gezogen. Die  Operation  im  Hüftgelenk  wurde  durch  Larrey  zuerst 
unternommen.  Die  Exartikulation  im  Kniegelenk  erfuhr  eine  Erweite- 
rung durch  die  von  Syme  empfohlene  Absägung  der  Cond}7len,  womit 
Andere  die  Aufheilung  der  abgesägten  Patella  auf  dem  Ende  des 
Oberschenkels  zu  verbinden  suchten.  Mit  besonderem  Fleiss  wurde 
die  Exartikulation  in  den  Fusswurzelgelenken  und  im  Fussgelenk 
bearbeitet.  Neben  Chopart's  Methode  im  mittleren  Tarsus -Gelenk 
wurde    die   Operation    im  Mittelfussgelenk  von  Lisfranc,    unter  dem 


1  A.  Th.  Middeldorpf:  Die  Galvanokaustik,  Breslau  1854. 

Puschmann,   Unterricht.  26 


402  Der  medidnische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Sprungbein  von  Textob  und  im  Fussgelenk  von  Stme  und  Pirogoff 
empfohlen. 

Der  conservative  Charakter  der  Chirurgie,  welcher  dem  erkrankten 
Körper  soviel  als  möglich  zu  erhalten  bestrebt  war,  äusserte  sich  auch 
in  der  Zunahme  der  Resektionen.  Sie  bezweckten  entweder  die  gänz- 
liche oder  eine  theilweise  Fortnahme  der  Knochen  und  wurden  sowohl 
an  den  Extremitäten,  als  an  der  Wirbelsäule  durch  Entfernung  eines 
Processus  spinosus  oder  transversus  oder  des  hinteren  Umfanges  des 
Wirbelbogens,  an  den  Kippen,  z.  B.  beim  Empyem,  am  Becken,  Schulter- 
blatt, besonders  an  der  Scapula,  am  Schlüsselbein,  am  Oberkiefer  und 
Unterkiefer  unternommen. 

Einen  hohen  Grad  der  Vollkommenheit  erreichte  die  Lehre  von 
den  Gelenk-Resektionen.  Nach  den  ersten  glücklichen  Versuchen,  die 
man  damit  im  18.  Jahrhundert  an  der  Schulter  und  am  Knie  gemacht 
hatte,  wurden  sie  auch  an  anderen  Gelenken  ausgeführt,  z.  B.  im  Ellen- 
bogen und  am  Euss  zuerst  vom  älteren  Moreau,  und  in  der  Hüfte 
von  iiNT.  White.  Die  vielen  Kriege  der  letzten  Jahrzehnte  boten 
reiche  Gelegenheit,  diese  Operation  zu  üben  und  zu  verbessern.  Die 
Indicationen  zu  derselben  wurden  genau  bestimmt  und  in  einzelnen 
Beziehungen,  z.  B.  zu  orthopädischen  Zwecken,  sogar  erweitert.  Be- 
sondere Modifikationen  derselben,  wie  die  Keil-Resektionen  beim  Klump- 
fuss,  die  sogenannten  temporären  Resektionen,  bei  denen  keine  dauernde 
Entfernung  der  Knochentheile  beabsichtigt  wird,  die  subperiostalen  Re- 
sektionen und  die  Osteotomien  verschiedener  Art  wurden  dem  betreffen- 
den Fall  angepasst. 

Die  Behandlung  der  Frakturen  und  Luxationen  erfuhr  durch  die 
Einführung  der  erhärtenden  Verbände,  welche  das  Glied  während  der 
Heilung  unbeweglich  machen,  einen  wichtigen  Fortschritt.  Larrey 
verwendete  dazu  eine  aus  Eiweiss,  Bleiweiss  und  Kampher-Spiritus  be- 
stehende Masse,  Seutin  erfand  (1834)  den  Kleisterverband,  und  Veiel 
empfahl  den  Leimverband.  Die  meiste  Anerkennung  und  Verbreitung 
erlangte  der  Gypsverband,  welcher  schon  seit  langer  Zeit  im  Orient 
bekannt  war  und  im  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  in  Europa  eingeführt 
wurde,  aber  erst  seit  der  Anwendung  der  von  Mathysen  erfundenen 
Gypsbinden  einen  grossen  Ruf  erwarb.  Ausserdem  wurden  auch  das 
Tripolith-Pulver,  die  Guttapercha,  der  plastische  Filz  und  die  plastische 
Pappe,  das  Wasserglas,  das  Paraffin  und  Stearin  zu  derartigen  Ver- 
bänden benutzt. 

Auch  wusste  man  geeignete  Schwebe-,  Extensions-  und  Lagerungs- 
Apparate  zu  construiren,  durch  deren  Mitwirkung  der  Heilungsprozess 
begünstigt  wurde.     Bei  schlecht  geheilten  Frakturen  trennte  man  den 


Chirurgie,  Augenheilkunde,   Geburtshilfe  und  Staatsarzneikunde.     403 

—  — i 

Callus  durch  Zersägen  oder  Zerbrechen,  damit  sich  der  Heilungsprozess 
nochmals  vollziehe.  Bewegliche  Knochen  suchte  man  durch  die  Knochen- 
naht, durch  die  künstlich  hervorgerufene  Entzündung  der  Enden  u.  a.  m. 
zu  vereinigen. 

Die  Myotomie  und  Tenotomic  zur  Beseitigung  von  Contracturen, 
z.  B.  beim  Caput  obstipum  und  beim  Klumpfuss,  wurde  wie  erwähnt, 
schon  in  früheren  Zeiten  unternommen;  aber  die  subcutane  Ausführung 
derselben  ist  eine  Erfindung  des  19.  Jahrhunderts.  Delpech  hat  diese 
Operation  in  die  chirurgische  Praxis  eingeführt,  und  die  Erfolge,  welche 
Dupuytren,  Diepeenbach,  Stromeyer  u.  A.  damit  bei  verschiedenen 
Leiden  erzielten,  verschafften  ihr  einen  ständigen  Platz  in  der  operativen 
Chirurgie. 

Die  Heilung  der  Aneurysmen  wurde  durch  Compression,  durch 
die  Ligatur,  Electropunctur  und  permanente  Flexion  versucht. 

Die  Lehre  von  den  Hernien  wurde  durch  werthvolle  Arbeiten  über 
die  anatomischen  Verhältnisse  derselben,  über  die  Ursachen  der  Ein- 
klemmung u.  a.  m.  gefördert.  Bei  der  Behandlung  nach  der  Taxis 
kamen  hauptsächlich  die  Bruchbänder  in  Betracht,  welche  ausserordent- 
lich vervollkommnet  wurden;  bei  der  Radikal-Heilung  suchte  man  die 
Bruchpforte  durch  plastische  Operationen,  z.  B.  durch  Hereinziehen 
der  Scrotal-Haut  oder  durch  künstlich  erzeugte  Verwachsungen,  zu  ver- 
schliessen. 

Die  Methoden  des  Steinschnitts  wurden  durch  die  von  L.  J.  Sanson 
angegebene  Operation  vom  Mastdarm  aus  und  die  von  J.  Clemot  em- 
pfohlene Sectio  vagino-vesicalis  vermehrt.   Um  die  Lithotrypsie  erwarben 

Sich    GrUITHUISEN,    ClVIALE,    LeROY    d'EtIOLLES,    N.   HeURTELOUP    U.  A. 

durch  die  Erfindung  und  Verbesserung  der  Instrumente  hervorragende 
Verdienste.  Die  Beseitigung  der  Harnröhren-Strikturen  versuchte  man 
durch  ätzende  Bougies,  durch  allmälige  oder  gewaltsame  Erweiterung 
der  Harnröhre  oder  durch  die  Urethrotomie  herbeizuführen. 

Die  operative  Entfernung  einer  Niere  wurde  zuerst  von  0.  Simon 
ausgeführt,  während  die  Splenectomie,  die  schon  im  16.  Jahrhundert 
unternommen  wurde,  seit  Quittenbaum  in  einer  planmässigen ,  den 
Regeln  der  Kunst  entsprechenden  Weise  vollzogen  wurde. x  Die  längst 
bekannte  Gastrotomie  führte  zur  Gastrostomie,  zur  künstlichen  Anlegung 
einer  Magenfistel,  welche  von  Egeberg  und  Sedillot  in  die  chirur- 
gische Therapie  eingeführt  wurde.  An  die  Resektion  des  Magens  oder 
des  Oesophagus,  sowie  an  die  Exstirpation  des  Kehlkopfs  hat  man  sich 
erst  in  unseren  Tagen  gewagt. 


1  Adelmann  im  Archiv  f.  klin.  Chirurgie  1887,  Bd.  36,  H.  2. 

26* 


404  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Die  Rhinoplastik  war  im  17.  und  18.  Jahrhundert  völlig  in  Ver- 
gessenheit gerathen.  Im  J.  1742  erklärte  die  medicinische  Facultät 
zu  Paris  die  Mittheilungen,  welche  Tagliacozzi  darüber  hinterlassen 
hatte,  für  Phantasiegebilde  und  das  von  ihm  angewendete  Operations- 
verfahren für  unmöglich.  Da  brachten  i.  J.  1794  englische  Zeitungen 
die  Nachricht,  dass  in  Indien  von  dortigen  Eingeborenen  die  Kunst 
ausgeübt  werde,1  den  Verlust  der  Nase  durch  plastische  Operationen 
zu  ersetzen.  Die  europäischen  Ärzte  studierten  die  Operations-Methode, 
welche  dabei  angewendet  wurde,  ahmten  sie  nach,  prüften  dann  das 
alte  italienische  Verfahren  und  verallgemeinerten  die  Operation,  indem 
sie  auch  den  Ersatz  der  Lippen  und  Augenlider,  den  Verschluss  ab- 
normer Öffnungen  u.  a.  m.  in  Betracht  zogen.  Durch  C.  F.  Gkaeee, 
Delpech,  Dieefenbaoh,  B.  Langenbeck  u.  A.  erlangten  die  plastischen 
Operationen  eine  hohe  Vollendung. 

Die  Transplantation  von  Hautstücken  zum  Ersatz  von  Substanz- 
verlusten, z.  B.  nach  Verbrennungen,  von  Periost  und  Knochentheilen, 
um  eine  feste  Stütze  zu  erzeugen,  sowie  die  Einheilungsversuche  fremder 
Gewebstheile  oder  Körper  gehören  der  jüngsten  Zeit  an. 

Die  Transfusion  des  Blutes  nach  grossen  Blutverlusten  kam  am 
Schluss  des  18.  Jahrhunderts  wieder  in  Aufnahme  und  wurde  von 
J.  Blundell  zum  Gegenstande  sorgfältiger  Untersuchungen  gemacht. 
Prevost,  Dumas  und  andere  Physiologen,  welche  sich  mit  dieser  Frage 
beschäftigten,  empfahlen  zur  Transfusion  defibrinirtes  Blut,  Panum  gab 
den  Rath,  nur  Menschenblut  zu  verwenden.  In  ein  anderes  Licht  trat 
die  Lehre  von  der  Transfusion,  als  man  erkannte,  dass  die  Erfolge 
dieser  Operation  keineswegs  auf  der  Zufuhr  von  Blut  beruhen,  sondern 
in  dem  durch  die  Vermehrung  des  Gefässinhalts  erhöhten  intravascu- 
lären  Druck  ihren  Grund  haben.2 

Die  günstigen  Heilerfolge,  welche  die  operative  Chirurgie  gegen- 
wärtig erzielt,  sind  grösstenteils  der  streng-methodischen  Anwendung 
der  Antisepsis  zu  verdanken,  welche  in  den  beiden  letzten  Decennien 
die  allgemeine  Anerkennung  gefunden  hat.  Mit  ihr  begann  eine  neue 
Periode  für  die  Geschichte  der  Chirurgie,  deren  Tragweite  auf  die  wissen- 
schaftliche Gestaltung  derselben  sich  kaum  vollständig  ermessen  lässt. 

Einzelne  Zweige  der  Chirurgie  erfuhren  im  19.  Jahrhundert  zum 
ersten  Male  eine  wissenschaftliche  Bearbeitung  und  entwickelten  sich 
zu  besonderen  Unterrichts-Disciplinen.    So  ging  die  Zahnheilkunde  aus 


1  E.  Zeis  a.  a.  0.  S.  208  u.  tf. 

2  E.  v.  Bergmann:   Die  Schicksale  der  Transfusion  im  letzten  Decennium, 
Berlin  1883. 


Chirurgie,  Augenheilkunde,   Geburtshilfe  und  Staatsarzneikunde.     405 

den  Händen  unwissender  Barbierer  und  Empiriker  allmälig  in  die- 
jenigen von  Ärzten  über,  welche  die  Beziehungen  der  Erkrankungen 
der  Zähne  zu  den  übrigen  Krankheiten  des  Körpers  erforschten  und 
eine  rationelle  Behandlung  der  ersteren  begründeten. 

Die  Diagnostik  und  Behandlung  der  Ohrenleiden  erhielt  in  dem 
von  A.  Cleland  verbesserten  Katheterismus  der  Tuba  Eustachii  ein 
sehr  werthvolles  Hilfsmittel.  Die  künstliche  Beleuchtung  des  Trommel- 
fells, die  Auscultation  des  Mittelohrs  und  die  Luft-Douche  bildeten 
weitere  Fortschritte  in  diesem  Theile  der  Heilkunst,  um  dessen  Aus- 
bildung sich  Itard,  Leon  Deleau,  W.  R.  Wilde,  Jos.  Toynbee, 
W.  Kramer  und  mehrere  andere  deutsche  Ohrenärzte  hervorragende 
Yerdienste  erworben  haben. 

Grosse  Triumphe  feierte  die  Ophthalmologie.  Man  gewann  eine 
klare  Einsicht  in  die  Entstehungs-Ursachen  und  die  anatomischen  Ver- 
änderungen der  meisten  Erkrankungen  des  Auges,  erhielt  in  dem  Augen- 
spiegel ein  diagnostisches  Hilfsmittel,  welches  die  schwierigsten  Fragen 
der  Pathologie  des  Sehorgans  zur  Lösung  brachte,  und  lernte  mehrere 
neue  Heilmethoden  und  operative  Eingriffe  kennen.  Schon  Adam 
Schmidt  machte  auf  die  Beziehungen  aufmerksam,  welche  zwischen 
manchen  Augenleiden  und  den  Krankheitszuständen  des  übrigen  Kör- 
pers bestehen  und  nannte  die  Augenkrankheiten  „die  zierlichen  Mi- 
riaturspiegel  der  Körperkrankheiten". 

Die  einzelnen  Formen  der  Conjunctivitis  wurden  genauer  unter- 
schieden, dabei  das  Wesen  der  durch  ihre  rasche  Verbreitung  und 
Bösartigkeit  die  Bevölkerung  in  Schrecken  versetzenden  Ophthalmia 
aegyptiaoa  s.  militaris  festgestellt,  die  Iritis  und  Chorioditis  studiert,  und 
auf  die  dem  Glaukom  zu  Grunde  liegende  Steigerung  des  intraoeularen 
Druckes,  gegen  welchen  A.  v.  Graefe  die  Iridectomie  empfahl,  hingewiesen. 

Bei  Trübungen  der  Hornhaut  machte  man  den  Versuch,  an  Stelle 
der  ausgeschnittenen  Narbe  ein  Stück  Glas  oder  einen  Theil  der  Cornea 
eines  Thieres  einheilen  zu  lassen,  um  auf  diese  Weise  den  Lichtstrahlen 
den  Durchtritt  zu  ermöglichen,  oder  schritt  zur  Bildung  einer  künst- 
lichen Pupille.  Die  Nachtheile  der  von  Wentzel  angegebenen  Methode 
der  Iridectomie,  durch  welche  häufig  Erkrankungen  der  Linse  und  ihrer 
Kapsel  herbeigeführt  wurden,  wusste  Beer  zu  vermeiden,  indem  er  den 
Iris-Lappen  nicht  mehr  innerhalb  der  vorderen  Augenkammer  loslöste, 
wie  bisher,  sondern  aus  der  Hornhaut  wunde  hinausdrängte  und  ausser- 
halb des  Auges  abschnitt.  Dieses  Verfahren  wurde  später  verbessert 
und  erhielt  sich  bis  heut,  während  andere  zu  dem  gleichen  Zweck  er- 
sonnene  Operations-Methoden,  wie  die  Iridodialyse  längst  aus  der  Praxis 
verschwunden  sind. 


406  Der  mediciniscke   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Zur  Beseitigung  der  Cataract,  deren  Ätiologie  und  anatomischer 
Sitz  genauer  untersucht  wurden,  wendete  man  neben  der  Depression 
der  erkrankten  Linse,  welche  Scaepa  mit  der  Zerstückelung  derselben 
verband  und  Buchhoen  durch  die  Hornhaut  auszuführen  empfahl, 
hauptsächlich  die  Extraction  an,  die  in  den  meisten  Fällen  als  die  beste 
und  sicherste  Operations -Methode  erscheint.  Die  letztere  erfuhr  eine 
werthvolle  Verbesserung  durch  den  von  F.  Jägee  empfohlenen,  viel- 
leicht schon  von  früheren  Augenärzten  geübten  Hornhautschnitt  nach 
oben,  welcher  dann  zur  linearen  Extraction  führte. 

Diese  in  einzelnen  Fällen,  z.  B.  bei  geschrumpften  und  weichen 
Staaren,  schon  früher  ausgeübte  Methode  wurde  von  A.  v.  Geaeee, 
der  den  Schnitt  in  die  obere  Grenze  der  Hornhaut  verlegte  und  gleich- 
zeitig die  Iridectomie  verrichtete,  ausgebildet  und  zum  Gemeingut  aller 
Ärzte  gemacht. 

Ungemein  erleichtert  wurde  die  operative  Augenheilkunde,  als  man 
die  Mjdriatica  anzuwenden  begann.  Himly  machte  auf  die  pupillen- 
erweiternden Eigenschaften  des  Hyoscyamus  und  der  Belladonna  auf- 
merksam. Später  lernte  man  noch  andere  derartige  Mittel  kennen; 
doch  kamen  die  narkotischen  Alkaloide,  besonders  das  Atroph),  am 
meisten  in  Gebrauch. 

Die  bedeutendste  Errungenschaft  der  Ophthalmologie  während  des 
19.  Jahrhunderts  war  jedoch  ohne  Zweifel  die  Erfindung  des  Augen- 
spiegels. Vorbereitet  durch  die  Untersuchungen  über  den  leuchtenden 
Hintergrund  der  mit  einem  Tapetum  versehenen  Augen  gewisser  Thiere, 
durch  die  Beobachtungen  der  menschlichen  Netzhaut  beim  Mangel  der 
Iris  und  durch  Puekinje's  Experimente  trat  sie  1851  ins  Leben,  Wäh- 
rend der  Erfinder  des  Augenspiegels,  Helmholtz,  die  Theorie  desselben 
bearbeitete  und  nahezu  vollständig  abschloss,  war  es  hauptsächlich 
A.  von  Geaeee,  welcher  seine  Bedeutung  für  die  ophthalmiatrische 
Praxis  erkannte  und  darlegte. 

Mit  Hilfe  des  Augenspiegels  wurde  es  möglich,  den  Zustand  der 
brechenden  Medien  und  des  Augengrundes  zu  untersuchen.  Das  Wesen 
der  Amaurosis,  die  man  früher  scherzhafter  Weise  als  eine  Krankheit 
definirt  hatte,  „bei  welcher  weder  der  Kranke,  noch  der  Arzt  etwas 
sieht",  wurde  dem  Verständniss  erschlossen,1  und  man  vermochte  die  ver- 
schiedenen Krankheiten  der  Netzhaut  zu  unterscheiden.  Als  die  Beziehun- 
gen der  letzteren  zu  gewissen  Allgemein-Erkrankungen  des  Körpers,  z.  B. 
zum  Morbus  Brightii,  Diabetes  mellitus  u.a.m.  festgestellt  wurden,  gewann 
der  Augenspiegel  diagnostische  Bedeutung  für  die  gesammte  Pathologie. 


1  A.  Hirsch:  Geschichte  der  Augenheilkunde  a.  a.  0.  S.  474. 


Chirurgie,  Augenheilkunde,   Geburtshilfe  und  Staatsarzneikunde.     407 


Die  Geburtshilfe  schlug  eine  naturgemässe  Richtung  ein  und  er- 
weiterte sich,  indem  sie  alle  physiologischen  und  pathologischen  Vor- 
gänge im  Weibe  und  deren  Behandlung  in  den  Kreis  der  Betrachtung 
zog,  zur  Gynaekologie.  Man  gelangte  zu  der  Einsicht,  dass  Schwanger- 
schaft, Geburt  und  Wochenbett  physiologische  Zustände  sind,  deren 
Verlauf  dem  Walten  der  Natur  überlassen  werden  darf,  solange  nicht 
außergewöhnliche  Verhältnisse  das  Einschreiten  des  Arztes  erheischen. 

Lukas  Boee,  welcher  diese  Grundsätze  vertrat,  verwarf  die  soge- 
nannten Vorbereitungskuren,  welche  in  den  meisten  Fällen  schädlich 
Avirkten,  und  lieferte  den  Nachweis,  dass  selbst  die  Gesichts-,  Steiss-, 
Knie-  und  Fusslagen  nicht  immer  die  Kunst  des  Arztes  erfordern, 
sondern  durch  die  Kraft  der  Natur  häufig  noch  derartig  regulirt  wer- 
den, dass  die  Geburt  von  selbst  erfolgt.  Der  schwerfällige  complicirte 
Instrumenten-Apparat  früherer  Zeiten  wurde  vereinfacht  und  die  ope- 
rative Geburtshilfe  auf  diejenigen  Fälle  eingeschränkt,  in  denen  sie 
unumgänglich  war. 

Man  lernte  die  Verengerungen  des  Beckens  durch  methodische 
Messungen  diagnosticiren  und  den  Einfluss  der  Lageveränderungen  und 
Krankheiten  der  Gebärmutter  auf  die  Schwangerschaft  und  den  Ge- 
burtsakt beurtheilen.  Auch  die  Pathologie  des  Wochenbetts,  besonders 
das  Puerperalfieber,  auf  dessen  Pathogenese  die  Beobachtungen  des  un- 
glücklichen Semmelweiss  ein  überraschendes  Licht  warfen,  wurde  sorg- 
fältig erforscht.  Die  Erkrankungen  der  Gebärmutter,  der  Eierstöcke 
und  der  benachbarten  Theile  gaben  zu  operativen  Eingriffen  Anlass, 
deren  Methoden  erst  erfunden  werden  mussten. 

Die  Exstirpation  des  Uterus  bei  bösartigen  Entartungen  desselben 
wurde  bereits  von  Monteggia,  Osiandee  u.  A.  ausgeführt  und  in 
jüngster  Zeit  in  Bezug  auf  die  Technik  sehr  vervollkommnet.  Ähnlich 
verhält  es  sich  mit  der  Ovariotomie,  welche  von  Mac  Dowell  i.  J.  1809 
zum  ersten  Male  unternommen  wurde  und  seitdem  viele  Verbesserungen 
erfahren  hat.  Die  operative  Behandlung  des  Prolapsus  des  Uterus  und 
der  Vagina,  sowie  die  Operation  der  Blasenscheidenfisteln,  welche  früher 
als  unheilbar  galten,  gehören  ebenfalls  der  neuesten  Periode  an  und 
sind  hauptsächlich  das  Verdienst  von  Jobert  de  Lamballe,  Mabion 
Sims,  G.  Simon  und  anderen  hervorragenden  Gynäkologen  der  Gegenwart. 

Der  Fortschritt  der  Medicin  im  19.  Jahrhundert  beschränkte  sich 
aber  nicht  blos  auf  die  Bedeutung,  welche  sie  als  Heilkunst  für  das 
kranke  Individuum  besitzt,  sondern  brachte  auch  die  wichtigen  Be- 
ziehungen derselben  zum  Staat  zum  allgemeinen  Bewusstsein. 

Es  hing  dies  vielleicht  mit  der  politischen  Entwickelung  zusammen, 
welche   die  Staatsregierung  an  ihre  Aufgabe  mahnte,  die  Gesellschaft 


408  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


zu  schützen,  und  in  dem  einzelnen  Bürger  das  Gefühl  erweckte,  daxs 
er  als  Mitglied  des  Gemeinwesens  Pflichten  gegen  dasselbe  zu  erfüllen 
habe  und  an  seiner  Wohlfahrt  betheiligt  sei.  So  traten  die  gerichtliche 
Medicin,  welche  von  A.  Henke,  Mende,  Christison,  Casper,  Orfila, 
Tardieü  u.  A.  begründet  und  bearbeitet  wurde,  und  die  medicinische 
Polizei,  deren  Fundamente  Peter  Frank  legte,  in  die  Reihe  der  me- 
dicinischen  Disciplinen.  Was  die  erstere  für  die  Justiz  wurde,  das 
sollte  die  letztere  für  die  Verwaltung  sein:  der  Inbegriff  der  Kennt- 
nisse, deren  der  ärztliche  Sachverständige  bedarf,  wenn  er  von  den 
Behörden  zu  Bath  gezogen  wird. 

Die  Sanitäts- Polizei  erweiterte  sich  zur  öffentlichen  Gesundheits- 
pflege oder  Hygiene,  als  sich  der  Gedanke  Bahn  brach,  dass  nicht  blos 
der  Staat,  sondern  jeder  Einzelne  berufen  ist,  Krankheiten  zu  verhüten 
und  die  Entwicklung  und  Erhaltung  der  Salubrität  zu  fördern.  Die 
Identität  der  Interessen,  welche  in  den  Fragen  der  Hygiene  die  Be- 
völkerung mit  der  Staatspolitik  verbindet,  erklärt  es  sicherlich  zum 
grossen  Theile,  dass  die  wissenschaftliche  Lösung  derselben  in  den 
letzten  Jahrzehnten  mit  einem  bewunderungswürdigen  Eifer  betrieben 
wurde.  Der  Einfluss  der  Nahrung,  Kleidung,  Wohnung,  des  Bodens, 
Klimas,  der  Temperatur,  Luft,  der  Beschäftigung,  des  Alters  und  Ge- 
schlechts wurde  sorgfältig  untersucht;  die  Erforschung  der  Ursachen 
der  Entstehung  und  Verbreitung  der  Seuchen,  die  gesundheitsgemässe 
Anlage  von  Krankenhäusern,  Friedhöfen,  Fabriken  und  Bauten  aller 
Art,  die  Überwachung  der  Prostitution  u.  a.  m.  bildeten  weitere  Auf- 
gaben der  öffentlichen  Gesundheitspflege. 

Sowohl  die  Geschichte  der  Medicin,  die  über  den  Verlauf  der 
grossen  Volkskrankheiten,  welche  in  vergangenen  Zeiten  die  Länder 
durchzogen  und  den  Erfolg  der  dagegen  getroffenen  Massregeln  Bericht 
erstattete,  als  die  medicinische  Geographie,  welche  darauf  hinwies,  dass 
manche  Krankheiten  nur  oder  wenigstens  vorzugsweise  in  gewissen 
Gegenden  vorkommen,  und  die  Erklärung  dieser  Thatsache  versuchte, 
und  die  Medicinalstatistik,  die  das  beigebrachte  Material  mit  Hilfe  der 
numerischen  Methode  zu  sichten  und  zu  Schlussfolgerungen  zu  ver- 
werthen  bemüht  war,  lieferten  wichtige  Beiträge  zur  Lösung  dieser 
Fragen.  Die  Chemie,  das  Mikroskop  und  das  Experiment  boten  die 
Mittel  zu  LTntersuchungen,  welche  ebenfalls  zu  werthvollen  Aufschlüssen 
darüber  führten,  und  die  Bakteriologie  lenkte  den  Blick  auf  die  letzten 
Ursachen  der  Krankheiten. 

Die  Erfolge,  welche  die  Hygiene  dadurch  in  den  letzten  Jahren 
errungen  hat,  und  die  Erwartungen,  die  man  von  ihr  für  die  Zukunft 
hegt,  haben  ihr  in  kurzer  Zeit  eine  hervorragende  Stellung  unter  den 


Der  medicinische   Unterricht  in  der  Gegenwart.  409 

medicinischen  Disoiplinen  verschafft.  Die  Aufgabe,  die  Krankheiten  zu 
verhüten,  erscheint  ebenso  gross  und  segensreich,  als  diejenige  sie  zu 
heilen,  und  die  öffentliche  Medicin  tritt  der  privaten  ebenbürtig  an 
die  Seite. 

Die  Staatsregierungen  tragen  dieser  in  immer  weitere  Kreise 
dringenden  Erkenntniss  Rechnung,  indem  sie  die  Sanitätsverwaltung 
organisiren,  Gesundheitsämter  errichten  und  für  ärztliche  Beaufsichtigung 
gewisser  Einrichtungen  Sorge  tragen,  und  das  prophetische  Wort  des 
englischen  Staatsmannes  Gladstone:  „Die  Ärzte  werden  die  Führer  der 
Völker  sein",  geht  seiner  Erfüllung  entgegen. 


Der  medicinische  Unterricht  in  der  Gegenwart. 

Die  Umgestaltungen  und  Verbesserangen,  die  der  medicinische 
Unterricht  während  der  letzten  hundert  Jahre  erfahren  hat,  sind  nicht 
weniger  bedeutend  als  die  Erfolge,  welche  die  wissenschaftliche  Be- 
arbeitung der  Heilkunde  errungen  hat.  Wenn  man  die  mit  Lehrmitteln 
aller  Art  reichlich  ausgestatteten  Institute  unserer  heutigen  medicinischen 
Schulen,  ihre  vortrefflich  eingerichteten  Lehrgebäude  für  normale  und 
pathologische  Anatomie  und  Physiologie  mit  ihrem  Instrumenten- 
Apparat,  ihre  physikalischen,  chemischen  und  hygienischen  Labora- 
torien, ihre  naturwissenschaftlichen  Sammlungen  und  ihre  grosse  Anzahl 
klinischer  Anstalten  betrachtet  und  sie  mit  den  dürftigen  Anfängen 
vergleicht,  welche  in  dieser  Hinsicht  im  vorigen  Jahrhundert  gemacht 
wurden,  erkennt  man,  wie  viel  seitdem  erreicht  worden  ist.  Heut 
gelten  diese  Einrichtungen  als  unentbehrlich  für  den  Betrieb  des  ärzt- 
lichen Unterrichts,  während  sie  damals  an  den  meisten  Hochschulen 
gänzlich  fehlten  oder  doch  nur  zum  geringsten  Theile  vorhanden  waren 
und  in  solcher  Vollständigkeit  kaum  jemals  erhofft  werden  konnten. 

Die  Lehrmethode  hat  in  Folge  dessen  eine  andere  Form  an- 
genommen; die  praktischen  Demonstrationen  gewannen  mehr  und  mehr 
das  Übergewicht  im  medicinischen  Unterricht  und  füllten  mit  den  zu 
ihnen  gehörigen  Erklärungen  den  Inhalt  desselben  aus,  während  die 
theoretischen  Vorträge  zurückgedrängt  wurden  und  allmälig  fast  gänz- 
lich verschwanden.  Das  Verständniss  der  wissenschaftlichen  Thatsachen 
und  Theorien  ist  dadurch  ausserordentlich  erleichtert  worden;  denn  was 
man  mit  den  Sinnen  erfasst,  das  prägt  sich  nicht  blos  dem  Gedächtniss, 
sondern  auch  dem  Verstände  ein. 


410  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Dazu  kam,  dass  die  Theilung  der  Arbeit  auch  im  medicinischen 
Unterricht  durchgeführt  wurde  und  feststehende  Formen  gewann,  welche 
es  gestatteten,  dass  der  Lehrer  sich  ausschliesslich  mit  der  Disciplin, 
welche  er  vertritt,  beschäftigen  und  daher  eine  virtuose  Gewandtheit 
und  Sicherheit  darin  erlangen  konnte. 

Die  Vervollständigung  des  medicinischen  Unterrichts  durch  die 
Errichtung  neuer  Lehrkanzeln,  welche  die  Entwickelung  und  fort- 
schreitende Specialisirung  der  Heilkunde  forderte,  und  die  Einführung 
und  Verbesserung  der  Prüfungsordnungen,  welche  die  Gewähr  leisten 
sollen,  dass  die  jungen  Ärzte  die  für  ihren  Beruf  nothwendigen  Kennt- 
nisse erworben  haben,  bildeten  weitere  Bereicherungen,  die  das  ärztliche 
Bildungswesen  in  diesem  Zeitraum  erfuhr.  Allerdings  waren  die  Fort- 
schritte auf  diesem  Gebiet  in  den  einzelnen  Ländern  sehr  verschieden; 
der  Zustand  der  allgemeinen  Cultur  und  besonders  der  Heilkunde,  die 
sociale  Stellung  der  Ärzte,  die  historischen  Traditionen  und  vor  Allem 
das  Verhalten  des  Staates  zum  öffentlichen  Unterricht  übten  darauf 
einen  entscheidenden  Einrluss  aus. 

Bei  den  rohen  Naturvölkern,  bei  den  Kauern,  Indianern,  den  Ein- 
geborenen Brasiliens  u.  A.  versuchen  die  Ärzte  und  Zauberer  noch  heut, 
die  Krankheiten  durch  Gebete  und  Beschwörungsformeln  zu  vertreiben, 
und  das  medicinische  Wissen  reicht  nur  selten  über  die  Kenntniss 
einiger  heilkräftigen  Kräuter  und  Wurzeln  hinaus.1 

Auch  bei  den  Culturvölkern  herrschen  in  Bezug  auf  die  Heilkunde 
sehr  verschiedenartige  Zustände.  Die  einheimischen  Ärzte  in  den 
Ländern  des  Islams  handeln  zum  grössten  Theile  jetzt  noch  nach  den- 
selben Grundsätzen,  welche  die  Vertreter  der  arabischen  Medicin  im 
Mittelalter  verkündet  haben,  und  ebenso  glauben  auch  die  chinesischen 
Ärzte  an  die  gleichen  haltlosen  Spekulationen,  die  dort  seit  Jahrtausenden 
Geltung  besitzen.2  Doch  führte  die  Berührung  mit  der  europäischen 
Heilkunde  und  die  Erkenntniss  ihrer  Vortheile  zu  Versuchen,  dieselbe 
dorthin  zu  verpflanzen. 

In  Konstantinopel  und  Kairo  gründete  man  medicinische  Schulen 
an  denen  europäische,  vorzugsweise  französische  und  deutsche  Ärzte  als 
Lehrer  angestellt  wurden.  Bei  weitem  gründlicher  und,  wie  es  scheint, 
mit  grösserem  Erfolg  wurde  dies  in  Japan  ins  Werk  gesetzt,  wo  in 
den  letzten  Jahren  mehrere  ärztliche  Lehranstalten  entstanden,  welche 


1  Th.  Waitz:  Anthropologie  der  Naturvölker,  Leipzig  1859,  II,  412.  11J, 
225.  419.  IV,  473.  V,  2.  149.  199.  VI,  24  u.  ff.  394  u.  ff.  557.  A.  Bastian: 
Der  Mensch  in  der  Geschichte.  Leipzig  1860,  II,   116  u.  ff. 

2  P.  Dabby:  La  medecine  chez  les  Chinois,  Paris  1863.  —  D.  J.  Macgowan 
in  den  Med.  Rep.  Shangai   1882,  No.  22. 


Der  mediciniscke   Unterricht  in  der  Gegenwart  411 


vollständig  nach  europäischem  Muster  organisirt  und  hauptsächlich  mit 
deutschen  Lehrkräften  versehen  wurden.1  Die  niedere  Cultur  weicht 
vor  der  höheren  zurück,  welche  überall  siegreich  vordringt  und  die 
Menschheit  mit  ihren  Segnungen  beglückt. 

In  den  civilisirten  Ländern  hat  die  allgemeine  und  fachwissen- 
schaftliche Bildung  der  verschiedenen  Berufsklassen  eine  gewisse  Gleich- 
artigkeit angenommen,  welche  sich  aus  der  durch  die  Literatur  be- 
wirkten leichten  und  raschen  Yermittelung  der  geistigen  Fortschritte 
und  Errungenschaften  erklärt.  Auch  die  Heilkunde  zeigt  diese  Er- 
scheinung, und  der  unterrichtete  Arzt  in  Frankreich  bekennt  sich  zu 
denselben  Lehren,  wie  sein  College  in  Deutschland,  Osterreich,  Italien 
und  anderen  Ländern.  Die  medicinische  Wissenschaft  ist  überall  die- 
selbe; aber  die  Summe  des  Wissens,  welche  von  den  Vertretern  der- 
selben in  den  einzelnen  Staaten  verlangt  wird,  ist  verschieden,  und  die 
äusseren  Formen,  in  denen  sie  den  Studierenden  gelehrt  wird,  sind 
mannigfaltig. 

An  einzelnen  Orten,  z.  B.  in  Amerika  und  England,  besteht  noch 
die  Einrichtung,  dass  Ärzte  Schüler  annehmen  und  gleich  den  Hand- 
werkern zu  Meistern  in  ihrer  Kunst  ausbilden;  aber  im  Allgemeinen 
werden  die"  ärztlichen  Kenntnisse  an  Schulen  erworben,  welche  diesen 
Zweck  zu  ihrer  besonderen  Aufgabe  machen  und  entweder  als  medi- 
cinische Facultäten  mit  anderen  Lehranstalten  zu  Universitäten  ver- 
einigt sind,  oder  ausserhalb  derselben  eine  gesonderte  Existenz  führen. 

Diese  Schulen  Averden  in  manchen  Ländern  vom  Staat  geleitet 
oder  wenigstens  beaufsichtigt,  während  sie  in  anderen  eine  unabhängige 
Stellung  einnehmen  und  sich  selbst  verwalten  oder  von  Privatpersonen 
beeinflusst  werden.  Diese  principiellen  Verschiedenheiten  in  der  Organi- 
sation des  medicinischen  Unterrichts  waren  für  die  Entwicklung  des- 
selben von  grosser  Bedeutung,  wie  die  Betrachtung  der  betreffenden 
Verhältnisse  in  den  verschiedenen  Staaten  lehrt. 

Die  ausführlichste  Darstellung  werden  dabei  die  Zustände  bean- 
spruchen dürfen,  welche  sich  in  dieser  Hinsicht  bei  den  Engländern, 
Franzosen  und  Deutschen  entwickelt  haben,  weil  sie  die  Tvpen  der 
verschiedenen  Gestaltungsformen  des  ärztlichen  Bildungswesens  dar- 
stellen und  auf  den  medicinischen  Unterricht  der  übrigen  Nationen 
einen  massgebenden  Einfluss  ausgeübt  haben. 


1  Ardouin:  Apercu  sur  l'histoire  de  la  medecine  au  Japon,  Paris  1884.  — 
Ad.  Hofmeister:  Die  Universität  Tokio,  ihre  Geschichte  und  Organisation,  Aus- 
land, Jahrg.  57,  No.  51.  —  H.  Gierke  in  der  Breslauer  ärztl.  Zeitschr.  IV,  S.  64  u.  ff. 


412  Der  medizinische   Unterrieht  in  der  neuesten  Zeit. 


England.  —  Nord -Amerika. 

Am  längsten  haben  sich  die  Einrichtungen  des  Mittelalters  im 
medicinischen  Unterricht  in  England  erhalten.1  Dort  kommt  es  noch 
heut  vor,  wenn  auch  bei  weitem  seltener  als  früher,  dass  die  Studierenden 
der  Heilkunde  ihre  Studien  damit  heginnen,  dass  sie  sich  zu  einem 
praktischen  Arzt  in  die  Lehre  begeben;  sie  bleiben  bei  ihm  ein  Jahr 
hindurch,  um  einen  allgemeinen  Überblick  dessen  zu  gewinnen,  was 
das  Leben  einst  von  ihnen  fordern  wird.2  Bei  dieser  Methode  hängt 
natürlich  sehr  viel  von  der  Individualität  des  Schülers  und  nahezu 
Alles  von  der  Persönlichkeit  des  Lehrers  ab.  Ist  der  Schüler  fleissig 
und  begabt,  und  besitzt  der  Lehrer  Geduld,  Kenntnisse  und  Freude  an 
seiner  Thätigkeit,  dann  ist  dieses  Jahr  für  den  ersteren  von  unschätz- 
barem Vortheil  für  seine  späteren  Studien;  im  anderen  Falle  ist  es  ver- 
lorene Zeit  und  dient  höchstens  dazu,  ihn  mit  einer  handwerksmässigen 
Routine  auszustatten,  die  manchmal  nahe  an  Charlatanerie  streift. 

Ähnlich  verhält  es  sich,  wenn  das  erste  Jahr  der  medicinischen 
Studienzeit  in  einem  Hospital  zugebracht  wird,  wie  es  auch  häufig  ge- 
schieht. Die  Studierenden  glauben,  dass  sie  dort  Gelegenheit  haben, 
viele  Kranke  zu  beobachten,  und  hoffen  von  den  Hausärzten  über  die 
wichtigsten  Ereignisse  Belehrung  zu  erhalten.  Wenn  sie  in  diesen 
Erwartungen  nicht  getäuscht  werden,  so  können  sie  sich  allerdings 
eine  gewisse  Gewandtheit  im  Verkehr  mit  den  Kranken  aneignen, 
welche  ihnen  in  ihrer  späteren  klinischen  und  ärztlichen  Wirksamkeit 
sehr  nützlich  ist. 

Aber  in  manchen  andern  Beziehungen  muss  diese  Form  der  Ein- 
führung in  die  medicinischen  Studien  grosse  Bedenken  erregen.  Sie 
verleitet  den  Schüler  zur  Oberflächlichkeit,  indem  sie  ihn  gewöhnt, 
das  Wesen  der  Dinge  nur  zu  streifen,  weil  ihm  die  Kenntnisse  und 
das  Verständniss  fehlen,  um  ihnen  auf  den  Grund  zu  gehen.  Auch 
dürften  die  Ergebnisse,  welche  auf  diese  Weise  erzielt  werden,  wohl 
kaum  den  Opfern  an  Zeit  und  Mühe  entsprechen,  die  sie  den  Ärzten, 
die  dabei  die  Rolle  als  Lehrer  spielen,  verursachen,  und  noch  weniger 
die   Unbequemlichkeiten    rechtfertigen,    welche   sie    für    die    Kranken- 


1  Th.  Puschmann:  Das  medieinisehe  Unterrichtswesen  in  England  in  der 
Beil.  d.  Allg.  Zeitung,  München  1886,  No.  7—9.  Dieser  Aufsatz,  den  ich  s.  Z. 
unter  dem  frischen  Eindruck  der  eigenen  Anschauung  geschrieben  habe,  bildete 
eine  Vorarbeit  des  vorliegenden  Buches. 

2  Ch.  Bell  Keetley:  The  Students  Guide  to  the  medical  profession,  London 
1878,  p.  16  u.  ff. 


England.  —  Nord- Amerika.  413 


behandlung  im  Gefolge  haben.  Jedenfalls  ist  diesem  Herumtasten  auf 
unbekannten  Gebieten  der  systematische  Unterricht  an  einer  medi- 
cinischen  Schule  bei  weitem  vorzuziehen. 

Aus  diesem  Grunde  ist  es  mehr  und  mehr  üblich  geworden,  dass 
die  Studierenden  sofort  eine  medicinische  Fachschule  oder  eine  Univer- 
sität besuchen.  Die  medicinischen  Schulen  Englands  haben  sich  aus 
der  eben  beschriebenen  Form  des  Unterrichts  entwickelt;  sie  lehnen 
sich  an  Hospitäler  an  und  sind  dadurch  entstanden,  dass  die  Ärzte  der- 
selben Schüler  annahmen  und  Unterricht  in  der  Heilkunst  gaben.  Als 
die  Bedürfnisse  des  Unterrichts  wuchsen,  vertheilten  sie  die  Vertretung 
der  einzelnen  Zweige  der  Heilkunde  unter  sich  und  trugen,  wenn  sie 
seihst  in  einzelnen,  z.  B.  den  theoretischen  Fächern  sich  nicht  zu 
Lehrern  befähigt  erachteten,  dafür  Sorge,  dass  geeignete  Lehrkräfte  er- 
worben und  die  nothwendigen  Lehrmittel  und  Institute  angeschafft 
wurden. 

Nur  ein  kleiner  Bruchtheil  der  Studierenden  der  Medicin  bezog 
die  Universität,  da  dieselbe  bis  in  die  neueste  Zeit  der  für  das  Studium 
der  Heilkunde  erforderlichen  Einrichtungen  entbehrte.  Die  englischen 
Hochschulen  waren  eigentlich  nichts  weiter  als  verlängerte  Gymnasien, 
wie  sie  J.  Döllingee  bezeichnete,  welche  nicht  die  Aufgabe  haben, 
Beamte  zu  bilden  und  Juristen,  Ärzte  oder  Naturforscher  zu  liefern, 
sondern  „durch  classische  und  mathematische  Studien  nebst  Logik  und 
Moralphilosophie  und  durch  eine  Collegienerziehung  dem  Staat  und  der 
Gesellschaft  den  gebildeten  und  unabhängigen  Gentleman  und  daneben 
der  Staatskirche  einen  weniger  theologisch,  als  classisch  und  literarisch 
gebildeten  Klerus  zu  liefern". 

Einen  anderen  Charakter  zeigten  die  schottischen  Hochschulen, 
besonders  Edinburg,  wo  man  schon  in  früher  Zeit  anfing,  die  prak- 
tische Heilkunde  in  den  Bereich  des  medicinischen  Unterrichts  zu  ziehen. 

Die  verschiedenartigen  Wege,  auf  denen  die  medicinischen  Kennt- 
nisse erworben  wurden,  lassen  es  begreiflich  erscheinen,  dass  unter  den 
Ärzten  grosse  Unterschiede  in  Bezug  auf  ihr  Wissen  und  ihre  Geschick- 
lichkeit bestanden.  Dazu  kam,  dass  sie  nicht  genöthigt  waren,  darüber 
ernste  Rechenschaft  zu  geben.  Der  Staat  kümmerte  sich  nicht  darum, 
ob  und  wo  der  künftige  Arzt  die  Befähigung  für  seinen  Beruf  erlangte; 
er  gestattete  Jedem,  die  ärztliche  Praxis  auszuüben,  und  überliess  es 
dem  Publikum,  die  guten  Ärzte  zu  sondern  von  den  schlechten. 

Dabei  war  natürlich  nur  der  Erfolg  entscheidend.  Die  Heilkünstler, 
welche  diesem  unsicheren  Urtheil  misstrauten,  suchten  durch  Zeugnisse, 
in  denen  ihre  medicinischen  Studien  und  ihre  ärztliche  Tüchtigkeit 
bestätigt  wurden,  die  öffentliche   Meinung  zu  gewinnen.     Verschiedene 


414  Der  medizinische   Unterrieht  in  der  neuesten  Zeit. 


ärztliche  Genossenschaften  und  medicinische  Schulen  waren  dazu  gegen 
Entrichtung  der  üblichen  Taxen  bereit  und  nahmen  Prüfungen  ab,  die 
aber  weder  einheitlich  organisirt,  noch  von  einer  Centralstelle  über- 
wacht wurden,  und  daher  durchaus  nicht  eine  Gewähr  für  die  Bildung 
des  Arztes  boten. 

Manche  erwarben  ein  Diplom  im  Auslande  oder  suchten  sich  das- 
selbe auf  illegale  Weise  zu  verschaffen;  auch  hatte  der  Erzbischof  von 
Canterbury  das  Recht,  Doktoren  der  Medicin  zu  ernennen.  Zuletzt 
kam  es  soweit,  dass  es  genügte,  wenn  Jemand  von  zwei  Mitgliedern 
einer  ärztlichen  Genossenschaft  der  Behörde  als  Arzt  vorgestellt  wurde, 
damit  er  als  solcher  anerkannt  wurde. 

Derartige  Zustände  mussten  für  die  Kranken,  auf  welche  diese 
Heilkünstler  „losgelassen"  wurden,  schwere  Nachtheile  im  Gefolge  haben. 
Der  unerschütterliche  Gleichmuth  des  englischen  Volkes  wurde  dadurch 
endlich  aufgerüttelt,  und  das  Parlament  veranlasst,  Abhilfe  dagegen  zu 
treffen.  Das  Ergebniss  der  Berathungen  desselben  war  die  Medical  Act 
v.  J.  1858,  in  welcher  genau  bestimmt  wurde,  welche  Körperschaften 
fortan  das  Hecht  haben,  ärztliche  Prüfungen  abzunehmen  und  gültige 
Zeugnisse  darüber  auszustellen. 

Sie  wurden  der  Aufsicht  des  General  Council  of  medical  education 
and  registration  of  the  united  kingdom  unterstellt,  welcher  darauf 
achten  soll,  dass  die  Prüfungen  ihrem  Zweck  entsprechen.  Ist  dies 
nicht  der  Fall,  so  steht  dem  General  Council  die  Befugniss  zu,  eine 
Zurechtweisung  der  Examinatoren  zu  veranlassen,  oder  wenn  die  Übel- 
stände nicht  beseitigt  werden,  die  Aufhebung  des  der  betreffenden 
Corporation  ertheilten  Prüfungs-Privilegiums  zu  bewirken. 

Die  Namen  der  Personen,  welche  vor  einer  zur  Abnahme  der 
Prüfungen  legitimirten  Körperschaft  ihre  Befähigung  zur  Ausübung  der 
ärztlichen  Thätigkeit  nachgewiesen  haben,  werden  in  ein  Verzeichniss 
aufgenommen,  welches  vom  General  Council  geführt  und  dem  Publikum 
bekannt  gemacht  wird;  nur  solche  durch  das  Gesetz  anerkannte  Ärzte 
können  beim  Gericht  die  Klagen  auf  rückständige  Honorar-Forderungen 
geltend  machen  und  amtliche  Stellungen  erlangen. 

Der  General  Council,  welchem  übrigens  noch  andere  auf  das  Me- 
dicinalwesen  bezügliche  Aufgaben  übertragen  wurden ,  besteht  aus 
24  Mitgliedern,  von  denen  17  durch  die  verschiedenen  Prüfungskörper- 
schaften gewählt,  6  von  der  Krone  ernannt  und  1,  nämlich  der  Prä- 
sident, vom  General  Council  selbst  bestimmt  wird.  Mit  diesem  Gesetz 
wurde  für  die  weitere  Entwickelung  des  medicinischen  Unterrichts- 
wesens in  England  eine  feste  Grundlage  gegeben,  welche  wenigstens 
die  gröbsten  Missbräuche  verhinderte. 


England.  —  Nord- Am&rika.  415 


Die  Mängel,  welche  es  zeigte,  riefen  Verbesserungsvorschläge  hervor, 
welche  aber  gar  nicht  oder  doch  nur  zum  Theil  ausgeführt  wurden. 
Im  J.  1881  wurde  eine  Commission  von  Fachmännern  berufen,  welche 
über  die  Fragen  des  medicinischen  Unterrichts  Berathungen  hielt.  Bei 
dieser  Gelegenheit  wurde  die  Notwendigkeit  einer  allgemeinen  wissen- 
schaftlichen Vorbildung  für  den  Studenten  der  Medicin  hervorgehoben, 
die  Einführung  von  Staatsprüfungen  angeregt  und  verlangt,  dass  nur 
Diplome  der  Befähigung  zur  Ausübung  der  gesammten  Heilkunde,  nicht 
aber  einzelner  Theile  derselben  ausgestellt  werden.  Aber  die  Mehrheit 
verhielt  sich  ablehnend  dagegen  und  verwarf  mit  aller  Entschiedenheit 
die  absolute  Gleichförmigkeit  der  ärztlichen  Erziehung,  indem  sie  es  als 
einen  besonderen  Vorzug  des  englischen  Systems  betrachtete,  dass  es 
innerhalb  gewisser  Grenzen  die  Freiheit  der  Bewegung  gestattet  und 
eine  bei  der  Verschiedenheit  der  Lehranstalten  natürliche  Mannigfaltig- 
keit der  Bildung  hervorbringt. l 

Gegenwärtig  erwerben  die  Studierenden  der  Heilkunde  die  läch- 
wissenschaftliche Bildung  hauptsächlich  an  den  medicinischen  Schulen 
und  den  Universitäten.  An  den  ersteren  ist  kein  Mangel;  in  London 
allein  existiren  zwölf.  Sie  sind  mit  Krankenhäusern  verbunden  und 
werden  gewöhnlich  darnach  genannt, 

Die  älteste  Schule  ist  diejenige  des  St.  Bartholomeus- Hospitals, 
dessen  ereignissreiche  Geschichte  mit  der  Entwk-kclung  der  Heilkunde 
in  England  eng  verknüpft  ist,  Diese  Krankenanstalt  besteht  seit  1164 
und  die  frühesten  Nachrichten,  dass  dort  medicinischer  Unterricht  or- 
theilt wurde,  stammen  vom  Jahre  1662.  Zu  den  Ärzten  derselben 
gehörten  William  Harvey,  der  Entdecker  des  Blutkreislaufs,  und  später 
die  Chirurgen  Percival  Pütt  und  Abernethy.2 

Die  Gründung  des  St.  Thomas-Hospitals,  mit  welchem  ebenfalls 
eine  ärztliche  Lehranstalt  verbunden  ist,  wird  in  das  13.  Jahrhundert 
verlegt;  in  den  Akten  dieser  Anstalt  wird  schon  1551  ein  ärztlicher 
Lehrling  erwähnt.  Ihre  jetzigen  Gebäude  wurden  1871  der  Benutzung 
übergeben  und  erregen  durch  ihre  zweckmässigen  Einrichtungen  die 
Bewunderung  der  Fachmänner. 


1  Report  of  the  royal  commissioners  appointed  to  inquire  into  the  medical 
acts,  presented  to  both  houses  of  Parliament  (Engl.  Blaubuch  1882,  Vol.  29) 
Abs.  37:  It  would  be  a  mistake  to  introduce  absolute  uniformity  into  medical 
education.  One  great  merit  of  the  present  System,  so  far  as  teaching  is  concerned, 
lies  in  the  elasticity  wliich  is  produced  by  the  variety  and  the  numbers  of 
educating  bodies. 

2  N.  Moore  in  St.  Bartholomews  Hospital  Rep.,  London  1882,  XVIII, 
p.  333 — 358.  —  W.  A.  Delamotte:  The  royal  Hospital  of  St.  Bartholomews, 
London  1846. 


416  Der  medicinisehe    Unterricht  in  der  neuesten   Zeit. 


Auch  St.  Georges-Hospital,  das  Middlesex- Hospital,  das  London- 
Hospital,  das  Westminster-Hospital,  das  Charing-Cross-Hospital,  St.  Mary's 
Hospital  und  Guy 's  Hospital,  werden  zum  medicinischen  Unterricht 
benutzt  und  dienen  als  ärztliche  Schulen.1 

Das  Kings  College  und  das  Universitj  College,  welches  übrigens 
keineswegs  mit  der  London  University  identisch  ist,  schliessen  sich 
zwar  auch  an  Krankenhäuser  an;  aber  sie  unterscheiden  sich  von  den 
übrigen  medicinischen  Schulen  dadurch,  dass  sie  nicht  isolirt  sind, 
sondern  in  einem  organischen  Zusammenhange  mit  juristischen,  philo- 
sophischen und  naturwissenschaftlichen  Facultäten,  mit  technischen  In- 
stituten u.  a.  m.  stehen.  Ausserdem  existirt  in  London  eine  medicinisehe 
Schule  für  Frauen,   welche   sich  dem  ärztlichen  Beruf  widmen  wollen. 

In  den  übrigen  Städten  Englands  bestehen  medicinisehe  Unter- 
richtsanstalten zu  Birmingham,  Bristol,  Leeds,  Liverpool,  Sheffield, 
Dublin,  Belfast,  Cork,  Galway,  Edinburg,  Glasgow  u.  a.  0.;  auch  giebt 
es  Schulen,  welche  keine  vollständige  medicinisehe  Ausbildung,  sondern 
nur  L'nterricht  in  einzelnen  Fächern  gewähren,  wie  die  West  London 
hospital  preparatory  school  oder  Cookes  anatomische  Schule.  In  den 
brittischen  Colonien,  in  Canada  und  in  Brittisch-Indien  befinden  sich 
gleichfalls  eine  Menge  von  medicinischen  Lehranstalten,  welche  nach 
englischem  Muster  eingerichtet  sind;  auch  zu  Valetta  auf  der  Insel 
Malta  giebt  es  ein  derartiges  Institut.2 

Die  medicinischen  Schulen  Englands  sind  ebenso  wie  die  Hospitäler, 
zu  welchen  sie  gehören,  im  Allgemeinen  Privat-Unternehmungen.  Der 
Staat  zahlt  weder  ihre  Unterhaltungskosten,  noch  leistet  er  einen  Zu- 
schuss  dazu;  ebensowenig  übt  er  irgend  welchen  Einfluss  auf  ihre 
Organisation  und  Verwaltung  oder  auf  den  Unterricht  aus,  der  dort 
ertheilt  wird.  Dafür  giebt  der  Besuch  dieser  Schulen  auch  keineswegs 
das  Recht  zur  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis.  Die  Lehrkörper  der- 
selben haben  nicht  die  Befugniss,  Prüfungen  abzuhalten,  welche  eine 
öffentliche  Geltung  besitzen,  sondern  sind  genöthigt,  zu  diesem  Zweck 
ihre  Schüler  den  ärztlichen  Corporationen  und  Examinationsbehörden 
zu  überweisen,  deren  Zeugnisse  und  Diplome  die  Licenz  zur  Praxis  ge- 
währen. 

Der  private  Charakter  der  medicinischen  Schulen  tritt  namentlich 


1  Benj.  Golding:  An  historical  aecount  of  St.  Thomas  Hospital,  London 
1819.  —  Erasmus  Wilson:  The  history  of  the  Middlesex  Hospital,  London  1845. 
—  W.  E.  Page:  St.  Georges  Hospital,  London  1866.  —  B.  Golding:  The  origin, 
plan  and  Operations  of  the  Charing  Cross  Hospital,  London  1867. 

2  H.  B.  Hardwickk:  Medical  education  and  practise  in  all  parts  of  the 
world,  London  1880. 


England.  —  Nord- Amerika.  417 


in  der  Einrichtung  derselben,  in  ihrer  Ausstattung  mit  Lehrmitteln, 
bei  der  Auswahl  des  Lehrerpersonals  u.  a.  m.  hervor.  Das  entscheidende 
Wort  in  diesen  Angelegenheiten  spricht  das  Curatorium,  welches  die 
Aufsicht  über  das  Hospital  führt;  ihm  fällt  die  Aufgabe  zu,  die  Ärzte 
desselben  und  die  Lehrer  der  Schule  anzustellen.  Da  diese  Curatorien 
nicht  oder  doch  nur  zum  geringsten  Theile  aus  Fachmännern,  sondern 
hauptsächlich  aus  Laien  bestehen,  so  liegt  die  Gefahr,  dass  Protektion 
und  Nepotismus  bei  der  Besetzung  der  Stellen  wirken,  nicht  gar  fern, 
umsomehr  als  dieselbe  nicht,  wie  in  Deutschland  und  Österreich,  auf 
Grund  hervorragender  wissenschaftlicher  Leistungen,  oder  wie  in  an- 
deren Ländern,  durch  Concurs  erfolgt. 

Die  Besoldungen  der  Lehrer  fliessen  aus  den  Erträgnissen,  welche 
das  Schulgeld  liefert;  nur  in  besonderen  Eällen,  wenn  dasselbe  wegen 
Mangels  an  Schülern  zu  geringfügig  ist  oder  wenn  es  gilt,  eine  be- 
rühmte Lehrkraft  zu  gewinnen,  bewilligen  die  Curatorien  ausserordent- 
liche Zuschüsse.  Die  Schulgelder  sind  in  Folge  dessen  ziemlich  be- 
trächtlich. So  kostet  z.  B.  am  St.  Bartholomeus  Hospital  zu  London 
der  Besuch  eines  Cursus  über  Physiologie  9  Guineen,  über  Materia 
medica  6x/2  Guineen,  über  Botanik  oder  gerichtliche  Medicin  4  Gui- 
neen, am  Thomas -Hospital  die  Theilnahme  an  den  Sektionsübungen 
während  drei  Monaten  4  Guineen;  doch  geschieht  es  nur  ausnahms- 
weise, dass  der  Studierende  ein  einzelnes  Colleg  belegt.  Gewöhnlich 
betheiligt  er  sich  an  sämmtlichen  Vorlesungen  und  Demonstrationen, 
welche  der  Studienplan  der  Schule  empfiehlt,  und  zahlt  dafür  ein  be- 
stimmtes Pauschale,  welches  grösser  oder  geringer  ist,  je  nachdem  das 
Geld  sofort  oder  in  verschiedenen  Terminen  erlegt  wird,  aber  niemals 
weniger  als  125  Pfund  Sterling,  also  2500  Mark,  für  die  gesammte 
Studienzeit  beträgt.  Dazu  kommen  manchmal  noch  besondere  Aus- 
gaben für  die  Benutzung  von  Instrumenten,  für  die  Leichen  theile, 
welche  zum  Studium  dienen,  u.  a.  m. 

Die  Ausstattung  der  einzelnen  Schulen  mit  Lehrmitteln  ist  sehr 
verschieden.  Manche  haben  hohe  luftige  Hörsäle,  zweckmässige  Räume 
für  anatomische  Secirübungen,  gut  eingerichtete  physiologische  und 
chemische  Laboratorien,  naturwissenschaftliche  Sammlungen,  anatomi- 
sche und  pathologische  Museen,  Bibliotheken  und  klinische  Institute 
aller  Art;  Andere  leiden  daran  Mangel  und  bieten  in  dieser  Hinsicht 
weniger,  als  die  kleinste  medicinische  Facultät  in  Deutschland. 

Der  Lehrplan  der  medicinischen  Schulen  richtet  sich  nach  den 
Prüfungen,  welchen  sich  die  Studierenden  später  unterziehen  wollen. 
Im  Allgemeinen  werden  die  vorbereitenden  und  propädeutischen  Fächer 
nicht  in  dem  gleichen  Grade  berücksichtigt,  wie  diejenigen  Disciplinen, 

Puschmann,   Unterricht.  27 


418  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

welche  mit  der  Praxis  unmittelbar  zusammenhängen.  Der  Utilitarismus, 
welcher  das  englische  Volk  beherrscht,  kommt  vielleicht  nirgends  so 
unverhüllt  zum  Ausdruck,  als  in  diesen  Anstalten,  welche  lediglich 
das  Ziel  verfolgen,  für  die  ärztlichen  Prüfungen  vorzubereiten.  Sie 
gleichen  darin  den  Instituten,  welche  in  Deutschland  für  eine  möglichst 
rasche  Ausstattung  mit  der  für  die  Officiers- Aspiranten  geforderten 
Allgemeinbildung  Sorge  tragen  und  unter  dem  Namen  der  Fähnrichs- 
pressen bekannt  sind. 

Dagegen  sehen  es  die  englischen  Universitäten  als  ihre  vornehmste 
Aufgabe  an,  den  Sinn  für  wissenschaftliche  Bestrebungen  zu  beleben 
und  zu  erhalten.  Wer  dort  die  medicinischen  Studien  treibt,  hat  die 
Absicht,  eine  gründliche  tiefe  Ausbildung  in  den  naturwissenschaftlichen 
und  vorbereitenden  Disciplinen  zu  erwerben  und  akademische  Grade 
zu  erlangen.  Doch  ist  der  Aufenthalt  an  der  Universität  kostspieliger 
als  an  den  medicinischen  Schulen,  weil  er  die  Studienzeit  verlängert 
und  durch  das  Zusammenleben  mit  reichen  Jünglingen  und  die  Theil- 
nahme  an  den  gemeinsamen  Vergnügungen  zu  manchen  Ausgaben 
verleitet,  zu  denen  an  den  Fachschulen  keine  Veranlassung  ist.  Die 
Ärzte,  welche  die  Universität  besucht  und  dort  promovirt  haben,  ge- 
hören durch  ihr  Wissen  und  ihre  gesellschaftliche  Stellung  zu  der  Elite 
ihres  Standes. 

Die  englischen  Universitäten  sind  ebensowenig  als  die  medicini- 
schen Schulen  Staatsanstalten.  Ihre  Unterhaltungskosten  werden  aus 
den  Schulgeldern,  welches  die  Studierenden  zahlen,  und  aus  den  Er- 
trägnissen ihrer  reichen  Stiftungen  bestritten.  Die  Verwaltung  und 
Leitung  führen  Senate,  welche  sich  aus  Männern  von  hervorragender 
Lebensstellung  und  Professoren  der  Hochschule  zusammensetzen. 

Im  Gegensatz  zu  den  Universitäten  des  übrigen  Europas  sind  die 
englischen  nicht  blos  Unterrichts-,  sondern  zugleich  Erziehungsanstalten. 
Ihrem  Verbände  gehören  eine  grosse  Anzahl  von  Colleges  und  Halls 
an,  d.  s.  klosterähnliche  Pensionate,  in  denen  die  Studierenden  zusammen 
wohnen  und  leben,  Kost  erhalten  und  in  ihren  Studien  unterstützt 
werden.  Oxford  besitzt  25,  Cambridge  17  derartige  Institute.  Einzelne 
von  ihnen  reichen  bis  ins  Mittelalter  zurück.  Sie  verdanken  ihre  Ent- 
stehung frommen  Vermächtnissen  und  Schenkungen  und  sind  mit  Geld- 
mitteln reichlich  ausgestattet. 

Leider  werden  dieselben  nicht  immer  in  zweckmässiger  und  ge- 
rechter Weise  verwendet.  Anstatt  zur  Hebung  der  Wissenschaft  und 
zur  Unterstützung  armer  Studierender  dienen  sie  hauptsächlich  zu  ein- 
träglichen Sinecuren  für  den  Master  und  die  Fellows,  d.  h.  den  Vorstand 
und  die  Beamten  der  Colleges.      So   bezieht   der  Master   des   Trinity 


England.  —  Nord- Amerika.  419 

College  zu  Cambridge  60  000  Mark  und  die  60  Fellows  zwischen  5400 
und  15  000  Mark  jährlich,  ohne  dass  sie  dafür  entsprechende  Dienste 
leisten.  Würden  diese  Stellen  ausnahmslos  an  solche  Personen  ver- 
liehen, welche  ihr  Leben  der  wissenschaftlichen  Forschung  geweiht  und 
in  dieser  Thätigkeit  bereits  Erfolge  errangen  haben,  so  könnte  man 
dies  vielleicht  rechtfertigen;  aber  von  den  Bewerbern  um  die  Fellow- 
ship  wird  nur  verlangt,  dass  sie  einen  akademischen  Grad  besitzen. 
Die  Protektion  giebt  bei  der  Besetzung  den  Ausschlag;  dass  dabei  die 
Geistlichkeit  den  Löwenantheil  davon  trägt,  liegt  in  den  englischen 
Verhältnissen,  welche  dem  Klerus  der  Hochkirche  eine  sociale  Macht 
zugestehen,  wie  sie  die  katholische  Geistlichkeit  in  Tyrol  vergeblich 
anstrebt. 

Ein  Mitglied  des  Senats  der  Universität  Cambridge  klagte  öffent- 
lich darüber,  dass  die  Stellen  der  Vorstände  der  dortigen  Colleges  nur 
mit  Geistlichen  besetzt  und  die  Fellowships  an  Leute  vergeben  werden, 
welche  nicht  das  Geringste  für  die  Wissenschaft,  die  Universität  oder 
das  College  thun. x  E.  Benan  sagt,  dass  eine  kleine  deutsche  Univer- 
sität mit  ihren  linkischen  Professoren  und  hungernden  Privatdocenten 
für  die  Wissenschaft  mehr  leistet,  als  alle  prunkenden  Beichthümer 
Oxfords. 

Die  meisten  der  Colleges  zu  Oxford  und  Cambridge  befinden  sich 
in  alterthümlichen,  wegen  ihrer  Architektur  und  ihrer  Kunstdenkmäler 
sehenswerthen  Gebäuden,  welche  mit  ihren  Thürmen  und  Bogen,  ihren 
Kapellen,  Säulengängen  und  Befektorien  an  längst  vergangene  Zeiten 
erinnern;  aber  auch  der  Geist,  der  in  diesen  Anstalten  herrscht,  ist 
derjenige  der  Scholastik.  Obwohl  es  ein  britischer  Mönch  war,  welcher 
im  13.  Jahrhundert  die  ersten  mächtigen  Angriffe  dagegen  richtete, 
hat  sich  doch  gerade  in  seiner  Heimath  jene  mittelalterliche  Welt- 
anschauung bis  heut  erhalten.  Das  theologische  Dogma  beherrscht  das 
Unterrichtswesen  und  das  gesammte  geistige  Leben  des  englischen 
Volkes  und  hat  ihm  einen  pietistischen  Zug  aufgedrückt,  der  zu  seinem 
politischen  Freisinn  und  seinem  rastlosen  Haschen  nach  irdischen  Be- 
sitzthümern  nicht  recht  passt. 

Auch  in  der  äusseren  Erscheinung  der  Professoren  und  Studenten 
prägt  sich  der  theologische  Charakter  aus;  wenn  sie  in  ihren  langen 
schwarzen  Talaren  und  barettähnlichen  Kopfbedeckungen  einherschreiten, 
so  glaubt  man  sich  in  jene  Zeit  versetzt,  da  die  Mönche  die  Erziehung 
der  Jugend  leiteten.  Die  Studierenden  stehen  unter  einer  strengen 
Zucht;  sie  werden  nicht  wie  junge  Männer,  die  für  eine  gewisse  Freiheit 


1  A  fevv  brief  rernarks  on  Cambridge  University,  London  1870. 

27* 


420  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

und  Selbstständigkeit  reif  sind,  sondern  wie  Schüler,  die  einer  bestän- 
digen Aufsicht  bedürfen,  behandelt. 

Unter  den  Studenten  befinden  sich  Personen  von  sehr  verschie- 
denem Alter;  doch  gilt  im  Allgemeinen  das  16.  Lebensjahr  als  untere 
Altersgrenze.  Nicht  weniger  unterscheiden  sie  sich  in  Bezug  auf  ihre 
Kenntnisse;  während  Manche  kaum  die  Elementarstufen  der  Allgemein- 
bildung überwunden  haben,  giebt  es  Andere,  welche  durch  ihre  wissen- 
schaftlichen Arbeiten  bereits  die  Aufmerksamkeit  der  fachmännischen 
Kreise  erregen. 

Verhältnissmässig  gering  ist  die  Zahl  der  Professuren,  sie  beträgt 
in  Oxford  48,  in  Cambridge  sogar  nur  37  in  sämmtlichen  Facul täten. 
Doch  giebt  es  ausserdem  noch  eine  grosse  Anzahl  von  Readers  oder 
Lecturers  und  Tutors,  welche  entweder  an  der  Universität  oder  an 
einem  College  thätig  sind,  Vorträge  halten,  Repetitionen  veranstalten 
und  Privat-Lektionen  geben.  An  manchen  Hochschulen  liegt,  wie  Ein- 
heimische versichern,  der  Unterricht  hauptsächlich  in  ihren  Händen. 
Wahrscheinlich  betrifft  dies  nur  die  zur  Allgemeinbildung  gehörigen 
Fächer;  bei  der  Medicin  und  den  Naturwissenschaften  dürfte  es  sicher- 
lich nicht  der  Fall  sein. 

Die  Heilkunde  findet  übrigens  an  den  englischen  Universitäten 
nur  eine  theilweise  Vertretung.  Früher  gab  es  dafür  fast  überall  nur 
eine  oder  zwei  Lehrkanzeln;  erst  in  neuester  Zeit  hat  man  dieselben 
vermehrt.  Dabei  wurden  jedoch  vorzugsweise  die  theoretischen  Disci- 
plinen,  besonders  die  Anatomie  und  Physiologie,  berücksichtigt. 

Die  Vervollständigung  der  ärztlichen  Bildung  durch  den  Unter- 
richt in  der  praktischen  Heilkunst  erfolgt  in  den  medicinischen  Schulen, 
welche  an  dem  gleichen  Ort  oder  in  der  Nähe  desselben  bestehen,  und 
der  Universität  einverleibt  sind  oder  wenigstens  Beziehungen  zu  der- 
selben haben.  In  Cambridge  bietet  Addenbrooke's  Hospital -Schule, 
in  Oxford  das  dortige  Krankenhaus,  in  Durham  die  medicinische  Schule 
zu  Newcastle-upon-Tyne  Gelegenheit  dazu,  während  in  Manchester 
Owens  College  einen  Theü  der  dort  i.  J.  1880  gegründeten  Universität 
bildet.  Ähnliche  Beziehungen  unterhalten  die  seit  1591  bestehende 
Universität  Dublin  (Trinity  College)  und  die  Royal  University  of  Ire- 
land,  welche  1881/83  an  die  Stelle  der  aufgelösten  Queens  University 
getreten  ist,  zu  dortigen  medicinischen  Schulen  und  Hospitälern. 

Enger  ist  die  Verbindung  zwischen  den  medicinischen  Facultäten 
und  Universitäten  in  Schottland.  Die  ältesten  dortigen  Universitäten 
zu  St.  Andrews,  Glasgow  und  Aberdeen  entstanden  unter  dem  Einfluss 
des  katholischen  Klerus  und  wurden  von  ihm  geleitet;  ein  medicinisches 
Studium  bestand  nur  in  St.  Andrews. 


England,  —  Nord -Amerika.  421 

Die  Universität  Edinburg  begann  als  College  und  entwickelte  sich 
als  städtische  Unterrichtsanstalt  nach  dem  Muster  der  Genfer  Aka- 
demie.1 Da  die  dortige  ärztliche  Zunft  einen  botanischen  Garten  an- 
legte und  medicinischen  Unterricht  ertheilte,  so  lag  es  nahe,  den  letz- 
teren in  den  Verband  der  Hochschule  zu  ziehen.  In  Folge  dessen 
stellte  der  Stadtrath  von  Edinburg  i.  J.  1685  drei  Professoren  der 
Medicin  an  der  Universität  an;  es  waren  Ärzte  der  Stadt,  denen  man 
zwar  keine  Besoldung  gab,  wohl  aber  Lehrsäle  zur  Verfügung  stellte. 
Zu  den  ersten  Lehrern,  die  dort  wirkten,  gehörte  Archibald  Pitcaien. 
Im  J.  1770  bestanden  an  der  dortigen  medicinischen  Facultät  bereits 
Lehrkanzeln  für  Anatomie,  Institutionen,  medicinische  Praxis,  Geburts- 
hilfe, Chemie,  Botanik,  Materia  medica  und  Naturgeschichte,  sowie  eine 
anatomische  Lehranstalt,  ein  botanischer  Garten,  ein  chemisches  Labo- 
ratorium und  eine  Klinik.  Im  J.  1802  wurde  eine  chirurgische  und 
1825  eine  geburtshilfliche  Klinik  eröffnet.  Im  J.  1816  schlug  der 
Stadtrath  die  Errichtung  einer  Professur  für  vergleichende  Anatomie 
und  Veterinärchirurgie  vor;  aber  der  akademische  Senat  sprach  sich 
dagegen  aus.  Im  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts  wurden  diejenigen 
Institute  geschaffen,  welche  durch  die  Bedürfnisse  des  medicinischen 
Unterrichts  gefordert  wurden.  Ebenso  war  es  in  Glasgow  und  den 
anderen  beiden  Hochschulen. 

Neben  den  medicinischen  Facultäten  giebt  es  in  Edinburg  und 
Glasgow  noch  ärztliche  Fachschulen,  welche  unabhängig  von  der  Uni- 
versität sind. 

Die  University  of  London  ist  keine  Universität,  sondern  ein  In- 
stitut, an  welchem  Prüfungen  abgelegt  und  akademische  Grade  er- 
worben werden. 

Die  Hochschulen  in  den  überseeischen  Ländern,  welche  unter  der 
brittischen  Herrschaft  stehen,  sind  nach  dem  Vorbild  der  englischen 
organisirt. 

Wer  sich  dem  Studium  der  Heilkunde  widmet,  muss  sich  über 
den  Besitz  einer  gewissen  Allgemeinbildung  ausweisen.  Wenn  er  eine 
Universität  bezieht,  so  unterwirft  er  sich  zu  diesem  Zweck  dem  Matri- 
culations-Examen ;  besucht  er  eine  medicinische  Schule,  so  legt  er  die 
Prüfung  vor  einer  der  zahlreichen  Examinations-Commissionen  ab, 
welche  gültige  Zeugnisse  darüber  ausstellen  dürfen.  Die  wissenschaft- 
lichen Anforderungen  derselben  sind  nicht  überall  die  gleichen;  doch 
liegt  ihnen  ein  allgemeines  Schema  zu  Grunde,  das  mehr  oder  weniger 
zum  Ausdruck  gelangt.     Über  den  Grad  des  Wissens,    welcher  darin 

1  A.  Grant:  The  story  of  the  university  of  Edinburgh,  London  1884. 


422  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

verlangt  wird,  gestatten  die  Vorschriften  der  London  University  ein 
Urtheil;  sie  können  als  das  höchste  Maass  von  Kenntnissen  gelten,  die 
von  den  Prüflingen  vorausgesetzt  werden.1 

Als  Prüfungsgegenstände  werden  angeführt:  1)  Latein,  2)  zwei  der 
folgenden  Sprachen  je  nach  der  Wahl  des  Examinanden,  nämlich  Grie- 
chisch, Französisch  oder  Deutsch  oder  auch  anstatt  einer  dieser  drei 
Sprachen  Arabisch  oder  Sanskrit,  3)  englische  Sprache  und  Geschichte 
und  moderne  Geographie,  4)  Mathematik,  5)  Natural  Philosoph}7,  wie 
in  England  die  Physik  genannt  wird,  und  6)  Chemie.  Im  lateinischen 
Examen  werden  Stellen  aus  Julius  Caesar's  de  hello  Gallico,  Sallust, 
den  leichteren  Reden  Cicero's,  aus  Livius,  Ovid,  Virgil  und  Horaz 
ins  Englische  übersetzt,  im  griechischen  Xenophon,  Homer  und  Eu- 
ripides  vorgelegt  und  Fragen  aus  der  Grammatik  und  alten  Geschichte 
daran  geknüpft.  Die  betreffenden  Autoren  und  die  einzelnen  Abschnitte 
aus  ihren  Schriften,  welche  Gegenstände  der  jedesmaligen  Prüfung 
bilden,  werden  jedoch  schon  ll/2  Jahre  vorher  öffentlich  bekannt  ge- 
macht, so  dass  das  „Einpauken"  der  Schüler  darauf  ermöglicht  wird. 
Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Prüfung  aus  den  übrigen  Sprachen. 
Das  mathematische  Examen  befasst  sich  mit  den  Decimalbrüchen,  dem 
Ausziehen  von  Quadratwurzeln  und  einfachen  Gleichungen,  und  in  der 
Geometrie  mit  den  ersten  Büchern  Euklid's  und  ihrem  Inhalt.  Auch 
die  physikalischen  Kenntnisse,  welche  gefordert  werden,  tragen  einen 
durchaus  elementaren  Charakter  und  beschränken  sich  auf  die  einfachen 
Gesetze  und  Thatsachen  der  Mechanik,  Hydrostatik,  Pneumatik,  Wärme 
und  Optik  nebst  den  dabei  gebräuchlichen  Apparaten  und  Instrumenten. 
In  der  chemischen  Prüfung  wird  verlangt,  dass  der  Candidat  über  die 
wichtigsten  chemischen  Elemente  und  ihre  Eigenschaften,  die  bekann- 
teren chemischen  Prozesse  und  die  Zusammensetzung  des  Wassers,  der 
Luft  und  einzelner  häufig  vorkommender  Körper  Bescheid  wisse.  Dies 
ist  im  Wesentlichen  die  Summe  der  Kenntnisse,  welche  in  England 
die  Grundlage  der  fach  wissenschaftlichen  Studien  bilden;  doch  ermässigt 
sich  dieselbe  an  manchen  Orten  insofern,  als  dort  die  Prüfung  aus 
einigen  Fächern,  z.  B.  aus  den  Sprachen,  mit  Ausnahme  der  lateinischen 
und  englischen,  sowie  aus  der  Physik  und  Chemie,  nicht  obligat,  son- 
dern dem  freien  Belieben  des  Examinanden  anheimgestellt  ist  und 
daher  grösstentheils  wegfällt. 

Wenn  die  Allgemeinbildung  der  englischen  Studierenden  zurück- 
steht hinter  derjenigen  der  deutschen,  so  hat  die  englische  Erziehung 
doch  andererseits  den  grossen  Vorzug  vor  der  deutschen,  dass  sie  die 


1  Calendar  of  the  university  of  London  1883,  p.  53  u.  ff. 


England.  —  Nord- Amerika.  423 


Bedeutung  der  körperlichen  Entwicklung  in  vollem  Maasse  würdigt. 
Die  englischen  Schulen  sorgen  nicht  blos  für  die  geistige  Ausbildung, 
sondern  auch  für  die  körperliche  Gesundheit  und  Tüchtigkeit  ihrer 
Zöglinge.  In  den  Parkanlagen  und  Gärten,  mit  denen  viele  der  Colleges 
umgeben  sind,  verbringen  sie  einen  grossen  Theil  des  Tages;  körperliche 
Bewegungen  verschiedener  Art,  Ballspiele,  Kingübungen,  Turnen,  Reiten, 
Schwimmen,  Rudern  u.  a.  m.  erhalten  ihre  Gesundheit  und  stählen  ihre 
Kräfte.  Die  englischen  Studierenden  erscheinen  daher  im  Allgemeinen 
frischer,  gesunder  und  kräftiger  als  die  deutschen,  welche,  nachdem  sie 
am  Gymnasium  32  Stunden  in  der  Woche  auf  der  Schulbank  sitzen 
mussten  und  in  der  übrigen  Zeit  mit  Schulaufgaben  und  Privatstunden 
geplagt  wurden,  müde  und  abgearbeitet  die  Universität  beziehen  und 
häufig  über  Kurzsichtigkeit,  Brustbeschwerden  und  andere  Leiden  klagen. 

Der  medicinische  Studienplan,  welcher  der  fachlichen  Ausbildung 
der  meisten  englischen  Ärzte  zu  Grunde  liegt,  zeigt  an  den  einzelnen 
Lehranstalten  manche  Verschiedenheiten,  lässt  aber  überall  eine  merk- 
liche Bevorzugung  der  sogenannten  praktischen  Disciplinen  erkennen. 
Den  vorbereitenden  und  theoretischen  Wissenschaften,  die  zur  Heil- 
kunde gehören,  wird,  wenn  man  von  einzelnen  Universitäten  absieht, 
verhältnissmässig  wenig  Zeit  und  Arbeit  gewidmet.  Das  umfangreiche 
Gebiet  der  Physiologie,  deren  Unterricht  an  den  deutschen  Universitäten 
ein  ganzes  Jahr  hindurch  wöchentlich  6  Stunden  in  Anspruch  nimmt, 
wird  z.  B.  von  den  medicinischen  Schulen  Englands  innerhalb  6  Mo- 
naten in  3 — 4  Vorlesungen  wöchentlich  bewältigt;  ähnlich  ergeht  es 
den  Naturwissenschaften  und  der  Anatomie. 

Die  praktische  Beschäftigung  mit  der  letzteren,  die  anatomischen 
Zergliederungen,  finden  nur  in  beschränktem  Maasse  statt,  da  die  Leichen 
zu  hohen  Preisen  gekauft  werden  müssen.  Die  Händler,  welche  die 
Lieferung  derselben  besorgten,  griffen  früher  zuweilen  zu  dem  schon 
im  Mittelalter  beliebten  Mittel,  die  Leichen  von  den  Kirchhöfen  zu 
stehlen;  einzelne  dieser  Resurrections-men  begingen  sogar  Verbrechen 
wenn  es  an  dem  erforderlichen  Material  fehlte,  indem  sie  lebende  Men- 
schen umbrachten  und  ihre  Leichname  an  die  Anatomie  verkauften. 
Der  Prozess  der  Mörder  Hare  und  Burke  in  Edinburg,  in  welchen  der 
Anatom  Robert  Knox  verwickelt  wurde,  enthüllte  darüber  entsetzliche 
Einzelheiten.1  Erst  i.  J.  1832  wurde  in  England  die  Vornahme  ana- 
tomischer Secirübungen  gestattet  und  gesetzlich  festgestellt,  unter 
welchen  Bedingungen  sie    geschehen  dürfen.     Neben  den  praktischen 


1  H.  Lonsdale:  A  sketsch  of  the  life  and  writings  of  Rob.  Knox,  the  ana- 


tomist, London  1870. 


424  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Zergliederungen  dienen  hauptsächlich  Spiritus-Präparate  und  Wachs- 
Modelle  zum  Studium  der  Anatomie. 

Der  Unterricht  in  den  theoretischen  Wissenschaften  beschränkt 
sich  auf  die  Grundzüge  und  wichtigsten  Thatsachen  derselben,  nament- 
lich soweit  dieselben  Bedeutung  für  die  praktische  Ausübung  der  Heil- 
kunst haben.  Dieser  Gesichtspunkt,  nämlich  die  praktische  Verwend- 
barkeit der  erworbenen  Kenntnisse,  ist  der  rothe  Faden,  der  das  ganze 
Unterrichtssystem  der  medicinischen  Schulen  durchzieht.  Die  Lehrer 
derselben  fügen  sich  diesem  utilitarischen  Bedürfniss  und  heben  in 
ihren  Vorträgen  jederzeit  die  praktischen  Beziehungen  hervor;  dadurch 
erreichen  sie,  dass  das  Interesse  der  Schüler  geweckt  und  erhöht  wird. 

In  England  wird  der  Medianer  vom  ersten  Tage  seiner  Studienzeit 
an  daran  gewöhnt,  die  Heilkunst  als  das  Ziel  zu  betrachten,  das  ihm 
gesteckt  ist.  Häufig  betheiligt  er  sich  schon  im  ersten  Semester  an 
den  Krankenbesuchen,  welche  die  Ärzte  im  Hospital  machen.  Die 
letzten  Semester  werden  vollständig  den  klinischen  Studien  gewidmet, 
indem  die  Studierenden  in  den  Kliniken  und  den  verschiedenen  Ab- 
theilungen des  Krankenhauses  oder  bei  der  ambulatorischen  Behandlung 
in  den  poliklinischen  Instituten  Dienste  leisten,  die  Diätzettel  und  Ke- 
cepte  niederschreiben,  die  Kranken- Journale  führen,  chirurgische  Ver- 
bände anlegen,  bei  Operationen  assistiren  u.  dgl.  m.  Wenn  sie  auf 
chirurgischen  Abtheilungen  beschäftigt  werden,  heissen  sie  Dressers, 
wenn  sie  in  Abtheilungen  für  innere  Medicin  verwendet  werden,  Clerks. 
Wer  an  dem  zur  medicinischen  Schule  gehörigen  Hospital  keine  der- 
artige Stelle  findet,  erhält  in  den  zahlreichen  grösseren  Krankenhäusern 
des  Landes  Gelegenheit  dazu.  Die  Studierenden  sind  nur  verpflichtet, 
21/2  Jahre  an  der  medicinischen  Schule  zu  bleiben;  während  der 
übrigen  Studienzeit  dürfen  sie  in  der  erwähnten  Weise  an  einem  Ho- 
spital arbeiten. 

Zur  Abnahme  der  ärztlichen  Prüfungen  und  Ertheilung  der  Er- 
laubniss  zur  Praxis  sind  nach  der  Medical  Act  von  1858  im  Ganzen 
19  Corporationen  und  Behörden  berechtigt.  Es  sind  dies  die  Genossen- 
schaften der  Ärzte,  Chirurgen  und  Apotheker  in  London,  Edinburg, 
Glasgow  und  Dublin  und  die  medicinischen  Eacultäten  der  Universitäten. 

Die  wissenschaftlichen  und  finanziellen  Bedingungen,  welche  dabei 
gestellt  werden,  sind  ebenso  verschieden  als  die  Titel  und  Würden,  die 
erworben  werden.  In  welcher  Weise  dies  zur  Ausführung  gebracht 
wird,  mögen  folgende  Beispiele  erläutern.  Die  beiden  vornehmsten 
ärztlichen  Vereine  Londons,  das  Royal  College  of  Physicians  und  das 
Royal  College  of  Surgeons,  haben  sich  zu  gemeinsamen  Prüfungen  ver- 
einigt, nach  deren  glücklicher  Absolvirung  die  Approbations- Diplome 


England.  —  Nord-  Amerika.  425 


beider  Corporationen  verliehen  werden.  Um  zu  dieser  Prüfung  zuge- 
lassen zu  werden,  muss  der  Candidat  den  Nachweis  liefern,  dass  er 
Unterricht  in  der  Botanik,  Chemie,  Arzneimittellehre  und  Pharmacie 
erhalten,  im  chemischen  Laboratorium  gearbeitet,  zwölf  Monate  lang 
an  anatomischen  Secirübungen  Theil  genommen,  einen  sechsmonatlichen 
Cursus  über  normale  Anatomie  des  Menschen,  einen  sechsmonatlichen 
Cursus  über  Physiologie  und  Histologie  und  einen  dreimonatlichen 
praktischen  Cursus  über  die  beiden  letzteren  Gegenstände  besucht,  ferner 
sechs  Monate  Vorlesungen  über  innere  Medicin  und  über  Chirurgie, 
drei  Monate  über  Geburtshilfe  und  Gynäkologie  gehört,  mindestens 
20  Geburten  gesehen,  sowie  eine  systematische  Anleitung  zur  Ausübung 
der  praktischen  Heilkunde  empfangen,  z.  B.  die  verschiedenen  diagno- 
stischen Methoden,  die  Untersuchung  der  erkrankten  Gewebe  und  aus- 
geschiedenen Produkte,  den  Gebrauch  der  dabei  verwendeten  Instru- 
mente u.  ä.  m.  erlernt,  ausserdem  einen  dreimonatlichen  Cursus  über 
pathologische  Anatomie  erhalten,  während  der  klinischen  Thätigkeit  den 
klinischen  Sektionen  beigewohnt,  drei  Monate  hindurch  Vorträge  über 
gerichtliche  Medicin  gehört,  je  neun  Monate  die  medicinische  und  die 
chirurgische  Klinik,  drei  Monate  die  gynäkologische  Klinik  und  über- 
haupt 21/2  Jahre  das  Krankenhaus  besucht  hat,  je  sechs  Monate  als 
Clerk  und  als  Dresser  thätig  gewesen  ist  und  die  praktische  Befähigung 
zur  Vornahme  der  Vaccination  erworben  hat. 

Die  Prüfung  selbst  zerfällt  in  mehrere  Abschnitte,  von  denen 
einige  schon  während  der  Studienzeit  erledigt  werden.  Das  erste  Examen 
betrifft  die  Chemie,  Physik,  Arzneimittellehre,  Pharmacie  und  medici- 
nische Botanik  einerseits  und  die  elementare  Anatomie  und  Physiologie 
andererseits.  Es  kann  zur  Erleichterung  der  Prüflinge  in  zwei  Theile 
geschieden  werden,  welche  in  verschiedene  Zeiten  fallen;  doch  soll  das 
ganze  Examen,  wenn  möglich,  innerhalb  des  ersten  Studienjahres  ab- 
solvirt  werden.  Sechs  Monate  nachher  darf  der  Candidat  das  zweite 
Examen  ablegen,  welches  nur  die  Anatomie  und  Physiologie  umfasst, 
diese  beiden  Wissenschaften  aber  weit  eingehender  behandelt  als  in  der 
ersten  Prüfung.  Beim  dritten  und  letzten  Examen  bilden  innere  Me- 
dicin, Therapeutik,  pathologische  Anatomie  und  allgemeine  Pathologie, 
ferner  Chirurgie,  chirurgische  Anatomie  und  Pathologie,  Geburtshilfe 
und  Gynäkologie  die  Prüfungsgegenstände;  ausserdem  sollen  einige 
Fragen  aus  der  gerichtlichen  Medicin  und  öffentlichen  Gesundheits- 
pflege damit  verbunden  werden.  Auch  dieses  Examen  kann,  wie  das 
erste,  in  mehrere  Abtheilungen  zerlegt  und  zu  verschiedenen  Zeiten 
absolvirt  werden.  Es  darf  jedoch  nicht  früher  begonnen  werden,  als 
zwei  Jahre  nach  dem  zweiten  Examen.    Der  Candidat  muss  mindestens 


426  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


21  Jahr  alt  sein  und  eine  unbescholtene  Vergangenheit  haben.  Die 
Prüfungen  sind  theils  mündlich,  theils  schriftlich,  theils  praktischer 
Natur;  zur  letzteren  Klasse  gehören  z.  B.  die  Demonstrationen  anato- 
mischer Präparate,  die  Untersuchung  einzelner  Kranken,  die  Ausführung 
chirurgischer  Operationen  an  der  Leiche  u.  a.  m. 

Der  Candidat,  welcher  diese  drei  Prüfungen  besteht,  erhält  die 
Licenz  des  E.  College  of  Physicians  und  das  Diplom  eines  Member  of 
the  E.  College  of  Surgeons. 1  Damit  ausgerüstet  erscheint  er  dem 
Publikum  als  ein  in  jeder  Beziehung  tüchtiger,  in  allen  Theilen  der 
Heilkunst  gleichmässig  unterrichteter  Arzt.  Übrigens  wird  auch  jede 
dieser  beiden  Qualifikationen  von  der  betreffenden  Corporation  für  sich 
verliehen;  es  erleichtert  sich  dann  die  Prüfung  insofern,  als  entweder 
auf  die  Anatomie  und  die  chirurgischen  Fächer  oder  auf  Chemie, 
Physik,  Physiologie  und  innere  Medicin  weniger  Gewicht  gelegt  wird. 

Nach  derselben  Methode  verfahren  noch  andere  Corporationen, 
welche  entweder  in  Gemeinschaft  mit  anderen  Examinations-Commis- 
sionen  oder  für  sich  allein  ärztliche  Diplome  verleihen;  doch  begnügen 
sich  einzelne  Prüfungsbehörden  mit  geringeren  Leistungen.  So  wird 
z.  B.  vom  Royal  College  of  Physicians  in  Edinburg  nur  verlangt,  dass 
sich  der  Candidat  6  Monate  an  den  anatomischen  Secirübungen  be- 
theiligt, 3  Monate  Physiologie  gehört  und  6  Monate  die  medicinische 
und  3  Monate  die  chirurgische  Klinik  besucht  habe.  Das  Examen 
besteht  aus  zwei  Abtheilungen;  in  der  ersten  wird  Anatomie,  Physio- 
logie und  Chemie,  in  der  zweiten  Arzneimittellehre  und  Pharmacie, 
allgemeine  Pathologie  und  pathologische  Anatomie,  innere  Medicin, 
Chirurgie,  Geburtshilfe,  gerichtliche  Medicin  und  klinische  Medicin 
geprüft. 

Die  Apotheker- Gesellschaften  fordern  von  ihren  Prüflingen,  dass 
sie  sich  neben  dem  Studium  der  Heilkunde  noch  besonders  eingehend 
mit  den  Naturwissenschaften,  sowie  mit  Chemie  und  Pharmacie  be- 
schäftigt und  in  einer  Apotheke  oder  einem  pharmaceutischen  Labora- 
torium gearbeitet  haben.  Dass  die  Genossenschaften  der  Apotheker  in 
London  und  Dublin  zu  den  ärztlichen  Prüfungsbehörden  gehören,  er- 
klärt sich  daraus,  dass  dieselben  in  England  den  gleichen  Studiengang 
durchmachen,  wie  die  Ärzte,  und  daher  auch  die  Licenz  zur  Praxis 
besitzen.  Es  mag  sich  diese  Einrichtung  wohl  aus  der  von  jeher  be- 
stehenden Gewohnheit  des  Volkes,  in  der  Apotheke  die  erste  ärztliche 
Hilfe  zu  suchen,  entwickelt  haben. 


1  Examhring  Board  in  England  by  the  R.  College  of  Phys.  of  London  and 
the  E.  C.  of  Surg.  of  England,  London  1884. 


England.  —  Nord- Amerika.  427 


Die  Wahl  der  Examinationsbehörde  steht  dem  Candidaten  frei; 
derselbe  wird  sich  wohl  vorzugsweise  für  diejenige  entscheiden,  welche 
seiner  Heimath  oder  dem  Ort,  an  dem  er  seine  medicinischen  Studien 
absolvirt  hat,  am  nächsten  gelegen  ist,  die  bescheidensten  Ansprüche 
an  sein  Wissen  und  seinen  Geldbeutel  macht  und  beim  Publikum  in 
gutem  Ansehen  steht.  Der  Engländer  wird  daher  in  den  meisten  Fällen 
englische  Diplome,  der  Schotte  schottische  und  der  Irländer  irische  zu 
erlangen  trachten;  je  mehr  er  deren  erwirbt,  desto  mehr  wächst  die 
Achtung,  die  seinen  Kenntnissen  gezollt  wird,  und  das  Vertrauen, 
welches  ihm  die  Kranken  entgegen  bringen. 

Noch  grössere  Bedeutung  gewinnt  er,  wenn  er  in  den  Kreis  der 
Mitglieder  einer  der  privilegirten  ärztlichen  Corporationen  aufgenommen 
wird  und  den  Titel  eines  Member  oder  Fellow  derselben  erhält.  Diese 
Würden  werden  entweder  durch  besondere  Prüfungen  erworben  oder 
auf  Grund  einer  freien  Wahl  der  Genossenschaften  an  geeignete  Be- 
werber verliehen.  So  muss  sich  z.  B.  Derjenige,  welcher  das  Prädicat 
eines  Member  of  the  R.  College  of  Physicians  in  London  zu  erlangen 
wünscht,  einem  Examen  unterziehen,  welches  zwar  die  gleichen  Disci- 
plinen  umfasst,  wie  die  Prüfung  pro  licentia,  aber  tiefer  in  den  Inhalt 
derselben  eindringt.  Aus  der  Zahl  der  Members  der  Gesellschaft 
werden  die  Fellows  gewählt,  welche  die  Geschäfte  derselben  leiten  und 
sie  nach  aussen  vertreten. 

Das  R.  College  of  Surgeons  in  London1  verleiht  die  Fellowship 
theils  an  solche,  welche  sich  durch  eine  Prüfung,  in  der  die  praktischen 
Fächer,  besonders  die  Chirurgie,  in  den  Vordergrund  treten,  ein  Recht 
darauf  erwerben,  theils  an  diejenigen  seiner  Members,  welche  durch 
ihre  Leistungen  und  ihren  Charakter  dieser  Auszeichnung  würdig  er- 
scheinen. Die  meisten  übrigen  ärztlichen  Corporationen  wählen  ihre 
Mitglieder,  ohne  daran  die  Bedingung  eines  Examens  zu  knüpfen;  doch 
bewahren  sie  sich  auf  diese  Weise  immerhin  die  Möglichkeit,  nur 
die  tüchtigsten  und  ehrenwerthesten  Vertreter  ihres  Standes  an  sich 
zu  ziehen. 

Zur  Verleihung  akademischer  Grade  sind  nur  die  Universitäten 
berechtigt.  Die  Bedingungen,  unter  welchen  dies  geschieht,  sind  an 
den  einzelnen  Orten  verschieden.  Doch  gilt  im  Allgemeinen  der  Grund- 
satz, dass  die  akademischen  Prüfungsbehörden  der  wissenschaftlichen 
Vorbildung  des  Candidaten  eine  grössere  Beachtung  schenken,  als  dies 
bei  den  meisten  ärztlichen  Corporationen  der  Fall  ist. 

Manche   Universitäten,   wie  Oxford  und  Dublin,   verlangen  sogar, 


1  Calendar  of  the  R.  College  of  Surgeons  of  England,  London  1884. 


428  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten   Zeit. 

dass  die  Bewerber  um  medicinische  Grade  bereits  in  der  philosophischen 
Facultät  eine  akademische  Würde  erworben  haben.  Wer  in  Oxford 
Bachelor  of  medicine  (Baccalaureus  medicinae)  werden  will,  muss  den 
Grad  des  Bachelors  of  arts  besitzen,  welcher  in  England  ungefähr 
dieselbe  Bedeutung  hat,  wie  in  Deutschland  der  Titel  des  Doktors  der 
Philosophie.  Um  diese  Würde  zu  erlangen,  ist  ein  dreijähriges  philo- 
sophisches Studium  erforderlich.  Daran  schliesst  sich  dann  das  medi- 
cinische Fachstudium,  welches  4  Jahre  dauert. 

Die  Prüfung,  welche  der  Bewerber  um  den  Grad  eines  Bachelors 
of  medicine  ablegen  muss,  besteht  aus  zwei  Abtheilungen,  von  denen 
die  erste  über  normale  Anatomie  des  Menschen,  vergleichende  Anatomie, 
Physiologie,  Physik,  Chemie  und  Botanik,  die  zweite  über  theoretische 
und  praktische  Medicin,  die  Krankheiten  der  Weiber  und  Kinder, 
Arzneimittellehre,  Chirurgie,  Geburtshilfe,  gerichtliche  Medicin  und 
Hygiene  handelt;  damit  wird  auch  die  Interpretation  einiger  Stellen 
aus  den  Schriften  der  Mediciner  des  Alterthums,  z.  B.  der  Hippokratiker, 
des  Galen,  Abetaeus  oder  Celsus  oder  eines  dieser  Autoren  und  eines 
ärztlichen  Schriftstellers  der  Neuzeit  verbunden. 

Der  Grad  des  Bachelors  of  medicine  berechtigt  zur  Ausübung  der 
ärztlichen  Praxis.  Auch  kann  nur  Derjenige,  welcher  diesen  Grad  be- 
sitzt, zum  Doktor  der  Medicin  promovirt  werden;  es  geschieht  dies 
aber  erst,  nachdem  er  3  Jahre  die  ärztliche  Berufsthätigkeit  ausgeübt 
und  eine  medicinische  Dissertation  vorgelegt  hat. 

Ähnlich  ist  der  Prüfungsmodus  an  anderen  Hochschulen.  Die 
London  University,  deren  Examina  wegen  ihrer  Gründlichkeit  einen 
grossen  Ruf  gemessen,  macht  den  Besitz  eines  philosophischen  Grades 
nicht  zur  Bedingung  für  die  Erlangung  medicinischer  Würden,  sondern 
verlangt  nur,  dass  sich  der  Candidat  eine  gewisse  Summe  naturwissen- 
schaftlicher Kenntnisse  erworben  hat.  Sie  ertheilt  das  Diplom  des 
Bachelors  of  medicine,  wenn  der  Bewerber  folgende  Prüfungen  mit 
Erfolg  besteht:  1)  das  Preliminary  scientific  examen,  in  welchem  aus 
der  Physik,  anorganischen  Chemie,  Botanik  und  Zoologie  geprüft  wird; 
2)  die  Intermediate  examination,  die  ein  Jahr  nach  der  vorher  erwähnten 
Prüfung  folgt  und  Anatomie,  Physiologie  nebst  Histologie,  Arzneimittel- 
lehre, pharmaceutische  und  organische  Chemie  umfasst;  3)  das  Schluss- 
Examen  am  Ende  der  Studienzeit,  in  welchem  die  allgemeine  Patho- 
logie und  Therapie,  Hygiene,  Chirurgie,  innere  Medicin,  Geburtshilfe 
und  gerichtliche  Medicin  die  Prüfungsfächer  bilden. 

Diese  Prüfungen  sind  ebenso  wie  diejenigen  anderer  Examinations- 
behörden  theils  mündlich  oder  schriftlich,  theils  mit  praktischen  De- 
monstrationen, Untersuchungen  am  Krankenbett  u.  dgl.  m.  verbunden; 


England.  —  Nord- Amerika.  429 

desgleichen  wird,  wie  bei  den  privilegirten  ärztlichen  Corporationen, 
von  den  Candidaten  die  Vorlage  von  Zeugnissen  verlangt,  in  denen  der 
Besuch  der  Vorlesungen  und  Curse  über  gewisse  Unterrichtsfächer,  der 
Kliniken  und  des  Hospitals  bestätigt  wird. 

Der  Grad  des  Bachelors  of  medicine  ist  die  Voraussetzung  für  die 
Erwerbung  der  übrigen  medicinischen  Würden.  Der  Doktor-Titel  wird 
nach  einer  mehrjährigen  ärztlichen  Praxis  und  einem  nochmaligen 
Examen  aus  den  verschiedenen  Disciplinen  der  Heilkunde  verliehen. 

Auch  die  chirurgischen  Grade  werden  nur  solchen  Ärzten  gegeben, 
welche  bereits  Bachelors  der  Medicin  sind.  Der  Grad  des  Bachelors 
der  Chirurgie  wird  durch  eine  Prüfung  erworben,  die  sich  hauptsächlich 
über  chirurgische  Anatomie  und  Pathologie,  Instrumentenlehre  und 
Operationstechnik  erstreckt.  Zum  Master  in  Surgery  wird  derjenige 
Bachelor  der  Medicin  und  Chirurgie  promovirt,  welcher  2 — 5  Jahre 
hindurch  in  den  chirurgischen  Kranken-Abtheilungen  beschäftigt  war 
oder  selbstständig  chirurgische  Praxis  ausübte  und  dann  abermals  eine 
Prüfung  auf  diesen  Gebieten  ablegt.  Desgleichen  stellen  die  meisten 
anderen  akademischen  Examinationsbehörden  bei  der  Ertheilung  chirur- 
gischer Grade  die  Bedingung,  dass  der  Candidat  bereits  die  Berechti- 
gung zur  ärztlichen  Praxis  überhaupt  besitzt. 

Nicht  an  jeder  Universität  können  sämmtliche  medicinische  Grade 
erworben  werden.  Oxford  und  Cambridge  creiren  z.  B.  nur  Bachelors 
und  Doktoren  der  Medicin,  während  die  Universität  Dublin  alle  mög- 
lichen Titel  und  Würden  zur  Auswahl  anbietet.  An  den  Hochschulen 
zu  Durham  und  St.  Andrews  besteht  die  Einrichtung,  dass  Ärzte,  welche 
15  Jahre  in  der  Praxis  thätig  sind  und  das  40.  Lebensjahr  überschritten 
haben,  nach  Ablegung  eines  verhältnissmässig  sehr  leichten  Examens 
gegen  Zahlung  von  50  Guineen  zu  Doktoren  der  Medicin  promovirt 
werden. 

Eür  die  Bedeutung  und  Thätigkeit  der  verschiedenen  Examinations- 
behörden und  den  Studiengang  der  grossen  Mehrzahl  der  englischen 
Ärzte  bietet  die  Statistik  der  Prüfungs-Ergebnisse  einige  Anhaltspunkte. 
Darnach  erhielten  in  den  Jahren  1876 — 1880  an  der  Universität  Ox- 
ford 6,  10,  5,  6,  7  den  Grad  eines  Bachelors  der  Medicin,  und  1,  1, 
0,  2,  2  denjenigen  eines  Doktors  der  Medicin,  in  Cambridge  13,  7,  9, 
13,  16  den  eines  Bachelors  und  5,  2,  6,  9,  7  eines  Doktors  der  Me- 
dicin, in  Durham  2,  7,  9,  19,  13  den  eines  Bachelors  und  2,  3,  1, 
11,  10  den  eines  Doktors  der  Medicin  und  0,  0,  2,  7,  4  den  eines 
Masters  in  Surgery,  an  der  University  of  London  23,  22,  25,  34,  39 
den  eines  Bachelors,  11,  8,  6,  12,  18  den  eines  Doktors  der  Medicin, 
7,  3,  6,  6,  8  den  eines  Bachelors  der  Chirurgie,  und  1,  1,  0,  0,  1  den 


430  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


eines  Masters  in  Surgery,    während  das  K.  College    of  Physicians   in 
London  90,  97,  68,   108,  79  Candidaten  die  Licenz  zur  Ausübung  der 
Praxis  ertheilte,  25,  23,  20,  14,  18  zu  Members  und  12,  9,  13,  12,  12 
zu  Fellows  wählte,  das  R.  College  of  Surgeons  of  England  406,  393, 
361,  420,  404   zu  Mitgliedern  und    29,   36,   21,  18,   30    zu  Fellows 
machte,  und  20,  27,  27,  17,  19  die  zahnärztliche  Praxis  gestattete,  und 
die  Society  of  apothecaries  of  London  257,  206,  223,  216,  228   die 
Licenz  verlieh.     An  der  Universität  Edinburg  wurden   in  dieser  Zeit 
86,  108,  115,  98,  134  zu  Bachelors,  20,  34,  30,  33,  29  zu  Doktoren 
der  Medicin  und  80,  100,  106,  98,  129  zu  Masters  in  Surgery,  an  der 
Hochschule  zu  Glasgow  58,  62,  59,  57,  74  zu  Bachelors,  23,  20,  11, 
12,  16  zu  Doktoren  der  Medicin  und  54,  56,  57,  54,  66  zu  Masters 
der  Chirurgie,  in  Aberdeen  41,  34,  57,  51,  48  zu  Bachelors,  32,  46, 
30,  25,  35  zu  Doktoren  der  Medicin  und  41,  34,  55,  48,  48  zu  Masters 
der  Chirurgie,  in  St.  Andrews  1,  2,  1,  0,  3  zu  Bachelors  der  Medicin 
und  Masters  der  Chirurgie  und  10,  10,  10,  10,  11  zu  Doktoren  der 
Medicin  promovirt.    Das  K.  College  of  Physicians  in  Edinburg  ertheilte 
die  Licenz   an  114,  99,  114,  145,  137  und  in  Gemeinschaft  mit  der 
dortigen  chirurgischen  Gesellschaft  an  85,  116,  160,  156,  162  und  mit 
der  ärztlichen  Genossenschaft  zu  Glasgow  an  22,  13,  21,  27,  30  und 
machte  23,  18,  23,  19,  20  zu  Members  und  9,  11,  8,  6,  9  zu  Fellows, 
das  R.  College  of  Surgeons  in  Edinburg  wählte  27,  31,  30,  41,  44  zu 
Fellows,  und  die  Faculty  of  Physicians  and  Surgeons  in  Glasgow  ver- 
lieh die  Licenz  an  63,  34,  55,  71,  73  und  die  Fellowship  an  15,  23, 
10,  3,  5.     Die  Universität  Dublin  gab  die  Licenz  in   der  Medicin  an 
3,  2,  0,  2,  4,  in  der  Chirurgie  an  1,  2,  0,  0,  3,  schuf  36,  44,  29,  29, 
40  Bachelors  und  20,  17,  14,  15,  10  Doktoren  der  Medicin,  20,  18, 
23,  23,  28  Bachelors  und  8,  5,  3,  3,  1  Masters  der  Chirurgie.     Die 
Queens   (jetzt  Royal)   University  in  Ireland  hatte  53,  44,  47,  55,  64 
Doktoren  der  Medicin  und  47,  35,  35,  34,  44  Masters  der  Chirurgie; 
das  Kings  and  Queens  College  of  Physicians  in  Ireland  ertheilte  die 
Licenz  in  der  Geburtshilfe  an  99,  89,  79,  76,  78  und  in  der  gesummten 
Heilkunde  an  108,  86,  78,  88,   105  and  wählte  zu  Fellows  5,  2,  0,  3, 
4;  das  R.  College  of  Surgeons  in  Ireland  gab  die  Licenz  in  der  Ge- 
burtshilfe an  11,  8,  10,  9,  10  und  in  der  Medicin  überhaupt  an  97, 
99,  106,  122,  103  und  machte  zu  Fellows  13,  5,  6,  15,  14;  die  Apo- 
thecaries Hall  in  Ireland  licentiirte  22,  24,  23,  34,  42.    Aus  dieser  Zu- 
sammenstellung ergiebt  sich,  dass  das  numerische  Verhältniss  der  Ärzte, 
welche  an  den  Universitäten  die  Prüfungen  ablegen,  zu  jenen,  die  von 
den  ärztlichen  Corporationen  die  Licenz  erwerben,  in  England  ungefähr 
1:8,  in  Schottland  4 : 3  und  in  Irland  1 : 2  beträgt. 


England.  —  Nord- Amerika.  431 


Zur  Bezeichnung  der  verschiedenen  ärztlichen  Grade  und  Berech- 
tigungen werden  abgekürzte  Formen  gebraucht,  wie  dies  bei  Titeln  in 
England  allgemein  üblich  ist.  So  bedeutet  FßCP  Fellow  of  the 
Royal  College  of  Physicians,  MBCS  Member  of  the  Royal  College 
of  Surgeons,  L  S  A  Licensed  by  the  Society  of  Apothecaries,  M  B 
Bachelor  der  Medicin,  M  C  Master  der  Chirurgie,  M  D  Doktor  der 
Medicin;  dazu  wird  dann  gewöhnlich  der  Name  der  Universität  gesetzt, 
von  welcher  dieser  Grad  erworben  wurde. 

Das  englische  Publikum  kennt  den  Werth  und  die  Bedeutung  der 
verschiedenen  Arten  von  ärztlichen  Diplomen,  welche  im  Lande  vor- 
kommen, und  wird  durch  die  Unterschiede  in  der  Höhe  der  ärztlichen 
Honorare,  die  das  Herkommen  bestimmt,  daran  erinnert. 

Wenn  England  in  Bezug  auf  das  medicinische  Unterrichtswesen 
den  Fortschritten,  welche  dasselbe  in  anderen  Staaten  gemacht  hat, 
nicht  immer  gefolgt  ist,  so  hat  es  dafür  das  grosse  Verdienst,  die  erste 
zweckentsprechende  Sanitäts -Verwaltung  geschaffen  zu  haben.  Durch 
die  Public  Health  Act  von  1875  wurde  das  ganze  Land  in  Sanitäts- 
distrikte eingetheilt,  denen  Lokalbehörden  vorstehen.  Sie  haben  dafür 
zu  sorgen,  dass  die  Wasserleitungen,  Canalisation,  sanitäre  Baupolizei, 
die  öffentlichen  und  privaten  Aborte,  die  Reinlichkeit  der  Strassen,  das 
Trinkwasser  und  die  Lebensmittel,  die  Kellerwohnungen,  Gasthöfe, 
Krankenhäuser,  Friedhöfe,  Fabrik- Anlagen  u.  a.  m.  den  Grundsätzen 
der  öffentlichen  Gesundheitspflege  entsprechen  und  wählen  Sanitäts- 
beamte, welche  die  Aufsicht  darüber  führen  und  die  nothwendigen 
Vorkehrungen  veranlassen. 

Wer  sich  um  eine  derartige  Stelle  bewirbt,  muss  zur  Ausübung 
der  ärztlichen  Praxis  berechtigt  sein  und  sich  einer  Prüfung  unter- 
zogen haben,  welche  über  Klimatologie,  Chemie,  Geologie,  Physik,  Ge- 
schichte und  Geographie  der  Krankheiten,  Medicinal-Statistik,  Hygiene 
und  Sanitätsgesetzgebung  handelt.  Diese  Organisation  stützt  sich  auf 
das  Princip  des  Selfgovernment,  welches  in  einem  Lande,  dessen  Be- 
völkerung seit  Jahrhunderten  an  die  Selbstverwaltung  gewöhnt  ist, 
einen  grossen  National-Reichthum  besitzt  und  für  die  Vortheile  einer 
rationellen  Gesundheitspflege  Verständniss  hat,  auf  diesem  Gebiet  sicher- 
lich hervorragende  Erfolge  erzielen  wird. 


Das  medicinische  Unterrichtswesen  Englands  wurde  nicht  blos  in 
den  überseeischen  Ländern,  welche  seinem  Scepter  unterworfen  sind, 
sondern  überall,  wo  die  englische  Sprache  und  Cultur  herrscht,  nach- 
geahmt.    Auch  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord-Amerika  ist  der 


432  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

medicinische  Unterricht  vollständig  Privatsache.  Mehrere  Ärzte  an 
einem  Ort  vereinigen  sich  zu  dem  Zweck,  ärztlichen  Unterricht  zu  er- 
theilen,  und  stellen  ihren  Schülern  Zeugnisse  über  ihre  Kenntnisse  aus. 
Nach  der  Qualification  der  Lehrer  und  den  Erfolgen  ihres  Unterrichts 
fragt  Niemand.  Der  Werth  dieser  Lehranstalten  ist  daher  ungemein 
verschieden. 

Nach  einer  Zusammenstellung  v.  J.  1882  gab  es  in  den  Vereinigten 
Staaten  114  medicinische  Schulen  mit  13  321  Studierenden. 

Einzelne  medicinische  Schulen,  wie  das  Newyork  College  of  Phy- 
sicians and  Surgeons,  welches  1791  gegründet  wurde,  das  University 
Medical-College,  das  seit  1841  besteht,  und  das  Bellevue  Hospital  Col- 
lege in  Newyork,  sowie  das  Massuchusetts  Med.  College  in  Boston  und 
Bush  Medical  College  in  Chicago  geniessen  mit  Becht  einen  guten  Ruf. 
Neben  ihnen  giebt  es  aber  auch  Erscheinungen,  welche  in  wissenschaft- 
licher und  moralischer  Hinsicht  eine  tiefe  Stufe  einnehmen. 

Bekannt  ist  der  skandalöse  Handel,  den  manche  Eacultäten  mit 
ärztlichen  Diplomen  treiben.  Eine  Zeitung  in  Philadelphia,  wo  man 
die  Missbräuche  an  der  Quelle  studieren  konnte,  brachte  darüber  vor 
einigen  Jahren  unglaubliche  Mittheilungen. l  Es  ist  daher  kein  Wunder, 
wenn  das  amerikanische  Doktor-Diplom  in  Europa  mit  Misstrauen  be- 
trachtet und  zuweilen  mit  jenen  liebenswürdigen,  wenn  auch  bedeutungs- 
losen Auszeichnungen  gleichgestellt  wird,  die  man  beim  Cotillon  erhält. 

Die  Bildung  der  amerikanischen  Ärzte  steht  im  Allgemeinen 
unter  derjenigen  ihrer  europäischen  Berufsgenossen.  Der  Präsident 
Eliot  erklärte  in  einem  Bericht  v.  J.  1871/72:  „Es  ist  entsetzlich,  wenn 
man  die  Unwissenheit  und  Unfähigkeit  der  meisten  amerikanischen 
Ärzte  betrachtet,  welche  von  amerikanischen  Schulen  graduirt  sind;  sie 
vergiften,  machen  zum  Krüppel,  tödten  auf  jede  Weise  und  sind  nicht 
im  Stande,  die  Gesundheit  und  das  Leben  zu  erhalten."2 

Die  tüchtigen  Ärzte,  welche  man  in  Amerika  findet,  stammen  zum 
Theil  aus  Europa  oder  haben  wenigstens  dort  ihre  Studien  gemacht. 
Doch  werden  einzelne  Fächer  der  praktischen  Heilkunde,  wie  die  Gy- 
näkologie und  die  Zahnheilkunde,  an  den  medicinischen  Schulen  Nord- 
Amerikas  mit  grossem  Erfolg  betrieben.  Auch  macht  sich  jetzt  überall 
das  erfreuliche  Bestreben  geltend,  die  vorhandenen  Übelstände  zu  be- 
seitigen und  eine  Besserung  des  medicinischen  Unterrichtswesens  nach 
europäischem  Muster  herbeizuführen. 


1  A  Doctor-Factory  making  full-fledged  physicians  for  seventy  five  Dollars 
in  der  Philadelphia  Record  vom  28.  Februar  1880. 

2  Revue  Internat,  de  l'enseignement,  Paris  1882,  IV,  p.  550. 


Frankreich.  433 


Prankreich. 

Während  man  in  England  und  Amerika  den  Grundsatz  befolgt, 
dass  sich  der  Staat  nicht  um  Dinge  kümmern  soll,  welche  auch  ohne 
ihn  gemacht  werden  können,  huldigt  man  in  Frankreich  dem  entgegen- 
gesetzten Princip. 

Hier  fühlten  sich  die  regierenden  Gewalten  stets  berufen,  Alles, 
was  geschieht,  streng  zu  überwachen.  Auch  das  medicinische  Unter- 
richtswesen und  die  ärztliche  Praxis  wurde  von  den  Behörden  durch 
minutiöse  Verordnungen  geregelt  und  geleitet.  Nur  in  den  Tagen  der 
grossen  Kevolution  wich  man  von  diesem  Grundsatz  ab  und  setzte  an 
die  Stelle  einer  bisweilen  in  kleinliche  Pedanterie  ausartenden  Bevor- 
mundung eine  schrankenlose  Freiheit,  die  zur  Anarchie  führte. 

Die  Ärzte  nahmen  an  den  mächtigen  politischen  Bewegungen 
jener  Zeit  lebhaften  Antheil. 1  Der  constituirenden  National -Versamm- 
lung gehörten  17  Ärzte  an,  unter  ihnen  Guillotin,  der  Erfinder  der 
nach  ihm  genannten  Guillotine,  übrigens  ein  Politiker  von  sehr  ge- 
mässigten Ansichten,  ferner  J.  G.  Gallot,  P.  Blin,  Salles,  Beauvais 
de  Preaux  u.  A.  Im  gesetzgebenden  Körper  von  1791  befanden  sich 
22  Ärzte,  darunter  der  berühmte  Chirurg  Tenon;  im  Convent  von  1792 
sassen  39  Ärzte,  von  denen  Baraillon,  Panvilliers,  R.  EschassEriaux, 
Ant.  Fourcroy,  M.  A.  Baudot,  der  Geburtshelfer  Levasseur,  E.  La- 
coste, und  Marat  am  meisten  bekannt  wurden. 

Als  die  Männer  des  Schreckens  ihre  unheimliche  Thätigkeit  be- 
gannen und  grauenhafte  Orgien  der  Mordlust  feierten,  da  hatte  auch 
der  ärztliche  Stand  zahlreiche  Opfer  zu  beklagen;  104  seiner  Mitglieder 
wurden  hingerichtet  und  328  Ärzte  und  540  Chirurgen  aus  Frankreich 
verbannt.  Pierre  Desault  wurde,  während  er  die  Klinik  im  Hotel 
Dieu  abhielt,  aus  der  Mitte  seiner  Schüler  herausgeholt  und  ins  Ge- 
fängniss  geworfen.  Doch  gelang  es  den  Bemühungen  seines  Freundes 
Fourcroy,  welche  in  der  Presse  eine  wirksame  Unterstützung  fanden, 
Desault  bald  wieder  in  Freiheit  zu  setzen.  Nicht  so  glücklich  war 
der  grosse  Chemiker  Lavoisier.  Er  starb  auf  dem  Schaffot,  obwohl 
Halle  mit  ergreifenden  Worten  an  seine  unvergänglichen  Verdienste 
um  die  Wissenschaft  erinnert  hatte.  Noits  n'avons  pas  besoin  des  sa- 
vants,  antwortete  der  Gerichtspräsident  und  Hess  das  Todesurtheil  voll- 
ziehen, welches  Frankreich  einen  seiner  grössten  Bürger  raubte. 

Man  wollte  keine  Gelehrten  und  brauchte  die  Wissenschaft  nicht. 


1  C.  Saucerotte:  Les  medecins  pendant  la  revolution,  Paris  1887. 

Puschmann,   Uuterricht.  28 


434  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Der  politische  Fanatismus  erstickte  die  edleren  Kegungen  der  Mensch- 
lichkeit und  tödtete  mit  seiner  sengenden  Gluth  alle  höheren  geistigen 
Bestrebungen. 

Das  medicinische  Unterrichts wesen  war  der  Reformen  dringend 
bedürftig.1  Yon  den  18  medicinischen  Schulen,  welche  Frankreich 
beim  Ausbruch  der  Revolution  besass,  war  kaum  die  Hälfte  ausserhalb 
der  Stadt  bekannt,  wo  sie  ihren  Sitz  hatte,  und  nur  diejenigen  zu  Paris 
und  Montpellier  genossen  einen  bedeutenden  Ruf.  Die  Einrichtungen 
der  medicinischen  Facul täten  Frankreichs  standen  hinter  denjenigen 
anderer  Länder  zurück,  und  die  französischen  Hospitäler  waren  wegen 
ihrer  schlechten  hygienischen  Zustände  geradezu  berüchtigt. 

Das  Parlament  beschäftigte  sich  mit  diesen  Fragen.  Ein  Gesetz- 
entwurf, welcher  demselben  i.  J.  1790  vorgelegt  wurde,  enthielt  manche 
beachtenswerthe  Vorschläge  zur  Reorganisation  des  medicinischen  Unter- 
richts; so  wurde  der  ausschliessliche  Gebrauch  der  französischen  Sprache 
beim  Unterricht  und  bei  den  Prüfungen,  die  Freiheit  der  Lehre,  die 
Unentgeltlichkeit  der  Vorlesungen,  die  Beseitigung  der  Fixirung  einer 
bestimmten  Studienzeit,  die  Besetzung  der  Professuren  durch  Concurs 
u.  a.  m.  verlangt.  Anstatt  der  18  medicinischen  Schulen  sollten  nur 
4  medicinische  Facultäten  in  Paris,  Montpellier,  Bordeaux  und  Strass- 
burg  bestehen,  jede  derselben  jedoch  mit  wenigstens  12  Lehrkanzeln 
ausgestattet  und  daneben  in  jedem  Departement  eine  niedere  ärztliche 
Schule  errichtet  werden,  die  mit  einem  Hospital  verbunden  sein  musste.2 
Leider  kamen  diese  Anträge  nicht  zur  Berathung. 

Als  der  Radikalismus  zur  Herrschaft  gelangte,  begnügte  man  sich 
nicht  mehr  mit  der  Verbesserung  der  bestehenden  Einrichtungen,  son- 
dern forderte  ihre  gänzliche  Beseitigung.  An  die  Stelle  der  Reform- 
bewegung war  die  Revolution  getreten,  qui  vint  tont  renverser  depuis  le 
tröne  du  roi  de  France  jusqu'd  Vhumble  chaire  du  professeur  et  la  ban- 
quette  de  Vetudiant,  wie  Sabatier  (a.  a.  0.)  schreibt.  Durch  das  Gesetz 
vom  18.  August  1792  wurden  alle  Universitäten,  Facultäten  und  me- 
dicinischen Schulen  aufgehoben;  ein  Ersatz  dafür  wurde  zunächst  gar 
nicht  geschaffen. 

Wie  in  der  Theologie,  Moral  und  anderen  Dingen  wollte  man  auch 
in  der  Heilkunde  zum  Naturzustande  der  Menschheit  zurückkehren. 
Man  hoffte  dadurch  Verhältnisse  herbeizuführen,  wie  zu  den  Zeiten  der 


1  L.  Liard  in  der  Revue  internat.  de  l'enseignement,  Paris  1887,  T.  XIV, 
p.  409  u.  ff. 

2  Dkeifus-Brisau  in  der  Revue  internationale  de  l'enseignement,  Paris  1881, 
II,  555  u.  ff. 


Frankreich.  435 


alten  griechischen  Philosophen;  aber  man  öffnete  nur  dem  Aberglauben 
und  der  schamlosen  Charlatanerie  die  Thore. 

Die  Fehler  und  Mängel  der  wissenschaftlichen  Medicin  wurden  in 
unsinniger  Weise  übertrieben  und  zu  schweren  AnMagen  gegen  ihre 
Vertreter  benutzt.  Im  Convent  verstieg  sich  ein  Redner  zu  der  Äusse- 
rung, dass  man  mit  den  Ärzten  ebenso  verfahren  müsse,  wie  mit  den 
Geistlichen;  denn  sie  seien  sämmtlich  nur  Gaukler.1 

Die  Kriege,  welche  die  Republik  führte,  lehrten  aber  bald,  wie 
nothwendig  und  nützlich  die  Ärzte  sind.  Als  dem  Convent  mitgetheilt 
wurde,  dass  die  Armee  binnen  18  Monaten  ungefähr  600  Ärzte  ver- 
loren habe,  und  dass  die  Truppen  in  den  östlichen  Pyrenäen  der  ärzt- 
lichen Hilfe  fast  gänzlich  entbehrten,  beschloss  man  die  Wiedereröffnung- 
einiger  medicinischer  Schulen.  Durch  das  Gesetz  vom  14.  Frimaire 
d.  J.  III  (4.  December  1794)  wurden  in  Paris,  Montpellier  und  Strass- 
burg  drei  medicinische  TJnterriehtsan stalten  errichtet,  die  man  Ecoles 
de  sante  nannte.  Sie  waren  zunächst  nur  bestimmt,  ä  former  les  offi- 
ciers  de  sante  pour  le  service  des  höpitaux  et  specialement  des  höpitaux 
militaires  et  de  marine.  Jeder  Distrikt  des  Landes  schickte  einen  Zög- 
ling in  diese  militärärztlichen  Schulen,  der  dort  auf  Kosten  des  Staates 
3  Jahre  hindurch  Medicin  studierte.  Paris  erhielt  300,  Montpellier 
150  und  Strassburg  100  Schüler. 

Das  Bedürfniss  nach  unterrichteten  Heilkünstlern  führte  aber  bald 
dahin,  dass  hier  auch  Studierende  aus  dem  Civilstande,  welche  nicht 
vom  Staat  unterstützt  wurden,  zum  Unterricht  zugelassen  wurden.  Im 
J.  1796  wurde  die  medicinische  Schule  zu  Paris  neu  organisirt  und 
mit  folgenden  12  Lehrkanzeln  ausgestattet:  1)  für  Anatomie  und  Phy- 
siologie, 2)  medicinische  Chemie  und  Pharmacie,  3)  medicinische  Physik 
und  Hygiene,  4)  chirurgische  Pathologie,  5)  Pathologie  der  inneren 
Krankheiten,  6)  medicinische  Naturgeschichte,  7)  chirurgische  Operations- 
kunst, 8)  chirurgische  Klinik,  9)  Klinik  der  inneren  Krankheiten, 
10)  Clinique  de  perfectionnement,  11)  Geburtshilfe,  12)  Geschichte  der 
Medicin  und  gerichtliche  Medicin.  Ausserdem  hielt  der  Direktor  der 
Anstalt  Vorlesungen  „über  die  Hippokratische  Behandlungsmethode  der 
akuten  Krankheiten"  und  „über  seltene  Krankheitsfälle,  aus  der  Ge- 
schichte und  der  Praxis  zusammengestellt",  während  der  Bibliothekar 
einen  bibliographischen  Cursus  gab  und  eine  kritische  Übersicht  der 
medicinischen  Literatur  lieferte.2 


1  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  1.  Abth.,  S.  221. 

2  A.  de  Beauchamp:   Recueil  des  lois  et  reglements  sur  l'enseignement  su- 
perieur,  Paris  1880 — 85. 

28* 


436  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Unter  den  Lehrern  befanden  sich  Sabatiee,  Chopabt,  Pinel, 
Coevisaet,  Baudeloque,  Lassus  und  P.  A.  0.  Mahon,  welcher  die 
Professur  der  Geschichte  der  Medicin  bekleidete.  Im  J.  1799  wurde 
die  Errichtung  zweier  neuer  Lehrkanzeln  beantragt,  von  denen  die  eine 
für  die  pathologische  Anatomie,  die  andere  für  Philosophie  medicale 
bestimmt  war;  doch  wurden  diese  Vorschläge  nicht  verwirklicht. 

Mit  der  Anstalt  wurde  1798  eine  Ecole  pratique  verbunden,  in 
welcher  die  Schüler  Gelegenheit  zu  Leichen -Zergliederungen  erhielten. 
Kliniken  verschiedener  Art  sorgten  für  die  praktische  Ausbildung  am 
Krankenbett;  für  manche  Krankheiten,  z.  B.  für  die  geschlechtlichen 
Leiden,  wurden  besondere  klinische  Anstalten  gegründet. 

Der  Unterricht  war  unentgeltlich  und  nach  dem  Gesetz  vom 
22.  Ventöse  d.  J.  X  Jedem  zugänglich;  doch  musste  man  den  Besuch 
der  Kliniken  aus  Gründen  der  Schicklichkeit  auf  die  Studierenden  der 
Medicin  beschränken. l  Die  medicinische  Schule  zu  Paris  hob  sich  unter 
diesen  Umständen  rasch  und  zählte  i.  J.  1799  bereits  1500  Zöglinge. 

Am  Schluss  der  Studien  folgten  Prüfungen  aus  den  wichtigsten 
Unterrichtsgegenständen;  doch  waren  dieselben  keineswegs  obligat. 
Neben  den  Ärzten,  welche  an  den  Schulen  zu  Paris,  Montpellier  und 
Strassburg  eine  sj^stematische  Ausbildung  genossen  hatten,  gab  es  eine 
grosse  Menge  von  Kurpfuschern.  Jeder  durfte  die  ärztliche  Praxis 
ausüben;  Niemand  bedurfte  dazu  einer  Erlaubniss  oder  eines  Diploms. 

Die  Zustände,  welche  sich  daraus  entwickelten,  hat  Foueceoy,  der 
damals  an  der  Spitze  des  Unterrichtswesens  stand,  in  seinem  Bericht 
vom  7.  Germinal  d.  J.  XI  mit  scharfen  Worten  gegeisselt.  „La  vie 
des  citoyens",  sagte  er,  „est  entre  les  mains  d'hommes  avides  autant 
qu'ignorants.  L'empirismc  le  plus  dangereux,  le  charlatanisme  le  plus 
dehonte,  abusent  partout  de  la  credulite  et  de  la  bonne  foi.  Aucune  preuve 
de  savoir  et  dliabilite  n'est  exigee.  —  Les  campagnes  et  les  villes  sont 
egalement  infectees  de  charlatans  qui  distribuent  les  poisons  et  la  mort 
avee  une  audace  que  les  anciennes  lois  ne  peuvent  plus  reprimer.  Les 
pratiques  les  plus  meurtrieres  ont  pris  la  place  des  principes  de  Vart  des 
accouchements.  Des  rebouteurs  et  des  mcges  impudents  abusent  du  titrc 
d'officier  de  sante  pour  couvrir  leur  ignorance  et  leur  avidite."'2 

Das  Gesetz  vom  19.  Ventöse  d.  J.  XI  (10.  März  1803)  beseitigte 
diese  Übelstände,  indem  es  die  Erlaubniss  zur  ärztlichen  Praxis  von 
der  erfolgreichen  Ablegung  der  Prüfungen,    welche  zu  diesem  Zweck 


1  E.  Beaussire:   La  liberte  d'enseignement  et  l'universite  sous  la  troisieme 
republique,  Paris  1884. 

2  Kene  Eoland:  Les  medecins  et  la  loi  du   19  ventöse  an  XI,  Paris  1888. 


Frankreich.  437 


eingeführt  wurden,  abhängig  machte.  Die  letzteren  umtässten  die 
Anatomie  und  Physiologie,  Pathologie  und  Nosologie,  Materia  medica, 
Pharmacie  und  Chemie,  Hygiene  und  gerichtliche  Medicin,  Geburtshilfe, 
Chirurgie  und  innere  Medicin.  In  der  Anatomie  wurde  die  Anfertigung 
eines  Präparats  verlangt;  die  Prüfung  in  der  praktischen  Heilkunde 
geschah  am  Krankenbett. 

Gleichzeitig  wurden  zwei  Klassen  von  Ärzten  geschaffen,  nämlich 
Doktoren  der  Medicin  und  Chirurgie  und  Officiers  de  sante.  Wer  das 
Doktor-Diplom  anstrebte,  musste  das  Lycee  absolvirt  haben,  bevor  er 
sich  dem  Studium  der  Medicin  widmete,  und  auf  das  letztere  4  Jahre 
verwenden. 

Die  Officiers  de  sante  bildeten  eine  Kategorie  von  niederen  Ärzten; 
sie  waren  nicht  verpflichtet,  einen  Nachweis  über  ihre  Allgemeinbildung 
zu  bringen,  und  erhielten  die  Erlaubniss  zur  ärztlichen  Praxis  schon 
nach  einem  dreijährigen  Studium  an  der  medicinischen  Schule.  Doch 
wurde  ihnen  das  letztere  auch  gänzlich  erlassen,  und  es  genügte,  wenn 
sie  5  Jahre  in  einem  Hospital  beschäftigt  gewesen  waren,  oder  6  Jahre 
bei  einem  Doktor  gedient  hatten.  Das  Examen,  welches  sie  ablegten, 
betraf  die  Anatomie  und  die  Elemente  der  Medicin,  Arzneimittellehre 
und  Chirurgie  und  fand  ausschliesslich  in  französischer  Sprache  statt. 

Die  Doktoren  durften  sich  überall  niederlassen;  die  Officiers  de 
sante  nur  auf  dem  Lande  und  in  dem  Departement,  für  welches  sie 
die  Licenz  erhalten  hatten,  und  wurden  genöthigt,  in  schwierigen  Krank- 
heitsfällen und  bei  grösseren  Operationen  einen  Doktor  zu  Kath  zu 
ziehen.  Das  Parlaments -Mitglied  Carret  vertheidigte  die  Einführung 
dieser  Landärzte  mit  den  Worten:  „Les  habitants  des  campagnes  ayant 
des  moeurs  plus  pures  que  cenx  des  villes,  ont  des  maladies  plus  simples 
qui  exigent  par  ce  motif  moins  d'instruction  et  moins  d'apprrtsu. 

Die  Officiers  de  sante  wurden  hauptsächlich  an  den  Hospitalschulen 
gebildet,  welche  in  verschiedenen  Städten  Frankreichs  entstanden  und 
unter  dem  Namen  Ecoles  secondaires  eine  feste  Organisation  erhielten. 
Auch  die  niedere  Kategorie  der  Apotheker  empfing  hier  den  notwen- 
digen Unterricht,  während  für  die  Ausbildung  der  Pharmaceuten  erster 
Klasse  drei  besondere  Lehranstalten  in  Paris,  Montpellier  und  Strass- 
burg  errichtet  wurden,  die  sich  in  mancher  Hinsicht  an  die  dortigen 
medicinischen  Schulen  anschlössen. 

Die  letzteren  wurden  i.  J.  1808  wieder  zu  medicinischen  Facul- 
täten  erhoben  und  der  Universite  de  France  einverleibt.  Diese  Schöpfung 
Napoleons  war  keine  Universität  in  unserem  Sinne,  sondern  der  In- 
begriff aller  Unterrichts- Anstalten  und  Unterrichts-Behürden  des  Landes. 
Sie  bedeutete  ungefähr  Das,  was  man  jetzt  als  Unterrichts-Verwaltung 


438  Der  medizinische   Unterrieht  in  der  neuesten  Zeit. 


bezeichnet.  An  der  Spitze  der  Universite  de  France  stand  ein  Gross- 
meister, dessen  Würde  später  in  diejenige  des  Unterrichts -Ministers 
überging  oder  verwandelt  wurde.  Ihm  wurde  ein  Studienrath  als  be- 
rathende  Behörde  an  die  Seite  gestellt,  während  eine  grössere  Anzahl 
von  General -Inspektoren  die  einzelnen  Lehranstalten  überwachte  und 
controllirte. 

Das  ganze  Land  wurde  in  26  Universitäts-Bezirke  eingetheilt;  jeder 
derselben  bildete  den  Sitz  einer  Akademie  (höheren  Unterrichtsanstalt) 
mit  einem  Rector,  Studienrath  und  Inspektoren.  Diese  strenge  gleich- 
massige  Gliederung  des  Unterrichtswesens  hatte  den  grossen  Vortheil, 
dass  sie  eine  Ausgleichung  der  Yerschiedenheiten  in  dem  Bildungsniveau 
der  einzelnen  Theile  Frankreichs  anstrebte  und  die  Grundsätze  der 
Ordnung  und  Gerechtigkeit  überall  zur  Geltung  brachte.  Sie  erhielt 
sich  auch  nach  dem  Sturz  des  Kaisertimms  und  erfuhr  im  Verlauf 
der  Zeit  nur  die  durch  die  Bedürfnisse  der  Cultur  und  des  Staates  ge- 
botenen Verbesserungen. 

Jede  Facultät  verlieh  fortan  drei  akademische  Würden,  nämlich 
das  Baccalaureat,  die  Licenz  und  das  Doktorat.  Nur  die  beiden  letzten 
Grade  gaben,  wenn  sie  in  der  Medicin  erworben  wurden,  das  Recht 
zur  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis.  Die  Hospitalschulen  durften  nur 
den  Titel  eines  Officier  de  sante  verleihen. 

Die  Lehrkanzeln  wurden  durch  Concurs  besetzt;  doch  wurde  i.  J. 
1810  angeordnet,  dass  bei  Bewerbern  von  anerkannten  literarischen 
und  wissenschaftlichen  Verdiensten  davon  abgesehen  werde,  sie  der  vor- 
geschriebenen Prüfung  zu  unterziehen  oder  zur  Vorlage  einer  Thesis 
zu  veranlassen. 

Die  feindliche  Haltung,  welche  die  medicinische  Facultät  in  Paris 
später  gegen  Ludwig  XVIII.  beobachtete,  und  die  lärmenden  Scenen, 
zu  denen  es  in  Folge  dessen  kam,  führten  dazu,  dass  sie  i.  J.  1822 
geschlossen  wurde.  Bei  ihrer  Wiedereröffnung,  die  im  folgenden  Jahre 
geschah,  erhielt  sie  eine  neue  Organisation.  Ihr  Lehrkörper  bestand 
aus  23  ordentlichen  Professoren  und  36  Agreges,  von  denen  24  en 
exercise  und  12  en  stage  waren.  Im  J.  1824  wurde  das  Unterrichts- 
Ministerium  errichtet,  welchem  die  medicinischen  Facultäten  und  Schulen 
untergeordnet  wurden. 

Während  der  nächsten  50  Jahre  wurde  die  Organisation  des  me- 
dicinischen Unterrichts  in  Frankreich  nur  wenig  verändert.  Erst  unter 
der  dritten  Republik  hat  man  begonnen,  dieselbe  weiter  auszubauen 
und  zu  vervollständigen. 

Gegenwärtig  besitzt  Frankreich  6  medicinische  Facultäten  in  Paris, 
Montpellier,  Nancy,  welche  1872  errichtet  wurde,  nachdem  die  Universität 


Frankreich.  439 


Strassburg  mit  dem  Elsass  an  Deutschland  abgetreten  worden  war,  in 
Lille,  Bordeaux  und  Lyon  (seit  1877),  wo  früher  niedere  ärztliche 
Schulen  existirten.  Neben  ihnen  giebt  es  18  Ecoles  preparatoires  der 
Medicin,  wie  die  früheren  Ecoles  secondaires  jetzt  heissen.  Sie  befinden 
sich  in  Marseille,  Nantes,  Toulouse,  Amiens,  Angers,  Arras,  Besancon, 
Caen,  Clermont,  Dijon,  Grenoble,  Limoges,  Poitiers,  Beims,  Bennes, 
Bouen,  Tours  und  Alger  und  sind  theils  de  plein  exercise,  d.  h.  sie 
bieten  Gelegenheit  zur  vollständigen  Absolvirung  des  medicinischen 
Studiums,  theils  nur  eigentliche  Vorbereitungsschulen.  Sie  unterscheiden 
sich  durch  ihre  Ausstattung  mit  Lehrmitteln  und  Lehrkanzeln.  Die 
Ecoles  de  plein  exercise  haben  wenigstens  17,  die  übrigen  12  ordent- 
liche Professuren.  Zwischen  den  ersteren  und  den  medicinischen  Fa- 
cultäten besteht  der  einzige  Unterschied,  dass  jene  nicht  das  Becht 
haben,  das  Doktorat  der  Heilkunde  zu  verleihen.  Ausserdem  sind  die 
Eacultäten  Staatsanstalten,  während  die  übrigen  medicinischen  Schulen 
einen  municipalen  Charakter  tragen.  — 

Die  Studierenden  der  Heilkunde,  welche  promoviren  wollen,  be- 
suchen die  Facultäten  oder  die  Ecoles  de  plein  exercise,  dürfen  aber 
auch  einen  Theil  ihrer  Studienzeit  an  den  Ecoles  preparatoires  zubringen ; 
ebenso  werden  auch  die  Candidaten  für  das  Officiat  de  sante  sowohl 
an  den  Facultäten  als  an  den  übrigen  medicinischen  Unterrichtsanstalten 
zugelassen.  Das  medicinische  Doktor -Diplom  kann  nur  an  den  Fa- 
cultäten, das  Officiat  de  sante  dagegen  an  jeder  medicinischen  Schule 
erworben  werden. 

Die  Ecoles  preparatoires  werden  verhältnissmässig  wenig  besucht. 
Yon  den  21  Anstalten  dieser  Art,  welche  i.  J.  1845  bestanden,  hatten 
damals  18  weniger  als  40  Schüler,  6  nicht  einmal  25  und  die  Schule 
zu  Beims  sogar  nur  15  Studierende.  Dasselbe  Schicksal  haben  die 
medicinischen  Facultäten  in  den  Provinzen;  denn  Paris  centralisirt 
nahezu  das  gesammte  höhere  Unterrichts wesen.  Im  J.  1877  gab  es 
in  Frankreich  4447  Studenten  der  Medicin,  von  denen  sich  3835  in 
Paris  befanden,  während  die  übrigen  medicinischen  Facultäten  zusammen 
nicht  mehr  als  612  Studierende  zählten.  Durch  die  Erhebung  mehrerer 
Vorbereitungsschulen  zu  medicinischen  Facultäten,  welche  in  den  letzten 
Jahren  erfolgte,  wurde  das  Verhältniss  einigermassen  verändert.  Im 
J.  1881/82  hatte  Paris  2413,  Bordeaux  155,  Lyon  165,  Montpellier  154, 
Nancy  83  und  Lille  54  Studierende  der  Medicin.  Ausserdem  besuchten 
756  Candidaten  für  das  Officiat  de  sante  die  Vorlesungen  der  ver- 
schiedenen medicinischen  Facultäten.  An  den  übrigen  18  medicinischen 
Unterrichtsanstalten  hatte  man  im  Ganzen  632  Schüler,  von  denen  sich 
306  für  das  Doktorat  und  326  für  das  Officiat  de  sante  vorbereiteten. 


440  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten   Zeit. 


Die  Gesammtzahl  der  Studierenden  der  Heilkunde  beider  Kategorien 
betrug  also  damals  4412,  von  denen  3330  das  Doktordiplom  erringen, 
1082  Officiers  de  sante  werden  wollten. 

Schon  1826  wurde  im  Parlament  die  Aufhebung  der  niederen 
Klasse  von  Ärzten  beantragt;  aber  ohne  Erfolg.  Im  J.  1847  petitio- 
nirten  die  Doktoren  der  Heilkunde  abermals  um  Beseitigung  der  Officiers 
de  sante,  während  die  letzteren  eine  Erweiterung  ihrer  Kechte  ver- 
langten. Wiederum  wurde  im  J.  1864  ein  Versuch  gemacht,  das  In- 
stitut der  Officiers  de  sante  abzuschaffen:  doch  fand  es  einen  Vertheidiger 
an  Bonjean,  welcher  erklärte:  ,,A  des  malades  simples  et  pauvres  il 
faut  un  medicin  pauvre  et  simple  comme  enx  qui  puisse  comprendre  le 
langage,  le  besoin  de  ses  modestes  clients,  qui  ne  dans  une  condition  peu 
f'levee,  Habitue  des  son  enfance  a  la  vie  sobre  des  chaumieres,  ayant  conquis 
son  grade  ä  peu  de  frais,  puisse  se  contenter  d'une  modique  retribution. 
Uofficier  de  sante  est  dans  les  meilleures  conditions  pour  remplir  cette 
mission  de  modeste  devouement;  il  se  fera  d'autant  plus  aisement  le  con- 
fident,  le  conseiller,  le  consolateur  du  pauvre  qu.il  en  est  presque  le  com- 
pagnon,"  Übrigens  vermindert  sich  die  Zahl  der  Officiers  de  sante  in 
Frankreich  von  Jahr  zu  Jahr.  Im  J.  1847  gab  es  deren  7456,  im 
J.  1872  nur  noch  4653,  während  die  Menge  der  Doktoren  in  der 
gleichen  Zeit  von  10  643  auf  10  766  gestiegen  ist. 

Die  Aufhebung  des  Instituts  der  Officiers  de  sante  erscheint  somit 
nur  als  eine  Frage  der  Zeit.  An  der  Spitze  aller  medicinischen  Schulen 
steht  die  medicinische  Facultät  zu  Paris;  sie  hat  die  reichhaltigsten 
Lehrmittel  und  die  besten  Studien-Einrichtungen.  Ihr  Lehrkörper  be- 
steht gegenwärtig  aus  33  ordentlichen  Professoren  (Titulaires)  und  einer 
grossen  Anzahl  von  Agreges,  welche  ungefähr  unsern  ausserordentlichen 
Professoren  entsprechen.  Von  den  ordentlichen  Professoren  vertritt  1  die 
Anatomie,  1  die  Histologie,  1  die  Physiologie,  1  die  medicinische  Chemie, 
1  die  medicinische  Naturgeschichte,  1  die  medicinische  Physik,  1  die 
Pharmakologie,  1  die  allgemeine  Pathologie  und  Therapie,  1  die  Arznei- 
mittellehre, 1  die  interne  und  2  die  externe  Pathologie,  1  die  patho- 
logische Anatomie,  1  die  vergleichende  und  experimentelle  Pathologie, 
1  die  Geburtshilfe  und  Gynäkologie,  1  die  chirurgische  Operationslehre, 
1  die  Hygiene,  1  die  gerichtliche  Medicin  und  1  die  Geschichte  der 
Medicin,  während  4  die  chirurgischen,  4  die  internen  Kliniken,  1  die 
gynäkologische  Klinik,  1  die  Klinik  der  Kinderkrankheiten,  1  diejenige 
für  Geschlechtskrankheiten,  1  die  ophthalmiatrische,  1  die  psychiatrische 
Klinik  und  1  diejenige  für  Nervenleiden  leitet.  Sie  beziehen  je  15  000  Fr. 
jährliche  Besoldung  und  werden  auf  Vorschlag  der  Facultät  aus  der 
Zahl  der  Agreges  ernannt. 


Frankreich.  441 


Die  letzteren  unterstützen  und  vertreten  die  Ordinarien  beim  Unter- 
richt und  bei  den  Prüfungen  und  erhalten,  wenn  sie  einen  Lehrauftrag 
haben,  6000  Fr.  jährlichen  Gehalt.  Sie  werden  in  3  Klassen  geschieden, 
nämlich  in  die  Agreges  stagiaires,  en  exercise  und  libres.  In  den  ersten 
drei  Jahren  nach  ihrer  Ernennung  haben  sie  weder  Rechte  noch 
Pflichten  und  werden  stagiaires  genannt.  Hierauf  rücken  sie  in  die 
Reihe  der  activen  Agreges  vor,  deren  Zahl  derjenigen  der  Ordinarien 
gleich  ist;  als  Agreges  en  exercise  sind  sie  zu  Vorlesungen  verpflichtet, 
wirken  als  Examinatoren  und  werden  besoldet.  Nachdem  sie  in  dieser 
Eigenschaft  6  Jahre  oder  auch  länger  thätig  gewesen  sind,  treten  sie 
zu  den  Agreges  libres  über,  welche  weder  zum  Unterricht  noch  zu 
sonstigen  Dienstleistungen  genöthigt  werden,  keinen  Gehalt  beziehen 
und  nur  den  Vortheil  haben,  dass  sie  gleich  den  übrigen  Agreges  zu 
Ordinarien  vorgeschlagen  werden  können. 

Die  Beförderung  zu  Agreges  erfolgt  auf  Grund  eines  Concurses 
mehrerer  Bewerber,  der  aber  nur  in  Paris  stattfindet.  Früher  war  der- 
selbe auch  bei  der  Besetzung  der  Ordinariate  üblich;  seit  1852  ist  er 
jedoch  auf  die  Wahl  der  Agreges  und  andere  derartige  Stellen  be- 
schränkt. Am  Concurs  darf  sich  jeder  promovirte  Arzt  betheiligen, 
welcher  der  französischen  Nation  angehört  und  das  25.  Lebensjahr 
zurückgelegt  hat.  Zu  diesem  Zweck  überreicht  er  einer  aus  Professoren 
und  andern  Gelehrten  zusammengesetzten  Commission  seine  wissen- 
schaftlichen Arbeiten,  liefert  unter  Clausur  und  ohne  Benutzung 
literarischer  Hilfsmittel  eine  schriftliche  Arbeit  über  eine  Frage,  die 
ihm  vorgelegt  wird,  und  hält  einen  Vortrag,  dessen  Thema  er  drei 
Stunden  vorher  erhält.  Die  Commission  trifft  hierauf  nach  den  Leistungen 
der  Candidaten  eine  Auswahl  unter  denselben,  sodass  die  Zahl  der  Be- 
werber um  jede  freie  Stelle  nicht  mehr  als  drei  beträgt.  Dieselben 
werden  nun  nochmals  einer  Prüfung  unterworfen,  die  aus  praktischen 
Untersuchungen,  aus  einer  Vorlesung  und  einer  Abhandlung  über  ein 
gegebenes  Thema  besteht,  welches  binnen  einer  bestimmten  Zeit  fertig 
gestellt  werden  muss. 

Die  Bewerbung  um  das  Agregat  geschieht  nicht  für  ein  einzelnes 
Fach,  sondern  für  eine  bestimmte  Summe  von  Disciplinen.  Die  Agreges 
scheiden  sich  demgemäss  in  4  Abtheilungen;  die  erste  umfasst  die 
Anatomie  und  Physiologie,  die  zweite  die  Naturwissenschaften,  Physik, 
Chemie  und  Pharmakologie,  die  dritte  die  Pathologie  und  Therapie, 
interne  Medicin  und  Staatsarzneikunde,  und  die  vierte  die  chirurgischen 
Fächer  nebst  der  Geburtshilfe.  Im  J.  1884  bestand  der  Lehrkörper 
der  medicinischen  Facultät  zu  Paris  aus  120,  zu  Lyon  aus  64,  zu 
Bordeaux  aus  50,  zu  Douai-Lille  aus  45,  zu  Montpellier  aus  43  und  zu 


442  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Nancy  aus  41  Professoren.  Die  Facultät  zu  Lyon  hatte  nicht  weniger 
als  25  Ordinarien. 

Es  ergiebt  sich  daraus,  dass  die  medicinischen  Schulen  Frankreichs 
mit  Lehrkräften  reichlich  ausgestattet  sind,  und  dass  die  Regierung  für 
diesen  Zweck  keine  Ausgaben  scheut.  In  Paris  zahlt  man  für  Be- 
soldungen der  Professoren  der  medicinischen  Facultät  nahezu  700  000  Fr. 
jährlich,  eine  Summe,  hinter  welcher  die  Budgets  der  medicinischen 
Facultäten  in  manchen  anderen  Ländern  weit  zurückbleiben.  Ebenso 
vortrefflich  ist  für  die  Lehrmittel  der  medicinischen  Facultäten  gesorgt. 
Die  medicinischen  Lehranstalten  zu  Paris  und  Lyon,  welche  ich  aus 
eigener  Anschauung  kenne,  sind  musterhaft  eingerichtet. 

Der  Unterricht  in  Paris  wird  theils  an  der  Ecole  de  medecine, 
wo  die  theoretischen  Vorlesungen  der  Professoren  stattfinden,  theils  in 
der  Ecole  pratique,  in  welcher  die  Institute  für  praktische  Arbeiten 
vereinigt  sind,  theils  in  den  verschiedenen  Hospitälern,  in  denen  sich 
Kliniken  befinden,  ertheilt.  Die  grossen  luftigen,  mit  Licht,  fliessendem 
Wasser  und  anderen  Einrichtungen  versehenen,  den  hygienischen  An- 
forderungen der  heutigen  Zeit  entsprechenden  Secir-Säle  enthalten 
682  Arbeitsplätze.  Neben  dem  Direktor  der  Anstalt,  welcher  zugleich 
eine  anatomische  Professur  versieht,  wirken  hier  8  Prosectoren  und 
24  Assistenten,  welche  den  Studierenden  die  Anleitung  zu  den  ana- 
tomischen Zergliederungen  geben  und  sie  dabei  überwachen.  Ausser- 
dem hält  jeder  der  Prosectoren  wöchentlich  3,  jeder  der  Assistenten 
wöchentlich  eine  Vorlesung,  deren  Thema  sich  nach  einem  vom  Direk- 
tor entworfenen  Plane  richtet.  Diese  Vorträge  der  Prosectoren  und 
Assistenten  schliessen  sich  an  einander  an  und  bieten  in  ihrem  Zu- 
sammenhange eine  vollständige  Übersicht  der  anatomischen  Wissen- 
schaft; sie  bilden  den  Schwerpunkt  des  anatomischen  Unterrichts.  Die 
Stellen  der  Prosectoren  und  Assistenten  werden  durch  Concurs  besetzt. 
Wer  sich  um  das  Prosectorat  bewirbt,  muss  promovirter  Arzt  sein  und 
sich  dann  einer  schriftlichen  und  mündlichen  Prüfung  über  Anatomie, 
Histologie,  Physiologie  und  operative  Chirurgie  unterziehen,  ein  ana- 
tomisches und  ein  histologisches  Präparat  anfertigen  und  zwei  chirur- 
gische Operationen  an  der  Leiche  ausführen;  die  Stellen  der  Assistenten 
werden  ebenfalls  im  Wettbewerb  verliehen  und  zwar  an  ältere  tüchtige 
Studenten. 

Die  Studierenden  sind  verpflichtet,  in  den  anatomischen  Vorlesungen 
der  Prosectoren  und  Assistenten  und  bei  den  Secir -Übungen,  auf 
welche  täglich  drei  Stunden  verwendet  werden,  regelmässig  zu  er- 
scheinen, und  setzen  sich  manchen  Unannehmlichkeiten  aus,  wenn  sie 
es  unterlassen. 


Frankreich.  443 


Die  praktische  Beschäftigung  in  der  anatomischen  Schule  nimmt 
drei  Winter  in  Anspruch;  in  den  beiden  ersten  wird  die  normale 
Anatomie  des  Menschen,  im  letzten  die  chirurgische  Operationskunst 
an  der  Leiche  studiert.  Die  Studierenden  zahlen  dafür  ein  Honorar 
von  100  Francs.  Das  reiche  Lehrmaterial ,  die  strenge  Controlle  des 
Besuches  und  Fleisses  der  Schüler,  die  enge  Verbindung  zwischen 
Theorie  und  Praxis,  die  Verwerthung  der  anatomischen  Thatsachen  für 
die  praktische  Heilkunde,  besonders  für  die  Chirurgie,  und  die  fort- 
währende persönliche  Unterweisung  durch  den  Lehrer  führen  zu  aus- 
gezeichneten Resultaten.  Die  Pariser  Studenten  der  Medicin  erwerben 
im  Allgemeinen  recht  gute  Kenntnisse  in  der  Anatomie,  welche  für 
ihre  weitere  fachmännische  Ausbildung  wie  für  ihre  spätere  ärztliche 
Praxis  unschätzbare  Vortheile  haben. 

Für  die  Professoren,  die  Hospitalärzte  und  ihre  Assistenten  besteht 
in  Paris  noch  ein  besonderes  anatomisches  Institut,  welches  mit  der 
für  Studenten  bestimmten  Ecole  pratique  in  keiner  Verbindung  steht, 
aber  von  einem  Professor  der  Anatomie  und  seinen  Assistenten  geleitet 
und  zu  Sektionen,  chirurgischen  Operations-Übungen  und  wissenschaft- 
lichen Untersuchungen  benutzt  wird. 

Pur  den  Unterricht  in  der  Physiologie,  Histologie,  Physik,  Chemie 
und  den  Naturwissenschaften  sind  Laboratorien ,  Sammlungen  und 
Arbeitsräume  vorhanden;  auch  das  Museum  d'histoire  naturelle  und  der 
botanische  Garten  dienen  diesem  Zweck. 

Am  College  de  France,  sowie  an  der  Ecole  normale,  einer  Bildungs- 
anstalt für  Candidaten  des  höheren  Lehramts,  bestehen  ebenfalls  Lehr- 
kanzeln für  die  Physiologie  und  die  Naturwissenschaften.  Ihre  Inhaber 
halten  Vorlesungen,  deren  Besuch  den  Studierenden  der  medicinischen 
Facultät  leicht  ermöglicht  wird. 

Die  14  Kliniken,  welche  unter  der  Leitung  der  Ordinarien  stehen 
und  somit  dem  officiellen  Unterricht  einverleibt  sind,  sind  nicht  in 
einem  Krankenhause  vereinigt,  sondern  auf  das  Hotel  Dieu,  die  Charite, 
Pitie,  die  Clinique  d'accouchements,  das  Höpital  des  enfants  malades, 
Höpital  Necker,  Cochin  und  du  Midi  und  die  Salpetriere  vertheilt.  Jeder 
Studierende  der  Medicin  ist  verpflichtet,  während  der  beiden  letzten 
Jahre  seiner  Studienzeit  regelmässig  an  den  ärztlichen  Besuchen  in 
einem  Krankenhause  Theil  zu  nehmen  und  kleine  Dienste  zu  verrichten, 
welche  ihm  dort  übertragen  werden.  Die  Leitung  der  Assistance 
publique  überweist  die  Medianer,  die  sich  zu  diesem  Zweck  bei  ihr 
melden,  an  die  verschiedenen  Pariser  Hospitäler. 

Ähnlich  wie  in  Paris  gestalten  sich  die  Verhältnisse  an  den  übrigen 
medicinischen  Facultäten  und  Schulen  Frankreichs. 


444  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Der  Studierende  der  Medicin  muss  sich  beim  Beginn  seiner  fach- 
männischen Studien  darüber  ausweisen,  dass  er  eine  genügende  all- 
gemeine Vorbildung  erworben  hat.  Es  wird  aus  diesem  Grunde  verlangt, 
dass  er  das  Diplom  eines  Bachelier  es  lettres  besitzt,  welches  ungefähr 
dem  Abiturienten -Zeugniss  der  deutschen  Gymnasien  entspricht,  und 
ausserdem  das  Baccalaureat  es  sciences  in  Bezug  auf  die  Mathematik 
und  die  Naturwissenschaften  erlangt  hat.1 

Die  Studienzeit  der  Medianer  dauert  4  Jahre;  sie  zerfällt,  nicht 
in  Semester,  sondern  in  Curse  von  2  oder  3  Monaten,  welche  in  einer 
vorgeschriebenen  Reihenfolge  besucht  werden.  Ebenso  sind  die  prak- 
tischen Arbeiten  in  der  Physik,  Chemie  und  den  Naturwissenschaften 
im  ersten  Jahre,  in  der  Anatomie,  Histologie  und  Physiologie  im  zweiten 
und  dritten  Jahre  und  in  der  pathologischen  Anatomie  nebst  den 
chirurgischen  Operationsübungen  und  dem  Besuch  der  Kliniken  und 
der  Hospitäler  (Stage)  im  vierten  Jahre  obligat. 

Die  Prüfungen  aus  den  einzelnen  Fächern  fanden  früher  am 
Schluss  jedes  Jahres  statt.  Im  J.  1878  wurde  dies  jedoch  aufgehoben 
und  dafür  die  Einrichtung  getroffen,  dass  5  Examina  abgelegt  werden, 
von  denen  das  erste  über  Physik,  Chemie  und  Naturgeschichte  handelt 
und  am  Schluss  des  ersten  Jahres,  das  zweite  die  Anatomie,  Histologie 
und  Physiologie  umfasst  und  theils  im  Verlauf,  theils  am  Ende  des 
dritten  Jahres  erfolgt.  Das  dritte  Examen  betrifft  die  chirurgische 
Pathologie,  Geburtshilfe  und  Operationskunst,  sowie  die  allgemeine 
Pathologie  und  die  Pathologie  der  inneren  Krankheiten,  das  vierte  die 
Hygiene,  gerichtliche  Medicin,  Therapeutik,  Materia  medica  und  Pharma- 
kologie und  das  fünfte  besteht  in  der  Untersuchung  und  Behandlung 
von  Krankheitsfällen  in  der  chirurgischen,  internen  und  geburtshilflichen 
Klinik  und  in  der  Ausführung  einer  pathologisch-anatomischen  Sektion. 
Desgleichen  muss  der  Candidat  seine  Kenntnisse  in  der  normalen 
Anatomie  durch  die  Anfertigung  eines  Präparats  und  seine  chirurgische 
Gewandtheit  durch  die  Ausführung  einer  Operation  an  der  Leiche  be- 
weisen. Endlich  ist  er  verpflichtet,  eine  Dissertation  über  ein  von  ihm 
gewähltes  Thema  auszuarbeiten  und  der  Eacultät  vorzulegen.  Hierauf 
wird  er  zum  Doktor  der  Medicin  promovirt. 

Wer  das  Officiat  de  sante  anstrebt,  bedarf  eine  geringere  Allgemein- 
bildung; es  wird  verlangt,  dass  er  einen  französischen  Aufsatz  ohne 
orthographische  Fehler  anfertigt  und  über  die  wichtigsten  Thatsachen 
der  Naturwissenschaften,  Physik  und  Chemie  Auskunft  zu  geben  vermag. 
Die  Studienzeit  für  die  Officiers  de  sante  beträgt  ebenfalls  4  Jahre.   Der 


1  Programme  de  Fexamen  baccalaureat  es  sciences,  Paris  1885. 


Frankreich.  445 


Lehrplan  ist  ungefähr  derselbe  wie  für  die  künftigen  JDoktoren  der 
Medicin,  nur  treten  die  theoretisch-wissenschaftlichen  Studien,  besonders 
in  der  Histologie,  Physiologie  und  pathologischen  Anatomie  mehr  zurück. 
Den  gleichen  Charakter  zeigen  auch  die  Prüfungen,  welche  sich  auf 
die  Hauptfächer  beschränken.1 

Die  französischen  Militärärzte  wurden  früher  in  Strassburg  aus- 
gebildet, wo  sie  die  Vorlesungen  an  der  dortigen  medicinischen  Facultät 
besuchten.  Im  J.  1872  wurde  bestimmt,  dass  die  militärärztlichen  Eleven 
an  11  medicinische  Schulen  vertheilt  und  dort  mit  den  übrigen 
Studierenden  zusammen  unterrichtet  würden;  aber  1883  hat  man  statt 
dessen  für  die  Militärärzte  2  Ecoles  preparatoires  du  Service  de  sante 
zu  Bordeaux  und  Nancy  errichtet;  ihre  Zöglinge  nehmen  an  dem  Unter- 
richt der  dortigen  medicinischen  Facultäten  Theil,  müssen  5  Jahre 
studieren  und  werden  von  älteren  Militärärzten,  welche  als  Repetitoren 
für  die  einzelnen  Lehrgegenstände  wirken,  beaufsichtigt  und  in  ihren 
Studien  unterstützt.  Wenn  sie  die  letzteren  absolvirt  und  den  Doktor- 
Grad  erlangt  haben,  werden  sie  zur  Vervollständigung  ihrer  fach  wissen- 
schaftlichen Bildung  der  mit  dem  grossen  Militär-Krankenhause  zu 
Val  de  Gräce  verbundenen  Ecole  d'application  überwiesen,  wo  sie  durch 
8  Monate  Dienste  im  Spital  leisten  und  in  der  praktischen  Heilkunst 
Erfahrungen  sammeln. 

Das  medicinische  Unterrichtswesen  Frankreichs  hat  neben  manchen 
Vorzügen,  unter  denen  die  vortreffliche  anatomische  und  klinische  Aus- 
bildung der  Studierenden  hervorgehoben  werden  muss,  auch  einige  be- 
klagenswerthe  Mängel.  So  erscheint  es  seltsam,  dass  nach  dem  Lehrplan 
das  erste  Studienjahr  vollständig  den  Hilfswissenschaften  der  Medicin 
gewidmet  und  mit  dem  Besuch  der  Vorlesungen  über  Anatomie  erst 
im  zweiten  Jahre  begonnen  wird.  Dadurch  wird  das  Studium  der  Heil- 
kunde selbst  auf  3  Jahre  zusammengedrängt,  innerhalb  deren  die  Auf- 
nahme des  reichen  Unterrichtsstoffes  nicht  möglich  erscheint. 

Da  die  zweite  Prüfung,  welche  über  Anatomie  und  Physiologie 
handelt,  in  das  Ende  des  dritten  Jahres  fällt,  und  die  Vorbereitung 
dafür  die  Studierenden  bis  dahin  hauptsächlich  beschäftigt,  so  bleibt 
für  die  Ausbildung  in  der  praktischen  Heilkunde  nicht  viel  mehr  als 
ein  Jahr  übrig.  Die  Verlängerung  der  gesetzlichen  Studienzeit,  welche 
übrigens  auch  durch  die  drei  letzten  Prüfungen  herbeigeführt  wird, 
ergiebt  sich  daraus  von  selbst. 

Ein  weiterer   Übelstand   des  medicinischen    Unterrichtswesens   in 


1  Indications  sommaires  des  conditions  ä  remplir  pour  l'obtention  des  grades 
de  docteur  en  medecine,  d'officier  de  sante  etc.,  Paris  1884. 


446  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Frankreich  liegt  in  der  Art,  wie  der  Lehrkörper  der  medicinischen 
Schulen  ausgewählt  und  zusammengesetzt  wird.  Der  Concurs,  die  Wett- 
bewerbung, schützt  allerdings  mehr,  als  andere  Formen  der  Besetzung 
erledigter  Stellen  vor  ungerechten  Bevorzugungen,  Protektion  und  Vetter- 
schaften; auch  ist  er  in  Fällen,  wo  es  sich  um  das  Agregat,  das  Amt 
eines  Prosectors  oder  Assistenten,  also  um  die  Zulassung  zur  akademischen 
Lehrthätigkeit  handelt,  im  Allgemeinen  gewiss  berechtigt  und  ein  vor- 
treffliches Mittel,  die  Fähigkeiten  und  Kenntnisse  der  einzelnen  Can- 
didaten  kennen  zu  lernen  und  abzuwägen.  Aber  die  Beschränkung  der 
Auswahl  derselben  auf  eine  bestimmte  Zahl  erscheint  unzweckmässig, 
da  es  nicht  möglich  ist,  unter  mehreren  ziemlich  gleichmässig  quali- 
ficirten  Bewerbern  eine  Entscheidung  zu  treffen,  welche  den  Forderungen 
der  Gerechtigkeit  und  Billigkeit  vollkommen  entspricht,  und  der  wissen- 
schaftliche Gehalt  der  Candidaten  in  den  einzelnen  Jahren  bedeutende 
Verschiedenheiten  aufweist. 

Ebenso  wenig  lässt  sich  die  Eintheilung  der  Bewerber  um  das 
Agregat  in  die  4  Gruppen  nach  den  verschiedenen  Fächern,  wie  sie 
gegenwärtig  besteht,  rechtfertigen;  denn  manche  Disciplin,  wie  z.  B. 
die  Geschichte  der  Mediän,  die  Hygiene  und  die  Staatsarzneikunde, 
kann  mit  demselben  Recht  in  die  eine  wie  in  die  andere  Klasse  ge- 
zogen werden.  Durch  die  jetzige  Einrichtung  wird  vielleicht  ein  Ge- 
lehrter, der  auf  seinem  Specialgebiet  Hervorragendes  geleistet  hat,  der 
akademischen  Lehrthätigkeit  ferngehalten. 

Geradezu  schädlich  ist  die  gesetzliche  Anordnung,  dass  die  Con- 
curse  für  die  Stellen  der  Professeurs  agreges  an  sämmtlichen  medicinischen 
Facultäten  und  Schulen  Frankreichs  in  Paris  stattfinden.  Dadurch 
werden  die  Candidaten,  welche  ein  Lehramt  in  den  Provinzen  anstreben, 
zu  längerem  Aufenthalt  in  Paris  und  unnöthigen  Ausgaben  genöthigt, 
die  medicinischen  Facultäten  und  Schulen  mit  Ausnahme  der  Pariser 
in  ihrem  Ansehen  und  ihren  Interessen  geschädigt,  indem  die  Ent- 
scheidung über  wichtige  Besetzungsfragen  Personen  übertragen  wird, 
welche  die  lokalen  Bedürfnisse  nicht  kennen,  und  endlich  der  Pariser 
Facultät  mit  den  Concursprüfungen  eine  grosse  Last  aufgebürdet,  die 
um  so  schwerer  wiegt,  als  sie  durch  die  Prüfungen  der  Menge  von 
Studierenden  in  Paris  ohnehin  schon  allzusehr  in  Anspruch  genommen 
wird.  Aus  diesen  Gründen  wurde  schon  vor  längerer  Zeit  verlangt, 
dass  die  Concursprüfungen  nicht  blos  in  Paris,  sondern  an  jeder 
medicinischen  Facultät  abgelegt  werden,  der  Lehrkörper  jeder  me- 
dicinischen Schule  das  Recht  erhalte,  die  Vorschläge  für  die  Besetzung 
der  Stellen,  welche  an  derselben  erledigt  sind,  zu  erstatten,  und  die 
Candidaten,    welche   im    Concurs    die  Anerkennung  der  Examinatoren 


Frankreich.  447 


erringen,  nicht  blos  an  einer  Facultät,  sondern  an  sämmtlichen  me- 
dicinischen  Schulen  zum  Lehramt  zugelassen  werden,  ohne  dass  sie 
genöthigt  werden,  sich  in  jedem  Falle  wieder  einer  neuen  Prüfung  zu 
unterziehen. l 

Bei  der  Besetzung  der  Ordinariate  hat  man  mit  Kecht  den  Concurs 
abgeschafft;  denn  hier  handelt  es  sich  nicht  um  Leute,  deren  Tüchtig- 
keit als  Lehrer  und  Forscher  erst  erprobt  werden  muss,  sondern  um 
Gelehrte,  deren  wissenschaftliche  Leistungen  in  den  Kreisen  der  Fach- 
männer allgemein  bekannt  sind.  Jede  medicinische  Schule  muss  dar- 
nach trachten,  für  diese  Stellen  die  besten  Kräfte  zu  gewinnen,  welche 
sie  erlangen  kann. 

Es  ist  daher  keineswegs  zu  billigen,  dass  die  Lehrkörper  bei  den 
Vorschlägen,  die  sie  zu  diesem  Zweck  dem  Minister  unterbreiten,  auf 
die  Professeurs  agreges,  welche  an  der  betreffenden  Facultät  angestellt 
sind,  beschränkt  werden.  Diese  Massregel  führt  zu  einer  lokalen  Ab- 
geschlossenheit der  medicinischen  Schulen,  bei  welcher  die  Gefahr  einer 
geistigen  Erstarrung  nahe  liegt.  Gerade  der  Austausch  der  Theorien 
und  Lehrmethoden,  welcher  durch  den  Wechsel  der  Lehrkräfte  hervor- 
gerufen und  begünstigt  wird,  erhält  das  geistige  Leben  frisch  und  für 
jede  fruchtbringende  Anregung  empfänglich.  Dagegen  mag  es  bei  der 
jetzigen  Einrichtung  nicht  selten  vorkommen,  dass  ein  hervorragender 
Gelehrter,  der  an  einer  kleinen  Hochschule  in  Frankreich  thätig  ist, 
einem  grösseren  Wirkungskreise  entzogen  wird,  in  welchem  er  für  die 
Wissenschaft  und  den  Staat  viel  Gutes  schaffen  würde.  —  Es  erscheint 
daher  nothwendig,  dass  die  Facultäten  in  dieser  Beziehung  von  jeder 
Beschränkung  befreit  werden  und  bei  ihren  Vorschlägen  für  die  Besetzung 
erledigter  Ordinariate  die  Ordinarien  und  Agreges  sämmtlicher  medici- 
nischen Facultäten  und  Schulen  ins  Auge  fassen  dürfen.  Sollte  ein 
Mann,  der  bisher  der  akademischen  Lehrthätigkeit  fern  stand,  in  einem 
besonderen  Falle  als  der  geeignetste  Candidat  für  die  Professur  erscheinen, 
so  wird  man  auch  diese  Wahl  billigen.  Ausnahmsweise  geschah  dies 
z.  B.,  als  die  i.  J.  1870  zu  Paris  gegründete  Professur  für  Geschichte 
der  Medicin  dem  ausgezeichneten  Kenner  der  griechischen  Heilkunde, 
Ch.  Daremberg,  übertragen  wurde.  Man  sollte  in  Frankreich  die 
Verhältnisse  und  Zustände,  welche  in  dieser  Beziehung  in  Deutschland 
und  Österreich  bestehen,  studieren  und  Das,  was  an  ihnen  nachahmungs- 
werth  erscheint,  auch  dort  einführen. 


1  Revue  internationale  de  Fenseignement,  Paris  1882,  T.  III,  p.  126.  533. 
Dreifus-Brissac:  Rev.  int..  Paris  1887,  T.  XIV,  p.  469  u.  ff. 


448  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Osterreich  -  Ungarn. 

Das  medicinische  Unterrichtswesen  in  Österreich  wurde  erst  im 
18.  Jahrhundert  von  den  mittelalterlichen  Formen  befreit,  welche  es 
in  seiner  Entwicklung  beengt  und  gehemmt  hatten.  Dasselbe  lag  bis 
dahin  gänzlich  in  den  Händen  der  ärztlichen  Zunft,  der  Vereinigung 
aller  promovirten  Ärzte,  welche  als  Facultät  bezeichnet  wurde;  von  ihr 
wurden  mehrere  Mitglieder  zum  Lehramt  gewählt,  die  vom  Universitäts- 
Consistorium  die  Bestätigung  empfingen. 

In  dem  letzteren,  welches  ungefähr  unserem  heutigen  Universitäts- 
Senat  entsprach,  hatte  der  klerikale  Einfluss  das  Übergewicht,  nachdem 
der  Jesuiten -Orden  in  der  Sanetio  pragmatica  v.  J.  1623  einen  ent- 
scheidenden Einfluss  auf  das  gesammte  Erziehungswesen  erlangt  hatte. 

Die  Professoren  der  Medicin  bezogen  karge  Besoldungen  und  waren 
daher  genöthigt,  sich  durch  die  ärztliche  Praxis  den  nothwendigen 
Lebensunterhalt  zu  erwerben.  Doch  waren  auch  ihre  wissenschaftlichen 
Leistungen,  von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen,  unbedeutend.  In 
einem  Bericht  über  die  Universität  Wien,  welcher  i.  J.  1688  an  die 
Regierung  erstattet  wurde,  heisst  es,  „dass  in  dieser  Wienerischen  Uni- 
versität so  viel  Jahre  hero  von  denen  Professoribus  in  Jure  et  Medicin a 
gar  wenig  gehört  worden,  dass  selbige  ihre  Scienz  am  Tag  gegeben 
und  in  Druck  hatten  ausgehen  lassen,  als  wann  die  Wienerische  Uni- 
versität in  Schlaf  liegete  oder  gar  kein  solches  Studium  mehr  zu  Wien 
wäre.  Da  herentgegen  kundbar,  wie  vigilant  und  embsig  die  Professores 
bei  anderen  hohen  Schulen  in  Teutschland  wären,  was  für  schöne  Bücher 
selbige  beschreibeten  und  was  für  nutzbare  opera  sie  in  Druck  aufsetzen 
und  publiciren  lasseten."1 

An  den  für  das  Studium  der  Medicin  erforderlichen  Lehrmitteln 
und  Instituten  fehlte  es  gänzlich,  und  selbst  die  Vorlesungen  wurden 
so  unregelmässig  gehalten,  dass  die  Nachlässigkeit  der  Lehrer  der  Me- 
dicin 1689  und  1727  von  der  Regierung  eine  Rüge  erfuhr.  Verschiedene 
Versuche,  welche  1629,  1687  und  1726  zur  Beseitigung  der  vorhan- 
denen Übelstände  unternommen  wurden,  blieben  erfolglos.  Im  J.  1718 
schlug  die  medicinische  Eacultät  zu  Wien  vor,  die  praktische  Unter- 
weisung am  Krankenbett,  pathologisch-anatomische  Sektionen  und  regel- 
mässige Secir-Übungen  in  den  Unterricht  aufzunehmen,  ein  Collegium 
chymicum,  sowie  einen  botanischen  Garten  einzurichten,  Assistenten  und 
Hilfsärzte    an    den  Krankenhäusern  anzustellen,    die  Besoldungen    der 


1  Kink:  Geschichte  der  Universität  zu  Wien,  Wien  1854,  \,  398. 


Österreich  -  Ungarn.  449 


Professoren  zu  erhöhen  und  hervorragende  Lehrkräfte  von  auswärts  zu 
berufen. 1 

Aber  die  Scheu,  welche  die  regierenden  Kreise  vor  dem  Wechsel 
des  Systems  hegten,  und  der  Mangel  an  den  für  die  erforderlichen 
Einrichtungen  nothwendigen  Geldmitteln  verhinderten  die  Ausführung 
dieser  Vorschläge.  Die  grosse  Kaiserin  Maria  Theresia,  die  in  den 
schweren  Bedrängnissen  und  Kriegen,  welche  ihren  Thron  erschütterten, 
die  Ruhe  und  Kraft  des  Geistes  fand,  um  an  Verbesserungen  der  Ge- 
setzgebung und  der  Verwaltung  zu  denken,2  wandte  auch  diesem  Gegen- 
stande ihre  Aufmerksamkeit  zu.  Sie  beauftragte  ihren  Leibarzt  Geehaed 
van  Swieten,  welcher  ihr  volles  Vertrauen  genoss,  mit  der  Unter- 
suchung der  Gebrechen  des  medicinischen  Unterrichts  an  der  Wiener 
Hochschule.  In  dem  Bericht,  den  derselbe  darüber  verfasste,  wies  er 
auf  die  Ursache  der  Missstände  hin,  die  er  in  der  Abhängigkeit  der 
Universität  von  der  Kirche  und  der  Zunft  fand.  Er  verlangte  vor 
Allem,  dass  der  Staat  der  unumschränkte  Gebieter  in  seinem  Hause 
sei  und  das  ärztliche  Erziehungswesen  leite  und  überwache.  Die  An- 
träge, welche  er  zu  diesem  Zweck  der  Kaiserin  unterbreitete,  erhielten 
ihre  Zustimmung,  obwohl  sie  dabei  vielleicht  Überzeugungen,  die  ihr 
durch  Tradition  und  Erziehung  theuer  geworden  waren,  zum  Opfer 
bringen  musste. 

In  dem  Reform-Edikt  vom  7.  Februar  1749  wurde  bestimmt,  dass 
die  Ernennung  der  Professoren  der  Medicin  fortan  nicht  mehr  vom 
Universitäts-Consistorium,  sondern  von  der  Kaiserin  vollzogen,  die  Ge- 
hälter derselben  in  angemessener  Weise  erhöht  und  aus  den  landes- 
fürstlichen Kassen  bezahlt  und  ihre  Dienstleistungen  und  der  gesammte 
Unterricht  von  einem  Direktor,  der  die  Regierung  vertrat,  beaufsichtigt 
werden.  In  Wien  übernahm  G.  van  Swieten  selbst  dieses  wichtige  Amt; 
an  anderen  Eacultäten  wurde  es  hohen  Sanitätsbeamten  übertragen. 
Sie  führten  auch  den  Vorsitz  in  den  Versammlungen  der  Zunft-Collegien 
und  bei  den  Prüfungen  der  Ärzte,  Chirurgen,  Apotheker  und  anderer 
Klassen  des  Heilpersonals. 

Gleichzeitig  wurden  die  medicinischen  Facultäten  mit  den  erforder- 
lichen Lehrmitteln  ausgestattet.  In  Wien  wurden  ein  botanischer  Garten 
und  ein  chemisches  Laboratorium  geschaffen,  und  die  regelmässigen 
Secir-Übungen  und  der  klinische  Unterricht  eingeführt.  Die  Promotions- 
Feierlichkeiten,  welche  wegen  der  damit  verbundenen  kirchlichen  Cere- 
monien  den  beträchtlichen  Aufwand  von  1000  Gulden  verursacht  und 


1  Rosas:  Geschichte  der  Wiener  Hochschule,  Wien  1843,  II,  232. 

2  v.  Arneth:  Maria  Theresias  erste  Regierungsjahre,  Wien  1863 — 79,  10  Bde. 

Puschmann,    Unterricht.  29 


450  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


in  Folge  dessen  viele  Studierende  genöthigt  hatten,  sich  die  Doktor- 
Würde  im  Auslande  zu  erwerben,  wurden  vereinfacht  und  auf  ausser- 
ordentliche Fälle  beschränkt,  und  das  ganze  Prüfungswesen  durch  genaue 
Vorschriften  geregelt. 

Nach  dem  Muster  der  medicinischen  Facultät  in  Wien  wurden 
bald  darauf  auch  die  übrigen  medicinischen  Facultäten  des  Keiches 
reorganisirt  und  mit  Lehrkanzeln  und  Anstalten  versehen.  Gr.  van 
Swteten  trat  an  die  Spitze  des  ganzen  Medicinalwesens  und  erlangte 
einen  Einfluss,  der  sich  auf  alle  Zweige  der  Unterrichts -Verwaltung 
erstreckte. 

Mit  der  Thronbesteigung  des  Kaisers  Josef  II.  begann  eine  Periode 
rasch  aufeinander  folgender  und  sich  manchmal  überstürzender  Neue- 
rungen auf  diesem  Gebiet.  Alle  Beschränkungen,  welche  die  Verleihung 
akademischer  Grade  an  Nicht-Katholiken  erschwert  hatten,  wurden  auf- 
gehoben und  derselben  jeder  religiöse  Charakter  genommen,  die  Besol- 
dungs-  und  Pensionsverhältnisse  der  Professoren  im  Einklang  mit  den- 
jenigen der  übrigen  Beamten  geordnet,  die  akademische  Gerichtsbarkeit 
aufgehoben,  die  Angehörigen  der  Universität  unter  das  allgemeine  Recht 
gestellt,  und  anstatt  der  Collegien-Honorare,  welche  abgeschafft  wurden, 
ein  bestimmtes  monatliches  Schulgeld  an  den  Hochschulen  eingeführt. 

Alle  Universitäten  der  Monarchie  wurden  einander  im  Range 
gleichgestellt  und  ihren  Diplomen  und  Zeugnissen  die  gleichen  Rechte 
und  Privilegien  gewährt;  doch  erhielt  dieses  Gesetz  schon  nach  wenigen 
Jahren  eine  Änderung,  indem  bestimmt  wurde,  dass  in  Wien  nur 
diejenigen  Ärzte  und  Advokaten  die  Praxis  ausüben  durften,  welche  an 
der  Wiener  Hochschule  die  Prüfungen  abgelegt  hatten. 

Mit  grossem  Eifer  beschäftigte  sich  der  Kaiser  mit  der  Verbesse- 
rung des  medicinischen  Unterrichts  und  der  dafür  vorhandenen  Lehr- 
anstalten. Er  beklagte  die  Vernachlässigung,  welche  die  chirurgischen 
Studien  von  den  Ärzten  erfuhren,  und  die  ungenügende  Fachbildung 
der  Wundärzte  und  erkannte  den  schwerwiegenden  Fehler,  der  in  der 
Trennung  der  Chirurgie  von  der  inneren  Medicin  lag.  In  der  Wieder- 
vereinigung dieser  beiden  Zweige  der  gemeinsamen  Wissenschaft,  in  der 
Verschmelzung  der  Ärzte  mit  den  Chirurgen  sah  er  das  beste  Mittel 
zur  Beseitigung  der  Gebrechen  des  medicinischen  Unterrichtswesens. 
Zu  diesem  Zweck  liess  er  einen  Studienplan  für  diese  beiden  Klassen 
von  Studierenden  der  Heilkunde  ausarbeiten,  welcher  eine  Studienzeit 
von  4  Jahren  festsetzte  und  bei  geringen  Verschiedenheiten  von  Beiden 
die  Kenntniss  aller  Theile  der  Heilkunde  verlangte. 

Sehr  viel  trug  die  Erhebung  der  militärärztlichen  Schule,  des  Jo- 
sefinums,  zu  einer  chirurgisch-medicini sehen  Facultät  mit  den  Rechten 


Österreich  -  Ungarn.  451 


und  dem  Eange  einer  Universität  und  ihre  Verbindung  mit  einer  chi- 
rurgischen Akademie  dazu  bei,  dass  der  Chirurgenstand  in  wissenschaft- 
licher und  socialer  Hinsicht  gehoben  wurde.  Daneben  entstand  eine 
Klasse  von  niederen  Landärzten,  welche  zu  einer  Studienzeit  von  zwei 
Jahren  verpflichtet  waren,  und  mit  dem  Namen  der  Chirurgen  auch 
die  gesellschaftliche  Stellung  erhielten,  welche  dieselben  bis  dahin  ein- 
genommen hatten.  Auf  diese  Weise  wurde  eine  vollständige  Umgestal- 
tung des  medicinischen  Unterrichtswesens  und  der  socialen  Verhältnisse 
des  ärztlichen  Standes  herbeigeführt,  die  sich  in  ihren  Grundlinien  bis 
in  die  neueste  Zeit  erhalten  hat. 

Auch  mehrere  andere  Massregeln,  wie  die  xlbschaffung  des  Bacca- 
laureats  und  die  Aufhebung  der  Inaugural- Dissertationen,  an  deren 
Stelle  die  praktische  Prüfung  am  Krankenbett  trat,  bildeten  sehr  zweck- 
mässige Verbesserungen  des  ärztlichen  Bildungswesens. 

Die  Errichtung  des  allgemeinen  Krankenhauses  zu  Wien,  dessen 
reiches  Lehrmaterial  zum  Theil  dem  klinischen  Unterricht  gewidmet 
wurde,  und  die  Gründung  des  Militärspitals,  das  zu  dem  gleichen 
Zweck  dem  Josefinum  übergeben  wurde,  ermöglichten  die  grossartigen 
Triumphe,  welche  die  Wiener  medicinische  Schule  später  feierte.  Josef  IL 
schuf  ferner  das  Taubstummen-Institut,  das  Findelhaus  und  die  Thier- 
arzneischule  in  Wien,  und  liess  in  Prag,  Graz  und  anderen  grossen 
Städten  der  Monarchie  Krankenhäuser,  welche  zum  Unterricht  der 
Ärzte  verwendet  wurden,  errichten  und  in  Mailand,  Mantua,  Prag, 
Brunn,  Olmütz,  Pest,  Königgrätz,  Lemberg,  Hermannstadt  und  anderen 
Orten  ständige  Militärspitäler  erbauen.  „Was  immer  zur  Heilung  der 
erkrankten  und  verwundeten  Mannschaft,  zu  ihrer  Erleichterung  und 
Erhaltung  ersonnen  werden  konnte,  das  habe  ich  nie  ausser  Acht  ge- 
lassen, und  jeder  einzelne  Mann  ist  mir  schätzbar  gewesen",  erklärte 
er,  als  er  wenige  Tage  vor  seinem  Tode  Abschied  von  der  Armee  nahm. 

Die  humanitären  Schöpfungen  des  Kaisers,  der,  auch  wenn  er  irrte, 
stets  von  dem  aufrichtigen  Bestreben  erfüllt  war,  sein  Volk  glücklich 
zu  machen,  geben  ihm  ein  Anrecht  auf  die  Dankbarkeit  der  Menschen. 
Sie  haben  seine  politischen  Pläne  und  Thaten  überdauert  und  erzählen 
heut  noch  von  der  Güte  und  Liebe  des  edlen  Fürsten,  der  seinem 
Volk  non  diu,  sed  totus  lebte,  wie  es  auf  dem  Denkmal  heisst,  das  ihm 
in  seiner  Kesidenz  errichtet  worden  ist.1 

Die  Reaktion,  welche  seine  politische  Tendenz  bekämpfte,  wandte 
sich  gegen  seine  Massnahmen  in  der  Unterrichtsverwaltung.    Es  wurde 


1  Th.  Püschmann  :  Die  Medicin  in  Wien  während  der  letzten  hundert  Jahre, 
Wien  1884,  S.  53  u.  ff. 

29* 


452  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


eine  „Studien -Einrichtungs-Commission",  wie  sie  genannt  wurde,  be- 
rufen, welche  den  Auftrag  erhielt,  das  Erziehungswesen  wieder  in  die 
Geleise  des  alten  Herkommens  zu  leiten. 

In  der  Medicin  erhob  der  Zunftgeist  sein  Haupt  und  versuchte, 
den  Einfluss,  den  er  früher  auf  den  Unterricht  der  Ärzte  besessen  hatte, 
zurück  zu  erobern.  Man  verlangte,  dass  das  frühere  Verhältniss  zwi- 
schen den  Ärzten  und  den  Chirurgen  wieder  hergestellt,  die  Chirurgen 
in  eine  abhängige  untergeordnete  Stellung  versetzt  und  die  Vereinigung 
der  Chirurgie  und  der  inneren  Medicin,  welche  durch  den  Studienplan 
v.  J.  1786  herbeigeführt  worden  war,  wieder  aufgelöst  werde,  und  be- 
hauptete, dass  diese  beiden  Gebiete  der  Heilkunde  zu  heterogen  und 
umfangreich  seien,  als  dass  ein  Einzelner  beide  in  gleicher  Weise  be- 
herrschen könne.  Gegen  das  Josefinum  wurde  der  Vorwurf  erhoben, 
dass  es  zu  viele  Kosten  verursache  und  durchaus  nicht  den  medicini- 
schen  Facultäten  der  Universitäten  ebenbürtig  sei.  Doch  gelang  es  nicht, 
die  Aufhebung  desselben  durchzusetzen;  denn  der  Staat  konnte  in  den 
lange  andauernden  Kriegen,  in  welche  Österreich  damals  verwickelt 
wurde,  die  einzige  Anstalt,  welche  für  den  Bedarf  an  Militärärzten 
sorgte,  nicht  entbehren.  Auch  zeigte  die  tägliche  Erfahrung,  wie  noth- 
wendig  und  wichtig  die  chirurgischen  Kenntnisse  waren,  und  eine 
Herabsetzung  derselben  erschien  keineswegs  zeitgemäss.  Grössere  Be- 
rechtigung hatten  die  Anklagen,  welche  sich  gegen  das  Wiener  allge- 
meine Krankenhaus  richteten;  die  Verbesserungen,  die  dadurch  hervor- 
gerufen wurden,  gereichten  der  Anstalt  zum  Vortheil. 

Am  medicinischen  Studienplan  wurde  nichts  geändert,  obwohl 
derselbe  in  manchen  Beziehungen  reformbedürftig  war.1  Dagegen 
wurden  den  Professoren  genaue  Instruktionen  für  ihr  Verhalten  ertheilt 
und  die  Lehrbücher  vorgeschrieben,  welche  sie  ihren  Vorlesungen  zu 
Grunde  legen  sollten.  Die  Studien-Direktorate  wurden  aufgehoben,  aber 
schon  nach  wenigen  Jahren  wieder  eingeführt,  bildeten,  wie  vorher,  die 
Aufsichtsbehörden  für  die  Angelegenheiten  der  Facultäten  und  leiteten 
das  Unterrichtswesen. 

Im  J.  1804  wurde  die  Studienzeit  für  die  Studierenden  der  Me- 
dicin und  höheren  Chirurgie  von  4  auf  5  Jahre  erhöht  und  angeordnet, 
dass  die  3  ersten  Jahre  der  theoretischen  xiusbildung,  die  beiden  letzten 
J.ahre  jedoch  hauptsächlich  dem  Besuch  der  Kliniken  gewidmet  würden. 
Gleichzeitig  wurde  daran  erinnert,  dass  Niemand  zum  Studium  der 
Heilkunde  zugelassen  werden  sollte,   der  nicht  vorher  durch  3  Jahre 


1  Freimüthige   Betrachtungen  über    den    medicinischen   Unterricht    an   der 
hohen  Schule  zu  Wien,  1795. 


Österreich  -  Ungarn.  453 


an  der  Universität  philosophische  Vorlesungen  gehört  und  sich  eine 
genügende  Allgemeinbildung  erworben  habe.  Jeder  Lehrer  musste 
wöchentlich  mindestens  eine  halbe  Stunde  darauf  verwenden,  um  sich 
durch  Fragen  zu  überzeugen,  dass  seine  Schüler  den  Inhalt  seiner  Vor- 
träge verstanden  und  in  sich  aufgenommen  hatten.  Am  Schluss  eines 
jeden  Semesters  fanden  öffentliche  Prüfungen  der  Studierenden  statt, 
von  deren  Erfolg  es  abhing,  ob  es  ihnen  gestattet  wurde,  die  für  das 
folgende  Semester  bestimmten  Collegien  zu  besuchen.  Ausserdem  wurden 
die  Vorschriften  für  die  Approbations-Prüfung,  welche  am  Schluss  der 
Studienzeit  abgelegt  wurde,  verschärft  und  die  Examinatoren  ermahnt, 
dabei  streng  und  gewissenhaft  zu  verfahren. 

Im  J.  1810  wurde  ein  neuer  medicinischer  Studienplan  vorge- 
schrieben, in  welchem  diejenigen  Fächer,  welche  inzwischen  in  den 
Unterricht  aufgenommen  worden  waren,  Berücksichtigung  fanden.  Dar- 
nach sollten  die  Studierenden  der  Heilkunde  während  des  ersten  Jahres 
die  Einleitung  in  das  medicinisch-chirurgische  Studium,  specielle  Natur- 
geschichte, Botanik  und  systematische  Anatomie,  während  des  zweiten 
höhere  Anatomie  und  Physiologie,  allgemeine  Chemie,  Pharmacie  und 
Thierchemie,  während  des  dritten  allgemeine  Pathologie  und  Therapie, 
Ätiologie,  Semiotik,  Materia  medica  et  chirurgica,  Diätetik,  Keceptirkunst, 
Geburtshilfe,  allgemeine  und  specielle  Chirurgie,  die  Lehre  von  den 
chirurgischen  Instrumenten  und  Verbänden  und  Ophthalmologie  hören, 
während  des  vierten  und  fünften  Jahres  die  Vorlesungen  über  specielle 
Pathologie  und  Therapie  der  inneren  Krankheiten  und  die  Kliniken 
besuchen  und  den  Vorträgen  über  Veterinärkunde,  gerichtliche  Medicin 
und  Medicinalpolizei  beiwohnen.  Diejenigen,  welche  sich  zu  Landärzten 
ausbildeten,  wurden  angehalten,  im  ersten  Jahre  die  Einleitung  in  das 
medicinisch-chirurgische  Studium,  theoretische  Chirurgie,  Anatomie, 
Physiologie,  allgemeine  Pathologie  und  Therapie,  Materia  medica  et 
chirurgica,  Diätetik,  Keceptirkunst  und  Bandagen  lehre  und  im  zweiten 
Jahre  chirurgische  Operationslehre,  gerichtliche  Medicin,  Geburtshilfe 
und  Thierarzneikunde  zu  hören  und  die  medicinische  und  chirurgische 
Klinik  zu  besuchen.  Die  Studienzeit  derselben  wurde  später  um  ein 
Jahr  verlängert.  Die  Theilnahme  an  der  geburtshilflichen  Klinik  blieb 
ebenso  wie  der  Besuch  der  Vorlesungen  über  mehrere  andere  Unter- 
richtsgegenstände dem  freien  Ermessen  der  Studierenden  überlassen. 
Über  jedes  Hauptfach  musste  an  5  Tagen  der  Woche  jedesmal  eine 
Stunde  vorgetragen  werden;  dem  Unterricht  in  der  medicinischen  und 
der  chirurgischen  Klinik  wurde  die  doppelte  Zeit  gewidmet. 

Gleichzeitig  wurde  dafür  gesorgt,  dass  der  Lehrstoff  durch  prak- 
tische Demonstrationen  und  Arbeiten  dem  Verständniss  näher  gebracht 


454  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

wurde.  Zu  diesem  Zweck  unternahmen  die  Studierenden  unter  der 
Leitung  ihrer  Lehrer  botanische  Exemtionen,  arbeiteten  im  chemischen 
Laboratorium,  übten  sich  im  Zergliedern  der  menschlichen  Körper, 
wohnten  den  Minischen  Sektionen  bei  und  führten  chirurgische  Opera- 
tionen an  der  Leiche  aus.  Wo  noch  keine  Secir-Anstalten  bestanden, 
wurden  dieselben  errichtet;  doch  mussten  die  Kosten,  welche  die  Be- 
schaffung des  erforderlichen  Leichen -Materials  verursachte,  von  den 
Schülern  getragen  werden. 

Wer  sich  um  die  medicinische  Doktor -Würde  bewarb,  war  ver- 
pflichtet, zunächst  zwei  Krankengeschichten  vorzulegen,  welche  Fälle 
betrafen,  die  er  selbst  in  der  Klinik  behandelt  hatte,  sieb  hierauf  einer 
Prüfung  zu  unterziehen,  welche  sich  über  die  im  Studienplan  genannten 
Unterrichtsgegenstände  erstreckte,  und  endlich  eine  Dissertation  zu  ver- 
fassen und  Thesen  zu  vertheidigen.  Das  Examen  für  das  Doktorat  der 
Chirurgie  unterschied  sich  davon  dadurch,  dass  anstatt  der  inneren 
Meclicin  die  Chirurgie  in  den  Vordergrund  trat,  und  die  Candidaten 
zwei  chirurgische  Operationen  an  der  Leiche  ausführen  mussten.  Wenn 
ein  Doktor  der  Medicin  auch  zum  Doktor  der  Chirurgie  promoviren 
wollte  oder  umgekehrt,  so  brauchte  er  nur  eine  Ergänzungsprüfung 
abzulegen,  welche  jene  Fächer  betraf,  die  in  der  früheren  zu  wenig 
beachtet  worden  waren.  Geringere  Anforderungen  wurden  an  Diejenigen 
gestellt,  welche  sich  mit  dem  Titel  eines  Magisters  der  Chirurgie  be- 
gnügten. Ähnlich  verhielt  es  sich  mit  den  Landärzten.  Ausserdem 
wurde  das  Diplom  als  Augenarzt  verliehen,  während  die  Klasse  der 
sogenannten  Bruchärzte  aufgehoben  wurde. 

Am  Josefinum  wurde  die  Studienzeit  1822  ebenfalls  für  den  höheren 
Cursus  auf  5  Jahre  und  für  den  niederen  auf  3  Jahre  erhöht  und 
dem  Unterricht  derselbe  Studienplan  zu  Grunde  gelegt,  welcher  an  den 
medicinischen  Facultäten  eingeführt  worden  war.  Die  Anstalt  erhielt 
in  Folge  dessen  das  Recht,  sämmtliche  akademische  Grade  zu  verleihen. 

Die  Studien-Ordnung  v.  J.  1833  brachte  keine  wesentliche  Ände- 
rung im  Unterricht  und  in  den  Prüfungen;  nur  fand  die  Augenheil- 
kunde eine  grössere  Berücksichtigung  als  bisher. 

Im  J.  1845  wurde  eine  Commission  von  Sachverständigen  berufen, 
welche  über  die  Gebrechen  des  medicinischen  Unterrichts  Berathungen 
hielt  und  Vorschläge  zur  Verbesserung  desselben  machte.  Aber  bevor 
darüber  eine  endgültige  Entscheidung  getroffen  wurde,  kam  das  Jahr 
1848,  welches  eine  vollständige  Umwälzung  der  bestehenden  Verhält- 
nisse herbeiführte.  Der  Lehrkörper  der  Wiener  medicinischen  Facultät 
legte  dem  neu  geschaffenen  Unterrichts-Ministerium  einen  Reformplan 
der  medicinischen  Studien  vor.  in  welchem  zunächst  auf  den  Übelstand 


Österreich  -  Ungarn.  455 


hingewiesen  wurde,  dass  als  medicinische  Facultät  sowohl  das  Lehrer- 
Collegium  als  die  Vereinigung  sämmtlicher  Ärzte  von  Wien  bezeichnet 
wurde  und  die  Professoren  von  den  wichtigsten  akademischen  Ämtern,  wie 
von  demjenigen  des  Rectors,  Dekans,  ebenso  wie  von  dem  des  Direktors  der 
medicinischen  Studien  ausgeschlossen  und  im  Universitäts-Consistorium 
fast  gar  nicht  vertreten  waren.  Man  verlangte,  dass  die  ordentlichen 
Professoren,  ähnlich  wie  an  den  Universitäten  Deutschlands,  ein  Colle- 
gium  bilden,  welches  dem  Ministerium  unmittelbar  unterstehe,  die 
Fragen  des  Unterrichts  und  andere  Angelegenheiten  selbstständig  be- 
rathe  und  erledige,  die  Prüfungen  abnehme  und  akademische  Würden 
ertheile,  dass  die  Lehrkanzeln  nicht  durch  Concurs,  sondern  durch  Be- 
rufung besetzt  werden,  dass  die  Anstellung  der  Professoren  eine  stabile 
sei  und  ihre  Absetzung  nur  bei  ehrenrührigen  Vergehen  oder  fortge- 
setzter Pflichtversäumniss  erfolgen  dürfe,  dass  die  ordentlichen  und 
ausserordentlichen  Professoren,  welche  einen  im  Studienplan  vorgeschrie- 
benen Unterrichtsgegenstand  vertreten,  vom  Staat  anständig  besoldet 
werden,  „so  dass  sie  von  Nahrungssorgen  befreit  der  Wissenschaft  und 
namentlich  der  Förderung  ihres  Faches  obliegen  können",  dass  die 
wissenschaftlichen  Institute  in  einer  den  Bedürfnissen  entsprechenden 
Weise  ausgestattet  und  dotirt  werden,  dass  Lehr-  und  Lernfreiheit  be^ 
willigt,  die  Lehrer  weder  an  bestimmte  Lehrbücher  gebunden,  noch  die 
Studierenden  genöthigt  werden,  gewisse  Vorlesungen  zu  hören  und  ihre 
fachwissenschaftliche  Bildung  ausschliesslich  an  inländischen  Hochschulen 
zu  erwerben,  dass  die  Semestral-Prüfungen  aufgehoben  und  die  medi- 
cinischen Rigorosen  unter  dem  Vorsitz  des  Dekans  der  Facultät,  die 
Promotionen  unter  demjenigen  des  Rectors  der  Universität  stattfinden, 
dass  der  Rector,  sowie  der  Dekan  aus  der  Zahl  der  ordentlichen  Pro- 
fessoren und  von  diesen  gewählt,  die  Verbindung  zwischen  der  Uni- 
versität und  den  Doktoren-Corporationen  aufgelöst  und  der  Einfluss  der 
ärztlichen  Zunft  auf  den  medicinischen  Unterricht  gänzlich  beseitigt 
werde. 

Der  Freiherr  E.  von  Feuchtersleben,  der  Verfasser  der  bekannten 
„Diätetik  der  Seele",  welcher  als  Docent  der  Psychiatrie  an  der  Wiener 
Hochschule  thätig  war,  wurde  aufgefordert,  die  Leitung  des  Unterrichts- 
Ministeriums  zu  übernehmen;  er  lehnte  jedoch  ab,  Minister  zu  werden, 
weil  er,  wie  er  in  seiner  Selbstbiographie  schreibt,  „von  der  Überzeugung 
geleitet  wurde,  dass  bei  dem  aus  dem  Repräsentativ -System  hervor- 
gehenden Ministerwechsel  überhaupt  und  bei  unseren  damaligen  Zu- 
ständen insbesondere  für  den  Minister  an  keine  folgerichtige  Thätigkeit 
zu  denken  sei.  die  gerade  in  dem  Bereich  des  Unterrichts  für  das  Ge- 
lingen und  Gedeihen  einer  im  Sinne  eines  grossen  Ganzen  gedachten 


456  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Keform  unerlässliche  Bedingung  ist",  und  begnügte  sich  mit  der  Stel- 
lung als  Unterstaatssekretär  im  Unterrichts-Ministerium,  in  welcher  er 
während  der  kurzen  Zeit  seiner  amtlichen  Wirksamkeit  eine  Menge 
wichtiger  Reformen  ins  Leben  rief.  So  führte  er  den  naturwissenschaft- 
lichen Unterricht  an  den  Gymnasien  ein,  verlängerte  die  Studienzeit 
der  letzteren  um  zwei  Jahre,  indem  er  die  Anordnung  traf,  dass  der 
philosophische  Cursus,  den  die  Studierenden  bis  dahin  an  der  Universität 
absolviren  mussten,  mit  dem  Gymnasium  verschmolzen  wurde,  erwirkte 
für  die  Universitäten  Lehr-  und  Lernfreiheit,  schaffte  die  Besetzung 
der  Professuren  durch  Concurs  ab  und  sorgte  dafür,  dass  die  Lehrmittel 
und  Sammlungen  des  Josefinums,  als  dasselbe  aufgehoben  wurde,  der 
Wiener  medicinischen  Facultät  überlassen  wurden. 

ImJ.  1849  wurde  das  Gesetz  über  die  Organisation  der  akademischen 
Behörden1  erlassen,  nach  welchem  die  Studienangelegenheiten  an  den 
Universitäten  von  den  Professoren-Collegien  der  einzelnen  Facultäten 
geleitet  werden.  Dieselben  setzen  sich  zusammen  aus  sämmtlichen 
ordentlichen  und  so  vielen  ausserordentlichen  Professoren,  dass  die  Zahl 
der  letzteren  die  Hälfte  der  ersteren  nicht  übersteigt,  und  zwei  Ver- 
tretern der  Privatdocenten,  welche  aber  nur  eine  berathende  Stimme 
erhielten.  Den  Vorsitz  in  diesen  Collegien  führt  der  aus  der  Reihe 
der  ordentlichen  Professoren  gewählte  Dekan,  welcher  in  manchen  Be- 
ziehungen an  die  Stelle  des  früheren  Studien-Direktors  trat,  dessen  Amt 
aufgehoben  wurde. 

In  WTien  und  Prag  wurde  den  ärztlichen  Zünften,  den  Doktoren- 
Corporationen,  ein  Rest  von  Einfluss  auf  das  medicinische  Unterrichts- 
wesen gewahrt,  indem  sie  auch  fernerhin  als  Theile  der  Universität 
betrachtet,  als  Facultäten  bezeichnet  wurden  und  das  Recht  erhielten, 
sich  einen  Dekan  zu  wählen,  der  im  Professoren-Collegium  Sitz  und 
Stimme  hatte  und  bei  den  ärztlichen  Prüfungen  mitwirkte.  Erst  1873 
wurde  die  vollständige  Trennung  der  Doktoren-Corporationen  von  den 
medicinischen  Facultäten  und  der  Universität  vollzogen.2  Die  Doktoren- 
Collegien  bildeten  fortan  nur  ärztliche  Vereine,  welche  sich  mit  der 
Verwaltung  ihres  Vermögens,  der  Verleihung  einzelner  Stipendien  u.  a.  m. 
befassen,  aber  keine  amtlichen  Obliegenheiten  haben. 

Schon  in  einem  Ministerial-Erlass  v.  J.  1848  wurde  die  Aufhebung 
des  niederen  Studiums  der  Landärzte  im  Princip  ausgesprochen.3  Aber 
der  praktischen  Ausführung  derselben  stellten  sich  manche  Schwierig- 


1  G.  Thaa:   Sammlung  der  für  die  österreichischen  Universitäten  gültigen 
Gesetze  und  Verordnungen,  Wien  1871,  I,  69  u.  ff. 

2  Thaa  a.  a.  0.  S.  615  u.  ff.  3  Thaa  a.  a.  0.  S.  497. 


Österre  ich  -  Ungarn.  457 


keiten  entgegen.  Man  musste  befürchten,  dass  durch  eine  plötzliche 
Schliessung  der  für  die  Ausbildung  der  Landärzte  und  niederen  Chirurgen 
vorhandenen  Lehranstalten  ein  empfindlicher  Mangel  an  Ärzten  herbei- 
geführt werden  würde,  und  suchte  daher  vorher  den  notwendigen 
Ersatz  dafür  zu  schaffen. 

Zunächst  wurden  die  Lehr-Ourse,  welche  bis  dahin  für  die  Land- 
ärzte an  den  Universitäten  zu  Wien  und  Prag  bestanden,  aufgelöst, 
während  die  medicinisch- chirurgischen  Unterrichtsanstalten  zu  Graz 
und  Innsbruck  später  zu  wirklichen  medicinischen  Facultäten  erhoben 
wurden,  die  den  dortigen  Universitäten  einverleibt  wurden.  Die  übrigen 
Institute  dieser  Art,  welche  in  Salzburg,  Olmütz,  Laibach,  Lemberg  u.  a.  0. 
existirten,  wurden  allmälig  geschlossen.  Damit  hörte  die  Ausbildung 
von  Ärzten  der  niederen  Kategorie  auf. 

Von  nun  an  boten  nur  noch  die  Universitäten  die  Gelegenheit 
zum  Studium  der  Heilkunde.  Gegenwärtig  besitzen  die  Hochschulen 
zu  Wien,  Prag,  Graz  und  Innsbruck,  an  welchen  die  deutsche  Unter- 
richts-Sprache herrscht,  die  neu  errichtete  czechische  Universität  zu 
Prag,  die  polnische  Hochschule  zu  Krakau  und  die  beiden  ungarischen 
Universitäten  zu  Budapest  und  Klausenburg  medicinische  Facultäten; 
den  Hochschulen  zu  Lemberg,  Agram  und  Czernowitz  fehlen  dieselben. 

Das  Josefinum  wurde,  nachdem  es  1848  aufgehoben  und  1854 
wieder  eröffnet  worden  war,  nach  1870  abermals  geschlossen,  weil  man 
der  Meinung  war,  dass  es  nach  der  Einführung  der  allgemeinen  Wehr- 
pflicht nicht  an  Militärärzten  fehlen  werde.  Diese  Voraussetzung  er- 
füllte sich  nicht,  und  die  Wiedererrichtung  einer  militärärztlichen  Schule 
wird  eines  Tages  vielleicht  ein  Gebot  der  Notwendigkeit  sein.  Eine 
Militärmacht  von  dem  Range  des  österreichischen  Kaiserstaates  bedarf 
einer  Bildungsanstalt  für  Militärärzte,  wie  das  Beispiel  von  Frankreich, 
Preussen  und  Bussland  lehrt.  Ihre  Form  und  Organisation  mag  von 
derjenigen  des  ehemaligen  Josefinums  abweichen;  aber  ihre  Existenz 
liegt  im  Interesse  des  Staates  und  der  Armee. 

Die  Zahl  der  vorhandenen  medicinischen  Facultäten  steht  zu  der 
Grösse  und  Bevölkerung  der  österreichisch -ungarischen  Monarchie  in 
keinem  entsprechenden  Verhältniss.  Die  Frequenz  derselben  ist  in 
Folge  dessen  ausserordentlich  gross;  in  Wien  betrug  die  Zahl  der 
Studierenden  der  Medicin  in 'den  letzten  Jahren  durchschnittlich  weit 
über  2000.  Die  Ursachen  dieser  Erscheinung  liegen  theils  in  dem 
günstigen  Ruf,  den  die  dortigen  Lehrkräfte  und  Lehrmittel  gemessen, 
theils  in  dem  Umstände,  dass  viele  arme  Studenten  in  der  Grossstadt 
finanzielle  Unterstützungen  oder  die  Gelegenheit  zum  Erwerb  durch 
Ertheilung  von  Lektionen  oder  dgl.  zu  finden  glauben.     Schon  Petee, 


458  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Fkank1  beklagte  diese  namentlich  in  Wien  sehr  verbreitete  Sitte, 
weil  die  Studierenden  der  Medicin  dadurch  ihren  eigentlichen  Auf- 
gaben entzogen  und  zu  einer  Thätigkeit  gedrängt  werden,  die  für  ihre 
fachmännische  Ausbildung  gänzlich  werthlos  ist.  Wenn  sie  dabei  nicht 
eine  hervorragende  Begabung  besitzen,  so  scheitern  sie  an  diesen  Hinder- 
nissen und  erreichen  das  Ziel  ihrer  Studien  niemals. 

Es  ist  begreiflich,  dass  die  Überfüllung  der  Hörsäle  und  Kliniken 
für  das  Studium  der  Heilkunde  keineswegs  förderlich  ist;  denn  hier 
gilt  es,  jedes  Objekt,  jeden  Kranken  zu  sehen  und  genau  zu  beobachten, 
jedes  Experiment  mit  Verständniss  zu  verfolgen.  Mau  hat  daher  daran 
gedacht,  wie  dem  Übelstande,  dass  die  vorhandenen  Räumlichkeiten  der 
Zahl  der  Studierenden  nicht  genügen,  abzuhelfen  sei,  und  zu  diesem 
Zweck  den  Numerus  clausus  vorgeschlagen;2  aber  die  Schwierigkeit,  bei 
der  Aufnahme  der  Studierenden  eine  Grenze  zu  finden,  welche  den 
Bedingungen  der  Gerechtigkeit  und  Zweckmässigkeit  entspricht,  und 
noch  mehr  die  Scheu  vor  der  gewaltsamen  Herabdrückung  der  Wiener 
Hochschule  müssen  vor  einem  solchen  Experiment  warnen.  Die  me- 
dicinische Facultät  zu  Wien  darf  nicht  mit  dem  Maassstabe  einer  Landes- 
hochschule gemessen  werden.  Ihre  Geschichte,  ihre  Einrichtungen,  ihr 
reiches  Lehrmaterial  haben  ihr  einen  Weltruf  verschafft.  Sie  bildet 
einen  der  wenigen  Vereinigungspunkte,  welche  die  Angehörigen  der 
verschiedenen  Völker  der  Monarchie  zusammenführen,  und  scheint  durch 
ihre  geographische  Lage  zu  der  grossen  culturhistorischen  Aufgabe  be- 
rufen zu  sein,  dem  Orient  die  wissenschaftliche  Medicin  Europas  zu 
übermitteln.  Die  Herabsetzung  der  Wiener  medicinischen  Schule  wäre 
ein  Verbrechen  gegen  den  Staat,  gegen  die  Wissenschaft,  gegen  die 
Menschheit, 

Wenn  es  ihr  an  den  erforderlichen  Räumlichkeiten  für  die  Lehr- 
institute fehlt,  so  müssen  dieselben  erweitert,  oder  durch  die  Errichtung 
neuer  Anstalten  vermehrt  werden.  Allerdings  werden  auch  Vorkehrungen 
nothwendig  sein,  um  ungeeignete  Elemente  vom  Studium  fern  zu  halten, 
damit  die  fruchtbringende  Saat  nicht  vom  Unkraut  unterdrückt  wird. 
Die  Erhöhung  der  Collegien-Honorare,  welche  in  Österreich  geringer 
sind  als  in  irgend  welchem  andern  Lande,  keineswegs  aber  blos  zur 
Vermehrung  der  Einnahmen  der  Professoren,  sondern  hauptsächlich  zur 
Vergrösserung  und  Verbesserung  der  Unterrichts-Anstalten  verwendet 
werden  sollten,  die  Strenge  der  Prüfungen  und  andere  Mittel  werden 
diesem  Zweck  dienen. 


1  P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  1,  S.  336. 

2  Th.  Billroth:  Aphorismen,  Wien  1886. 


Österreich  -  Ungarn.  459 


Daneben  ist  es  sicherlich  wünschenswerte,  dass  zur  Entlastung  der 
überfüllten  medicinischen  Facultäten  einige  neue  ärztliche  Schulen  er- 
richtet werden,  z.  B.  in  Salzburg,  wo  bereits  früher  einmal  eine  Uni- 
versität bestanden  hat,1  die  erforderlichen  Gebäude  und  Lehrmittel  zum 
Theil  noch  vorhanden  oder  wenigstens  leicht  zu  beschaffen  sind,  und 
die  entzückende  Anmuth  und  Grossartigkeit  der  landschaftlichen  Um- 
gebung die  Studierenden  aus  weiter  Ferne,  selbst  aus  dem  Auslande, 
anziehen  würde,  ferner  in  Brunn  oder  Olmütz,  in  Lemberg  oder 
Czernowitz,  in  Agram  und  in  einem  oder  zwei  Orten  Ungarns.  Einzelne 
dieser  Städte  besitzen  bereits  mehrere  Facultäten,  so  dass  sie  durch  die 
Hinzufügung  einer  medicinischen  zu  einer  Universität  vervollständigt 
werden. 

Im  J.  1872  wurden  neue  Prüfungsvorschriften  für  das  Studium 
der  Medicin  gegeben,  nach  denen  die  gesonderten  Diplome  für  die  ein- 
zelnen Zweige  der  Heilkunde  aufhörten.  Bis  dahin  gab  es  Doktoren 
der  Medicin,  Doktoren  und  Magister  der  Chirurgie,  Geburtshelfer  und 
Augenärzte;-  doch  wurde  schon  1843  bestimmt,  dass  die  Diplome  in 
der  Chirurgie,  Geburtshilfe  und  Augenheilkunde  nur  an  solche  Be- 
werber verliehen  werden  durften,  welche  bereits  Doktoren  der  Medicin 
waren  oder,  wenn  sie  der  niederen  Kategorie  der  Ärzte  angehörten, 
das  Magisterium  der  Chirurgie  erworben  hatten.  Mit  der  Aufhebung 
des  Standes  der  niederen  Ärzte  wurde  beschlossen,  künftig  nur  noch 
eine  einzige  Klasse  von  Ärzten  auszubilden,  welche  sämmtlich  die 
gleiche  Vorbildung  besitzen,  denselben  Studiengang  durchmachen,  nach 
den  gleichen  Vorschriften  geprüft  und  hierauf  zu  Doktoren  der  ge- 
sammten  Heilkunde  promovirt  werden,  womit  das  Recht  zur  Ausübung 
der  Praxis  aller  Theile  der  Medicin  verbunden  ist. 

Wer  zum  Studium  der  Medicin  zugelassen  werden  will,  muss  das 
Gymnasium  vollständig  absolvirt  und  das  Maturitäts-Examen  bestanden 
haben.  Die  Studienzeit  an  der  Universität  dauert  5  Jahre.  Die  Prüfungen 
finden  theils  während,  theils  nach  derselben  statt.  Sie  beginnen  mit 
den  naturhistorischen  Prüfungen  über  Mineralogie,  Botanik  und  Zoologie, 
welche  bereits  im  Verlauf  des  ersten  Studienjahres  abgelegt  werden 
können.  Nur  Derjenige,  welcher  dieselben  mit  Erfolg  bestanden  hat, 
darf  sich  den  eigentlichen  ärztlichen  Prüfungen  unterziehen.  Die  erste 
umfasst  die  Physik,  Chemie,  Anatomie  und  Physiologie  und  besteht 
aus  einer  theoretischen  Gesammtprüfung  über  diese  Fächer  und  der 
Anfertigung  oder  Demonstration  eines  anatomischen  und  eines  mikro- 


1  J.  Mayr:  Die  ehemalige  Universität  Salzburg,  1859.  —  L.  Spatzenegger  : 
Die  Salzburger  Universität,  Salzburg  1872. 


460  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


skopischen  Präparats,  der  Ausführung  einer  chemischen  Analyse  und 
der  Erklärung  physikalischer  und  physiologischer  Apparate.  Dieses 
Examen  darf  nicht  früher  als  nach  Ablauf  des  zweiten  Studienjahres 
geschehen,  während  das  zweite  und  dritte  Kigorosum  erst  nach  der 
Beendigung  der  Studienzeit  absolvirt  werden  kann. 

Der  Candidat,  welcher  sich  zu  den  letzteren  meldet,  ist  verpflichtet, 
durch  Zeugnisse  nachzuweisen,  dass  er  durch  je  4  Semester  die  me- 
dicinische und  die  chirurgische  Klinik,  und  zwar  durch  je  zwei  Semester 
als  Praktikant,  sowie  mindestens  je  1  Semester  die  geburtshilfliche  und 
die  ophthalmiatrische  Klinik  als  Praktikant  besucht  und  das  erste 
Kigorosum  erfolgreich  bestanden  hat.  Das  zweite  handelt  über  all- 
gemeine Pathologie  und  Therapie,  pathologische  Anatomie  und  Histologie,. 
Pharmakologie  und  innere  Medicin,  und  besteht  aus  einer  praktischen 
Prüfung  über  pathologische  Anatomie  (am  Präparat  und  an  der  Leiche), 
der  Untersuchung  mehrerer  Kranken  und  einer  theoretischen  Gesammt- 
prüfung  über  alle  4  Disciplinen.  Das  dritte  Kigorosum  erstreckt  sich 
über  Chirurgie,  Augenheilkunde,  Gynäkologie  und  gerichtliche  Medicin, 
und  zerfällt  in  praktische  Prüfungen  am  Krankenbett  und  an  der 
Leiche,  z.  B.  Untersuchungen  der  Kranken,  Anlegen  von  Verbände^ 
Operationen  an  der  Leiche,  Übungen  am  Phantom  u.  a.  m.  und  in  ein 
theoretisches  Examen  über  sämmtliche  4  Fächer.  An  diese  Prüfungen 
schliesst  sich  die  Doktor-Promotion  und  die  Erlaubniss  zur  ärztlichen 
Praxis  an. 

Als  Examinatoren  wirken  bei  den  drei  ärztlichen  Prüfungen  die 
Professoren  der  betreffenden  Unterrichtsgegenstände;  ein  von  der 
Regierung  ernannter  Commissar,  welcher  Doktor  der  Medicin  und  ge- 
wöhnlich ein  höherer  Beamter  des  Sanitätsdienstes  ist,  hat  die  Aufgabe, 
die  Prüfungen  im  öffentlichen  Interesse  zu  überwachen.  Übrigens 
wurde  das  Maass  des  Wissens,  welches  dabei  verlangt  wird,  und  die 
Dauer  und  Form  der  Prüfungen  durch  genaue  Instruktionen  ausführlich 
erläutert. x 

Ärzte,  welche  sich  dem  öffentlichen  Sanitätsdienst  widmen  wollen, 
müssen  den  Nachweis  liefern,  dass  sie  nach  der  Promotion  noch  min- 
destens zwei  Jahre  hindurch  in  einem  öffentlichen  Krankenhause 
angestellt  waren,  oder  durch  drei  Jahre  die  Praxis  ausgeübt,  sich 
psychiatrische  Kenntnisse  erworben  und  eine  gewisse  Fertigkeit  in  der 
Ausführung  der  Vaccination  angeeignet  haben,  und  sich  dann  einer 
Prüfung  über  Hygiene  und  Sanitätsgesetzkunde,  gerichtliche  Medicin, 
Pharmakognosie  und  Toxikologie,  Chemie  und  Yeterinärpolizei  unter- 


1  Thaa  a.  a.  0.  Supplem.-Heft  S.  647  u.  ff.,  690  u.  ff. 


Österreich  -  Ungarn.  461 


werfen,    welche  theils   schriftlich,  theils   mündlich,   theils   praktischer 
Natur  ist.1 

Eine  vortreffliche  Einrichtung  zur  Heranbildung  tüchtiger  chirur- 
gischer Operateure  besteht  an  der  Wiener  Hochschule.  Im  J.  1807 
wurde  nämlich  die  Anordnung  getroffen,  dass  6  Studierende  der  Heil- 
kunde, welche  ihre  Studien  mit  ausgezeichnetem  Erfolg  absolvirt  hatten, 
durch  zwei  Jahre  an  der  chirurgischen  Klinik  beschäftigt  und  in  der 
Ausführung  chirurgischer  Operationen  am  todten  und  am  lebenden 
Körper  unterrichtet  wurden.  Sie  bezogen  während  dieser  Zeit  bei  freier 
Wohnung  ein  Jahres-Stipendium  von  300  Gulden  und  übernahmen  dafür 
die  Verpflichtung,  ihre  Kunst  im  Inlande  auszuüben.  Die  Stände  mehrerer 
Kronländer  gründeten  ähnliche  Stellen  für  Studierende,  welche  aus  den- 
selben stammten  und  sich  dort  niederlassen  wollten.  Man  hoffte  da- 
durch eine  Klasse  geschickter  und  erfahrener  Chirurgen  heranzubilden, 
welche  später  als  akademische  Lehrer,  als  Direktoren  und  Vorstände 
von  Hospitälern  und  chirurgischen  Kranken- Abtheilungen,  als  Sanitäts- 
beamte oder  in  der  Privatpraxis  in  den  verschiedenen  Theilen  der 
Monarchie  eine  segensreiche  Wirksamkeit  entfalten  konnten.  Gleich- 
zeitig wurde  am  Josefinum  ein  solches  Institut  errichtet,  damit  auch 
das  Heer  mit  geübten  Operateuren  versehen  werde.  Als  an  der  Wiener 
medicinischen  Facultät  eine  zweite  chirurgische  Klinik  gegründet  wurde, 
wurden  auch  dieser  eine  Anzahl  Studierender  zur  Ausbildung  zu 
Operateuren  zugewiesen.  Seit  1870  werden  diese  Stellen  nur  auf  ein 
Jahr  verliehen;  doch  kann  eine  Verlängerung  um  ein  zweites  und 
drittes  Jahr  auf  Antrag  des  Professors  der  chirurgischen  Klinik  ge- 
währt werden. 

Die  Bewerber  müssen  Doktoren  der  gesammten  Heilkunde  sein 
und  in  einer  Prüfung  über  Anatomie  und  Chirurgie  ihre  Begabung  für 
den  Beruf  eines  Operateurs  darthun.  Nur  ein  Theil  derselben  bezieht 
Stipendien;  die  übrigen  studieren  auf  eigene  Kosten.  An  keiner  der 
beiden  chirurgischen  Kliniken  darf  ihre  Zahl  grösser  als  acht  sein. 

Ähnliche  Einrichtungen  wurden  1882  an  den  geburtshilflichen 
Kliniken  der  Wiener  Hochschule  getroffen,  um  die  Heranbildung  ge- 
schickter geburtshilflicher  Operateure  zu  erzielen. 

Einige  Bedenken,  zu  welchen  das  medicinische  Unterrichts wesen 
Österreichs  Veranlassung  giebt,  wurden  in  der  Presse  schon  oft  er- 
örtert. Zunächst  nehmen  die  Vorlesungen  und  Prüfungen  über  die  für 
das  Studium  der  Heilkunde  vorbereitenden  Wissenschaften  mehr  Zeit 
in  Anspruch,  als  es  nach  dem  Lehrplan  der  Gymnasien  gerechtfertigt 


1  Eeichsgesetzblatt  1873,  29.  März,  Stück  12. 


462  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

erscheint;  derselbe  widmet  nämlich  den  Naturwissenschaften  so  viele 
Unterrichtsstunden,  dass  man  annehmen  darf,  dass  die  Studierenden, 
wenn  sie  die  Universität  beziehen,  vom  Gymnasium  eine  allgemeine 
naturwissenschaftliche  Vorbildung  mitbringen,  die  wenigstens  in  Bezug 
auf  die  Mineralogie,  Botanik  und  Zoologie  so  weit  reicht,  dass  es  über- 
flüssig wird,  das  erste  Studienjahr  nahezu  vollständig  auf  diese  Dis- 
ciplinen  zu  verwenden,  wie  es  jetzt  häufig  geschieht. x 

Auch  die  Einrichtung,  dass  diese  Prüfungen  ebenso  wie  auch  das 
erste  Rigorosum  in  die  Studienzeit  verlegt  werden,  hat  einige  Nach- 
theile im  Gefolge;  denn  sie  veranlasst  manche  Studierende,  die  Zeit  für 
die  Vorbereitung  dazu  den  Collegien,  die  sie  hören  sollen,  fortzunehmen. 
Noch  weit  schädlicher  wirkte  in  dieser  Hinsicht  die  bisherige  Gewohn- 
heit der  Studierenden,  ihrer  Militärpflicht  während  der  Studienzeit  zu 
genügen.  Allerdings  wurden  sie  als  militärärztliche  Eleven  den  Garnison- 
Spitälern  zugetheilt,  damit  sie  im  Sanitätsdienst  verwendet  wurden; 
aber  dazu  fehlten  ihnen  die  erforderlichen  medicinischen  Kenntnisse. 
Sie  wurden  somit  dem  systematischen  Gange  ihrer  Studien  entrissen, 
ohne  dass  sie  oder  die  Armee  irgend  welchen  Nutzen  davon  hatten. 
Nach  dem  neuen  Wehrgesetz  sind  die  Studenten  der  Medicin  ver- 
pflichtet, ein  halbes  Jahr  mit  der  Waffe  und  ein  halbes  Jahr  als  Ärzte 
zu  dienen.  Das  erste  kann  während  der  Studienzeit  und  zwar  inner- 
halb eines  Sommersemesters,  das  letzte  selbstverständlich  erst  nach  der 
Beendigung  der  Studien  absolvirt  werden.  Um  deren  Unterbrechung 
durch  den  Militärdienst  mit  der  Waffe  zu  vermeiden,  ist  es  wimschens- 
werth,  dass  derselbe  entweder  vor  dem  Beginn  oder  nach  der  Beendigung 
des  Universitäts-Studiums  abgemacht  wird. 

Wenn  in  Wien  darüber  geklagt  wird,  dass  der  Besuch  der  Collegien 
von  Seiten  der  Studierenden  unregelmässig  ist,  so  sollte  man  Vor- 
kehrungen treffen,  um  die  Ursachen,  welche  dieser  Erscheinung  zu 
Grunde  liegen,  zu  beseitigen.  Dass  an  klinischen  Instituten,  welche 
von  Hunderten  von  Schülern  besucht  werden,  die  Form  der  Prakti- 
kanten -Thätigkeit,  wie  sie  jetzt  üblich  ist,  für  die  ärztliche  Bildung 
nicht  genügt,  ist  begreiflich;  hier  könnte  man  an  Einrichtungen 
denken,  ähnlich  der  Stage  an  den  medicinischen  Schulen  in  Frankreich 
und  England.2  Ob  bei  dem  Mangel  derselben  die  gegenwärtige  Art 
der  Prüfung  in  der  praktischen  Heilkunde,  bei  welcher  von  einer 
längeren    Beobachtung    und    Behandlung    der    vorgestellten    Kranken 


1  Betrachtungen  über  unser  medicinisches  Unterrichtswesen,  Wien  1886,  8.  14. 

2  Schon  P.  Frank  (VI,  Abth.  2,  S.  266)  wünschte,   dass   alle  Primar-Ärzte 
des  Wiener  allgemeinen  Krankenhauses  klinischen  Unterricht  ertheilen. 


Die  deutschen  Mittel-  u.  Kleinstaaten  vor  d.  Gründg.  des  Deutschen  Reiches.  463 


abgesehen  wird,  genügt,  um  die  Befähigung  zur  Ausübung  der  ärzt- 
lichen Praxis  zu  erkennen,  darf  wohl  mit  Kecht  bezweifelt  werden.  — 

Würde  nach  der  Beendigung  der  Rigorosen  noch  eine  die  wich- 
tigsten Unterrichtsgegenstände  umfassende  Schlussprüfung  stattfinden, 
so  würde  dadurch  nicht  blos  eine  Controlle  der  einzelnen  Prüfungen 
herbeigeführt,  sondern  zugleich  die  Möglichkeit  geschaffen,  einen  Total- 
Eindruck  über  das  Wissen  des  Candidaten  zu  gewinnen. 

Die  österreichische  Unterrichts -Verwaltung,  welche  eifrig  bemüht 
ist,  das  ärztliche  Bildungswesen  zu  verbessern  und  durch  die  Errichtung 
neuer  Lehr -Institute  und  Lehrkanzeln  zu  vervollständigen,  wird  diese 
Bemerkungen  mit  wohlwollender  Nachsicht  aufnehmen  und  mit  dem 
Interesse  für  die  Sache,  durch  welches  sie  hervorgerufen  wurden,  ent- 
schuldigen. 


Die  deutschen  Mittel-  und  Kleinstaaten  vor  der 
Gründung  des  Deutschen  Reiches. 

Die  politische  Zerrissenheit  des  deutschen  Reiches  und  die  Auto- 
nomie der  einzelnen  Länder  desselben  führte  zur  Gründung  zahlreicher 
Hochschulen,  von  denen  manche  ein  kümmerliches  Dasein  fristeten. 
Es  mangelte  ihnen  an  Lehrern  und  an  Schülern,  und  sie  besassen 
weder  Lehrmittel  noch  gesicherte  Einnahmen  zur  Bestreitung  der  noth- 
wendigen  Bedürfnisse.  Sie  wurden  daher  auch  nicht  sehr  vermisst,  als 
sie  „theils  in  Eolge  eines  langen  Siechthums,  theils  durch  gewaltsame, 
mitunter  als  Vereinigung  mit  einer  anderen  Hochschule  beschönigte 
LTnterdrückung"  aufhörten  zu  existiren. 1 

Dieses  Schicksal  hatten  die  Universitäten  zu  Bützow,  welche  1789 
mit  der  Hochschule  zu  Rostock  vereinigt  wurde,  zu  Stuttgart,  die  1794 
mit  der  Tübinger  Universität  verschmolz,  zu  Bonn,  welche  in  demselben 
Jahre  aufgelöst  wurde,  zu  Köln,  Trier  und  Mainz,  denen  1798  ein 
Ende  bereitet  wurde,  zu  Bamberg,  welche  1803,  und  zu  Dillingen, 
Fulda  und  Duisburg,  die  1804  aufgehoben  wurden.  Helmstädt,  Rinteln 
und  Altdorf  verloren  1809,  Frankfurt  a/O.  1811,  Paderborn  1815, 
Erfurt  1816,  Wittenberg  und  Ellwangen  1817  und  Herborn  und 
Münster,  wo  jedoch  eine  theologische  und  philosophische  Facultät  zurück- 
blieb, 1818  ihre  Hochschule. 


1  J.  v.  Döllinger:  Die  Universitäten  sonst  und  jetzt,  München  1867. 


464  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Die  politischen  Umwälzungen  jener  Periode,  welche  die  Landkarte 
Deutschlands  häufig  verändert  und  manche  Landestheile  bald  diesem, 
bald  jenem  Staat  zugewiesen  hatten,  übten  auch  auf  das  medicinische 
Unterrichtswesen  einen  grossen  Einfluss  aus.  Einzelne  Universitäten, 
wie  Salzburg,  Innsbruck,  Würzburg  und  Freiburg  wurden  dadurch 
einem  beständigen  Wechsel  in  ihren  organisatorischen  Einrichtungen 
unterworfen,  der  für  die  Entwickelung  des  Unterrichts  keineswegs  för- 
derlich war. 

Bessere  Zustände  traten  erst  ein,  nachdem  der  Friede  errungen 
worden  war  und  die  durch  denselben  begründeten  Staatsgebilde  in 
Deutschland  eine  dauernde  Form  angenommen  hatten.  Neben  den 
beiden  deutschen  Grossmächten  Österreich  und  Preussen  bestanden 
fortan  die  Königreiche  Bayern  mit  den  Universitäten  zu  Landshut,  welche 
bis  1802  in  Ingolstadt  war  und  1826  nach  München  verlegt  wurde, 
zu  Würzburg  und  Erlangen,  Würtemberg  mit  der  Hochschule  zu  Tü- 
bingen, Sachsen  mit  derjenigen  zu  Leipzig  und  Hannover  mit  der  Uni- 
versität Göttingen,  die  Grossherzogthümer  Baden  mit  den  Hochschulen 
zu  Heidelberg  und  Freiburg,  Mecklenburg  mit  der  Universität  Rostock, 
Hessen  mit  derjenigen  zu  Giessen,  das  Kurfürstenthum  Hessen  mit  der 
Hochschule  zu  Marburg,  und  die  sächsischen  Herzogthümer  mit  der 
Universität  Jena,  das  mit  Dänemark  vereinigte  Herzogthum  Schleswig- 
Holstein  mit  der  Hochschule  zu  Kiel,  und  eine  grosse  Anzahl  von 
Staaten,  welche  keine  Universitäten  besassen. 

Das  medicinische  Unterrichtswesen  gestaltete  sich  in  den  verschie- 
denen Ländern  bei  manchen  Eigenthümlichkeiten  im  Allgemeinen  ziem- 
lich gleichartig.  Die  Einrichtungen  in  Österreich  und  Preussen  dienten, 
nachdem  die  Erinnerungen  an  die  Franzosenzeit  verklungen  waren,  den 
Meisten  als  Vorbild,  wenn  auch  bisweilen  das  Streben  nach  Originalität 
hervortrat  und  beachtenswerthe  Resultate  erzielte. 

Über  die  Bildung  der  Ärzte  in  Bayern  am  Schluss  des  vorigen 
Jahrhunderts  geben  die  medicinischen  Studienpläne,  welche  1774,  1776, 
1784  und  1799  für  die  Hochschule  zu  Ingolstadt  vorgeschrieben  wurden, 
genaue  Aufschlüsse.1  Darnach  wurde  von  den  Studierenden,  welche 
die  medicinische  Doktor -Würde  anstrebten,  eine  philosophische  Vor- 
bildung und  ein  dreijähriges  Fachstudium  verlangt.  Alle  drei  Monate 
wurden  sie  geprüft;  das  der  Promotion  vorausgehende  Examen  dauerte 
5  Stunden.  Seit  1788  wurde  ausser  dem  medicinischen  Doktorat  auch 
dasjenige  der  Chirurgie  verliehen.  Aber  erst  i.  J.  1807,  nachdem  Bayern 
zu  einem  Königreich  erhoben  worden  war,  wurde  angeordnet,  dass  die 


1  Peantl  a.  a.  0.  I,  676  u. 


Die  deutschen  Mittel-  u.  Kleinstaaten  vor  d.  Gründg.  des  Deutschen  Reiches.  4(55 


Promotionen  nicht  mehr,   wie  bisher   imperiali  ei  pontificia  auctoritate, 
sondern  regia  auctoritate  vorgenommen  wurden. 

Unter  dem  Ministerium  Montgelas  wurde  den  Hochschulen  Baj^erns 
eine  neue  Organisation  gegeben,  welche  die  Denkweise  des  Napoleoni- 
schen Zeitalters  wieder  spiegelt.  Mit  einem  Federstrich  wurde  darin  die 
alte  historische  Eintheilung  nach  den  vier  Facultäten  beseitigt  und  statt 
dessen  alle  Lehrgegenstände  in  zwei  Klassen  geschieden,  von  denen  die 
eine  diejenigen  Wissenschaften  umfasste,  welche  zum  Begriff  der  Allge- 
meinbildung gezogen  werden  können,  die  andere  die  für  einen  bestimmten 
Lebensberuf  vorbereitenden  DiscipJinen  enthielt.  Jede  dieser  beiden 
Gruppen  zerfiel  in  4  Abtheilungen.  Die  erste  bildeten  1)  die  Philo- 
sophie mit  ihren  Nebenzweigen,  2)  die  Mathematik  und  die  Natur- 
wissenschaften, 3)  die  Geschichte  (Culturgeschichte) ,  4)  die  alten  und 
neuen  Sprachen;  die  zweite  Klasse  bestand  1)  aus  den  für  die  Bildung 
des  religiösen  Volkslehrers  erforderlichen  Kenntnissen  (Theologie),  2)  der 
Rechtskunde,  3)  den  staatswirthschaftlichen  und  Cameral-Wissenschaften 
und  4)  der  Heilkunde. 

Die  Lehrkörper  setzten  sich  zusammen  aus  ordentlichen  und  ausser- 
ordentlichen Professoren  und  Privatdocenten,  „zur  Aushilfe,  um  sie  zu 
Lehrern  nachzubilden".  Jede  Abtheilung  wählte  ein  Mitglied  in  den 
Senat,  welcher  die  Angelegenheiten  der  Universität  leitete.  Diese  Ein- 
theilung deckte  sich  mit  der  früheren  insofern,  als  die  erste  Klasse  die 
von  der  philosophischen  Facultät  vertretenen  Fächer  enthielt,  die  zweite 
aus  den  übrigen  Facultäten  gebildet  wurde.  Sie  erhielt  sich  einige 
Jahre  und  ging  dann  allmälig  wieder  in  die  frühere  Form  über. 

Das  ärztliche  Bildungswesen  wurde  durch  das  organische  Edikt 
vom  8.  September  1808  geregelt.  In  demselben  wurde  angeordnet, 
„dass  nur  Derjenige  zur  ärztlichen  Praxis  zugelassen  werde,  der  die 
Prüfungen  über  den  Theil  der  Heilkunst,  den  er  ausüben  will,  bestanden 
hat".  Gleichzeitig  wurde  aber  bestimmt,  „dass  die  Wundarzneikunst 
in  Zukunft  nur  von  jenen  Individuen  ausgeübt  werde,  welche  die  Arznei- 
wissenschaften erlernt  haben",  und  den  Universitäten  befohlen,  „Nie- 
mandem einen  akademischen  Grad  aus  der  Chirurgie  zu  ertheilen,  der 
nicht  bereits  denselben  in  der  Medicin  erworben  hat". 

Die  Studienzeit  an  der  Universität  dauerte  drei  Jahre.  Am  Schluss 
eines  jeden  Semesters  fanden  Prüfungen  über  die  im  Studienplan  vor- 
geschriebenen Discipliuen  statt.  Fielen  dieselben  ungünstig  aus,  so 
nnissten  sie  wiederholt  werden.  Nach  der  Beendigung  der  Studien  er- 
folgte ein  Examen,  bei  welchem  mehrere  Fragen  unter  Clausur,  wenn 
möglich  in  lateinischer  Sprache,  beantwortet,  ein  Kranker  in  der  Klinik 
untersucht  und  behandelt  und  eine  theoretische  Gesammtprüfung  über 

Puschmann.   Unterricht.  30 


466  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

alle  Unterrichtsgegenstände  abgelegt  wurde.  Wenn  der  Candidat  nicht 
blos  die  medicinische,  sondern  zugleich  die  chirurgische  Doktor -Würde 
erlangen  wollte,  so  musste  er  ausserdem  eine  chirurgische  Operation 
an  der  Leiche  ausführen  und  einen  Verband  anlegen.  Mit  der  Aus- 
arbeitung einer  Dissertation  und  der  Vertheidigung  der  aufgestellten 
Thesen  waren  dann  alle  wissenschaftlichen  Forderungen  erfüllt,  welche 
der  Promotion  vorausgingen. 

Aber  damit  war  keineswegs  die  Berechtigung  zur  ärztlichen  Praxis 
verbunden,  sondern  der  junge  Doktor  musste  sich  zu  diesem  Zweck 
noch  zwei  Jahre  in  einem  Krankenhause  oder  unter  der  Anleitung 
eines  vielbeschäftigten  Arztes  in  der  praktischen  Heilkunst  vervoll- 
kommnen und  hierauf  einer  Prüfung  unterziehen,  welche  aus  der  Probe- 
Relation,  bei  der  10  Fragen  aus  der  internen  Medicin,  Chirurgie,  Ge- 
burtshilfe, Thierarzneikunde  und  gerichtlichen  Medicin  schriftlich  unter 
Clausur  beantwortet,  ein  Krankheitsfall  behandelt  und  eine  mündliche 
Prüfung  abgelegt  wurde,  und  der  Concurs-Prüfung  bestand,  welche  den 
Zweck  hatte,  die  tüchtigsten  Candidaten  herauszufinden,  um  sie  für  den 
Staatsdienst  in  Aussicht  zu  nehmen,  und  sich  hauptsächlich  auf  einige 
schriftliche  Clausur-Arbeiten  über  Gegenstände  der  praktischen  Medicin 
beschränkte.  Die  praktische  Befähigung  zur  Ausübung  der  Geburtshilfe 
erwarben  die  Ärzte  in  einer  Entbindungsanstalt. 

Neben  den  Doktoren  der  Heilkunde  gab  es  noch  Landärzte  und 
Chirurgen,  welche  in  besonderen  Lehranstalten  unterrichtet  wurden. 

Eine  neue  Studien-  und  Prüfungsordnung  für  die  Studierenden 
der  Heilkunde  wurde  am  30.  Mai  1843  erlassen.  In  derselben  wurde 
bestimmt,  dass  sie  nach  einem  zweijährigen  Studium  an  der  Universität 
die  Admissions- Prüfung  ablegen,  welche  sich  über  Zoologie,  Botanik, 
Mineralogie,  Chemie  und  Physik  erstreckte.  Hierauf  begann  das  eigent- 
liche medicinische  Fachstudium,  welches  nach  einer  dreijährigen  Dauer, 
also  nach  fünfjährigem  Universitätsstudium  mit  einer  Prüfung  abge- 
schlossen wurde,  welche  in  der  xinatomie  die  Eröffnung  einer  der 
grösseren  Höhlen  des  Körpers  und  die  Demonstration  der  darin  befind- 
lichen Eingeweide,  sowie  die  Beschreibung  eines  selbstgefertigten  und 
einiger  anderer  osteologischer,  angiologischer  oder  neurologischer  Prä- 
parate verlangte,  in  den  übrigen  Fächern  sich  jedoch  auf  die  münd- 
liche Beantwortung  der  Fragen,  die  darüber  gestellt  wurden,  beschränkte. 
Darauf  folgte  das  Biennium  practicum,  welches  zur  Ausbildung  in  Spe- 
cialfächern benutzt  und  hauptsächlich  an  klinischen  Lehranstalten  und 
grossen  Krankenhäusern  zugebracht  werden  sollte. 

Nach  der  Beendigung  des  Biennium  practicum  geschah  die  Schluss- 
prüfung,  die  an  die  Stelle  der  Probe-Relation  und  der  Concurs-Prüfung 


Die  deutschen  Mittel-  u.  Kleinstaaten  vor  d.  Gründg.  des  Deutsehen  Reiches.   467 


trat,  welche  aufgehoben  wurden.  Der  Candidat,  welcher  sich  derselben 
unterzog,  musste  durch  Zeugnisse  nachweisen,  dass  er  in  der  Klinik 
3  interne  und  3  chirurgische  Fälle  behandelt  und  bei  3  Geburten 
assistirt  habe,  und  die  darüber  verfassten  Krankengeschichten  vorlegen, 
bevor  er  zu  der  Prüfung   zugelassen  wurde.     Die   letztere  bestand  aus 

a)  einem  praktischen  Theile,  nämlich  der  Ausführung  von  3  chirurgi- 
schen Operationen  an  der  Leiche,  der  Anlegung  von  3  Verbänden  und 
der    Yornahme    von    3    geburtshilflichen    Operationen    am    Phantom, 

b)  einem  mündlichen  Examen  über  1)  Anatomie  und  Physiologie, 
2)  Pharmakologie  und  Pharmacie,  3)  Allgemeine  Pathologie  und  The- 
rapie, 4)  Specielle  Pathologie  und  Therapie  der  inneren  Krankheiten, 
5)  Chirurgie,  6)  Geburtshilfe,  7)  Veterinärkunde  und  8)  Gerichtliche 
Medicin  und  Sanitätspolizei,  und  endlich  c)  aus  schriftlichen  Clausur- 
Arbeiten  über  Fragen  aus  denselben  8  Prüfungsgegenständen.  Daran 
schloss  sich  die  Vorlage  einer  Dissertation,  die  Vertheidigung  der 
Thesen  und  der  Promotions-Akt.  Der  Studierende  war  somit  genöthigt, 
7  Jahre  an  der  Universität  zu  studieren,  bevor  er  die  medicinische 
Doktor- AVürde  erhielt,  mit  welcher  zugleich  die  Erlaubniss  zur  Aus- 
übung der  ärztlichen  Praxis  ertheilt  wurde.  Auch  genügte  sie  für  eine 
Anstellung  im  Sanitätsdienst;  ein  besonderes  Examen  war  dafür  nicht 
nothwendig.  Das  Prüfungsgeschäft  lag  vollständig  in  den  Händen  der 
Facultäten. 

Die  Prüfungsordnung  vom  22.  Juni  1858  führte  anstatt  der  Ad- 
missions-Prüfung  die  naturwissenschaftliche  ein,  welche  schon  nach  dem 
ersten  Studienjahre  abgelegt  wurde  und  wie  jene  über  Zoologie,  Botanik, 
Mineralogie,  Chemie  und  Physik  handelte.  Das  zweite  Examen,  welches 
nach  einem  vierjährigen  Fachstudium,  also  nach  einem  fünfjährigen 
Aufenthalt  an  der  Universität  folgte,  unterschied  sich  von  dem  früheren 
dadurch,  dass  neben  der  Anatomie  auch  die  innere  Medicin,  Chirurgie, 
Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  praktisch  geprüft  wurde,  indem  der 
Candidat  genöthigt  wurde,  zwei  interne,  zwei  chirurgische  und  einen 
ophthalmiatrischen  Krankheitsfall  durch  8  Tage  zu  behandeln,  zwei 
chirurgische  und  eine  Augen-Operation  an  der  Leiche  auszuführen,  zwei 
Verbände  anzulegen,  zwei  Schwangere  zu  untersuchen,  zwei  geburts- 
hilfliche Diagnosen  und  Operationen  am  Phantom  vorzunehmen  und 
bei  zwei  Geburten  zu  assistiren.  Im  mündlichen  Examen  bildeten  die 
Anatomie  und  Physiologie  selbstständige  Prüfungsfächer;  die  patholo- 
gische Anatomie  wurde  mit  der  allgemeinen  Pathologie,  die  Geschichte 
der  Medicin  mit  der  allgemeinen  Therapie  verbunden,  während  die 
Veterinärkunde,  gerichtliche  Medicin  und  Sanitätspolizei  wegblieben. 

Das  Biennium  practicum  wurde  auf  ein  Jahr  eingeschränkt,  welches 

30* 


468  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

zum  Besuch  der  Vorlesungen  über  gerichtliche  Medicin,  Medicinal-Polizei, 
Psychiatrie  und  Thierarzneikunde,  zur  Ausbildung  in  einzelnen  Special- 
fächern und  zur  Ausübung  der  poliklinischen  Praktikanten  -Thätigkeit 
verwendet  wurde.  Manche  dienten  während  dieser  Zeit  zugleich  als 
Hilfsärzte  in  einem  Hospital  oder  bei  einem  Sanitätsbeamten. 

Am  Schluss  des  „praktischen  Jahres"  fand  die  Staatsprüfung  statt, 
welche  aber  nur  in  München  und  zwar  einmal  im  Jahre  von  einer 
aus  Professoren,  Medicinalbeamten  und  praktischen  Ärzten  zusammen- 
gesetzten und  vom  Ministerium  ernannten  Commission  abgenommen 
wurde,  sich  über  1)  Specielle  Pathologie  und  Therapie,  2)  Chirurgie, 
3)  Geburtshilfe,  4)  Psychiatrie,  5)  Staatsarzneikunde  und  6)  Thierheil- 
kunde  erstreckte  und  sowohl  mündlich  als  schriftlich  geschah.  Hierauf 
erfolgte  die  ärztliche  Approbation.1 

Nach  der  Gründung  des  deutschen  Reiches  wurde  in  den  ver- 
schiedenen Staaten,  welche  dazu  gehören,  das  medicinische  Studium 
und  Prüfungswesen  einheitlich  geregelt.  Sie  behielten  sich  jedoch  die 
gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Ausbildung  der  Ärzte  vor,  welche 
sich  dem  öffentlichen  Sanitätsdienst  widmen.  In  Bayern  wurde  zu  diesem 
Zweck  i.  J.  1876  eine  Verordnung  erlassen,  nach  welcher  die  Bewerber 
um  eine  ärztliche  Stelle  im  Staatsdienst  ihre  Kenntnisse  in  der  gericht- 
lichen Medicin,  öffentlichen  Gesundheitspflege,  Medicinalpolizei  und 
Psychiatrie  sowohl  mündlich  als  schriftlich  und  durch  praktische  Ar- 
beiten zeigen  müssen. 

Im  Königreich  Würtemberg  legten  die  Studierenden  der  Medicin 
früher  die  erste  Prüfung  am  Schluss  der  Studien  ab.  Sie  war  mündlich 
und  schriftlich,  fand  vor  der  medicinischen  Facultät  zu  Tübingen  statt, 
und  zerfiel  in  eine  naturwissenschaftliche  Abtheilung,  welche  die  Zoologie, 
Botanik,  Mineralogie,  Physik,  Chemie,  Anatomie  und  Physiologie  um- 
fasste,  in  einen  medicinischen  Abschnitt,  der  über  allgemeine  und  spe- 
cielle Pathologie,  pathologische  Anatomie  und  Heilmittellehre  handelte, 
und  einen  chirurgischen  Theil,  welcher  die  specielle  chirurgische  Patho- 
logie, Operationslehre  und  topographische  Anatomie  betraf.2 

Hierauf  folgte  ein  Jahr  der  weiteren  praktischen  Ausbildung,  das 
zum  Hospitaldienst  und  zu  wissenschaftlichen  Reisen  verwendet  wurde, 
und  dann  das  Staatsexamen,  welches  von  dem  Medicinal-Collegium  iu 
Stuttgart  abgenommen  wurde,  aus  einer  medicinischen,  chirurgischen 
und    geburtshilflichen   Abtheilung   bestand    und  nicht   blos    schriftlich 


1  Regierungsblatt  f.  d.  Königreich  Bayern  1808,  S.  2189  n.  ti".,   1843,  S.  433, 
1858,  S.  873. 

2  V.  A.  Riecke:   Das  Medicinalwesen  des  Königreichs  Würtemberg,  Stutt- 
gart 1856. 


Die  deutschen  Mittel-  u.  Kleinstaaten  vor  d.  Gründg.  des  Deutsehen  Reiches.  4.69 


und  mündlich,  sondern  auch  praktischer  Natur  war,  indem  Kranke 
untersucht  und  behandelt,  Operationen  an  der  Leiche  ausgeführt  und 
Phantom-Übungen  veranstaltet  wurden. 

Auch  im  Grossherzogthum  Baden  wurde  die  Erlaubniss  zur  ärzt- 
lichen Praxis  durch  die  Staatsprüfung  erworben,  welche  grösstentheils 
theoretisch  war  und  von  einer  Commission  abgenommen  wurde,  die 
sich  vorzugsweise  aus  Mitgliedern  des  Medicinal-Collegiums  zusammen- 
setzte. Die  Doktor-Promotion  war  davon  ganz  unabhängig,  geschah  an 
den  medicinischen  Facultäten,  bot  nichts  weiter  als  einen  leeren  Titel 
und  wurde  daher  von  manchen  Ärzten  gar  nicht  gesucht. 

Im  Königreich  Sachsen  gab  es  früher  ausser  den  promovirten 
Ärzten,  welche  an  der  Universität  zu  Leipzig  ihre  Ausbildung  erhielten, 
noch  medicinae  practici,  Wundärzte  und  Geburtshelfer,  die  an  der  me- 
dicinisch-chirurgischen  Akademie  zu  Dresden  unterrichtet  wurden.  Die 
letztere  ging  1815  aus  dem  Collegium  medico-chirurgicum  hervor  und 
bestand  bis  1864. 

Die  medicinae  practici  waren  eine  niedere  Klasse  von  Ärzten  für 
innere  Krankheiten  und  hatten  nur  ein  sehr  beschränktes  Niederlassungs- 
recht. Die  Wundärzte  durften  überall  die  chirurgische  Praxis  treiben,  die 
Geburtshilfe  jedoch  nur  dann,  wenn  sie  sich  der  dafür  vorgeschriebenen 
Prüfling  unterzogen  hatten.  Auch  konnten  sich  die  medicinae  practici 
die  Legitimation  zur  Ausübung  der  chirurgischen  und  geburtshilflichen 
Praxis  erwerben,  wenn  sie  sich  in  diesen  Theilen  der  Heilkunde  exa- 
miniren  Hessen. 

Wer  das  Gymnasium  absolvirt  hatte  und  die  Universität  bezog, 
um  sich  dem  Studium  der  Medicin  zu  widmen,  legte  nach  dem  zweiten 
Studienjahre  das  Baccalaureats-Examen,  welches  ungefähr  dem  jetzigen 
Tentamen  physicum  entsprach,  und  am  Schluss  der  Studien  vor  der 
medicinischen  Facultät  die  mit  der  Doktor-Promotion  verbundene  Appro- 
bations-Prüfung ab,  die  sich  auf  alle  wichtigen  Unterrichtsgegenstände 
erstreckte  und  ziemlich  hohe  Anforderungen  stellte. 

In  den  sächsischen  Herzogtümern  bestanden  früher  Staatsprüfungen, 
welche  von  den  Exammations-Commissionen  in  den  Hauptstädten  der 
einzelnen  Länder  abgenommen  wurden.  Erst  1862  trafen  Weimar, 
Coburg- Gotha  und  Altenburg  ein  Übereinkommen,  wornach  das  Prü- 
fungsgeschäft der  medicinischen  Facultät  zu  Jena  übertragen  wurde. 
Das  Examen  umfasste  die  wichtigsten  Theile  der  Heilkunde,  war  mit 
praktischen  Arbeiten,  klinischen  Demonstrationen  u.  dgl.  verbunden  und 
endete  mit  der  Verleihung  des  Doktor-Diploms,  auf  Grund  dessen  die 
verschiedenen  Staatsregierungen  die  ärztliche  Approbation  ertheilten. 

Im  Königreich  Hannover  wurden  die  Ärzte  an  der  Universität  zu 


470  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Göttingen,  die  auf  einer  niedrigeren  Bildungsstufe  stehenden  Chirurgen 
an  der  Chirurgen-Schule  zu  Hannover  erzogen.  Die  ersteren  machten 
nach  etwa  7  Semestern  die  Doktorats -Prüfung,  welche  sämmtliche 
Hauptfächer  der  Medicin  umfasste,  aber  keineswegs  zur  ärztlichen  Praxis 
berechtigte.  Die  Approbation  wurde  lediglich  durch  das  Staatsexamen 
erworben,  welches  von  der  von  der  Regierung  ernannten  Examinations- 
Commission  abgenommen  wurde. 

Auch  in  Mecklenburg1  existirten  früher  neben  den  Ärzten,  die  an 
der  Universität  zu  Rostock  ausgebildet  und  promovirt  wurden,  Chirurgen, 
welche  durch  eine  Prüfung  vor  dem  Medicinal-Collegium  die  mehr 
oder  weniger  eingeschränkte  Erlaubniss  zur  Ausübung  ihrer  Kunst 
erlangt  hatten.  Den  Doktoren  der  Heilkunde  wurde  auf  Grund  ihrer 
Zeugnisse  von  der  Regierung  die  ärztliche  Approbation  ertheilt.  Diese 
Prüfungsordnung  wurde  aber  noch  vor  der  Einführung  der  deutschen 
Reichsgesetze  nach  dem  Muster  der  preussischen  Prüfungsordnung 
umgeändert. 

Im  Grossherzogthum  Hessen  gab  es  nur  eine  Klasse  von  Ärzten. 
Zum  Studium  der  Medicin  wurde  nur  Derjenige  zugelassen,  welcher  das 
Gymnasium  absolvirt  hatte.  Die  ärztlichen  Prüfungen  bestanden  aus 
folgenden  Th eilen:  1)  dem  naturwissenschaftlichen  Examen,  welches  die 
Mineralogie,  Botanik,  Zoologie,  Physik  und  Chemie  umfasste,  2)  der 
anatomischen  Prüfung,  welche  theoretisch  und  praktisch  und  sehr  ein- 
gehend war,  3)  der  Schlussprüfung,  die  sich  aus  schriftlichen  Arbeiten, 
dem  Examen  am  Krankenbett  und  der  mündlichen  Schlussprüfung  zu- 
sammensetzte, die  mit  Ausnahme  der  Anatomie  alle  Zweige  der  Heil- 
kunde in  Betracht  zog.  Hierauf  folgte  die  Anfertigung  einer  Disser- 
tation, Vertheidigung  der  Thesen  und  Doktor-Promotion,  mit  welcher 
das  Recht  zur  Ausübung  der  Praxis  verbunden  war. 

In  den  deutschen  Staaten,  welche  keine  medicinischen  Lehranstalten 
besassen,  wie  in  Oldenburg,  Braunschweig,  Hamburg,  Lübeck  u.  s.  w. 
bestanden  ebenfalls  Prüfungsbehörden,  welche  sich  aus  Sanitätsbeamten 
und  angesehenen  Ärzten  zusammensetzten  und  die  ärztliche  Approbation 
ertheilten. 


1  Doknblüth:  Darstellung  der  medicinischen  Polizeigesetzgebung,  Schwerin 
1834. 


Preussen  und  das  jetzige  Deutsche  Reich.  471 


Preussen  und  das  jetzige  Deutsche  Reich. 

Die  brandenburgisch-preussische  Monarchie  erlangte  im  18.  Jahr- 
hundert eine  hervorragende  politische  und  militärische  Machtstellung. 
Die  Idee  einer  kräftigen  Staatsgewalt,  welche  alle  Theile  der  Verwaltung 
beherrscht  und  zum  Wohl  der  Gesammtheit  leitet,  brach  sich  hier  bald 
Bahn  und  erfüllte  alle  Kreise  der  Bevölkerung.  Auch  das  medicinische 
Unterrichtswesen  blieb  von  dieser  Tendenz  nicht  unberührt. 

Schon  1725  wurde  ein  Staatsexamen  eingeführt,  welches  bei  der 
Leichtfertigkeit,  mit  der  damals  an  manchen  Orten  ärztliche  Diplome 
verliehen  wurden,  nothwendig  sein  mochte.1  Es  beschränkte  sich 
übrigens  auf  die  Anatomie  und  die  Beschreibung  eines  Krankheitsfalles, 
den  der  Candidat  beobachtet  hatte.  Dazu  kam  später  ein  mündliches 
Examen  über  die  wichtigsten  Theile  der  Heilkunde.  Im  J.  1798  wurde 
bestimmt,  dass  anstatt  der  schriftlichen  Bearbeitung  eines  Krankheits- 
falles zwei  Kranke  in  Gegenwart  des  Examinators  untersucht  und  durch 
4  Wochen  behandelt  wurden.  Die  Studienzeit  wurde  auf  mindestens 
3  Jahre  festgesetzt. 

Eine  vollständige  Organisation  des  medicinischen  Studien-  und 
Prüfungswesens  erfolgte  i.  J.  1825.  Darnach  unterschied  man  mehrere 
Kategorien  von  Heilkundigen,  nämlich  promovirte  Ärzte,  welche  nur 
zur  inneren  Praxis  oder  zugleich  auch  zur  Ausübung  der  Chirurgie 
berechtigt  waren,  und  Wundärzte  erster  und  zweiter  Klasse.  Dieselben 
waren  ausserdem  zur  Ausübung  der  Geburtshilfe  und  der  Augenheil- 
kunde legitimirt,  wenn  sie  die  dafür  erforderlichen  Prüfungen  abgelegt 
hatten. 

Die  promovirten  Ärzte  wurden  an  den  Universitäten  ausgebildet. 
Sie  mussten  bei  der  Immatriculation  den  Nachweis  liefern,  dass  sie  das 
Gymnasium  absolvirt  und  das  Abiturienten -Examen  bestanden  hatten, 
sich  hierauf  durch  4  Jahre  dem  medicinischen  Studium  widmen  und 
das  letzte  derselben  zum  Besuch  der  klinischen  Lehranstalten  benutzen. 
Es  gab  folgende  Prüfungen:  1)  das  Tentamen  philosophicum,  welches 
1826  eingeführt  wurde,  sich  über  Logik  und  Psychologie,  Physik, 
Chemie,  Mineralogie,  Botanik  und  Zoologie  erstreckte  und  von  den 
Professoren  der  philosophischen  Facultät  in  Gegenwart  des  Dekans  der 
medicinischen  Facultät  abgenommen  wurde,  2)  das  Tentamen  medicum 
und  Examen  rigorosum,  welche  in  einer  schriftlichen  Clausur- Arbeit 
und    einem   mündlichen  Examen   bestanden,    über    alle   medicinischen 


1  L.  v.  Rönne  und  H.  Simon:  Das  Medicinalwesen  des  Preussischen  Staates, 
Breslau  1844,  I,  344  u.  ff. 


472  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Unterrichtsgegenstände  handelten  und  zur  Promotion  berechtigten, 
3)  die  Staatsprüfung,  die  nur  in  Berlin  stattfand  und  das  Recht  zur 
ärztlichen  Praxis  gab. 

Während  das  Ten  tarnen  medicum  vor  dem  Dekan,  und  das  Rigo- 
rosum  vor  den  Professoren  der  medicinischen  Facultät  abgelegt  wurde, 
wirkten  bei  der  Staatsprüfung  „theoretisch  und  praktisch  wissenschaft- 
lich gebildete  Männer  aus  allen  Zweigen  des  heilkundigen  Wissens"  als 
Examinatoren.  Professoren  und  andere  Universitätslehrer  sollten  vom 
Prüflingsgeschäft  principiell  ausgeschlossen  und  höchstens  nur  als  Prüfer 
über  solche  Fächer  zugelassen  werden,  welche  sie  nicht  lehren.  Kein 
Mitglied  dieser  Examin ations-Commission,  welche  alljährlich  vom  Mini- 
sterium ernannt  wurde,  durfte  länger  als  2  Jahre  seine  Funktionen 
ausüben. 

Die  Staatsprüfung  setzte  sich  aus  mehreren  Abschnitten  zusammen, 
von  denen  der  erste  die  Anatomie  betraf,  die  Demonstration  des  Situs 
viscerum,  die  Anfertigung  eines  anatomischen  Präparats  und  die  Er- 
klärung anderer  Präparate,  welche  dem  Prüfling  vorgelegt  wurden, 
verlangte,  der  zweite  über  die  innere  Medicin  handelte  und  in  der 
Untersuchung  und  Behandlung  von  zwei  Kranken  durch  2 — 3  Wochen, 
an  welche  sich  Fragen  über  andere  Krankheitsfälle  anschlössen,  und 
einer  praktischen  Prüfung  über  Receptirkunst  bestand,  der  dritte  sich 
in  ähnlicher  Weise  mit  zwei  chirurgischen  Krankheitsfällen  beschäftigte 
und  der  vierte,  die  mündliche  Schlussprüfling,  nochmals  sämmtliche 
Lehrgegenstände  umfasste  und  gleichsam  als  Controlle  der  voran- 
gegangenen Prüflingen  diente.  Hierauf  wurde  die  Berechtigung  zur 
Behandlung  der  inneren  Krankheiten  verliehen.  Wer  auch  chirurgische 
Praxis  treiben  wollte,  war  verpflichtet,  sich  noch  einer  chirurgisch-tech- 
nischen Prüfung  zu  unterziehen,  welche  zwischen  dem  zweiten  und 
dritten  Abschnitt  eingeschaltet  wurde  und  darin  bestand,  dass  der  Can- 
didat  ein  chirurgisches  Thema  schriftlich  bearbeitete,  seine  Kenntnisse 
in  der  Operationskunst  und  Instrumentenlehre  zeigte,  einen  Verband 
anlegte  und  zwei  Operationen  an  der  Leiche  ausführte.  Wenn  dieses 
Examen  vorzüglich  ausfiel,  so  erhielt  er  das  Diplom  als  Operateur,  im 
anderen  Falle  dasjenige  als  praktischer  Arzt  und  Wundarzt.  Doch 
wurde  der  Titel  „Operateur"  1855  aufgehoben. 

Die  Wundärzte  der  ersten  Klasse  bedurften  einer  geringeren  Allge- 
meinbildung und  studierten  durch  3  Jahre  an  einer  medicinischen  Facultät 
oder  einer  medicin isch-chirurgischen  Lehranstalt;  doch  wurde  ihnen  ein 
Jahr  der  Studienzeit  nachgesehen,  wenn  sie  vorher  zwei  Jahre  hindurch 
als  Chirurgen  niederer  Kategorie  thätig  gewesen  waren.  Sie  erhielten 
die  Erlaubniss  zur  Ausübung  der  internen  und  chirurgischen  Praxis, 


Preussen  und  das  jetzige  Deutsche  Reich.  478 


nachdem  sie  die  Staatsprüfung  bestanden  hatten.  Dieselbe  wurde  nach 
den  gleichen  Grundsätzen  geregelt  wie  diejenige  für  die  promovirten 
Ärzte  und  unterschied  sich  von  ihr  nur  dadurch,  dass  sie  keine  natur- 
wissenschaftlichen Kenntnisse  voraussetzte  und  geringere  Anforderungen 
an  die  ärztliche  Bildung  stellte.  Sie  fand  in  deutscher  Sprache  statt, 
während  die  Doktoren  einen  Theil  der  Prüfung  in  lateinischer  Sprache 
ablegten. 

Die  Wundärzte  zweiter  Klasse  erwarben  die  für  ihren  Beruf  er- 
forderlichen Kenntnisse  theils  durch  die  Unterweisung  eines  Meisters 
ihrer  Kunst,  bei  dem  sie  in  die  Lehre  traten,  theils  durch  den  Dienst 
in  den  Militärlazarethen  und  Krankenhäusern  oder  durch  den  Besuch 
einzelner  Vorlesungen  an  einer  medicinischen  Facultät  oder  chirurgisch- 
medicinischen  Lehranstalt.  In  der  Prüfung,  welche  von  den  Medicinal- 
Collegien  der  Provinzen  abgenommen  wurde,  wurde  verlangt,  dass  der 
Candidat  drei  Fragen  über  allgemeine  Gegenstände  der  Physiologie, 
Materia  medica  et  chirurgica  und  Keceptirkunde,  über  Wiederbelebungs- 
versuche bei  Scheintodten,  Hilfeleistungen  bei  plötzlicher  Lebensgefahr, 
vorläufige  Anordnungen  beim  Ausbruch  von  Epidemien  u.  a.  m.  unter 
Clausur  schriftlich  beantwortete,  den  Situs  viscerum  demonstrirte,  ein 
anatomisches  Präparat  anfertigte  und  andere  Präparate,  die  ihm  vor- 
gelegt wurden,  erklärte,  eine  kleine  Operation  an  der  Leiche  ausführte, 
einen  Verband  anlegte  und  am  Kranken  häutig  vorkommende  chirur- 
gische Krankheitszustände,  wie  Entzündungen,  Eiterungen,  Hernien, 
Beinbrüche,  Verrenkungen,  Brand  u.  a.  m.  diagnosticirte. 

Die  Berechtigung  zur  Ausübung  der  Geburtshilfe  wurde  nur  an 
promovirte  Ärzte  und  Wundärzte  erster  und  zweiter  Klasse,  also  an 
Personen  verliehen,  welche  bereits  zur  ärztlichen  Praxis  in  gewissen 
Beziehungen  legitimirt  waren.  Vor  der  Prüfung,  der  sie  sich  zu  diesem 
Zweck  unterzogen,  mussten  sie  den  Nachweis  liefern,  dass  sie  einen 
vollständigen  Cursus  der  Geburtshilfe  absolvirt  und  zwei  Geburten  ge- 
hoben hatten;  hierauf  wurden  sie  veranlasst,  drei  Fragen  aus  diesem 
Gebiet  schriftlich  zu  beantworten,  ihre  Fertigkeit  im  Touchiren  am 
Phantom  und  an  der  Schwangeren  zu  zeigen,  die  Wendung  und  die 
Extraktion  mit  der  Zange  am  Phantom  auszuführen  und  eine  münd- 
liche Prüfung  über  Geburtshilfe  abzulegen. 

Zur  Ausübung  der  Augenheilkunde  war  jeder  Arzt  und  Wundarzt 
berechtigt,  welcher  die  chirurgische  Praxis  betreiben  durfte.  Ein  be- 
sonderes Examen  über  Augenheilkunde  war  daher  nur  für  diejenigen 
Ärzte  vorgeschrieben,  denen  ein  chirurgisches  Diplom  fehlte.  Es  bestand 
darin,  dass  2  oder  3  Fragen  über  die  Anatomie  und  Physiologie  des 
Auges  schriftlich  beantwortet,   einige  Augenoperationen  an   der  Leiche 


474  Der  medizinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


gemacht,  die  Kenntniss  der  erforderlichen  Instrumente  dargelegt  und 
ein  mündliches  Examen  über  Augenheilkunde  abgelegt  wurde. 

Im  öffentlichen  Sanitätsdienst  wurden  nur  promovirte  Ärzte  und 
Wundärzte  erster  Klasse  angestellt,  welche  zur  Ausübung  aller  Theile 
der  ärztlichen  Praxis  befugt  waren.  Die  ersteren  wurden  Physici,  die 
letzteren  forensische  Wundärzte  genannt.  Die  Bewerber  um  Stellen 
dieser  Art  mussten  4  Aufgaben  aus  der  gerichtlichen  Medicin  schriftlich 
bearbeiten,  wozu  ihnen  ein  Zeitraum  von  mehreren  Monaten  gewährt 
wurde,  eine  gerichtsärztliche  Obduktion  vornehmen,  eine  Apotheke  visi- 
tiren,  ihre  diagnostischen  und  therapeutischen  Kenntnisse  in  der  Thier- 
heilkunde  praktisch  bekunden  und  eine  Prüfung  über  Staatsarzneikunde 
ablegen.  Im  Jahre  1850  wurde  angeordnet,  dass  nur  diejenigen  Ärzte, 
welche  in  der  Staatsprüfung  das  Prädicat  „vorzüglich"  erhalten  hatten, 
sofort  nach  der  Approbation  zum  Physikats-Examen  zugelassen  wurden, 
während  die  übrigen  damit  einige  Jahre  warten  mussten. 

Dieses  durch  seine  verschiedenen  Combinationen  sehr  complicirte 
Prüfungssystem  hatte  manche  Übelstände  im  Gefolge.  Es  schied  die 
Ärzte  in  eine  Menge  von  Gruppen,  zwischen  denen  Competenz-Conflikte 
kaum  zu  vermeiden  waren,  setzte  die  Eacultäten  herab,  kränkte  die 
Universitätslehrer  durch  ein  ungerechtfertigtes  Misstrauen,  indem  es 
dieselben  grundsätzlich  vom  Prüfungsgeschäft  beim  Staatsexamen  aus- 
schloss,  überbürdete  die  Examinationsbehörde,  welche  dabei  thätig  war, 
ernannte  Personen  zu  Prüfern,  welche  zu  diesem  Amt  nur  selten  be- 
fähigt und  geeignet  waren,  und  nöthigte  die  Prüfungs-Candidaten  zu 
einem  längeren  Aufenthalt  in  Berlin,  der  mit  vielen  Unkosten  ver- 
bunden war. 

Diese  Gründe  in  Verbindung  mit  der  fortschreitenden  Entwicke- 
lung  der  Medicin  führten  unter  dem  Druck  des  nach  Gleichstellung 
und  Gleichberechtigung  ringenden  Zeitgeistes  zu  einer  theilweisen  Um- 
gestaltung des  medicinischen  Studien-  und  Prüfungswesens.  In  den 
Jahren  1848  und  1849  wurden  die  medicinisch- chirurgischen  Lehr- 
anstalten zu  Breslau,  Greifswald,  Münster  und  Magdeburg,  welche  bis 
dahin  neben  den  medicinischen  Facultäten  zur  Ausbildung  der  Wund- 
ärzte gedient  hatten  und  erst  wenige  Jahrzehnte  vorher  gegründet 
worden  waren,  aufgehoben  und  beschlossen,  dass  künftig  keine  Ärzte 
dieser  Art  mehr  erzogen  wurden. 

Das  Gesetz  vom  8.  Oktober  1852  bestimmte,  dass  es  fortan  nur 
eine  einzige  Klasse  von  Ärzten  geben  sollte,  welche  sich  allen  Prü- 
fungen unterziehen  mussten  und  daher  auch  die  Berechtigung  zur  ärzt- 
lichen Praxis  in  sämmtlichen  Zweigen  derselben  erhielten.  Sie  wurden 
nur   an   den    Universitäten    ausgebildet    und    mussten    das    Tentamen 


Pr eussen  und  das  jetzige  Deutsche  Reich.  475 


philosophicum,  das  Tentamen  medicum  und  Examen  rigorosum  und 
endlich  die  Staatsprüfung  ablegen.  Die  letztere  setzte  sich  zusammen 
aus  den  einzelnen  Abtheilungen  derselben,  welche  bisher  für  die  pro- 
movirten  Ärzte  und  Wundärzte  vorgeschrieben  waren;  doch  wurde  der 
chirurgisch-klinische  Abschnitt  mit  der  chirurgisch-technischen  Prüfung 
verschmolzen,  und  das  geburtshilfliche  Examen  als  besondere  Abtheilung 
in  die  Staatsprüfung  aufgenommen.  Dieselbe  bestand  also  aus  dem 
anatomischen,  medicinischen,  chirurgischen  und  geburtshilflichen  Examen 
und  der  Schluss-Prüfung,  zu  welcher  nur  Derjenige  zugelassen  wurde, 
der  die  vorhergehenden  mit  Erfolg  bestanden  hatte. 

An  dieser  Prüfungsordnung  wurden  später  einige  durch  die  wissen- 
schaftlichen Bedürfnisse  geforderte  Veränderungen  vorgenommen.  So 
erhielt  die  anatomische  Prüfung  i.  J.  1856  durch  die  Aufnahme  der 
Physiologie  eine  andere  Gestalt  und  bestand  aus  einem  anatomischen 
Theile,  nämlich  einem  osteologischen  und  einem  splanchnologischen 
Extemporale  (Situs  viscerum)  und  der  Anfertigung  eines  Nervenpräparats, 
und  einem  physiologischen  Abschnitt,  welcher  zugleich  die  Histologie 
umfasste. 

Im  Jahre  1861  trat  an  die  Stelle  des  Tentamen  philosophicum,  wel- 
ches aufgehoben  wurde,  das  Tentamen  physicum,  bei  weichem  die  Ana- 
tomie, Physiologie,  Physik,  Chemie  und  die  beschreibenden  Naturwissen- 
schaften, also  die  Mineralogie,  Zoologie  und  Botanik,  die  5  Prüfungsfächer 
bildeten.  Es  sollte  unter  der  Leitung  des  Dekans  der  medicinischen 
Facultät  stattfinden  und  nach  dem  zweiten  Studienjahre  abgelegt  werden. 

Im  Jahre  1860  wurde  angeordnet,  dass  jeder  Candidat  bei  der  Mel- 
dung zum  Staatsexamen  den  Nachweis  liefere,  dass  er  die  chirurgische 
und  die  medicinische  Klinik  durch  je  zwei  Semester  als  Praktikant 
besucht  hat. 

Das  Examen  rigorosum  blieb  als  Facultäts-Akt  neben  der  Staats- 
prüfung in  unveränderter  Form  bestehen. 

Von  den  Universitäten,  welche  Preussen  im  Anfang  unseres  Jahr- 
hunderts besass,  schienen  einige  wegen  ihres  spärlichen  Besuches  und 
der  Nähe  anderer,  günstiger  gelegener  Hochschulen  überflüssig  zu  sein. 
So  zählte  i.  J.  1805  die  Universität  zu  Erfurt  bei  41  Lehrern  nur 
21  Studenten  und  diejenige  zu  Duisburg  bei  12  Lehrern  gleichfalls 
21  Studenten;  stärker  besucht  waren  die  Hochschulen  zu  Frankfurt  a/O., 
welche  1797  bei  21  Lehrern  174  Studierende  hatte,  Erlangen,  wo 
40  Lehrer  und  202  Studenten  waren,  Königsberg  mit  26  Lehrern  und 
346  Studenten  und  Halle  mit  48  Lehrern  und  762  Studenten. 

Nachdem  die  Universitäten  zu  Duisburg  und  Erfurt  aufgehoben, 
Erlangen    an  Bayern    abgetreten    und  Wittenberg    mit  Halle 7    Frank- 


476  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


fürt  a/0.  mit  Breslau  verschmolzen  worden  war,  blieben  von  den  alten 
Hochschulen  nur  Königsberg,  Halle  und  Breslau  übrig,  wo  aber  erst 
1811  eine  medicinische  Facultät  errichtet  wurde.  Dazu  kamen  die 
Universität  zu  Greifswald,  welche  mit  Schwedisch-Pommern  unter  die 
preussische  Herrschaft  gelangte,  und  die  zu  Berlin  und  Bonn,  welche 
neu  gegründet  wurden. 

Die  Berliner  Hochschule  trat  i.  J.  1810  ins  Leben,  während  der 
Staat  in  Folge  der  Niederlagen  von  Jena  und  Auerstädt  um  die  Hälfte 
seines  früheren  Umfanges  verkleinert  und  zum  Theil  von  feindlichen 
Truppen  besetzt  war.  Es  war  sicherlich  eine  bewunderungswürdige 
Erscheinung,  dass  man  in  einer  solchen  Zeit  allgemeiner  Niedergeschlagen- 
heit daran  denken  konnte,  der  Wissenschaft  Tempel  zu  errichten;  sie 
zeigt,  welchen  Muth,  welche  moralische  und  intellektuelle  Kraft  man 
besass,  und  wie  fest  und  sicher  man  auf  die  Wiedererhebung  des 
Staates  hoffte  und  baute.1  Die  medicinische  Facultät  der  Universität 
Berlin  entwickelte  sich  aus  dem  Collegium  medico-chirurgicum,  an 
welchem  i.  J.  1806  vor  dem  Ausbruch  des  Krieges  bereits  18  ordent- 
liche und  2  ausserordentliche  Professoren  lehrten.  Sie  übernahm  einen 
Theil  ihrer  Lehrkräfte  und  Lehranstalten  und  sorgte  dafür,  dass  die- 
selben durch  die  Berufung  hervorragender  Gelehrter,  wie  Reil,  Hufe- 
land, Rudolphi  u.  A.  und  durch  die  Vermehrung  der  wissenschaftlichen 
Institute  ergänzt  und  vervollständigt  wurden. 

Die  militärärztliche  Bildungsanstalt  zu  Berlin,  welche  1795  auf 
Göecke's  Veranlassung  eine  vortreffliche  Organisation  erhalten  hatte,2 
wurde  mit  der  Universität  in  der  Weise  verbunden,  dass  ihre  Zöglinge 
an  dem  Unterricht,  der  dort  ertheilt  wurde,  Theil  nahmen.  Dieselben 
schieden  sich  in  solche,  welche  zu  promovirten  Ärzten  ausgebildet 
wurden,  und  in  solche,  welche  den  Lehrcursus  für  die  Wundärzte  erster 
Klasse  absolvirten.  Nach  der  Aufhebung  der  letzteren  Kategorie  des 
Heilpersonals  hörte  auch  die  Ausbildung  derselben  für  die  Armee  auf. 
Die  Anstalt  besteht  heut  als  Convikt  unter  militärärztlicher  Leitung. 
Die  Studierenden  erhalten  vom  Staat  freie  Wohnung,  unentgeltlichen 
Unterricht  und  zum  Theil  sogar  finanzielle  Unterstützungen  während 
ihrer  Studien  und  übernehmen  dafür  die  Verpflichtung,  später  eine  ge- 
wisse Anzahl  von  Jahren  in  der  Armee  zu  dienen.  Die  Überwachung 
der    Studierenden   wird    Militärärzten    übertragen,    welche    sich    durch 


'  Run.  Köpke:  Die  Gründung  der  Friedrich- Wilhelms-Uni  versitat  zu  Berlin, 
Berlin   L'860. 

8  J.  D.  E.  Preuss:  Das  K.  Preuss.  medicinisch-chirurgisehe  Friedrich -Wil- 
lieluis-Institut  zu  Berlin,  Berlin  1819,  S.  28  u.  ff. 


Preussen  und  das  jetzige  Deutsche  Reich.  477 


Begabung  und  Geschicklichkeit  auszeichnen;  sie  begleiten  die  Zöglinge 
in  die  Vorlesungen,  wiederholen  mit  ihnen  den  Inhalt  derselben  und 
erhalten  auf  diese  Weise  die  Gelegenheit,  ihre  eigenen  medicinischen 
Kenntnisse  zu  befestigen  und  zu  erweitern.  Unsere  Wissenschaft  ver- 
dankt dieser  Einrichtung  manchen  hervorragenden  Forscher  und  Uni- 
versitätslehrer. 

Die  jüngste  der  preussischen  Universitäten  ist  diejenige  zu  Bonn, 
welche  i.  J.  1818  gegründet  wurde.  Sie  war  ein  Bedürmiss  für  die 
westlichen  Provinzen ,  welche  von  den  östlichen  räumlich  getrennt 
waren  und  ausser  der  theologisch-philosophischen  Lehranstalt  zu  Münster 
keine  Hochschule  besassen. 

Die  politischen  Ereignisse  von  1866  hatten  die  Vermehrung  der 
preussischen  Universitäten  um  diejenigen  zu  Göttingen,  Kiel  und  Mar- 
burg zur  Folge,  welche  mit  Hannover,  Schleswig-Holstein  und  Kur- 
hessen unter  die  preussische  Staatsverwaltung  kamen.  Als  nach  den 
glorreichen  Siegen  von  1870  das  Elsass  wieder  mit  Deutschland  ver- 
einigt wurde,  wurde  die  Universität  Strassburg  nach  dem  Muster  der 
deutschen  Hochschulen  reorganisirt  und  in  die  Zahl  derselben  auf- 
genommen. Ihre  Ausstattung  mit  reichen  Lehrmitteln  und  hervor- 
ragenden Lehrkräften  haben  ihr  bald  einen  bevorzugten  Platz  unter 
ihnen  verschafft. 

Mit  der  Errichtung  des  Norddeutschen  Bundes,  welcher  durch  den 
Eintritt  der  süddeutschen  Staaten  i.  J.  1871  zum  Deutschen  Keiche  er- 
weitert wurde,  erfolgte  eine  einheitliche  Organisation  des  medicinischen 
Studien-  und  Prüfungswesens.  Auf  Grund  des  §.  29  der  Gewerbeordnung 
vom  21.  Juni  1869  wurde  der  Beschluss  gefasst,  dass  fortan  nur  die 
Centralbehörden  derjenigen  Bundesstaaten,  welche  eine  oder  mehrere 
Universitäten  haben,  belügt  sind,  die  Approbation  zur  Ausübung  der 
ärztlichen  Praxis  zu  ertheilen,  und  zwar  nur  solchen  Personen,  welche 
die  ärztliche  Staatsprüfung  bestanden  haben.1 

Dieselbe  kann  an  jeder  zum  Deutschen  Reich  gehörigen  Universität 
abgelegt  werden.  Die  Prüfungs-Commissionen  werden  von  dem  vor- 
gesetzten Ministerium  alljährlich  ernannt;  sie  bestehen  aus  Fachmännern 
aller  Zweige  der  Heilkunde,  vorzugsweise  den  Professoren  und  Docenten 
der  betreffenden  medicinischen  Facultäten  und  einem  Vorsitzenden,  der 
die  Verhandlungen  leitet  und  überwacht.  Die  Medicinal-Collegien  und 
Examinations-Commissionen,  welche  bisher  in  den  Hauptstädten  der 
verschiedenen  Bundesstaaten  die  ärztliche  Staatsprüfung  abgenommen 
hatten,  stellten  diese  Thätigkeit  ein,  und  das  medicinisehe  Staatsexamen 


1  H.  Eulenberg:  Das  Medicinalwesen  in  Preussen,  Berlin  1874,  S.  309  u.  ff. 


478  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

wurde  eigentlich  in  eine  von  den  Staatsbehörden  beaufsichtigte  Facultäts- 
prüfung  umgewandelt. 

Wer  sich  derselben  unterziehen  will,  muss  den  Nachweis  führen, 
dass  er  das  Gymnasium  absolvirt,  das  Tentamen  physicum  bestanden, 
die  klinische  Praktikanten-Thätigkeit  durchgemacht  und  bei  vier  Ge- 
burten assistirt  hat.  Dagegen  ist  er  nicht  mehr,  wie  früher,  verpflichtet, 
das  Examen  rigorosum  abzulegen  und  die  Doktor- Würde  zu  erwerben. 
Allerdings  blieb  den  Facultäten  das  Recht,  dieselbe  nach  einer  voraus- 
gegangenen Prüfung  zu  verleihen;  aber  dies  kann  ebensowohl  nach 
dem  Staatsexamen  geschehen  als  vor  demselben  und  ist  nur  noch  ein 
altes  Herkommen,  nicht  mehr  eine  gesetzlich  vorgeschriebene  Ein- 
richtung. 

Die  Staatsprüfung  wurde  in  fünf  Abschnitte  eingetheilt.  Der  erste 
umfasste  die  Anatomie,  Physiologie  und  pathologische  Anatomie  und 
bestand  in  der  Demonstration  eines  osteologischen  und  eines  splanchno- 
logischen  und  der  Anfertigung  eines  Nerven-Präparats,  in  der  Lösung 
einer  histologischen  und  einer  physiologischen  Aufgabe  und  der  An- 
fertigung und  Erklärung  eines  histologischen  Präparats,  in  der  Sektion 
einer  Leiche  mit  Angabe  der  pathologisch-anatomischen  Ergebnisse  und 
der  Herstellung  eines  pathologisch-histologischen  Präparats;  die  zweite 
Abtheilung  betraf  die  Chirurgie  und  Augenheilkunde  und  verlangte, 
dass  der  Candidat  zwei  Kranke  durch  8  Tage  behandelte,  die  Fälle 
schriftlich  bearbeitete,  eine  akiurgische,  mit  der  Ausführung  einer 
Operation  an  der  Leiche  verbundene  Aufgabe,  sowie  eine  Aufgabe  über 
Frakturen  und  Luxationen  löste,  einen  Verband  anlegte  und  einen 
Augenleidenden  untersuchte  und  behandelte;  der  dritte  Abschnitt  be- 
schäftigte sich  in  der  gleichen  Weise  mit  der  inneren  Medicin  und 
forderte  neben  der  Behandlung  zweier  Krankheitsfälle  die  Beantwortung 
mehrerer  Fragen  aus  der  Materia  medica,  Toxikologie  und  Receptir- 
kunst;  der  vierte  Abschnitt  betraf  die  Geburtshilfe  und  Gynäkologie 
und  verlangte  die  Leitung  einer  Geburt,  die  Behandlung  der  Wöch- 
nerin und  die  Ausführung  von  geburtshilflichen  Operationen  am  Phantom; 
die  mündliche  Schlussprüfung  endlich,  welche  den  fünften  Abschnitt 
bildete,  erstreckte  sich  über  allgemeine  und  specielle  Pathologie,  Chirurgie, 
Geburtshilfe,  Materia  medica,  Staatsarzneikunde  oder  Hygiene.  Die  Auf- 
gaben wurden  zum  Theil  durch  das  Loos  bestimmt.  Wer  die  Staats- 
prüfung mit  Erfolg  ablegte,  erhielt  das  Recht,  sich  Arzt  zu  nennen, 
aber  nicht  den  Doktor-Titel. 

Will  er  den  letzteren  erlangen,  so  muss  er  denselben  von  irgend 
einer  medicinischen  Facultät  erwerben.  Die  Bedingungen,  unter  welchen 
dies  geschieht,   sind  an  den  einzelnen  Orten   verschieden.     Die  wissen- 


Preussen  und  das  jetzige  Deutsche  Reich.  479 

schaftlichen  Anforderungen  bestehen  im  Allgemeinen  in  einer  münd- 
lichen Prüfung  über  die  wichtigsten  Fächer  der  Heilkunde,  in  der 
Ausarbeitung  einer  Dissertation  in  deutscher  Sprache  anstatt  in  latei- 
nischer, wie  dies  früher  üblich  war,  und  in  der  Verteidigung  der 
aufgestellten  Thesen. 

Mehrere  wichtige  Änderungen  in  diesem  Prüfungssystem  brachten 
die  Verordnungen  vom  2.  Juni  1883.  Zunächst  wurde  bestimmt,  däss 
die  Mineralogie  als  Prüfungsgegenstand  aus  dem  Tentamen  physicum 
fortgelassen  werde,  weil  alle  Regierungen  und  Facultäten  darin  überein- 
stimmten ,  „dass  die  Mineralogie  von  allen  Zweigen  der  Naturkunde 
dem  künftigen  Arzt  am  fernsten  liegt  und  derselbe  das  Wenige,  was 
er  aus  dieser  Disciplin  wissen  muss,  in  den  Vorlesungen  über  Chemie 
und  Arzneimittellehre  erfährt."  Auch  die  Prüfung  in  der  Zoologie  und 
Botanik  wurde  eingeschränkt  und  angeordnet,  dass  sie  zusammen  nur 
als  ein  Prüfungsgegenstand  betrachtet  und  nur  eine  Note  über  beide 
Fächer  ertheilt  werden  soll.  Man  ging  dabei  von  der  Überzeugung 
aus,  dass  der  Botanik  und  Zoologie  ein  gleiches  Gewicht  für  das 
medicinische  Studium  und  eine  gleiche  Berechtigung  für  den  me- 
dicinischen  Lehrplan  wie  der  Physik  und  Chemie,  ganz  abgesehen  von 
der  Anatomie  und  Physiologie,  in  keiner  Weise  zugestanden  werden 
könne,  dass  es  ungerechtfertigt  erscheint,  von  einem  Studierenden  der 
Medicin  im  vierten  Semester  neben  genügenden  Kenntnissen  in  der  Ana- 
tomie, Physiologie,  Physik  und  Chemie  auch  noch  befriedigende  Leistungen 
auf  den  ganz  ungemein  ausgedehnten  Gebieten  der  Botanik  und  Zoologie 
zu  verlangen,  und  geradezu  unmöglich  ist,  dass  derselbe  in  diesen  beiden 
Wissenschaften  den  Anforderungen  eines  Fachprofessors  ohne  Vernach- 
lässigung der  für  seine  Zukunft  viel  wichtigeren  übrigen  Fächer  Genüge 
leistet.  Aus  diesen  Gründen  wurde  sogar  der  Antrag  gestellt,  die  Prüfung 
über  Zoologie  und  Botanik  den  Studierenden  der  Heilkunde  überhaupt 
zu  erlassen,  jedenfalls  aber  nicht  von  den  Vertretern  dieser  Fächer, 
sondern  von  einem  Mitgliede  der  medicinischen  Facultät  vornehmen  zu 
lassen.  Diese  Erwägungen  führten  zu  dem  Beschluss,  dass  der  Prüfling 
in  der  Zoologie  hauptsächlich  die  Kenntniss  der  Grundzüge  der  ver- 
gleichenden Anatomie  und  Physiologie,  und  in  der  Botanik  eine  Über- 
sicht über  die  systematische  Pflanzenkunde,  namentlich  mit  Rücksicht 
auf  die  officinellen  Pflanzen,  und  eine  Kenntniss  der  Grundzüge  der 
Anatomie  und  Physiologie  der  Pflanzen  besitzen  soll. 

Selbstverständlich  werden  Personen,  welche  an  einer  deutschen  Uni- 
versität das  Doktor-Diplom  in  den  Natur  Wissenschaften  erworben  haben, 
von  der  Prüfung  in  diesen  Fächern  im  Tentamen  physicum  dispensirt. 
Dasselbe  ist  mündlich  und  mit  keinen  praktischen  Arbeiten  verbunden. 


480  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Gleichzeitig  wurden  die  Bedingungen  für  die  Zulassung  zur  Staats- 
prüfung verschärft  und  eine  andere  Eintheilung  derselben  eingeführt. 
Der  Candidat  muss  gegenwärtig,  wenn  er  sich  dazu  meldet,  nachweisen 
dass  er  mindestens  9  Semester  anstatt,  wie  früher,  nur  8  den  me- 
dicinischen  Studien  gewidmet  und  je  zwei  Semester  an  der  chirurgischen, 
medicinischen  und  geburtshilflichen  und  ein  Semester  an  der  ophthal- 
miatrischen  Klinik  als  Praktikant  thätig  gewesen  ist,  und  dass  min- 
destens 4  Semester  verflossen  sind,  seitdem  er  das  Tentamen  physicum 
abgelegt  hat.  Im  Jahre  1887  kam  hierzu  noch  die  Forderung,  dass  er 
sich  die  zur  Ausübung  der  Impfung  erforderliche  Fertigkeit  erwor- 
ben habe. 

Die  Staatsprüfung  zerfällt  in  folgende  Theile:  1)  Normale  Anatomie, 
2)  Physiologie,  3)  Pathologische  Anatomie  und  allgemeine  Pathologie, 
4)  Chirurgie  und  Augenheilkunde,  5)  Innere  Medicin  und  Heilmittellehre, 
6)  Geburtshilfe  und  Gynäkologie  und  7)  Hygiene.  In  der  Anatomie, 
Physiologie  und  pathologischen  Anatomie  prüft  nur  ein  Examinator, 
in  den  übrigen  Fächern  dagegen  zwei.  Der  Inhalt  der  Prüfung  er- 
scheint nur  in  einzelnen  Abschnitten,  z.  B.  in  der  Anatomie,  Chirurgie 
und  Geburtshilfe,  gegen  früher  ein  wenig  vermehrt.  Wenn  der 
Examinand  in  einem  Fach  durchfällt,  so  muss  er  sich  darin  nach 
einem  bestimmten  Zeitraum  nochmals  prüfen  lassen;  versäumt  er  dies, 
so  verlieren  auch  die  übrigen,  bereits  erfolgreich  bestandenen  Theile 
der  Prüfung  ihre  Geltung. 

Einzelne  Bestimmungen  dieser  Prüfungsordnung  müssen  Bedenken 
erregen.  Hierher  gehört  zunächst  die  Fixirung  der  Studienzeit  auf 
9  Semester,  während  schon  vor  Jahrzehnten  dieser  Zeitraum  in  mehreren 
Bundesstaaten  auf  10  Semester  bemessen  war.  Die  medicinische  Wissen- 
schaft hat  seitdem  an  Umfang  und  Tiefe  sehr  bedeutend  gewonnen, 
und  die  Anforderungen,  die  an  das  Wissen  der  Ärzte  gestellt  werden, 
sind  daher  nicht  vermindert,  sondern  im  Gegentheil  ausserordentlich 
vermehrt  worden.  Will  man  überhaupt  eine  bestimmte  Studienzeit 
festsetzen,  so  sind  10  Semester  das  Mindeste,  was  gefordert  werden  kann. 

Dazu  kommt,  dass  das  Semester,  welches  gegenwärtig  zum  Waffen- 
dienst verwendet  wird,  gewöhnlich  in  die  gesetzliche  Studienzeit  fällt 
und  in  dieselbe  eingerechnet  wird.  Dieses  Zugeständnis»  ist  keineswegs 
gerechtfertigt,  da  die  Studierenden  während  der  Erfüllung  ihrer  Militär- 
pflicht durch  Aufgaben,  welche  sie  körperlich  und  geistig  vollständig 
in  Anspruch  nehmen,  vom  Studieren  abgehalten  werden. 

Befremden  erregte  die  Verordnung,  dass  die  medicinischen  Studien 
lediglich  an  den  Universitäten  des  Deutschen  Reiches  absolvirt  werden 
müssen.      Für  Juristen,    welche    später    als  Staatsbeamte  thätig   sind, 


Preussen  und  das  jetzige  Deutsche  Reich.  481 


würde  eine  derartige  Bestimmung  begreiflich  erscheinen;  den  künftigen 
Ärzten,  deren  Beruf  einen  internationalen  Charakter  hat,  sollte  es  ge- 
stattet werden,  auch  ausländische  Hochschulen  zu  besuchen,  wenn  sie 
dadurch  ihre  Bildung  vervollständigen  und  ihren  Gesichtskreis  er- 
weitern.1 Gerade  das  deutsche  Volk  hat  sich  bisher  dadurch  aus- 
gezeichnet, dass  es  sich  gegen  die  geistigen  Bewegungen  der  übrigen 
Völker  nicht  verschluss,  sondern  deren  Errungenschaften  in  sich 
aufnahm. 

Eine  eigen thümliche  Stellung  nimmt  das  Doktorat  zum  me- 
dicinischen  Prüfungssystem  in  Deutschland  ein.  Da  es  weder  zur 
ärztlichen  Praxis  berechtigt,  noch  eine  Bedingung  für  die  Zulassung 
zur  ärztlichen  Staatsprüfung  ist,  so  erscheint  es  eigentlich  überflüssig. 
Will  man  mit  der  Aufrechthaltung  des  Doktor-Titels  den  Gewohnheiten 
des  Volkes  entgegenkommen,  so  muss  man  denselben  Jedem  verleihen, 
der  das  ärztliche  Staatsexamen  bestanden  hat.  Soll  er  aber  eine  Aus- 
zeichnung für  hervorragende  wissenschaftliche  Leistungen  sein,  so  ist  es 
nothwendig,  dass  die  Anforderungen  an  das  Wissen  Derjenigen,  welche 
sich  darum  bewerben,  wesentlich  erhöht  werden. 

Eine  ausserordentlich  glückliche  und  zweckmässige  Einrichtung  ist 
es,  dass  das  Prüfungsgeschäft  hauptsächlich  den  Facultäten,  deren  Mit- 
glieder durch  ihre  Sach-  und  Personalkenntniss  ohne  Zweifel  dazu  am 
meisten  berufen  sind,  anvertraut  und  dabei  doch  der  Staatsbehörde  der 
berechtigte  Einfluss  gewahrt  wird,  den  sie  im  Interesse  der  Bevölkerung 
ausüben  kann  und  soll. 

Manche  Einzelheiten  der  Prüfungsordnung  könnten  vielleicht  ver- 
bessert werden.  So  mag  es  zweifelhaft  sein,  warum  in  den  Prüfungs- 
gegenständen der  praktischen  Heilkunde  zwei  Examinatoren  erforderlich 
sind,  während  für  die  übrigen  je  einer  genügt,  da  dadurch  das  an 
manchen  Orten  nur  spärlich  vorhandene  klinische  Material  über  Gebühr 
in  Anspruch  genommen  wird,  zwei  gleichwerthige  Examinatoren  kaum 
irgendwo  zu  finden  sind,  und  die  Überwachung  oder  Controlle  des  einen 
Prüfers  durch  den  andern  hier  ebenso  wenig  als  in  den  Disciplinen  der 
theoretischen  Medicin  nothwendig  erscheint. 

Auch  die  jetzige  Form  des  letzten  Abschnitts  der  Staatsprüfung 
befriedigt  nicht.  Mit  dem  gleichen  Recht,  wie  die  Hygiene,  könnten 
auch  die  Psychiatrie,  die  gerichtliche  Medicin,  die  Thierbeilkunde  und 
andere  Fächer  den  Anspruch  erheben,  unter  die  Prüfungsgegenstände 
aufgenommen  zu  werden. 

Gegenüber    diesen   kleinen    Mängeln,    deren   Richtigkeit   übrigens 


1  K.  Koester:  Die  Freizügigkeit  der  Studierenden  der  Medicin,  Bonn  1884. 
Pusciimann,  Unterricht.  31 


482  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

vielleicht  noch  zu  erproben  ist,  besitzt  das  medicinische  Unterrichts- 
wesen Deutschlands  so  viele  Vorzüge,  dass  es  in  andern  Ländern  mit 
Recht  als  musterhaft  gilt  und  nachgeahmt  wird. 


Italien. 


In  der  Lombardei  und  Venetien  war  das  medicinische  Unterrichts- 
wesen früher  vollständig  nach  österreichischem  Muster  organisirt.  Die 
medicinischen  Facultäten  zu  Padua  und  Pavia  standen  in  regem  Ver- 
kehr mit  den  Universitäten  der  übrigen  Kronländer  des  österreichischen 
Kaiserstaates  und  verdankten  ihnen  manche  wissenschaftliche  Anregung 
und  Förderung.  Die  Fürsten  aus  dem  österreichischen  Herrscherhause 
richteten,  wie  Loder1  bemerkt,  „ihr  Augenmerk  auf  eine  gute  Ein- 
richtung und  Erhaltung  der  öffentlichen  medicinischen  Anstalten". 

Im  Kirchenstaat  dauerte  das  medicinische  Studium  nach  einer 
Verordnung  des  Pabstes  Leo  XII.  v.  J.  1824  vier  Jahre;  hierauf  folgte 
die  Promotion  zum  Doktor  der  Medicin.  Wer  sich  mit  dem  Doktorat 
der  Chirurgie  begnügte,  studierte  ein  Jahr  weniger  und  beschäftigte 
sich  hauptsächlich  mit  den  für  seinen  künftigen  Beruf  erforderlichen 
Unter richtsgegenständen.  Mit  der  Promotion  war  nicht  die  Berechtigung 
zur  ärztlichen  Praxis  verbunden,  sondern  es  wurde  dazwischen  noch 
das  Biennium  practicum  eingeschaltet,  welches  zum  Besuch  der  Kliniken 
und  zum  Hospitaldienst  benutzt  wurde. 

In  Toscana  bestand  die  Einrichtung,  dass  die  Mediciner  4  Jahre 
an  der  Hochschule  zu  Siena  oder  Pisa  studierten  und  sich  hierauf  zur 
Fortsetzung  ihrer  Studien  nach  Florenz  begaben,  wo  sie  in  den  mit 
dem  Ospedale  di  S.  Maria  nuova  verbundenen  Instituten  Gelegenheit 
erhielten,  sich  in  der  Heilkunst  weiter  auszubilden  und  zu  vervoll- 
kommnen. Die  Collegien,  welche  an  der  Universität  besucht  werden 
mussten,  waren  vorgeschrieben.  Prüfungen,  welche  am  Schluss  eines 
jeden  Jahres  stattfanden,  entschieden  darüber,  ob  der  Studierende  zu 
den  Vorlesungen  des  folgenden  Jahrganges  zugelassen  wurde.  Nach 
der  Beendigung  der  gesammten  Studienzeit  legte  er  in  Florenz  das 
Staatsexamen  ab,  welches  aus  einem  mündlichen  theoretischen  und 
einem  praktischen  klinischen  Abschnitt  bestand.    Hierauf  folgte  die  Ans- 


1  E.   v.  Lodku:    Über   ärztliche  Verfassung   und  Unterricht   in   Italien   i.  J. 
1811,  Leipzig  1812. 


Italien.  483 

arbeitung  und  Verteidigung  von  Thesen,  die  Doktor-Promotion  und 
die  Erlaubniss  zur  ärztlichen  Praxis. 

Ähnlich  war  es  in  andern  Staaten  Italiens.  Der  Einiiuss  Öster- 
reichs und  Frankreichs,  welcher  sich  auf  vielen  Gebieten  der  Verwaltung- 
geltend  machte,  zeigte  sich  auch  in  den  Einrichtungen  des  medicinischen 
Studienwesens. 

Als  sich  die  nationalen  Hoffnungen  Italiens  erfüllten  und  die 
einzelnen  Theile  desselben  zu  einem  politischen  Gemeinwesen  vereinigten, 
wurde  eine  einheitliche  Organisation  der  medicinischen  Unterrichts- 
verwaltung ermöglicht.  Dieselbe  erfolgte  bereits  am  16.  November  1859 
und  war  der  erste  Spatenstich  einer  grossen  Cultur- Arbeit,  deren  Früchte 
mehr  und  mehr  an  das  Tageslicht  treten. 

Gegenwärtig  besitzt  Italien  17  vom  Staat  und  4  von  den  Städten 
oder  Landschaften  erhaltene  Universitäten.  Die  Staatsuniversitäten 
werden  in  diejenigen  erster  und  zweiter  Ordnung  geschieden.  Zu  der 
ersten  Klasse  gehören  die  Hochschulen  zu  Rom,  Neapel,  Turin,  Bologna, 
Padua,  Pavia,  Pisa  und  Palermo,  zur  zweiten  diejenigen  zu  Genua, 
Modena,  Parma,  Macerata,  Siena,  Cagliari,  Sassari,  Catania  und  Messina. 
Die  letzteren  sind  zum  Theil  unvollständig,  d.  h.  nicht  mit  sämmtlichen 
Facultäten  versehen  und  besitzen  weniger  Lehrkanzeln  und  eine  ge- 
ringere Zahl  von  Studierenden,  als  die  ersteren.  Die  sogenannten  freien 
Universitäten  befinden  sich  zu  Perugia,  Urbino,  Camerino  und  Ferrara. 
Ausserdem  kommt  noch  das  Instituto  superiore  zu  Florenz  in  Betracht, 
welches  ebenfalls  mit  klinischen  und  anderen  medicinischen  Anstalten 
verbunden  ist  und  Gelegenheit  zum  Studium  der  Heilkunde  bietet. 

Überall  fehlen  die  theologischen  Facultäten,  da  die  Ausbildung  des 
Klerus  i.  J.  1873  den  Universitäten  genommen  und  den  bischöflichen 
Seminarien  übertragen  wurde.  Man  unterscheidet  vier  Facultäten, 
nämlich  die  juristische,  medicinische,  mathematisch-naturwissenschaft- 
liche und  linguistisch-historische. 

Das  Studium  der  Medicin  dauert  6  Jahre.  Die  Studierenden 
müssen  sich  bei  der  Immatriculation  über  ihre  Vorbildung  ausweisen. 
Wenn  sie  das  Gymnasium  und  das  Lyceum,  welches  etwa  den  drei 
oberen  Klassen  des  deutschen  Gymnasiums  entspricht,  nicht  absolvirt 
und  auch  keine  gleichwerthige  Bildung  erworben  haben,  so  werden  sie 
nur  zum  Besuch  der  Vorlesungen,  aber  nicht  zu  den  Prüfungen  und 
zur  Promotion  zugelassen.  Den  Studierenden  wird  ein  Studienplan 
empfohlen,  keineswegs  jedoch  vorgeschrieben.  Sie  werden  nur  in  den 
wichtigsten  Fächern  der  Heilkunde  geprüft,  und  zwar  geschieht  dies 
unmittelbar,  nachdem  sie  den  Cursus  darüber  absolvirt  haben.  Das 
Examen   wird  von  dem  Professor,   welcher  den  Gegenstand  lehrt,  und 

31* 


484  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

zwei  ihm  beigeordneten  Fachmännern  abgenommen.  Nachdem  sie  die 
einzelnen  Special-Prüfungen  über  die  verschiedenen  Unterrichtsfächer, 
die  sowohl  theoretisch,  als  auch,  wie  z.  B.  in  der  descriptiven  und  der 
pathologischen  Anatomie,  Chirurgie,  internen  Medicin  und  Geburtshilfe, 
praktischer  Natur  sind,  im  Verlauf  ihrer  Studienzeit  bestanden  haben, 
erhalten  sie  das  Recht,  die  ärztliche  Praxis  auszuüben.  Um  das  Doktorat 
zu  erlangen,  muss  der  Arzt  eine  Dissertation  verfassen  und  mehrere 
Thesen  vertheidigen. 

Die  Lehrkörper  der  medicinischen  Facultäten  bestehen  aus  ordent- 
lichen und  ausserordentlichen  Professoren,  welche  sich  nur  durch  die 
Höhe  der  Besoldung,  die  sie  beziehen,  unterscheiden,  aus  Incaricati,  die 
einen  Lehrauftrag  für  ein  bestimmtes  Specialgebiet  haben,  und  Privat- 
docenten.  Die  Besetzung  der  Professuren  geschieht  gewöhnlich  durch 
Concurs,  der  entweder  in  schriftlichen  und  mündlichen  Prüfungen  be- 
steht oder  sich  nur  auf  die  Vorlage  der  wissenschaftlichen  Arbeiten 
beschränkt.  In  Fällen,  in  denen  ein  Gelehrter  von  anerkanntem  Ruf 
in  Frage  kommt,  sieht  man  von  der  Bewerbung  gänzlich  ab  und  be- 
setzt die  Lehrkanzel  auf  dem  Wege  der  Berufung.1 


Spanien  und  Portugal. 

Auch  in  Spanien  hat  man  aufgehört,  die  Berechtigung  zur  Aus- 
übung der  Praxis  für  einzelne  Theile  der  Heilkunde  zu  ertheilen. 
Gegenwärtig  giebt  es  dort  nur  eine  Klasse  von  Ärzteu,  die  Licenciados 
en  medicina  y  chirurgia,  neben  welchen  nur  noch  ein  niederes  chirur- 
gisches Hilfspersonal  existirt,  zu  welchem  die  Practicantes  (Heildiener) 
und  die  Dentistas  gezählt  werden. 

Wer  das  Studium  der  Medicin  beginnt,  muss  sich  über  eine  all- 
gemeine wissenschaftliche  Vorbildung  ausweisen  und  den  akademischen 
Grad  eines  Bachiller  en  artes  besitzen.  Die  ärztlichen  Studien  werden 
an  den  Universitäten  absolvirt,  sind  aber  nicht  obligat.  Medicinische 
Facultäten  bestehen  an  den  Hochschulen  zu  Madrid,  Barcelona,  Gra- 
nada, Saiamanca,  Santjago  de  Compostela,  Sevilla,  Cadix,  Valencia, 
Valladolid  und  Saragossa.  Die  Studierenden  widmen  das  erste  Jahr 
der  Studienzeit  den  Naturwissenschaften,  der  Physik  und  Chemie,  und 


1  Tommasi-Crudeli    in  der   Riv.   diu.   di   Bologna    1876.    —    Regio  decreto 
No.  2621,  Roma  1884. 


Spanien  und  Portugal.  485 


die  folgenden  6  Jahre  den  medicinischen  Fächern.  Hierauf  unterziehen 
sie  sich  einer  aus  drei  Abschnitten  bestehenden  Prüfung,  von  denen 
der  erste  theoretisch  ist  und  sich  über  alle  Disciplinen  der  Heilkunde 
erstreckt ,  die  beiden  anderen  praktischer  Natur  sind  und  theils  am 
Krankenbett,  theils  an  der  Leiche  stattfinden. 

Der  Candidat  erwirbt  damit  die  Licenz  zur  ärztlichen  Praxis,  nicht 
aber  die  Doktor -Würde.  Wenn  er  die  letztere  anstrebt,  so  ist  er  ver- 
pflichtet, seine  Studien  um  ein  Jahr  zu  verlängern,  welches  zur  Ver- 
vollständigung der  ärztlichen  Bildung  und  zum  Besuch  von  Vorlesungen 
über  Geschichte  der  Medicin,  medicinische  Geographie,  Hygiene,  Bio- 
logie u.  a.  m.  verwendet  wird,  und  dann  eine  Dissertation  zu  verfassen  und 
Thesen  zu  vertheidigen.  Der  Doktor-Titel  wird  nur  an  Ärzte  verliehen, 
welche  ein  reges  wissenschaftliches  Streben  zeigen,  gewährt  jedoch  keine 
Vorrechte  für  die  Praxis  und  wird  nur  von  Denjenigen  verlangt,  welche 
sich  um  die  Professuren  oder  höheren  Stellungen  im  öffentlichen  Sa- 
nitätsdienst bewerben. 


Portugal  hat  eine  medicinische  Facultät  zu  Co'imbra  und  zwei 
medicinisch- chirurgische  Lehranstalten  zu  Lissabon  und  Porto.  Sie 
unterscheiden  sich  darin  von  einander,  dass  die  erstere  mit  Lehrmitteln 
und  Lehrkanzeln  reicher  ausgestattet  ist,  als  die  letzteren,  und  allein 
das  Recht  besitzt,  den  Doktor-Titel  zu  verleihen.  Die  Schule  zu  Lis- 
sabon geniesst  wegen  des  grossen  Hospitals,  welches  ihr  zu  Lehrzwecken 
eingeräumt  ist,  den  Ruf,  dass  sie  eine  vorzügliche  Ausbildung  in  der 
praktischen  Heilkunst,  besonders  in  der  Chirurgie,  gewährt. 

Es  giebt  gegenwärtig  nur  noch  eine  Klasse  von  Ärzten,  nachdem 
die  Kategorie  der  Licenciati  minores,  welche  ein  sehr  beschränktes 
Recht  zur  Praxis  besassen,  aufgehoben  worden  ist. 

Zum  Studium  der  Heilkunde  wird  nur  Derjenige  zugelassen,  welcher 
in  einer  Prüfung  gezeigt  hat,  dass  er  eine  gewisse  Allgemeinbildung 
besitzt.  Der  Besuch  der  Collegien  ist  obligat.  Der  Lehrplan  nimmt 
5  Jahre  in  Anspruch.  Am  Schluss  eines  jeden  Jahres  finden  Prüfungen 
statt,  von  deren  Ausfall  die  Versetzung  in  die  höhere  Klasse  abhängig 
ist.  Die  Prüfungen  sind  sowohl  theoretisch  als  praktisch  und  zum  Theil 
sehr  genau;  so  wird  z.  B.  verlangt,  dass  der  Candidat  10  Kranke  durch 
20  Tage  selbstständig  behandelt.  Nach  der  erfolgreichen  Beendigung 
derselben  wird  die  Licenz  zur  ärztlichen  Praxis  ertheilt. 

Der  Doktor-Titel  ist  der  Ausdruck  einer  tieferen  wissenschaftlichen 
Bildung;  er  wird  z.  B.  von  Denjenigen  gefordert,  welche  an  der  medi- 


486  Der  ?nedicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

cinischen  Facultät  zu  Coimbra  die  Lehrthätigkeit  ausüben  wollen.    Um 
denselben  zu  erlangen,  muss  der  Bewerber  noch  ein  Examen  ablegen 
und  eine  Dissertation  vorlegen.  Als  Examinatoren  wirken  die  Professoren. 
Die  Lehrkanzeln  werden  durch  Concurs  besetzt.1 


Holland  und  Belgien. 

In  Holland  wurden  früher  verschiedene  Arten  von  Ärzten  aus- 
gebildet, welche  theils  zur  inneren,  theils  zur  chirurgischen  Praxis  be- 
rechtigt waren  und  sich  entweder  nur  auf  dem  Lande  oder  überall 
niederlassen  durften.  Sie  erwarben  ihre  fachmännischen  Kenntnisse 
sowohl  an  den  Universitäten  als  an  den  ärztlichen  Fachschulen,  welche 
mit  einigen  Hospitälern  verbunden  waren. 

Im  Jahre  1865  wurde  das  Gesetz  erlassen,  dass  die  Ärzte  fortan  nicht 
mehr  für  einzelne  Zweige  der  Heilkunst  legitimirt  werden,  sondern  alle 
Theile  derselben  betreiben  und  ein  unbedingtes  Niederlassungs- Recht 
besitzen.2  Gleichzeitig  wurden  die  Hospitalschulen  aufgehoben  und 
die  Erziehung  der  Ärzte  den  medicinischen  Facultäten  übertragen. 

Gegenwärtig  besitzt  Holland  neben  den  drei  LTniversitäten  zu 
Leiden,  Utrecht  und  Groningen,  welche  vom  Staat  erhalten  werden, 
noch  die  städtische  Hochschule  zu  Amsterdam,  die  aus  dem  Athenaeum, 
einer  höheren  Lehranstalt,  deren  Geschichte  bis  1632  zurückreicht, 
entstanden  und  1877  zu  einer  Universität  erhoben  worden  ist.3 

Wer  sich  dem  Studium  der  Medicin  widmet,  muss  die  höhere 
Bürgerschule  oder  das  Gymnasium  absolvirt  haben  oder  durch  eine 
Prüfung  den  Nachweis  liefern,  dass  er  eine  genügende  Vorbildung  be- 
sitzt.    Die  Studienzeit  dauert  gewöhnlich  6  Jahre. 

Die  Berechtigung  zur  ärztlichen  Praxis  wird  nur  durch  die  Staats- 
prüfung erworben,  welche  von  Examinations-Commissionen  abgenommen 
wird,  zu  deren  Mitgliedern  die  Lehrer  der  verschiedenen  medicini- 
schen Facultäten  ernannt  werden.  Dieser  Prüfung  gehen  das  erste  und 
zweite  naturwissenschaftliche  Examen  voraus,  von  denen  sich  jenes  mit 
der  Physik,  Chemie  und  Botanik,  dieses  mit  der  Anatomie,  Physiologie 
und  Gewebelehre,  Pharmakognosie  und  allgemeinen  Pathologie  beschäftigt. 


1  B.  A.  Serra  de  Mirabeau:  Memoria  historica  e  eommemorativa  da  facul- 
dade  de  medicina,  Coimbra  1872. 

2  Das  Medicinalwesen  im  Königreich  der  Niederlande,  Haag  1870. 

3  Revue  internat.  de  l'enseignement,  Paris  1881,  I,  77  u.  ff. 


Holland  und  Belgien.  487 


Die  Staatsprüfung  selbst  zerfällt  in  einen  theoretischen  Theil,  der  über 
pathologische  Anatomie,  Pharmakodynamik,  specielle  Pathologie  und 
Therapie,  Hygiene,  theoretische  Chirurgie  und  Geburtshilfe  handelt,  und 
in  ein  praktisches  Examen  am  Krankenbett,  an  der  Leiche  u.  s.  w. 
Vor  demselben  muss  der  Candidat  den  Nachweis  liefern,  dass  er  durch 
zwei  Jahre  klinischen  Unterricht  genossen  und  mindestens  12  Geburten, 
von  denen  2  mit  Hilfe  der  ärztlichen  Kunst  vollzogen  worden  sind, 
beigewohnt  hat.1 

Unabhängig  davon  wird  das  Doktorat  der  Heilkunde  von  den  me- 
dicinischen  Facultäten  verliehen;  von  den  Bewerbern  wird  verlangt, 
dass  sie  das  humanistische  Gymnasium  absolvirt  haben.  Die  Doktorats- 
Prüfungen  berücksichtigen  nicht  blos  die  ärztliche  Tüchtigkeit,  sondern 
auch  die  medicinische  Gelehrsamkeit;  sie  haben  eine  gründlichere  All- 
gemeinbildung zur  Voraussetzung  und  gehen  sowohl  auf  die  Natur- 
wissenschaften als  auf  die  eigentlichen  medicinischen  Disciplinen  tiefer 
ein,  als  dies  im  Staatsexamen  der  Fall  ist.  Das  Doktorat  der  Heil- 
kunde gewährt  daher  ebenfalls  das  Recht  zur  Ausübung  der  ärztlichen 
Praxis. 2 


Wesentlich  verschieden  von  dem  medicinischen  Unterrichtswesen 
Hollands  ist  dasjenige  Belgiens,  welches  manche  Ähnlichkeiten  mit  dem 
französischen  zeigt.  Doch  giebt  es  in  Belgien  keine  Officiers  de  sante, 
keine  Ärzte  niederen  Grades,  sondern  nur  eine  Klasse  von  Ärzten,  welche 
an  den  Universitäten  ausgebildet  werden. 

Von  den  vier  Hochschulen  des  Landes  werden  zwei,  nämlich  zu 
Gent  und  Lüttich,3  vom  Staat  erhalten,  die  anderen  beiden  jedoch  nicht. 
Die  Universität  zu  Löwen  trägt  einen  confessionellen  Charakter  und 
wird  vom  Klerus  geleitet  und  unterstützt;  die  Hochschule  zu  Brüssel, 
welche  i.  J.  1834  von  der  liberalen  Partei  ins  Leben  gerufen  wurde, 
verdankt  der  Stadt  und  einigen  reichen  Gönnern  die  Mittel  zu  ihrem 
Unterhalt. 

Dem  ärztlichen  Studium  geht  in  den  meisten  Fällen  der  Besuch 
des  Gymnasiums  voraus,  welches  binnen  7  Jahren  vollständig  absolvirt 
wird.  Die  medicinischen  Studien  beginnen  mit  den  Naturwissenschaften, 
der  Physik,  Chemie  und  Philosophie.  Der  Studienplan  wird  im  All- 
gemeinen durch  die  Prüfungen  bestimmt,  indem  die  zu  einem  Examen 


1  Geneeskundige  Wetten,  Z wolle  1882,  Gesetz  vom  28.  Dez.  1878. 

2  Wet    van    d.   28.  April  1876,    tot    regeling    van   het    hooger    onderwijs, 
Zwolle  1884. 

3  A,  le  Roy:  L'universite  de  Liege,  1869. 


488  Der  medicinische  Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

gehörenden  Prüfungsgegenstände  zusammen  belegt  werden.  Der  Unter- 
richt erhält  dadurch  die  Form  einer  handwerksmässigen  Vorbereitung 
für  die  Prüfung,  ähnlich  wie  in  den  medicinischen  Schulen  Englands. 

Das  erste  medicinische  Examen  handelt  über  descriptive  und  ver- 
gleichende Anatomie,  Physiologie,  Embryologie,  Histologie  und  Pharma- 
kologie, ist  mit  praktischen  Demonstrationen  verbunden  und  wird  die 
Candidaten-Prüfung  genannt.  Für  das  die  Berechtigung  zur  ärztlichen 
Praxis  gewährende  Doktorat  der  Heilkunde  werden  drei  Prüfungen 
verlangt,  von  denen  die  erste  die  allgemeine  Pathologie  und  Therapie, 
specielle  Pathologie  der  inneren  Krankheiten  und  pathologische  Ana- 
tomie, die  zweite  die  chirurgische  Pathologie,  Geburtshilfe,  Hygiene  und 
gerichtliche  Medicin  betrifft,  und  die  dritte  sich  über  die  Klinik  der 
internen  und  chirurgischen  Leiden,  der  Augenkrankheiten,  Geschlechts- 
organe und  Hautleiden,  auf  die  praktische  Geburtshilfe  und  chirurgische 
Operationskunst  erstreckt  und  theils  theoretisch,  theils  praktisch  ist. 
Als  Examinatoren  wirken  jetzt  ausschliesslich  die  Professoren  der  be- 
treffenden Facultät,  während  früher  Prüflings -Commissionen  gebildet 
wurden,  die  sich  zur  Hälfte  aus  Professoren  derselben  und  zur  Hälfte 
aus  denjenigen  einer  anderen  Facultät  zusammensetzten.  Man  befolgte 
dabei  den  Grundsatz,  dass  die  Lehrer  der  Staats-Universitäten  mit  denen 
der  freien  Hochschulen  zu  Examinationsbehörden  verbunden  wurden, 
um  auf  diese  Weise  eine  wünschenswerthe  Gleichartigkeit  der  ärztlichen 
Bildung  zu  erzielen. 

In  Brüssel  existirt  ausserdem  noch  eine  Central-Prüfungs-Commis- 
sion,  welcher  sich  diejenigen  Examinanden  vorstellen,  denen  die  wissen- 
schaftliche Vorbildung  mangelt;  denn  der  Zutritt  zu  den  Fachstudien 
und  zur  Universität  steht  Jedem  frei,  der  lesen  und  schreiben  kann. 
Bei  der  Meldung  zu  den  ärztlichen  Prüfungen  wird  nur  der  Nachweis 
gefordert,  dass  der  Candidat  zwei  Jahre  hindurch  die  chirurgische  und 
interne  Klinik  und  ein  Jahr  die  geburtshilfliche  Klinik  besucht  hat. 

Die  Lehrer-Collegien  bestehen  aus  ordentlichen  und  ausserordent- 
lichen Professoren  und  Agreges  speciaux,  welche  für  drei  Jahre  ernannt 
werden,  eine  kleine  Besoldung  erhalten  und  an  die  Stelle  der  früheren 
Charges  de  eours  getreten  sind. 


Schweiz. 


Früher   hatte  jeder  Canton  seine   besonderen  gesetzlichen  Bestim- 
mungen   über    die  Zulassung   zur    ärztlichen   Praxis.     Einige    Cantone 


Schweiz.  489 

forderten  ein  Staatsexamen,  welches  vor  einer  aus  dortigen  Ärzten  ge- 
bildeten Prüfungs-Commission  abgelegt  wurde;  in  anderen  genügte  das 
Zeugniss,  dass  es  bereits  in  einem  anderen  Cantone  oder  Lande  be- 
standen worden  war,  oder  ein  medicinisches  Doktor-Diplom;  in  einzelnen 
verzichtete  man  auch  darauf  und  gestattete  Jedem  die  Praxis,  welcher 
die  Befähigung  dazu  zu  besitzen  vorgab.  Erst  1867  kam  ein  vom 
Bundesrath  genehmigtes  Übereinkommen  der  meisten  Cantone  zu  Stande, 
nach  welchem  die  an  den  Schweizer  Universitäten  bestandenen  ärzt- 
lichen Prüfungen  überall  anerkannt  werden  und  zur  Praxis  berechtigen. 

In  keinem  Lande  existiren  im  Verhältniss  zu  seiner  Bevölkerung 
so  viele  Hochschulen  und  höhere  Lehranstalten,  als  in  der  Schweiz. 
Neben  den  Universitäten  zu  Basel,  Zürich  und  Bern,1  an  welchen  in 
deutscher  Sprache  gelehrt  wird,  bestehen  die  Hochschule  zu  Genf  und 
die  Akademien  zu  Lausanne  und  Neufchatel,  an  denen  die  französische 
Unterrichtssprache  herrscht. 

Medicinische  Facultäten  haben  die  vier  Universitäten  und  seit 
kurzer  Zeit  auch  die  Akademie  zu  Lausanne.  Die  Universitäten  zu 
Zürich,  Bern  und  Genf  sind  erst  im  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts  ge- 
stiftet worden,  und  ihre  medicinischen  Facultäten  haben  sich  aus  me- 
dicinisch- chirurgischen  Lehranstalten  entwickelt.  In  Bezug  auf  ihre 
Lehrkräfte  und  Lehrmittel  stehen  sie  jetzt  ihren  deutschen  Schwester- 
Anstalten  ebenbürtig  zur  Seite. 

Die  ärztlichen  Prüfungen  sind  nach  deutschem  Vorbild  eingerichtet 
und  werden  in  Basel,  Bern,  Zürich,  Genf  und  Lausanne  abgelegt.  Die 
Prüfungs-Commissionen  werden  aus  Lehrern  der  medicinischen  Facul- 
täten und  geprüften  Praktikern  zusammengesetzt  und  vom  Bundesrath 
für  die  Dauer  von  4  Jahren  ernannt.  Die  Prüfungen  zerfallen  in  die 
naturwissenschaftliche,  welche  sich  über  Physik,  Chemie,  Botanik  und 
Zoologie  nebst  vergleichender  Anatomie  erstreckt,  die  anatomisch-phy- 
siologische, die  mindestens  ebenso  schwierig  ist  als  in  Deutschland,  und 
in  die  eigentliche  ärztliche  Fachprüfung,  die  gleich  der  vorhergehenden 
theils  praktisch,  theils  mündlich  oder  schriftlich  ist  und  die  patholo- 
gische Anatomie,  innere  Medicin,  Chirurgie,  Geburtshilfe  und  Gynäko- 
logie, Augenheilkunde,  gerichtliche  Medicin  und  Hygiene,  Arzneimittel- 
lehre und  Psychiatrie  umfasst.2 

Bemerkenswerth  ist,  dass  die  Bedingungen  für  die  Zulassung  zu 
den  ärztlichen  Prüfungen  strenger  sind  als  in  anderen  Ländern,  indem 
vom  Bewerber  der  Nachweis  verlangt  wird,  dass  er  Vorlesungen  über 


1  Ed.  Müller:  Die  Hochschule  Bern  von  1834—1884,  Bern  1884. 

2  Verordnung  der  eidgenöss.  Medicinalprüfungen  vom  19.  März  1888. 


490  Der  medicinisohe   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

die  wichtigsten  Fächer  der  Heilkunde  gehört,  an  den  praktischen  Ar- 
beiten Theil  genommen  und  nicht  blos  je  2  Semester  in  der  medici- 
nischen, chirurgischen  und  geburtshilflichen  und  1  Semester  in  der 
ophthalmiatrischen,  sondern  auch  1  Semester  in  der  psychiatrischen 
Klinik  und  in  der  Poliklinik  als  Praktikant  gewirkt  hat. 

Die  Doktor-Promotion  ist  von  der  ärztlichen  Prüfung  getrennt  und 
wird  von  den  medicinischen  Facultäten  auf  Grund  eines  Examens  und 
einer  Dissertation  vollzogen. 


Dänemark,  Norwegen  und  Schweden. 

In  Dänemark  ist  der  medicinische  Unterricht  ähnlich  wie  in 
Deutschland  und  Österreich  organisirt.  Die  Studierenden  der  Heilkunde 
müssen,  wenn  sie  die  Universität  zu  Kopenhagen  beziehen,  das  Matu- 
ritäts-Zeugniss  eines  dänischen  Gymnasiums  vorlegen;  sie  beschäftigen 
sich  dann  zunächst  mit  dem  Studium  der  Philosophie,  den  Naturwissen- 
schaften, der  Physik  und  Chemie  und  werden  in  diesen  Gegenständen 
geprüft.  Erst  darnach  beginnen  die  eigentlichen  medicinischen  Fach- 
studien. 

Die  Prüfungen,  welche  das  Recht  zur  Ausübung  der  ärztlichen 
Praxis  verleihen,  finden  vor  der  medicinischen  Facultät  im  Beisein  von 
Censoren  statt,  die  von  der  Regierung  ernannt  werden  und  ihr  Urtheil 
über  die  Befähigung  des  Candidaten  abgeben.  Sie  bestehen  aus  einem 
schriftlichen  Theil,  nämlich  drei  Clausur- Arbeiten  über  Gegenstände 
der  praktischen  Heilkunde,  einem  praktischen  Abschnitt,  der  sich  aus 
einer  anatomischen  Arbeit,  der  Untersuchung  und  Behandlung  mehrerer 
Kranken  und  der  Ausführung  einer  chirurgischen  Operation  an  der 
Leiche  zusammensetzt,  and  einer  mündlichen  Prüfung  über  die  wich- 
tigsten Fächer  der  Heilkunde. 

Den  Doktor-Titel,  welcher  nach  der  Anfertigung  einer  Dissertation 
von  wissenschaftlichem  Werth  verliehen  wird,  streben  im  Allgemeinen 
nur  diejenigen  Ärzte  an,  welche  den  akademischen  Lehrberuf  ergreifen 
oder  in  den  öffentlichen  Sanitätsdienst  eintreten  wollen.  Jeder  Doktor 
der  Medicin  darf  an  der  Universität  Vorträge  halten.  Die  Professuren 
werden  durch  Concurs  besetzt. 


Dänemark,  Norwegen  und  Schweden.  491 


Nahezu  vollständig  gleich  liegen  die  Verhältnisse  in  Norwegen. 
Auch  hier  ist  es  üblich,  dass  die  Ärzte  sich  mit  der  Licenz  zur  Praxis 
begnügen  und  nur  selten  um  die  Doktor -Würde  bewerben. 

Das  Land  besitzt  eine  Universität  in  Christiania,  welche  1811  ge- 
gründet und  1815  vervollständigt  wurde.  Die  Immatriculation  setzt 
die  erfolgreiche  Absolvirung  des  Gymnasiums  voraus.  Das  Universitäts- 
Studium  beginnt  für  sämmtliche  Facultäten  mit  der  Vervollständigung 
der  allgemeinen  wissenschaftlichen  Vorbildung;  es  werden  darauf  2  bis 
3  Semester  verwendet,  während  welcher  der  Studierende  Zeit  hat,  sich 
für  einen  bestimmten  Beruf  zu  entscheiden.  Die  medicinische  Studien- 
zeit dauert  gewöhnlich  7  Jahre  und  wird  durch  die  Prüfungen  in  drei 
Abschnitte  eingetheilt.  Der  erste  umfasst  die  Zoologie,  Botanik,  Physik, 
Chemie,  Anatomie  und  Physiologie;  die  zweite  Abtheilung  betrifft  die 
Pharmakologie  und  Toxikologie,  allgemeine  und  specielle  Pathologie  und 
pathologische  Anatomie,  chirurgische  Pathologie,  Ophthalmologie  und 
Dermatologie,  und  die  dritte  beschäftigt  sich  mit  der  klinischen  Praxis, 
gerichtlichen  Medicin  und  Hygiene;  die  Prüfungen  sind  sowohl  münd- 
lich und  schriftlich,  als  praktischer  Natur. 

Wer  dieselben  mit  Erfolg  besteht,  ist  zur  ärztlichen  Praxis  be- 
rechtigt. Die  Doktor -Würde  wird  nur  für  ausserge  wohnliche  wissen- 
schaftliche Leistungen  verliehen  und  ist  mit  dem  Recht,  an  der 
Universität  zu  lehren,  verbunden.  Im  J.  1888  gab  es  in  Norwegen 
nicht  mehr  als  14  Doktoren  der  Medicin. 


In  Schweden  wird  der  medicinische  Unterricht  an  den  medicinischen 
Facultäten  der  Universitäten  zu  Upsala  und  Lund  und  am  medicinisch- 
chirurgischen  Carolinischen  Institut  zu  Stockholm  ertheilt,  welches  1750 
gestiftet  wurde  und  jetzt  hauptsächlich  zur  Ausbildung  in  den  klinischen 
Fächern  dient. 

Von  den  Studierenden  wird  das  Maturitäts-Zeugniss  des  humanisti- 
schen Gymnasiums  verlangt,  Der  Studiengang  der  Mediciner  ist  un- 
gefähr der  gleiche  wie  an  den  deutschen  Hochschulen;  nur  wird  wegen 
der  langen  Dauer  der  Ferien  mehr  Zeit  auf  die  verschiedenen  Unter- 
richtsgegenstände verwendet.  Gewöhnlich  vergehen  9  bis  10  Jahre  vom 
Austritt  aus  dem  Gymnasium  bis  zum  Beginn  der  ärztlichen  Praxis. 

Der  Studierende  beschäftigt  sich  zunächst  durch  3  Semester  mit 
der  Physik,  Chemie,  Botanik  und  Zoologie  und  legt  darüber  eine  Prüfung 
ab.  Hierauf  tritt  er  aus  der  philosophischen  in  die  medicinische  Facultät 
über   und    widmet    ungefähr    4   Jahre    dem   Studium    der   Anatomie, 


492  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 

Physiologie,  medicinischen  Chemie,  Histologie,  Pharmakologie  und  all- 
gemeinen Pathologie.  Zur  Theilnahme  an  den  Secir-Übungen,  an  den 
praktischen  Arbeiten  in  den  physiologischen,  chemischen,  histologischen 
und  pathologischen  Laboratorien  ist  er  verpflichtet,  während  der  Besuch 
der  theoretischen  Vorlesungen,  welche  unentgeltlich  stattfinden,  seinem 
Belieben  anheimgestellt  wird.  Die  Prüfung,  welche  diesen  Theil  der 
Studienzeit  zum  Abschluss  bringt,  umfasst  die  genannten  Fächer  nebst 
der  Geschichte  der  Medicin  und  ist  theils  mündlich,  theils  praktisch. 

Die  folgenden  Semester  verwendet  der  Candidat  der  Medicin,  wie 
er  fortan  genannt  wird,  zum  Besuch  der  klinischen  Institute  und  über- 
haupt zur  Ausbildung  in  der  praktischen  Heilkunst.  Er  muss  dabei 
auch  verschiedenen  Specialfächern,  wie  der  Psychiatrie,  der  Pädiatrik 
und  Syphilidologie  seine  Aufmerksamkeit  zuwenden  und  den  patholo- 
gischen und  forensischen  Sektionen,  sowie  den  hygienischen  Übungen 
beiwohnen.  Das  Examen  über  diese  Wissensgegenstände,  welches  ge- 
wöhnlich erst  3 — 4  Jahre  nach  der  Candidaten-Prüfung  abgelegt  wird, 
giebt  die  Berechtigung  zur  ärztlichen  Praxis. 

Die  medicinische'  Doktor -Würde  ist  nur  für  diejenigen  Ärzte  vorge- 
schrieben, welche  als  akademische  Lehrer  oder  im  höheren  Sanitätsdienst 
thätig  sein  wollen;  sie  wird  auf  Grund  einer  wissenschaftlichen  Ab- 
handlung und  nach  Verteidigung  der  darin  aufgestellten  Thesen  ver- 
liehen, jedoch  nur  von  den  beiden  Universitäten,  nicht  vom  Carolinischen 
Institut.  Dagegen  ist  das  letztere  befugt,  die  Candidaten-  und  Licen- 
tiaten-Prüfung  abzunehmen  und  die  ärztliche  Approbation  zu  ertheilen. 


Russland. 


Noch  im  vorigen  Jahrhundert  bezog  Kussland  seine  Ärzte  haupt- 
sächlich aus  dem  Ausland.1  Allerdings  wurde  schon  unter  Peter  dem 
Grossen  i.  J.  1706  in  Moskau  eine  Schule  zur  Ausbildung  von  Chirurgen 
errichtet,  welche  mit  dem  dortigen  Hospital  verbunden  wurde  und  ein 
anatomisches  Theater  und  einen  botanischen  Garten  erhielt. 

Die  erste  Universität  mit  einer  medicinischen  Facultät  entstand 
1755  ebenfalls  in  Moskau.     Dagegen  verdiente  die  mit  der  Akademie 


1  W.  M.  v.  Eichter:  Geschichte  der  Medicin  in  Russland,  Moskau  1817, 
III,  91  u.  ff.  —  A.  Brückner:  Die  Ärzte  in  Russland  bis  z.  J.  1800,  St.  Peters- 
burg 1887.  —  J.  Tschistowitsch  :  Geschichte  der  ersten  medicinischen  Schulen 
in  Russland,  St.  Petersburg  1883, 


Russland,  —  Griechenland  u.  die  christl.  Länder  der  Balkan-Halbinsel.     493 

der  Wissenschaften  zu  St.  Petersburg  verbundene  Universität  diesen 
Namen  nicht,  sondern  war  eigentlich  nur  ein  Gymnasium  mit  einigen 
juristischen  Cursen;  sie  wurde  übrigens  wenig  besucht  und  zählte  unter 
der  Leitung  der  Fürstin  Daschkow  i.  J.  1783  nur  2  Studenten.1  Im 
19.  Jahrhundert  wurden  die  medicinischen  Facultäten  der  Universitäten 
zu  Kiew,  Charkow  und  Kasan  errichtet,  an  welchen  in  russischer  Sprache 
unterrichtet  wird;  die  polnische  Universität  zu  Warschau  wurde  eben- 
falls russificirt.  Die  jüngste  Hochschule  wurde  im  September  1888  zu 
Tomsk  in  Sibirien  und  zwar  zunächst  nur  als  medicinische  Facultät 
eröffnet.  Ausserdem  gehören  zum  russischen  Reiche  die  Universitäten 
zu  Helsingfors  in  Finnland,  an  welcher  die  schwedische,  und  diejenige 
zu  Dorpat,  an  der  die  deutsche  Unterrichtssprache  herrscht,2  Dazu 
kommt  noch  die  medicinisch-chirurgische  Akademie  in  Petersburg,  an 
welcher  die  Militärärzte  erzogen  werden. 

Jeder,  der  sich  dem  ärztlichen  Beruf  widmet,  muss  das  Gymnasium 
absolvirt  haben,  bevor  er  zu  den  Fachstudien  zugelassen  wird.  Die 
Studienzeit  dauert  5  Jahre.  Ausser  den  Controllprüfungen,  welche  über 
die  Vorlesungen,  welche  besucht  werden,  handeln,  wird  ein  dem  deutschen 
Tentamen  physicum  entsprechendes  Examen  in  der  Mitte  der  Studien- 
zeit abgelegt;  am  Schluss  der  Studien  folgt  das  ärztliche  Approbations- 
Examen,  das  sich  über  alle  wichtigen  Fächer  der  Heilkunde  erstreckt 
und  nicht  blos  mündlich,  sondern  auch  praktischer  Art  ist.  Höhere 
wissenschaftliche  Anforderungen  werden  an  diejenigen  Ärzte  gestellt, 
welche  nach  der  Approbation  den  Doktor-Grad  erwerben.3 


Griechenland  und  die  christlichen  Länder  der 
Balkan -Halbinsel. 

Die  Universität  zu  Athen  wurde  1837  unter  dem  Könige  Otto 
errichtet  und  nach  deutschem  Muster  organisirt.  Bei  der  Immatriculation 
wird  das  Maturitäts-Zeugniss  eines  griechischen  Gymnasiums  verlangt. 
Die  medicinischen  Studien  nehmen  gewöhnlich  5  Jahre  in  Anspruch, 
von  denen  das  erste  auf  die  Hilfswissenschaften  verwendet  wird.     Am 


1  Graf  D.  A.  Tolstoi  in   den  Beiträgen  zur  Kenntniss   des  russ.  Reiches, 
Petersburg  1886,  S.  217. 

2  Die  deutsche  Universität  Dorpat,  Leipzig  1882. 

3  Allgem.  Statut   der  K.  russ.  Universitäten  vom  23.  August  1884,  Peters- 
burg 1884. 


494  Der  medicinische   Unterricht  in  der  neuesten  Zeit. 


Schluss  desselben  findet  die  Vorprüfung  statt,  welche  sich  über  Physik, 
Chemie  und  Naturgeschichte  erstreckt.  Das  Doktor-Examen  handelt 
über  normale  Anatomie,  Physiologie,  allgemeine  Pathologie,  Materia 
medica,  innere  Medicin,  Chirurgie,  Geburtshilfe,  gerichtliche  Medicin 
und  Hygiene,  ist  aber  nicht  mit  praktischen  Demonstrationen  verbunden. 
Nach  der  Promotion  folgt  noch  ein  Jahr  der  praktischen  Ausbildung 
und  dann  das  praktische  Examen,  welches  hauptsächlich  in  der  Be- 
handlung von  Kranken,  in  der  Ausführung  von  Operationen  an  der 
Leiche  u.  a.  m.  besteht  und  die  Berechtigung  zur  Ausübung  der  ärzt- 
lichen Praxis  verleiht. 


In  Rumänien  bestand  früher  nur  eine  militärärztliche  Lehranstalt, 
deren  begabteste  Schüler  zur  Vollendung  ihrer  Studien  an  ausländische 
Hochschulen  geschickt  wurden.  Gegenwärtig  besitzt  das  Land  zwei 
Universitäten  zu  Bukarest  und  Jassy,  von  denen  jede  mit  einer  me- 
dicinischen  Facultät  ausgestattet  ist.1  Mit  der  ersteren  ist  eine  pharma- 
ceutische  Lehranstalt  verbunden;  auch  besteht  in  Bukarest  eine  Thier- 
arzneischule.  Von  den  Studierenden  der  Medicin  wird  vorausgesetzt, 
dass  sie  das  Gymnasium  absolvirt  haben.  Die  Studienzeit  an  der  Uni- 
versität dauert  5  Jahre.  Die  Prüfungen  erstrecken  sich  auf  sämmtliche 
Fächer,  sind  sowohl  theoretisch  als  praktisch  und  werden  von  den  Pro- 
fessoren abgenommen.  Sie  finden  ihren  Abschluss  mit  der  Verleihung  des 
Doktorats,  welches  zur  Ausübung  aller  Theile  der  ärztlichen  Thätigkeit 
berechtigt. 

Die  serbische  Hochschule  zu  Belgrad  besitzt  bis  jetzt  noch  keine 
medicinische  Facultät. 


1  Revue  internat.  de  renseignement,  Paris,  IV,  p.  251  u.  ff. 


Schlussbetrachtungen. 


Es  liegt  nahe,  auf  Grund  des  reichen  Materials  von  Thatsachen, 
welche  das  medicinische  Unterrichtswesen  in  den  verschiedenen  Zeiten 
und  Ländern  beleuchten,  die  Frage  aufzuwerfen,  wo  dasselbe  am  zweck- 
mässigsten  eingerichtet  ist.  Aber  beantworten  lässt  sie  sich  ebenso 
wenig,  als  diejenige  nach  der  besten  Staatsverfassung  oder  Religion. 
Während  für  das  eine  Volk  die  republikanische  Form  am  meisten  ge- 
eignet erscheint  und  sich  durch  Jahrhunderte  bewährt  hat,  bedürfen 
andere  Nationen  der  Monarchie,  vielleicht  sogar  der  Despotie. 

Ähnlich  ist  es  mit  den  Einrichtungen  des  medicinischen  Studien- 
wesens. Die  allgemeinen  Culturzustände,  die  historischen  Traditionen, 
die  geographische  Lage  des  Staates,  die  finanziellen  Verhältnisse  und 
der  Charakter  seiner  Bevölkerung  sind  dabei  von  grosser  Bedeutung. 

Aber  es  wird  gestattet  sein,  hier  einige  allgemeine  Gesichtspunkte 
zu  erörtern,  welche,  wenn  auch  nicht  überall  durchführbar,  doch  jeden- 
falls beachtenswerth  und  anzustreben  sind. 

Was  zunächst  die  allgemeine  wissenschaftliche  Vorbildung  des 
Jüngers  der  Heilkunst  betrifft,  so  muss  unter  allen  Umständen  daran 
festgehalten  werden,  dass  sie  nicht  hinter  derjenigen  der  übrigen  ge- 
lehrten Stände,  der  Theologen,  Juristen,  Philologen  u.  a.  m.  zurückstellt. 

Der  Arzt  soll  jenes  Maass  von  allgemeinem  Wissen  besitzen, 
welches  in  dem  Lande,  in  dem  er  lebt,  den  höchsten  Anforderungen 
entspricht.  Welcher  Art  aber  dieselben  sind  und  welche  Wissenschaften 
sie  umfassen,  richtet  sich  nach  dem  Begriff  der  Allgemeinbildung,  der 
nach  Zeit  und  Ort  verschieden  ist. 

Da  er  sich  in  den  meisten  heutigen  Culturstaaten  unter  dem  Ein- 
fluss  des  Humanismus  entwickelt  hat,  so  bilden  das  Studium  des  Alter- 
thums  und  der  dazu  führenden  lateinischen  und  griechischen  Sprache 
seine  wesentliche  Grundlage.  Allerdings  erfuhr  dieses  Bildungssystem, 
welches  im  16.  Jahrhundert  volle  Berechtigung  hatte,  schon  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  wesentliche  Einschränkungen.  Der.  Aufschwung  der 
Naturwissenschaften  und  die  Ent Wickelung  einer  nationalen  Literatur 
drängten  andere  Bildungs-Elemente  in  den  Vordergrund.    Wo  dieselben 


496  Schlussbetrachtungen. 


nicht  mit  dem  bisherigen  System  verschmolzen  wurden,  da  begann  ein 
Zwiespalt  zwischen  dem  antiken  und  dem  modernen  Bildungs-Ideal,  der 
im  Verlauf  der  Zeit  an  Schroffheit  zugenommen  hat. 

Die  Anhänger  des  ersteren  erklären,  dass  der  pädagogische  Werth 
der  Literatur  des  Alterthums  hauptsächlich  in  ihren  sprachlichen  Formen 
zu  suchen  sei,  deren  Erlernung  den  Verstand  schärfe  und  die  Denk- 
kraft übe.  Wenn  diese  Annahme  richtig  ist,  so  muss  es  doch  Bedenken 
erregen,  dass  man  darauf  8  oder  9  Jahre  des  Lebens  verwendet.  Der 
Zweck,  der  damit  angestrebt  wird,  steht  in  keinem  vernünftigen  Ver- 
hältniss  zu  der  Zeit,  die  man  ihm  widmet.  Jedenfalls  aber  darf  man 
fragen,  ob  der  mühsame  langwierige  Weg  durch  die  linguistischen 
Klippen  der  lateinischen  und  griechischen  Literatur  der  einzige  ist,  der 
zu  diesem  Ziel  führt.  Es  gab  zu  allen  Zeiten  und  giebt  noch  heute 
eine  Menge  von  Leuten,  die  sich  durch  Klugheit  auszeichnen,  obwohl 
sie  niemals  die  lateinische  oder  griechische  Sprache  erlernt  haben,  und 
umgekehrt.  Warum  sollten  nicht  auch  andere  Wissenschaften,  beson- 
ders die  Mathematik,  geeignet  sein,  den  Verstand  zu  entwickeln  und 
zu  schärfen?  — 

Ein  gutes  Unterrichtssystem  muss  trachten,  die  Zucht  des  Geistes 
zu  bewerkstelligen,  ohne  dass  dabei  die  Bedürfnisse  des  Lebens  voll- 
ständig vernachlässigt  werden.  Dass  die  humanistischen  Gymnasien  mit 
ihren  Studienplänen  diese  Aufgabe  nur  zum  Theil  erfüllen,  ist  be- 
kannt.1 Daraus  entspringen  die  meisten  Vorwürfe,  welche  gegen  sie 
erhoben  werden. 

Man  verlangt  vor  Allem  eine  grössere  Berücksichtigung  der  Kealien 
beim  Unterricht,  weil  dies  nicht  blos  im  Interesse  der  künftigen  Ärzte 
und  Naturforscher,  sondern  auch  der  Theologen,  Juristen  und  über- 
haupt aller  Personen  liegt,  deren  Berufstätigkeit  dem  praktischen  Leben 
angehört.  In  den  meisten  Ländern  hat  man  diesen  Forderungen  Rech- 
nung getragen,  indem  man  entweder  die  humanistischen  Gymnasien 
durch  die  Aufnahme  neuer  Lehrgegenstände  nach  dieser  Richtung  um- 
gestaltete oder  durch  die  Hinzufügung  von  parallel  laufenden  Real- 
klassen zu  Unterrichtsanstalten  mit  gemischtem  Charakter  erweiterte. 
In  Deutschland  wurden  zu  diesem  Zweck  die  Realschulen  errichtet,  von 
denen  ein  Theil  durch  die  Erweiterung  ihrer  Lehrziele  allmälig  in  Real- 
gymnasien umgewandelt  worden  ist,  die  sich  von  ihren  humanistischen 
Schwester-Anstalten  vorzugsweise  dadurch  unterscheiden,  dass  in  ihnen 

1  Bezold  und  Esmabch  in  d.  Tägl.  Rundschau  1885,  No.  286,  1886,  No.  68. 
—  Th.  Puschmann  in  der  Tägl.  Rundschau,  Berlin  1886,  No.  168.  169.  — 
E.  Haeckel:  Realgymnasium  und  Formalgymnasium  hi  d.  Tägl.  Rundschau  1887, 
No.   152.  —  W.  Pkeyek:  Naturforschung  und  Schule,  Stuttgart  1887. 


Söhlussbetrachtungen.  497 


der  Unterricht  in  der  griechischen  Sprache  wegfällt  und  die  dadurch 
gewonnene  Zeit  den  Naturwissenschaften  u.  a.  m.  gewidmet  wird. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel ,  dass  das  deutsche  Realgymnasium 
in  seiner  jetzigen  Gestalt  eine  bessere  Vorbildung  für  das  Studium  der 
Medicin  gewährt,  als  das  humanistische  Gymnasium;  gleichwohl  blieb 
den  Schülern  des  ersteren  die  Zulassung  zu  demselben  bisher  versagt 
und  ausschliesslich  den  Abiturienten  des  humanistischen  Gymnasiums 
vorbehalten.  An  Versuchen,  auch  denjenigen  des  Real-Gymnasiums  die 
Zulassung  zu  den  medicinischen  Studien  zu  erwirken,  hat  es  nicht  ge- 
fehlt. Die  preussische  Staatsregierung  zog  in  dieser  Angelegenheit 
sowohl  die  medicinischen  Facultäten  als  die  praktischen  Ärzte  zu  Rath; 
aber  die  Antworten,  welche  sie  von  ihnen  erhielt,  lauteten  in  ihrer 
überwiegenden  Mehrzahl  für  die  Realschulen  nicht  günstig.  Von  den 
9  medicinischen  Facultäten  Preussens,  welche  1869  ihre  Gutachten  über 
die  Zulassung  der  Realschul- Abiturienten  zum  Studium  der  Medicin 
abgaben,  sprachen  sich  nur  4  (Göttingen,  Greifswald,  Kiel  und  Königs- 
berg) dafür  aus,  während  4  (Berlin,  Breslau,  Halle  und  Marburg)  da- 
gegen auftraten  und  1  (Bonn)  gar  keine  Meinung  äusserte.  Von  den 
163  ärztlichen  Vereinen  Deutschlands,  die  1879  um  ihr  Urtheil  befragt 
wurden,  erklärten  sich  nicht  mehr  als  3  unbedingt  und  3  mit  gewissen 
Beschränkungen  dafür,  7  andere  gleichfalls,  aber  nur  unter  der  Be- 
dingung, dass  den  Abiturienten  der  Realschulen  auch  der  Zutritt  zu 
den  übrigen  Facultäten  eröffnet  wird,  während  die  übrigen  150  dagegen 
stimmten,  98  davon  allerdings  unter  der  Voraussetzung,  dass  die 
humanistischen  Gymnasien  einer  Reform  unterzogen  würden. 

Die  Gründe,  welche  dabei  massgebend  waren,  lagen  aber  keines- 
wegs darin,  dass  man  der  altclassischen  Bildung  den  Vorzug  gab,  sondern 
lediglich  in  den  Rücksichten  auf  die  gesellschaftliche  Stellung  des  ärzt- 
lichen Standes.  Man  durfte  mit  Recht  befürchten,  dass  dieselbe  beein- 
trächtigt wird,  wenn  für  die  Ärzte  eine  wissenschaftliche  Vorbildung 
für  ausreichend  erklärt  wurde,  die  nach  einer  sehr  verbreiteten  Ansicht 
einen  geringeren  Werth  besitzt  als  diejenige,  welche  für  die  übrigen 
gelehrten  Stände  für  nothwendig  befunden  wurde.  Leider  beging  man 
dabei  an  einzelnen  Orten  den  Fehler,  dass  man  sich  nicht  auf  die 
Anführung  dieses  einzigen  Grundes  beschränkte,  sondern  zu  gleicher 
Zeit  die  Realschulen  beschuldigte,  dass  sie  kein  ideales  Streben  hätten 
und  Oberflächlichkeit  und  Einseitigkeit  erzeugten:  Anklagen,  welche  von 
betheiligter  Seite  natürlich  eine  scharfe  Zurückweisung  erfuhren.1 

1  P.  Wossidlo  im  Pädagogischen  Archiv,  Stettin  1880,  H.  2.  —  E.  Speck: 
Die  Berechtigung  der  Kealschul- Abiturienten  zum  Studium  der  Medicin  im  Pä- 
dagogischen Archiv  1883,  H.  9.  10. 

Puschmann,   Unterricht.  32 


498  Schlussbetrachtungen. 


Die  Frage  der  Zulassung  der  Abiturienten  der  Realgymnasien  zu 
den  Universitätsstudien  kann  allerdings  nur  in  der  Art  gelöst  werden, 
dass  man  ihnen  alle  Facultäten  eröffnet  und  damit  ihre  Allgemein- 
bildung als  gleich werthig  mit  derjenigen  der  humanistischen  Gymnasien 
anerkennt.  Dies  fordert  die  Gerechtigkeit,  da  der  Lehrplan  des  Real- 
gymnasiums demjenigen  des  humanistischen  ebenbürtig  ist;  es  ist  zu- 
gleich eine  Pflicht  gegenüber  den  Jünglingen,  welche  nicht  zum  Studium 
der  alten  Sprachen  veranlagt  sind.  Oder  ist  es  zu  rechtfertigen,  dass 
man  Jemandem,  der  bei  einer  ausgezeichneten  Begabung  für  die  Natur- 
wissenschaften vielleicht  ein  vortrefflicher  Arzt  werden  würde,  diesen 
Weg  versperrt,  weil  er  nicht  so  viele  griechische  oder  lateinische  Sprach- 
kenntnisse besitzt,  als  die  Philologen  für  seinen  künftigen  Beruf  für 
erforderlich  erachten?  — 

Die  Uniformität  der  Allgemeinbildung  ist  allerdings  für  die  schema- 
tisirende  Schulgelehrsamkeit  sehr  bequem,  indem  sie  ihr  gleichsam  als 
geistiger  Gradmesser  dient;  aber  nothwendig  und  naturgemäss  ist  sie 
gewiss  nicht.  Die  Verschiedenheit  der  Neigungen  und  Anlagen  weist 
darauf  hin,  dass  es  nicht  blos  eine  einzige  Art  der  Geistesbildung  giebt. 

In  mehreren  Ländern  hat  man  das  Bifurcal-System  an  den  Gym- 
nasien eingeführt  und  den  Schülern  beider  Kategorien  den  Zutritt  zur 
Universität  gewährt.  In  Deutschland  sträubt  man  sich  noch  dagegen, 
obwohl  man  sich  in  den  einsichtigen  und  unparteiisch  urtheilenden 
Kreisen  der  Erkenntniss  nicht  verschliesst,  dass  die  Einheit  der  Vor- 
schule auf  die  Dauer  unhaltbar  ist. 

Schon  seit  langer  Zeit  hat  das  humanistische  Gymnasium  aufgehört, 
die  einheitliche  Vorschule  für  die  gebildeten  Kreise  überhaupt  zu  sein; 
denn  die  polytechnischen  Hochschulen  und  einzelne  Klassen  des  höheren 
Beamtenthums  wurden  den  Abiturienten  der  Realschulen  zugänglich 
gemacht,  und  die  für  die  Erziehung  des  Officierstandes  bestimmten 
Kadetten -Anstalten  verzichteten  auf  die  humanistische  Bildung  und 
nahmen  den  Lehrplan  der  Realgymnasien  an.  Die  Gleichstellung  der 
Realgymnasien  mit  den  humanistischen  und  die  Gleichberechtigung 
ihrer  Abiturienten  wird  daher  nicht  zu  einer  Trennung  der  Studierenden 
führen,  wie  von  mancher  Seite  behauptet  wird,  sondern  im  Gegentheil 
die  Annäherung  aller  Gebildeten  auf  der  Grundlage  einer  wenn  auch 
nicht  gemeinsamen,  so  doch  gleichwerthigen  Vorbildung  anbahnen. 

Es  ist  klar,  dass  die  günstigen  pädagogischen  Erfolge,  welche  die 
lateinische  Schule  und  das  humanistische  Gymnasium  ehemals  erzielten, 
nicht  auf  dem  Inhalt  des  Lehrstoffes,  sondern  auf  der  gründlichen  Ver- 
arbeitung desselben  beruhten.  Jemehr  ihr  Studienplan  durch  die  Auf- 
nahme neuer  Unterrichtsgegenstände  von  diesem  Grundsatz  abweichen 


Schlus sbetrachtungen.  499 

musste,  desto  häutiger  wurden  auch  die  Klagen  über  die  mangelhafte 
und  verfehlte  Ausbildung  der  Schüler.  Heut  erstrecken  sie  sich  auf 
sämmtliche  Unterrichtsgegenstände,  und  selbst  die  alten  Sprachen  sind 
davon  nicht  ausgenommen.  Am  deutlichsten  tritt  dies  an  den  öster- 
reichischen Gymnasien  hervor,  welche,  um  die  Einheit  der  Vorschule 
zu  retten,  die  Lehrziele  des  humanistischen  mit  denjenigen  des  Real- 
gymnasiums zu  vereinigen  suchen  und  dabei  noch  mit  den  aus 
der  Vielsprachigkeit  des  Landes  entspringenden  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen  haben. 

Die  eingehende  Beschäftigung  mit  einem  abgegrenzten  Wissens- 
gebiet erzeugt  Gründlichkeit:  eine  Charakter-Eigenschaft,  die  der  Jugend 
anerzogen  werden  muss.  Ob  man  aber  die  alten  oder  die  neuen  Sprachen, 
die  Mathematik  oder  eine  andere  Wissenschaft  zu  diesem  Zweck  benutzt, 
dürfte  in  Bezug  auf  den  Erfolg,  welcher  angestrebt  wird,  vielleicht 
gleichgültig  sein  und  sollte  sich  allein  nach  den  Bedürfnissen  der  Zeit 
und  nach  den  Neigungen  und  Talenten  des  Individuums  richten. 

An  dieser  Stelle  mögen  noch  einige  Bemerkungen  erwähnt  werden, 
welche  sich  ebenso  sehr  gegen  die  Real-Gymnasien  als  gegen  die  humanisti- 
schen Gymnasien  richten.  Zunächst  ist  die  Überladung  ihrer  Lehrpläne 
mit  Unterrichtsstunden  vom  sanitären  Standpunkt  durchaus  nicht  zu 
billigen.  Wenn  Knaben  und  Jünglinge  genöthigt  werden,  wöchentlich 
32  Stunden  auf  der  Schulbank  zu  sitzen  und  ausserdem  vielleicht  noch 
mehrere  Stunden  täglich  für  die  Anfertigung  der  häuslichen  Schul- 
aufgaben zu  verwenden,  so  muss  dies  auf  die  Entwickelung  ihres 
Körpers  schädlich  wirken.  Die  zunehmende  Kurzsichtigkeit  der  Schüler, 
ihre  bleichen  Wangen  und  engbrüstigen  Gestalten  liefern  dafür  über- 
zeugende Beweise.  An  keiner  Klasse  des  Gymnasiums  darf  die  Zahl 
der  wöchentlichen  Unterrichtsstunden  höher  als  24  bis  26  sein,  wenn 
man  den  Körper  gesund  und  den  Geist  frisch  erhalten  will.  Dem 
Knaben  muss  die  Zeit  zu  seiner  Erholung  gewährt  und  zugleich  die 
Möglichkeit  geboten  werden,  seine  individuellen  Anlagen  zu  entfalten.1 

Daran  schliesst  sich  der  Wunsch  an,  dass  dem  Turnen  und  über- 
haupt den  körperlichen  Übungen  an  den  Schulen  mehr  Zeit  gewidmet 
werden  möge,  als  dies  bisher  der  Fall  war.  Es  muss  freilich  anerkannt 
werden,  dass  gerade  in  dieser  Hinsicht  in  den  letzten  Jahren  viel  ge- 
schehen ist;  aber  es  bleibt  noch  Manches  zu  thun  übrig,  bevor  die 
Forderungen  der  Hygiene  erfüllt  sind. 


1  Zeitung  f.  d.  höhere  Unterrichtswesen  Deutschlands,  Leipzig  1883,  No.  48. 
—  Hasemann:  Die  Überbürdung  der  Schüler,  Strassburg  1884.  —  Centralbl.  f. 
allgem.  Gesundheitspflege,  her.  v.  Finkelnburg,  Jahrg.  III,  H.  7.  8.  —  Vergl.  a. 
P.  Frank  a.  a.  0.  VI,  Th.  3,  S.  260. 

32* 


500  Schlussbetrachtungen. 


Ein  grosser  Fehler  der  Gymnasien  Deutschlands  und  vieler  anderer 
Länder  besteht  in  der  Vernachlässigung  des  Anschauungs-Unterrichts. 
Sie  füllen  das  Gedächtniss,  üben  den  Verstand  imd  entwickeln  die 
Denkfähigkeit;  aber  sie  unterlassen  es,  die  Beobachtungsgabe  zu  wecken 
und  die  Sinnesthätigkeit  zu  schärfen.  Sie  verzichten  damit  auf  ein 
wirksames  Mittel  der  Geistesbildung,  welches  für  manche  Berufskreise, 
wie  für  denjenigen  des  Ingenieurs,  des  Arztes  oder  Naturforschers,  eine 
hohe  Bedeutung  hat.  Es  erscheint  daher  wünschenswerth,  dass  der 
Unterricht  in  der  Geographie,  der  Mathematik  und  den  Naturwissen- 
schaften mit  praktischen  Demonstrationen  verbunden  und  die  vor- 
getragenen Thatsachen  sinnlich  veranschaulicht  werden.  Auch  der 
Zeichnen- Unterricht  lässt  sich  dazu  verwerthen.  Die  Lehrmittel-Samm- 
lungen müssen  durch  Abbildungen,  Modelle  u.  dgl.  m.  vermehrt  und  auf 
jede  Weise  dafür  gesorgt  werden,  dass  neben  dem  Verstände  auch  die 
Sinne  beschäftigt  werden.1 

In  vielen  englischen  Colleges,  ebenso  wie  in  manchen  Schulen  der 
Schweiz  und  Schwedens  findet  man  Werkstätten  für  mechanische  Hand- 
arbeiten, in  denen  die  Schüler  die  Gelegenheit  erhalten,  sich  im  Ge- 
brauch der  Hände  und  Werkzeuge  zu  üben.  Wenn  diese  Einrichtungen 
richtig  geleitet  werden,  so  bereiten  sie  den  Zöglingen  grosses  Ver- 
gnügen und  noch  grösseren  Nutzen,  indem  sie  ihnen  die  für  das  prak- 
tische Leben  unentbehrliche  Geschicklichkeit  verschaffen.  Welchen 
jammervollen  Anblick  bietet  mancher  Gelehrte,  Richter  oder  Geistliche, 
der  kaum  im  Stande  ist,  einen  Bleistift  zu  spitzen,  ohne  dass  er  sich 
in  die  Finger  schneidet!  Es  ist  bemerkenswerth,  dass  solche  Figuren 
fast  nur  in  Deutschland  und  jenen  Ländern  vorkommen,  in  denen  dieser 
Theil  der  Jugenderziehung  gänzlich  übersehen  wird. 

Endlich  regt  die  Organisation  der  Gymnasien  zu  der  Frage  an, 
ob  es  vom  pädagogischen  Standpunkt  richtig  und  zweckmässig  erscheint, 
Knaben  von  10  Jahren  mit  Jünglingen  von  19  Jahren  in  derselben 
Schule  zu  vereinigen  und  sie  der  gleichen  Disciplin,  den  gleichen  Ge- 
setzen zu  unterwerfen.  In  Süddeutschland  und  Österreich  wurde  der 
Gymnasial-Cursus  früher  in  zwei  Hälften  getheilt  und  für  jede  der- 
selben eine  besondere  Schul- Anstalt  errichtet;  in  Italien  ist  dies  noch 
jetzt  der  Fall.2  Die  Eintheilung  in  ein  Ober-  und  Unter-Gymnasium 
hat  zur  Voraussetzung,  dass  in  jeder  dieser  beiden  Anstalten  ein  ab- 


1  V.  Hueter  im  Päd.  Arch.  1879,  H.  9.  —  W.  Flemming  im  Päd.  Arch. 
1883,  No.  7.  —  J.  Rosenthal:  Die  Vorbildung  zum  Universitätsstudium  im  Päd. 
Arch.  1885,  H.  4.  —  Lunge  in  der  Zeitschr.  des  Vereins  deutscher  Ingenieure, 
Bd.  29,  S.  854  u.  ff. 

2  Auch  der  ministerielle  Gesetzentwurf,   welcher  den  Verhandlungen  über 


Schlussbetrachtungen.  501 


geschlossenes  Lehrziel  verfolgt  und  erreicht  wird.  Sie  bietet  den  Vor- 
theil,  dass  sie  für  diejenigen  Schüler,  welche  das  Gymnasium  verlassen, 
bevor  sie  dasselbe  absolvirt  haben,  einen  natürlichen  harmonischen 
Abschluss  schafft;  sie  werden  auf  diese  Weise  davor  bewahrt,  dass  sie 
mit  einer  abgehackten  unbefriedigenden  Bildung  ins  Leben  treten.  Zu 
gleicher  Zeit  wird  damit  ein  vernünftiger  Anhaltspunkt  für  die  All- 
gemeinbildung Derer  gegeben,  welche  sich  dem  niederen  Beamten-Dienst 
widmen,  eine  Fachschule  besuchen  wollen  u.  a.  m. 

Wenn  dem  Unter-Gymnasium  die  Aufgabe  ertheilt  wird,  in  einem 
fünfjährigen  Cursus  den  Schüler  im  Gebrauch  der  Muttersprache  zu 
üben  und  auszubilden,  wobei  das  Studium  einer  zweiten  Sprache,  z.  B.  der 
lateinischen,  unentbehrlich  erscheint,  mit  den  Elementen  der  Mathematik 
und  den  wichtigsten  Thatsachen  und  Lehren  der  Religion,  Geschichte, 
Geographie  und  der  beschreibenden  Naturwissenschaften  bekannt  zu 
machen  und  durch  den  Zeichnen-Unterricht  in  der  sinnlichen  Be- 
obachtung zu  festigen,  also  mit  einer  formalen  und  sachlichen 
Allgemeinbildung  auszustatten,  sollte  in  dem  Ober-Gymnasium  der 
humanistische  oder  realistische  Charakter  der  Geistesbildung  einen  deut- 
lichen Ausdruck  erhalten. 

Dasselbe  könnte  derartig  organisirt  werden,  dass  diese  beiden 
Eich  tun  gen  in  Parallel-Klassen  vertreten  werden,  deren  Schüler  in  den 
meisten  Lehrgegenständen,  z.  B.  in  der  Muttersprache,  in  der  Religion, 
Geschichte  und  Geographie,  den  modernen  Sprachen  und  Zeichnen,  ver- 
einigt und  nur  getrennt  werden,  damit  die  eine  Abtheilung  in  der 
griechischen  und  lateinischen  Sprache,  die  andere  in  der  Mathematik 
und  den  Naturwissenschaften  unterrichtet  wird.1  Ähnliche  Einrichtungen 
bestehen,  z.  B.  an  den  dänischen,  schwedischen  und  norwegischen 
Gymnasien.  Doch  müssen  den  Abiturienten  dieser  beiden  Abtheilungen 
des  Ober-Gymnasiums  selbstverständlich  die  gleichen  Rechte  gewährt 
und  der  Zutritt  zu  sämmtlichen  Facultäten  gestattet  werden. 

Während  in  den  meisten  Culturstaaten  durch  gesetzliche  An- 
ordnungen dafür  Sorge  getragen  wird,  dass  die  Ärzte  eine  allgemeine 
wissenschaftliche  Vorbildung  besitzen,  denkt  man  nirgends  daran,  wie 
wichtig  es  ist,  dass  nur  gesunde  Menschen  sich  diesem  Beruf  widmen. 
Es  erklärt  sich  dies  aus  der  Vernachlässigung,  welche  die  körperliche 
Erziehung  in  unserem  modernen  Culturleben  überhaupt  erfährt. 

In  der  bayerischen  Medicinal-Ordnung  v.  J.  1808  wurde  befohlen, 


die  Reorganisation   der  höheren  Schulen  zu  Grunde  gelegt  wurde,   welche  vom 
16.  April  bis  14.  Mai  1849  in  Berlin  stattfanden,  verlangte  eine  solche  Einrichtung. 
1  Th.   Puschmann  in   der  Deutschen    medicinischen  Wochenschrift,    Berlin 
1883,  No.  49.  —  E.  Rindfleisch  in  der  Tägl.  Rundschau  1887,  No.  209. 


502  Schlussbetrachtungen. 


„zu  den  medicinischen  Studien  nur  solche  Subjekte  zuzulassen,  welche 
ohne  Gebrechen  des  Körpers  und  der  Sinne"  sind.  Jünglinge,  welche 
mit  chronischen  Lungenleiden,  Herzfehlern  und  andern  organischen 
Erkrankungen  behaftet  sind,  oder  über  eine  unvollkommene  oder  fehler- 
hafte Sinnesthätigkeit  klagen,  sollten  vom  Studium  der  Heilkunde  ab- 
gehalten werden;  denn  sie  werden  bei  der  Untersuchung  und  Behandlung 
der  Kranken  und  überhaupt  in  ihrer  gesammten  ärztlichen  Thätigkeit 
gehemmt,  unterliegen  den  verschiedenen  schädlichen  Einflüssen  und 
sind  nicht  im  Stande,  den  erhofften  Segen  zu  stiften.  Zum  Studium 
der  Mediän  und  der  Thätigkeit  des  Arztes  gehört  ein  gesunder  und 
kräftiger  Körper.  Die  Krankheit  verbittert  das  Gemüth  und  raubt  den 
Lebensmuth ;  wie  nothwendig  braucht  diesen  der  Arzt  für  sich  und  für 
Andere!  Seine  Seelenstimmung  spiegelt  sich  oft  in  dem  Befinden  seiner 
Kranken  wieder. 

Der  Studiengang  der  Medianer  hat  sich  durch  die  Gewohnheit 
und  die  wissenschaftlichen  Bedürfnisse  in  den  einzelnen  Ländern  ziem- 
lich gleichartig  gestaltet.  Er  beginnt  mit  den  Naturwissenschaften,  den 
sogenannten  Hilfsfächern  und  der  Anatomie  und  Physiologie,  richtet 
sich  also  zunächst  auf  den  Bau  und  die  Funktionen  des  Menschen  und 
seine  Stellung  in  der  Natur.  Der  Studierende  sollte  aber  von  der 
Vorschule  so  viele  naturwissenschaftliche  Kenntnisse  mitbringen,  dass 
er  nicht  genöthigt  wird,  an  der  Universität  mit  den  Elementen  der 
Mineralogie,  Botanik  und  Zoologie  zu  beginnen,  sondern  sich  darauf 
beschränken  darf,  diese  Wissenschaften  in  ihren  Beziehungen  zur  Medicin 
zu  betrachten. 

Da  die  Physik  und  Chemie  am  Gymnasium  nur  oberflächlich  be- 
rührt werden  können,  die  Kenntnisse  auf  diesen  Gebieten  für  das  Ver- 
ständniss  der  einzelnen  Theile  der  Heilkunde  unentbehrlich  sind,  und 
die  reichen  Lehrmittel  der  Hochschule  die  beste  Gelegenheit  zum 
Studium  derselben  bieten,  so  muss  sich  der  Studierende  der  Medicin 
damit  sehr  eingehend  beschäftigen. 

Die  Anatomie  und  Physiologie  sind  gleichsam  die  Grundsäulen 
der  ärztlichen  Bildung.  Sie  müssen  mit  erschöpfender  Gründlichkeit 
behandelt  und  sowohl  durch  die  mit  Demonstrationen  und  Experimenten 
verbundenen  Vorträge  als  durch  die  Betheiligung  an  praktischen  Ar- 
beiten zum  dauernden  geistigen  Eigenthum  des  Schülers  gemacht 
werden.  Die  Betrachtung  der  anatomischen  Verhältnisse  vom  ver- 
gleichenden, topographischen  und  chirurgischen  Standpunkt  controllirt 
und  befestigt  das  in  den  Vorlesungen  über  systematische  Anatomie  und 
durch  die  Secir-Übungen  erworbene  Wissen,  und  die  Histologie  ver- 
vollständigt  es  in  Bezug  auf  den  feineren,  nur  mit  dem  bewaffneten 


Schlussbetraehtungen.  503 


Auge  erkennbaren  Bau  der  einzelnen  Theile  des  Körpers.  Wenn  die 
Physiologie  im  Hinblick  auf  ihre  hohe  Bedeutung  für  die  praktische 
Heilkunde  gelehrt  wird,  so  wird  dadurch  das  Interesse  des  Studierenden 
für  die  Thatsachen  dieser  Wissenschaft  wesentlich  erhöht.  Mit  der 
Embryologie  schliesst  der  erste  Theil  des  medicinischen  Studiums ,  der 
sich  mit  den  normalen  Verhältnissen  und  Zuständen  des  Körpers  befasst. 

Beim  Studium  der  eigentlichen  Heilkunde  gilt  es  zunächst,  eine 
Einsicht  in  das  Wesen  der  Krankheiten  und  Krankheitszustände  zu 
gewinnen.  Die  Vorlesungen  über  allgemeine  und  specielle  Pathologie 
geben  Aufschluss  darüber.  Die  pathologische  Anatomie  zeigt  die  für 
die  Krankheiten  charakteristischen  Veränderungen  an  der  Leiche,  und 
die  experimentelle  Pathologie  lehrt  ihre  Entstehung  und  ihre  gegen- 
seitigen Beziehungen. 

Leider  ist  es  an  manchen  Hochschulen  dahin  gekommen,  dass  die 
theoretischen  Vorlesungen  über  die  inneren  Krankheiten,  die  Chirurgie, 
Augenheilkunde,  Geburtshilfe  und  andere  Theile  der  praktischen  Heil- 
kunde für  unnöthig  gehalten  werden.  Allerdings  mögen  breit  aus- 
gesponnene, ins  Einzelne  gehende  Vorträge  darüber  auf  Anfänger  einen 
verwirrenden  und  ermüdenden  Eindruck  machen;  für  sie  ist  eine  kurze 
gedrängte  Übersicht  der  wichtigsten  Thatsachen  ausreichend.  Aber 
diese  ist  unerlässlich,  bevor  der  klinische  Unterricht  beginnt,  dem  die 
weitere  Ausführung  des  Lehrstoffs  überlassen  wird. 

Auch  müssen  demselben  die  Collegien  über  Arzneimittellehre  und 
Pharmakodynamik,  allgemeine  Therapie,  Diätetik  und  Balneologie  voran- 
gehen. Sehr  zweckmässig  ist  es,  wenn  die  Studierenden  die  Herstellung 
der  Becepte  in  einer  Apotheke  oder  einem  pharmaceutischen  Labora- 
torium praktisch  erlernen,  wie  dies  in  dem  Reisingerianum  in  München 
der  Fall  ist. 

Der  diagnostische  Cursus  und  die  propädeutische  Klinik  machen 
den  Studierenden  mit  den  gebräuchlichen  Untersuchungs-Methoden  be- 
kannt und  lehren  an  einfachen,  leicht  zu  durchschauenden  Fällen,  wie 
die  Krankheit  erkannt  und  behandelt  wird.  Die  propädeutische  Klinik 
füllt  eine  Lücke  aus  im  medicinischen  Studienplan,  ist  aber  wohl  nur 
an  grossen  ärztlichen  Schulen  ein  unumgängliches  Bedürfniss  und  lässt 
sich  auch  nur  dort  einrichten,  wo  man  über  ein  grosses  Kranken- 
material verfügt  und  die  Menge  der  Schüler  eine  Trennung  derselben 
in  mehrere  Abtheilungen  wünschenswerth  macht. 

Die  chirurgische  Klinik  setzt  ausser  Anderem  die  Kenntniss  der 
chirurgischen  Instrumente  und  die  Fertigkeit  in  der  Anlegung  von 
Verbänden  voraus  und  verlangt,  dass  der  Studierende  die  Ausführung 
der  Operationen  an  der  Leiche  lernt  und  selbst  übt.    Für  die  Ophthal- 


504  Schlussbetrachtungen. 


miatrische  Klinik  ist  die  Bekanntschaft  mit  der  Anwendung  des  Augen- 
spiegels und  die  Betheiligung  an  einem  Operations-Cursus  nothwendig. 
Die  geburtshilflichen  Kenntnisse  werden  in  der  diesem  Zweck  gewid- 
meten Klinik  und  durch  die  Operations-Übungen,  welche  am  Phantom 
veranstaltet  werden,  erworben.  Der  Besuch  der  Special -Kliniken  für 
Psychiatrie  und  Nervenleiden,  Hautkrankheiten  und  Geschlechtsleiden, 
Erkrankungen  des  Kehlkopfes  und  des  Gehörorgans,  für  Kinderkrank- 
heiten u.  a.  m.  müssen  den  letzten  Semestern  der  Studienzeit  vorbehalten 
bleiben. 

Die  Studierenden  der  Kliniken  scheiden  sich  in  Auscultanten  und 
Praktikanten,  d.  i.  in  Anfänger,  welche  am  Unterricht  nur  einen  recep- 
tiven  Antheil  nehmen,  und  in  Vorgeschrittenere,  die  bei  der  Unter- 
suchung und  Behandlung  der  Kranken  mitwirken.  Die  letzteren  er- 
halten Gelegenheit  zur  fortdauernden  Beobachtung  der  Krankheitsfälle 
.und  werden  dadurch  mit  den  kleinen  Verrichtungen  bekannt  gemacht, 
welche  zur  Krankenpflege  gehören. 

An  den  klinischen  Unterricht  schliesst  sich  die  poliklinische  Thätig- 
keit  an,  welche  den  Übergang  zur  ärztlichen  Praxis  bildet.  Wo  den 
poliklinischen  Instituten  ein  Theil  der  Armenpraxis  übertragen  ist,  lernt 
der  Praktikant  dadurch  die  Ansprüche  kennen,  welche  an  den  behandelnden 
Arzt  gestellt  werden,  und  gewinnt  jene  Sicherheit  in  der  Beurtheilung 
der  Sachlage,  die  für  seine  selbstständige  Wirksamkeit  nothwendig  ist. 

In  das  Ende  der  Studienzeit  gehören  ferner  die  Vorlesungen  über 
gerichtliche  Medicin,  H/ygiene,  Sanitätspolizei  und  Medicinalgesetzgebung, 
Medicinalstatistik,  Thierheilkunde  und  vergleichende  Medicin,  medicini- 
sche  Geographie  und  Geschichte  der  Medicin. 

Die  beiden  letzten  Unterrichtsgegenstände  werden  nur  noch  an 
wenigen  Hochschulen  gelehrt.  Während  die  Juristen,  Theologen,  Phi- 
lologen, die  Architekten,  Künstler,  Officiere,  kurz  alle  höheren  Berufs- 
klassen sich  eifrig  mit  der  Geschichte  ihrer  Wissenschaft  oder  Kunst1 
beschäftigen,  glauben  die  Ärzte  in  ihrer  Mehrzahl,  dass  sie  aus  der 
Geschichte  der  Heilkunde  nichts  lernen  können.  Sie  wissen  nicht,  wie 
viele  Entdeckungen  und  Erfindungen  nochmals  gemacht  werden  mussten, 
weil  sie  im  Verlauf  der  Zeit  vergessen  worden  waren;  die  Geschichte 
der  plastischen  Operationen  bietet  ein  drastisches  Beispiel  dafür. 

Aber  das  Studium  der  Geschichte  der  Medicin  ist  nicht  blos  für 
die  ärztliche  Forschung  nützlich  und  nothwendig;    es  hat  auch  einen 


1  Die  Thierärzte  in  Deutschland  müssen  seit  1883  ihre  Kenntnisse  in  der 
Geschichte  ihrer  Wissenschaft  im  Examen  zeigen ;  aber  von  ihren  höher  stehenden 
Collegen,  welche  dem  Menschen  ihre  ärztliche  Fürsorge  widmen,  verlangt  man 
keine  derartige  historische  Bildung. 


Schlussbeti  'achtungen .  505 


hohen  ethischen  Werth  für  die  Erziehung  des  Studierenden,  indem  es 
ihn  Achtung  und  Bewunderung  vor  den  Bestrebungen  und  Leistungen 
unserer  Vorfahren  lehrt,  und  es  vervollständigt  endlich  seine  Allgemein- 
bildung, so  dass  er  die  Dinge  gleichsam  von  einer  höheren  Warte  zu 
überschauen  vermag.  Es  ist  daher  eine  Pflicht  der  Unterrichtsbehörden, 
diesem  Fach  eine  wohlwollendere  Aufmerksamkeit  zu  widmen,  als  dies 
bisher  geschehen  ist. 

Noch  vor  wenigen  Decennien  wurde  Geschichte  der  Medicin  an 
den  Universitäten  zu  Berlin,  Breslau,  Halle,  Königsberg,  Greifswald, 
Marburg,  Göttingen,  Heidelberg,  Würzburg,  Erlangen,  München,  Strass- 
burg,  Bern,  Prag  und  Wien  gelehrt,  und  heut  sind  es  höchstens  zwei 
oder  drei  derselben,  an  denen  noch  Vorlesungen  darüber  gehalten  oder 
vielleicht  auch  nur  angekündigt  werden.  Obwohl  Männer,  wie  Brücke, 
du  Bois-Reymond,  Charcot,  Helmholtz,  Hyrtl,  Virchow,  Wunder- 
lich, Ziemssen  u.  A.  auf  den  Werth  und  die  Bedeutung  der  Geschichte 
der  Medicin  hinweisen,  unterlässt  man  es  doch,  die  Schüler  darauf  auf- 
merksam zu  machen,  und  erachtet  es  für  überflüssig,  Lehrer  dafür  zu 
erziehen  und  anzustellen.  Selbst  Billroth,  der  es  einst  „für  eine 
Ehrensache  der  grösseren  medicinischen  Facultäten  erklärte,  dass  sie 
dafür  sorgen,  dass  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Medicin  in  ihren 
Katalogen  nicht  fehlen",1  sieht  jetzt  darin  nur  eine  überflüssige  Deko- 
ration und  tritt  dagegen  auf,  dass  der  Lehrer  dieses  Faches  ein  voll- 
berechtigtes Mitglied  des  medicinischen  Professoren-Collegiums  ist,  weil 
er  die  Arbeitsleistung  desselben  nicht  für  ebenso  gross  als  diejenige 
der  Vertreter  anderer  Fächer  hält.  Aber  die  Aufgabe  des  deutschen 
Professors  besteht  nicht  allein  in  der  Lehrthätigkeit ;  er  muss  auch  als 
Forscher  an  der  Erweiterung  und  Vertiefung  seiner  Wissenschaft  ar- 
beiten. Hier  erwartet  den  Historiker  der  Medicin  ein  weites,  noch 
wenig  bebautes  Feld  der  Thätigkeit. 

Auch  die  medicinische  Geographie,  welche  als  Unterrichtsgegenstand 
mit  der  Geschichte  der  Medicin  verbunden  werden  kann,  stellt  dem 
Lehrer  und  Forscher  eine  Menge  von  Aufgaben,  welche  bei  dem  zu- 
nehmenden Verkehr  mit  fremden  Welttheilen  zur  Lösung  drängen. 

Es  ist  schwer,  zu  bestimmen,  in  welcher  Zeit  die  ärztliche  Fach- 
bildung erworben  wird.  Dies  hängt  von  der  Begabung  und  dem  Fleiss 
des  Studierenden,  den  Lehrkräften  und  Lehrmitteln  und  manchen  an- 
deren Umständen  ab. 

Wenn  dem  Studierenden  bei  der  Auswahl  der  Collegien  kein  Zwang 


1   Th.   Billeoth:    Lehren   und  Lernen    der    medicinischen  Wissenschaften, 
Wien  1876,  S.  80.  —  Wiener  Klinische  Wochenschrift,  1888,  No.  36,  6.  Dec. 


506  Schlussbetrachtimgen. 


auferlegt  und  die  Freiheit  gelassen  wird,  seine  Kenntnisse  zu  erwerben, 
wie  und  wo  er  will,  so  wird  dabei  vorausgesetzt,  dass  derselbe  als  ver- 
nünftiger und  besonnener  Mann  den  Rathschlägen ,  die  ihm  in  dieser 
Hinsicht  von  Sachverständigen  ertheilt  werden,  Folge  leistet.  Wenn  er 
dies  aber  aus  Unverstand  oder  Leichtsinn  unterlässt,  so  hindert  ihn 
nichts  daran.  Die  Folgen  zeigen  sich  in  den  Lücken  seiner  Bildung, 
zu  deren  Ausfüllung  ihm  vielleicht  in  seiner  späteren  Studienzeit  die 
Gelegenheit  fehlt.  Geschieht  es  erst  in  der  ärztlichen  Praxis,  so  müssen 
die  Kranken,  welche  ihm  in  die  Hände  fallen,  dafür  büssen. 

Nirgends  wirkt  die  unumschränkte  Lernfreiheit  so  schädlich,  als 
in  dem  Studium  der  Medicin;  denn  hier  werden  dadurch  Gesundheit 
und  Leben  der  Menschen  aufs  Spiel  gesetzt.  In  einzelnen  Ländern 
und  zwar  gerade  in  solchen,  welche  sich  freiheitlicher  Institutionen 
rühmen,  hat  man  deshalb  auf  die  Lernfreiheit  verzichtet  und  den  Stu- 
dierenden der  Medicin  einen  Studienplan  vorgeschrieben,  welcher  genau 
eingehalten  wird.  Auch  in  Deutschland  und  Österreich  ist  dieselbe 
wenigstens  soweit  eingeschränkt  worden,  dass  von  den  Studierenden  bei 
der  Meldung  zur  Prüfung  der  Nachweis  verlangt  wird,  dass  er  durch 
mehrere  Semester  die  wichtigsten  Kliniken  besucht  hat.  Es  wäre  zweck- 
mässig, derartige  Bestimmungen  auch  für  andere  Theile  des  medicini- 
schen  Unterrichts,  welche  für  die  ärztliche  Bildung  unentbehrlich  sind, 
zu  erlassen.  Oder  ist  es  denkbar,  dass  Jemand  die  Anatomie  und 
Physiologie  auf  andere  Weise,  als  durch  die  persönliche  Unterweisung 
eines  Lehrers,  erlernen  kann? 

Dringend  geboten  ist  es,  dass  die  Studierenden  regelmässig  und 
aufmerksam  am  Unterricht  Theil  nehmen  und  den  Lehrstoff  in  sich 
aufnehmen.1  An  kleinen  Hochschulen,  wo  Lehrer  und  Schüler  sich 
persönlich  näher  treten,  ergiebt  sich  dies  von  selbst;  die  Gefahr,  dass 
die  Studierenden  dem  Unterricht  fern  bleiben,  ist  vorzugsweise  nur  an 
grossen  Universitäten  vorhanden.  Doch  ist  eine  Controlle  der  Studenten 
hier  mit  solchen  Schwierigkeiten  verbunden,  dass  man  davon  abstehen  muss.2 

Die  Erfolge  des  Unterrichts  werden  gesichert,  wenn  die  Studieren- 
den durch  gelegentliche  Fragen  zur  aktiven  Theilnahme  daran  heran- 
gezogen werden,  wie  dies  jetzt  in  den  mit  praktischen  Demonstrationen 
verbundenen  Fächern  gebräuchlich  ist.  Noch  mehr  wird  dazu  beitragen, 
wenn  im  unmittelbaren  Anschluss  an  die  Vorlesungen  am  Schluss  jeder 


1  Die  Klagen  über  den  unregelmässigen  Besuch  der  Vorlesungen  fehlten 
früher  ebensowenig  als  heut.  Schon  Vicq.  d'Azyr  erklärte:  „Die  Studenten 
schreiben  sich  iü  die  Collegien  ein,  aber  sie  kommen  nicht  hinein."  S.  Grüners 
Almanach  f.  Ärzte,  Jena  1791,  S.  142. 

2  G.  Schmoller  im  Jahrbuch  f.  Gesetzgebung,  Leipzig  1886,  H.  2,  S.  286  u.  ff. 


Schlussbetrachtungen.  507 


Woche  ein  Disputatorium  veranstaltet  wird,  bei  dem  die  Studierenden 
in  Gegenwart  ihres  Lehrers  oder  seines  Assistenten  den  Lehrstoff,  der 
ihnen  vorgetragen  wurde,  besprechen  und  über  Irrthümer  und  Dinge, 
die  ihnen  unverständlich  geblieben  sind,  aufgeklärt  werden.  Diese  mehr 
nach  der  Schule  als  nach  der  Akademie  geartete  Form  des  Unterrichts 
hat  sich  an  den  militärärztlichen  Bildungsanstalten  bewährt  und  ist 
auch  an  den  Universitäten  eingeführt  worden,  wo  sie  in  den  philolo- 
gischen, historischen  und  juristischen  Seminarien,  in  den  wissenschaft- 
lichen Kränzchen  und  Vereinigungen  geübt  wird. 

Dem  gleichen  Zweck  wird  es  auch  dienen,  wenn  es  dem  Studie- 
renden gestattet  wird,  nach  der  Beendigung  des  Lehr-Cursus  über  jeden 
Unterrichtsgegenstand,  also  unter  dem  frischen  Eindruck  desselben,  vor 
dem  Lehrer  oder  seinem  Vertreter  eine  Prüfung  abzulegen.  Die  Zeug- 
nisse, die  ihm  darüber  ausgestellt  werden,  würden  ein  werthvoller 
Rechenschaftsbericht  über  seine  Studienzeit  sein  und  den  Examinatoren, 
welche  über  seine  Befähigung  zur  ärztlichen  Praxis  entscheiden  sollen, 
ein  vorläufiges  Urtheil  über  seine  fachmännische  Bildung  gestatten. 

Die  ärztliche  Approbations-Prüfung  muss  sich  über  alle  Theile  der 
Heilkunde  erstrecken  und  jene  Summe  von  Kenntnissen  verlangen, 
welche  für  den  Arzt  unentbehrlich  sind.  Wenn  nach  dem  Abschluss 
des  ersten,  die  naturwissenschaftliche  Vorbildung  umfassenden  Abschnitts 
der  medicinischen  Studienzeit  ein  Examen  über  Naturgeschichte,  Physik, 
Chemie,  Anatomie  und  Physiologie  abgenommen  wird,  so  sollte  auch 
die  Bestimmung  getroffen  werden,  dass  Niemand  zu  den  Vorlesungen 
über  die  eigentliche  Heilkunst  zugelassen  wird,  bevor  er  jenes  Examen 
bestanden  hat.  Versäumt  er  dies,  so  raubt  ihm  die  Vorbereitung  dazu 
später  die  Zeit,  die  er  für  seine  ärztliche  Bildung  bedarf. 

Bei  den  Prüfungen,  welche  der  ärztlichen  Approbation  vorausgehen 
und  nach  der  Beendigung  der  Studienzeit  stattfinden,  wird  auf  die 
praktischen  Beweise  der  Tüchtigkeit  mit  Recht  ein  grosses  Gewicht 
gelegt;  denn  die  Erklärung  anatomischer  Präparate,  die  Vornahme  von 
Leichen-Sektionen,  die  Untersuchung  und  Behandlung  der  Kranken,  die 
Ausführung  chirurgischer  und  geburtshilflicher  Operationen  u.  a.  m. 
bieten  dem  Candidaten  Gelegenheit,  zu  zeigen,  dass  er  von  dem  ärzt- 
lichen Wissen,  das  er  sich  erworben  hat,  den  erforderlichen  praktischen 
Gebrauch  zu  machen  versteht. 

Die  Fragen,  welche  dabei  gestellt  werden,  streifen  vielleicht  auch 
die  übrigen  Kenntnisse  des  Prüflings;  aber  sie  sind  zu  sehr  von  zu- 
fälligen Umständen  abhängig,  als  dass  sie  zu  einem  sicheren  Urtheil 
über  seine  ärztliche  Gesammtbildung  genügen.  Dazu  ist  ein  mündliches 
Schluss-Examen  nothwendig,  welches  die  Ergebnisse  der  vorangegangenen 


508  Schlussbetrachtungen. 


praktischen  Prüfungen  ergänzt  und  berichtigt  und  alle  Fächer  in  Be- 
tracht zieht. 

Zu  Examinatoren  in  den  einzelnen  Prüfungsgegenständen  sind 
ohne  Zweifel  Personen,  welche  darin  als  Lehrer  wirken,  mehr  geeignet, 
als  solche,  die  dem  betreffenden  Wissensgebiet  ferner  stehen.  Nur  wer 
dasselbe  vollständig  beherrscht,  weiss  passende  Fragen  zu  stellen  und 
den  Werth  der  Antworten  richtig  zu  beurtheilen.  *  Es  ist  daher  am 
besten,  den  Lehrer-Collegien  der  medicinischen  Facultäten  und  Schulen 
das  Prüfungsgeschäft  zu  überlassen.  Doch  verlangt  es  die  Autorität 
des  Staates,  dass  er  als  Mandatar  der  Gesellschaft  auch  diesen  Zweig 
der  Unterrichtsverwaltung  überwacht  und  dafür  Sorge  trägt,  dass  Arzte 
gebildet  werden,  welche  den  Aufgaben  ihres  Berufs  gewachsen  sind. 
Damit  erledigt  sich  zugleich  die  Frage,  ob  die  Ärzte  in  Bildungs- 
anstalten, welche  vom  Staat  geleitet  werden,  oder  in  solchen,  die  von 
ihm  unabhängig  sind,  erzogen  werden  sollen.  Dem  Staat  muss  in  jedem 
Falle  der  Einfluss  auf  das  Studien-  und  Prüflings wesen  zugestanden 
werden,  den  er  im  Interesse  der  Bevölkerung  ausüben  muss. 

Wenn  es  sich  bei  der  ärztlichen  Approbations-Prüfung  hauptsächlich 
darum  handelt,  festzustellen,  ob  der  Prüfling  die  für  die  ärztliche  Praxis 
nothwendige  Befähigung  besitzt,  so  sollte  man  bei  der  Verleihung  des 
Doktorats  höhere  wissenschaftliche  Anforderungen  stellen  und  verlangen, 
dass  der  Bewerber  um  diese  akademische  Würde  seine  ärztlichen  Col- 
legen  an  Kenntnissen  überragt.  Die  Prüfung,  in  welcher  er  diesen 
Nachweis  führt,  wird  daher  in  die  einzelnen  Disciplinen  der  Heilkunde 
tiefer  eingehen  und  auch  manche  Fächer  berühren,  welche,  wie  z.  B. 
die  Geschichte  der  Medicin  und  die  medicinische  Geographie,  in  der 
Approbations-Prüfung  nicht  berücksichtigt  werden,  weil  sie  für  die  ärzt- 
liche Bildung  zwar  wünschenswerth,  aber  nicht  unentbehrlich  sind. 

Desgleichen  muss  darauf  gesehen  werden,  dass  als  Doktor-Disser- 
tationen nur  Arbeiten  angenommen  werden,  welche  einen  wissenschaft- 
lichen Werth  besitzen.  Mit  Recht  hat  man  fast  überall  aufgehört,  zu 
verlangen,  dass  sie  in  lateinischer  Sprache  geschrieben  werden;  denn 
„in  dem  ausgetretenen  Geleise  dieses  in  seiner  modernen  Gestalt  ver- 
armten Idioms  verbirgt  sich  trefflich  die  eigene  Unklarheit  der  Begriffe 
und  die  Dürftigkeit  der  Gedanken;  Gemeinplätze,  die  im  deutschen 
Gewände  unerträglich  wären,  klingen  doch  etwas  vornehmer  in  der 
lateinischen  Umhüllung",  wie  J.  v.  Döllinger  schreibt.2 

Wenn  der  medicinische  Doktor-Titel  eine  Auszeichnung  für  wissen- 
schaftliche Verdienste  ist  und  die  geistige  Elite  des  ärztlichen  Standes 

1  Prunelle:  Discours  des  etudes  de  medecine,  Paris  1816,  p.  21. 

2  J.  v.  Döllinger:  Die  Universitäten  sonst  und  jetzt,  München  1867,  S.  16. 


St  -hl  ussbetrachtungen,  509 


bezeichnet,  so  darf  man  verlangen,  dass  die  Erwerbung  desselben  eine 
unerlässliche  Vorbedingung  für  Jeden  ist,  der  eine  hervorragende 
Stellung  im  öffentlichen  Sanitätsdienst,  im  militärärztlichen  Corps  oder 
in  der  Leitung  eines  Krankenhauses  anstrebt  oder  die  Lehrthätigkeit 
an  einer  medicinischen  Facultät  oder  Schule  ausüben  will. 

Im  Übrigen  sollte  die  letztere  Jedem  freistehen,  der  auf  irgend 
einem  Wissensgebiet  verdienstvolle  Leistungen  aufweisen  kann  und 
dadurch  sowohl  wie  durch  seinen  Charakter  die  Gewähr  bietet,  dass 
er  der  Anstalt,  an  welcher  er  wirken  will,  zum  Nutzen  und  zur  Ehre 
gereichen  wird.  Wenn  durch  die  Anstellung  und  Besoldung  der  Lehr- 
kräfte, welche  die  Vollständigkeit  der  ärztlichen  Bildung  erheischt,  für 
die  nothwendigen  Bedürfnisse  einer  medicinischen  Schule  gesorgt  worden 
ist,  kann  es  ihr  nur  wTünschenswerth  und  vortheilhaft  sein,  dass  der 
Unterricht  durch  Gelehrte,  welche  sich  freiwillig  und  ohne  Anspruch 
auf  Entgelt  der  Lehrthätigkeit  widmen,  bereichert  wird.  Der  Privat- 
Docent  erhält  nur  das  Recht,  zu  lehren,  darf  aber  nicht  dazu  verpflichtet 
werden,  so  lange  er  nicht  einen  bestimmten  Lehr- Auftrag  hat  und 
damit  eine  Lücke  im  Lehrplan  ausfüllt.  Seine  Thätigkeit  bildet  die 
Vorbereitung  für  das  Lehramt,  zu  welchem  er,  wenn  er  sich  als  Lehrer 
und  Forscher  auszeichnet,  später  berufen  wird.  Aber  dieses  Ziel  wird 
nur  von  Einzelnen  erreicht;  denn  dazu  gehört  Geist,  Geduld  und  Geld. 
Wer  über  diese  drei  Dinge  nicht  verfügt,  sollte  darauf  verzichten,  einen 
Beruf  zu  ergreifen,  der  ihm  nur  trügerische  Hoffnungen  vorgaukelt, 
deren  Erfüllung  er  vergeblich  erwartet. 

Mit  Recht  werden  bei  der  Besetzung  der  erledigten  Professuren 
vorzugsweise  die  Privat-Docenten  berücksichtigt;  denn  dadurch  sichert 
man  sich  vor  der  Gefahr,  dass  Derjenige,  welchem  das  Lehramt  über- 
tragen wird,  dazu  nicht  geeignet  und  befähigt  ist.  Es  ist  ein  W^agniss, 
Jemanden  damit  zu  betrauen,  der  in  der  Lehrthätigkeit  noch  keine 
Übung  und  Erfahrung  besitzt. 

Geringe  Berechtigung  hat  die  Scheidung  der  Professoren  in  ordent- 
liche und  ausserordentliche,  wie  sie  an  den  Hochschulen  Deutschlands 
und  anderer  Länder  üblich  ist.  Die  ausserordentlichen  Professoren 
stehen  den  ordentlichen  im  Range  und  in  der  Besoldung  nach  und 
haben  ausser  dem  Titel  oft  kaum  irgend  welche  Vorrechte  vor  den 
Privat-Docenten.  In  diese  Kategorie  werden  die  Vertreter  der  sogenannten 
Nebenfächer,  ferner  einzelne  Lehrkräfte,  welchen  die  Ergänzung  und 
Vervollständigung  eines  Hauptfaches  obliegt,  und  jene  Privat-Docenten 
eingereiht,  die  den  Professor-Titel  als  Belohnung  für  ihre  Verdienste 
erhalten  haben. 

Ohne   Zweifel   liegt  eine  LFngerechtigkeit  darin,  dass  man   einen 


510  SchlussbeU  'achtungen. 


Lehrer  dafür  bestraft,  dass  er  seine  Kräfte  einem  Unterrichtsgegenstande 
widmet,  welcher  nicht  zu  dem  täglichen  Brot  des  Berufs  gehört.  Wenn 
es  sich  dabei  um  Männer  handelt,  die  zu  den  Zierden  der  Wissenschaft 
zählen,  so  ist  es  nicht  blos  hart,  sondern  auch  unvernünftig.  Man 
sollte  ihre  selbstlosen  Bestrebungen  anerkennen  und  fördern,  nicht  aber 
durch  ungerechte  Kränkungen  herabsetzen  und  lähmen. 

Gegen  die  Gleichstellung  der  Vertreter  der  Nebenfächer  mit  den- 
jenigen der  Hauptfächer  wird  geltend  gemacht,  dass  ihre  Lehrthätigkeit 
nicht  in  demselben  Grade  in  Anspruch  genommen  wird;  aber  dieselbe 
kann  doch  nicht  gleich  der  Arbeitsleistung  eines  Tagelöhners  nach  der 
Zahl  der  darauf  verwendeten  Stunden  abgeschätzt  werden.  — 

Vor  Allem  ist  es  sehr  schwer,  zu  bestimmen,  welche  Disciplinen 
der  Heilkunde  als  Nebenfächer  im  medicinischen  Unterrichtsplan  zu 
betrachten  sind.  Früher  wurde  sogar  die  Geburtshilfe,  die  Augenheil- 
kunde und  die  pathologische  Anatomie  dahin  gerechnet.  Die  Meinungen 
sind  getheilt,  ob  manche  Zweige  der  Medicin,  wie  z.  B.  die  Histologie, 
die  gerichtliche  Medicin,  die  Dermatologie,  die  Laryngologie  u.  a.  m. 
als  Haupt-  oder  Nebenfächer  gelten  müssen.  Es  wird  dabei  auch  auf 
die  Verhältnisse  der  Schule  ankommen;  denn  es  ist  selbstverständlich, 
dass  medicinische  Facultäten,  wie  diejenigen  zu  Paris,  Wien  oder  Berlin, 
nicht  mit  dem  gleichen  Maass  gemessen  werden  dürfen,  als  kleine 
ärztliche  Schulen.  Hier  muss  auf  manche  Einrichtung,  auf  manche 
Lehrkanzel  verzichtet  werden,  die  dort  nothwendig  und  unentbehr- 
lich ist. 

Schon  der  Frankfurter  Congress  und  der  Jenaer  Reformverein 
verwarfen  die  Eintheilung  der  Professoren  in  Ordinarien  und  Extra- 
ordinarien und  erklärten,  dass  es  vernunftgemäss  nur  zwei  Klassen  der 
akademischen  Lehrer  geben  soll,  nämlich  Professoren  und  Privat- 
Docenten.  Die  ersteren  üben  die  Lehrthätigkeit  im  Auftrage  der  Schule 
aus  und  werden  dafür  besoldet;  die  letzteren  betheiligen  sich  daran 
aus  freiem  Willen  und  erhalten  für  ihre  Dienstleistungen  keine  Ent- 
schädigung. Damit  ist  keineswegs  ausgeschlossen,  dass  einzelnen  Privat- 
Docenten  als  Anerkennung  ihrer  Leistungen  der  Professor-Titel  verliehen 
wird;  doch  dürfen  sie  dabei  nur  dem  Namen  nach,  nicht  aber  im 
Range  und  in  den  Rechten  zu  Professoren  vorrücken. 

Die  Professoren  bilden  das  Lehrer-Collegium,  welches  die  An- 
gelegenheiten der  Facultät  oder  Schule  leitet  und  besorgt.  Jedes  Mit- 
glied desselben  hat  bei  den  Berathungen  und  Abstimmungen  die  gleichen 
Rechte,  mag  es  der  Vertreter  eines  sogenannten  Hauptfaches  oder 
einer  engbegrenzten  Specialität  sein;  denn  über  allgemeine  Unterrichts- 
Angelegenheiten  kann   sich  Jeder  von   ihnen   ein  Urtheil   bilden,  und 


ScMussbetrachtungm.  511 


in  Fragen,  welche  ein  einzelnes  Fach  angehen,  wird  die  Meinung  des 
Sachverständigen  den  gebührenden  Einfluss  ausüben. 

Durchaus  unbegründet  ist  die  Befürchtung,  dass  durch  die  grosse 
Zahl  der  Mitglieder  des  Lehrer-Collegiums  „das  Interesse  an  dem  Ge- 
sammtwohl  der  Facultät  abgestumpft  wird".  Die  Verhandlungen  der 
Parlamente,  in  denen  Hunderte  von  Volksvertretern  aus  allen  Theilen 
des  Landes  zusammenwirken,  zeigen,  dass  dies  möglich  ist,  ohne  dass 
dadurch  „die  Einheit  des  Handelns  aufgelöst  wird".  Viel  näher  liegt 
die  Gefahr,  dass  bei  einer  kleinen  Mitgliederzahl  des  Lehrer-Collegiums 
die  Verhandlungen  einen  familiären  Charakter  annehmen,  und  persön- 
liche Rücksichten  mehr,  als  es  dem  Interesse  der  Gesammtheit  ent- 
spricht, ins  Gewicht  fallen. 

Die  Überlegenheit  des  Geistes,  die  Eigenschaften  des  Charakters  und 
die  wissenschaftlichen  Leistungen  rufen  zwischen  den  Mitgliedern  eines 
Collegiums  Unterschiede  hervor,  welche  eine  wohlthätige  Wirkung  äussern. 

Ebenso  natürlich  und  berechtigt  sind  die  Verschiedenheiten  in  der 
Besoldung  der  Lehrer;  die  Verdienste  um  die  Wissenschaft,  die  Erfolge 
und  die  Dauer  der  Lehrthätigkeit  kommen  dabei  in  Betracht.  Dagegen 
sind  die  übermässigen  Ungleichheiten  im  Einkommen  der  Professoren, 
welche  durch  die  Collegien-Gelder  geschaffen  werden,  nicht  zu  ver- 
theidigen;  denn  die  Zahl  der  Hörer  hängt  hauptsächlich  davon  ab,  ob 
der  Unterrichtsgegenstand  für  die  Prüfung  gebraucht  wird,  und  ist 
nur  selten  das  Verdienst  des  Lehrers.  Trägt  er  eine  Wissenschaft  vor, 
welche  geringe  Verbreitung  findet,  so  wird  er,  selbst  wenn  er  eine 
glänzende  Rednergabe,  eine  machtvolle  Persönlichkeit  und  einen  Welt- 
ruf besitzt,  nur  einen  kleinen  Kreis  von  Schülern  um  sich  sammeln. 
Die  Studenten  sind  genöthigt,  in  erster  Linie  diejenigen  Studien  zu 
treiben,  von  denen  sie  die  Begründung  ihrer  Lebens-Existenz  erwarten. 
Sie  deshalb  eines  verflachenden  Materialismus  anzuklagen,  ist  thöricht; 
denn  sie  erfüllen  damit  eine  Pflicht  gegen  sich  selbst  und  gegen  ihre 
Familie.  Aber  nicht  weniger  sinnlos  ist  es,  wenn  man  die  Lehrer, 
welche  auf  diese  Verhältnisse  keinen  Einfluss  besitzen,  dafür  belohnt 
oder  bestraft,  indem  man  ihnen  grössere  oder  geringere  Collegien- 
Honorare  zuweist. 

Diese  Ungleichheiten  lassen  sich  auch  kaum  durch  eine  etwaige 
Vermehrung  der  Arbeitsleistung  rechtfertigen,  wie  C.  Hasse  gezeigt 
hat;1  denn  sie  verändert  sich  nicht  wesentlich,  ob  2  oder  200  Zuhörer 
anwesend  sind. 

Die  Einrichtung,  die  Collegien-Gelder  den  Lehrern  zu  überweisen, 

1  C.  Hasse:  Die  Mängel  deutscher  Universitätseinrichtungen  und  ihre  Besse- 
rung, Jena  1887,  S.  28  u.  ff. 


512  Schlussbetrachtungen. 

ist  auch  vom  ethischen  Standpunkt  verwerflich.  Der  ideale  Beruf  des 
Lehrers  wird  herabgesetzt,  wenn  die  geschäftliche  Seite  desselben  der- 
artig in  den  Vordergrund  tritt.  „Man  spiegelt  sie  uns  zwar  als  die- 
jenige Belohnung  vor,  auf  die  das  glückliche  Talent  des  thätigen 
Mannes  überall  in  der  Gesellschaft  einen  unbestrittenen  Anspruch  hat 
Allein  es  ist  dies  keine  würdige,  sondern  eine  herabwürdigende  Be- 
lohnung des  Lehrers."1 

Der  Staat  hat  die  Pflicht,  diesen  Zuständen  ein  Ende  zu  machen. 
Er  darf  verlangen,  dass  die  Schulgelder,  welche  die  Besucher  der  von  ihm 
unterhaltenen  Unterrichtsanstalten  zahlen,  zum  Besten  derselben  ver- 
wendet werden.  Wieviel  könnte  zur  Vermehrung  der  Lehrmittel,  zur 
Unterstützung  wissenschaftlicher  Arbeiten,  zur  Erhöhung  der  Be- 
soldungen und  überhaupt  zur  Heilung  des  grossen  Fehlers  geschehen, 
an  welchem,  wie  Walter  Peery  im  englischen  Unterhause  erklärte, 
die  deutschen  Universitäten  leiden,  nämlich  des  Mangels  an  Geld,  wenn 
die  Einnahmen  aus  den  Collegien-Geldern  zu  solchen  Zwecken  ver- 
wendet würden?  — 

Eine  weise  Unterrichtspolitik  wird  die  Lösung  dieser  Frage  an- 
bahnen, mit  Schonung  der  erworbenen  Rechte  des  Einzelnen  durch- 
führen und  sich  dadurch  den  Dank  des  deutschen  Volkes  verdienen, 
welches  seine  Universitäten  liebt  und  jeden  Schatten,  der  ihr  reines 
Bild  trübt,  schmerzlich  empfindet. 

Keine  menschliche  Einrichtung  ist  frei  von  Mängeln.  Im  Ringen 
nach  Verbesserung  und  Vervollkommnung  des  Bestehenden  liegen  die 
xiufgaben  des  Lebens.  Auf  welchem  Gebiet  ist  dieses  Streben  aber 
mehr  berechtigt  und  geboten,  als  dort,  wo  es  sich  um  die  Erziehung 
der  Ärzte  handelt,  von  deren  Wissen  und  Können  die  Gesundheit  und 
das  Leben  der  Menschen  abhängt? 

„Das  kostbarste  Kapital  der  Staaten  und  der  Gesellschaft  ist  der 
Mensch.  Jedes  einzelne  Leben  repräsentirt  einen  bestimmten  Werth. 
Diesen  zu  erhalten  und  bis  an  die  unabänderliche  Grenze  möglichst 
intact  zu  bewahren,  dies  ist  nicht  blos  ein  Gebot  der  Humanität;  es 
ist  auch  in  ihrem  eigensten  Interesse  die  Aufgabe  aller  Gemeinwesen." 
Mit  diesen  Worten  verkündete  der  früh  verstorbene,  unglückliche  Kron- 
prinz Rudolf  von  Österreich  eine  Staatspolitik,  die  wie  das  Evangelium 
der  Zukunft  klingt. 


1  H.  J.  v.  Wessenberg:  Die  Reform  der  deutschen  Universitäten,  2.  Aufl., 
Würzburg  1866,  S.  39.  —  Auch  P.  Frank  (a.  a.  0.  VI,  Th.  1,  S.  290  u.  ff.)  sprach 
sich  gegen  die  Collegien-Honorare  aus.  Die  Gründe,  welche  der  Minister  Jos. 
Unger  in  der  Sitzung  des  österr.  Abgeordn.-Hauses  vom  28.  Jänner  1876  dafür  vor- 
brachte, konnten  mich  von  der  Zweckmässigkeit  dieser  Einrichtung  nicht  überzeugen. 


Register. 


Abano,  Pietro  v.,  179.237. 
Abdana  Saracenus  168. 
Abdel-Letif  137.  147. 
Abderrhaman  135. 
Abella  169. 
Abercrombie  395. 
Abernethy  415. 
Abulfarag  131.  137. 
Abulkasem  138.  139.  140. 

141. 
Achilleus  31. 
Achillini  247. 
Ackermann  317. 
Adalberon  167. 
Adala  168. 

Adalbert  v.  Mainz  179. 
Adanson  369. 
Addison  395. 
Adelmus  171. 
Adhad  ed  Daula  146. 
Aegidius  v.  Corbeil   170. 

177.  180. 
Aeneas  Sylvius  242. 
Aeschrion  79.  84. 
Aetius  128. 
Afflacius  172.  177. 
Agathias  133. 
Agenio,  0.  206. 
Agrate,  M.  271. 
Agricola,  Georg  246. 
Agricola,  Kud.  213. 
Ahron  133. 
Aichholtz  275. 
Aigel,  Joh.  210. 
Alberti  249.  271. 
Albertini  308.  333. 
Albertus  Magnus  237. 
Albinus  79. , 
Albinus,   B.  S.   337.  338. 

385. 
Albrecht  V.   von   Bayern 

261. 
Alcuin  161.  163.  164. 
Puschmann,   Unterricht. 


Alexander  von  Macedo- 
nien  15.  61.  62. 

Alexander  (von  Damas- 
kus) 80. 

Alexander Severus  83. 110. 
111. 

Alexander  Trallianus  128. 

Alexander  III.,  Pabst  235. 

Alexander  VI.,  Pabst  189. 

Alexippos  58. 

Alfons  VIII.  v.  Spanien 
194. 

Algizar  143. 

Alhazen  136. 

Ali  Abbas  138.  151. 

Ali  Ben  Issa  146. 

Alibert  395. 

Alkibiades  43. 

Alkinani  132. 

Alkmaeon  38. 

Alkon  106. 

Alphanus  167.   177. 

Alpini,  P.  254. 

Amici  382. 

Ammann  304. 

Ammianus  63.  96. 

Ammonios  68.  96.  98. 

Amontons  293. 

Ampere  380. 

Anaxagoras  39. 

Andral  388.  394. 

Andreas  von  Karystus  67. 

Andromachus  89.  111. 

Anglicus,  Cardinal  187. 

Anjou,  Carl  v.  219. 

Annesley  395. 

Anseimus  von  Havelberg 
179. 

Anthimus  156. 

Antoninus  Pius  95.   109. 

Antyllus  97.  99. 

Apollon  29.  73. 

Apollonius  96. 


Apulejus  128. 
Aquapendente,     Fabrizio 

ab  249. 
Arago  291.  380. 
Aranzio  249.  258. 
Archagathos  75.  110. 
Archelaos  43. 
Archimatthaeus  171.  177. 
Arculanus  201. 
Ardern,  J.  226.  229. 
Aretaeus  93.  94.  128.  428. 
Arfvedson  378. 
Argelata, Peter  v.  210.225. 
Aristophanes  33.  43. 
Aristoteles  39.  44.  45.  48. 

49.  61.  65.  88.  133.  134. 

245.  280.  381. 
Arktinos  30. 
Aselli,  G-.  299.  337. 
Asklepiades  75—77.  88. 
Asklepios  29—37.  42.  44. 

73. 
Asoka  14. 
Astruc  214.  317. 
Athenaeus  78. 
Attalus  III.  69. 
Auenbrugger  308.  392. 
Augustis,  Quiricus  de  212. 
Augustus  109. 
Austrigildis  160. 
d'Avellino-Caracciolo  362. 
Avempace  151. 
Avenzoar  138.  140.  153. 
Averroes  138.  151.  152. 
Avicenna    138.    140.    151. 

152.  201.  279. 

Bacchios  von  Tanagra  67. 
Bachtischua  134.  145.  153. 
Bacon,  Roger  237. 
Bacon  von  Verulam  284. 

318.  319.  364. 
Badia  300. 

33 


514 


Register. 


Baer,   K.  E.  v.   373.  386. 
Baerensprung  395. 
Baglivi  302. 
Baillou  260. 
Baker,  A.  338. 
Baiard  398. 
Baidinger  317. 
Balthasar  de  Tuscia   197. 
Baraillon  433. 
Barbaras  80. 
Barth,  Jos.  338.  355. 
Barthez  383. 

Bartholirms  285.  299.  309. 
Bartholomaeus  177. 
Bartholomaeus     Anglicus 

237. 
Basedow  395. 
Basilius  124.  125. 
Bateman  395. 
Bathurst  300. 
Batsch  372. 
Baudeloque  436. 
Baudot  433. 
Bauhin  257.  275. 
Baverius  238. 
Bayle  394. 
Baynard  311. 
Beaumont  388. 
Beauvais,  Vincenz  v.  237. 
Beauvais  de  Preaux  433. 
Becher  288. 
Becher,  J.  332. 
Becquerel  388. 
Beda  129. 

Beer,  G.  J.  355.  405. 
Beethoven  366. 
Ibn  el-Beithar  138.  154. 
Abu  Bekr  130. 
Bell  385.  389.  390. 
Bellini  296.  299.  304. 
Belon  246. 
Bencio,  H.  237. 
Benedetti,   A.    230.    254. 

261.  272. 
Benedictus  Crispus  165. 
Benedikt  119.  162. 
Benesch  deWaitmuel  196. 
Benevieni  309. 
Bennet  311. 
Bent  313. 
Berengar  von  Carpi  206. 

247.  271. 
Bergmann  288- 
Beringer  345. 
Bernard  88. 

Bernard,  Cl.  388.  389.  394. 
Bernhard,  hl.  180. 
Berres  385. 
Bertapaglia,  L.  225. 


Bertharius  162.  165. 

Berthollet  376. 

Berti  289. 

Bertin  296. 

Bertuccio  206. 

Berzelius  377.  378. 

Bessarion  241. 

Bichat  383.  386. 

Bidloo  336. 

Biett  395. 

Billroth  505. 

Birkman  329. 

Bischof,  J.  R.  395. 

Bischoff,  Th.  386. 

Black  375. 

Blasius  401. 

Blin  433. 

Blondlot  388. 

Blumenbach  87.  366.  372. 

383.  386. 
Blundell  404. 
Bodenstein,  Ad.  v.  283. 
Boeck,  K.  W.  395. 
Boer,  L.  407. 
Boerhaave  306.  308.  317. 

342.  355. 
Boethus  80.  105. 
Bohemund  167. 
Bohn  304. 
Bonacciuoli,  L.  257. 
Bonjean  440. 
Bonifaz  VIII.,  Pabst  206. 
Bonet  309. 
Bonn  386. 
Bonnet  304.  371. 
de  Boot  307. 
Bordeu  308.  383. 
Borelli,  Alf.  293.  295.  299. 

302.  306. 
Borgia,  Lucrezia  256. 
Borgognoni  224.  227. 
Borsieri  345. 
Böse  292. 
Botallo  252. 
Bottoni,  A.  278. 
Bouillaud  394. , 
Bourgois,  L.  356. 
Boyer  387. 
Boyle,  Rob.  285.  287.  288. 

290.  311. 
Braid  400. 
Brambilla  339. 
Branca  229.  255. 
Brandis  311. 
Braun,  A.  369. 
Breschet  385. 
Bretonneau  394. 
Brewster  381. 
Bright  395. 


Brisseau-Mirbel  369. 

Brissot,  P.  258. 

Broussais  382. 

Brown,  J.  382.  383. 

Brown,  R.  369. 

Brücke  505. 

Brünninghausen  401. 

Brunhilde  157. 

Brunner  296. 

Bruno,  Gr.  318. 

Bruno  v.  Longoburgo  224. 

Brunschwyg,  Hieron.  282. 

Buch,  L.  v.  368. 

Buchhorn  406. 

Budd  395. 

Buddha  14. 

Budhadaso  15. 

Bulaeus  160. 

Buffon  305.  339.  371. 

Burdach  366. 

Burke  423. 

Burzweih  121. 

Buschius  242. 

Caelius     Aurelianus     93. 

128. 
Caelius  Aurelius  162. 
Caesar  109.  422. 
Caesarius  v.  Heisterbach 

180. 
Calcar,  J.  271. 
Caldani  303. 
Calenda,  Costanza  169. 
Calmeil  395. 
Calvin  264. 
Camerarius  286.  316. 
Camper,  P.  304.  337.  371. 
Canamusali  141. 
Canani  247.  271. 
de  Candolle  369. 
Cantimpre,   Thomas    von 

230. 
Canton,  J.  293. 
Cardanus,  Hieron.  246. 
Carl  IV.,  Kaiser  188.  190. 

196. 
Carl  V,  Kaiser  259. 
Carl  IX.   von  Frankreich 

184.  278. 
Carlisle  377. 
Carminati  301. 
Carret  437. 

Carus,  K.  Gr.  366.  372.  390. 
Cascellius  103. 
Casper  408. 
Cassebohm  298.  313. 
Casserio  249.  271. 
Cassiodor  119.  161. 
Cassius  Felix  128. 


Register. 


515 


Cato   71.   72.   74.   75.   83. 

123.  157. 
Cavendish  283.  375. 
Caventon  398. 
Cellini,  Benvenuto  271. 
Celsus  68.  78.  85.  96.  98. 

100.  103.  173.  229.  253. 

428. 
Celtes,  Conr.  243. 
Cesalpini  246.  269. 
Cesi,  Federigo  320; 
Cesio,  C.  336. 
Chabas  16. 

Chalid  Ben  Jazid  132. 
Chamberlen  315. 
Chanak  135. 
Charaka  6—13.  135. 
Charcot  505. 
Charmis  105. 
Charondas  56. 
Chassaignac  401. 
Chauliac,  Guy  v.  203.  206. 

210.  224.  228.  229.  230. 

231.  238. 
Chaussier  383. 
Cheiron  29.  31. 
Cheselden   314.   315.  336. 
Chevalier  382. 
Chiarugi  395. 
Childebert  125. 
Chirac  300. 
Chladni  382. 
Chopart  313.  401.  436. 
Christison  408. 
Chiysippos  64.  &L- 
Chrysolaras  241. 
Chrysostomus  123. 
Cicero  1.  75.  240.  422. 
Ciucci  314. 
Civiale  314.  403. 
Claudius  112.  123. 
Cleland  405. 
Clemens  V.,  Pabst  183. 
Clemens  VI.,  Pabst  216. 
Clemot  403. 
Clocquet  400. 
Cockburn  308. 
Cole,  W.  299. 
Colombo,  K.  250.  270.  274. 

298. 
Frere  Come  314. 
Commodus  81. 
Comte,  A.  367. 
de  Condillac  318. 
Conolly,  J.  396. 
Conrad  von  Schiverstadt 

198. 
Coming  330. 
Constantin  83. 


Constantin  Africanus  166. 

177. 
Copho  170.  177. 
Corra  146.  153. 
Corradi,  A.  207. 
Cortona,  Pietro  da  336. 
Cornarus  Diom.  283. 
Cortesi  256. 
Corvi,  G.  237. 
Corvisart  392.  394.  436. 
Cotugno  298. 
Cowper,  W.  297. 
Crassus  75. 
Cranach,  Lucas  243. 
Crato  von  Crafftheim  283. 
Cronstedt,  A.  v.  368. 
Cruikshank  377. 
Cruveilhier  395. 
Cullen  382. 
Cumano,  M.  225. 
Curio  279. 
Currie  311. 
Cusanus,  Nicol.  246. 
Cuvier  372.  373. 
Cyrus  16. 
Czolbe  367. 

Daguerre  381. 
Dalton  376.  377. 
Damokrates  89. 
Dante  237. 
Daran  314. 
Daremberg  244.  447. 
Darius  16.  38.  56. 
Darwin,  E.  383. 
Darwin,  Ch.  374. 
Daschkow  493. 
Daubenton  339. 
Daviel  315. 

Davy,   H.   377.  378.  400. 
Deisch  358. 
Deleau,  L.  405. 
Delpech  403.  404. 
Demetrius   111. 
Demetrius  \  on  Apamea  67. 
Demetrius    Pepagomenus 

129. 
Demokedes  38.  56. 
Demokrit  40.  76.  318. 
Demosthenes  100. 
Demours  298. 
Deroldus  167. 
Desault  433. 
Descartes   291.   318.   390. 
Desfosses  398. 
Desiderius  167. 
Despars,  J.  237. 
Deventer,  H.  v.  314. 
van  Deyl,  382. 


Deymann  338. 
Dhanvantari  11. 
Diaulus  106. 
Dieffenbach  403.  404. 
Diogenes  39. 
Diokles  von  Karystus  66. 
Dionis  314.  356. 
Dionysios  43. 
Dioskorides  90.  128.  161. 

269. 
Dodonaeus  261. 
Dodart,  D.  301.  304. 
Döllinger  366.  372. 
Döllinger,  J.  v.  413.  508. 
Dolaeus  311. 
de  Dondi  237. 
Donatus  160. 
Dorothea  Sibylla  v.  Brieg 

357. 
Douglas,  J.  296. 
Drakon   43. 
Drebbel  289. 
Drelincourt  298. 
Ibn  Dscholdschol  141. 
du  Bois-Reymond  505. 
Duchenne  395. 
Dürer,  Albrecht  243.  271. 
Dufay  292.  339. 
Dumas  378.  388.  404. 
Dupuytren  403. 
Durand  98. 
Düse  316. 

Dutrochet  370.  388. 
Dutthagamini  14. 
Duverney   298.  304.  305. 

337. 

Eberle  388. 
Ebers  17.  18.  21. 
Echter,  Jul.  v.  Würzburg 

263. 
Egeberg  403. 
Ehrenberg  372.   386. 
Ehrenritter   355. 
Eir  157. 
Elinus  168. 
Eliot  432. 
Elisa  25. 
Elolathes  38. 
Else  312. 
Empedokles  39. 
Ennana  16. 

Enricus  de  Padua  168. 
Epikur  88. 
Epimarch  38. 
Epione  30. 
Epiphanius  63. 
Erasistratos   64—67.  78. 
Erasmus  v.  Rotterdam  243 . 

33* 


510 


Register. 


Erastus  279. 
Ermerins  46. 
Eros   103. 
Errards,  Ch.  336. 
Eschasseriaux  433. 
Esquirol  395. 
Estienne,  Ch.  271. 
d'Estouteville ,      Cardinal 

236. 
Eudemos  67. 
Eudemus  (der  Philosoph) 

80. 
Euelpistus  96. 
Euenor  58. 
Euklid  134.  422. 
Euler,  Leonh.  291. 
Eunapios  70. 
Euripides  43.  44.  422. 
Euryphon  42. 
Eustachio   248.   250.  271. 

Fabiola  124.  125. 

Fabricius  372. 

Fabry  v.  Hilden  313.  356. 

Fahrenheit  293. 

Falcucci,  Nie.  237. 

Faloppio  248.  274. 

Falret  395. 

Fannius  103. 

Fantoni  314. 

Faraday  378.  380. 

Fechner  367. 

Ferdinand  III.  v.  Spanien 
194. 

Ferdinand ,  der  Katho- 
lische 207. 

Ferdinand  II.  von  Mediei 
293. 

Ferrein  304. 

Feuchtersleben,  v.  455. 

Fichte  366. 

Filkin  313. 

Flourens  388.  389.  400. 

Floyer  311. 

Fludd  289. 

Fohmann  385. 

Folz  238. 

Fontana  309.  336. 

Fontano  273. 

Forat  Ben  Schannatha  132. 

Forster  371. 

Fothergill  309. 

Fourcroy  376.  433.  436. 

Foville  395. 

Fracastorio  260. 

Francke  324.  328. 

Franco,  P.  253.  254.  257. 

Frank,  Peter  336.  338. 
360.  393.  408.  458. 


Franklin  293. 

Franz  I.   von  Frankreich 

262.  277.  280. 
Fraunhofer  381.  382. 
Freidank  268. 
Fremd  128.  160.  317. 
Frerichs  395. 
Fresnel  291.  381. 
Fried  358. 
Friedrich  L,   Kaiser  185. 

205. 
Friedrich  IL,  Kaiser  174. 

176.  182.  185.  200.  204. 

219.  224.  256. 
Friedrich,  der  Weise,  von 

Sachsen  262. 
Froriep  387. 
Fuchs,  C.  H.  395. 

Graertner  369. 

Galen  18.  25.  45.  65.  66. 

69.    79—99.    103.    104. 

105.  111.  112.  121.  122. 

128.  132.  137.  161.  163. 

170.  174.  201.  203.  204. 

210.  247.  250.  253.  279. 

329.  362.  389.  428. 
Galilei  289.  293. 
Gall  390.  395. 
Gallici,  Joh.  198. 
Gallot  433. 
Garbo,  Dino  di  188.  201. 

237. 
Gariopontus  168.  177. 
Gassendi  290.  318. 
Gasser  297. 
Gaub  342. 
Gauss  381. 
Gautier  d'Agoty  337. 
Gavarret  388. 
Gay-Lussac  377.  378.  380. 
Gaza,  Th.  241. 
Geber  137. 
Geiger  398. 
Gellius  63.  107. 
Genga  336. 
Georgios   von  Trapezunt 

241. 
Gerbert    d'Aurillac     163. 

179. 
v.  Gersdorf  252.  282. 
Gessner,  Conr.  246. 
Gevicka,  Nicolaus  de  197. 
Gibbon  124. 
Giliani,  Aless.  206. 
El   Mansur   Gilavun  148. 
Gilbertus,   Anglicus    237. 
Girard  31. 
Girtanner  382. 


Gisulf  166. 

Givaka  Komarabhakka 
14. 

Gladstone  409. 

Glauber  287. 

Glaucon  161. 

Glaukias  58.  68. 

Glisson  296.  302.  303.  307. 

Gmelin  378.  388. 

Gölnitz  191. 

Gönguhrolf  157. 

Görcke  476. 

Goethe  130.  345.  366.  369. 

Gordon  237. 

Gorgias  96. 

Graaf,  R.  de  297. 

de  Gradibus  210.  237. 

Graefe,  C.  F.  404. 

Graefe,  A.  v.  405.  406. 

Grapheus ,  Benvenutus 
230.  237. 

Gray,  St.  292. 

Gregoire  316. 

Gregor  v.  Nazianz  124. 

Gregor  v.  Tours  126. 

Gregory,  J.  291. 

Grew  285. 

Griesinger  395. 

Griffon  256. 

Grimaldi  291. 

Grimaud  383. 

Gruithuisen  403. 

Grüner  317. 

Guaineri,  A.  237. 

Guarna,  Rebecca  169. 

Guericke,  O.  v.,  289.  292. 

Guglielmini  285. 

Guglielmus  de  Bononia 
168. 

Guglielmus  de  Ravegna 
168. 

Guidi  271. 

Guillemeau,  J.   257.   271. 

Guillotin  433. 

Guinter  v.  Andernach  272. 

Guiscard  167. 

Guislain  395. 

Guizot  157. 

Guntram  160. 

Gustav  Adolf  von  Schwe- 
den 322. 

Guttenberg  244. 

Guyot  313. 

Hadrian  109. 

Haen,  A.  de  308.  342  344. 

Haeser  129. 

Hahn  311. 

Hadji  Khalfa  134.  151. 


Register. 


517 


Hakim  136. 

Hakim  Bümrillah   144. 

Haies,  St.   299.  310.  370. 

Halevy,  Juda  178. 

More  Hall  291. 

Halle  433. 

Haller  166.  295.  302.  305. 
310.  314.  317.  332.  337. 
338.  342.  347.  382. 

Harn  305. 

Hamann  367. 

du  Hamel  288.  295.  370. 

Hammer-Purgstall  143. 

Härder  301. 

Hare  423. 

Harting  290. 

Hartmann  v.  d.  Aue  167. 
180. 

Hartnack  382. 

Hartsoeker  305. 

Harun  al  Raschid  134. 

Harvey  298.  299.  305.  309. 
415. 

Hasse,  C.  511. 

Hauy  368. 

Havers,  Cl.  295.  336. 

Hazon  334. 

Hebra,  F.  395. 

Hedschadsch  132. 

Hegel  366.  367. 

Heinrich  I.   163. 

Heinrich  VI.,  Kaiser  227. 

Heinrich  IV.  von  Frank- 
reich 184. 

Heinrich  VIII.  von  Eng- 
land 350. 

Heister,  Lor.  357. 

Heliodor  97.  98.  99. 

Helios  29. 

Helm  388. 

Helmholtz  382.  406.  505. 

Helmont  287.  306. 

Henke,  A.  408. 

Henle  386. 

Henshaw  300. 

Hensler  317. 

Heraklides  68.  76. 

Heraklit  39. 

Herder  366. 

Heribrand  163. 

Hermann,  J.  372. 

Hermanus  Contractus  179. 

Hermann  v.  Treysa   198. 

Hermes  103. 

Hero  96. 

Herodikos  54. 

Herodot  29. 

Herophilos  64.  65.  66.  68. 

Hesiod  29. 


Hesse  398. 
Heurne,  O.  v.  341. 
Heurteloup  403. 
Hewson  300. 
Hieronymus  124. 
Highmore  295. 
Hikesios  67. 
St.  Hilaire,  G.  372. 
Hildegard,  hl.  165. 
Hildegard,   Kaiserin   160. 
Himly  406. 
Hippokrates  1.  29.  37.  39. 

40—61.    96.    128.    133. 

134.  161.  162.  163.  174. 

201.  203.  222.  279.  329. 

428. 
Hisinger  377. 
Hodgson  394. 
Hoffmann    F.,    288.    306. 

311.  324.  340.  343.  348. 

354. 
Holbein,  Hans  243. 
Homberg,  W.  288. 
Homer  29.  58.  71.  422. 
Honein  135.  153. 
Honestis,     Christoph     de 

212. 
Honorius  III.,  Pabst  235. 
Hooke,    Rob.    286.    291. 

292.  295.  296. 
Hope  394. 
Horaz  72.  422. 
Horekowicz,   Dudith  von 

258. 
Horenburg,  E.  357. 
Hrabanus     Maurus     164. 

165. 
HrafnSweinbiörnsson  158. 
Hufeland  476. 
Hugo  189. 
Humboldt,   Alex.  v.   371. 

377. 
Hume,  D.   318. 
Hunczovsky  346. 
Hundt,  Magnus  210. 
Hunter,  J.  310.  315.  335. 

371.  372.  373.  393. 
Hunter,  W.  297.  337.  338. 
Huschke  385.  390. 
Hutschinson,  J.  389. 
Hütten,   Ulrich  von  242. 

259. 
Huygens  285.  291.  292. 
Hygieia  30.  36,  73. 
Hyginus  103. 
Hyrtl  274.  505. 

Jackson  400. 
Jacobi  395. 


Jacobus  Evang.  126. 

Jacobus  Foroliviensis  201. 

Jäger,  F.  406. 

Janssen   290. 

Jaso  30. 

Jenner  397. 

Jesensky  275. 

Ikkos   54. 

Ingenhouss  370. 

Ingigerd  158. 

Ingvar   158. 

Innocenz  III.,  Pabst  191. 

217. 
Johann  163. 
Johannes  Actuarius   129. 

279. 
Johann  v.  Böhmen  184. 
Joh.  Friedrich  v.  Sachsen 

263. 
Jon  43. 
Josef  II.,  Kaiser  336.  352. 

353.  355.  361.  395.  450. 

451. 
Josef  166. 
Josua  166. 
Isa  ben  Ali  140. 
Isidor  v.  Sevilla  129. 
de  Tlsle,  R,  368. 
Ismael  ben  Elisa  25. 
Israeli  154. 
Itard  405. 
Julian  125.  128. 
Julius  III.,  Pabst  265. 
Julius  von  Braunschweig 

263. 
Juncker,  Joh.  345. 
Jussieu  339.  369. 
Justinian  119. 

Kafur  148. 
Kallisthenes  58. 
Kant  362.  366.  367. 
Karl  der  Grosse  134.  160. 

161.  163. 
Karlstadt  283. 
Karneades  67. 
Kasimir  von  Polen  198. 
Kay,  J.  350. 
Kempelen  304. 
Kepler  245.  246.  303. 
Kergaradec,  Lejumeau  de 

392. 
Kerckring   295.  296.  305. 

310. 
KesraNuschirvan  120. 133. 
Ketham  211. 
de  Keyser  338. 
Kielmeyer  366.  372.  373. 
Kieser  366. 


518 


Register. 


Kirchhoff  381. 

Klaproth  376. 

Klein,  J.  Th.  286. 

Kleist  293. 

Klinkosch  295. 

Klopstock  328. 

Knox  423. 

Köhler  32. 

Kölliker  386. 

Konr  157. 

Konrad,  König  177. 

Konrad,  Cardinal  180.181. 

Kopernikus  245. 

Kopp  375. 

Koyter  249.  271. 

Kramer,  W.  405. 

Kratevas  68. 

Kratzenstein  304. 

Krinas  106. 

Ktesias  42. 

Kühle  wein  46. 

Kunkel  288. 

Kyper,  A.  341.  342. 

Labrosse  339. 

Lacoste  433. 

Lactantius  245. 

Ladmiral,  J.  337. 

Laennec  392. 

Laguna  255. 

Lairesse,  Gerard  de  336. 

Lamarek  372.  373. 

Lainballe,  Jobert  de  407. 

Lamettrie  319. 

Lancisi  297.  308.  309.  310. 

338.  342.  346. 
Lanfranchi  224.  225.  228. 
Lange,  F.  A.  319. 
Langenbeck  404. 
Laplace  290.  381. 
Larrey  401.  402. 
Laskaris,  K.  241. 
Lassus  436. 
Latham  394. 
Latini,  Br.  237. 
Latreille  372. 
Lavoisier  289. 375. 376.433. 
Leake  357. 
Le  Blon  337. 
Leclerc,  Dan.  317. 
Leclerc,  L.  149. 
Le  Dran  313. 
Leeuwenhoek     286.    295. 

296.  297.  299.  300.  305. 

310. 
Legallois  389. 
Lehmann  388. 
Leibnitz    305.    318.    319. 

321.  328. 


Lelli,  E.  336. 

Lemnius  278. 

Leo  XII.,  Pabst  482. 

Leo  Africanus  134.  150. 

Leopold,  Kaiser, 320. 

Leopold  V.  v.  Österreich 
227. 

Lepsius  17. 

Lequin,  Nie.  314. 

Leroy  d'Etiolles  403. 

Lessing  328.  366. 

Leukippos  40. 

Levasseur  433. 

Levret  316. 

Leyer,  G.   329. 

Leyser,  A.  280. 

Libanius  117. 

Libavius  287. 

Lichtenstein  371. 

Lieberkühn  335. 

Liebig  379.  388.  400. 

Lieutaud  332.  338. 

Link  369. 

Linne  286.  310.  368.  371. 

Lionardo  da  Vinci  242. 
246.  270.  271.  293. 

Lisfranc  401. 

Littre  46. 

Livius  Eutychus  111. 

Lobstein  393. 

Locke,  J.  318. 

Longinus  128. 

Lonicerus,  Adam  235. 

Lorrain,  Claude  317. 

Lotichius  326. 

Lotze  367. 

Louis  312. 

Louis,  P.  A.  395. 

Lower  296. 

Lucian  98. 

Lucius  80. 

Lucrez  76.  107. 

Luder,  P.  242. 

Ludwig,  Ch.  G.  308. 

Ludwig  der  Fromme  160. 

Ludwig  der  Einfältige 
167. 

Ludwig  IX.  v.  Frankreich 
205. 

Ludwig  XI.  v.  Frankreich 
268. 

Ludwig XII.  V.Frankreich 
277. 

Ludwig  XIII.  v.  Frank- 
reich 339.  340. 

Ludwig  XIV.  v.  Frank- 
reich 182.  314.  321. 

Ludwig  XVI.  v.  Frank- 
reich 345. 


Ludwig  XVIII.  v.  Frank- 
reich 438. 
Lurcz,  H.  198.  236. 
Luther  239.  267.  283. 
Lyell  373. 
Lykurg  58. 
Lykus  84. 

Mac  Dowell  407. 

Macer  Floridus  165. 

Machaon  30.  31. 

Macrizi  145.  147.  148.  150. 

Maggi  252. 

Magendie  388.  390. 

Magnus  111. 

Magnus  378. 

Mahan  134. 

Mahon,  P.  A.  O.  436. 

Maimonides  138.  140.  151. 

152.  178. 
Malacarne  387. 
Malpighi    285.    286.    295. 

296.  297.  299.  300.  304. 

305. 
Malus  381. 
AI  Mamun  134.  135. 
Manfred  177. 
Mankah  135. 
Manlius  Cornutus  105. 
AI  Mansur  133. 
Mantias  67. 
Marat  433. 
Marbod  165. 

Marcellus  Empiricus  128. 
Marche,  Marg.  de  la  356. 
Marchettis  302. 
Marcus  Marci  v.  Kronland 

291. 
Marcus  Antonius  75. 
Marcus  Aurelius  80. 
Mareschal  348. 
Marggraf  288. 
Maria  Theresia,  Kaiserin 

449. 
Marianus  132. 
Marileif  160. 
Marinus  84. 
Mariotte  289.  290.  304. 
Maristania,  Ibn  el  147. 
Marshall  Hall  390. 
Martial  95.  103.  106. 
Martianus  205. 
Martin  V.,  Pabst  195. 
Martin  v.  Wallsee  198. 
Martinez  336. 
Mascagni  385. 
Masona  124. 
Matthysen.  402. 
Maundeville,  Joh.  v.  216. 


Register. 


519 


Maurus  177. 

Maximilian  L,  Kaiser  262. 
Mayer,  J.  R.  389. 
Mayor  392. 
Mayow  302. 
Mazza  168.  170. 
Meckel  372.  393. 
Medici,  Cosimo  v.  274. 
Medici,  Lorenzo  de  190. 
Medici,  Maria  v.  356. 
Megenberg,  Kimrat  v.  237. 
Meges  96. 
Meghavana  15. 
Meibom  297.  330. 
Mein  398. 
Meissner  398. 
Melanchthon  239. 263. 283. 
Melanchthon,  Siegm.  279. 

283. 
Meletius  129. 
Mende  408. 
Mendelssohn  152. 
Menekrates  89. 
Menghini  300. 
Menokritos  59. 
Mercuriade  169. 
Merida,  Paulus  v.  231. 
Mersenne  290. 
Mesue  134.  146. 
Metrodoros  38.  59.  65. 
Meyen  369.< 
Meyer,   E.    90.    143.   153. 

160.  165.  166. 
Mezler  317. 
Michelangelo  242.  270. 
Michelet  314. 
Middeldorpf  401. 
Mirevelt,  Mich.  338. 
Mistichelli  301. 
Mithridates  68.  69. 
Mitscherlich  378.  379. 
Mittelhäuser  358. 
Moehsen  317. 
Mohammed  130.  152. 
Mohammed  Ben  Ali  Ben 

Farak  151. 
Mohl,  H.  369.  370. 
Mohs  368. 
Moldenhawer  369. 
Moliere  362. 
Molyneux  299. 
Mommsen  102. 
Mondeville,  Henri  de  203. 

224.  238. 
Mondino  206.  210.  247. 
Le  Monnier  293. 
Monro  325. 
Montagna,  Ben.  211. 
Montaigne  362.. 


Monte,  G.  da  278. 
Monteggia  407. 
de  Montespan  356. 
Montgelas  465. 
Morand  313. 
Moreau  402. 
Morel  312.  395. 
Moreland  292. 
Morgagni  310.  336.  338. 
Morley,  David  179. 
Morveau ,      Guyton     de 

376. 
Moses  22. 
Mottawakl  146. 
Moulin,  A.  299. 
Mozart  366. 
Muawija  132. 
Müller,  O.  F.  372. 
Müller,  Joh.  372.  386.  390. 

393. 
Mulder  141. 
Munk  152. 
Murillo  317. 
Musa  109.  112. 
Musandinus  177. 
Muscio  88. 
Musculus  267. 
Musschenbroek  293. 
Myrepsus,   Nicolaus    129. 

212. 


Nachmanides  178. 

Naegeli  370. 

Napoleon  I.  437. 

Nasse,  Chr.  F.  395. 

Nebsecht  21. 

Nees  v.  Esenbeck  366. 

Neckam,  Alexander  165. 

Nero  111. 

Newton  290.  291.  293.  303. 

Nicephorus  134. 

Nichol  358. 

Nicholson  377. 

Nicolaus  160. 

Nicolaus  Praepositus  177. 

212.  230. 
Nicolaus  IV.,   Pabst  182. 
Nicolaus  V.,  Pabst  242. 
Niepce  381. 
Nikander  68. 
Niketas  129. 
Nikon  79. 

Ninon  de  TEnclos  341. 
Nollet  388. 
Nufer,  J.  257. 
Numa  72.  101. 
Numesianus  80. 
Nureddin  147. 


Oberhäuser  382. 

Oddo,  M.  278. 

Odhin  157. 

Oersted  366.  380. 

Ohm  380.  382. 

Oken  366.  373. 

Olympios  98. 

Omar  131. 

Onasilos  58. 

Orfila  408. 

Oribasius  128.   156. 

Origines  120. 

Orlandus  188. 

Orosius  118. 

Ortolf  v.  Bayerland  238. 

Oseibia,    Ibn    Abu    134. 

138.   141.   146.  148. 
Osiander  358.  407. 
Othman  130. 
Othmar  126. 

Otto  v.  Griechenland  493. 
Ovid   281.  422. 

Paaw,  P.  249. 
Palfyn  315. 
Pallas  371. 
Pallavicini  205. 
Palucci  355. 
Panakeia  30.  36. 
Pander  373.  386. 
Pandukabhayo  14. 
Panum  404. 
Panvilliers  433. 
Papin  292. 
Paracelsus  258.  259.  283. 

286.  306.  307. 
Pare,A.  251.252.  253.  254. 

255.  257.  281.  312.  313. 
Park  313. 
Parrhasios  270. 
Pascal  289. 
Passarotti,  B.  271. 
Patroklos  31. 
Paula  124. 
Paulsen  328. 
Paulus  Aegineta  129.  173. 

253. 
Pecquet  289.  299. 
Pelletier  398. 
Pelops  79.  84. 
Perikles  43.  242. 
Perrault  304. 
Perry,  W.  512. 
Peter  der  Grosse  335.  492. 
Peters,  H.  340. 
Petit  312.  315. 
Petrarca  178.  240.  281. 
Petroncellus  177. 
Petrus  160.  166. 


520 


Register. 


Petrus  Lemonensis  193. 

Peucer,  C.  283. 

Peyer  296.  301. 

La  Peyronie  348. 

Pfolspeundt,  H.  227.  230. 

Phaenarete  54. 

Phidias  43. 

Philinos  68. 

Philipp  (v.  Akarnanien)  58. 

Philipp  der  Schöne  von 
Frankreich  203.  225. 

Philipp  August  v.  Frank- 
reich 170. 

Philipp  der  Kühne  205. 

Philipp  Wilhelm  v.  Ora- 
nien  313. 

Philiskus  95. 

Philolaos  38. 

Philon  89. 

Philostratos  54.  95. 

Philoxenos  67.  96. 

Photius  129.  134. 

Piedimonte,  Franc,  de  237. 

Pindar  29. 

Pinel  383.  395.  396.  436. 

Piorry  392. 

Pirchpach,  C.  283. 

Pirkheimer,  W.  243. 

Pirogoff  402. 

Pitcairn  300.  306.  421. 

Placilla  Augusta  125. 

Platearius  177. 

Piaton  43.  45.  46.  52.  54. 
59.  60.  61.  88.  318. 

Platter  211.218.  261.  267. 
271.  273.  274.  275.  280. 

Plencicz  310.  345. 

Plinius  67.  72.  78.  82.  99. 
101.  104.  106.  128. 

Plössl  382. 

Plutarch  72.  103.  107. 

Podalirios  30.  31. 

Poggendorff  289. 

Pois,  Jean  de  236. 

Polybos  43.  44. 

Polykleitos  44. 

Polykrates  57. 

Pontus  168. 

Porta,  G.  246. 

Portal  317.  338. 

Pott  314.  315.  415. 

Pourfour  du  Petit  298. 

Poussin,  Nicol.  317. 

Pravaz  399. 

Praxagoras  64. 

Prevost  404. 

Priestley  375.  378. 

Pringle  311.  342. 

Prochaska  390. 


Profatius  181. 
Proust  376. 
Prudentius  118. 
Psellus  129. 
Puccinotti  166. 
Purkinje  295. 386. 389. 406. 
Purmann,  M.  G.  351. 
Pyrrhon  67. 
Pythagoras  38.  245. 

{juatremere  143. 
Quesnay  300. 
Quintus  79.  84. 
Quittenbaum  403. 

Rachid  Eddin  Ibn  Aszuri 

151. 
Rafael  Sanzio  242.  270. 
Ragenifrid  166. 
Ramus,  P.  278. 
Ranuccius  188. 
di  Rapallo,  B.  253. 
Rasori  382. 
Rathke  386. 
Rau,  J.  J.  354. 
Ray,  J.  286. 
Rayer  395. 
Redi,  F.  286.  305. 
Regters,  T.  338. 
Reichert  386. 
Reiff,  W.  256. 
Reil,  J.  C.  383.  395.  476. 
Reinak  386.  395. 
Rembrandt  317.  337.  338. 
Remelin,  Joh.  336. 
Renan,  E.  419. 
Renaudot,  Th.  343. 
Reni,  G.  269.  317. 
Renzi,  S.  de  166.  168.  169. 

219. 
Reoval  160. 
Reuchlin  243. 
Reussner  307. 
Rhazes  99.  138.  140.  146. 

154.  201.  268. 
Richardus  207. 
Richelieu  343. 
Richer  163.  167. 
Richter,  A.  G.   353.    355. 
Ricord  395. 
Ridley,  H.   297.  309. 
Ristorio  d'Arezzo  237. 
Riva,  G.  339. 
Rivinus,  Q.  296. 
Robiquet  398. 
Rochlitz,  Dedo  v.   227. 
Rodolfus   167. 
Roederer  359. 
Röschlaub  382. 


Röslin,  E.  256. 
Roger  174. 

Rokitansky  367.  393.  395. 
Rolando  173. 
Rolfink,  W.   332. 
Romberg  395. 
Rondelet  246.  273. 
Roonhuvse,   H.  von   315. 

357. 
Rosa,  Salvator  317. 
Rose  378. 
Rosenmüller  387. 
Rossi  de  271. 
Rousseau  319. 
Rousset  254. 
Rubens  317. 
Rudbeck  299. 
Rudolf,    Kronprinz     von 

Oesterreich  512. 
Rudolphi  372.  47& 
Rueff,  J.  256. 
Rufus  42.  84.  86.  93.  170. 
Ruggiero  173. 
Rumford  381. 
Runge  398. 
Ruysch,  F.  295.  296.  297. 

335.  337.  357. 

Sabatier  434.  436. 
Sabinus  263. 
Sabur  Ben  Sahl  146. 
Saladin  v.  Asculo  212. 
Saleh  ben  Baleh  135. 
Saliceto,  Wilhelm  v.  205. 

224. 
Salimbeni  205. 
Salisbury,    Joh.    de    180. 

191.   203. 
Salles  433. 
Salomon  24. 

Salomonus  Ebraeus  168. 
Salvianus  118. 
Samachschari  142. 
Sanchez,  R.  342. 
Sanctorius  289.  301.  308. 
Sandifort  338. 
Sanson  403. 
Santo,  Mariano  253. 
Santorini  297.  298.  336. 
Sarto,  Andrea  del   271. 
Satyrus  79.  84. 
Savary  292. 
Saviard   312. 
Savigny  314. 
Savonarola  237. 
Scarpa  385.  406. 
Schacht,  L.  342. 
Schaprout,  Chasdai  178. 
Scheele  288. 


Register. 


521 


Scheiner  303. 
Schelling  366. 
Scherer  388. 
Scheuchzer  369. 
Schiller  366. 
Schimper  369. 
Schieiden  370. 
Schmid,  K.  165. 
Schmidt,  Ad.  355.  405. 
Schmucker  312.  313. 
Schneider,  C.  V.  295. 
Schönlein  394. 
Schopenhauer  366. 
Schrevelius,  E.  341. 
Schröder  v.  d.  Kolk  395. 
Schultze,  M.  386. 
Schulze,  J.  H.  317.  330. 
Schwann  370.  386. 
Schweigger  378.  380. 
Scipio  Africanus  101. 
Scottus,  Michael  168. 
Scoutetten  401. 
Scribonius  Largus  89. 
Seckendorff  328. 
le  Secq,  Eob.  282. 
Sedillot  403. 
Seebeck  380. 
Seguin  398. 
Seleucus  95. 
Seleukos,  Nikator  65. 
Selligue  382. 
Semmelweiss  407. 
Senac  296.  309. 
Senebier  370. 
Seneca  71.  107. 
Senfft  325. 
Serapion  68. 
Serenus    Samonicus    Qu. 

128. 
Sergius  80.  133. 
Serres  395. 
Sertürner  398. 
Servet  248.  250.  258.  264. 

281.  298. 
Servin  282. 
Seth,  Simon  129. 
Seutin  402. 
Severus  80. 
Sextius  Niger  89. 
Sextus  Placitus  Papyren- 

sis  128. 
Siebold  357. 
Siebold  C.  C.  325.  354. 
Siegemund,  Justine    357. 
Siegmund,  Kaiser  234. 
Sigrdrifa  157. 
Sigurdr  157. 

Simon  v.  Genua  100.  237. 
Simon,  Gr.  407. 


Simon,  O.  403. 

Simpson  400.  401. 

Sims,  Marion  407. 

Sinclair  289. 

Sivert  334. 

Sixtus  IV.,  Pabst  208. 

Skoda  392.  394. 

Slevogt  316. 

Sloane,  H.  339. 

Snell  291. 

Snorri  Sturluson  158. 

Sobieski,  Joh.  335. 

Sobki  153. 

Sömmering  339.  385.  390. 

Sofia,  S.  di  209.  237. 

Sokrates  43.  54.  61. 

Solano  de  Luques  308. 

Solingen,  Com.  313. 

Sonnerat  371. 

Sophokles  43. 

Soranus  44.  100.  101.  118. 

128.  163. 
Sostratus  96. 
Soubeyran  400. 
Soupart  401. 

Spallanzani  301.  305.  310. 
v.  d.  Spigel  249.  271. 
Spinoza  152.  318. 
Sprengel  32.  166. 
Spurzheim  395. 
Stahl  288.  307.  324.  383. 
Stainpeis,    M.    201.    202. 

211.  214. 
Stalpert  v.  d.  Wiel  311. 
Stengel  329. 
Steno,  N.   285.   295.  296. 

297.  298.  301.  302. 
Stephanus  132. 
Sterne,  L.  358. 
Stertinius   106.    111.  112. 
Steubing  327. 
Stevinus  289. 
Stilling,  B.  385. 
Stobaeus  65. 
Stobbe  330. 
Störck,  A.  311. 
Stokes  394. 
Stoll,  M.   334.    338.    344. 

345.  392. 
Strabo  110. 
Straten,  W.  v.  d.  342. 
Stratokies  95. 
Stratonicus  79. 
Stromeyer  403. 
Stryk  328. 
Suidas  81. 
Susruta  7—12. 
Swammerdam    286.    296. 

300.  305. 


Swieten,  G.  van  342.  344. 

355.  449.  450. 
Swift  319. 
Sydenham  307. 
Sylvaticus,    Matth.    211. 

237. 
Sylvius  248.  281. 
Sylvius  (de  le  Boe)  306. 

307.  342. 
Syme  401.  402. 
Symmachus  95. 
Symmachus,  Pabst  217. 

Tacitus  156. 

Tagliacozzi  255.  256.  404. 

Talbot  381. 

Taranta  237. 

Tardieu  408. 

Tartaglia  246. 

Tenon  433. 

Tertullian  76. 

Teta  21. 

Tetulus  Graecus  168. 

Textor  402. 

Thaddaeus ,     Florentinus 

185.  237.  268. 
Thaün,  Philipp  von  165. 
Theden  312. 
Themison  77. 
Thenard  378. 
Theodocus  132. 
Theodorich  120. 
Theodorich  II.  160. 
Theodorus  Priscianus  102. 

103.  128. 
Theokrit  64. 
Theophanes  98. 
Theophanes  Nonnus  129. 
Theophilus    Protospatha- 

rius  170. 
Theophrastos  90. 
Theopompos  41. 
Thessalos  43.  58.  84.  104. 
Thibault  281. 
Thilenius  315. 
Thomasius  324.  328. 
Thrita  28. 
Thukydides  43. 
Tiedemann  372.  385. 
Timon  69. 
Tizian  271. 

Touche,  G.  de  la  355. 
Tournefort  339. 
Tornamira  237. 
della  Torre  237.  27,0. 
Torricelli  289. 
Torrigiano  237. 
Toth  17. 
Toynbee  405. 


522 


Register. 


Traube  392.  394.  395. 
Tribimus  121. 
Triller  317. 
Trithemius  243. 
Trost,  Corn.  338. 
Trotula  169.  174. 
Trousseau  394. 
Truchsess,  0.  v.  263. 
Trusianus  201. 
Tiyphon  96. 
Tudela,     Benjamin     von 

170.  179. 
Tulp  315.  337.  338. 
Ibn  Tulun  147. 
Turquet  de  Mayerne  287. 

Uarda  21. 

Ulrich  von   Würtemberff 
275.  6 

Unger  370. 

Valens  111. 
Valentin  386. 
Valentinian  111.  117.  126. 
Valleix  395. 
Valleriola  261. 
de  la  Valliere  356. 
Vallisneri  305. 
Valsalva    298.    304.    309 

338. 
Valverde  deHamusco271. 
Varignana,  B.  237. 
Varolio  249.  271. 
Varro  Terentius  78. 
Vasco  de  Gama  260. 
Vauquelin  376. 
Veiel  402. 
Velasquez  317. 
Velpeau  387. 
Venel  314. 
Vesalius    247.    248.    249. 

250.  259.  271.  272.  273. 

274.  275.  278.  281. 
Vespasian  109. 


Vetter  393. 
Vicq  d'Azyr  372. 
Vieussens   296.   297.  298. 

300.  309.  332. 
Villanova,  Arnald  v.  179. 

230.  235.  237. 
Vindicianus  128. 
Virchow    122.    215.    217. 

393.  505. 
Visconti,  G.  189. 
Vitalis  Ordericus  167. 
Vitolf  158. 
Vogel,  E.  A.   345. 
Volkmann  388. 
Volta  377.  379. 
Voltaire  318.  319. 

Wagner,  R.  386. 
Waimar  166. 
Walafridus    Strabo     163 

165. 
Waidenburg  389. 
Wall  292. 
Wallace  374. 
Wallerius  368. 
Walter,  J.  G.  335. 
Walter  211. 
Walther  197. 
Wandelaer,  J.  337. 
Warner  312. 
Weber,  Ed.  389. 
Weber,  E.  H.  388. 
Weber,  W.  389. 
Weikard  325. 
Weiss  368. 
Weitbrecht  295. 
Welcker  87. 
El    Welid    Ben    Abd-el- 

Malik  145. 
Wentzel  315.  355.  405. 
Wepfer,   J.   J.   297.   309. 

311. 
Werlhof    307.    324.    338 

343. 


Werner,  A.  G.  368. 
Wescher  59. 
Wharton  296. 
Whistler  307. 
White  313.  402. 
Whytt  303. 
|  Wilhelm  von  Bayern  266. 
Wilhelm  d.  Eroberer  167. 
Wilhelm  von  Montpellier 

179. 
Winkler,  J.  H.  292. 
Wilde,  W.  R.  405. 
Willan  395. 
Willis  297.  302.  303.  306. 

307.  311. 
Wilson,  E.  395. 
Winslow  296.  334. 
Wintarus  160. 
Wintrk-h  392. 
Wirsung  296. 
Wöhler  378.  379.  388. 
Wolff,  C.  F.  306. 
Wolff,  Christian  319. 
Wollaston  377.  381. 
Wood,  A.  399. 
Woolhouse  315. 
Worcester  292. 
Worm,  O.  295. 
Wrisberg  298. 
Wunderlich  392.  393.  505. 
Würtz,  F.  282. 
Wüstenfeld  143.  144.  153. 

Xenokrates  92. 
Xenophon  58.  422. 

Young  381. 
Yperman,  J.   226.  229. 

Zerbi,  G.  247. 

Zeuxis  67. 
Ziemssen  505. 
Zinn  298. 


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