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GESCHICHTE
DES
MEDICINISCHEN UNTERRICHTS.
Verlag von VEIT & COMP, in Leipzig.
Geschichte
des
gelehrten Unterrichts
auf den deutschen Schulen und Universitäten
vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart.
Mit besonderer Kücksicht
auf den klassischen Unterricht.
Von
Friedrich Paulsen,
Professor an der Universität Berlin,
gr. 8. 1885. geh. 16 J6. s
„Dieser Utraquismus unserer Gymnasien, die mit dein hergebrachten Unter-
richt in den alten Sprachen den Unterricht in den neuen Wissenschaften und in
den modernen Sprachen verbinden wollen, ist auf die Dauer nicht zu halten.
Eine Rückbildung in der Richtung der alten Lateinschule hat sich als unmög-
lich erwiesen, und so bleibt nur die Umbildung auf Kosten der alten Sprachen.
Lateinisch zu verstehen wird zwar unentbehrlich bleiben, aber das, was man
gegenwärtig „klassische Bildung" nennt, wird einmal für die Mehrzahl unserer
Gelehrten aufhören, die Grundlage ihrer wissenschaftlichen Bildung zu sein."
Der Verfasser gelangt zu dem Resultat: „Die geschichtliche Entwickelung
in den letzten drei Jahrhunderten läßt sich als allmähliche Loslösung einer
selbständigen und eigentümlichen modernen Kultur von der antiken Kultur be-
schreiben; wie die reifende Frucht von dem Stamme sich löst, auf dem sie ge-
wachsen ist, so ist die geistige Bildung der abendländischen Völker in stetigem
Fortschritt aus dem Altertum hervor- und herausgewachsen. Der gelehrte Unter-
richt ist der allgemeinen Kulturentwickelung beständig, wenn auch in einigem
Abstände gefolgt. Wenn diese Deutung der historischen Thatsachen nicht gänz-
lich fehlgeht, so wäre hieraus für die Zukunft zu folgern, daß der gelehrte
Unterricht bei den modernen Völkern sich immer mehr einem Zustande annähern
wird, in welchem er aus den Mitteln der eigenen Erkenntnis und Bildung dieser
Völker bestritten werden wird."
Berger, Hugo, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde bei
den Griechen. Erste Abtheilung. Die Geographie der Jonier.
gr. 8. 1887. geh. 4 M.
Hirschberg, J., Professor a. d. Univ. Berlin. Wörterbuch der
Angenheilkunde. gr. 8. 1887. geh. 5 Ji.
Dieses Wörterbuch ist für alle Diejenigen, welche sich für die Geschichte
der Medicin interessieren, sowie für Philologen von ebensolcher Wichtigkeit, wie
für Augenärzte.
Magnus, Hugo, Professor a. d. Univ. Breslau, Die Anatomie des
Auges bei den Griechen und Römern, gr. 8. 1878. geh. 2^40^.
Die geschichtliche Entwickelung des Farbensinnes, gr. 8.
1877. geh. 1 Ji 40 $r.
Geschichte des grauen Staares. Mit 1 lithographirten Tafel.
gr. 8. 1876. geh. 8 Ji.
Meyer, Ernst von, Professor a. d. Univ. Leipzig, Geschichte der
Chemie von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. 2jugleich
Einführung in das Studium der Chemie, gr. 8. 1889. geh. 9 Ji.
GESCHICHTE
DES
MEDICINISCHEN UNTERRICHTS
VON DEN ÄLTESTEN ZEITEN BIS ZUR GEGENWART.
Von
Dr. med. THEODOR PUSCHMANN,
O. Ö, PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT ZU WIEN.
LEIPZIG,
VERLAG VON VEIT & COMP.
1889.
n**7
Druck von Metzger & Wittig iu Leipzig.
Vorwort.
Die vorliegende Arbeit ist der erste Versuch einer zusammen-
'ö
hängenden Darstellung der Geschichte des medicinischen Unterrichts.
In der Literatur wurden bisher nur Bruchstücke derselben niedergelegt,
welche die Entstehung und Entwickelung einzelner medicinischer Schulen
und Anstalten, die Lehr -Meinungen und Unterrichts -Methoden, die
dabei wirkenden Personen und ihre Leistungen behandeln. Diese Nach-
richten mussten gesammelt, geprüft und mit einander verglichen werden,
wenn sie als haltbare Stützen des Werkes verwendet werden sollten.
An einzelnen Stellen fehlten verlässliche und ausführliche Mittheilungen;
die Documenta, welche darüber Aufschluss geben, liegen vielleicht noch
unerschlossen in den Archiven und Bibliotheken. Ich muss mich be-
schränken, darauf hinzuweisen, wo die Quellen spärlich fliessen oder
gänzlich versiegen, und es späteren Forschungen überlassen, hier den
Boden aufzugraben und das Material für die Lösung der Fragen zu-
sammenzutragen, welche nicht beantwortet werden konnten.
Die Geschichte des medicinischen Unterrichts hat nicht blos für
die Geschichte der Heilkunde und des Erziehungswesens, sondern für
die Culturgeschichte überhaupt eine grosse Bedeutung; denn sie ergänzt
sie und bildet eigentlich einen zugehörigen Theil derselben. Aus diesem
Grunde habe ich mich für verpflichtet und berechtigt gehalten, die
Beziehungen, welche mein Thema zur allgemeinen Cultur-Entwickelung
hat, sorgfältig zu verfolgen und darzulegen; manche Thatsache, welche
losgelöst von den Bestrebungen ihrer Zeit räthselhaft und wunderbar
erscheint, erhält dadurch eine klärende Beleuchtung.
Wenn ich diese Gelegenheit benutzt habe, um mehrere Irrthümer,
welche sich in den Lehrbüchern der Geschichte der Medicin eingebürgert
vi Vorwort.
haben, zu berichtigen, und einige Thatsachen hervorzuheben, die bisher
unbeachtet geblieben sind, so wird der wissenschaftliche Werth meines
Buches dadurch sicherlich nicht beeinträchtigt.
Eine angenehme Pflicht erfülle ich, indem ich den Herren Mini-
sterial-Rath Dr. B. von David und Sektionsrath Dr. von Kleemann
in Wien, Geh. Ober-Med.-Bath Dr. Keesandt und Geh. Ober-Regierungs-
Rath Dr. Althoef in Berlin, Medicinal-Rath Dr. Geissler in Dresden,
Regierungs-Rath Dr. Bumm in München, Dr. von Riedel, Leibarzt
I. M. der Königin von Spanien in Madrid, Prof. Dr. Serra de Mirabeau
in Lissabon, Prof. Dr. A. Corradi in Pavia, Prof. Dr. Albini in Neapel,
Prof. Dr. Anagnostakis in Athen, Prof. Dr. Felix in Bukarest, Prof. Dr.
von Wini warter in Lüttich, Dr. Daniels in Amsterdam, Prof. Dr.
Petersen in Kopenhagen, Prof. Dr. H. Keiberg- in Christiania, Prof. Dr.
Hedenius in Upsala, Prof. Dr. Rauber in Dorpat, Prof. Dr. Kollmann
in Basel, Geh. Rath Prof. Dr. Hegar in Freiburg i/Br., Geh. Rath
Prof. Dr. Schultze in Jena, Prof., Dr. Eckhard in Giessen, Prof. Dr-
Oesterlen in Tübingen, Prof. Dr. W. Krause in Göttingen, Prof.
Dr. Ueeelmann in Rostock, Prof. Dr. G. Ebers in Leipzig, Prof. Dr.
Bühler und Heinzel in Wien, sowie den Vorständen und Beamten
der Bibliotheken zu Paris, London, München und Wien meinen er-
gebensten Dank ausspreche für die wohlwollende Förderung meines
Unternehmens.
Wien, im April 1889. Der Yerfasser.
Inhalts -Übersicht.
Seite
Einleitung 1
I. Der medicinisc he Unterricht im Alterthum 6
Indien 6
Ägypten 15
Bei den Israeliten 22
Bei den Parsen 27
Bei den Griechen vor Hippokrates 29
Zur Zeit des Hippokrates 40
In Alexandria 61
Die Medicin in Rom 70
Der medicinische Unterricht in Eom 82
Der ärztliche Stand in Eom 102
IL Der medicinische Unterricht im Mittelalter 113
Der Einfluss des Christenthums 113
Die arabische Cultur 130
Medicinische Wissenschaft und medicinischer Unterricht bei den Arabern 137
Die Medicin der Germanen und der Unterricht in den Klosterschulen 156
Die Schule von Salerno 166
Die medicinische Schule zu Montpellier 178
Die ältesten Hochschulen Italiens 185
Die ältesten Hochschulen in Frankreich 190
Die übrigen Universitäten Europas im Mittelalter 194
Die Bildung der Arzte im Allgemeinen 199
Der Unterricht in der Anatomie 203
Der Unterricht in der Arzneibereitung und der ärztlichen Praxis . 211
Die ärztlichen Prüfungen 219
Die Chirurgie und Geburtshilfe 223
Der ärztliche Stand und die medicinische Literatur jener Zeit . . . 232
III. Der medicinische Unterricht in der Neuzeit 239
Der Charakter des 16. Jahrhunderts 239
Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin
und die Fortschritte der Wissenschaft 247
Die Universitäten im 16. Jahrhundert 261
Der medicinische Unterricht 268
Der ärztliche Stand und seine Stellung zu den Bewegungen des
16. Jahrhunderts 280
viii Inhalts - Übersicht.
Seit«
Die experimentelle Richtung der Naturwissenschaften, der Physik und
Chemie während des 17. Jahrhunderts 285
Die mikroskopische Forschung in der Anatomie und das Experiment
in der Physiologie 294
Die Fortschritte in den übrigen Theilen der Heilkunde während des
17. und 18. Jahrhunderts 306
Der Charakter jener Zeit in der Kunst und Philosophie 317
Die gelehrten Gesellschaften und Universitäten im 17. und 18. Jahr-
hundert 320
Der medicinische Unterricht in den theoretischen Fächern, sowie in
der Anatomie, Botanik, Chemie und Arzneimittellehre . . . . 329
Der klinische Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert 341
Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe . 347
Der medicinische Unterricht am Schluss des 18. Jahrhunderts und der
ärztliche Stand 359
IV. Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit .... 365
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts . . 365
Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren 374
Die medicinischen Systeme und die Fortschritte in der Anatomie und
Physiologie 382
Diagnostik, pathologische Anatomie und experimentelle Pathologie,
Nosologie und Heilmittellehre 391
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Staatsarzneikunde . . 399
Der medicinische Unterricht in der Gegenwart 409
England. — Nord-Amerika 412
Frankreich 433
Österreich-Ungarn 448
Die deutschen Mittel- und Kleinstaaten vor der Gründung des
Deutschen Reiches 463
Preussen und das jetzige Deutsche Reich 471
Italien 482
Spanien und Portugal 484
Holland und Belgien 486
Schweiz , 488
Dänemark. — Norwegen. — Schweden 490
Russland 492
Griechenland und die christlichen Länder der Balkan-Halbinsel . 493
Schlussbetrachtungen 495
Einleitung.
Quis nescit, primam esse historiae legem, ne quid
falsi dicere audeat, deinde ne quid veri non audeat,
ne qua suspicio gratiae sit in scribendo , ne qua
simultatis.
Cicero, de oratore II, 15.
Die historische Entwicklung des medicinischen Unterrichts zeigt
den gleichen Charakter wie die Geschichte der Heilkunde überhaupt.
Die Noth, die erfinderische Lehrerin der Menschen, gab, wie schon
Hippokrates l sagt, die Veranlassung, dass die ersten Heilversuche an-
gestellt wurden. Die kampfeslustige Lebensweise der rohen Naturvölker,
deren Lieblingsbeschäftigung die Jagd und der Krieg waren, führte
Verletzungen herbei, gegen welche Hilfe gesucht wurde. Mitleidige
Freunde und Kampfesgenossen brachten Linderung der Schmerzen, indem
sie die Wunden auswuschen und mit kühlenden Kräutern bedeckten.
Bald begannen Einzelne, die Heilkräfte der Pflanzen zu erforschen
und ihre Erfahrungen auf diesem Gebiet zum Besten der Angehörigen
ihres Volkes zu verwerthen. Waren sie mit der Gabe ausgestattet, die
Natur zu beobachten, und bot sich ihnen die Gelegenheit dazu, so
werden sie vielleicht den Versuch gemacht haben, das Wiesen der Ver-
letzungen, die sie zu behandeln wagten, zu ergründen. Auf diese Weise
bildete sich allmälig eine Art von Ärzten, welche sich auf empirischem
Wege eine bemerkenswerthe Gewandtheit in der Heilung äusserer Schäden
aneigneten.
Bei inneren Leiden, namentlich aber bei Epidemien, deren Ursachen
nicht so deutlich zu erkennen sind, wie die der äusseren Verletzungen,
wandte man sich an Diejenigen um Kath, die in jener frühen Cultur-
periode als die Vertreter alles Wissens2 galten, an die Priester. Von
1 Hippokrates, Ed. Littre. Paris 1839. T. I, p. 574.
2 „Das Sanskritische vaidja von vid, wissen, und das Lateinische medicus
von inedh, weise sein, zeigen an, dass der Arzt seine Benennung von seiner
Einsicht erhalten hat," Ch. Lassen: Indische Alterthumskunde , London und
Leipzig 1874, Bd. II, S. 517. — Vergl. Ad. Pictet: Etymologische Forschungen
über die älteste Arzneikunst bei den Indogermanen in der Zeitschrift für ver-
gleichende Sprachforschung, Bd. V, S. 24 u. ff., Berlin 1856.
Puschmann, Unterricht. \
Einleitung?
ihnen erwartete man um so eher Hilfe, als die Entstehung dieser
Krankheiten, weil sie dunkel und räthselhaft war, den überirdischen
Gewalten zugeschrieben wurde.
Die Priester bemühten sich, durch Gebete und Opferungen den
Zorn der Götter zu versöhnen und ihr Wohlgefallen zu erringen. Sie
flössten dadurch den Kranken Hoffnung und Vertrauen ein und wen-
deten im Übrigen eine exspectative Behandlungsmethode an. Dabei
konnte ihnen nicht entgehen, dass die Erfolge nicht immer den Er-
wartungen entsprachen und häufig gerade dann ausblieben, wenn, wie
bei verheerenden Seuchen, die öffentliche Aufmerksamkeit darauf ge-
richtet war. Wollten sie die Schwächung ihres Ansehens, die dadurch
herbeigeführt wurde, vermeiden, so mussten sie trachten, durch diäte-
tische und medicamentöse Verordnungen einen grösseren Einfluss aul
den Verlauf der Krankheiten zu gewinnen. Dazu bedurften sie medi-
cinischer Kenntnisse, die sie sich durch die sorgfältige Beobachtung der
Krankheitserscheinungen und durch die Erforschung ihrer Ursachen und
Heilmittel zu erwerben suchten. Im Verlauf der Zeit sammelten sie
eine Summe von Erfahrungen, die in mündlicher oder schriftlicher Über-
lieferung auf die späteren Geschlechter gelangten und von ihnen mehr
und mehr vervollständigt wurden.
Die Ausübung der Heilkunst geschah nun nach bestimmten Regeln,
und ihre Erlernung erfolgte in systematischer Weise. Die Mediän
wurde eingereiht in die Zahl der Unterrichtsgegenstände, welche in den
Tempelschulen gelehrt wurden, und die Priester sorgten dafür, dass das
errungene ärztliche Wissen mit den religiösen Vorstellungen, welche
den Volksglauben beherrschten, derartig verbunden wurde, dass die letz-
teren als massgebend für die Behandlung der Krankheiten erschienen.
Dieselben wurden aber zurückgedrängt, als die fortschreitende Erkenntniss
dazu aufforderte, sie ohne jede Voreingenommenheit kritisch zu prüfen.
Mit ihrer Beseitigung vollzog sich die Emancipation vom religiösen
Einfluss und die Entstehung eines selbstständigen ärztlichen Standes.
Die Vertreter desselben vereinigten die aus den Tempelschulen
übernommenen medicinischen Kenntnisse mit den ärztlichen Erfahrungen
der Empiriker. Sie beschränkten sich nicht, wie die Priester, vorzugs-
weise auf die Behandlung der inneren Leiden, sondern befassten sich
auch mit der Chirurgie und Geburtshilfe.
Diese Verschmelzung der inneren und äusseren Medicin, wie sie
von den Hippokratikern und überhaupt von den Ärzten der griechisch-
römischen Culturperiode zum Ausdruck gebracht wurde, wirkte auf beide
Richtungen der Heilkunde anregend und fördernd und führte zu hervor-
ragenden Leistungen. Die bewunderungswürdigen Fortschritte, welche
Einleitung.
die Heilkunde, namentlich die Chirurgie, in Alexandria und Rom machte,
gewähren einen Ausblick auf Das, was noch erreicht worden wäre, wenn
die politischen Umwälzungen, die mit dem Zerfall des römischen Reiches
zusammenhingen, die weitere Entwickelung der Medicin wie aller übrigen
Wissenschaften und Künste nicht gehemmt hätten.
Die auf einer niedrigen Culturstufe stehenden Völker, welche da-
mals die Weltbühne betraten, mussten das in den vorangegangenen
Zeiten errungene Wissen erst in sich aufnehmen, bevor sie daran denken
durften, dasselbe durch eigene Entdeckungen und Erfindungen zu ver-
mehren. Während des nächsten Jahrtausends erfolgte die geistige Ent-
wickelung nicht in der Höhendimension, sondern in der Breitendimen-
sion; die Summe des Wissens wurde nicht wesentlich vermehrt, aber
es verbreitete sich über eine grössere Fläche der bewohnten Erde.
Selbst im Orient, wo sich die Traditionen verschiedener Cultur-
perioden mit dem Thatendrang eines die höchsten Ziele anstrebenden
jugendfrischen Volkes verbanden, hat man wenigstens in der Heilkunde
keine Schöpfungen hinterlassen, welche dauernd waren und auf die
weitere Gestaltung dieser Wissenschaft einen tiefgreifenden Einfluss aus-
übten. Die arabische Medicin ist daher nichts weiter als eine freilich
grossartige Episode in der Geschichte der Heilkunde.
Im Abendlande übernahmen die Priester wiederum das Lehramt
der Medicin. Die romanischen und germanischen Völker wurden zu
dem Glauben bekehrt, dass die christliche Kirche nicht blos die Wahr-
heiten des himmlischen Lebens, sondern auch das Wissen dieser Welt
besitze und bewahre. Der Klerus vereinigte in sich alle Gelehrsamkeit
der damaligen Zeit, und die Klöster wurden die Schulen der Mensch-
heit. Die Ausübung der Heilkunst hatte für die Geistlichen jedoch
manche Unzuträglichkeiten im Gefolge; die Rücksichten auf ihren
Stand verboten ihnen die Ausführung chirurgischer Operationen, weil
durch deren Misslingen der Tod der Patienten herbeigeführt werden
konnte, und hielten sie zurück von der Behandlung der Frauen-
krankheiten.
Es war daher begreiflich, dass sich neben ihnen eine Kategorie
von Ärzten erhielt und weiter entwickelte, welche nicht dem geistlichen
Stande angehörten. Hierzu zählte man auch die zahlreichen jüdischen
Ärzte, welche sich in den christlichen Ländern niederliessen und wegen
ihrer mit gründlichem Wissen * verbundenen praktischen Tüchtigkeit
sehr geschätzt waren, ebenso wie jene Elemente, welche im europäischen
Süden mit der arabischen Heilkunde bekannt geworden waren. Die
letzteren spielten bei der ersten Gründung selbstständiger ärztlicher
Schulen, zu Salerno und Montpellier, eine hervorragende Rolle, während
Einleitung.
der christliche Klerus auf die Entstehung der ältesten Universitäten
und ihre Einrichtungen einen massgebenden Einfluss ausübte.
Die Universitäten, welche fortan als Sammelpunkte der gelehrten
Bildung dienten, rechneten auch die ärztliche Erziehung zu ihren Auf-
gaben; aber sie berücksichtigten dabei nur die theoretisch-wissenschaft-
liche Seite derselben und vernachlässigten ihre praktischen Ziele. Diese
Lücke der ärztlichen Bildung musste durch den Besuch der Spitäler
oder durch die persönliche Unterweisung eines erfahrenen Praktikers
ergänzt werden, wenn die jungen Doktoren das Vertrauen ihrer Kranken
erlangen wollten.
Ausser diesem Umstände hatte der geistliche Ursprung der Uni-
versitäten die Folge, dass der dort erth eilte medicinische Unterricht
vorzugsweise die inneren Krankheiten in den Kreis der Betrachtung
zog. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, dass neben den gelehrten
Ärzten ein Heilpersonal bestand, welches sich der Chirurgie und der
Behandlung der äusseren Schäden widmete. Die Ausbildung dieser
Wundärzte war eine handwerksmässige und nahm in der Barbierstube
ihren Anfang; aber sie schuf Ärzte, welche mit den Bedürfnissen der
Praxis vertraut waren und den Kranken zu helfen verstanden.
Die Chirurgen und Ärzte trennte Anfangs eine tiefe sociale Kluft,
welche jedoch ihre Berechtigung verlor, je mehr die ersteren bestrebt
waren, ihre Allgemeinbildung zu erhöhen, und durch originelle Leistungen
zur wissenschaftlichen Entwickelung der Heilkunde beitrugen. Einige
derselben haben bahnbrechende Arbeiten geliefert, welche ihren Namen
in der Geschichte der Chirurgie verewigt haben. Vorurtheilsfreie, klar
denkende Ärzte erkannten die Vorzüge, welche die chirurgische Bildung
bot, und suchten dieselbe mit ihrer eigenen zu vereinigen. Aber sie
waren in früheren Jahrhunderten nur vereinzelte Ausnahmen; denn die
Scheidung der Ärzte in Chirurgen und Medianer erhielt sich bis in
die neueste Zeit, wenn auch die socialen Unterschiede früher ausgeglichen
wurden.
Dagegen entwickelte sich allmälig eine höhere und eine niedere
Kategorie des Heilpersonals, von denen die erstere die graduirten Ärzte
und Chirurgen, die letztere die sogenannten Landärzte und niederen
Wundärzte umfasste. Dieselben bestehen in manchen Ländern noch
jetzt, während in anderen, z. B. in Deutschland und Österreich, nur
noch eine einzige, die verschiedenen Zweige gleichmässig berücksich-
tigende, die höchste medicinische Bildung besitzende Klasse von Ärzten
existirt.
Die Schicksale des ärztlichen Standes haben eine grosse Bedeutung
für den Inhalt und die Formen des medicinischen Unterrichts. Die
Einleitung.
sociale Stellung der Ärzte bestimmt das Maass von Allgemeinbildung*,
welche von ihnen verlangt wird.
Die Ansprüche, welche an ihr fachmännisches Wissen and Können
gestellt werden, sind abhängig von der Summe der Thatsachen und
Lehren, die den Inhalt der Heilkunde darstellen. Sie legen ein un-
zweideutiges Zeugniss ab für die letzteren und berichtigen, bestätigen
und ergänzen dadurch die Geschichte dieser Wissenschaft.
Die Form und Methode des medicinischen Unterrichts richtet sich
eben so sehr nach den allgemeinen Culturverhältnissen, als nach dem
Zustande der Heilkunde. Das Zeitalter der Scholastik verlangte, dass
die medicinischen Theorien, welche in den Hörsälen vorgetragen wurden,
durch die Aussprüche der herrschenden Autoritäten gerechtfertigt wür-
den; auch die darauf folgende Periode begnügte sich mit historischen
und theoretischen Auseinandersetzungen, und erst im 17. Jahrhundert
trat die Beobachtung der Natur und die eigene Untersuchung in den
Vordergrund. Mit dem Aufschwünge der Naturwissenschaften, besonders
der Chemie und Physik, mit der Gründung anatomischer Lehranstalten,
in denen die Schüler Gelegenheit zur Zergliederung menschlicher Leich-
name erhielten, mit der Einführung des klinischen Unterrichts in den
dazu bestimmten Krankenhäusern und der Anleitung der Studierenden
zu eigenem selbstständigen Arbeiten erfuhr die ärztliche Erziehung eine
vollständige Umgestaltung. Die praktischen Demonstrationen und Ver-
suche, welche früher gänzlich gefehlt oder doch nur ausnahmsweise
stattgefunden hatten, bildeten nun einen wesentlichen Theil des medi-
cinischen Unterrichts. Dadurch erhielt er jene breite Grundlage, welche
zu einer harmonischen Ausbildung der Ärzte noth wendig ist, damit
dieselben sowohl zur Ausübung der Heilkunst, als zur wissenschaftlichen
Erforschung derselben befähigt werden.
L Der medicinische Unterricht im Älterthum.
Indien.
Die Wurzeln unserer Cultur liegen im Osten. An den Ufern des
Ganges, in der Nil-Ebene und im meerumflossenen Griechenland blühten
schon vor Jahrtausenden Künste und Wissenschaften und erreichten
eine bemerkenswerthe Entwicklung. Auch die Heilkunst feierte dort
ihre frühesten Triumphe.
Sie wurde in Indien Anfangs von den Priestern ausgeübt, welche
hier wie überall als die Schatzhüter alles menschlichen und göttlichen
Wissens galten.
In den ältesten Schriften der Indier, den Veden, deren Entstehung
in die Zeit vor 600 v. Chr. fällt, erscheinen die Krankheiten als Strafen
erzürnter Gottheiten und Geister oder als Folgen der Zauberkünste
böser Menschen. Zu ihrer Beseitigung wurden Gebete, Opfer und Be-
schwörungen angewendet. Aber schon im Rigveda1 wird auf die Heil-
kraft einiger diätetischer und medicamentöser Mittel hingewiesen.
Je mehr die Summe der medicinischen Kenntnisse und Erfahrungen
wuchs, desto mehr stellte sich das Bedürfniss heraus, die ärztliche
Thätigkeit nicht blos den Priestern, sondern auch den Mitgliedern an-
derer Kasten zu gestatten, wenn sie durch ihr Wissen und Können
dazu befähigt erschienen. So entwickelte sich allmälig ein besonderer
ärztlicher Stand, welcher sich aus den drei höheren Klassen der Ge-
sellschaft ergänzte; nur die verachteten Sudra, die sich durch ihre
Basse-Eigenthümlichkeiten von den eingewanderten Ariern unterschieden,
blieben davon ausgeschlossen. Später bewirkte der nivellirende Einfluss
des Buddhismus, dass auch diese Schranke einigermassen gelockert wurde.
Ausführliche Angaben über die Erziehung der Ärzte finden sich
in den beiden Erklärungsschriften zum Ayur-Veda, welche von Charaka
1 Koth in der Zeitschrift der deutschen morgenländisclien Gesellschaft,
Bd. 24, S. 301 u. ff. und Bd. 25, S. 645 u. ff.
Indien. 7
und Susruta verfasst sind und die ältesten medicinischen Werke der
Sanskrit-Literatur bilden.
Charaka1 giebt den Jünglingen, welche die Heilkunde erlernen
wollen, den Rath, sich einen Lehrer zu suchen, „dessen Lehre lauter
und dessen praktisches Geschick erprobt ist, der gescheidt, gewandt,
rechtlich und unbescholten ist, seine Hand zu regieren weiss, die nö-
thigen Hilfsmittel und alle Sinne hat, vertraut mit den normalen Zu-
ständen und dem Verfahren bei abnormen Verhältnissen, von achtem
Wissen, ungeziert, nicht unfreundlich und aufbrausend, geduldig und
liebreich gegen die Schüler ist."
Für sehr tauglich zum Studium der Heilkunde werden diejenigen
Schüler erklärt, „welche aus einer Familie von Ärzten stammen oder
mit Ärzten verkehren und kein Glied und keinen Sinn zu" wenig haben."
Bei der Aufnahme ermahnte der Lehrer den Schüler, „keusch und
enthaltsam zu sein, die Wahrheit zu reden, ihm in allen Dingen zu
gehorchen und einen Bart zu tragen."
Als die drei wichtigsten Mittel, um medicinische Kenntnisse zu
erwerben, werden genannt: die Lektüre ärztlicher Schriften, die persön-
liche Unterweisung des Schülers durch den Lehrer und der Verkehr
mit anderen Ärzten.
„Wenn der Arzt", sagt Charaka, „von einem bekannten und zum
Eintritt berechtigten Mann begleitet, die Wohnung des Kranken betritt,
soll er wohl gekleidet, gesenkten Hauptes, nachdenklich, in fester Hal-
tung und mit Beobachtung aller möglichen Rücksichten auftreten. Ist
er drinnen, so darf Wort, Gedanke und Sinn auf nichts anderes ge-
richtet sein, als auf die Behandlung des Patienten und was mit dessen
Lage zusammenhängt." „Niemals darf selbst der Kenntnissreichste",
fährt er fort, „mit seinem Wissen gross thun. Viele ziehen sich auch
von einem Fähigen zurück, wenn er zu prahlen liebt. Und die Me-
dian ist wahrlich nicht so leicht zu erlernen. Darum übe sich Jeder
darin sorgfältig und unaufhörlich! Über das Verfahren und die Voll-
kommenheiten des Praktikers kann man auch bei Andern zu lernen
suchen; denn die ganze Welt kann eine Lehrerin Jdes Verständigen
heissen, und nur dem Thoren ist sie feind. Mit Rücksicht darauf darf
er sogar vom Rath des Feindes Wohlstand, Ehre und Leben erwarten
und darnach handeln."
Dringend empfiehlt er den Umgang mit anderen Ärzten. „Denn
die Unterredung mit einem Fachgenossen vermehrt die Kenntnisse,
1 Samhita III, 8, nach R. Roth's Übers, in der Zeitschr. der deutschen morgen-
länd. Ges. 1872, Bd. 26, S. 445 u. ff.
8 Der medioinisehe Unterricht im Alterthum.
macht Vergnügen, fördert die Erfahrung, giebt Redegewandtheit und
verschafft Ansehen. Wer über Erlerntes unsicher ist, dessen Zweifel
werden durch die wiederholte Belehrung gehoben, wer jene Unsicher-
heit und Zweifel nicht hat, dessen Urtheil wird befestigt. Auch be-
kommt man oft etwas zu hören, was man bisher nicht wusste. Mancher
Lehrer kann sich hinreissen lassen, ein zurückgehaltenes Wissen, das
er sonst dem Zögling nur allmälig mittheilt, bei Gelegenheit eines
solchen Redeaustausches mit einem Male preiszugeben."
Bei Susruta1 (Cap. 2) heisst es, dass der Arzt als Schüler den
Sohn eines Brahmanen, sowie eines Ksatrya oder Vaisya (Adeligen
oder Bürgers) von guter Familie annehmen dürfe, wenn derselbe 16 Jahr
alt sei, ein anständiges Betragen zeige, Reinlichkeitsliebe, körperliche
Kraft und Stärke, Verstand, ein tüchtiges Gedächtniss und den Wunsch,
zu lernen und sein Ziel zu erreichen, besitze. „Er muss eine feine
Zunge, schmale Lippen, regelmässige Zähne, ein edles Antlitz, wohlge-
formte Nase und Augen, ein heiteres Gemüth und feinen Anstand haben
uud fähig sein, Mühen und Schmerzen zu ertragen. Wer andere Eigen-
schaften besitzt, soll nicht zum ärztlichen Beruf zugelassen werden." —
Die Aufnahme des Schülers erfolgte an einem Glückstage, und
die damit verbundene Feierlichkeit wurde am Abend, wenn der
Mond und die Sterne am Himmel standen, vollzogen. Sie begann
damit, dass die Götter auf einem Altar, der aus einem 4 Ellen nach
jeder Seite messenden, nach Osten oder Norden gelegenen Erdwall be-
stand und mit Kuhdünger2 und Kusa-Gras (Poa cynosuroides) bedeckt
wurde, durch Opfer von Reis, Blumen und Edelsteinen verehrt wurden,
während die Brahmanen und Ärzte Geschenke empfingen. Hierauf
zeichnete der die Ceremonie leitende Brahmane eine Linie auf der
Erde, besprengte die Stelle mit Wasser und liess den Adepten der
Heilkunde an seiner rechten Seite sitzen. Vor ihnen wurde ein Feuer
angemacht, in welchem nach den religiösen Vorschriften das Holz von
Khadira (Acacia catechu), Palasa (Butea frondosa), Devadaru (Cedrus
deodara) und Vilva (Aegle marmelos), oder von Vata (Ficus Benga-
lensis), Jaina dumbara (Ficus glomerata), Asvattha (Ficus religiosa) und
Madhuka (Bassia latifolia) verbrannt wurde, nachdem es in geronnene
Milch, Honig und abgeklärte Butter getaucht worden war.
Nach der Beendigung des Opfers führte der Lehrer seinen Schüler
dreimal um das Feuer herum und sprach zu ihm, indem er die Gott-
1 The Susruta Samhita ed. by Udoy Chand Dutt, Calcutta 1883 (Biblio-
theca Indica, fasc. 490. 500).
2 Die Kuh galt als heilig.
Indien. 9
heit des Feuers zum Zeugen anrief: „Lege nun ab alle Begierden, den
Zorn, die Habsucht, Thorheit, Eitelkeit, den Stolz und Neid, die Roh-
heit, Betrügerei, Falschheit, Trägheit und alles tadelnswerthe Verhalten.
Deine Haare und Deine Nägel wirst Du jederzeit kurz geschnitten
tragen, ein rothes Kleid anlegen, ein reines Leben führen, wollüstigen
Verkehr vermeiden und Deinem Vorgesetzten gehorchen. Du sollst
dableiben, umhergehen, Dich niederlegen oder niedersetzen, essen und
studieren, wenn ich es befehle, und immer bereit sein, mein Wohl-
ergehen zu fördern. Wenn Du dies versäumst, wirst Du eine Sünde
begehen, und alles Wissen ist Dir unnütz und werthlos. Wenn aber
ich schlecht gegen Dich handele, während Du Deine Pflicht erfüllst,
so begehe ich eine Sünde, und meine Kenntnisse werden keine Früchte
tragen." — Ferner ermahnte er ihn, als Arzt später die Brahmanen,
die Lehrer, die Armen, seine Freunde und Nachbarn, die Frommen,
die Waisen und die fremden Leute, welche fern von ihrer Heimath
sind, unentgeltlich zu behandeln und ihnen Arzneien zu reichen. Da-
gegen soll er Denen, welche auf der Jagd Thiere tödten und Vögel
fangen, sowie den Verbannten und Verbrechern seinen ärztlichen Rath
verweigern. „Wer so handelt, macht sich bekannt als gelehrt und erwirbt
Freunde, Ruf, Tugend, Reichthum und andere wünschenswerthe Dinge."
An bestimmten Tagen durfte der Schüler nicht studieren, z. B. am
8., 14. und 15. Tage des Neu- und Vollmondes; desgleichen war es
ihm verboten, den Studien obzuliegen „in der Dämmerung des Morgens
oder im Zwielicht des Abends, bei Donner und Blitz, wenn dies zu
einer ungewöhnlichen Jahreszeit geschah, zu der Zeit, während der
König des Landes krank darnieder lag, nach dem Besuch einer Brand-
stätte, nach der Theilnahme an einem Begräbniss, während des Krieges,
bei grossen Festen, bei unglücklichen Naturereignissen, z. B. bei Erd-
beben, beim Fall von Meteoren, sowie an solchen Tagen, an denen die
Brahmanen sich des Studiums enthielten, oder er aus irgend welchem
Grunde für befleckt gelten konnte." —
Diesen bisweilen seltsamen Verordnungen lag offenbar der ver-
nünftige Gedanke zu Grunde, den Studierenden die bei ihrer Beschäf-
tigung nothwendige Erholung und Müsse zu verschaffen und sie davor
zu bewahren, dass sie die Unterrichtsgegenstände, wenn ihre Aufmerk-
samkeit durch andere Dinge in Anspruch genommen wurde, in ober-
flächlicher oder unvollständiger Weise in sich aufnahmen.
Suseuta verlangt ferner (Cap. 3), dass die Studierenden der Heil-
kunde sowohl eine theoretische als praktische Bildung erhalten; zuerst
sollen sie die medicinischen Schriften lesen und dann die Ausübung
der Heilkunst erlernen.
10 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
„Wer nur theoretisch gebildet ist," sagt er, „aber unerfahren in
den Einzelheiten der praktischen Behandlung, weiss nicht, was er thun
soll, wenn er einen Patienten bekommt, und benimmt sich so thöricht,
wie ein Feigling auf dem Schlachtfelde. Andererseits wird ein Arzt,
der nur praktisch, nicht aber theoretisch ausgebildet ist, nicht die
Achtung der besseren Männer erringen." „Diese beiden Klassen unge-
nügend vorbereiteter Ärzte sind nicht geeignet zur Praxis, ebensowenig
wie ein Brahmane, der die Yeden nur zur Hälfte gelesen hat, die
kirchlichen Ceremonien verrichten, oder ein Vogel, der nur einen
Flügel hat, in der Luft fliegen kann. Denn wenn die Arzneien von
unwissenden Ärzten gereicht werden, so wirken sie — mögen sie
auch dem Nektar gleichen — wie Gifte oder andere Mittel der Zer-
störung."
Derartige Ärzte erlangen, wie Susruta bemerkt, nur dann die
Erlaubniss zur Praxis, wenn die Regierung sorglos und nachlässig ist.
Der Unterricht bestand darin, dass der Lehrer dem Schüler die
einzelnen Abschnitte aus den medicinischen Schriften so oft vorlas und
von ihm wiederholen liess, bis derselbe sie auswendig wusste. Der
Vortrag sollte „mit lauter und klarer Stimme und deutlicher Betonung
der gesprochenen Worte, die nicht verschluckt oder durch einen nasalen
Ton entstellt werden durften, geschehen."
Der Schüler musste trachten, Das, was ihm gelehrt wurde, nicht
blos mit dem Gehör, sondern auch mit dem Verstände zu erfassen;
denn sonst „gleicht er dem Esel, der eine Ladung Sandelholz trägt
und nur deren Gewicht, nicht aber deren Werth kennt" (Cap. 4). —
Dem Lehrer wurde aufgetragen (Cap. 9), den Schüler auch in der
Ausführung chirurgischer Operationen, in der Anwendung von Salben,
sowie überhaupt in praktischen Dingen zu unterrichten, da „ohne prak-
tische Ausbildung durch das Anhören der Vorlesungen und die Wieder-
holung der Vorträge allein Niemand zur ärztlichen Praxis befähigt
werde."
Einzelne chirurgische Operationen wurden an Früchten, z. B. an
Melonen, die Punktion an Blasen oder ledernen Beuteln, die mit Wasser,
Schlamm oder Lehm gefüllt waren, die Skarifikation an behaarten
Leder theilen, welche aufgespannt wurden, der Aderlass an den Blut-
gefässen todter Thiere oder am Stengel der Wasserlilie, die Unter-
suchung mit der Sonde an wurmstichigem Holz, Bambus, Rohr und
getrockneten Kürbissen, das Ausziehen der Zähne an todten Thieren,
das Öffnen von Abscessen an einem Wachsklumpen, welcher auf ein
Stück Salmali (Holz von Bombax malabaricum) aufgestrichen wurde,
das Nähen der Wunden an dicken Kleidern oder an dem Rande zweier
Indien. 1 1
weicher Lederstückchen, das Anlegen von Verbänden an menschlichen
Figuren, die aus Holz oder Thon angefertigt wurden, die Anwendung
der Ätzmittel und des Glüheisens an weichen Fleischtheilen , und die
Herausbeförderung des Urins aus der Harnblase oder die Entfernung
von Eiter aus dem Becken mittelst Röhren an einem irdenen Topf,
der mit einer Einne versehen und mit Wasser gefüllt war, oder an
einem Kürbiss gelehrt und geübt.
Der Chirurgie wurde in Indien eine hervorragende Beachtung ge-
schenkt. Als Dhanvantaei (Cap. 1) seine Schüler fragte, welche Theile
der Heilkunde er ihnen vortragen solle, antworteten sie: Lehre uns
alle, aber nimm die Chirurgie zur Grundlage Deiner Erörterungen! —
Die indische Medicin hat auf diesem Gebiet bewundernswerthe
Erfolge errungen. Die indischen Ärzte kannten die Amputation, die
Paracentese des Unterleibs, die Laparatomie und Darmnaht, entfernten
den Blasenstein auf operativem Wege, beseitigten den Staar des Auges
durch Niederdrücken der Linse, unternahmen plastische Operationen
und führten die Wendung und Extraktion bei anomaler Kindslage,
sowie den Kaiserschnitt an schwangeren Todten aus.1
Die grosse Anzahl verschiedenartiger Instrumente2 zeigt, wie er-
fahren sie in der chirurgischen Technik waren; man findet darunter
Messer von verschiedener Form, Lanzetten, Schröpf köpfe, Trocarts,
Sonden, röhrenförmige Katheter, Scheeren, Knochensägen, Polypen-
Zangen, Specula u. a. m.
Die Untersuchung des kranken Körpers geschah mit grosser Sorg-
falt. Suseuta (Cap. 10) ermahnte die jungen Ärzte, dabei alle fünf
Sinne zu Rath zu ziehen. „Durch das Gehör kann man z. B. fest-
stellen," schreibt er, „ob der Inhalt eines Abscesses schäumt und Luft
enthält, da die Entleerung desselben in diesem Falle mit Geräusch
verbunden ist, durch das Gefühl erkennen, ob die Haut heiss oder kalt,
rauh oder glatt, dick oder dünn ist, mit dem Gesicht die Corpulenz
oder Magerkeit, die Lebenskraft, Energie und den Wechsel der Farbe
wahrnehmen, durch den Geschmack sich über die Eigenschaften des
L^rins beim Diabetes und anderen Leiden der Harnorgane vergewissern,
und durch den Geruch die manchen Krankheiten eigenthümliche Aus-
dünstung, welche eine verhängnissvolle Bedeutung hat, bestimmen."
„Zu gleicher Zeit muss man den Kranken über den Charakter der
Gegend, in welcher er lebte, über die Jahreszeit, seinen Stand, seine
1 Vullers im Janus, Bd. I, S. 242 u. ff., Breslau 1846.
2 Sehr gut zusammengestellt in T. A. Wise: Eeview of the History of me-
dicine among the Asiatics, London 1867, Vol. I, p. 354 u. ff.
12 Der medicinische Unterjocht im Alterthum.
Befürchtungen, die Art seiner Schmerzen, seine Kräfte, seinen Appetit
und die Dauer seiner Krankheit befragen, hierauf zur Untersuchung
des Urins, der Blähungen und Abgänge, sowie des Menstrualflusses
übergehen und sich auch bei der Umgebung des Patienten nach der
Art seines Leidens erkundigen."
Die indischen Ärzte waren feine Beobachter der Natur. So wussten
sie, dass die Crepitation bei Knochen-Frakturen die Diagnose erleichtere,
und der Urin in manchen Krankheitsfällen (Diabetes mellitus) süss
schmecke,1 längst bevor diese Thatsachen in Europa bekannt wurden.
Die hohe Entwickelung der indischen Heilkunde, besonders der
Chirurgie, erregt umsomehr Erstaunen, als das Studium der Anatomie
und Physiologie gänzlich fehlte oder wenigstens auf falschen Wegen
war. Aus den geringen anatomischen Kenntnissen der indischen Ärzte
geht hervor, dass sie sicherlich niemals Sektionen menschlicher Leich-
name vorgenommen haben; übrigens wurden ihnen derartige Unter-
suchungen durch die Vorschriften der Religion verboten oder mindestens
erschwert. Gleichwohl würdigten sie die Bedeutung der Anatomie für
die praktische Heilkunde und erklärten, dass sich der Arzt eine voll-
ständige Kenntniss des menschlichen Körpers verschaffen müsse, ehe
er die Behandlung der Krankheiten unternehme.
Zur Ausübung der ärztlichen Praxis bedurfte es der Erlaubniss
der Obrigkeit. Bei Suseuta (Cap. 10) heisst es, dass der Schüler der
Heilkunde nach der Beendigung seiner Studien den König bitten müsse,
dass er ihm gestattet, als selbstständiger Arzt aufzutreten. Dabei er-
theilt ihm Susruta noch einige Lebensregeln, welche auf die sociale
Stellung der indischen Ärzte ein merkwürdiges Licht werfen. „Lass
Dir die Haare und Nägel kurz schneiden," schreibt er, „halte Deinen
Körper rein, trage weisse Kleider, ziehe Schuhe an und nimm einen
Stock oder Schirm in die Hand. Dein Äusseres sei demüthig und Dein
Gremüth rein und ohne Arglist. Zeige Dich höflich in der Rede und
freundlich zu allen lebenden Wesen und achte darauf, dass Dein Diener
einen guten Charakter besitzt."
Besondere Vorsicht empfiehlt er ihm, wenn seine Patienten „ge-
lehrte Brahmanen, Fürsten, Weiber. Kinder, alte Männer, furchtsame
Personen, Diener des Königs, schlaue und schwache Personen, Ver-
leumder von Ärzten, arme, elende oder reizbare Menschen, Waisen-
kinder oder Personen sind, welche ihre Krankheiten verheimlichen oder
bei ihren Handlungen nicht beaufsichtigt werden." Sehr ernstlich
1 Vielleicht führte sie die Beobachtung, dass die Ameisen diesen Harn auf-
suchten und genossen, zu dieser Entdeckung? —
Indien. 1 3
warnt er ihn aber davor, „mit Weibern zu klatschen oder zu scherzen
und von ihnen Geschenke anzunehmen ausser etwa Esswaaren."
Ferner giebt er ihm den klugen, wenn auch keineswegs menschen-
freundlichen Rath, „nur solche Personen in Behandlung zu nehmen,
deren Krankheit heilbar ist, alle unheilbaren Krankheitsfälle dagegen
aufzugeben und überhaupt jeden Patienten, der nach Jahresfrist nicht
gesund geworden sei, zu verlassen, weil auch heilbare Leiden nach einem
Jahre gewöhnlich unheilbar würden." —
Chaeaka1 trieb die Vorsicht noch weiter, wenn er den Ärzten
befiehlt, „Leuten, welche beim König oder beim Volk missliebig und
ihrerseits gegen jene verbittert sind, keine Arznei zu verordnen, ebenso-
wenig ausserordentlich missgestalteten, verdorbenen, schwierigen, wilden
und intractabeln Personen, denen nicht zu rathen und zu helfen ist,
und Sterbenden, desgleichen nicht Frauen, ohne dass ihr Herr oder
Aufseher anwesend ist."
Mit Verachtung erfüllt Chaeaka2 seine Schüler vor jenen Leuten,
„welche, im Aufzug eines gelehrten Arztes prunkend, begierig den Ge-
legenheiten zur Praxis nachstreichen. Haben sie von einem Kranken
gehört, so eilen sie herbei, empfehlen vor seinen Ohren ihre ärztlichen
Fähigkeiten und sind unermüdlich in der Aufzählung der Fehler des
behandelnden Arztes. Die Freunde des Patienten suchen sie durch
kleine Aufmerksamkeiten, Schmeicheleien und Einflüsterungen zu ge-
winnen und rühmen ihre eigene Anspruchslosigkeit. Haben sie sich
an eine Kur gemacht, so kommen sie alle Augenblicke zum Besuch.
L^m ihre Unwissenheit zu verstecken und weil sie die Krankheit nicht
zu heben vermögen, so schieben sie den Misserfolg darauf, dass der
Kranke nicht die nöthigen Mittel und Pflege habe und sich nicht ge-
hörig halte. Merken sie, dass es mit ihm zu Ende geht, so machen
sie sich davon. Treffen sie mit Leuten vom Volk zusammen, so ver-
leugnen sie sich und wissen als Unbetheiligte ihre Geschicklichkeit
herauszustreichen, als Laien die Wissenschaft der wirklich Unterrichteten
herabzusetzen. Das Zusammenkommen mit Gebildeten aber meiden sie,
wie der Wanderer die Gefahren des dichten Waldes." Ein lebens-
frisches Bild, dessen drastische Züge viele Ähnlichkeit mit manchen
Erscheinungen der Gegenwart zeigen! —
Die Ärzte nahmen in Indien eine angesehene Stellung ein. Nie-
mals ist der erhabene Beruf des Arztes schöner und treffender ge-
schildert worden, als in dem indischen Spruch: „Ist man krank, so ist
der Arzt ein Vater; ist man genesen, so ist er ein Freund; ist die
1 a. a. 0. S. 448. 2 I, 29 bei Roth a. a. 0. S. 452.
14 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Krankheit vorüber und die Gesundheit wiederhergestellt 2 so ist er ein
Hüter." ]
Die indischen Ärzte waren gleich den übrigen Gelehrten von
Steuern und anderen Lasten befreit und wurden für die Dienste, welche
sie den Kranken leisteten, durch Geschenke belohnt. Es scheint, dass
ihre Ansprüche in solchen Fällen nicht gering waren, wie sich aus den
Mittheilungen über die seltsamen Kuren des Arztes Givaka Komarab-
hakka, der zu Buddha's Zeit lebte, ergiebt.2
Er war das Kind einer Hetäre, wurde auf Kosten eines Fürsten,
der sich seiner annahm, erzogen und bildete sich dann bei einem Lehrer,
dessen Unterricht er sieben Jahre genoss, zum berühmten Arzt aus.
Hat diese Erzählung vielleicht eine allegorische Bedeutung, indem sie
die niedere käufliche Thätigkeit des Arztes, welche durch die höheren
idealen Zwecke geadelt wird, veranschaulichen wollte? —
In den Schulen der Bikkhus, der buddhistischen Mönche, welche
nach dem Muster der Brahmanenschulen entstanden, wurden die Wissen-
schaften vernachlässigt und hauptsächlich die Bildung des Charakters
durch die Entsagung der Welt und ihrer Genüsse angestrebt. Da die
Bikkhus das Leben als werthlos betrachteten, so achteten sie auch nicht
auf die Mittel, es zu erhalten. Ihre Vorschrift, nur zu essen, was An-
dere übrig gelassen haben, und den Urin der Kühe als Heilmittel zu
gebrauchen,3 zeigt, wie geringen Werth sie auf die Pflege und Gesund-
heit des Körpers legten.
Und doch war es gerade ein buddhistischer König, Asoka oder
Pryadarsin genannt, welcher zur Errichtung von Hospitälern anregte,
und zwar nicht blos für Menschen, sondern auch für die Thiere; in
diesen Anstalten wurden ärztliche Consultationen ertheilt und Arzneien
verabreicht, ähnlich wie in unseren poliklinischen Instituten.4 Aller-
dings war es nicht die Liebe zur Wissenschaft, sondern das Mitleid,
welches Asoka dabei beseelte; aber die medicinische Wissenschaft hat
daraus jedenfalls Vor th eile gezogen.
Auch auf Ceylon gab es Krankenhäuser. Der König Pandukabhayo
soll schon im 5. Jahrhundert v. Chr. ein Hospital in seiner Kesidenz
Anaradhapura gegründet haben, und einer seiner Nachfolger, Duttha-
1 Böhtlingk: Indische Sprüche, Petersburg 1870.
2 The sacred books of the east transl. by Max Müller, Oxford 1881, T. XIII,
p. 191, XVII, p. 173 u. ff., XX, p. 102 u. ff.
3 Koppen: Eeligion des Buddha, S. 338.
4 G. Bühler: Beiträge zur Erklärung der Asoka-Inschriften in d. Zeitschr.
d. deutschen morgenl. Ges. 1883, Bd. 37, S. 98 u. ff. (2. Edikt des Königs Asoka,
der von 263 — 226 v. Chr. regierte).
Ägypten. 1 5
gamini, der im 2. Jahrhundert v. Chr. regierte, durfte sich bei seinem
Tode rühmen, dass er an achtzehn Orten Krankenhäuser errichtet, mit
ausreichenden Mitteln versehen und dafür gesorgt habe, dass die Lei-
denden ärztlich behandelt wurden und Arzneien erhielten.
Yom König Budhadaso, dessen Lebenszeit ins 4. Jahrhundert n. Chr.
fällt, wird erzählt, dass er selbst die Heilkunst ausgeübt und ein viel-
benutztes Werk über die Medicin verfasst habe. Er schuf eine das
ganze Land umfassende Sanitätsorganisation, stellte für je 10 Dörfer
einen Arzt an, errichtete überall Hospitäler und überwies für deren
Unterhalt die Erträgnisse von 20 Dörfern. Ferner gründete er An-
stalten zur Aufnahme von Krüppeln, Verwachsenen und armen Ver-
lassenen und sorgte dafür, dass auch das Heer, und zwar sowohl die
Soldaten, als auch die Elephanten und Pferde, Ärzte hatten.1
In Kaschmir existirten schon unter dem König Meghavana (im
1. Jahrhundert n. Chr.) Spitäler.2
Die Beziehungen, welche die Indier seit dem Feldzuge Alexanders
von Macedouien zu den Griechen unterhielten, ihr reger Verkehr mit
den benachbarten Persern, der sich später auch auf das wissenschaft-
liche Gebiet erstreckte, und ihre Unterwerfung durch die Araber übten
auf die Ent Wickelung der indischen Heilkunde einen grossen Einfluss
aus, während in neuester Zeit die europäische Medicin, namentlich die
ärztlichen Theorien und Einrichtungen der Engländer, dort massgebend
geworden sind.
Ägypten.
Bei weitem älter als die medicinischen Urkunden der Indier sind
diejenigen, welche über die Heilkunde der Ägypter Aufschluss geben.
Sie stammen aus jener frühen Culturperiode, von welcher uns die Pyra-
miden wie gewaltige Zeugen einer sagenhaften Vorzeit erzählen und
bestehen in bildlichen Darstellungen auf den Wänden der Tempel und
Gräber, in Gebrauchsgegenständen, z. B. chirurgischen Instrumenten,
die sich zufällig erhalten haben, und in den Papyros-Kollen, von denen
die wichtigeren erst in den letzten Jahrzehnten aufgefunden und ent-
räthselt wurden.
1 The Mahawanso edit. by G. Turnour, Ceylon 1837, p. 67. 196. 243. 245.
2 Heusinger hat darüber im Janus (II, 393) nach den Annales de Caschmir
von Kalhana einige Mittheilungen gemacht.
16 Der medieinische Unterricht im Alterthum.
In Ägypten herrschte, wie in Babylon, die Sitte, die Kranken vor
den Häusern auf die Strassen und Wege zu legen, damit ihnen die
Vorübergehenden ihre Rathschläge zur Beseitigung ihrer Leiden er-
theilen konnten. Das Interesse für medieinische Dinge erfüllte das
ganze Volk, und „Jeder war in diesem Lande, dessen fruchtbarer Boden
eine Menge von Heilmitteln hervorbrachte, gleichsam ein Arzt, ein Ab-
kömmling Paeons, und wusste mit dem Menschen Bescheid."1
Doch gab es auch Personen, welche die ärztliche Thätigkeit berufs-
mässig ausübten und dazu durch systematischen Unterricht vorgebildet
wurden. Die ägyptischen Ärzte gelangten wegen ihrer glücklichen
Heilerfolge zu grossem Ansehen und wurden sogar an die Höfe fremder
Fürsten berufen. Der Perser-König Cyrus Hess zur Behandlung seiner
kranken Mutter einen Augenarzt aus Ägypten kommen, und auch Darius
hatte Leibärzte, welche von dort stammten.2
Der ärztliche Stand gehörte in Ägypten gleich den Vertretern der
übrigen gelehrten Beschäftigungen zu der mit manchen Vorrechten
ausgestatteten Klasse der Priester. In den mit den Tempeln verbun-
denen Schulen wurden nicht blos Priester, sondern auch Richter, Ärzte,
Astronomen, Mathematiker und andere Gelehrte erzogen. Diese Lehr-
anstalten vereinigten, wie unsere Universitäten, alle höhere Bildung in
sich und dienten nicht blos dem Unterricht, sondern auch der Forschung.
Die berühmtesten dieser Schulen befanden sich zu Heliopolis, Memphis,
Theben, Sais und Chennu.
Die Schüler erwarben hier neben einer entsprechenden Allgemein-
bildung die für ihren künftigen Beruf erforderlichen fachmännischen
Kenntnisse. Sie wohnten in den zur Schule gehörigen Häusern und
standen unter der Aufsicht und Zucht ihrer Lehrer. „Überlass Dich
nicht der Trägheit," ermahnt der Lehrer in einer von Chabas über-
setzten Stelle seinen Schüler, „denn sonst wirst Du streng bestraft.
Hänge Dein Herz nicht an Vergnügungen und sorge dafür, dass die
Bücher nicht Deiner Hand entsinken. Übe Dich in der Rede und
sprich mit Denen, die Dir an Wissen überlegen sind. Wenn Du älter
sein wirst, wirst Du erkennen, wie nützlich dies ist; denn wer in seinem
Fach tüchtig ist, erlangt Macht und Ansehen."3
Das ägyptische Studentenleben scheint in manchen Beziehungen
demjenigen der heutigen Zeit geglichen zu haben. So rügt der Lehrer
das Verhalten seines leichtsinnigen Schülers Ennana mit den Worten:
„Es ist mir berichtet worden, dass Du die Studien vernachlässigst, Dich
1 Homer: Odyssee IV, 229—232. 2 Herodot III, 1. 129.
3 Chabas: Melanges egyptologiques, Paris 1862, p. 117.
Ägypten. 1 7
nach Lustbarkeiten sehnst und von Kneipe zu Kneipe wanderst. Wohin
führt aber der Biergeruch? Meide ihn; denn er treibt die Leute von
Dir weg, bringt Deinen Geist zurück und macht Dich zu einem Ruder,
das zerbrochen auf dem Schiff liegt."1
Die Studien waren nicht den Söhnen der bevorzugten Klassen
vorbehalten, sondern allen Ständen zugänglich. Fleiss und Begabung
galten als die einzigen Bedingungen, welche an die Zulassung zum
Studium geknüpft wurden.
Der Unterricht stützte sich auf die „heiligen Bücher", in welchen
alles Wissen der Ägypter enthalten war. Als ihr Verfasser wurde
Toth betrachtet, der Gott der Weisheit, „der auch den Ärzten giebt
die Erleuchtung".
Die heiligen oder hermetischen2 Bücher bildeten eine Art von
Encyklopädie und bestanden aus 42 Abtheilungen. Sie behandelten die
Vorschriften der Religion, die kirchlichen Ceremonien, Rechtspflege,
Philosophie, Schreibekunst, Geographie und Kosmogenie, Astronomie,
die Lehre von den Massen und Gewichten, die Medicin u. a. m. Mit
der letzteren beschäftigten sich die sechs letzten Bücher, die „Ambres",
und zwar enthielt das erste die Beschreibung der einzelnen Theile des
Körpers, das zweite die Lehre von den Krankheiten, das dritte Erörte-
rungen über die chirurgischen Werkzeuge, wahrscheinlich auch über
die Operationen, das vierte die Arzneimittellehre, das fünfte die Schil-
derung der Augenleiden, die in Ägypten bekanntlich sehr verbreitet
sind, und das sechste die Lehre von den Frauenkrankheiten.3 Der
Verfasser beginnt mit der Anatomie, als der Grundlage der Heilkunde,
geht dann zur Pathologie über und bespricht am Schluss die Speciali-
täten, welche die Kenntniss der übrigen Disciplinen der Medicin zur
Voraussetzung haben; er ordnet den Stoff also in derselben Weise, wie
es der rationellen Systematik unserer heutigen Wissenschaft entspricht.
Leider ist dieses Lehrbuch der gesammten Heilkunde verloren ge-
gangen; nur einzelne Bruchstücke desselben sollen sich erhalten haben,
welche vielleicht in dem von Lepsius herausgegebenen Todtenbuche
und im Papyros Ebers zu finden sind. G. Ebees glaubt, dass der
nach ihm genannte Papyros das vierte der medicinischen hermetischen
Bücher, also die Arzneimittellehre enthält.4 Da derselbe im 17. Jahr-
1 Laüth: Die alt-ägyptische Hochschule zu Chennu in d. Sitzungsber. d.
k. bayr. Akad. d. Wiss., Histor. Kl. 1872, S. 67.
2 Toth ist der Hermes der Griechen. S. Gtuigniaut: de 'Eq^ov seu Mer-
curii mythologia, Paris 1835.
3 Vergl. Clemens Alexakdrinüs : Stromata, lib. VI, cap. 4, Edit. Dindorf.
4 Gr. Ebers: Papyros Ebers, Leipzig 1875, T. I, S. 9.
Puschmann, Unterricht. 2
18 Der medieinisehe Unterricht im Alterthum.
hundert v. Chr. geschrieben wurde, so dürfte er eine spätere Bearbei-
tung des ursprünglichen Textes darstellen. Auch Galen führt mehrere
kStellen daraus an, obwohl er bekanntlich von dem wissenschaftlichen
Werth dieser Schriften keine hohe Meinung hatte.1
Ob die 6 medicinischen Bücher gleich den übrigen 36 hermetischen
Büchern allen Studierenden der ägyptischen Tempelschulen vorgetragen
wurden oder nur denen, welche die Heilkunst auszuüben beabsichtigten,
ist nicht bekannt. Die letzteren mussten jedenfalls den Inhalt der
medicinischen Schriften in sich aufnehmen und auswendig lernen; denn
sie waren verpflichtet, sich in ihrer späteren ärztlichen Berufsthätigkeit
genau nach den dort niedergelegten Vorschriften zu richten, und setzten
sich einer Strafe aus, wenn sie anders handelten.2
Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich der ärztliche Unterricht auf
das theoretische Studium der zu den hermetischen Schriften gehörigen
medicinischen Bücher und der dieselben erklärenden Werke, an denen
die mit den Tempelschulen verbundenen Bibliotheken ohne Zweifel sehr
reich waren, beschränkt hat. Man darf annehmen, dass die Schüler
ausserdem eine praktische Anleitung zur Untersuchung und Behandlung
der Kranken erhalten haben.
Es bestand in Ägypten die Einrichtung, dass die Patienten in die
Tempel gebracht wurden, wo sie von den Priestern Hilfe und Kettung
von ihren Leiden erwarteten. Auch wurden die letzteren in die Woh-
nungen der Kranken gerufen, wenn dieselben nicht in den Tempel
gebracht werden konnten. Wie nahe liegt da der Gedanke, dass die
Lehrer der Heilkunde diese Gelegenheiten dazu benutzten, um ihren
Schülern die praktische Ausführung der Theorien, die sie ihnen gelehrt
hatten, zu zeigen? — Auch ist es sehr wahrscheinlich, dass die letzteren
als Zöglinge der Priester der Krankenbehandlung in den Tempeln,
welche als eine Art von Gottesdienst, als ein religiöser Akt, betrachtet
werden kann, beigewohnt haben.
Übrigens berechtigt auch der Zustand der ägyptischen Heilkunst
zu der Yermuthung, dass ihre Erlernung durch praktischen Unterricht
erleichtert wurde. Aus bildlichen Darstellungen, welche sich auf Tempel-
wänden erhalten haben, geht hervor, dass man mit der Beschneidung
und Castration Bescheid wusste.3 Im Papyros Ebers ist von der
1 Galen: Ed. Kühn, T. XI, p. 798. 2 Diodor. I, cap. 82.
3 In Kosenbaum's Ausgabe von K. Sprengel's Gesch. d. Arzneikunde (Leipzig
1846) Bd. I; S. 73 Anm., wie in H. Haeser's Lehrbuch der Geschichte der Me-
dicin (Jena 1875) Bd. I, S. 57, rindet sich die Notiz, dass die alten Ägypter
auch die Amputation gekannt haben. Diese Angabe stützt sich auf Larrey,
welcher in seiner Eelation historique et chirurgicale de l'expedition de l'armee
Ägypten. 1 9
„Öffnung des Gesichts in den Pupillen hinter den Augen" die Rede:
eine Stelle, welche sein Herausgeber auf die Staaroperation bezogen hat.
Der Kaiserschnitt wurde an Verstorbenen in Ägypten vielleicht zuerst
ausgeführt.1 Lassen sich diese Dinge aus dem Buch erlernen? — Die
zur Ausführung solcher Operationen erforderliche Geschicklichkeit kann
nur erworben werden, wenn man die dazu gehörigen Handgriffe öfter
sieht und selbst übt.
Auch wurden an Mumien geheilte Knochenbrüche und in ihren
Kiefern künstliche Zähne beobachtet und in Gräbern verschiedene chi-
rurgische Instrumente, wie Messer, Scheeren, Lanzette n, Pinzetten,
Sonden, Schröpfköpfe aus Eindshorn u. a. m. gefunden.
Der anatomische Unterricht war keinesfalls mit praktischen De-
monstrationen menschlicher Leichentheile verbunden. Da nach den
religiösen Vorstellungen der Ägypter die Wohlfahrt der Seele von der
möglichst guten Erhaltung des Körpers abhängig erschien, so war an
die Zergliederung menschlicher Leichname nicht zu denken. Die Ver-
letzung derselben wurde so sehr verabscheut, dass selbst die Operationen,
welche vor der Einbalsamirung an der Leiche vorgenommen wurden,
dem Paraschisten, der sie vollzog, Hass und Verachtung eintrugen.
Derselbe musste sich sofort, nachdem er den Einschnitt in die linke
Seite des Unterleibs, durch welchen die Eingeweide entfernt wurden,
d'orient (Paris 1805) p. 45 Anmerk. schreibt: „Le general Desaix poursuivit
V ennemi jusqu' an-delä des cataraetes et donna ainsi ä la commission des arts
la facilite de visiter les monuments de la fameuse Thebes aux cent portes, les
temples renommes de Tentyra, de Carnak et de Luxor, dont les restes attestent
encore Vantique magnificence. C'est dans les plafonds et les parois de ees temples,
qu'on voit des bas-reliefs representant des membres coupes avec des Instruments
tres-analogues ä ceux dont la Chirurgie se sert aujourd' hui pour les amputations.
On retrouve ces meines Instruments dans les hieroglyphes et Von reconnait les
traces d'autres Operations chirurgicales, qui prouvent que la Chirurgie dans ces
iemps recules marchait de front avec les autres arts, dont la perfection parait-
aroir ete portee ä un tres-haut degre". Aber weder Lepsius (Denkmäler aus
Ägypten und Äthiopien, Berlin, 24 Bände), noch J. Rosellini (I monumenti dell'
Egitto e della Nubia? Pisa 1832, 4 Voll.) bringen ein Bild, das sich mit Sicher-
heit auf die Amputation beziehen lässt. Vielleicht deutet der fehlende linke Arm
des Gottes Chem oder Min (S. Champollion: Pantheon egyptien, Paris 1824,
pl. 4) darauf hin; doch lassen sich aus den seltsamen Formen der ägyptischen
Götterfiguren keine derartigen Schlüsse ziehen. Der Beweis, dass die Ägypter
die Amputation gekannt haben, ist somit noch nicht geliefert worden. Die
flüchtige, vielleicht auf einem Missverständniss beruhende Angabe Larrey's muss
erst von den Agyptologen geprüft und anerkannt iwerden, bevor sie als histo-
rische Thatsache gelten darf.
1 S. Rosenbaxjm: Analecta quaedam ad sectionis caesareae antiquitates.
Halle 1836.
2*
20 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
gemacht hatte, flüchten, weil er von den Verwandten und Freunden
des Todten mit Steinen beworfen wurde : eine Sitte, welche offenbar
die Verteidigung des letzteren veranschaulichen sollte.
Die Paraschisten, denen jene Verrichtungen oblagen, nahmen in
der socialen Rangordnung eine Stellung ein ähnlich derjenigen unserer
Leichendiener. Sie besassen weder anatomische Kenntnisse, noch irgend-
welche wissenschaftliche Interessen und wurden durch die herrschenden
Vorurtheile von Untersuchungen abgehalten, zu denen sie nicht ihre
Berufsthätigkeit nöthigte.
Auf die Entwicklung der anatomischen Wissenschaft hat daher
das Einbalsamiren der Leichen keinen fördernden Einfluss ausgeübt.
Dies geht auch aus den seltsamen und rohen Vorstellungen über den
Bau und die Zusammensetzung des menschlichen Körpers hervor, welche
sich in den Papyros-Rollen finden.1 Darnach war das anatomische
Wissen der ägyptischen Ärzte allerdings sehr gering; doch wussten sie
schon, dass das Herz der Ausgangspunkt der Blutgefässe sei, welche
sich von dort aus in allen Gliedern des Körpers verbreiten: eine That-
sache, welche selbst einige tausend Jahre später noch nicht allgemein
verstanden und anerkannt wurde.
Bei der Untersuchung des kranken Körpers waren die ägyptischen
Ärzte bemüht, „den Schlag des Herzens zu erforschen"2 und die Eigen-
schaften des Harns zu prüfen. So bemerkten sie bereits, dass der Urin
der Schwangeren trüb und reich an Niederschlägen sei,3 und führten
diese Erscheinung unter den diagnostischen Mitteln an, um die Schwan-
gerschaft zu erkennen.
Grossen Werth legten sie auf die Diätetik und eine vernünftige
Lebensweise;1 sie empfahlen Reinlichkeit und Massigkeit, Bäder, Ab-
reibungen und Körperübungen, um die Gesundheit zu erhalten. Auch
die Heilkraft der Seebäder soll ihnen bereits bekannt gewesen und von
ihnen bei der Behandlung des Dichters Euripides benutzt worden sein.5
Von Brechmitteln, Abführmitteln und Klystieren wurde sehr häufig
Gebrauch gemacht, Im Pap. Berol. med. I finden sich 28 Recepte zur
1 S. z. B. Pap. Berol. med. I, welcher von Chabas: Melanges egypt. p. 55—79
und von Brugsch: Recueil des monuments egyptiens, Leipzig 1863, Partie II,
p. 101 u. ff. beschrieben wurde.
2 Pap. Ebers a. a. 0. I, p. 27, T. 45.
3 Pap. Berol. med. I bei Chabas a. a. 0. p. 69.
4 Herodot II, 37. 38.
5 Diogenes Laert. III, 6. Man glaubte deshalb, dass der Vers des Euripides
tlphig. auf Tauris v. 1193): &ällaa(ja, xlvtei nävra t* av&Qilmwv xockcc (Das Meer
spült alle Menschenleiden fort) dadurch hervorgerufen worden sei.
Ägypten. 2 1
Bereitung von Klystieren, die von den Alten überhaupt für eine ägyp-
tische Erfindung gehalten wurden.1
Mit der ärztlichen Behandlung der Kranken wurden die Gebete
verbunden, welche für den betreffenden Fall vorgeschrieben waren.
Dem geistlichen Charakter der Ärzte entsprach es, dass sie diese Gebete
selbst verrichteten und ihnen mindestens die gleiche Bedeutung bei-
legten, wie ihren medicamentösen Verordnungen. Nur selten dürften
zu jener Zeit solche aufgeklärte Anschauungen gewesen sein, wie sie
der Arzt Nebsecht in dem von G. Ebees, dem gründlichen Kenner des
altägyptischen Lebens, verfassten Roman Uarda bekundet, wenn er das
Absingen der Gebete dem alten blinden Pastophoren Teta überlässt.
Die Pastophoren bildeten eine Klasse der Priester, die übrigens,
wie mir G. Ebees zu erklären die Güte hatte, keineswegs einen so
niedrigen Rang einnahm, wie es in den historischen Werken angegeben
wird. Die Ärzte waren verpflichtet, einen geistlichen Charakter zu be-
sitzen und Hessen sich deshalb zu den Pastophoren rechnen, wenn ihnen
auch die höheren Priesterwürden wahrscheinlich nicht verschlossen
blieben.2 Dagegen waren die Pastophoren keineswegs auch zugleich
Ärzte, wie Manche glauben, sondern hatten in ihrer Mehrzahl ganz
andere Funktionen, wie schon ihr Name besagt. Das Yerhältniss der
Pastophoren zu den Ärzten war ungefähr das nämliche, wie dasjenige
des Klerus zu den Gelehrten im christlichen Mittelalter; auch damals
gehörten alle Gelehrten zum Klerus, ohne dass alle Geistliche zu den
Gelehrten gezählt werden konnten.
Viele Ärzte waren Mitglieder der grossen Priester-Collegien und
wohnten in den zu den Tempeln gehörigen Lehranstalten. Sie ertheilten
dort medicinischen Unterricht und übten die ärztliche Thätigkeit aus.
Dass man für diese Stellungen die tüchtigsten und hervorragendsten
Vertreter ihrer Kunst wählte, lag im Interesse der Priester-Collegien,
deren Macht durch die Anzahl der Schüler, deren Ruhm durch die
glücklichen Heilerfolge, die sie in ihren Tempeln erzielten, vermehrt
wurde.
Die Ärzte nahmen Theil an den Vorrechten und Vortheilen, welche
der Priesterstand in Ägypten genoss. Sie waren von Abgaben befreit
und wurden auf öffentliche Kosten erhalten.
Von den Kranken erhielten sie für ihre ärztlichen Bemühungen
zwar keine Bezahlung, wohl aber Geschenke; jedenfalls erwarteten sie,
1 S. Plinius: hist. nat. VIII, c. 41, wo sie dem ägyptischen Ibis zuge-
schrieben wird.
2 Der Oberpriester von Sais führte den Titel „Oberster der Ärzte".
22 Der medicinische Unterricht im Alter thum.
dass dem Tempel, an welchem sie angestellt waren, nach der Beendigung
der Kur Opfer dargebracht wurden. Auch wurden nach der Heilung
zuweilen Modelle der geheilten Körpertheile im Tempel aufgehängt,
wie deren das British Museum in London mehrere besitzt. Während
des Krieges oder wenn Jemand unterwegs auf einer Reise erkrankte,
waren die Ärzte jedoch verpflichtet, unentgeltlich Hilfe zu leisten.1
Ob es neben den Ärzten, welche den priesterlichen Character be-
sassen, noch andere Heilkünstler gab, die ihre Thätigkeit auf empirischem
Wege erlernten und ausübten, ist nicht bekannt, wohl aber wahrschein-
lich. Man gebrauchte für „Arzt" auch die Bezeichnung „Summ",
„Wissender". Übrigens dürfte die Zahl der priesterlichen Ärzte kaum
allen Bedürfnissen genügt haben.
Wenn erzählt wird,2 dass die ägyptischen Ärzte sich auf die Aus-
übung einzelner Theile der Heilkunde, auf die Behandlung bestimmter
Krankheiten beschränkt haben, so dass „der eine nur die Leiden des
Auges, der andere diejenigen des Kopfes, der Zähne, des Unterleibs
oder der inneren Organe behandelt habe", so war ein so ausgeprägtes
Specialistenwesen doch nur an grösseren Orten möglich, wo der Kranke
unter einer Menge von Ärzten die Wahl treffen konnte. An den
grossen Tempeln, deren Priester-Collegien mehrere Ärzte zu ihren Mit-
gliedern zählten, wird allerdings der eine sich vorzugsweise dieser, der
andere jener Specialität gewidmet haben; aber im Allgemeinen war
eine derartige strenge Trennung der einzelnen Theile der Heilkunst
undurchführbar.
Die ägyptische Medicin hat einen grossen Einfluss auf die griechische
Heilkunde ausgeübt. Ihr Ruhm überdauerte die politischen Umwälzungen
der späteren Zeit und bildete einen historischen Hintergrund für die
medicinischen Schulen, welche Alexandria zu einer hervorragenden Pflege-
stätte des wissenschaftlichen Lebens im Alterthum machten.
Bei den Israeliten.
Die israelitische Cultur ist eine Tochter der ägyptischen. Moses,
der grosse Gesetzgeber und Lehrer des jüdischen Volkes, war ein Zög-
ling der ägyptischen Priesterschulen und hatte dort ausser anderen
Künsten und Wissenschaften auch die Heilkunde studiert.3
1 Diodor I, T3. 82. — Herodot II, 37. 2 Herodot II, 84.
3 Clemens Alexandrinus : Stromat. lib. I, cap. 153.
Bei den Israeliten. 23
Nach ägyptischem Vorbild begründete er bei den Israeliten einen
Priesterstand, welcher die Vertreter der Intelligenz und Gelehrsamkeit
in sich vereinigte. Seine Mitglieder erhielten vom Volk ihren Unter-
halt und dienten demselben als Geistliche, Lehrer, Richter und Ärzte.
Die mosaische Gesetzgebung regelte das bürgerliche Leben durch
Vorschriften, welche die Sittlichkeit, die Gesundheit und das Wohl-
belinden zu fördern geeignet waren. Als die wesentlichen Vorbedingungen
dafür wurden die Vermeidung von Krankheiten und eine vernunft-
gemässe Diätetik betrachtet. Dazu dienten die Gesetze, welche die
Pflege des Neugeborenen, die Ernährung des Kindes, das Verhalten der
Mutter oder der Amme, die Beziehungen der beiden Geschlechter, z. B.
den Beischlaf mit menstruirenden Frauen, und die Ehe zwischen Bluts-
verwandten, die Reinlichkeit, Kleidung, Nahrung, Wohnung und den
Begräbnissplatz betreffen, ebenso wie die Anleitung, um Krankheiten,
wie den Aussatz oder gewisse Geschlechtsleiden, zu erkennen und deren
Weiterverbreitung zu verhüten.1
Die Heilung von Krankheiten erhoffte man von Gebeten und
Opfern, wie es dem theurgischen Charakter der jüdischen Medicin ent-
sprach, nach welchem alle Leiden als Strafen Gottes angesehen wurden.
Ausserdem wurden auch diätetische und medicamentöse Mittel an-
gewendet. 2
Gegen Hautausschläge3 empfahlen die Priester-Ärzte vor Allem
die Absonderung der Kranken von den Gesunden, sorgfältigste Rein-
lichkeit und öftere Bäder. Auch von Heilquellen wusste man Gebrauch
zu machen. Ebenso erkannte man die günstige Wirkung, welche die
Musik auf manche Geisteskranke ausübt.4
Bei Knochen-Frakturen legte man einen Verband an,5 und den
Eunuchismus erzeugte man auf zwei Arten, nämlich durch Zerquetschen
oder durch Ausschneiden der Hoden. Auch die Ausführung der Be-
schneidung zeugt davon, dass die israelitischen Priester-Ärzte eine ge-
wisse Geschicklichkeit in chirurgischen Operationen besassen.
Von Hebammen ist schon die Rede, als sich die Juden noch in
1 Moses II, 15, 26. 19, 6. 22, 31. III, 7, 23. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 18. 19.
20, 18. IV, 12, 15. 16, 41. V, 14, 21. 28, 27, 58—61. — Ezech. 16, 4 u. a. m.
2 Vgl. Trusen: Darstellung der biblischen Krankheiten, Posen 1843, S. 1.
— J. B. Friedreich: Zur Bibel, Nürnberg 1848, I, S. 41 u. ff., 193 u. ff. —
R. J. Wunderbar: Biblisch - talmudische Medicin, Eiga und Leipzig 1850, H. 1,
S. 8 u. ff., S. 73 u. ff.
3 Durch diesen allgemeinen Ausdruck wird Zaraat richtiger übersetzt, als
durch Aussatz, wie es gewöhnlich geschieht.
4 Samuel Buch I, c. 16, 23. 5 Ezech. c. 30, 21.
24 Der medieinisehe Unterricht im Älter thum.
der ägyptischen Gefangenschaft befanden. Ihre Thätigkeit wird an
einigen Stellen mit naturalistischer Ausführlichkeit beschrieben.1
Grosses Interesse für die Naturwissenschaften, besonders für die
Heilkunde, bekundete König Salomon, welcher selbst darüber ein Buch
verfasst haben soll.2 Unter seiner Regierung machte sich bereits
der Einfluss der Fremden, namentlich der benachbarten Phönizier,
geltend.
Noch mehr trat dies hervor, als das israelitische Volk seine staat-
liche Selbstständigkeit verlor. Seine politischen Schicksale brachten es
in eine enge Verbindung mit den Assyriern, Babyloniern, Chaldäern und
Persern und boten seinen Gelehrten die Gelegenheit, die Culturerrungen-
schaften dieser Völker kennen zu lernen und in sich aufzunehmen.
Dadurch gewannen dieselben eine weite Anschauung über die geistige
Entwickelung des Menschen und wurden von den engherzigen Vor-
urtheilen befreit, welche eine Folge der kleinlichen Verhältnisse ihrer
politischen Zustände waren.
Die Heilkunde zog daraus den Vortheil, dass die ärztliche Praxis
aufhörte, ein Privilegium der Priester zu sein.3 Neben ihnen übten
fortan nicht nur Laien die Heilkunst aus, sondern man wandte sich
sogar an Ärzte, welche nicht dem jüdischen Glauben angehörten. In
späteren Zeiten ging man in dieser Beziehung so weit, dass man sogar
die Beschneidung von einem nichtjüdischen Arzt vollziehen liess, wenn
kein israelitischer Operateur anwesend war.4
Ebenso war es auch den israelitischen Ärzten gestattet, den Anders-
gläubigen Hilfe zu leisten. Sie durften für ihre Dienste Bezahlung5
fordern und wurden von ihren Mitbürgern geachtet und verehrt.6
Von den Behörden wurden sie in Fragen der Sanitätspolizei und
gerichtlichen Medicin zu Rathe gezogen. Später musste jede Stadt
ihren Arzt haben und ausserdem bisweilen noch einen Chirurgen. Sie
hatten ausser anderen Obliegenheiten die Pflicht, die Beschneidung
auszuführen.
Für die Priester, welche bei ihren Ceremonien im Tempel durch
die kalten Bäder, die leichte Kleidung, das Barfussgehen auf den kühlen
Steinen und das Fasten häufigen Unterleibserkrankungen ausgesetzt
waren, wurden besondere Ärzte angestellt.7
1 Moses I, 25, 24—26. 38, 27—30. II, 1, 15—21.
2 Suidas: Ezechias.
8 Sybrand: Diss. hist. med. de necessitate quae fuit apud veteres inter re-
ligionem et medicinam, Amstel. 1841, p. 28 u. ff.
4 Talmud Tr. Menachoth 42 a. 5 Moses II, 21, 19.
6 Jesus Sirach 38, 3. 7 Talmud Tr. Schekalim V, 1, 2.
Bei den Israeliten. 25
Wenn der ärztliche Beruf Jedem offen stand, so scheinen sich ihm
doch vorzugsweise die Angehörigen des Priesterstandes gewidmet zu
haben, wie aus den Mittheilungen hervorgeht. In den Priester-Schulen
ebenso wie in den Propheten-Schulen, welche von erwachsenen Jüng-
lingen besucht wurden, wurde die Heilkunde wegen ihrer innigen Be-
ziehungen zur religiösen und bürgerlichen Gesetzgebung der Juden
sicherlich in den Bereich des Unterrichts gezogen. Einige Propheten,
wie z. B. Elisa, waren wegen ihrer glücklichen Heilerfolge berühmt.
Wer als gelehrter Mann gelten wollte, musste einige medicinische
Kenntnisse besitzen. Sie gehörten zur Allgemeinbildung und wurden
von Denen verlangt, welche im öffentlichen Leben eine hervorragende
Stellung einnehmen wollten.
Die eigentliche fachmännische Ausbildung der Ärzte geschah wohl
durch die persönliche Unterweisung des Schülers durch einen Lehrer,
der in der Heilkunst geübt und erfahren war. Über die Art des
Unterrichts und die dabei gebrauchten Hilfsmittel besitzen wir leider
keine Nachrichten aus der älteren Zeit, sondern nur aus der späteren,
der talmudischen Periode.
Der Talmud, dessen Entstehung in die ersten Jahrhunderte n. Chr.
fällt, enthält eine Menge von Ausdrücken, welche dem Wortschatz der
griechischen Sprache, besonders ihrer medicinischen Terminologie, ent-
lehnt sind, und sogar direkte Hinweise auf die Beziehungen zur Heil-
kunde der Griechen. Die talmudische Medicin entbehrt der Originalität
und stützt sich hauptsächlich auf die Lehren der griechischen Ärzte.1
Die anatomischen Kenntnisse der Talmudisten, von denen Einige
sich als Ärzte auszeichneten, erheben sich nicht über Das, was Galen
vorgetragen hatte. Beachtung verdienen ihre Beobachtungen über die
Entwickelung des Fötus, besonders die Bildung der Knochen. Sie
nahmen zu diesem Zweck bereits Zergliederungen menschlicher Leichen
vor. So wird im Talmud erzählt, dass die Schüler des Kabbi Ismael
ben Elisa an dem Leichnam eines liederlichen Weibes, welches die
Todesstrafe erlitten hatte, die einzelnen Knochen studierten, und dass
Rabbi Ismael die Früchte schwangerer Sklavinnen, die zu diesem Zweck
während ihrer Schwangerschaft getödtet wurden, untersuchte, um die
Entwickelung des menschlichen Körpers kennen zu lernen.2 Zu
gleicher Zeit suchten die talmudischen Gelehrten durch Sektionen
1 J. Bergel (Die Medicin der Talmudisten, Berlin u. Leipzig 1885) bestreitet
diese Abhängigkeit, vermag aber für seine Ansicht keine Thatsachen anzuführen.
2 J. M. Rabbinowicz: La medecine du Thalmud, Paris 1880, p. 75. —
Rabbinowicz : Einleitung in die Gesetzgebung und Medicin des Talmuds, deutsche
Ubers. 1883, S. 250. — Talmud Tr. Bechoroth 45 a.
26 Der medicinische Unterricht im Altertkum.
von Thieren ihr anatomisches Wissen zu erweitern und zu vervoll-
ständigen.
Sie erkannten, welche Bedeutung die Beobachtungen und Versuche
an Thieren für die medicinische Wissenschaft haben, und bauten darauf
Schlüsse und Folgerungen. Auf diese Weise fanden sie, dass Ver-
letzungen der Niere nicht immer tödtlich sind, und die Milz entfernt,
sogar der Uterus herausgeschnitten werden kann, ohne dass dadurch
der Tod des Thieres herbeigeführt wird.1
Die Ärzte führten Amputationen aus und kannten den Gebrauch
künstlicher Füsse und Beine,2 wussten mit Frakturen und Luxationen
Bescheid, sollen den Nabelbruch der Neugeborenen durch einen Druck-
verband geheilt und bei Verschluss des Afters eine künstliche Öffnung
gemacht haben, operirten Harnfisteln, beobachteten den Hermaphro-
ditismus, wiesen auf die Thatsache hin, dass der Descensus testiculorum
zuweilen unterbleibt, und veröffentlichten einige werthvolle Erfahrungen
über die Verletzungen innerer Organe.3 So machten sie z. B. darauf
aufmerksam, dass nach der Verletzung des Rückenmarks bei Thieren
die hinteren Extremitäten gelähmt werden.
Sie besassen eine grosse Anzahl chirurgischer Instrumente und
Apparate4 und zeigten sich auch in der operativen Geburtshilfe ge-
wandt und erfahren; denn sie kannten mehrere Ursachen des Abortus,
unternahmen die Embryotomie5 und führten den Kaiserschnitt an
Todten, wie auch an Lebenden aus.6
Die talmudischen Gelehrten widmeten den medicinischen Schriften
der Griechen ein eifriges Studium und machten deren wissenschaftliche
Errungenschaften den Ärzten des jüdischen Volkes zugänglich. Die
griechische Heilkunde war damals bereits Gemeingut der ganzen ge-
bildeten WTelt geworden.
Die Juden besassen in jener Zeit berühmte Hochschulen in Ti-
berias, Sura und Pumbeditha, an denen, wie einst in den Propheten-
Schulen, wahrscheinlich auch die Medicin wenigstens in ihren allge-
1 Rabbinowiuz a. a. 0. — Talmud Tr. Sanhedrin 21, 33a u. 93a, Bechoroth 28b.
2 Wunderbar a. a. 0. IV, S. 66—68.
3 Kabbinowicz a. a. 0. S. 258 u. ff.
4 Wunderbar (a. a. 0. I, S. 50 — 56) zähUV56 verschiedene Arten auf, darunter
Messer, Scheeren, Sonden, Lanzetten, Schröpf hörner, Bohrer, Tripperbeutel,
Löffel, Siebe u. a. m.
5 Talmud Tr. Bechoroth 46 a, Nidah 19.
6 Über die Bedeutung von Joze dophan s. auch Virchow's Archiv Bd. 80,
H. 3, S. 494. Bd. 84, H. 1, S. 164. Bd. 86, H. 2, S. 240. Bd. 89, H. 3, S. 377.
Bd. 95, H. 3, S. 485. — A. H. Israels in d. Ned. Tijdschr. v. Geneesk 1882,
p. 121 u. ff.
Bei den Parsen. 27
meinen Grundzügen gelehrt wurde. Der Unterricht währte nur einen
Theil des Jahres; in der übrigen Zeit gingen die Studierenden ihren
Geschäften nach, um sich den notwendigen Lebensunterhalt zu er-
werben. 1 Es befanden sich darunter Handwerker, Kaufleute, vielleicht
auch Ärzte, welche von den Lehrern der Hochschule die wissenschaft-
liche Begründung ihrer Beobachtungen zu erfahren bemüht waren.
Umgekehrt erbaten sich auch die Gelehrten, welche nur in der Theorie
heimisch waren, in zweifelhaften schwierigen Fällen der Praxis von
erfahrenen Ärzten Auskunft.2
Manche Ärzte scheinen sowohl die Behandlung der inneren als
der äusseren Leiden unternommen zu haben, während sie sich in
anderen Fällen nur der einen oder der anderen Richtung der Heilkunde
zuwandten.
Wer die ärztliche Praxis ausüben wollte, bedurfte dazu der Er-
laubniss der Obrigkeit des Ortes, an welchem er sich niederzulassen
wünschte. „Niemand darf die Heilkunst ausüben, er sei denn dieser
Kunst auch völlig kundig, und wer sich ohne Erlaubniss des Beth-Din
(des Rathes der Stadt) mit der Ausübung derselben beschäftigt, ist
strafbar, selbst wenn er deren auch völlig kundig ist."3 Ob diese
Approbation auf Grund von Prüfungen ertheilt wurde, und welcher
Art dieselben waren, ist mir nicht bekannt.
In den folgenden Jahrhunderten verschmolz die jüdische Medicin
vollständig mit derjenigen der übrigen Völker. Die jüdischen Ärzte
und Gelehrten übten einen fördernden Einfluss auf die wissenschaft-
liche Entwicklung der Heilkunde aus, namentlich im Mittelalter,
und haben zu jeder Zeit eine hervorragende Stelle auf diesem Gebiet
behauptet.
Bei den Parsen.
Über die Medicin der alten Perser sind uns nur spärliche Nach-
richten überliefert worden. Auch hier stand die Heilkunst Anfangs in
innigen Beziehungen zum Cultus, und die Priester, die Magier, übten
dieselbe aus. Sie bestand im Allgemeinen darin, dass die Krankheiten,
welche von bösen Geistern hervorgerufen wurden, durch Beschwörungen
1 P. Beer: Skizze einer Geschichte der Erziehung und des Unterrichts bei
den Israeliten, Prag 1832, S. 55.
2 Talmud Tr. Nidah 21 b. 3 Wunderbar a. a. 0. I, S. 36.
28 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
weggebetet wurden. Damit verbanden sich manche abergläubische Cere-
monien; die Magie feierte hier ihre Vermählung mit der Medicin. l
Thrita, ein von der Sage gefeierter Held, welcher später unter die
Geister des Himmels versetzt wurde, galt als der erste Arzt, dem es
gelang, die Krankheiten zu beseitigen und die Dämonen, welche sie
sandten, zu besiegen. Er wurde daher als der Schutzpatron der Ärzte
und gleichsam als Gott der Heilkunst verehrt.
Die religiösen Gesetzbücher der alten Perser empfahlen die Rein-
heit der Seele und des Körpers als das beste Mittel, um Krankheiten
zu verhüten. Mit strengen Strafen wurden geschlechtliche Aus-
schweifungen bedroht. Ebenso war auch das Abtreiben der mensch-
lichen Frucht verboten.
Über die Behandlung der Krankheiten erfahren wir, dass ausser
dem Gebet auch Medicamente, deren sie eine grosse Anzahl aus deni
Pflanzenreiche kannten, sowie das Messer zur Anwendung kamen. Als
die vorzüglichsten Ärzte wurden diejenigen betrachtet, welche die Leiden
durch das Gebet allein heilten; sie waren gleichsam „die Ärzte der
Ärzte". Ihnen folgten Diejenigen, welche Arzneikräuter verordneten,
und die letzte Stelle nahmen Jene ein, welche zum Messer griffen. 2
Wer als Arzt auftreten wollte, musste sich zuerst an den niederen
verachteten Kasten üben. Erst wenn er an Mitgliedern dieser Stände
drei erfolgreiche Kuren ausgeführt hatte, durfte er auch in den höheren
Klassen der Gesellschaft prakticiren. Starben jedoch die drei Probe-
Patienten, so konnte er niemals Arzt werden.
Wie im alten Ägypten, so übten auch hier die Ärzte zugleich die
Thierheilkunde aus.
Man hatte eine Art Medicinal-Taxe, deren Höhe sich nach dem
Stande und dem Reichthum des Kranken richtete. Yon einem Priester
durfte der Arzt für seine Dienste nichts weiter fordern, als seinen
Segen; dagegen erhielt er von dem Oberhaupt einer Landschaft vier
Ochsen, von dessen Frau ein weibliches Kameel, vom Oberhaupt einer
Stadt ein grosses Zugthier, von dessen Frau eine Stute, vom Oberhaupt
eines Dorfes ein mittleres Zugthier, von dessen Frau eine Kuh, vom
Besitzer eines Hauses ein kleines Zugthier und von dessen Frau eine
Eselin. Desgleichen war auch vorgeschrieben, wie viel er für die
Heilung der verschiedenen Hausthiere verlangen durfte.3
Diese wenigen Bruchstücke geben keine Aufschlüsse über die medi-
cinischen Kenntnisse und den ärztlichen Unterricht bei den alten
1 Plinius: hist. nat. XXX, 1.
2 Vendidad VII, 118—121. 3 Ebenda VII, 105. 117.
Bei den Griechen vor Hipj)okrates. 29
Persern und gestatten kein Urtheil über den Zustand ihrer Heilkunde.
Jedenfalls wurden ihre Ärzte später von den ägyptischen und griechischen
Fachgenossen an Wissen übertroffen, da sich die persischen Könige
Ärzte aus diesen Ländern an ihren Hof kommen liessen.
Bei den Griechen vor Hippokrates.
Die ältesten Nachrichten über die griechische Heilkunde hüllen
sich in das Gewand der Mythe. In ihnen erscheint Apollon als der
Gott, welcher Krankheiten und Seuchen sendet, aber auch die Mittel
gewährt, um sie zu heilen und die Übel abzuwehren.
Als später die einzelnen Thätigkeitsäusserungen dieses Lichtgottes,
der in dem Cultus des Naturvolkes offenbar an die Stelle des Helios
getreten war, personificirt wurden und besondere Vertreter erhielten,
übernahm Asklepios die Eolle des Gottes der Heilkunst. Die Sage
nannte ihn den Sohn Apollons, um dem innigen Verhältniss der Beiden
Ausdruck zu geben. Aufgeklärte Griechen der späteren Zeit erklärten
dasselbe in allegorischer Weise, wenn sie sagten: „Asklepios sei die
dem Menschengeschlecht und allen Thieren zur Gesundheit unentbehr-
liche Luft, Apollon aber die Sonne, und mit Recht nenne man ihn
den Vater des Asklepios, weil die Sonne durch ihren Jahreslauf die
Luft gesund mache."1
Homer und Pindar rühmen die Heilerfolge des Asklepios; aber
weder sie noch Hesiod nennen ihn einen Gott. Wie der Ruhm seiner
Kuren, von der Legende aufbewahrt und von der Nachwelt vergrössert,
allmälig zu seiner Apotheose führte, darüber ist uns leider keine Kunde
überliefert worden. Später wurden ihm Tempel errichtet und von
enthusiastischen Verehrern eine Machtfülle zugeschrieben, gleich der-
jenigen des Zeus, des Schöpfers und Erhalters aller Dinge.
Die Dichter, welche, wie schon Herodot2 schreibt, in der Mytho-
logie einen dankbaren Stoff fanden, schmückten die Erzählungen von
der Geburt und dem Leben des Asklepios mit ihrer reichen Phantasie.
Pindar berichtet, dass er von dem Centauren Cheiron in der Heilkunde
unterrichtet worden sei,
„um zu lehren des krankheitsvollen Weh's Heillinderung
Jedem, wem einwohnend die Wund' an dem Leib
1 Pausanias VII, 23. 2 Herodot II, 53.
30 Der medicinische Unterrieht im Alterthum.
selbst erwuchs, auch welche, die Glieder verletzt durch dunkles Erz annähten und
durch ferngeschleuderten Stein;
Denen von Gluthen des Sommers, von Kälte der Leib hinschwand,
erlöst allesamt er aus vielfältiger Qual
führend, hier einschläfernd das Weh mit der Kraft anmuthiger
Spruch' und erquicklichem Trank oder sanft Heilsalben auf ihre Leiden hin
fugend und Andere durch Ausschnitt stellt er aufwärts."1
Dem Asklepios standen seine Gemahlin Epione, „die Schmerzlinderin'-,
und seine Töchter Hygieia, Jaso und Panakeia, deren allegorische Be-
deutung man schon aus ihren Namen erkennt, helfend zur Seite.
Mehr historische Wahrheit besitzt vielleicht die Angabe, dass er zwei
Söhne, Machaon und Podalirios, hatte, auf welche er seine Kenntnisse
in der Heilkunst vererbte.
Dieselben werden unter den Freiern der Helena aufgeführt und
zogen als Führer der thessalischen Krieger von Trikka, Ithome und
Oichalia mit dem griechischen Heere nach Troja. Sie galten als
ebenso erfahren in der Kriegskunst als in der Heilkunde und wurden
von ihren Kampfesgenossen bei verschiedenen Gelegenheiten um ärzt-
lichen Rath und Hilfe gebeten.2
Machaon that sich vorzugsweise als Chirurg hervor, während Po-
dalirios sich durch die Behandlung der inneren Krankheiten auszeichnete.
Wie in der Ilias, so wurde auch in der Aethiopis des Dichters Arktinos,
welche bald nach jener verfasst wurde, aber nur noch zum Theil vor-
handen ist, auf diese Trennung der beiden Hauptrichtungen der Heil-
kunde hingewiesen, wenn es heisst:
„Denn (Asklepios) selber verlieh Heilmittel den Söhnen
Beiden, jedoch ruhmwürdiger macht' er den einen von Beiden;
Jenem gewährt' er die leichtere Hand, aus dem Fleisch die Geschosse
Auszuziehn und zu schneiden und jegliche Wunde zu heilen,
Diesem dafür legt alle Genauigkeit er in die Seele,
Unsichtbares zu kennen und Unheilbares zu heilen."3
Es ist bemerkenswert]!, dass hier der inneren Medicin der Vorzug
vor der Chirurgie eingeräumt wurde. Diese Meinung erhielt sich bis
in unsere Tage und dürfte darin ihren Grund haben, dass das Erkennen
und Heilen der inneren Krankheiten dem Laien schwieriger und wun-
derbarer erscheint, als die Behandlung der äusseren Leiden, deren Ur-
sachen und Beseitigung in den meisten Fällen Jedem wahrnehmbar sind.
Die Heilkunst jener frühen Periode der griechischen Geschichte
1 Pindar's Werke übers, von Friede. Thiersch, Leipzig 1820, I. S. 199.
2 Diodor IV, c. 71.
3 F. G. Welcker: Kleine Schriften, Bonn 1850, Bd. III, S. 47.
Bei den Griechen vor Hippokrates. 31
beschränkte sich im Wesentlichen darauf, Pfeile und Lanzenspitzen
auszuziehen, das Blut zu stillen, die Schmerzen zu lindern und Ver-
bände anzulegen. In der Ilias werden eine grosse Anzahl von Ver-
letzungen verschiedener Art beschrieben und das Heilverfahren geschil-
dert, welches dabei angewendet wurde.1
Machaon und Podalirios sind nicht die einzigen Ärzte, welche in
den Homerischen Heldengedichten genannt werden.2 Auch Achilleus,
Patroklos und andere Heerführer und Krieger werden als heilkundig
gerühmt. Viele derselben verdankten ihre Kenntnisse auf diesem Ge-
biet dem Cheiron,3 „dem Manne der Hand." Sie verwertheten die-
selben zum Wohl und Nutzen der Menschen, gleich wie andere Helden
durch ihren Gesang die Gemüther erfreuten ; aber sie übten die Heil-
kunst nicht berufsmässig gegen Entlohnung aus.
Der Unterricht in der Heilkunde geschah durch die persönliche
Unterweisung eines Lehrers, welcher darin Kenntnisse und Erfahrungen
gesammelt hatte. Der Vater theilte sein medicinisches Wissen den
Söhnen mit, und diese vererbten ihre Kunst wiederum auf ihre Nach-
kommenschaft.4 Diese Thatsache scheint den Legenden zu Grunde zu
liegen, welche erzählen, dass sich die medicinischen Kenntnisse in den
Geschlechtern des Cheiron und des Asklepios erhalten haben und von
ihnen als theures Familien- Vermächtniss bewahrt wurden.
Als der ärztliche Ruhm der Nachkommen des Asklepios immer
heller erglänzte, und die dankbare Menschheit anfing, ihrem Ahn
göttliche Ehren zu erweisen, da mögen wohl auch andere Heilkünstler
begonnen haben, sich für Mitglieder dieser Familie auszugeben, deren
Geheimnisse ihnen überliefert worden seien. So entwickelte sich all-
mälig ein ärztlicher Stand, der seine Herkunft von Asklepios ableitete.
Die Asklepiaden, die vermeintlichen Nachkommen dieses mythischen
Stammvaters der griechischen Ärzte, vereinigten sich später zu Ge-
nossenschaften, welche bei gemeinsamen Opfern und religiösen Festen
ihre Zusammengehörigkeit zeigten. Eine in den Ruinen des Asklepios-
Tempels zu Athen gefundene und von Gieard 5 veröffentlichte Inschrift,
1 Ilias IV, 190. V, 73—75. 112. 694. XI, 349—60. 397. 846. XIII, 438—445.
XIV, 409 — 439. XV, 394. — Vergl. a. Darembeeg: La medecine dans Homere,
Paris 1865. — H. Dunbar: The medicine and surgery of Homer, Brit. med.
Journal, London 1880, 10. Jan.
2 Ilias XIII, 213. XVI, 28.
3 Ilias IV, 219. XI, 831. — Panofka in den Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss.
zu Berlin, Philos.-hist. Kl. 1843, S. 269 u. ff.
4 Platon: de republ. X, c. 3.
5 P. Girard: L'Asclepieion d'Athenes d'apres de recentes decouvertes in der
Bibliotheque des ecoles francaises d'Athenes et de Rome, T. 23, p. 85, Paris 1881.
32 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
welche Köhler der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts zuschreibt, er-
klärt dies für eine alte Sitte.
Die Asklepiaden waren also die zu einer Zunft verbundenen Ärzte
und keineswegs mit den Priestern, die an den Asklepios-Tempeln an-
gestellt waren, identisch, wie K. Sprengel und andere medicinische
Geschichtsforscher irriger Weise geglaubt haben.
Die ältesten Heiligthümer des Asklepios hefanden sich zu Trikka
in Thessalien, in Titane, Tithorea, Epidauros, auf der Insel Kos, zu
Megalopolis, in Knidos, Pergamon, Athen1 und anderen Orten. Hier
wurde der G-ott der Heilkunst verehrt und von Kranken aufgesucht,
welche von ihm die Erlösung von ihren Leiden erflehten. Mit den
Tempeln, in denen der religiöse Cultus stattfand, waren Wohnungen
für die Priester und Diener des Tempels, sowie weite gedeckte Säulen-
hallen verbunden, welche den frommen Pilgern und hilfebedürftigen
Kranken als Aufenthaltsort dienten. 2 Die meisten Asklepieien zeichneten
sich durch ihre gesunde Lage und anmuthige Umgebung aus. Sie
wurden in einer fruchtbaren Gegend auf Bergen und Hügeln, in der
Nähe von Wäldern und Hainen, welche vor schädlichen Winden und
bösartigen epidemischen Einflüssen schützten, und an Flüssen und
Quellen, die ein erfrischendes wohlschmeckendes Trinkwasser boten,
errichtet;3 einige hatten heilbringende Thermen und Mineralquellen,
welche gegen Krankheiten einen grossen Ruf genossen. Diese Gesund-
heitstempel waren mit lieblichen, wohlgepflegten Gärten umgeben, in
denen stets frisches Wasser floss, und enthielten in ihrem Innern Statuen.
Wandgemälde und Weihgeschenke aller Art. Neben den Bildsäulen
des Asklepios und anderer Gottheiten gab es Gedenksteine, welche an
berühmte Ärzte als Lieblinge der Götter erinnerten.4
Strenge Vorschriften wachten darüber, dass diese Heiligthümer
rein gehalten und vor Schädlichkeiten, die ihre günstigen hygienischen
Zustände gefährden konnten, bewahrt wurden. An der Pforte des
Tempels zu Epidauros standen die Worte: „Wer hier eintreten will,
muss ein keusches Gemüth besitzen!"5
Dort durfte ebensowenig wie in Dolos eine Frau gebären oder ein
Todter begraben oder verbrannt werden; selbst wenn ein Kranker starb,
1 Joh. Heinr. Schulze zählt in seiner Historia medicinae (Lips. 1728)
S. 118—125 eine grosse Anzahl von Asklepieien auf und nennt dabei die Au-
toren, von denen sie erwähnt werden.
2 Pausanias II, c. 11. 27 u. ff. X, 32 und Girard a. a. 0. p. 5.
3 Pausanias III, 24. VIII, 32. — Vitruv de archit. I, c. 2.
4 Anagnostakis im Bull, de corr. hellen. I, p. 212, pl. IX.
5 Clemens Alex and. : Stromat. V, c. 1, 13.
Bei den Griechen vor Hippokrates. 33
so galt das Heiligthum als entweiht. Die Personen, welche hier Hilfe
suchten, wurden sorgfältigen Reinigungen unterworfen, mussten Bäder
im Flusse, im Meere oder in der Quelle nehmen und einige Tage
fasten und sich des Weines enthalten, bevor sie den Tempel betreten
und der Gottheit Gebete und Opfer darbringen durften.
Wohlriechende Düfte, die aus den Räucherungen aufstiegen, er-
füllten die Luft, und der Gesang der Priester, welche die Macht und
Güte des Heilgottes priesen, ergriff die Seele. Die Gespräche mit den
Leidensgenossen, welche die Kranken in den Hallen des Tempels trafen,
und der Anblick der zahlreichen Weihetafeln und Inschriften, die von
glücklichen Heilungen berichteten, welche hier stattgefunden hatten,
gaben ihnen Vertrauen und Hoffnung. Willig überliessen sie sich daher
den Anordnungen der Priester, und mit peinlicher Sorgfalt befolgten
sie deren Vorschriften.
Wie in dem berühmten Amphiaraion und anderen alten Orakel-
stätten, wurden auch in den Tempeln des Asklepios die Heilmittel aus
den Träumen gelesen. Die Kranken schliefen während der Nacht in
den Hallen des Tempels und erwarteten die Träume, in denen sich ihnen
die Gottheit offenbaren sollte. Wenn darin die Behandlung des Leidens
nicht klar und deutlich angegeben wurde, so erzählten sie den Inhalt
des Traumes den Priestern und deren Gehilfen, welche ihn deuteten
und die Heilmittel nannten, welche angewendet werden sollten. Hatte
der Kranke in der ersten Nacht keinen Traum, so brachte er zu diesem
Zweck eine zweite und dritte Nacht im Asklepieion zu. Blieben die
Träume überhaupt aus, so bat er einen der Priester des Tempels oder
einen anderen frommgläubigen Mann, für ihn dort zu schlafen und zu
träumen.
Diese Stellvertretung war schon bei den Orakeln üblich1 und
führte später zu Betrügereien, indem schlaue Spekulanten, ähnlich
manchen spiritistischen Medien der heutigen Tage, den Verkehr mit
den überirdischen Wesen zu einem einträglichen Geschäft machten.2
Noch plumper war der Schwindel, wenn die Priester in der Maske
des Gottes Nachts den Besuchern des Tempels erschienen, um dadurch
bei ihnen die Vorstellung hervorzurufen, als ob sie träumen; Aristo-
phanes hat dies in seinem Lustspiel Plutos in einer derbkomischen
Weise geschildert.3
Die Heilmittel, welche verkündet wurden, waren — wenigstens in
1 Herodot VIII, c. 134.
2 Vergl. die Biographie des Apollonios von Tyana von Philosteatos I, 8,
9. IV, 1.
3 v. 620 u. ff.
Puschmann, Unterricht. 3
34 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
der älteren Zeit — mehr diätetischer und psychischer Natur als medi-
camentös. Manche der empfohlenen Kurmethoden waren durchaus
rationell1 und ganz geeignet, einen Heilerfolg herbeizuführen. Dies
erklärt sich dadurch, dass die Traumbilder, den vorherrschenden,, zu-
weilen einzigen Interessen der Schlafenden entsprechend, halb oder ganz
vergessene Erinnerungen an glückliche Kuren aus der Tiefe der Seele
hervorholten. Wo dieselben fehlten, da halfen die Priester, welche
durch die Tradition und die eigene Erfahrung einige ärztliche Kennt-
nisse erworben hatten, mit ihren Erklärungen und Rathschlägen. Wenn
sie damit keinen oder einen ungünstigen Erfolg hatten, so zogen sie
sich durch sophistische Kunststücke aus der peinlichen Lage heraus.2
Die Priester der Asklepios-Tempel waren nicht Ärzte, wie Viele
annehmen. Allerdings gab es unter ihnen sowohl wie unter ihren
Gehilfen, den Zakoren, Manche, welche in der Heilkunde erfahren
waren 3 und dieselbe vielleicht sogar systematisch erlernt hatten. Aber
zwischen der Heilkunst, welche in den Asklepios-Tempeln geübt wurde,
und derjenigen der Berufsärzte bestand der grosse Unterschied, dass
die erstere nicht als eine Erucht der menschlichen Erkenntniss, sondern
als göttliche Offenbarung erscheinen wollte. Das Eingreifen von Ärzten
musste daher hier mindestens überflüssig erscheinen. Aus diesem
Grunde ist es auch nicht wahrscheinlich, dass zwischen den Asklepios-
Priestern und den Ärzten ein gegensätzliches oder feindschaftliches
Yerhältniss bestanden hat.4 Es liegt vielmehr näher, das Gegentheil
anzunehmen, wenn man erfährt, welche demuth volle Verehrung die
Ärzte, die Asklepiaden, den Heiligthümern des Asklepios zollten, welches
hingebende Vertrauen sie seinen vermeintlichen Aussprüchen in ver-
zweifelten Fällen ihrer Praxis entgegen brachten.
Die Asklepiaden Hessen sich mit Vorliebe in der Nähe der Asklepios-
Tempel nieder und gründeten dort ärztliche Schulen. Unter diesen
erlangten diejenigen, welche zu Rhodos, Kroton, Kyrene, Kos und
Knidos entstanden, den bedeutendsten Ruf. Zwischen ihnen entwickelte
sich ein edler Wettstreit, welcher die Entwickelung der medicinischen
Wissenschaft begünstigte. 5 Auch musste der Verkehr der Asklepiaden
i Vergl. Vercoutre: La medecine sacerdotale dans l'antiquite grecque in
der Kevue archeolog., Paris 1885, ser. III, T. 6, p. 285 u. ff. — v. Willamowitz-
Moellendorfp: Die Kur des M. J. Apellas in dessen Philol. Untersuchungen,
Berlin 1886, H. 9, S. 116 u. ff.
2 Artemidor: Oneirocrit. V, 94. 3 Girard a. a. 0. p. 34.
4 Malgaigne im Journal de Chirurgie, Paris 1846, IV, p. 340. — Ch. Darem-
berg in der Kevue archeol., Paris 1869, T. 19, p. 261 u. ff.
5 Galen: Ed. Kühn, T. X, p. 5.
. Bei den Griechen vor HippoJcrates. 35
in den Tempeln, wo sie Leiden aller Art sahen, von erfolgreichen
Kuren und den Mitteln, die dabei angewendet wurden, hörten und die
Danksagungen der Geheilten lasen, auf sie anregend wirken und ihre
ärztlichen Kenntnisse und Erfahrungen vermehren.
Die Asklepiaden-Schulen waren Vereinigungen von Ärzten, welche
den gleichen wissenschaftlichen Theorien huldigten, und entsprachen
eher unsern Akademien als unsern Facultäten. Die Erziehung der
Ärzte geschah nach derselben Methode, wie in der ältesten Zeit, iudem
der Lehrer einen oder mehrere Schüler in den Kenntnissen und Fertig-
keiten unterrichtete, welche die Ausübung der Praxis verlangt.
Bei der Aufnahme der Schüler beschränkte man sich nicht mehr
wie ehemals auf die Sprösslinge der Familien, welche ihre Abstammung
von Asklepios ableiteten ; 1 und wenn die Asklepiaden durch die Führung
ihrer Geschlechtsregister diesen Glauben zu erhalten suchten, so wollten
sie damit wohl nur darthun, dass die Heilkunst ihres Stammvaters
Asklepios von ihnen rein und unverfälscht übermittelt werde.2 Aus
dem gleichen Grunde befahlen sie auch ihren Schülern strenge Ge-
heimhaltung ihrer Lehren und verboten ihnen, dieselben Andern, die
nicht der Asklepiaden-Zunft angehörten, mitzutheilen. 3 Derartige Mass-
regeln wurden auch von anderen gelehrten Genossenschaften, nament-
lich wenn dieselben, wie hier die gemeinsame Verehrung des Asklepios,
ein religiöses Band umschlang, angewendet, um die Profanation ihrer
Geheimnisse zu verhüten.
Der medicinische Unterricht begann schon in früher Jugend. War
der Vater Arzt, so war er auch der erste Lehrer seines Sohnes, der
sich der Heilkunde widmete und dann seine spätere fachmännische
Ausbildung bei anderen tüchtigen Ärzten suchte und fand.
Der Lehrer theilte den Schülern seine Ansichten über den Bau
und die Funktionen des Körpers mit, erklärte ihnen die Ursachen der
Krankheiten und führte sie an das Krankenbett, um ihnen dort die Er-
scheinungen der verschiedenen Leiden und ihre Behandlung zu zeigen.
Die Schüler mussten für den Unterricht ein Honorar zahlen4 und
waren verpflichtet, den Söhnen ihres Lehrers unentgeltlich die Heil-
kunst zu lehren.
1 Galen a. a. 0. T. II, p. 281.
2 Übrigens stammen die noch vorhandenen Bruchstücke der genealogischen
Tafeln der Asklepiaden aus später Zeit und können daher nicht Anspruch auf
Authencität erheben. Tzetzes (12. Jahrhundert n. Chr.): Histor. var. chil. ed.
Th. Kiessling, Lips. 1826, p. 276, v. 944—989.
3 Hippokrates: Ed. Littre, T. IV, p. 642.
4 Platon: Menon c. 27. Protagoeas c. 3.
3*
36 Der medicinische Unterricht im Alter thum.
Wenn die Ausbildung des Schülers beendet war, so wurde er in
die Genossenschaft der Asklepiaden aufgenommen, wobei er folgenden
Eid ablegte:1
„Ich schwöre bei Apollon, dem Arzte, bei Asklepios, bei der Hj-
gieia und Panakeia und bei allen Göttern und Göttinnen, und nehme
sie zu Zeugen, dass ich diesen meinen Eid nach meinen Kräften und
Fähigkeiten halten will. Ich werde Denjenigen, welcher mir die Heil-
kunst gelehrt hat, wie meine Eltern achten, mit ihm den Lebens-
unterhalt theilen und für seine Bedürfnisse Sorge tragen. Seine Kinder
sollen von mir wie Geschwister betrachtet werden, und seinen Söhnen
werde ich, falls sie die Heilkunst zu erlernen wünschen, dieselbe ohne
Bezahlung und ohne Verpflichtung lehren. Die ärztlichen Vorschriften
und Alles, was ich von der Heilkunst gehört und gelernt habe, will
ich meinen eigenen Söhnen sowohl wie denen meines Lehrers und
meinen Schülern, die auf das ärztliche Gesetz verpflichtet und vereidet
worden sind, mittheilen, sonst aber Niemandem. Die Lebensweise der
Kranken werde ich, soweit ich es vermag und verstehe, zu ihrem Vor-
theil regeln und sie vor Schädlichkeiten und Kränkungen schützen.
Niemals will ich ein tödtliches Mittel verabreichen, auch nicht, wenn
man mich darum bittet, noch einen darauf hinzielenden Bathschlag
ertheilen. Ebensowenig werde ich jemals einem Weibe ein die Frucht
abtreibendes Mutterzäpfchen geben. Keusch und heilig will ich mein
Leben verbringen und meine Kunst halten. Die Castration werde ich
nicht einmal bei Denen, welche an der Steinkrankheit leiden, ausführen, 2
1 Hippokratks a. a. 0. T, IV, p. 628—632.
2 Die Worte: ov re/uio) dk oC«)k jiijv hdiövraq haben den Erklärern und Über-
setzern von jeher grosse Schwierigkeiten bereitet. Die Meisten glaubten, dass
sich der Schwörende darin verpflichtet, den Blasensteinschnitt nicht auszuführen.
Bei dieser Deutung ist aber das ordk fiijv des Textes tiberflüssig und sinnstörend,
da die Operation des Blasensteinschnitts doch nur an Solchen, welche am Blasen-
stein leiden, vorgenommen werden konnte. Littre conjicirte deshalb ahiovraq
für ÄiÜKovrac, so dass die Übersetzung lauten würde: „Ich werde den Blasenstein
nicht operiren, selbst dann nicht, wenn mich die Kranken darum bitten." Aber
vielleicht bezieht sich die Stelle überhaupt nicht auf den Blasensteinschnitt; denn
die Ärzte jener Zeit scheuten sich keineswegs, andere Operationen auszuführen,
und beschäftigten sich auch mit der Untersuchung und Behandlung der Blasen-
leiden (Hippokrates a. a. 0. T. VI, p. 150). — Grössere Berechtigung hat die
Ansicht R. Moreau's, Charpignon's u. A., dass es sich in der obigen Stelle
um das Verbot der Castration handelt, da dasselbe im Zusammenhang mit an-
deren schimpflichen Dingen, z. B. der Verabreichung von Giften, der Kindes-
abtreibung u. a. m. erscheint. Zudem kommt das Wort ri^veiv in diesem Sinne
in der griechischen Literatur vor; freilich werden dafür häufiger die Composita
k/.rifxvuv und dnori/xveiv gebraucht. Das darauf folgende odik nrjv Xt&iwvta^ be-
Bei den Griechen vor Hippokrates. 37
sondern dies den Leuten überlassen, welche daraus ein Geschäft machen.
Wenn ich ein Haus betrete, so soll dies zum Heil der Kranken ge-
schehen. Ich will Niemandem absichtlich Unrecht thun und irgend
welchen Schaden zufügen und weder Frauen noch Männer, weder Freie
noch Sklaven zur Unzucht verführen. Was ich in meiner ärztlichen
Praxis und ausserhalb derselben in Bezug auf das Leben der Menschen
sehen oder hören werde, darüber will ich, wenn es niemals öffentlich
bekannt werden soll, Schweigen beobachten und es als ein Geheimniss
bewahren. Möge es mir, wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche,
beschieden sein, das Leben und die Kunst zu geniessen und immer-
währenden Ruhm zu ernten bei allen Menschen! Wenn ich aber den
Eid übertrete und meineidig werde, so soll mich das Gegentheil
treffen!" —
Aus dem Wortlaut dieses Eides, welcher ohne Zweifel der Vor-
Hippokratischen Zeit angehört, geht hervor, dass die Castration, die zum
Zweck der Lieferung von Eunuchen vorgenommen wurde, Leuten über-
lassen blieb, welche die Ausführung dieser Operation geschäftsmässig
betrieben. Vielleicht wurden auch andere Theile der Chirurgie, z. B.
der Blasenschnitt, und die Behandlung der Knochenbrüche und Ver-
renkungen, von Empirikern ausgeübt, die sich darin eine grosse Ge-
wandtheit und Sicherheit erworben hatten? l
Jedenfalls lässt sich annehmen, dass es ausser den Asklepiaden
noch andere Ärzte gab, welche nicht der Genossenschaft derselben an-
gehörten.2 Erst später wurden alle Ärzte „Asklepiaden" genannt.
Grossen Einfluss auf die Entwickelung der Heilkunde und besonders
auf die Bildung der Ärzte übten die Philosophen aus. Die griechischen
Weisen, welche die Ursachen und das Wesen der Dinge zu ergründen
deutet dann, dass die Castration nicht einmal bei Denen, welche am Blasenstein
litten, gestattet war, obwohl bei ihnen die Bedenken dagegen geringer sein
mussten, da der Steinschnitt bei der damals üblichen Operationsmethode wegen
der damit verbundenen Zerstörung der Samenausführungsgänge gewöhnlich
Zeugungsunfähigkeit im Gefolge hatte. Übrigens hat kt&täv auch die Bedeutung
„an einer steinartigen verhärteten Anschwellung leiden" und wird nach Th. Gom-
perz in diesem Sinne von Verhärtungen an den Augenlidern, den Gelenken, der
Gebärmutter u. a. m. gebraucht. Vielleicht bezieht es sich hier auf die Hoden
und die obige Stelle muss übersetzt werden: „Ich werde die Castration nicht
einmal bei denen, deren Hoden verhärtet sind, ausführen"? — Vergl. Charpignon :
Etüde sur le serment d'Hippocrate , Orleans und Paris 1881. — Th. Puschmann
in Bursian's Jahresber. f. Alterthumswissenschaft 1884, III, p. 55 und in den
Jahresber. über d. Fortschr. d. ges. Medicin, herausgeg. v. Virchow u. Hirsch
1883, I, S. 3 26.
1 Vergl. H. Haeser: Geschichte der Medicin, 3. Aufl., Jena 1875, I, S. 88.
2 Welcker a. a. 0. S. 103 u. ff.
38 Der medtGinische Unterricht im Alterthum.
suchten, zogen vor Allem den Menschen und die ihn umgebende Natur
in Betracht. Pythagoras, welcher das Grundprincip alles Seins in
der Zahl, in den Massverhältnissen, in der Gesetzmässigkeit sah, war
Arzt und beschäftigte sich mit dem Bau des Körpers, der Thätigkeit
der Sinne und der Seele, sowie mit der Zeugung und Entwickelung
des Menschen.
Nach längerem Aufenthalt in fremden Ländern, namentlich in
Ägypten, wo er in das Wissen der gelehrten Priester eingeweiht wor-
den sein soll,1 liess er sich in der griechischen Pflanzstadt Kroton in
Unter-Italien nieder, wo sich die berühmte Asklepiaden-Schule befand.
Dort gründete er einen Bund, welcher weniger philosophische, als
ethische und politische Ziele anstrebte. Seine Mitglieder waren haupt-
sächlich Ärzte und fanden hier bald einen Mittelpunkt für ihre gemein-
samen wissenschaftlichen Interessen. Sie widmeten ihre Aufmerksam-
keit vorzugsweise der Diätetik und suchten durch einfache Mittel, durch
Umschläge, Einreibungen und Salben die Heilung herbeizuführen; die
Chirurgie wurde von ihnen vernachlässigt.2
Unter den Anhängern des Pythagoeas werden die Ärzte Philo-
laos, Elolathes, welcher die Gesundheit von dem Gleichmass der
Flüssigkeiten im Körper ableitete und sie mit der musikalischen Har-
monie verglich,3 Epimarch, Meteodoros u. A. genannt. Wahrschein-
lich gehörten auch Alkmaeon und Demokedes, welche ihre ärztliche
Ausbildung in Kroton erhalten hatten, zu seinen Schülern. Der letztere
verbreitete durch seine glücklichen Kuren den Buhm der Heilkunst
seiner Heimath in fernen Ländern und erlangte eine hervorragende
Stellung am Hofe des Königs Darius, 4 dessen verrenkten Fuss er nach
den vergeblichen Versuchen seiner ägyptischen Leibärzte wieder einzu-
richten vermochte.
Alkmaeon soll der Erste gewesen sein, der anatomische Zerglie-
derungen unternahm und dabei den Ursprung der Sehnerven aus dem
Gehirn entdeckt haben.5 Er erklärte, dass die menschliche Seele un-
sterblich und gleich den Gestirnen in ewiger Bewegung begriffen sei.
Er versuchte, die Entstehung der Sinnesempfindungen zu erklären, und
stellte die erste Theorie des Schlafes auf. „Wenn das Blut/' sagte er,
„in die grossen Blutgefässe zurücktritt, so entsteht der Schlaf; wird es
1 Diodor. I, 69. 98. 2 Jamblich: de vita Pythag. cap. 29, § 163 u. ff.
3 Kühn: Opusc. acad., Lips. 1827, I, p. 47—86.
4 Herodot III, c. 129—134.
5 Chalcidius in Piaton. Timaeum ed Meursius, Lugd-Bat, 1617, p. 340. —
M. A. Unna: De Alcmaeone Crotoniata ejusque fragmentis quae supersunt in
Ch. Petersen: Philologisch-historische Studien, 1. H., Hamburg 1832, S. 41—87.
Bei den Grieohen vor Hippokrates. 39
aber wieder in die kleineren zerstreut, so erfolgt das Erwachen."1
Weniger Beachtung verdienen seine Ansichten über die Ernährung des
Kindes im Mutterleibe und über die Ursachen, welche der Unfrucht-
barkeit der Bastarde zu Grunde liegen.
Einer der hervorragendsten Naturphilosophen jener Zeit war Em-
pedokles, der, an die Ewigkeit der Welt glaubend, das Entstehen und
Vergehen der Dinge bestritt,2 und überall nur Veränderungen sah,
welche sich in Vereinigung und Trennung äussern und durch die Liebe
und den Hass hervorgerufen werden. Er stellte, wie Aeistoteles be-
richtet, 3 die Lehre von den vier Elementen auf, welche auf die Physio-
logie und Pathologie der Späteren den weittragendsten Einfluss aus-
übte, und ahnte bereits den grossen Schöpfungsgedanken, dass die Ent-
wickelung der Organismen von den niederen Formen zu den höheren
fortschreitet, und dass nur das Zweckmässige erhalten bleibt. Er
glaubte, dass nicht blos der Mensch und die Thiere, sondern auch die
Pflanzen beseelt seien, beschäftigte sich mit den Sinnesempfindungen
und der Athmungsthätigkeit, die er auf mechanische Weise zu erklären
versuchte, und betrachtete das Labyrinth im Ohr als den Sitz des
Gehörs.
Seine Zeitgenossen Anaxagoras aus Klazomene und Diogenes
aus Apollonia widmeten vorzugsweise der Anatomie ihre Aufmerksamkeit.
Der Erstere nahm Zergliederungen von Thieren vor* und bemerkte
die Seitenventrikel des Gehirns; auch war er der Erste, der die von
den späteren Ärzten zum Dogma5 erhobene Meinung aussprach, dass
die Galle die Ursache der akuten Krankheiten sei. Diogenes hinter-
liess eine Beschreibung des Gefässsystems, die freilich sehr viele Irr-
thümer enthält.6
Heraklit sah in der beständigen Umwandlung der Form, in dem
ewigen Wechsel der Dinge, das eigentliche Wesen derselben. Wie
Empedokles, so schrieb auch er dem Feuer, der inneren Wärme, einen
wichtigen Einfluss auf die Vorgänge im Organismus zu. Seine An-
sichten erhielten im Lehrgebäude der Hippokratiker einen Platz und
spielten in der Physiologie und Pathologie lange Zeit eine hervor-
ragende Kolle.
In noch höherem Grade war dies der Fall mit den Theorien des
1 Plutarch: de placit. philos. V, c. 24.
2 Hippokrates a. a. 0. T. VI, p. 474.
3 Aristoteles: Metaph. I, 3. 4. 4 Plutarch: Perikles, c. 6.
5 S. die Nach-Galen'sche Schrift über die kritischen Tage in Hippokrates
a. a. 0. T. IX, p. 300 u. ff.
6 Aristoteles: Hist. anim. III, 2.
40 Der medicinische Unterricht im Alterthwu.
Leükippos und Demokeit. Der Materialismus, welcher ihre Atomen-
lehre beherrschte, führte zur Erforschung der Natur, also auf den Weg.
der allein Erfolge verspricht. Demokrit1 widmete sich selbst mit
grossem Eifer anatomischen Untersuchungen und scheint darin sehr
geschickt gewesen zu sein, da er über den Bau des Chamäleons eine
besondere Abhandlung zu verfassen vermochte.2 Auch soll er über
verschiedene Krankheiten, über die Hundswuth, über die Heilwirkungen
der Musik3 u. a. m. geschrieben haben.
Eine aus dem Alterthum4 stammende Sage erzählt, dass Hippo-
krates von den Landsleuten des wunderlichen Forschers, die ihn für
geistesgestört hielten, nach Abdera berufen wurde, um ihn zu unter-
suchen. Als er die Fülle von Wissen und Geist, die in Demokeit
wohnte, erkannte, mag er sich wohl zu dem Ausspruch gedrängt ge-
fühlt haben, dass er der Weiseste aller Menschen sei. Er verdankte
dem Verkehr mit ihm manche Anregung und wahrscheinlich auch
manche Kenntnisse.5
Die Philosophen rechneten das Studium des Menschen und der
Krankheiten zu ihren wichtigsten Aufgaben.6 Viele unter ihnen ge-
hörten dem ärztlichen Stande an und übten die Heilkunst aus.
Dieses fruchtbare Wechselverhältniss zwischen der Philosophie und
der Medicin erhielt sich auch später und hatte für beide Wissenschaften
Vortheile; jene zog es von der leeren Spekulation ab und stellte sie
auf den Boden der Thatsachen, dieser gab es eine tiefere Auffassung
der Dinge und eine allgemeine wissenschaftliche Grandlage für ihre
Bestrebungen und Ziele.
Zur Zeit des Hippokrates.
Die medicinische Schule zu Rhodos scheint nur kurze Zeit be-
standen zu haben; denn die späteren Autoren gedenken derselben
nicht mehr.7
1 Aristoteles: de generat. I, 2. — Cicero: Tusc. quaest. V, 39.
2 Plinius: Hist nat. XXVIII, c. 29. 3 Gellius: Noct. Attic. IV, c. 13.
4 Hippokrates a. a. 0. T. IX, p. 320—386. — Soranus: Leben des Hippo-
krates in Ideler: Physici et medici Graeci minores (Berlin 1841) T. I, p. 253.
— Aelianus: var. hist. IV, c. 20.
5 Celsus: Praef. — Soranus a. a. 0. p. 252. — Boethius: de musica I, I.
6 Aristoteles: de respir. c. 8. — Celsus: Praef.
7 Galen a. a. 0. T. X, p. 6.
Zmv Zeit des Hippokrates. 41
Im 5. Jahrhundert v. Chr. genoss die medicinische Schule zu Kroton
den grössten Ruf, was sie vielleicht zum Theil ihren Beziehungen zu
den Pythagoreern verdankte. Die zweite Stelle behauptete die Schule
von Kyrene,1 wo auch andere Wissenschaften, besonders die Mathematik
und die Philosophie, eifrig gepflegt wurden.2
Nicht viel später blühten die Asklepiaden-Schulen zu Knidos und
Kos. Leider ist die diesen Gegenstand behandelnde Schrift3 des Theo-
pompos verloren gegangen; doch besitzen wir in der Hippokratischen
Sammlung eine Quelle, die uns über die Leistungen und einzelne Ein-
richtungen derselben werthvolle Aufschlüsse giebt.
Darnach bestanden zwischen diesen beiden Schulen wesentliche
Verschiedenheiten in Bezug auf die medicinischen Theorien und die
ärztlichen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Die Knidischen
Ärzte waren gute Beobachter und geschickte Chirurgen, zeigten Interesse
für wissenschaftliche Fragen und liebten eine möglichst einfache Be-
handlung.
Da uns aber das Werk, in welchem ihre Grundsätze niedergelegt
waren, nämlich die Knidischen Sentenzen, nicht überliefert worden ist,
so sind wir, wenn wir uns eine Ansicht über ihre wissenschaftliche
Bedeutung bilden wollen, auf die wenigen darauf bezüglichen Bemer-
kungen angewiesen, die sich in anderen Schriften des Alterthums er-
halten haben. Sie rühren zum Theil von Gegnern der Knidischen
Schule her und sind in Folge dessen weder wohlwollend noch gerecht.
So wird ihr der Vorwurf gemacht, dass sie sich damit begnüge, die
subjectiven Klagen der Kranken zu erforschen, und darüber die genaue
objective Untersuchung des Körpers vernachlässige.4
Ferner wurden die Knidischen Ärzte getadelt, weil sie die Krank-
heiten nach den einzelnen Körpertheilen und Organen eintheilten und
zu viele Formen derselben unterschieden. Sie stellten z. B. sieben Arten
der Erkrankung der Galle, zwölf der Harnblase, vier der Nieren, eben-
soviel der Strangurie, drei Formen des Tetanus, vier der Gelbsucht,
drei der Schwindsucht und mehrere Formen der Bräune auf, indem
sie hauptsächlich die Entstehungsursache als Unterscheidungsmerkmal
annahmen.5 Ihre Schilderung der Krankheitserscheinungen war kurz
1 Herodot III, c. 131.
2 Vergl. Houdart: Histoire de la medecine grecque depuis E^culape jusqua
Hippocrate, Paris 1856, p. 128 u. ff.
3 Photii Bibl. p. 120b ed. Bekker.
4 Hippokrates a. a. 0. T. II, p. 224.
5 Hippokrates a. a. 0. T. VII, p. 188 U. ff. — Galkx a. a. 0. T. XV,
p. 363—64.
42 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
und treffend, wie man aus dem die Nephritis betreffenden Fragment
bei Rufus erkennt.1
In chronischen Krankheiten verordneten sie hauptsächlich Milch,
Molken und Abführmittel, bei der Schwindsucht empfahlen sie ausge-
dehnte Spaziergänge. Euryphon, einer der bekanntesten Ärzte dieser
Schule, der zur Zeit des Hippokrates lebte und sich als medicinischer
Schriftsteller auszeichnete,2 rieth den Schwindsüchtigen, die Milch von
Eselinnen zu trinken oder an den Brüsten der Frauen zu saugen;,3
auch soll er bei diesem Leiden Moxen angewendet haben, wie aus einer
Scene des Komikers Platon hervorgeht.4 Ein anderer Vertreter der
Knidischen Schule, Ktesias, lebte lange Zeit als Leibarzt am persischen
Hofe und verfasste historische Arbeiten über Persien und Indien und
einige medicinische Schriften.5 Von den übrigen Knidischen Ärzten
jener Zeit wissen wir wenig mehr als ihre Namen.6
Die Nachrichten über die Schule von Knidos sind fast noch spär-
licher als die Überreste, welche von der blühenden Cultur dieses Ortes
zurückgeblieben sind.
Mehr begünstigt vom Schicksal war die medicinische Schule zu
Kos.7 Ihre Verdienste um die Heilkunde wurden von Hippokrates,
ihrem berühmtesten Vertreter, dem Andenken der Nachwelt überliefert.
Ihm verdankten es die Ärzte von Kos, dass ihre Schriften von den
Späteren zur Grundlage des medicinischen Lehrgebäudes gemacht wur-
den, und dass ihre Schule noch heute mit Bewunderung und Ehrfurcht
genannt wird.
,,Ein Strahl des Ruhmes fiel auf sie,
Ein Strahl, der ihr Unsterblichkeit verlieh.'-
Hippokrates, dessen Lebenszeit ungefähr in d. J. 460 — 377 v. Chr.
fällt, war ein Sprössling einer alten Asklepiaden-Familie, die auf der
Insel Kos ihren Sitz hatte und ihren Ursprung bis auf Asklepios und
Herakles zurück verfolgte. Sein Grossvater und Vater zeichneten sich
durch ihre ärztliche Tüchtigkeit aus. Von dem letzteren erhielt Hippo-
krates den ersten Unterricht in der Heilkunde. Zu seiner weiteren
1 Oeuvres de Rufus d'Ephese, ed. p. Daremberg et Ruelle, Paris 1879, p. 159.
2 Galen a. a. 0. T. VI, p. 473. XI, 795. XV. 136. XVII, A. 886. XIX, 721.
3 Galen a. a. 0. T. VII, 701. 4 Galen a. a. 0. T. XVIII, A. 149,
5 Diodor II, c. 32. — Oeuvres d'Oribase ed. p. Bussemaker et Daremberg,
Paris 1851—76, T. II, p. 182. — Galen a. a. 0. T. XVIII, A. 731.
6 Houdart a. a. 0. p. 255 u. ff.
7 Über die im Auftrage der französischen Kegierung auf der Insel Kos
unternommenen Ausgrabungen und ihre Ergebnisse berichtet M. Dubois: De Co
insula, Paris 1884.
Zur Zeit des Hippokrates. 43
ärztlichen Ausbildung begab er sich nach Athen, wo er mannigfache
Anregung und Belehrung empfing.
Dort strömte damals Alles zusammen, was Griechenland Grosses,
Schönes und Edles besass. Es war das Zeitalter des Peeikles, jene
Periode äusseren Glanzes, bürgerlichen Wohlstandes und künstlerischen
Schaffens, in welcher der Geist des Hellenismus unvergängliche Triumphe
feierte. Neben den Philosophen Sokeates und Platon erschienen die
grossen tragischen Dichter Eueipides und Sophokles, der Geschichts-
schreiber Thukydides, der Bildhauer Phidias und der Architekt Mne-
sikles und erfüllten die Welt mit ihrem Ruhm, während der Lustspiel-
dichter Aeistophanes und die Lyriker Jon von Chios und Dionysios
die Gemüther zur Freude und Heiterkeit stimmten. Athen wurde
durch grossartige Bauwerke verschönert; es entstanden die Propyläen,
der Tempel der Athene mit seinem reichen Schmuck an Statuen und
Skulpturen, die prachtvolle breite Treppe, die zur Akropolis führte, und
das Odeon; damals schuf Phidias den olympischen Zeus und die beiden
Statuen der Pallas Athene.
Derartige Eindrücke mussten auf die geistige Entwickelung des
Hippokrates Einfluss ausüben, seinen Ehrgeiz anregen und seine That-
kraft stählen. Im Verkehr mit hervorragenden Ärzten und Philosophen
suchte er die Gelegenheit, sich in seinem Fach zu vervollkommnen;
und bald gelang es ihm, in diesen Kreisen eine angesehene Stellung
zu erringen.
Seine glücklichen Heilerfolge machten ihn zu einem gesuchten
Arzt, dessen Ruf die Grenzen seines Vaterlandes überschritt. Er wurde
bald in diese, bald in jene Stadt berufen, um in schwierigen Krank-
heitsfällen seinen ärztlichen Rath zu ertheilen.
Sein Ruhm führte ihm eine Menge von Schülern zu, welche sich
unter seiner Leitung zu tüchtigen Ärzten auszubilden hofften.1 Unter
ihnen befanden sich seine Söhne Thessalos und Drakon, sowie sein
Schwiegersohn Polybos. Thessalos nahm, wenn sich die in den pseud-
hippokratischen Schriften enthaltene, aus dem Alterthum stammende
Rede desselben an die Athener 2 auf Thatsachen stützt, in seiner Jugend
als Militärarzt an der Expedition des Alkibiades nach Sicilien Theil,
lebte später als Leibarzt am Hofe des Königs Archelaos von Macedo-
nien 3 und galt als der Verfasser mehrerer Schriften der Hippokratischen
Sammlung.4 Dass einige Theile derselben von Polybos herrühren, ist
1 Hippokrates a. a. 0. T. IX, p. 420. — Soranus a. a. 0. p. 254.
2 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 404.
3 Galen a. a. 0. T. XV, p. 12.
4 Galen a. a. 0. T. VII, 855. 890. IX, 859. XVII, A. 796. 888.
44 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
historisch nachgewiesen; denn Akistoteles citirt ein Fragment über
die Vertheilung der Blutgefässe aus einem Buch des Polybos, welches
sich wörtlich in der Hippokratischen Schrift über die menschliche
Natur findet. 1 Polybos übte in Kos die ärztliche Praxis aus und er-
theilte später an der Stelle seines Schwiegervaters den medicinischen
Unterricht. 2
tlber das Leben des Hippokkates haben sich eine Menge von
Sagen und Legenden gebildet, von denen jedoch nur wenige wahr sein
dürften. So ist die Erzählung, dass er die Bibliothek von Knidos3
oder den Asklepios-Tempel seiner Vaterstadt4 verbrannt habe, damit er
als Erfinder der in den Inschriften desselben niedergelegten medicini-
schen Weisheit, die er sich angeeignet habe, angesehen werde, ganz
sicherlich erdichtet; denn sie widerspricht Allem, was über den Cha-
rakter des Hippokrates bekannt ist. Auch würde er, wenn er eine
solche Herostratos-That begangen hätte, anstatt der allgemeinen Ver-
ehrung, die ihm im Alterthum gezollt wurde, nur Verachtung gefunden
haben, mochte er auch noch so bedeutend in seinem Fach sein.
Aus den Schriften, welche ihm zugeschrieben werden, spricht echte
Menschenliebe, aufrichtige Religiosität und glühender Patriotismus.
Den aufregenden kleinlichen Agitationen der politischen oder socialen
Parteien hielt er sich fern und lebte nur seiner Wissenschaft und
seinem Beruf. Von ihm konnten die Worte gelten, die Euripides dem
Naturforscher zuruft:
,,0 selig der Mann,
Der prüfend des Wissens Gebiete durchmass,
Den nicht zu der Bürger verderblichen Streit,
Zu des Unrechts That nicht ziehet der Sinn;
Er durchforschet der ewigen Mutter Natur
Nie alterndes Weltall, wie es entstand;
Nie haftet im Herzen des trefflichen Mannes
Ein Gedanke an schändliche Thaten."
Die letzten Lebensjahre verbrachte Hippokkates in Thessalien; er
soll auch dort gestorben sein. Noch zur Zeit des Soeanus5 wurde in
der Gegend zwischen Gj^rton und Larissa sein Grabmal gezeigt, in
dem sich ein Bienenschwarm niedergelassen hatte, dessen Honig als
heilsam gegen die Mundgeschwüre der Kinder galt.
1 Vergl. Aristoteles: Hist. animal. III, c. 3. — Hippokkates a. a. 0. T. VI,
p. 58, sowie Galen a. a. 0. T. IV, 653. XV, 108. 175. XVIII, A. 8.
2 Galen a. a. 0. T. XV, 11. 3 Soranus a. a. 0. p. 253.
4 Pliniüs: Hist. nat, XXIX, c. 1. 5 a. a. O. p. 254.
Zajlv Zeit des Hippokmtes. 45
Die hohe Bedeutung des Hippokrates wurde schon von seinen
Zeitgenossen erkannt; Platon1 verglich ihn mit Polykleitos und
Phidias, und Aristoteles2 nannte ihn den „grossen." Hippokrates.
Seine Schriften wurden mit den Werken anderer Mitglieder seiner
Familie von seinen Nachkommen aufbewahrt und dienten ihnen zum
medicinischen Unterricht und zur Belehrung, wenn sie in ihrer ärzt-
lichen Thätigkeit des Käthes bedurften. Als die Ptolemäer anfingen,
Bibliotheken zu gründen, und zu diesem Zweck die Werke der be-
rühmtesten Schriftsteller ankaufen Hessen, gelangten auch Abschriften
der Hippokratischen Sammlung nach Alexandria,
Durch die Gewissenlosigkeit gewinnsüchtiger Spekulanten, welche
sich die Bücherliche der ägyptischen Könige zu Nutze machten, ge-
schah es, dass bei dieser Gelegenheit manche Schriften berühmten Autoren
fälschlich zugeschrieben wurden, um ihren Kaufpreis zu erhöhen.3 Die
Bibliothekare, welche mit der Durchsicht und Prüfung der erworbenen
Bücher beauftragt waren, besassen nicht immer die Kenntnisse und
Mittel, um das Echte von dem Falschen zu unterscheiden und die
Authenticität der Schriften festzustellen. Daher kam es, dass einige
Werke für die Produkte von Autoren erklärt wurden, welche denselben
gänzlich fern standen.
Auch die Hippokratischen Schriften hatten dieses Schicksal; schon
zu jener Zeit gab es Bearbeitungen derselben, die im Text wesentliche
Verschiedenheiten darboten.4 Darf man sich da wundern, dass in die
Sammlung, welche ursprünglich nur die Werke des Hippokrates und
seiner nächsten Verwandten umfasste, auch Schriften aufgenommen
wurden, die nicht von ihnen herrührten?5
Die Abschreiber, welche die in den Bibliotheken vorhandenen
Exemplare zur Vorlage nahmen, trugen dazu bei, die irrige Annahme
des Hippokratischen Ursprungs einzelner Schriften zu bestätigen und
zu verallgemeinern, und kühne Redakteure vergrösserten den Irrthum
durch eigenmächtige Zusätze, Ergänzungen und Veränderungen des
Textes.6 Als Galen seine Commentare zu den Werken des Hippo-
krates schrieb, hatte er verschiedenartige Recensionen des Wortlauts
derselben vor sich; er befolgte dabei, wie er sagt,7 die Methode, stets
diejenige Lesart als die richtige anzuerkennen, welche die älteste war.
1 Peotagoras c. 3. 2 Polit. VII, 4.
3 Galen a. a. 0. T. XVI, 5. 4 Galen a. a. 0. T. XVII, A. 606.
5 Vergl. den Brief des hl. Augustin an Faustus, den Manichäer, L. 33, 6.
(T. VI, p. 493. Edit. Froben 1556.)
6 Galen a. a. 0. T. XV, 21. XVII, A. 795.
7 Galen a. a. 0. T. XVII, A. 1005.
46 Der medicinische Unterricht im Älterthum.
Unter diesen Umständen ist es begreiflich, dass schon im Älter-
thum Meinungsverschiedenheiten darüber herrschten, welche Schriften
von Hippokeates verfasst seien oder nicht. Diese Frage hat den
Scharfsinn der Gelehrten und Kritiker bis in die neueste Zeit be-
schäftigt, und noch in den letzten Jahren, haben Littee, Eemeeins,
Kühlewein u. A. den Versuch gemacht, dieselbe der Lösung näher
zu bringen.
In ihrer heutigen Gestalt enthält die unter dem Namen des
Hippokeates bekannte Sammlung medicinischer Schriften neben einer
grossen Anzahl von Abhandlungen, die unzweifelhaft von ihm und
seinen nächsten Verwandten verfasst sind, eine nicht geringe Menge
von Arbeiten, die von anderen Autoren herrühren. Der Zeit des Hippo-
keates gehören sie fast sämmtlich an; nur wenige Aufsätze stammen
aus einer früheren oder späteren Periode.
Sie liefern eine vollständige Übersicht über die medicinischen
Kenntnisse, welche man im Zeitalter des Hippokeates besass, und
bringen einige wichtige Mittheilungen über die Einrichtungen des medi-
cinischen Unterrichts und die ärztlichen Standesverhältnisse, die wir
mit Hilfe anderer literarischer Notizen zu einem abgerundeten Bilde
verarbeiten wollen.
Man wusste sehr gut, dass die Heilkunst nicht auf mystischem
Wege überliefert, sondern erlernt wird, wie jede andere Kunst, und
dass man sich zu diesem Zweck an Lehrer wenden muss, welche die-
selbe verstehen und auszuüben wissen.1
Der ärztliche Beruf stand Jedem offen. Das medicinische Studium
begann schon in früher Jugend.2 Der Unterricht war wahrscheinlich
ähnlich organisirt wie in der Platonischen Akademie und anderen
Schulen der Philosophen; ein Lehrer übernahm die gesammte ärztliche
Erziehung des Schülers und machte ihn mit allem Wissenswerthen
aus den verschiedenen Zweigen der Heilkunst bekannt.
Als Lehrer durfte Jeder auftreten, der die ärztliche Praxis aus-
übte und Kenntnisse und Erfahrungen in der Heilkunde gesammelt zu
haben glaubte. Er forderte von dem Schüler, dessen medicinische Aus-
bildung er übernahm, für den Unterricht ein Honorar, welches durch
einen Vertrag festgestellt wurde und manchmal ziemlich beträcht-
lich war.
Bei der Aufnahme des Schülers wurde darauf geachtet, dass der-
selbe gesund war; denn der Arzt muss gesund aussehen, weil die Leute
1 Platon: Jon. c. 8. Gorgias c. 14. Über die bürgerliche Tüchtigkeit (Anfang).
2 Platon: Der Staat, L. III, c. 16. — Hippokeates a. a. 0. T. IV, p. 638.
Zur Zeit des Hippohr ates. 41
dann glauben, „dass er auch für die Gesundheit Anderer zu sorgen
vermag". 1 Der Verfasser der Hippokratischen Schrift über „den Arzt"
macht bei dieser Gelegenheit die humoristische Bemerkung, dass es
für den Arzt auch vortheilhaft ist, „wohlbeleibt" zu sein; leider unter-
lägst er eine Erklärung, ob sich das Vertrauen der Kranken in diesem
Falle darauf stützte, dass man die Dicken für gutmüthiger hielt als
die Mageren oder ihnen grössere Einnahmen, also eine ausgedehntere
ärztliche Praxis zuschrieb.
Ferner wurde den Ärzten empfohlen, „sich reinlich zu halten, an-
ständig gekleidet zu sein und Pomaden zu gebrauchen, die einen an-
genehmen, keinen verdächtigen Geruch verbreiten".2 Manche scheinen
diesem Rath eine zu grosse Wichtigkeit beigelegt zu haben, sodass
man sich über die mit „Stirnlocken geschmückten, pomadisirten , mit
Ringen überladenen" Heilkünstler lustig machte.3
„Als kluger Mann wird der Arzt sich bemühen, schweigsam zu
sein und im Verkehr den feinen Anstand zu bewahren. Am meisten
wirken gute Sitten auf die öffentliche Meinung." „"Wenn er unüber-
legt und voreilig handelt, wird er getadelt." „In seinen Gesichtszügen
liege Nachdenken ohne Verdriesslichkeit; er darf nicht anmassend und
menschenfeindlich erscheinen. Wer ins Lachen ausbricht und sehr
ausgelassen ist, wird für ungebildet gehalten. Davor muss man sich
in Acht nehmen. W^enn sich der Arzt richtig zu benehmen weiss, so
ist dies viel werth; denn seine Beziehungen zu den Kranken sind sehr
intim. Nicht blos diese werden den Händen des Arztes übergeben,
sondern er trifft bei ihnen auch ihre Frauen und Töchter und Werth-
gegenstände an. Da gilt es, sich zu beherrschen!"4 —
In einer anderen Hippokratischen Schrift heisst es, dass sich „der
Arzt eine gewisse Höflichkeit aneignen soll; denn ein rauhes Wesen
missfällt den Gesunden wie den Kranken". Ferner „soll er mit den
Leuten nicht zu viel schwätzen, sondern nur das Nothwendige, was
zur Behandlung gehört". Gleich dem echten Philosophen muss er
trachten, „frei von Geldgier, zurückhaltend, schamhaft und würdevoll
zu sein, sich Meinungen und Urtheile zu bilden, ruhig, umgänglich
und sittenrein zu erscheinen, verständig zu reden, Lebensweisheit zu
erwerben, sich vor Lastern und Aberglauben zu hüten und durch
Frömmigkeit auszuzeichnen." 5
Dem Glauben an die Macht und Güte Gottes giebt der Verfasser
1 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 204. 2 Hippokrates a. a. 0. T. IX, p. 266.
3 Aristophanes : Wolken, v. 330. 4 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 206.
5 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 232—234.
48 Der medizinische Unterricht im Alterthum.
des Buches „über die heilige Krankheit" an einer Stelle, wo er von
der Meinung spricht, dass die Krankheiten von Gott gesendet würden,
mit den schönen Worten Ausdruck: „Ich glaube nicht, dass der Körper
des Menschen von Gott, das Niedrigste von dem Erhabensten besudelt
werden kann. Sollte ihm von Jemandem ein Schmutz oder ein Leid
zugefügt werden, so wird ihn die Gottheit gewiss lieber reinigen und
erheben, als erniedrigen; denn Gott ist es, der uns von den schwersten
Freveln reinigt und den Schmutz von uns fortnimmt."1
Neben der ethischen Erziehung des Arztes wurde seine wissen-
schaftliche Ausbildung nicht vernachlässigt. Man ging dabei von der
richtigen Anschauung aus, dass er zunächst die normalen Verhältnisse
des Körpers studieren muss,2 da die Kenntniss derselben die Grund-
lage der ganzen medicinischen Wissenschaft bilde.3
Die Anatomie wurde hauptsächlich an thierischen Körpern erforscht.
Die Zergliederung menschlicher Leichname wurde durch religiöse und
sociale Vorurtheile verhindert; nur wenn es sich um Feinde und Ver-
räther des Vaterlandes oder um schwere Verbrecher handelte, war die
Untersuchung menschlicher Körper möglich.
Derartige Gelegenheiten wurden sicherlich von wissbegierigen
Ärzten in einzelnen Fällen benutzt, um ihre anatomischen Kenntnisse
zu festigen und zu erweitern. Auch die Leichen ausgesetzter Kinder
dürften ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein. Desgleichen mag
der Einblick in den Bau des Körpers, welcher bei äusseren Verletzungen
gewährt wird, nicht ohne Ergebniss geblieben sein.
Verschiedene Erzählungen deuten darauf hin, dass man vor der
Eröffnung und Untersuchung des menschlichen Körpers nicht zurück-
schreckte.4 Wenn dabei auch keine wissenschaftlichen Zwecke verfolgt
wurden, so wird dadurch doch bewiesen, dass die Möglichkeit, anato-
mische Untersuchungen vorzunehmen, gegeben war.
Dass dies wirklich geschehen ist, ist eine Annahme, die durch
einige Bemerkungen des Aristoteles und der Hippokratiker, vor Allem
durch den Umfang des anatomischen Wissens jener Zeit grosse Wahr-
scheinlichkeit erhält. Der Verfasser der Hippokratischen Schrift „über
die Gelenke" sagt bei Gelegenheit der Wlrbel-Luxation , dass es nur
am todten, nicht aber am lebenden Menschen gestattet sei, den Leib
aufzuschneiden, um mit der Hand die Verrenkung zu beseitigen, und
1 Hippokrates a. a. 0. T. VI, 362.
2 Vergl. Platon: Gesetze, L. XII, c. 10.
3 Hippokrates a. a. 0. T. VI, 278. — Aristoteles: Eth. Nicom. I, 13.
4 Plinius: Hist. nat. XI, 70. — Valer. Maxim. I, 8, 15. — Pausanias IV,
9. — Herodot IX, 83.
Z/ur Zeit des Hippokrates. 49
in der Abhandlung „über das Herz" ist davon die Rede, dass dieses
Organ in der seit alter Zeit üblichen Weise aus dem Körper eines
Verstorbenen herausgenommen wird, um es zu untersuchen.1 Eine
Stelle im 5. Buche der Epidemien spricht sogar von einer Sektion,
welche vorgenommen wurde, um die Ursache und Ausdehnung einer
Krankheit festzustellen. 2
Man scheint sich im Allgemeinen auf die Eröffnung der Brust-
und Bauchhöhle beschränkt zu haben, deren Organe in ihrer Lagerung
und Form ziemlich richtig beschrieben werden. Aeistoteles, welcher
bei verschiedenen Gelegenheiten Vergleiche zieht zwischen dem Bau
des Körpers des Menschen und der Thiere, erklärt, dass die inneren
Organe des Menschen noch wenig bekannt seien.3
Allerdings waren die Kenntnisse, welche die Ärzte der Hippo-
kratischen Zeit vom Gehirn, den Nerven, Gefässen und selbst von den
Muskeln besassen, dürftig und mangelhaft. Dagegen wurden die Knochen
sehr genau beschrieben und dabei sogar jene feinen Details hervor-
gehoben, welche nur bei einer sorgfältigen Betrachtung auffallen. Dass
dabei vorzugsweise menschliche Knochen zur Vorlage dienten, geht aus
der Schilderung mit Sicherheit hervor.
Wenn die Untersuchung menschlicher Leichen oder Leichentheile
nur einzelnen hervorragenden Forschern überlassen blieb, so war die
Zergliederung von Thieren, welche, wie Aeistoteles mehrmals betont,
die hauptsächlichste Quelle der anatomischen Wissenschaft darstellte,
Jedem zugänglich. Sie bildete wahrscheinlich ein wesentliches Hilfs-
mittel des anatomischen Unterrichts. Vielleicht wurden dazu auch
künstliche Nachahmungen von Skeletten benutzt nach Art desjenigen,
welches in Delphi als Weihegeschenk aufbewahrt wurde und angeblich
von Hippokeates herrührte?4 —
Im Allgemeinen bestand der anatomische Unterricht darin, dass
der Lehrer seinen Schülern Das mittheilte, was er selbst von dem Bau und
der Zusammensetzung des menschlichen Körpers wusste oder glaubte.
Ähnlich stand es mit der Unterweisung in der Physiologie, welche sich
als ein lockeres Gewebe von unbegründeten Hypothesen und haltlosen
Spekulationen darstellte.
Bei weitem grössere Erfolge versprach die Ausbildung in der
Untersuchung und Behandlung der Kranken. In der Kunst, die Er-
scheinungen der Krankheiten zu beobachten und auf naturgemässe
1 Hippokrates a. a. 0. T. IV, 198. VI, 16. IX, 88. — Galen II, 280.
2 Hippokrates a. a. 0. T. V, 224. — Aristoteles: de part. anim. IV, 2.
3 Aristoteles: Hist. anim. I, 16. 4 Pausanias X, 2, 4.
Puschmann , Unterricht. 4
50 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Weise zu bekämpfen, waren die Ärzte der alten Griechen Meister.
Den Klagen der Kranken, ebenso wie den Träumen derselben, schenkten
sie grosse Aufmerksamkeit; aber das Hauptgewicht legten sie auf die
genaue Untersuchung des leidenden Körpers. Dabei wurde die Farbe
und Beschaffenheit der äusseren Hautbedeckungen und Schleimhäute,
der Zustand des Unterleibs und die Form des Brustkastens beachtet,
die Temperatur mit der aufgelegten Hand geprüft und die Ausschei-
dungen einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen.
Durch die Betastung vermochte man die Grösse der Leber und
Milz, ja sogar die Formveränderungen der letzteren, welche im Verlauf
gewisser Krankheiten vorkommen, zu erkennen. 1 Die Succussion diente
gleichzeitig als diagnostisches und als therapeutisches Mittel, um den
Durchbruch des Eiters in die Bronchien zu veranlassen.
Man kannte das pleuritische Keibungsgeräusch und die klein-
blasigen Basseigeräusche, die mit dem Knarren des Leders und dem
Kochen des Essigs verglichen werden.2 Bei dieser Gelegenheit wird
ausdrücklich gesagt, dass das Ohr längere Zeit an die Brustwand ge-
legt wurde, damit man diese Geräusche hören konnte (nollbv xqövov
TlQOGeXGOV TO OVQ äxOVCtty 71QOQ TU 7lXsVQCc).
Die Schilderungen der einzelnen Krankheiten und ihres Verlaufes,
die sich meistens an Beobachtungen aus der eigenen Praxis anschliessen,
sind vorzüglich. Einzelne Krankheitsbilder, wie diejenigen der Pneu-
monie, der Pleuritis und der Phthisis, die man für ansteckend hielt,
sind so vollständig, dass ihnen nur wenig hinzugefügt werden kann.
Unter den Krankheitsursachen wurde neben der Erblichkeit und
den Diätfehlern dem Klima, der Bodenbeschaffenheit, dem Trinkwasser,
den Jahreszeiten, den Winden und der Temperatur ein grosser Einfluss
zugeschrieben.
Auf einer hohen Stufe der Entwickelung stand die Prognostik.
In den Hippokratischen Schriften werden eine Menge von Anzeichen
erwähnt, welche einen günstigen oder ungünstigen Ausgang der Krank-
heiten verkünden. Die Ärzte schätzten die Kunst, „aus dem Vergangenen
und Gegenwärtigen das Zukünftige zu erkennen", sehr hoch. „Freilich
ist es besser," schreibt der Verfasser des Prognostikon, „die Krankheiten
zu heilen, als ihren Verlauf voraus zu sagen; aber dies ist leider nicht
immer möglich."3 An anderen Stellen werden die Ärzte zur Vorsicht
bei der Prognose ermahnt und gewarnt, mehr zu behaupten, als sie
verantworten können.4
1 Hippokrates a. a. 0. T. VII, 244. — Platon: Timaeos, c. 33.
2 Hippokrates a. a. 0. T. VJ, 24. VII, 92. 94.
3 Hippokrates a. a. 0. T. II, 110. 4 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 6 u. li'.
Zur Zeit des Hippokrates. 51
Unvergänglichen Ruhm haben sich die Hippokratiker durch ihre
therapeutischen Grundsätze erworben, welche alle Zeiten überdauert
haben. Die hohe Bedeutung der Diätetik wurde von ihnen in einer
Weise anerkannt, wie es von den Späteren nur selten geschehen ist.
In einer naturgemässen Lebensweise, in Bädern, Leibesübungen und einer
gesunden Nahrung sahen sie das beste Mittel, um Krankheiten zu verhüten.
Der Arzt wurde als der Handlanger der Natur betrachtet, dem
die Aufgabe zufällt, deren Heilbestreben zu befördern oder nachzuahmen.
Zunächst sollte er trachten, wenn möglich die Ursachen des Leidens
zu beseitigen, bei der weiteren Behandlung die individuellen Verhält-
nisse berücksichtigen und überhaupt mehr den Kranken, als die Krank-
heit ins Auge fassen; er sollte sich bemühen, zu nützen oder wenigstens
nicht zu schaden.1
Die Heilmittel waren vorzugsweise diätetische; aber auch von den
medicamentösen werden die wichtigeren Arzneistoffe erwähnt, welche
heut verordnet werden. Sie wurden in der Form von Übergiessungen,
Umschlägen, Einspritzungen, Klystieren oder Getränken gebraucht. Zu
Blutentziehungen bediente man sich des Aderlasses, der Skarificationen
und der Schröpfköpfe.
Alle diese Dinge wurden den Schülern der Heilkunde nicht blos
im theoretischen Vortrage gelehrt, sondern auch am Krankenbett ge-
zeigt und erläutert. Sie begleiteten zu diesem Zweck entweder den
Lehrer bei seinen ärztlichen Besuchen2 oder erhielten in dem zur
Wohnung desselben gehörigen latreion den noth wendigen Unterricht.3
Das letztere war eine unseren Privat-Ambulatorien ähnliche An-
stalt, in welcher Kranke ärztlichen Rath suchten, Medicamente em-
pfingen, operirt wurden und bisweilen auch längere Zeit wohnten und
verpflegt wurden.4 Sie sollte, wie es in der Hippokratischen Schrift
„über den Arzt" heisst, so gelegen sein, dass sie gegen den Wind und
das grelle Sonnenlicht geschützt war; denn, „wenn dasselbe für den
behandelnden Arzt auch nicht unangenehm ist, so ist es doch für den
Kranken lästig und seinen Augen schädlich." „Die Sessel müssen, so
viel als möglich, von gleicher Höhe sein. Aus Erz sollen nur die In-
strumente gearbeitet sein; denn andere Geräthe aus diesem Metall
scheinen ein überflüssiger Luxus zu sein. Das Trinkwasser, welches
den Kranken gereicht wird, muss geniessbar und rein sein."
1 Hippokrates a. a. O. T. I, 624. II, 634. V, 314. VI, 92. 490.
2 Platon: Gorgias, c. 11.
3 Hippokrates a. a. O. T. IX, 206 u. ff. — Aeschines in Timarch. 124.
4 Platon: Gesetze I, 14. Staat III, 13. 14. — Hippokrates a. a. 0. T. II,
604. III, 272 u. ff. IX, 206 u. ff. — Aristophanes : Acham, v. 1030.
4*
52 Der medieinische Unterricht im Alterthum.
„Die Handtücher sollen sauber gehalten werden und sich weich
anfühlen, desgleichen die Leinwand, welche für die Augen benutzt
wird, und die Wundschwämme; denn diese Dinge sind für die Heilung
von grosser Bedeutung. Die Instrumente müssen in Bezug auf Grösse,
Schwere und Feinheit für den Zweck, zu welchem sie gebraucht werden,
geeignet sein."
In den Iatreien waren ausser den chirurgischen Instrumenten stets
Schwämme, reine weiche Leinwand, Binden, Verbandapparate, Schröpf-
köpfe, Büchsen, Kly stierspritzen, Becken, Badewannen u. a. m. vor-
handen. Das Metall, aus welchem diese Gegenstände verfertigt waren,
gab dem Ganzen ein sehr glänzendes Aussehen. 1
Die Zahl der Iatreien, welche ein Ort besass, richtete sich nach
dem Bedürfniss. „Wo viele Krankheiten herrschen," schreibt Platon, 2
„da giebt es auch viele Iatreien."
Die Ärzte bereiteten die Arzneien selbst und kauften die dazu
erforderlichen Substanzen entweder von den Wurzelsuchern oder sam-
melten sie wohl auch selbst. Apotheken in unserem Sinne gab es
nicht; denn die Pharmakopoen befassten sich nicht blos mit dem
Handel von Droguen und Specialitäten, sondern verkauften auch andere
Dinge, z. B. Amulette, Brenngläser und allerlei Curiositäten. 3
Dem Arzt standen bei der Herstellung der Arzneien, bei der Aus-
führung von Operationen, überhaupt bei der Kranken-Behandlung seine
Schüler und Gehilfen zur Seite. Die Assistenten wurden, wie Platon
sagt, ebenfalls Ärzte genannt. Es wurden zu diesen Diensten auch
Schüler verwendet, besonders solche, welche bereits einige Kenntnisse
in der Heilkunst besassen, „damit sie, wenn es nöthig war, selbst Ver-
ordnungen treffen und ohne Bedenken Arzneien anwenden konnten".
Auch fiel ihnen die Aufgabe zu, das Befinden des Kranken zu über-
wachen, wenn der Arzt, ihr Lehrer, abwesend war, „damit ihm nichts
verborgen blieb, was in der Zwischenzeit geschah". Der Hippokratische
Autor warnt dringend davor, „derartige Aufträge Unerfahrenen zu er-
theilen; denn wenn ein Fehler begangen wird, so trifft den Arzt der
Vorwurf".
Die Schüler wurden auch in dem Gebrauch der chirurgischen
Instrumente und Apparate unterwiesen. 4 „Bei chirurgischen Operationen
müssen die Gehilfen, wie in der , Werkstätte des Arztes' vorgeschrieben
wird, theils den Körpertheil, an welchem die Operation vorgenommen
1 Antiphanes bei Pollux: Onom. X, 46. 2 Platon: Staat III, 13.
3 Vergl. W. A. Becker: Charikles III, S. 52, Leipzig 1854, 2. Aufl.
4 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 216.
Zmv Zeit des Hippokrates. 53
wird, darreichen, theils den übrigen Körper des Kranken festhalten.
Dabei sollen sie schweigen und nur hören, was ihr Meister sagt."
„Die Instrumente müssen so gelegt werden, dass sie bei der Arbeit
nicht hinderlich und doch gleich bei der Hand sind, wenn sie gebraucht
werden. Wenn einer, der Schüler sie dem Operateur reicht, so soll er
dieselben schon im Voraus sich zurecht legen und bereit halten und
dann thun, was Jener befiehlt."
Dem Operateur werden ausführliche Vorschriften über seine Klei-
dung, Stellung, und die Haltung seiner Arme und Füsse während der
Operation gegeben. „Die Nägel dürfen die Fingerspitzen nicht über-
ragen, aber auch nicht zu kurz sein, weil man die Fingerspitzen braucht.
Man muss sich darin üben, indem man den Zeigefinger gegen den
Daumen bewegt, die ganze Hand flach neigt und beide Hände gegen-
einander drückt. Sehr günstig für den Arzt ist es, wenn die Zwischen-
räume zwischen den Fingern seiner Hände gross sind und der Daumen
dem Zeigefinger entgegensteht." „Er muss sich im Gebrauch beider
Hände üben und mit beiden Händen dieselben Arbeiten gleich gut,
schön, rasch und ordentlich ausführen, ohne dass es ihm Mühen und
Beschwerden macht."1
Die Ärzte der Hippokratischen Zeit übten sowohl die Chirurgie
als die innere Medicin aus. Specialisten gab es, wie es scheint, noch
nicht, 2 wenn sich auch einzelne Ärzte vielleicht vorzugsweise mit irgend
einem Theile der Heilkunde, z. B. der Behandlung der Augen oder
Zähne, beschäftigten. 3
Die Chirurgie befand sich in einem sehr unvollkommenen Zustande,
was sich durch die Vernachlässigung der Anatomie erklärt. Man kannte
die Unterbindung der Gefässe zum Zweck der Blutstillung noch nicht
und durfte sich daher nicht an Operationen wagen, die, wie z. B. die
Amputation oder die Entfernung grosser Geschwülste, mit starken Blut-
verlusten verbunden sind.
Dagegen wurden die Trepanation, die Operation des Empyems,
die Paracentese des Unterleibs und ähnliche Operationen, bei denen
die Blutung unbedeutend ist, ausgeführt. Anerkennung verdient die
Beschreibung und Behandlung der Wunden und Fisteln, namentlich
aber der Luxationen und Frakturen.
Hier mochten die Erfahrungen, welche man in den Bingschulen
machte, wesentlich beitragen, um einer einfachen und naturgemässen
Heilmethode die Wege zu ebnen. Knochenbrüche und Verrenkungen,
1 Platon: Gesetze IV, 10. — Hippokrates a. a. O. III, 278 u. tf. 288. IX, 242.
2 Cicero: de oratore III, 33. 3 Vgl. Becker a. a. 0. S. 59.
54 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
welche bei den gymnastischen Übungen vorkamen, erforderten sofortige
Hilfe, und die Lehrer, welche an den Ringschulen angestellt waren,
mussten sich daher einige Kenntnisse in diesen Dingen erwerben, wenn
sie zweckmässige Anordnungen treffen wollten. Waren sie mit guter
Beobachtungsgabe und praktischer Geschicklichkeit ausgestattet, so
wurden sie auch auf andere Leiden aufmerksam, deren Anblick sich
ihnen darbot. Durch das Studium medicinischer Schriften und den
Verkehr mit Ärzten versuchten sie dann, eine Erklärung und Bestäti-
gung ihrer eigenen Erfahrungen zu erhalten.
Einzelne Gymnasten, wie Ikkos und Herodikos, welcher, wie
Platon schreibt, die Heilkunde mit der Gymnastik verband, erwarben
sich durch ihre ärztliche Tüchtigkeit grossen Ruf. Sie empfahlen haupt-
sächlich diätetische Mittel, Dampfbäder, Salbungen, Friktionen und
Körperbewegungen, wie den Dauerlauf.1
Gleichwohl darf man die Gymnasten nicht für Ärzte halten.
Philostratos bestimmt in seinem Buch „über die Gymnastik" die
Stellung der Gymnasten und ihr Verhältniss zur Heilkunst kurz und
treffend, wenn er sagt, „dass ihre Thätigkeit darin bestand, die Säfte
auszuleeren, die überflüssigen Stoffe zu entfernen, harte Theile weich,
andere fett zu machen, umzugestalten oder zu erhitzen", während man
bei schweren organischen Erkrankungen, bei Verletzungen, Augenleiden
u. dgl. die Hilfe der Ärzte in Anspruch nahm.2
Ziemlich bedeutende Kenntnisse besassen die Hippokratischen Ärzte
in der Gynaekologie. Sie kannten verschiedene Formen der Lage-
veränderung der Gebärmutter, den Prolapsus derselben und eine grosse
Anzahl von Krankheiten der weiblichen Geschlechtstheile.
Die Geburtshilfe lag in den Händen der Hebammen, und nur in
schwierigen Fällen wurde der Arzt zu Rath gezogen. Man vertraute
dem Wirken der Natur und griff nur dann ein, wenn dem Leben der
Mutter oder des Kindes Gefahr drohte. Bei ungewöhnlicher Kindeslage
nahm man die Wendung vor; vorgefallene Extremitäten wurden reponirt
oder, wenn dies nicht möglich war, vom Körper abgetrennt.3
Über das Hebammen -Wesen hat Sokrates, der Sohn der „rüstigen
und würdevollen Hebamme Phaenarete", wie er sich mit Stolz nennt,
einige Mittheilungen hinterlassen. Frauen, welche sich diesem Beruf
widmeten, mussten geboren haben, aber bereits in dem Alter stehen,
1 Platon: Staat III, 14. Protagoras c. 8. Phaedros, c. 1. — Hippokrates
a. a. 0. T. V, 302. — Plinius: Hist. nat. XXIX, 2.
2 Philostratos: ne^i yvfivaartjq, Edit. Daremberg, Paris 185H.
3 Hippokrates a. a. O. T. VIII, 146 u. ff. 480. 512.
Zur Zeit des Hippokrates. 55
dass sie nicht mehr schwanger wurden. Sie gaben Auskunft, ob die
Geburt nahe bevorstand, suchten dieselbe durch Arzneien und psychische
Mittel zu befördern und zu erleichtern und durchschnitten, nachdem
sie erfolgt war, die Nabelschnur.
Wenn sie es für nöthig hielten, führten sie den Abortus herbei.
Nebenbei betrieben sie das ohne Zweifel recht einträgliche Geschäft
von Heirathsvermittlerinnen , wozu sie sich allerdings aus mehrfachen
Gründen eigneten.1
Manche Hebammen nahmen, wie es scheint, schwangere Frauen
in ihrer Wohnung auf.2
Über die berufsmässige Ausbildung der Hebammen sind uns leider
keine Nachrichten übermittelt worden. Wahrscheinlich wurden sie von
einer älteren Collegin, die auf diesem Felde der Thätigkeit bereits reich
an Erfahrungen war, in den Pflichten der Wehmutter unterrichtet.
Vielleicht deutet eine auch poetisch bearbeitete Sage, dass die Ausübung
der Geburtshilfe Anfangs den Männern vorbehalten war und erst später
den Frauen überlassen wurde, nachdem sie von jenen darin unterwiesen
worden waren, darauf hin, dass die Hebammen ihre medicinischen
Kenntnisse den Ärzten verdankten?3
Die ärztliche Praxis war Jedem gestattet, der das dazu erforder-
liche Wissen zu besitzen glaubte.
Die Ärzte behandelten die Kranken entweder, wie gesagt, im
Jatreion oder besuchten sie zu diesem Zweck in ihren Behausungen.
In den Hippokratischen Schriften, besonders in den „Epidemien", wer-
den eine Menge von Krankengeschichten erzählt und dabei stets die
Wohnungen der Patienten angegeben.
Die Ärzte nahmen bei diesen Besuchen einzelne ihrer Gehilfen
und Schüler mit sich und übertrugen ihnen manche der zur Behand-
lung gehörigen Verrichtungen. Deshalb sollten sie „die Arzneien und
ihre Kräfte und Alles was darüber geschrieben worden ist", sowie die
Behandlungsmethoden fest im Gedächtniss haben, bevor sie sich zu den
Kranken begaben. „Beim Eintritt in das Krankenzimmer setze man
sich nieder, zeige ein zurückhaltendes würdiges Benehmen, spreche nicht
viel und lasse sich nicht in Verwirrung bringen. Dann nähert man
sich dem Kranken, schenkt ihm Aufmerksamkeit, erwidert seine Ent-
gegnungen, bewahrt den Ärgernissen gegenüber seine Ruhe, tadelt Un-
ordnungen und sei zu Diensten bereit."
1 Platon: Theaetetos, c. 6.
2 Aristophanes : Lysistratos V, 746 u. ff.
3 Hyginus: fabul. 274. — Welcher a. a. 0. S. 195 u. ff.
56 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Diese Besuche sollen öfter wiederholt werden, damit etwaige Irr-
thümer verbessert werden können. Dabei soll der Arzt darauf achten,
wie das Schlafgemach der Kranken gelegen ist, und ob sie durch Lärm
oder starke Gerüche gestört werden, und dann in taktvoller, aber ent-
schiedener Weise darauf dringen, dass derartige Zustände geändert
werden. l
In schwierigen Krankheitsfällen fanden Consultationen mehrerer
Ärzte statt; „denn es ist keine Schande", steht in den Hippokratischen
Vorschriften, „wenn ein Arzt, der bei einem Krankheitsfall in Verlegen-
heit ist und aus Mangel an Erfahrung die denselben betreffenden Ver-
hältnisse nicht durchschaut, andere Ärzte hinzuruft, damit er sich mit
ihnen besprechen und Das, was zur Erleichterung des Kranken geschehen
soll, feststellen kann."2
Manche Ärzte übten die Praxis nicht blos an ihrem Wohnort
aus, sondern unternahmen zu diesem Zweck sogar Reisen. Sie führten
in solchen Fällen Instrumente mit sich, welche schlichter gearbeitet
und leichter fortzuschaffen waren.3
Die Ärzte waren berechtigt, für die Dienste, welche sie den Kranken
leisteten, ein Honorar zu fordern.4 Aber der Hippokratische Autor
ermahnt sie, „sich dabei nur von dem Beweggrunde leiten zu lassen,
dass sie dadurch die Mittel zu ihrer weiteren Ausbildung gewinnen.
Auch sollten sie dabei nicht zu unmenschlich vorgehen, auf das Ver-
mögen und die Verhältnisse des Kranken Rücksicht nehmen, zuweilen
auch unentgeltlich Hilfe leisten und dabei denken, dass das Andenken
an eine gute That mehr werth ist, als ein augenblicklicher Vortheil.
Bietet sich die Gelegenheit, einem Fremdling oder einem Armen zu
helfen, so möge man dies nicht versäumen ;. denn wo Liebe zu den
Menschen, dort ist auch Liebe zur Wissenschaft."5
Schon in sehr früher Zeit begann man, Ärzte auf öffentliche Kosten
zu besolden, denen die Verpflichtung auferlegt wurde, Kranke unent-
geltlich zu behandeln. Diese Einrichtung soll bereits vor Charondas
(7. Jahrh. v. Chr.) bestanden haben.6 Jedenfalls war sie alt, und der
im vorigen Kapitel genannte Demokedes, der, bevor er zum König
Darius kam, als städtischer Arzt in Aegina mit der Jahresbesoldung
von einem Talent, dann in Athen mit dem Gehalt von hundert Minen
1 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 238 u. ff.
2 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 260. 262.
3 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 236.
4 Platon: Staatsmann, c. 37. — Aristoteles: Staat III, 16. — Xenophon:
Meniorab. I, 2, 54. — Plinius: Hist. nat. XXIX, 2.
5 Hippokrates a. a. 0. T. IX, 258. 6 Diodor XII, 13.
Zmt Zeit des Hippokrates. 57
angestellt gewesen und hierauf von Polykrates nach Samos berufen
worden war, der ihm einen Gehalt von zwei Talenten ausgesetzt hatte,
bietet ein bekanntes Beispiel dafür aus dem 6. Jahrh. v. Chr.1
Die ch][M)<jievovTeq, „die Volksärzte", wurden von den Gemeinden
gewählt. In Athen mussten sich die Candidaten, welche ein derartiges
Amt zu erlangen wünschten, in der öffentlichen Versammlung der
Bürger vorstellen, über ihren Bildungsgang Auskunft geben, und den
Meister nennen, von welchem sie die Heilkunst erlernt hatten. Bei
der Wahl, welche wahrscheinlich in derselben Weise geschah wie die-
jenige der übrigen öffentlichen Beamten, sollte derjenige Bewerber als
Sieger hervorgehen, welcher der Tüchtigste war.2 Ähnlich wie in
Athen dürfte man auch in anderen griechischen Städten bei der An-
stellung von Gemeindeärzten vorgegangen sein.
Ihre Besoldung wurde gleich den Ausgaben für Musik und andere
öffentliche Angelegenheiten durch städtische Umlagen aufgebracht; in
einer zu Delphi aufgefundenen Inschrift, welche freilich aus einer etwas
späteren Zeit (214 — 163 v. Chr.) stammt, wird erwähnt, dass Jemand
von dieser Steuer befreit wurde.3
Neben dem Gehalt, dessen Höhe von den Leistungen des Arztes
und der Grösse und dem Reichthum der Stadt abhing, erhielten die
Gemeindeärzte wahrscheinlich ein Iatreion, welches auf öffentliche Kosten
eingerichtet und erhalten wurde.4 Dort empfingen sie die Kranken^
welche bei ihnen ärztliche Hilfe suchten, und ertheilten medicinischen
Unterricht.
Die Gemeindeärzte waren berufen, bei Epidemien die Anordnungen
zu treffen, welche zur Beseitigung derselben erforderlich erschienen,
und dienten den Behörden überhaupt als Sachverständige. Ihre eigent-
liche Aufgabe bestand jedoch in der unentgeltlichen Behandlung der
Kranken; die Gemeinden wollten sich durch die Anstellung eines Arztes
sichern, dass ihre Bürger im Falle der Noth jederzeit ärztliche Hilfe
am Ort finden. Obwohl aus den überlieferten Nachrichten nicht her-
vorgeht, dass die unentgeltliche Behandlung sich nur auf die Armen
beschränkte, so lässt sich doch annehmen, dass dies thatsächlich der
Fall war, und die Vermögenderen sich durch Geschenke für die Mühen
des Arztes erkenntlich zeigten.
1 Herodot III, 131.
2 Xenophon: Memorab. IV, 2, 5. — Platon: Gorgias, c. 10. 70. Staatsmann,
c. 2. 37. Vgl. auch Böckh: Staatshaushalt der Athener I, c. 21.
3 C. Wescher u. P. Foücart: Inscriptions ä Delphes, Paris 1863, p. 20, No. 16.
4 Vergl. Vercoutre: La medecine publique dans l'antiquite grecque in der
Revue archeologique, Paris 1880, ser. II, T. 39, p. 332.
58 Der medicinische Unterricht im Älterthum.
Wie die Griechen das Institut der Gemeindeärzte ins Leben riefen,
so sorgten sie auch dafür, dass ihre Truppen mit Ärzten versehen
wurden. Schon Lykukg hielt dies für noth wendig uud stellte hei dem
Heere der Spartaner Ärzte an.1 Bei den „Zehntausend Mann", welche
Xenophon befehligte, befanden sich acht Feldärzte.2 Des Hippokrates
älterer Sohn Thessalos soll einige Zeit als Militärarzt thätig gewesen
sein, und der Verfasser der Hippokratischen Schrift „über den Arzt"
schreibt, „dass sich der Arzt in der Chirurgie am besten ausbildet,
wenn er in die Dienste des Heeres tritt"; er bemerkt bei dieser Ge-
legenheit auch, dass es bereits eine besondere militärärztliche Literatur
gab, in welcher die im Kriege vorkommenden Verletzungen besprochen
wurden.3 Das Heer Alexanders von Macedonien wurde von den be-
rühmtesten Ärzten jener Zeit, von Philipp von Akarnanien, Kalli-
sthenes aus Olynth, Glaukias und Alexippos begleitet.
Der ärztliche Stand genoss hohes Ansehen. Das Wort Homer's,4
„dass ein einziger Arzt so viel werth ist, als viele andere Männer zu-
sammen", galt auch später. Ärzte, welche sich durch selbstlose Opfer-
willigkeit und hervorragende Leistungen in ihrem Beruf auszeichneten
und um den Staat verdient machten, wurden durch Lobreden und
Ehren belohnt.
Auf der Bronze-Tafel von Idalion, welche aus dem 5. Jahrhundert
v. Chr. stammt, wird der Verdienste des Arztes Onasilos gedacht, der
mit seinen Schülern im Kriege unentgeltlich Dienste leistete und dafür
eine Dotation und Steuerfreiheit erhielt.6 Die Athener sollen den
Hippokrates mit Ehren überhäuft, auf Staatskosten in die Eleusinischen
Mysterien eingeweiht, mit einer goldenen Krone gekrönt und noch auf
andere Weise ausgezeichnet haben.6
Der Arzt Euenor, welcher, wie in einer Inschrift vom Jahre 388
v. Chr. mitgetheilt wird,7 „vom Volk mit der Überwachung der Be-
reitung der Arzneien für das öffentliche Iatreion betraut, für diesen
Zweck eine grosse Summe aus eigenen Mitteln geopfert und viele
Kranke unentgeltlich behandelt hatte," wurde dafür öffentlich belobt
und durch einen Kranz und die Verleihung des Bürgerrechts geehrt.
1 Xenophon: Der Lakedämon. Staat, c. 13.
2 Xenophon: Cyropaed. I, 6, 15. Anabasis III, 4, 30.
3 Hippokrates a. a. O. T. IX, 220. 4 Ilias XI, 514.
^ M. Schmidt. Die Inschrift von Idalion, Jena 1875, und Sammlung Kyp-
rischer Inschriften, 1876, Taf. I.
6 Hippokrates a. a. O. T. IX, 402.
7 Rhangabe: Antiquites hellen., 1855, T. II, No. 378. — E. Cürtius in d.
Gott, gelehrt. Anz. 1856, No. 196 u. ff.
Zur Zeit des Hippokrates. 59
In der Inschrift von Karpathos, welche Wescher1 dem Ende des
4. oder Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. zuschreibt, heisst es, dass
„in Anbetracht, dass Menokritos, der Sohn des Metrodoros aus
Samos, in seiner Stellung als Gemeindearzt sich durch mehr als zwanzig
Jahre mit Eifer und Hingebung der Behandlung der Kranken gewidmet
und sowohl in seinem ärztlichen Beruf als in seinem sonstigen Leben
makellos benommen habe, dass er ferner bei einer Seuche, welche in
der Stadt ausbrach und nicht blos die Einheimischen, sondern auch
die Fremden in grosse Gefahr brachte, durch seine Aufopferung und
Sparsamkeit am meisten dazu beigetragen hat, die Gesundheit wieder
herzustellen, dass er endlich, anstatt Bezahlung zu fordern, lieber in
Dürftigkeit gelebt, viele Bürger aus gefährlichen Krankheiten errettet,
ohne eine Belohnung dafür anzunehmen, wie es recht und billig ge-
wesen wäre, und niemals gezögert hat, die Kranken, welche in der
Umgebung der Stadt wohnten, zu besuchen, das Volk von Brykontion
beschlossen habe, ihn zu beloben und mit einem goldenen Kranze zu
schmücken und diesen Beschluss bei den Asklepios-Spielen öffentlich
verkünden zu lassen, ihm ferner das Recht zu ertheilen, an allen
Festen der Brykontier Theil zu nehmen und ihm im Neptun-Tempel
eine Marmorsäule zu errichten, auf welcher dieser ihn ehrende Volks-
beschluss niedergeschrieben werden soll."
Einige Autoren2 haben, gestützt auf einzelne Aussprüche doctri-
närer Philosophen, geglaubt, dass die ärztliche Thätigkeit, weil sie für
Geld ausgeübt und zu den sogenannten „bürgerlichen Geweiben", wie
man 8i][iiovQyia übersetzen kann, gerechnet wurde, von den Griechen
nicht in gebührender Weise geschätzt wurde. Aber Platon sagt aus-
drücklich, dass „der echte Arzt einen höheren Zweck verfolgt, als Geld
zu erwerben", und dass die Heilkunst, wenn sie auch für Lohn aus-
geübt wird, doch keine lohndienerische sei.3 Obgleich er in den „Ge-
setzen" schreibt, dass die Gesundheit des Körpers nicht zu den Gütern
gehöre, welche für den Staat in erster Linie von Werth sind, so er-
klärt er es doch für eine Pflicht desselben, dafür zu sorgen, dass tüchtige
Ärzte herangebildet werden.4
Das Maass der Achtung, welche dem Arzt gezollt wurde, richtete
sich, wie zu allen Zeiten, nach der Individualität desselben, seinen
Kenntnissen, seiner Geistes- und Herzensbildung und seiner äusseren
1 Kevue archeolog., Paris 1863, T. VIII, p. 469.
2 Vergl. K. F. Hermann: Lehrbuch der griech. Privat-Alterthümer, Heidel-
berg 1852, III, S. 192.
3 Platon: Staat I, c. 15. 18.
4 Platon: Gesetze I, 6. Staat III, 16.
60 Der medicinisohe Unterricht im Alterthum.
Lebensstellung. Ein Sklave, welcher als Gehilfe eines Arztes bedeutende
Kenntnisse erwarb und eine segensreiche Wirksamkeit entfaltete, blieb
gleichwohl stets in einer untergeordneten abhängigen Stellung. Es
scheint übrigens, dass die aus der Klasse der Sklaven hervorgegangenen
Ärzte nicht die gleiche fachmännische Bildung besassen, wie die übrigen
Ärzte, sondern ihre Kunst rein empirisch erlernten. „Wollte man mit
einem solchen Manne philosophische Reden über den Bau und die
Funktionen des Körpers wechseln," bemerkt Platon,1 so würde er
gewiss herzlich lachen und ausrufen: Du Thor! Du bist kein Arzt,
sondern ein Schulmeister Deiner Kranken." —
Bei der Beurtheilung des Arztes diente seine wissenschaftliche
Bildung sicherlich als ein wichtiger Gesichtspunkt. Unwissende und
ungeschickte Ärzte wurden belacht und verspottet und der öffentlichen
Verachtung preisgegeben. Im Hippokratischen „Gesetz" werden sie
mit den Figuranten auf dem Theater verglichen, „welche aussehen, ge-
kleidet sind und Macken tragen, wie die Schauspieler, es aber nur
dem Namen nach, nicht in Wirklichkeit sind."2 An einer anderen
Stelle heisst es, dass es den unfähigen Ärzten wie schlechten Steuer-
männern geht. „Wenn dieselben bei ruhigem Meere das Steuer lenken
und dabei Fehler begehen, so wird es von Niemandem bemerkt; wenn
aber widriger Wind und heftige Stürme hausen, und dabei das Schiff
zu Grunde gerichtet wird, dann ist Jeder überzeugt, dass ihre Un-
wissenheit und ihre Fehler daran Schuld sind. Ebenso verhält es sich
auch mit den schlechten Ärzten, welche unter ihren Berufsgenossen
die Mehrzahl bilden. Wenn sie leichtere Krankheitsfälle behandeln,
bei denen man die grössten Fehler begehen kann, ohne dass nach-
theilige Folgen eintreten, so wird ihre Unfähigkeit den Laien nicht
auffallen; wenn sie dagegen zu einer schweren, heftigen und gefähr-
lichen Krankheit gerufen werden, dann wird es Jedem klar werden,
dass sie nichts verstehen und falsche Anordnungen treffen."3 „Die
Unwissenheit ist ein schlechter Schatz und ein trauriges Kleinod, ein
steter Traum, ein Phantasiebild, bietet keine Freude und keine Heiter-
keit und ist die Amme der Feigheit und Verwegenheit."4
Die Hippokratischen Ärzte ermahnten ihre Schüler zum Fleiss und
angestrengten Studien. „Die Kunst ist lang, das Leben kurz", sagten
sie ihnen,5 und „die Heilkunst lässt sich nicht rasch erlernen".6
Dringend empfahlen sie die Lektüre der medicinischen Schriften und
1 Platon: Gesetze IV, 10. IX, 4. 2 Hippokrates a. a. 0. T. IV, 638.
3 Hippokrates a. a. 0. T. I, 590. 4 Hippokrates a. a. 0. T. IV, 640.
5 Hippokrates a. a. 0. T. IV, 458. 6 Hippokrates a. a. O. T. VI, 330.
In Alexandria. 61
gedachten dabei auch mit rührender Pietät der redlichen, wenn auch
nicht immer glücklichen Versuche, welche die Ärzte früherer Zeiten
unternommen hatten, um die Heilkunde zu erforschen und zu einer
Wissenschaft zu gestalten.1
Die innigen Beziehungen der Medicin zur Philosophie, welche vor
Hippokeates bestanden, wurden durch ihn und seine Schule noch
mehr befestigt und dauerten auch später fort. „Philosophie und Me-
dicin bedürfen sich gegenseitig und sind auf einander angewiesen.
Der Arzt, welcher zugleich ein Philosoph ist, steht auf der höchsten
Stufe", schreibt ein Hippokratischer Autor.2 Sokrates und Platon
hatten unter ihren Schülern viele Ärzte und Studierende der Medicin,
wie sich aus den zahlreichen, auf die Heilkunde bezüglichen Hinweisen
und Vergleichen folgern lässt, und Akistoteles, der Begründer der
vergleichenden Anatomie und bahnbrechende Geist auf allen Gebieten
der naturwissenschaftlichen Forschung, schrieb:3 „Die meisten Natur-
forscher suchen in der Medicin den Abschluss ihrer Studien, und von
den Ärzten beginnen Diejenigen, welche ihre Kunst etwas wissen-
schaftlicher treiben, das Studium der Heilkunde mit den Naturwissen-
schaften."
In Alexandria.
Im raschen Siegeslauf hatte der jugendliche Alexander von Mace-
donien einen grossen Theil Europas, Afrikas und Asiens durchmessen.
Die thracischen und illyrischen Stämme bis zur Donau, Griechenland,
Phönizien, Palästina, Ägypten, Persien, ganz Kleinasien waren seinem
Scepter unterworfen; selbst mehrere indische Staaten erkannten seine
Oberhoheit an, und aus Italien und von den Kelten kamen Gesandt-
schaften, welche bei ihm Schutz und Freundschaft suchten. Schon
durfte seine von Buhmbegier geschwellte Brust sich mit dem kühnen
Plane einer Weltmonarchie tragen, welche alle Länder der Erde, soweit
sie damals bekannt war, umfassen sollte.
Da machte sein plötzlicher Tod allen diesen Hoffnungen ein jähes
Ende. Er starb im Alter von 33 Jahren, voll Jugendkraft, im Besitz
einer Macht, wie sie vor ihm noch kein Sterblicher ausgeübt hatte.
Die Tragik dieses Todes ist fast noch grossartiger als seine beispiellosen
1 Hippokrates a. a. 0. T. I, 596. 2 HippokAtes a. a. O. T. IX, 232.
3 Aristoteles: Über Sinnesenipfindung, c. 1.
62 Der medicinische Unterricht im Alter thum.
Siege und Erfolge. Sein Reich zerfiel ebenso rasch als es aufgebaut
worden war. Ehrgeizige Generäle theilten sich in seine Erbschaft und
machten sich zu Herren der einzelnen Provinzen.
Aber nur seine politischen Schöpfungen wurden zerstört. Was
durch ihn oder unter ihm für die Cultur, für die Wissenschaft ge-
schehen war, blieb erhalten und trug reiche Früchte.
Die Berührung, in welche der griechische Geist mit den Völkern
des Orients gekommen war, übte nach beiden Seiten eine nachhaltige
Wirkung aus. Jene lernten Wissenschaften und Künste kennen, die
bei ihnen noch wenig oder gar nicht entwickelt waren, und erhielten
die Gelegenheit, sich griechische Bildung und Feinheit der Sitten an-
zueignen, während die Griechen von den engherzigen Anschauungen
befreit wurden, die, als Produkte ihrer kleinen politischen Gemeinwesen
erklärlich, zur Selbstüberhebung und Verachtung des Fremden geführt
hatten. Der Hellenismus nahm dadurch jene kosmopolitische Färbung
an, welche die Bestrebungen der späteren Griechen kennzeichnet.
Kunst und Wissenschaft erfuhr durch die Bekanntschaft mit fremden
Völkern manche Anregung und Förderung, namentlich die Naturwissen-
schaften, die Zoologie, Botanik, vergleichende Anatomie und Arznei-
mittellehre, denen aus den der Forschung erschlossenen Ländern ein
reiches Material zufloss, welches von fachmännischer Hand geordnet
und gesichtet, eine systematische Bearbeitung dieser Disciplinen ermög-
lichte und begünstigte.
Alexanders politische Zukunftsträume wurden bald vergessen. Nur
sein Plan, Ägypten zum Centrum, das nach ihm genannte Alexandria
zur Hauptstadt des von ihm erstrebten Weltreiches zu machen, trat
ins Leben, wenn auch in einer ganz anderen Form, als er es sich ge-
dacht hatte. Ägypten wurde zwar nicht der politische, aber der geistige
Mittelpunkt der Völker und übernahm die Rolle des Vermittlers der
Cultur, zu welcher es durch seine Lage sowohl als durch seine Jahr-
tausende alte Geschichte ganz besonders berufen war. Das Fürsten-
geschlecht der Ptolemäer, welchem nach Alexanders Tode die Herrschaft
über das Nilland zufiel, war griechischer Abstammung und blieb auch
in seiner neuen Heimath dem griechischen Wesen treu. Während
Ägyptens Handel und Industrie blühte, und seine Schiffe bis Madera
gegen Westen und bis nach Persien und Indien im Osten fuhren,
wurden zu Hause Künste und Wissenschaften gepflegt und griechische
Bildung verbreitet.
Die Ptolemäer zogen Künstler und Gelehrte aus Griechenland an
ihren Hof, Hessen prachtvolle Bauwerke errichten, schmückten ihre
Residenz mit den Sehenswürdigkeiten der ganzen Welt und unterstützten
In Alexandria. 63
die Wissenschaften mit königlicher Freigebigkeit. Sie legten botanische
und zoologische Gärten an, gründeten Bibliotheken und schufen das
Museum und das Serapeum, l zwei Anstalten, in denen Gelehrte Woh-
nung und Unterhalt erhielten, damit sie sich den wissenschaftlichen
Studien widmen konnten, ohne für die täglichen Bedürfnisse des Lebens
sorgen zu müssen. Sie enthielten ausser den Wohn- und Schlafgemächern
grosse Speisesäle und gedeckte, mit Gemälden geschmückte Säulengänge,
an welche sich offene Höfe und schattige Gartenanlagen anschlössen.2
Die grossen Bibliotheken, bei deren Gründung und Vermehrung keine
Geldmittel gescheut wurden, standen damit in einem räumlichen und
wahrscheinlich auch organischen Zusammenhange. Die oberste Aufsicht
über die Anstalten führten hohe Geistliche, die in Gemeinschaft mit
den Vorstehern der einzelnen Abtheilungen, in welche sich die Gelehrten
nach ihren Wissenschaften schieden, auch die Verwaltung leiteten.
Das Museum lag in unmittelbarer Nähe des königlichen Schlosses
und wurde sogar als ein zugehöriger Theil desselben betrachtet. Das
Serapeum befand sich in einem entfernteren Theile der Stadt und stand
an Bedeutung jenem nach. Auch die Bibliothek des letzteren war
nicht so reich, als diejenige des Museums. Die hohen lichten Säle der
Bibliotheken, in denen die Bildsäulen berühmter Gelehrten aufgestellt
wurden, bargen viele Tausende von Papyros-Rollen, welche die hervor-
ragendsten Werke, namentlich der hellenischen Literatur enthielten.
Über die Zahl derselben gehen die Angaben weit auseinander; während
z. B. Ammianus und Gellius die Menge der Papyros-Rollen der Mu-
seumsbibliothek auf 700,000 schätzten, berichtet Epiphanius, dass sie
nur 54,800 betrug.3
Die Gelehrten, welche im Museum und Serapeum wohnten, bildeten
Vereinigungen nach der Art unserer Akademien. Im freundschaftlichen
Verkehr und in freien Vorträgen erörterten sie die wissenschaftlichen
Fragen, zu denen sie durch die Lektüre oder durch die Beobachtung
angeregt wurden. Ihre fürstlichen Gönner nahmen an diesen Unter-
suchungen regen Antheil und ermunterten sie dabei durch hohe Jahres-
gehälter und reiche Geschenke. Sie beschäftigten sich mit der Gram-
matik, der Textkritik der in den Bibliotheken aufgenommenen Schriften,
der Dichtkunst, Musik, Geschichte, Philosophie, Mathematik, Mechanik,
Astronomie, Geographie, den Natur Wissenschaften und der Medicin.
1 G. Parthey: Das Alexandrinische Museum, Berlin 1838. — Fr. Ritschl:
Die Alexandrinischen Bibliotheken, Breslau 1838.
2 Strabon XVII, 1.
3 Ammian XXII, 16. — A. Gellius: Noct. Attic. VI. 17. — Vergl. ferner
P abtue y a. a. 0. S. 77.
(34 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Aber diese „Priester der Musen", wie sie Theokbit nennt,1 lebten
nicht blos der Forschung; sie widmeten ihre Zeit auch dem Unterricht.
Schüler aus allen Gegenden, wo Griechen lebten, kamen nach Alexan-
dria, um dort die höchste Ausbildung für ihren künftigen Beruf zu
erlangen. Das Museum und das Serapeum waren somit nicht blos
Akademien, sondern auch Hochschulen.
Über das Verhältniss derselben zu den Anstalten, welche dem
medicinischen Unterricht dienten, fehlen leider die Nachrichten. Es
entstanden dort zwei medicinische Schulen, welche nach ihren Stiftern
unterschieden wurden, aber in ihren wissenschaftlichen Grundsätzen
nur wenig von einander abwichen. Beide fussten auf den Lehren der
Schulen von Kos und Knidos und machten deren wissenschaftliche
Errungenschaften zur Grundlage ihrer eigenen Forschungen.
An der Spitze der einen stand Hebophilcs,2 an derjenigen der
anderen Eeasisteatos.
Der Erstere wurde um das Jahr 300 v. Chr. zu Chalcedon geboren.
Seine Lehrer waren Cheysippos von Knidos, welcher sich dadurch be-
kannt machte, dass er die zu häufige Anwendung des Aderlasses und
der drastischen Arzneien verwarf und durch das Binden der Glieder
zu ersetzen suchte, und bei der Wassersucht Bäder im Schwitzkasten
empfahl,3 und Peaxagoeas von Kos, einer der fruchtbarsten medici-
nischen Schriftsteller jener Zeit.4 Heeophilos erlangte eine solche
Bedeutung, dass nicht weniger als vier Ärzte des Alterthums sich der
Aufgabe unterzogen, sein Leben zu schildern.
Seine hervorragendsten Verdienste liegen auf dem Gebiet der
Anatomie. Er war bemüht, eine wesentliche Lücke der Hippokratischen
Lehren zu ergänzen, indem er das Nervensystem einer sorgfältigen
Untersuchung unterzog. Dabei gelang es ihm, einiges Licht auf diesen
bis dahin nur wenig erforschten Theil der Anatomie zu werfen. Er
beschrieb die Hirnhäute, die Plexus chorioidei, die venösen Sinus, das
nach ihm genannte Torcular Herophili, die Hirnhöhlen und die Schreib-
feder, welche ihm diese Bezeichnung verdankt, verfolgte den Ursprung
der Nerven aus dem Gehirn und Bückenmark und erkannte, dass die
Nerven die Empfindung und Bewegung vermitteln. 5 Ferner beschäftigte
er sich mit dem Bau des Auges, beschrieb den Glaskörper, die Chorioidea
1 Idyll. XVII, v. 112.
2 K. F. H. Marx: Herophilus, Karlsruhe und Baden 1838.
3 Galen a. a. 0. T. IV, 495. XI, 148. 230. 252.
4 C. G. Kühn: De Praxagora Coo. progr., Lips. 1823.
5 Galen a. a. O. T. II, 712. 731. III, 708. XIX, 330. — Rüfüs a. a. O.
153. — Plutarch: de placit. philos. IV, 22.
In Alexandria. 65
und die netzartige Haut, machte auf die eigenthümliche Form des
Duodenums aufmerksam und beobachtete, dass die Häute der Arterien
dicker sind, als diejenigen der Venen. 1 Wie genau er bei seinen ana-
tomischen Untersuchungen war, zeigt seine Beobachtung, dass die linke
Vena spermatica in einzelnen Fällen aus der Vena renalis entspringt.2
Er unterschied verschiedene Formen des Pulses nach der Grösse,
Stärke, Raschheit und Regelmässigkeit desselben und legte damit den
Grund zur wissenschaftlichen Behandlung der Pulslehre.3 Auch als
Chirurg hatte Heeophilos beachtenswerthe Erfahrungen, wie aus seiner
Bemerkung hervorgeht, dass sich die Luxationen des Oberschenkels
wegen der damit verbundenen Zerreissung des Ligamentum teres nach
der Wiedereinrichtung wiederholen.4 Er kannte den Verschluss des
Muttermundes bei vorhandener Schwangerschaft5 und verfasste ein
Lehrbuch der Geburtshilfe, in welcher er auch Unterricht ertheilt haben
soll. Im Allgemeinen huldigte er in der praktischen Heilkunde dem
Grundsatz, dass man sich dabei nicht auf theoretische Erklärungen
verlassen dürfe, sondern die Erfahrung allein als massgebend betrachten
soll.6 Stobaeus erzählt, dass Heeophilos auf die Frage, wer der beste
Arzt sei, geantwortet habe: „Derjenige, welcher das Mögliche von dem
Unmöglichen zu unterscheiden weiss."7
Sein Zeitgenosse Eeasisteatos , der sich mit ihm in den Ruhm
der Alexandrinischen Schule theilte, stammte von Julis auf der Insel
Keos. Er war ebenfalls von Cheysippos von Knidos unterrichtet wor-
den; ausserdem wird Meteodoeos, der Schwiegersohn des Aeistoteles,
unter seinen Lehrern genannt. Eeasisteatos lebte eine Zeitlang am
Hofe des Königs Seleukos Nikator, wo er durch eine merkwürdige
Diagnose Aufsehen erregte. Antiochos, der Sohn des Königs, war
nämlich erkrankt, und Eeasisteatos erkannte aus der Aufregung, die
er beim Anblick seiner Stiefmutter an den Tag legte, dass sein Leiden
durch die hoffnungslose Liebe zu derselben hervorgerufen worden war. 8
Galen machte zu dieser Erzählung die humoristische Bemerkung, dass
er sich nicht erklären könne, worauf sich diese Diagnose stützte; denn
„einen Puls der Verliebten gebe es ja doch nicht."9
1 Rufus a. a. 0. p. 154. 171. — Galen a. a. 0. T. II, 572. 780. III, 445.
2 Galen a. a. 0. II, 895.
3 Galen a. a. 0. T. VIII, 592. 956. 959. — Plinius: Hist. nat. XI, 88. XXIX, 5.
4 Obibasius a. a. 0. IV, 233. 5 Galen a. a. 0. T. II, 150.
6 Plinius: Hist. nat. XXVI, 6.
7 Stobaeus: Florileg. Ed. A. Meinecke IV, 2.
8 Plutaech: Vita Demetrii, c. 38. — Plinius: Hist. nat. XXIX, 3.
9 Galen a. a. 0. T. XIV, 631.
Puschmann, Unterricht. 5
66 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Wie Heeophilos, so beschäftigte sich auch Eeasisteatos eifrig
mit anatomischen Untersuchungen. Er beschrieb die Hirnwindungen
und leitete von der grösseren Mannigfaltigkeit derselben beim Menschen
dessen geistige Präponderanz über die Thiere her.1 Die motorischen
Nerven unterschied er von den sensibelen; aber er glaubte, dass die
ersteren aus den Häuten, die letzteren aus der Substanz des Gehirns
hervorgehen. 2 Er kannte die Bronchial- Arterien, nahm anostomotische
Verbindungen zwischen Arterien und Yenen an und beschrieb die
Herzklappen so genau, dass Galen dazu nichts weiter hinzuzufügen
wusste. 3 Am merkwürdigsten ist seine Beobachtung der Chylusgefässe, 4
deren Bedeutung er natürlich nicht zu erkennen oder auch nur zu
ahnen vermochte; dazu gebrauchte die Wissenschaft noch nahezu zwei
Jahrtausende.
Gebührende Anerkennung verdienen auch seine Versuche, die Ver-
dauung und andere physiologische Vorgänge auf mechanische Weise
zu erklären und die Ursachen der Krankheiten durch pathologische
Sektionen zu erforschen.5
Heeophilos und Eeasisteatos wurden bei ihren anatomischen
Untersuchungen ohne Zweifel durch manche werthvolle Vorarbeiten
unterstützt, wie das Werk des Diokles von Karystus, dessen Galen6
rühmend gedenkt; aber hauptsächlich verdankten sie ihre ausserordent-
lichen Erfolge dem Umstände, dass ihnen die ägyptischen Könige
menschliche Leichen in beliebiger Menge zu anatomischen Sektionen
zur Verfügung stellten. Sie erhielten sogar die Gelegenheit, lebende
Menschen zu öffnen, indem ihnen zu diesem Zweck Verbrecher aus den
Gefängnissen übergeben wurden, „damit sie die Lage, Farbe, Gestalt,
Grösse, Anordnung, Härte, Weichheit, Glätte, äussere Fläche, sowie die
Vorsprünge und Einbiegungen der einzelnen Organe während des Lebens
studieren konnten." Sie entschuldigten diese Vivisektionen damit, „dass
es erlaubt sein müsse, das Leben einiger weniger Verbrecher zu opfern,
wenn daraus ein dauernder Nutzen für das Leben und die Gesundheit
der vielen ehrbaren Menschen entspringt". Ihre Gegner erwiderten
ihnen darauf, „dass dies nicht blos grausam sei und die Heilkunst,
welche zum Segen der Menschen, nicht aber zu ihrer Qual dienen solle,
1 Galen a. a. 0. T. III, 673. 2 Rupus a. a. 0. p. 185.
8 Galen a. a. 0. III, 465. 492. V, 166.
4 Galen a. a. 0. T. II, 649. IV, 718.
5 Galen a. a. 0. T. XIX, 373. — Celsus: Prooem. u. III, 21. — Dioskorides,
Ed. C. Sprengel, Lips. 1830, T. II, p. 72. — Caelius Aurelianus : de chron. III,
s. V, 10.
6 Galen a. a. 0. T. II, 282. 716.
In Alexandria. 67
entwürdige, sondern auch überflüssig sei, da die Leute, nachdem ihnen
die Bauchhöhle aufgeschnitten, das Zwerchfell durchtrennt und die
Brusthöhle eröffnet worden, sterben, bevor noch wissenschaftliche Unter-
suchungen am Lebenden möglich waren".1
Die Schüler und Nachfolger dieser beiden Koryphäen der Alexan-
drinischen Schule verliessen später leider die exakte Forschungsmethode,
welche Jene zu beachtenswerthen Erfolgen geführt hatte, und betraten
den bequemen mühelosen Weg der Spekulation. Nur Wenige, wie
der Anatom Eudemos, die Ärzte Bacchios von Tanagra und Mantias,
der sich um die Arzneimittellehre verdient machte, die Geburtshelfer
Demeteios von Apamea und Andreas von Karystus, welche die die
Geburt erschwerenden Zustände und Verhältnisse in übersichtlicher und
ziemlich vollständiger Weise zusammenstellten, der Chirurg Philoxenos
u. A. machten davon eine rühmliche Ausnahme. Einzelne verpflanzten
ihre Lehren nach anderen Orten und gründeten zu ihrer Pflege medi-
cinische Schulen, wie Zeuxis zu Laodicea und Hikesios zu Smyrna.
Die geringen Unterschiede zwischen den Herophileern und Erasi-
strateern verwischten sich mehr und mehr; die ersteren zeichneten sich
nur dadurch von den letzteren aus, dass sie conservativer waren und
den Schriften der Hippokratiker, die sie mit Commentaren versahen,
eine grössere Autorität zugestanden. Aber beide Schulen waren dem
Untergange geweiht, als sie aufhörten, durch eigene Forschungen den
Fortschritt der Wissenschaft anzustreben, und sich darauf beschränkten,
an den überlieferten Theorien festzuhalten, die allmälig zum todten
Formalismus erstarrten. „Freilich war es bequemer," schreibt Plinius,
„in den Schulen zu sitzen und ruhig zuzuhören, als draussen die Ein-
öden zu durchwandern und jeden Tag andere Pflanzen zu suchen."2
Es war unter solchen Umständen kein Wunder, dass die denkenden
Ärzte sich von diesen Dogmatikern abwandten und einem Empirismus
huldigten, der zwar nicht die Lösung der physiologischen und patho-
logischen Probleme versprach, aber den Bedürfnissen der ärztlichen
Praxis Genüge leistete. Unter dem Einfluss des Skepticismus, welcher
von Pyeehon angeregt und von Kaeneades, dem Stifter der soge-
nannten dritten Platonischen Akademie, weiter ausgebildet, zur herr-
schenden Weltanschauung geworden war, kamen sie zu der Meinung,
dass es in dieser W^elt der Erscheinungen eine Gewissheit, ein Wissen
überhaupt nicht gebe und die Wahrscheinlichkeit das höchste Ziel sei,
welches der menschliche Verstand erreichen könne. Damit verzichteten
1 Celsus: Prooeui. — Tertullian: de anima, c. 10.
2 Plinius: Hist. nat. XXVI, 6.
68 Der medicinische Unterricht im Alter thum.
sie auf die schönsten Hoffnungen, welche das wissenschaftliche Streben
belebt hatten, und erklärten dasselbe für aussichtslos.
Die Empiriker vernachlässigten die Anatomie und Physiologie,
weil sie deren Studium für überflüssig und fruchtlos ansahen; sie küm-
merten sich auch nicht um das Wesen der Krankheiten, sondern be-
gnügten sich damit, ihre Erscheinungen zu beobachten, ihre nächsten
Ursachen zu erforschen und die Heilmittel aufzufinden und zu prüfen,
welche zur Beseitigung der Leiden geeignet erschienen. Dabei Hessen
sie sich hauptsächlich von der Erfahrung leiten, und zwar zogen sie
nicht blos die eigenen Beobachtungen zu Rath, sondern auch diejenigen,
welche von Anderen gemacht worden waren und sich im Verlauf der
Zeit zur Geschichte umgestaltet hatten. Bei neuen unbekannten Er-
scheinungen, über welche noch keine Erfahrungen vorlagen, wurde ein
Verfahren eingeschlagen, welches in ähnlichen Fällen erfolgreich ge-
wesen war. Indem man somit den Schluss per analogiam als dritte
Erkenntnissquelle der Erfahrung und der Geschichte anreihte, vervoll-
ständigte man den sogenannten empirischen Dreifuss.
Die Empiriker schenkten ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise der
praktischen Heilkunde. Die Arzneimittellehre, die Geburtshilfe und
Chirurgie wurden von ihnen wesentlich gefördert. Die Technik des
Steinschnitts, wie sie Celsits schildert, ist ihr Verdienst. Auch die
ersten Versuche zur Lithothrypsie, welche von Ammonios unternommen
wurden, stammen aus dieser Zeit.1 Die Arzneimittellehre wurde mit
den Werken eines Nikandee und Keatevas bereichert, der sein mit
colorirten Abbildungen ausgestattetes Buch über die medicinischen Kräfte
dem Könige Mithridates von Pontos widmete. Ausserdem gehörten
Philinos, ein Schüler des Heeophilos, Seeapion, Glaukias und
Heeaklides aus Tarent zu den bekannten Vertretern der empirischen
Sekte. 2
Während die Wissenschaften in Alexandria blühten und gediehen,
wurden ihnen auch an anderen Orten Wohnstätten bereitet, in denen
sie sich heimisch machen sollten. Die Fürsten geschlechter der Seleu-
ciden in Syrien und der Attaler in Pergamon wetteiferten mit den
Ptolemäern in der Pflege der geistigen Güter. Die Attaler gründeten
sowohl Elementarschulen,3 als Anstalten für Gelehrte gleich jenen in
Alexandria, und ihre Bibliothek war nächst denen des Museums und
1 Celsus VII, 26.
2 Ch. Daremberg (Histoire des sciences medicales, Paris 1870, T. I, p. 159)
hat die Anhänger dieser, sowie diejenigen der beiden dogmatischen Schulen zu
Alexandria in chronologischer Reihenfolge neben einander gestellt.
3 Th. Mommsen: Köm. Geschichte, Bd. V, S. 334.
In Alexandria. 69
Serapeums die berühmteste des Alterthums. Die Coneurrenz, welche
sie den Ptolemäern beim Ankauf von Handschriften machten, führte
zum Verbot der Ausfuhr der Papyros-Blätter aus Ägypten, welches
die indirekte Veranlassung zur Erfindung eines dauerhaften Schreib-
materials gab, nämlich des Pergaments, dessen Name von Pergamon
stammt. Die dortigen Schulen gelangten ebenfalls zu hohem Ansehen
und brachten Gelehrte hervor, die sich in der Textkritik, Mathematik,
namentlich aber in der Medicin auszeichneten. Als Mittelpunkt ärzt-
licher Bildung nahm Pergamon lange Zeit eine hervorragende Stellung
ein; noch Galen, einer der grössten Ärzte und Forscher, die jemals
gelebt haben, erhielt hier den ersten medicinischen Unterricht.
Einen traurigen Ruhm in der Geschichte der medicinischen Wissen-
schaft erwarb sich der letzte König von Pergamon, der geisteskranke
Attalus III. In beständiger Furcht, von seinen Feinden vergiftet zu
werden, verlangte er, dass wirksame Gegenmittel gegen Vergiftungen
aufgefunden würden, und liess zu diesem Zweck Versuche anstellen an
Verbrechern und anderen Leuten, deren er sich entledigen wollte.
„Mit eigener Hand baute er giftige Gewächse, Bilsenkraut, Niesswurz,
Schierling, Sturmhut und Doryknion in den königlichen Gärten und
sammelte ihre Säfte und Früchte, um ihre Kräfte zu studieren." 1 Der
gleichen Liebhaberei huldigte ein anderer dieser königlichen Giftmischer,
der mordlustige Mithridates von Pontos, welcher täglich Gift nahm,
um sich auf diese Weise allmälig an den Genuss desselben zu ge-
wöhnen. Diese Versuche, obgleich im Dienste des Wahnsinns und der
Grausamkeit unternommen, hatten für die Heilkunde den Vortheil, dass
sie zu einer sorgfältigen Prüfung der Eigenschaften und Kräfte man-
cher Arzneistoffe führten, und die Mittheilungen der medicinischen
Autoren späterer Zeiten bezeugen, dass sie nicht ohne Ergebniss blieben.
Die wohlwollende Protektion, welche den Wissenschaften von den
ersten Ptolemäern zu Theil geworden war, verwandelte sich später in
Gleichgültigkeit und Misstrauen und machte zuletzt dem Gefühl des
Hasses und der Verachtung Platz. Der siebente Ptolemäer vertrieb die
Gelehrten aus Alexandria und liess die gelehrten Anstalten schliessen.
Als sie später wieder eröffnet wurden, trugen sie das Zeichen des
Verfalls an sich. Die Stellen der Gelehrten des Museums wurden jetzt
nach der Laune des Fürsten besetzt und dienten als Belohnung für
Schmeicheleien und niedrige Dienste. Für diese Zeit mochte das
beissende Wort des Phliasiers Timon berechtigt sein, „dass das Museum
ein grosser Futterkorb sei, in welchem sich Bücherschmierer mästen,
1 Plutarch: Vita Demetrii, c. 20.
70 Der medioinisöhe Unterricht im Älterthum.
die sich um Dinge streiten, die sie nicht kennen".1 Unter der rö-
mischen Herrschaft kam es sogar soweit, dass Athleten zu Mitgliedern
des Museums ernannt wurden.
Die berühmten Bibliotheken wurden theils durch Feuer zerstört,
theils von den fremden Machthabern, welche nach Ägypten kamen,
geplündert. Ein Theil der literarischen Schätze wanderte nach Italien
und Konstantinopel und diente zur Gründung oder Vermehrung der
Bibliotheken, welche dort geschaffen wurden.
Die letzten Überreste sollen bei der Einnahme von Alexandria
durch die Araber zu Grunde gegangen oder durch die Christen ver-
nichtet worden sein.
Im Jahre 389 wurde der Serapis-Tempel in eine christliche Kirche
umgewandelt, und in dem Serapeum nahmen „sogenannte Mönche ihre
Wohnung, die", wie Eunapios schreibt, „in ihrer Gestalt zwar Menschen
glichen, in ihrer Lebensweise aber Schweine waren".2 Er hat dabei
sicherlich nicht Leute, wie unsere hochgebildeten Benediktiner, sondern
schmutzige orientalische Mönche vor Augen gehabt.
Die medicinischen Schulen in Alexandria behaupteten ihre hervor-
ragende Stellung auch unter der Herrschaft der Kömer und darüber
hinaus und trugen vielleicht wesentlich bei zu dem Aufschwünge, den
die Heilkunst unter den Arabern erlebte.
Die Medicin in Rom.
Die italische Halbinsel bildete Jahrhunderte lang den Schauplatz
erbitterter Kämpfe und Fehden, deren Endergebniss die Unterwerfung
der einzelnen Völkerschaften unter die römische Herrschaft war. Die
kleinen Bauernstaaten, welche allmälig zu dem politischen Gemeinwesen
der Römer verschmolzen, hatten den Künsten und Wissenschaften
geringe Pflege gewidmet, und nur die Etrusker konnten auf Cultur-
Errungenschaften hinweisen, welche die Keime einer erfolgreichen Ent-
wickelung in sich bargen.
Die Heilkunde zeigte den theurgisch-empirischen Charakter. Ge-
bete, Opferungen, mystische Zaubersprüche und Anrufungen der Götter
bildeten neben einigen heilkräftigen Kräutern, deren Wirkung der Zufall
1 Athenaeos deipnosophist. I, p. 11, Basil. 1535, Ed. Bedrotus.
2 Eunapios in aedes I, p. 43, nach Parthey a. a. 0. 8. 102.
Die Medicin in Rom. 71
gelehrt und die Erfahrung bestätigt hatte, die gebräuchlichsten Heil-
mittel , deren man sich bei Krankheiten bediente. Auch besass man
einige Kenntnisse in der Behandlung der Wunden, in der Stillung von
Blutungen und in der Heilung von Knochenbrüchen und Verrenkungen.
Seneca1 charakterisirt den Zustand der damaligen Heilkunst treffend
mit den Worten: medicina quondam pauearum fuit scientia herbarum
quibus sisteretur fluens sanguis, vulnera coirent.
Ein eigentlicher ärztlicher Stand fehlte, und gute Freunde, barm-
herzige Frauen und treu ergebene Diener leisteten wie zur Zeit Homer's
im Fall der Noth die erforderliche Hilfe.
Die Bömer sahen in der Begründung und Erweiterung ihrer po-
litischen Macht die einzige Aufgabe, welche die Kräfte der Nation in
Anspruch nahm. Ihr gegenüber erschienen die Beschäftigungen mit
Dingen, wie die Heilkunst, von untergeordneter Bedeutung. Der Inhalt
der letzteren erfuhr daher bei ihnen keine wesentliche Bereicherung,
und ihre Ausübung blieb in denselben Händen, wie bisher.
Allerdings hätte die Eingeweideschau, welche die Haruspices vor-
nahmen, dazu dienen können, das anatomische Wissen zu vermehren;
aber diesen Priestern mangelte die nothwendige Vorbildung, und bei
ihren Untersuchungen standen ihnen nicht wissenschaftliche Ziele, son-
dern mystisch -religiöse Aufgaben vor Augen, welche sie darauf hin-
wiesen, Absonderlichkeiten zu finden, selbst dort, wo sie nicht vorhanden
waren. Gleichwohl deuten die zahlreichen Ausdrücke der anatomischen
Terminologie,2 welche der lateinischen Sprache entlehnt sind, darauf
hin, dass man die wichtigsten Organe des Körpers kannte und von
einander zu unterscheiden wusste.
Übrigens bestanden nur lose Beziehungen zwischen der Anatomie
und der praktischen Heilkunde. Der römische Hausvater, wie er uns
in M. Porcius Cato entgegentritt, hatte sein Beceptenbuch, aus wel-
chem er sich bei Erkrankungen seiner Familie, seiner Sklaven und
Hausthiere Bath holte.3 Darin waren ausser manchen abergläubischen
Zauberformeln allerlei Mittel gegen innere Leiden angegeben und die
Behandlung geschildert, welche bei Verletzungen, Frakturen, Luxationen,
Wunden, Geschwüren, Fisteln, Nasenpol ypen u. a. m. eingeschlagen
werden sollte. Grossen Werth legte man auf die Diätetik, und einzelne
1 Epist. 95.
2 Rene Briau: Introduction de la medecine dans le Latium et ä Rome in
der Revue archeol., Paris 1885, ser. III, T. 6, p. 197. — Jos. Hyrtl: Onomato-
logia anatomica, Wien 1880.
Plinius: Hist. nat. XXIX, c. 8. — Plutakch: Cato major, c. 23.
3
72 Der medicinische Unterricht im Älterthum.
Hausmittel, wie der Kohl, standen in hohem Ansehen.1 Auch der
Wein wurde zu derartigen Zwecken häufig verwendet, und Cato, „dessen
Tugend", wie Hobaz2 schreibt, „nicht selten in lauterem Wein erglühte",
empfahl ihn als Zusatz zu verschiedenen Heilmitteln.
Die patriarchalische Sitte, nach welcher der Hausvater zugleich
der Hausarzt war, verschwand natürlich mit der Entwickelung der Heil-
kunst und bildete sicherlich schon zu Cato's Zeit nur noch eine Aus-
nahme. Die vermehrten Anforderungen, welche an das Wissen und
Können der Heilkundigen gestellt wurden, und der Aufschwung der
politischen und socialen Verhältnisse rechtfertigten die Bildung eines
besonderen ärztlichen Standes. Leider fehlen die historischen Nach-
richten, in welcher Weise sich dieser Prozess vollzog. Vielleicht hatte
das Bedürfniss einer verlässlichen ärztlichen Hilfe, welches sich in den
häufigen Kriegszügen der Kömer kundgab, Einfluss darauf? —
In den ältesten Zeiten pflegten die Soldaten einander gegenseitig
zu verbinden und führten zu diesem Zweck Verbandstücke mit sich.
Jeder betheiligte sich an der Pflege der Verwundeten;3 aber die ärzt-
liche Hilfe, welche ihnen zu Theil wurde, scheint unzureichend gewesen
zu sein, so dass z. B. nach der Schlacht bei Sutrium (309 v. Chr.)
mehr Krieger ihren Verletzungen nachträglich erlagen, als von den
Feinden getödtet worden waren.4
Doch steht es fest, dass zu jener Zeit in Rom die Heilkunst be-
reits berufsmässig ausgeübt wurde. Es wird dies nicht blos durch das
Zeugniss der Autoren des Alterthums,5 welche bei verschiedenen Ge-
legenheiten der Ärzte gedenken, sondern auch durch mehrere Thatsachen
in überzeugender Weise bewiesen.
Die Lex Äquilia machte den Arzt, welcher einen Sklaven nach der
Operation vernachlässigt hatte, so dass dadurch dessen Tod herbeigeführt
worden war, dafür verantwortlich.6 Plutarch7 erzählt, dass sich bei
einer Gesandtschaft, welche die Römer nach Bithynien schickten, ein
Mann befunden habe, an welchem die Trepanation mit glücklichem
Erfolg ausgeführt worden war, und schon in den zwölf Gesetzestafeln
des Numa ist von Zähnen die Rede, welche durch Goldfäden künstlich
mit einander verbunden waren.8
Dagegen behauptet Pliniüs 9 freilich, dass Rom viele Jahrhunderte
1 Plinius: Hist. nat. XX, c. 33. 2 Od. III, 21, Ad amphoram.
3 Tacitus: Annal. IV, 63.
4 Livius VIII, 36. IX, 32. X, 35. XXX, 34.
5 Dion. Halicarn. I, 79. X, 53. — Livius XXV, 26.
6 Institut. IV, tit. 3. § 6 u. 7. 7 Cato major, c. 9.
8 Cicero: de leg. II, 24. 9 Pltnius: Hist. nat. XXIX, 5.
Die Medicin in Rom. 73
hindurch der Ärzte , wenn auch nicht der Heilkunst (sine medicis, nee
tarnen sine medicina), entbehrt habe. Aber er wollte damit nur sagen,
dass es in Eom bis zur Einwanderung der griechischen Ärzte, von
denen er bald nachher spricht, keine Leute gab, welche den Namen
von Ärzten verdienten, und bemerkt dabei, dass man der griechischen
Heilkunst mit freudiger Begierde entgegengesehen habe, aber nachdem
man sie kennen gelernt, davon enttäuscht sei [medieinae vero etiam
avidus, donec expertam damnavit) ; er verbessert sich indessen später,
indem er sagt, dass damit nicht die Sache selbst, sondern die Art, wie
sie betrieben wurde, gemeint sei.1
Der griechische Einfluss hatte sich in Eom geltend gemacht, längst
bevor man mit den wissenschaftlichen Errungenschaften der griechischen
Ärzte bekannt wurde; und es ist bezeichnend für die Denkweise jener
Zeit, dass er sich zuerst auf dem Gebiet der religiösen Mystik kundgab.
Schon in früher Zeit nahmen die Römer bei schweren Epidemien ihre
Zuflucht zu den Orakeln und Heilgottheiten der Griechen, welche neben
den heimischen Göttern verehrt wurden. Dem Apollon als Arzt wurde
bei einer Seuche, die im 5. Jahrhundert v. Chr. in Rom wüthete, ein
Tempel gewidmet.2 I. J. 291 v. Chr. wurde der Asklepios-Dienst von
Epidauros nach Rom verpflanzt: eine Thatsache, welche dichterisch aus-
geschmückt, von verschiedenen Schriftstellern dargestellt und sogar von
der bildenden Kunst verherrlicht worden ist.3 I. J. 154 n. Chr. wurde
in Rom ein Collegiwn Aesculapii et Hygieae errichtet, dessen Stiftungs-
Urkunde sich in einer im Garten des Palais Palestrine gefundenen
Inschrift erhalten hat.4
Als Rom nach den punischen Kriegen zur Weltmacht emporwuchs,
welche die Herrschaft über das Mittelmeer und die dasselbe begrenzenden
Länder mit Erfolg anstreben durfte, nahm die Einwanderung von
Fremden in bemerkenswerther Weise zu. Wer durch Geburt, Ver-
mögen, Talent oder Wissen seine Mitbürger überragte, ging nach der
Tiberstadt, weil er hier am ehesten hoffen konnte, seine Vorzüge zur
Geltung zu bringen. Dazu gesellte sich eine Schaar von Abenteurern,
1 Plinius a. a. 0. XXIX, 8. 2 Livius IV, 25. 29. VII, 20. XL, 51.
3 Valer. Maxim. I, 6. 8. — Livius X, 47. XXIX, 22. — Ovid: Metam. XV,
v. 626—744. — Panofka: Asklepios und die Asklepiaden, Berlin 1840, S. 52 u.
Tafel II, 3. — Böttiger in K. Sprengel's Beiträgen z. Gesch. d. Med., Halle
1795, I, 2. S. 163 u. ff.
4 Spon: Recherches curieuses d'antiquite, Lyon 1683, p. 326 — 340, und wieder
abgedruckt bei J. Rosenbaum: K. Sprengel's Versuch einer Geschichte d. Arznei-
kunde, Leipzig 1846, S. 208 Anm., und G. Pinto: Storia della medicina in Roma,
Roma 1879, p. 191.
74 Der medicinische Unterricht im Alt&rthuin.
welche ihr Glück suchten und dabei weder Mittel noch Wege scheuten,
wenn sie zum Ziele führten, sowie jene namenlose Menge von Sklaven,
die von reichen Kömern aus der Ferne bezogen wurden, um den er-
höhten Luxus zu befriedigen. Der vermehrte Sinnengenuss hatte neue
Laster und neue Krankheiten im Gefolge, gegen welche man bei fremden
Ärzten Hilfe suchte.
Das grösste Contingent zu der Einwanderung der Fremden stellten,
wie bisher, die Griechen, deren Sprache und Cultur in Kom massgebend
wurde. Nichts kennzeichnet die Bedeutung, welche der Hellenismus
dort erlangte, mehr, als dass selbst Cato, der Verächter des Griechen-
thums, sich bewogen fühlte, dessen Sprache und Literatur zu studieren,
und dass derselbe Feldherr, Lucius Aemilius Paulus, welcher die Griechen
auf dem Schlachtfelde besiegte, seine Kinder von griechischen Lehrern
erziehen liess. Nur auf politischem Felde, nur im Kampfe der Waffen
erlagen die Griechen den Kömern; im Wettstreit der Geister blieben
sie die Sieger.
Graecia capta ferum victorem cepit et artes
Intulit agresti Latio. l
Die mächtigsten Veränderungen erfuhren dadurch das Bildungs-
wesen und die Heilkunde in Rom.
Die bewunderungswürdigen Erfolge, welche die letztere den Griechen
verdankte, machen es begreiflich, dass man bestrebt war, sich ihr Wissen
und ihre Geschicklichkeit auf diesem Gebiet nutzbar zu machen. Die
griechischen Ärzte wurden in Rom gesucht, und ihre römischen Col-
legen mussten aus der medicinischen Literatur der Griechen Fach-
kenntnisse sammeln, wenn sie im Kampfe ums Dasein nicht zu Grunde
gehen wollten. Die römische Heilkunst, soweit sie auf nationalem
Boden entstanden war, ging in der griechischen Heilkunde auf und
liess nur, wie alle niederen Cultur -Elemente, wenn sie den höheren
unterliegen, in der Tradition des Volkes ihre Spuren zurück.
Die berufsmässige Heilkunst in Rom war fortan griechisch. Ihr
Inhalt stützte sich auf griechische Schriften, und ihre hervorragendsten
Vertreter gehörten der griechischen Nation an. Dieses Übergewicht
erhielt sich bis in das späte Alterthum. Die Römer haben es auf
diesem Gebiet eigentlich niemals zu einer geistigen Selbstständigkeit
gebracht, und ihre besten medicinischen Werke besitzen nur den Werth
compilatorischer Zusammenstellungen, zu denen die Schöpfungen des
griechischen Geistes als Vorlage dienten.
1 Horatius: Epist. I, 1, v. 156.
Die Medioin in Rom. 75
Die ersten griechischen Ärzte, welche in Eom einwanderten, waren,
wie es scheint, nicht gerade die ehrenwerthesten Mitglieder ihres Standes.
Auffallend durch ihr fremdartiges Wesen und durch jenen Zug von
( 'harlatanerie, welcher ihrer orientalischen Heimath eigenthümlich, aber
den strengen Sitten der Kömer ungewohnt war, machten sie sich bald
durch Habsucht und Prahlereien verächtlich und verhasst. Sicherlich
waren nur Wenige von Begeisterung für die Heilkunst und Liebe zu
den Menschen erfüllt; die Meisten trieb die Sucht nach Reich thum und
Genuss aus der Heimath in die Fremde. Die schweren Anklagen,
welche Cato gegen sie richtete, waren, wenn auch übertrieben, doch
nicht ohne alle Berechtigung.1
Der aus dem Peloponnes stammende Arzt Akchagathos (ein guter
Anfang!), welcher um d. J. 219 v. Chr. nach Rom kam, lenkte zuerst
die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Seine chirurgischen Operationen
erregten solches Aufsehen, dass der Senat ihm das römische Bürger-
recht verlieh und auf Kosten der Gemeinde eine Officin in einem be-
lebten Theile der Stadt kaufte. Aber seine Lust „am Schneiden und
Brennen", vielleicht auch manche Misserfolge, die er bei seinen Opera-
tionen hatte, raubten ihm bald das Vertrauen der Bevölkerung, und
man sagte, dass er kein Wundarzt, sondern ein Henker (camifex) sei.2
Eine hervorragende Stellung erlangte später der bithynische Arzt
Asklepiades, welcher zur Zeit des Pompejus nach Rom übersiedelte.
Im Besitz einer gründlichen Allgemeinbildung, ausgestattet mit unge-
wöhnlichen Gaben des Geistes, einem scharfen, durchdringenden Ver-
stände und einer reichen Lebenserfahrung, erhob er sich bald über den
Tross der gewöhnlichen Ärzte. Seine feinen gesellschaftlichen Manieren,
sein sicheres weltmännisches Auftreten in Verbindung mit seinem
Rednertalent, welches seinem masslosen Selbstbewusstsein die geeignete
Beleuchtung zu geben wusste, verschafften ihm den Zutritt in den vor-
nehmsten Kreisen Roms und die auszeichnende Freundschaft von Män-
nern wie Cicero, L. Crassus, Marcus Antonius u. A. König Mithridates
suchte ihn durch Versprechungen an seinen Hof zu ziehen, musste sich
aber, da Asklepiades diese Einladung ablehnte, mit der Übersendung
seiner Schriften begnügen. Asklepiades zog es vor, in Rom zu bleiben,
wo er grosse Reichthümer gewann und verehrt wurde „wie ein Ab-
gesandter des Himmels".
Er verstand es vortrefflich, die hohe Meinung, welche man von
ihm hatte, zu erhalten und wenn möglich noch zu erhöhen, und ver-
schmähte zu diesem Zweck kein Mittel. So rief er einen Menschen,
1 Plinius a. a. O. XXIX, 5. 7. 8. 2 Plinius a. a. 0. XXIX, 6.
76 Der medicinisehe Unterricht im Alterthum.
dessen Leichenbegängniss man gerade feiern wollte, ins Leben zurück.
Mit marktschreierischer Grossthuerei erklärte er, man möge ihn nicht
für einen Arzt halten, wenn er selbst jemals krank werde; und der
Tod war so gefällig, ihn nicht zu desavouiren, denn er starb durch den
Sturz von einer Leiter.1
Wie alle Leute dieser Art, läugnete auch Asklepiades jede Autorität
und glaubte nur an sich selbst. Er verwarf die dogmatischen Lehren
seiner Vorgänger und schuf selbst ein medicinisches System, das sich auf
die Atomenlehre der Epikuräer gründete, wie sie dieselbe von Demokrit
und in etwas modificirter Form von Heraklides, dem Pontiker, über-
nommen hatten. Er lehrte, dass der menschliche Körper zusammen-
gesetzt sei aus formlosen, beständigen Bewegungen und Veränderungen
unterworfenen Atomen und zwischen ihnen gelagerten Hohlräumen,
welche die Bewegung der Säfte, sowie die Empfindung vermitteln.
Aus der Beschaffenheit und Lagerung der Atome und ihrem Verhältniss
zu den Hohlräumen leitete er Gesundheit und Krankheit ab.2 Die
menschliche Seele erschien ihm als das Ergebniss der Sinnesthätigkeit.
Er sagte, dass sie wie ein Hauch sei, der alle Theile des Körpers
durchdringe, und keineswegs in einem bestimmten Organ ihren Sitz
habe : eine Äusserung, welche den Kirchenschriftsteller Tertullian 3 zu
abgeschmackten Witzeleien Anlass gegeben hat.
Die materialistischen Ideen, welche zur gleichen Zeit einen beredten
Vertheidiger in dem Dichter Lucrez fanden, hatten unter den Männern
des Fortschritts viele Freunde und Anhänger. Asklepiades suchte sie
mit der Moralphilosophie der Stoa zu verbinden, damit sie bei den
spiritualistisch angelegten Naturen keinen Anstoss erregten. Auf diese
Weise sicherte er seinen Lehren den Beifall und die Bewunderung der
gebildeten Laien, während die Ärzte durch die Vorzüge, welche sie vor
der Humoralpathologie hatten, gewonnen wurden.
Die einseitige Berücksichtigung der Säfte-Theorie in der Physio-
logie und Pathologie der Hippokratiker konnte die denkenden Ärzte
nicht befriedigen. Es leuchtete ihnen daher ein, als Asklepiades auf
die Rolle hinwies, welche dabei die festen Theile des Körpers spielen.
Er hat sich dadurch ebenso wie durch die Einführung des Materialis-
mus in die Medicin um die Entwickelung dieser Wissenschaft grosse
Verdienste erworben.
1 Plinius a. a. 0. VII, 37. XXVI, 7. 8. 9. — Cicero: de orator. I, 14. —
Apulejus: florid., c. 19. — Sext. Empir. ad logic. dogm. I, c. 91., ad mathem.
IV, c. 113 u. a. m.
2 Cael. Aurelianus: de acut. I, 14. 15.
3 Tertullian: de anima, c. 15.
Die Medicin in Rom. 77
Seine therapeutischen Grundsätze gipfelten in dem Satze, dass der
Arzt darnach trachten müsse, den Kranken rasch, sicher und auf eine
angenehme Art gesund zu machen. Er bekämpfte den Missbrauch,
welchen die Ärzte seiner Zeit mit drastischen Purgan tien, mit Brech-
mitteln und schweisstreibenden Verordnungen trieben, und empfahl statt
dessen neben einer strengen Regelung der Diät vorzugsweise active und
passive Bewegungen des Körpers, Abreibungen, Bäder, den Genuss des
kalten Wassers, Kly stire u. dgl. m. Um Schlaf zu erzeugen, liess er
die Kranken in Hängematten legen, welche in sanfte schaukelnde Be-
wegung versetzt wurden. Bei der Bräune rieth er, wie schon Andere
vor ihm, die Tracheotomie vorzunehmen.1
Die Lehren des Asklepiades wurden von seinen Schülern und
Anhängern weiter ausgearbeitet und bildeten die Grundlage für die
ärztliche Sekte, welche die methodische genannt wurde. Der eigent-
liche Begründer derselben, Themison aus Laodicea, ein Schüler des
Asklepiades, unterzog sich der Aufgabe, die Natur-Philosophie seines
Meisters dem Verständniss und den Bedürfnissen der praktischen Ärzte
anzupassen. Er sagte, dass die Krankheiten entweder den Charakter
der Spannung, d. h. der Reizung oder der Erschlaffung oder einen aus
beiden Eigenschaften gemischten Zustand zeigen, indem die Sekretions-
thätigkeit der Organe entweder herabgesetzt oder gesteigert oder zu
verschiedenen Zeiten verändert erscheine.2 Die den verschiedenen
Krankheiten gemeinsamen Charaktere wurden Communitäten genannt,
und ihre Bekämpfung durch Mittel, welche eine entgegengesetzte Wir-
kung besitzen, als der Zweck der ärztlichen Behandlung hingestellt.
Die Methodiker beschränkten sich auf die Betrachtung der allge-
meinen Erscheinungen der Krankheiten; den Sitz derselben und ihre
Ursachen zu erforschen, hielten sie für überflüssig und wohl auch für
aussichtslos. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit der Semiotik und
Therapie und schenkten vorzugsweise den Fragen der praktischen Heil-
kunst ihre Aufmerksamkeit.
Ihre Lehren waren so einfach und leicht zu begreifen und so be-
quem in der Ausführung, dass sie bei der grossen Menge der Ärzte
bereitwillig Aufnahme fanden. Aber Denjenigen, welche wissenschaft-
liche Interessen hegten, konnten ihre Mängel nicht entgehen. Die
Oberflächlichkeit der Alles nach einer vorgeschriebenen Schablone
generalisirenden Communitäten-Lehre, welche nicht blos die Fragen der
wissenschaftlichen Theorie unbeantwortet liess, sondern selbst für die
1 Celsus II, 14. III, 4. IV, 19. - - Cael. Aurel.: de acut. I, 15. III, 4. 8.
— Plinius: Hist. nat. XXVI, 7. 8. 9.
2 Celsus: Praef.
78 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Praxis unzureichend erschien, musste sich mit der Zeit ebenso unhalt-
bar erweisen, als ihr unreifer Materialismus, der in der Synkrise der
Atome die Lösung des Räthsels des organischen Lebens gefunden zu
haben glaubte.
Die Einsichtigen wandten sich daher einem Eklekticismus zu, der
die Elementenlehre und Qualitätentheorie der griechischen Naturphilo-
sophen mit dem Humorismus der Hippokratiker und der Solidarpatho-
logie der methodischen Schule zu vereinigen und durch die Annahme
des Pneuma, eines den Körper erfüllenden und ihn beherrschenden
geistigen Elementes, eine wesentliche Lücke der verschiedenen medi-
cinischen Systeme zu ergänzen versuchte. Die Lehre vom Pneuma
war keineswegs neu; sie wurde schon in den Hippokratischen Schriften
angedeutet, von den Peripatetikern ausführlicher erörtert, von Eeasi-
steatos zur Erklärung mancher Vorgänge im menschlichen Organismus
verwendet und später durch die Stoa wieder in den Vordergrund ge-
drängt. Einige Ärzte, wie z. B. Athenaeus aus Attalia, schrieben dem
Pneuma eine so hervorragende Rolle zu, dass man sie als Pneumatiker
bezeichnet hat.
In der ärztlichen Praxis stellten sich die Eklektiker auf den Boden
der Thatsachen und sahen in der Erfahrung die einzige und sicherste
Richtschnur ihres Handelns. Aber sie standen der wissenschaftlichen
Forschung nicht, wie die Methodiker oder die Empiriker, gleichgültig
oder gar feindselig gegenüber, sondern begünstigten dieselbe and för-
derten sie selbst auf Gebieten, wie z. B. die Anatomie und Physiologie,
deren Nutzen für die ärztliche Praxis nicht sofort erkennbar war.
Der Eklekticismus wurde in wirksamer Weise vorbereitet und ein-
geleitet durch die Schriften der Encyklopädisten, welche Alles, was in
den vorangegangenen Culturperioden auf den einzelnen Gebieten des
geistigen Strebens geleistet worden war, zusammen stellten. Neben
der Philosophie und Geschichte, der Politik, Kriegswissenschaft, Geo-
graphie, den Naturwissenschaften, der Landwirthschaft, Malerei und
Bildhauerkunst u. a. m. zogen sie auch die Medicin in den Kreis der
Betrachtung. Ihre Schriften über diesen Gegenstand bringen eine
Übersicht des gesammten medicinischen Wissens jener Zeit und sind
um so werth voller, als sie eine Menge von Auszügen aus ärztlichen
Werken enthalten, welche verloren gegangen sind. Die bekanntesten
Encyklopädisten waren M. Tekentitts Vaeeo, A. Coenelius Celstjs
und der ältere Plinius. Der Letztere benutzte zu seiner Naturgeschichte
nicht weniger als 2000 Bücher, wie er selbst erzählt,1 und Celsus
1 Plinius a. a. 0. I, praef.
Die Medicin in Rom. 79
liefert in seinem medicinischen Werk, welches sich durch die Eleganz
der Darstellung wie durch die Classicität der Sprache den besten Er-
scheinungen der römischen Literatur anschliesst, einen wenn auch
schwachen Ersatz für eine grosse Anzahl von medicinischen Werken
der Alexandrin ischen Periode, die uns ein neidisches Geschick ge-
raubt hat.
Der Eklekticismus entwickelte sich zum lebensfrischen Organismus^
welcher die Vorzüge der übrigen medicinischen Sjrsteme in sich ver-
einigte, ohne deren Mängel und Fehler zu besitzen. Festhaltend an
den Traditionen der Vergangenheit, aber frei von jener schulmeister-
haften Pedanterie, welche das Heraustreten aus den gewohnten Geleisen
als ein frevelhaftes Wagniss betrachtet, war er ganz geeignet, die
Forscherthätigkeit des Einzelnen zu fördern und den Fortschritt der
Wissenschaft zu ermöglichen. Der Eklekticismus war ein Bedürfniss
und eine Notwendigkeit für die Heilkunde, wenn sie nicht in roher
Empirie oder einseitigem Methodismus verflachen wollte. Es war daher
begreiflich, dass er die Herrschaft in der Medicin erlangte. Die Ärzte
schlössen sich ihm mit Begeisterung an, und die medicinische Literatur
erhielt eine eklektische Färbung.
Auch die Lehre Galen's, welche durch ein und ein halbes Jahr-
tausend der Welt als höchste und fast unfehlbare Autorität in medi-
cinischen Dingen galt, war ursprünglich nichts Anderes als ein ge-
läuterter Eklekticismus. Freilich errang sich dieselbe durch die
schöpferische Kraft ihres Begründers, welcher der medicinischen Wissen-
schaft eine Fülle von Thatsachen erschloss und ihr neue Bahnen er-
öffnete, bald die Selbstständigkeit und gestaltete sich zum abgeschlossenen
System.
Galen wurde i. J. 131 n. Chr. zu Pergamon, dem einstigen
Herrschersitz der Attaler, geboren. Sein Vater, der Architekt Nikon,
war ein vielseitig gebildeter Mann, der sehr gründliche Kenntnisse in
der Mathematik, Physik und den Naturwissenschaften besass; er über-
wachte mit liebender Sorgfalt die Erziehung seines Sohnes und sorgte
dafür, dass derselbe von ausgezeichneten Lehrern unterrichtet wurde.
Mit einer vortrefflichen Vorbildung ausgestattet, begann Galen im
17. Lebensjahre die medicinischen Studien. Er besuchte zunächst die
medicinische Schule seiner Vaterstadt, an welcher der Anatom Satyrtts,
ein Schüler des Quintus, der Hippokratiker Steatonicüs, der Empiriker
Aescheion u. A. wirkten. Nach dem Tode seines Vaters, welcher vier
Jahre später erfolgte, verliess er Pergamon und begab sich nach Smyrna,
um dort unter der Leitung des Pelops, eines berühmten Anatomen,
und des Platonikers Albinus seine Studien fortzusetzen, und dann nach
80 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Korinth, wo er einen anderen bedeutenden Anatomen , Numesianus,
hörte. 1 Hierauf durchreiste er Kleinasien und Ägypten, hauptsächlich
zu dem Zweck, um seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu ver-
mehren und zu befestigen. In Alexandria, dessen medicinische Schulen
unter allen Anstalten dieser Art den ersten Kang einnahmen, blieb er
bis zum 28. Lebensjahre. Mit grossem Eifer widmete er sich den ana-
tomischen Untersuchungen, zu denen ihm hier mehr Gelegenheit ge-
boten wurde, als an irgend welchem anderen Ort.2 Gleichzeitig suchte
er auch in den übrigen Zweigen der Heilkunde sein Wissen zu er-
gänzen und zu läutern. Alexandria war mit Heilkünstlern überfüllt,3
und es gab wohl kein medicinisches System, keine Heilmethode, die
nicht unter den dortigen Ärzten ihre Anhänger und Vertheidiger hatte.
Nirgends konnte der Studierende der Medicin so viel sehen und lernen,
als in Alexandria. Deshalb kamen die jungen Ärzte hierher, wenn sie
sich in ihrem Fach vervollkommnen wollten. War es ja doch noch in
späterer Zeit die beste Empfehlung eines Arztes, in Alexandria studiert
zu haben.4
Reich an Kenntnissen kehrte Galen in seine Heimath zurück und
übernahm die ärztliche Behandlung der Gladiatoren und Ringkämpfer.
Aber die kleinlichen Verhältnisse seiner Vaterstadt und ein Aufruhr,
der dort ausbrach, veranlassten ihn, nach einigen Jahren nach Rom
zu übersiedeln. Um hier bekannt zu werden, hielt er öffentliche Vor-
träge über den Bau und die Funktionen des menschlichen Körpers.
Das Interesse an dem Gegenstande und die Sachkenntniss des Redners
zogen bald ein zahlreiches Publikum an, das sich aus den vornehmsten
Kreisen der Hauptstadt zusammensetzte. Unter seinen Zuhörern be-
fanden sich Männer in einflussreichen Stellungen, wie die Philosophen
Eudemus und Alexander von Damaskus, der Präfekt Sergius, die Consuln
Boethus und Severus, der später den Thron bestieg, und Barbarus, der
Onkel des Kaisers Lucius. Auf diese WTeise gelang es Galen, in kurzer
Zeit eine einträgliche ärztliche Praxis zu erwerben.
Aber der Neid und die Eifersucht seiner Collegen und andere
widrige Verhältnisse verleideten ihm den Aufenthalt in Rom. Er begab
sich daher wieder auf Reisen und besuchte verschiedene Theile Italiens
und Griechenlands, die Insel Cypern, Palästina und seine Heimath
Pergamon. Schon ein Jahr später wurde er von den Kaisern Lucius
Veras und A. Marcus Aurelius nach Aquileja berufen, um sie in dem
1 J. Ch. Ackermann: Vita Galeni in Galeni opera. Ed. Kühn, T. I (Ein-
leitung), führt die Belegstellen dazu an.
2 Galen II, 220. 3 Fulgentius: Mythol. I, p. 16.
4 Ammian. Marceil. XXTI, 16.
Die Medicin in Rom. 81
Feldzuge gegen die Germanen zu begleiten. Der Tod des Ersteren gab
Galen eine andere Bestimmung; er blieb in Rom und wurde zum
Leibarzt des jungen Thronfolgers Commodus ernannt.1 Wie lange er
dieses Amt bekleidete, ob und wann er später in seine Heimath zurück-
kehrte, ist nicht bekannt. Ebensowenig weiss man, wann und wo er
gestorben ist. Wie Suidas berichtet, soll er das 70. Lebensjahr erreicht
haben; sein Tod erfolgte also nicht vor dem Jahre 201 n. Chr.
Wenn das Leben Galen's an dieser Stelle ausführlich erzählt
wurde, so rechtfertigt sich dies nicht blos durch die ausserordentliche
Bedeutung, welche er für die Heilkunde erlangte, sondern hat zugleich
den Zweck, an einem hervorragenden Beispiele zu zeigen, wie sich zu
jener Zeit der Bildungsgang tüchtiger Ärzte gestaltete.
Galen war ein erfahrener geschickter Arzt, gelehrter Forscher,
gesuchter Lehrer der Medicin und ungemein fleissiger Schriftsteller.
Seine literarische Fruchtbarkeit geht aus der Menge seiner Schriften
hervor, welche in der KüHN'schen Ausgabe 21 Bände füllen, von denen
jeder ungefähr 1000 Druckseiten enthält. Allerdings befinden sich
darunter manche Werke, welche ihm fälschlich zugeschrieben worden
sind; dafür fehlen aber in der Ausgabe eine grosse Menge von ihm
verfasster Arbeiten, welche theils verloren gegangen, theils nur in
Übersetzungen vorhanden und noch niemals dem Druck übergeben
worden sind.
Galen's Schriften behandeln die Philosophie, Anatomie, Physio-
logie, Arzneimittellehre, praktische Heilkunde, Chirurgie, Gynäkologie,
Geschichte der Medicin u. a. m. Sie führen dem Leser Alles vor, was
auf diesen Gebieten geleistet worden war, und zeichnen, wie die Hippo-
kratische Sammlung, ein Bild des Zustandes der Heilkunde ihrer Zeit,
dessen Einzelheiten auf die fachmännischen Kenntnisse der Ärzte ebenso
wie auf ihre socialen Verhältnisse manches Licht werfen.
Auch der medicinische Unterricht wird darin an mehreren Stellen
berührt. Derselbe entwickelte sich in strenger Abhängigkeit von den
Geschicken der Heilkunde überhaupt. Sein Inhalt und seine Richtung
wurde durch den Fortschritt der Wissenschaft und die herrschenden
Systeme, seine Form durch die äusseren Verhältnisse des ärztlichen
Standes bestimmt.
Galen XIV, 648 u. ff.
Puschmann, Unterricht.
82 Der medicinische Unterricht im Altertlmui.
Der medicinische Unterricht in Rom.
In den ältesten Zeiten der römischen Geschichte gingen die me-
dicinischen Kenntnisse vom Vater auf den Sohn oder einen Verwandten
und Freund über. Die persönliche Unterweisung des Schülers durch
den Heilkundigen blieb auch später die häufigste, wenn nicht einzige
Form des medicinischen Unterrichts.
Als die griechische Heilkunst nach Rom verpflanzt wurde, erhielt
der medicinische Unterricht mit dem aus der reichen medicinischen
Literatur der Griechen entnommenen Inhalt auch die äussere Gestalt,
welche er in Griechenland hatte. Die nach Rom eingewanderten
griechischen Ärzte traten dort als Lehrer ihrer Kunst auf und führten
die Einrichtungen ihrer Heimath ein.
Wie in Griechenland, so war auch in Rom die ärztliche Praxis
ein freies Gewerbe, dessen Ausübung Jedem gestattet wurde, welcher
die dazu erforderliche Befähigung zu besitzen glaubte. Es gab keine
gesetzlichen Vorschriften, welche das Bildungswesen der Ärzte regelten.
Sie erwarben die fachmännischen Kenntnisse, wie und wo sie wollten.
Ihre Ausbildung war daher sehr ungleich.
Der ärztliche Stand vereinigte Elemente in sich, welche in Bezug
auf ihr Wissen sehr verschieden waren; neben Männern, welche ihm
zu jeder Zeit zur Zierde gereicht hätten, enthielt er auch Leute, welche
weder von der Heilkunde noch von anderen Wissenschaften etwas ver-
standen. Mit Recht klagte Punkts1 darüber, „dass man in Rom
Jedem, der sich für einen Arzt ausgiebt, Glauben schenkt, obwohl
gerade hier die Lüge die grössten Gefahren im Gefolge hat." „Leider
giebt es kein Gesetz", schreibt er ferner, „welches die Unwissenheit der
Ärzte bestraft, und Niemand nimmt Rache an ihm, wenn durch seine
Schuld Jemand zu Grunde geht. Es ist ihm erlaubt, auf unsere Gefahr
hin zu lernen, mit unserem Tode Experimente zu machen und, ohne
Strafe befürchten zu müssen, das Leben eines Menschen zu vernichten."
Jünger der Heilkunst, welche ihrem Beruf Ehre machen wollten,
waren natürlich bestrebt, sich gründliche Kenntnisse in ihrem Fach zu
erwerben. Sie bereiteten sich dafür durch philosophische Studien vor,
welche zugleich ihre Allgemeinbildung vervollständigten. Galen2
schrieb eine Abhandlung über die Noth wendigkeit, dass der Arzt Bil-
dung des Geistes und Herzens besitzen und mit einem Wort ein Phi-
losoph sein müsse.
1 Plinius: Hist. nat. XXIX, 8. 2 Galen a. a. 0. I, 53—63.
Der medieinische Unterricht in Rom. 83
Zu Cato's Zeit umfasste die Allgemeinbildung ausser der Rechts-
kunde, der Kriegs Wissenschaft und Landwirthschaft auch die Medicin,
bestand also in einer encyklopädischen Übersicht der wichtigsten, für
das praktische Leben brauchbaren Dinge.
Als mit der Verpflanzung der griechischen Cultur der Kreis dieser
Wissenschaften derartig erweitert wurde, dass ihre Kenntniss den Fach-
männern vorbehalten werden musste, erfuhr der Begriff der Allgemein-
bildung eine noth wendige Einschränkung. Die Unterrichtsgegenstände,
welche in den Schulen gelehrt wurden, bestimmte das Bedürfniss
und die Gewohnheit. Der Elementarstufe entsprachen das Lesen,
Schreiben und Rechnen. Hierzu kam seit den punischen Kriegen für
die vorgeschrittenen Schüler, welche eine höhere Bildung zu erlangen
wünschten, das Studium der griechischen Sprache und Literatur nebst
der Lektüre lateinischer Werke, womit der Unterricht in der Geschichte,
Geographie, Astronomie, den Naturwissenschaften, der Philosophie, Musik
und anderen Fächern verbunden wurde. Einen akademischen Charakter
trugen die Rhetorenschulen, in welchen strebsame Jünglinge die Dia-
lektik und die Redekunst erlernten.1
Medieinische Lehranstalten in unserem Sinne kannte das Alterthum
nicht. Der ärztliche Unterricht wurde überall nur von einem einzigen
Lehrer ertheilt, welcher seine Schüler mit allen Theilen seiner Wissen-
schaft bekannt machte. Selbst wenn mehrere Lehrer der Heilkunde
an einem Ort wirkten, fehlte doch, wie es scheint, ein organisatorisches
Band, das sie zu gemeinsamer Thätigkeit vereinigte.
Wissbegierige Schüler begnügten sich nicht damit, einen einzigen
Lehrer zu hören, sondern suchten noch andere Ärzte auf, um auch
deren Ansichten und Erfahrungen kennen zu lernen.
Anfangs war der medieinische Unterricht lediglich Privatsache.
Erst Alexander Severus (225 — 235 n. Chr.) setzte den Lehrern der
Heilkunde Besoldungen aus und überwies ihnen öffentliche Hörsäle,
wofür sie freilich die Verpflichtung übernehmen mussten, arme Studie-
rende, die vom Staat unterstützt wurden, unentgeltlich zu unterrichten.2
Constantin forderte die Ärzte auf, recht viele Schüler in ihre Wissen-
schaft einzuweihen, und verlieh ihnen dafür manche Vorrechte. 3 Doch
scheinen sich später vorzugsweise die Archiatri oder solche Ärzte,
i
J. Marquardt: Das Privatleben der Römer im Handbuch der römischen
Alterthümer, Leipzig 1879, Bd. VII, S. 90 u. fi\_
2 Lampridius: Alexander Severus, c. 44.
3 Cod. Theodos., lib. XIII, tit. 3, quo faeilius liberalibus studiis et memo-
ratis artibus multos instituant.
6*
84 Der medicinische Unterricht im Älterthum.
welche das Amt eines Archiaters bekleidet hatten, der Lehrtätigkeit
gewidmet zu haben.
Der medicinische Unterricht wurde entweder gegen Honorar oder
unentgeltlich ertheilt. 1
Die Dauer der Studienzeit war verschieden und richtete sich nach
den Fähigkeiten, wissenschaftlichen Bedürfnissen und Geldmitteln des
Studierenden. Während Galen, wie erwähnt, den medicinischen Stu-
dien 11 Jahre widmete, versprach Thessalus, ein Anhänger der me-
thodischen Sekte, der sich durch sein charlatanähnliches xluftreten be-
kannt machte, seine Schüler, welche noch kurz vorher als Köche, Färber,
Wollspinner, Flickschuster, Weber oder Tuchwalker gearbeitet hatten,
binnen 6 Monaten zu Ärzten auszubilden. 2 Er bekam in Folge dessen,
wie Galen berichtet, eine grosse Anzahl von Schülern, welche in kurzer
Zeit und ohne besondere Mühen die Heilkunst erlernen wollten, damit
sie viel Geld erwerben konnten. Denn „nicht der Arzt, welcher in
seinem Fach am tüchtigsten ist, sondern derjenige, welcher am besten
zu schmeicheln versteht, geniesst die Achtung der grossen Menge; ihm
wird Alles leicht gemacht, ihm stehen alle Thüren offen; er gewinnt
Keichthum und Macht und die Schüler drängen sich von allen Seiten
an ihn heran."3
Derartige Jünger der Heilkunst konnten oft nicht lesen und kaum
richtig sprechen.4 Sie sahen mit Verachtung auf Diejenigen herab,
welche sich mit den theoretischen Fächern der Heilkunde beschäftigten,
und erklärten sie für Narren, welche die Zeit mit nutzlosen Dingen
vergeuden.5 Natürlich hielten sie das Studium der Anatomie und
Physiologie für überflüssig; denn ihnen lag nur daran, jene handwerks-
mässige Routine in der Behandlung der Krankheiten zu erlangen, die
ihnen für ihren Beruf nöthig erschien.
Die Anatomie hatte durch die Alexandriner, sowie durch Rueus
von Ephesus, Marinus, Quintus und deren Schüler Lykus, Satyeüs,
Pelops, Aeschrion, welche die Lehrer Galen's waren, einen hohen
Grad der Entwicklung erfahren. Man kannte die Lage und Gestalt
der einzelnen Knochen, ihre gegenseitigen Verbindungen, die Nähte,
das Periost, die Markhaut, die Gelenkknorpel, verschiedene Gelenke
nebst den dazu gehörigen Bändern und Sehnen, die wichtigeren Muskel-
gruppen, und machte sich ziemlich richtige Vorstellungen über die
1 Lucian: Der verstossene Sohn, c. 24.
2 Galen I, 88. X, 5. 19. 3 Galen X, 4. 4 Galen XIX, 9.
5 Galen I, 54. XIV, ßOO. — Scribon. Largi ad Callist., Edit. G. Helm-
kkich, Lips. 1887, p. 4.
Der medicinische Unterricht in Rom. 85
Form und Lagerung der Organe in der Brust- und Bauchhöhle.
Galen l wies bereits auf die analoge Bildung der Geschlechtstheile bei
beiden Geschlechtern hin und erklärte, dass sie sich hauptsächlich nur
dadurch von einander unterscheiden, dass sie beim Weibe nach innen,
beim Manne nach aussen gelagert sind.
Das Gefässsystem war noch wenig erforscht; doch wusste man die
Arterien von den Yenen zu unterscheiden, und bemerkte die verschie-
dene Qualität des Blutes dieser beiden Gefässarten. 2 Staunen erregen
die Kenntnisse, welche man vom Nervensystem besass. Galen lieferte
eine genaue Beschreibung des Gehirns und Rückenmarks3 und schilderte
den Verlauf vieler Nerven. So bezieht er sich auf den Opticus, den
Oculomotorius und Trochlearis, die einzelnen Äste des Trigeminus, den
Acusticus und Facialis, Vagus und Glossopharyngeus, die Nerven des
Kehlkopfs und Schlundes, den Sympathicus, und deutet bereits die
Ganglien desselben an; desgleichen weist er auf die Nn. radiales, ulnares,
mediani, crurales und ischiadici hin. Das Chiasma der Sehnerven wurde
schon von Rufus, dem Ephesier, erwähnt, der auch die Unterscheidung
der Nerven in motorische und sensibele zuerst hervorgehoben hat.4
Die Ergebnisse der anatomischen Forschungen stützten sich haupt-
sächlich auf Sektionen von Thieren. Zur anatomischen Untersuchung
menschlicher Körper bot sich nur ausnahmsweise Gelegenheit, und
selbst in Alexandria, wo seit den Ptolemäern freiere Anschauungen
darüber herrschten, war sie zu Galen's Zeit schon sehr selten. Nur
die Leichen von feindlichen Kriegern, welche auf dem Schlachtfelde
gefallen waren, von Verbrechern, die hingerichtet worden waren oder
unbeerdigt aufgefunden wurden, und von todtgeborenen und ausgesetzten
Kindern durften zu solchen Zwecken benutzt werden.5
Auch Verletzungen, welche mit der Blosslegung der Weich theile
verbunden waren, konnten über die Lage mancher Organe einige Auf-
schlüsse geben. An Vivisektionen war in Born natürlich nicht zu
denken, und Celsus drückte sicherlich die öffentliche Meinung aus, als
er schrieb: „Das Öffnen lebender Körper halte ich für grausam und
überflüssig, das der Leichen hingegen für nothwendig für die Lernen-
den; denn sie müssen Lage und Anordnung der einzelnen Theile des
1 Galen IV, 635. 2 Galen III, 491.
3 Ch. Daremberg: Exposition des connaissances de Galien sur fanatomie et
la physiologie du Systeme nerveux, Paris 1841. — F. Falk: Galen's Lehre vom
gesunden und kranken Nervensystem, Leipzig 1871.
4 Oeuvres de Rufus, publiees par Ch. Daremberg et Ch. Em. Ruelle, Paris
1879, p. 153. 170.
5 Galen II, 385.
86 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Körpers kennen. Dazu sind Leichen geeigneter, als lebende und ver-
wundete Menschen."1
Galen erzählt, dass die Ärzte, welche mit dem römischen Heere
in den Krieg gegen Deutschland zogen, die Erlaubniss erhielten, die
Leichen gefallener Feinde zu zergliedern. Leider konnten sie daraus,
setzt er hinzu, keinen Gewinn für ihr Wissen ziehen, weil ihnen die
nothwendigen anatomischen Vorkenntnisse fehlten.2 Bei einer anderen
Gelegenheit berichtet er, wie er durch Zufall in den Besitz zweier
Skelette gelangt war, von denen das eine von einem aus seinem Grabe
durch einen ausgetretenen Fluss hervorgeschwemmten Leichnam, das
andere von einem Räuber herrührte, der im Gebirge erschlagen wor-
den war.3
Galen's anatomische Angaben beruhen grösstentheils auf Zerglie-
derungen thierischer Körper. Er erklärt dies selbst; doch geht es auch
aus den Beschreibungen einzelner Organe hervor. So schildert er z. B.
nicht die Hand und den Fuss des Menschen, sondern des Affen. Er
benutzte zu seinen anatomischen Untersuchungen vorzugsweise solche
Affenarten, welche dem Menschen ähnlich sind.4 Er glaubte, dass ihr
Körper ebenso gebaut sei, wie der des Menschen, und hat sich dadurch
zu einigen Irrthümern verleiten lassen, deren Berichtigung erst einer
viel späteren Zeit gelungen ist. Ausserdem hat er Bären, Schweine,
Einhufer, Wiederkäuer, einmal sogar einen Elephanten, ferner verschie-
dene kleinere vierfüssige Thiere, sowie Vögel, Fische und Schlangen
secirt, um seine anatomischen Kenntnisse zu vermehren.
Der anatomische Unterricht begann damit, dass dem Studierenden
an dem nackten Körper eines lebenden Menschen die einzelnen Theile
desselben gezeigt und erklärt und die unter der Haut liegenden Organe
genannt wurden. Daran schlössen sich später Zergliederungen von
Thieren, deren "Typus sich dem menschlichen näherte. Dabei wurden
die einzelnen Knochen und Muskelpartien, sowie die inneren Theile des
Körpers betrachtet und die Lage und Anordnung der Organe in den
Körperhöhlen studiert. „Wenn sie auch nicht in jedem einzelnen Punkt
den entsprechenden Gebilden des Menschen gleichen", schreibt Rufis,
welcher diese Lehrmethode mittheilt, „so ist dies doch in der Haupt-
sache der Fall. Ein richtigeres Bild erhielt man allerdings in früheren
Zeiten, als man noch menschliche Körper zu derartigen Untersuchungen
verwenden durfte."5
In ähnlicher Weise spricht sich Galen über den anatomischen
1 Celsus: Praefat. 2 Galen XIII, 604. 3 Galen II, 221.
4 Galen II, 223. 5 Eufüs d'Ephese a. a. 0. p. 134.
Der medieinisehe Unterricht in Rom. 87
Unterricht aus. „Aus Büchern allein kann man die Anatomie nicht
lernen", sagt er, „und auch nicht durch eine oberflächliche Betrachtung
der Theile des Körpers." l Er empfahl deshalb ein fleissiges eingehendes
Studium, welches mit der Knochenlehre begann, und dann zu den
Muskeln, Arterien, Yenen, Nerven und den inneren Organen überging.
Dem Unterricht dienten nicht blos Sektionen thierischer Cadaver,
sondern man benutzte dazu auch menschliche Skelette oder Knochen-
präparate. Vielleicht wurden zu diesem Zweck in manchen Fällen
plastische Nachbildungen aus Marmor verwendet? — Die Vatikanischen
Museen besitzen noch drei derartige Bildwerke. Zwei derselben stellen
den skelettirten Thorax dar; der eine erscheint geöffnet, und lässt das
Herz, die Lungen, das Zwerchfell nebst Andeutungen der Leber und
des Darmes erkennen. Die dritte Nachbildung zeigt ebenfalls das Herz
und die beiden Lungen.2 Welckee bezweifelt, dass sie zum ana-
tomischen Unterricht verwendet wurden, und glaubt, dass nur „die
Seltenheit des Anblicks einer in ihrem Innern blossgelegten Brust,
eines von allem Fleisch reingeschälten Kippenkastens, wozu die Schläch-
tereien der Gladiatoren, die Hinausschleifung von Missethätern in die
Verbrechergrube und andere Vorfallenheiten den Ärzten Gelegenheit
bieten konnten, bei der eigenthümlichen Richtung vieler römischen Bild-
hauer, Alles, was im Leben vorkam, oft ohne allen künstlerischen Sinn
und Geschmack genremässig abzubilden, zu obigen Bildwerken Anlass
gegeben habe."3
Die Nachbildungen der mumienartig vertrockneten menschlichen
Körper, welche bei Gastmählern aufgestellt wurden, um zum Genuss
des Lebens aufzufordern,4 können hier ebensowenig in Betracht kommen,
als die zahlreichen Darstellungen von Bewohnern des Todtenreiches,
die auf Grabmälern, auf Gemmen und in Bronce uns überliefert worden
sind, weil sie zum anatomischen Unterricht in gar keinen Beziehungen
standen.5 Auch die von Blumenbach als Titel- Vignette zu seiner
„Geschichte und Beschreibung der Knochen (Göttingen 1786)" ver-
wendete, einem alten Carneol entlehnte Figur eines bärtigen alten
1 Galen II, 220.
2 Em. Braun im Bullet, dell' instituto archeol. Koma 1844, p. 16 — 19. —
J. M. Charcot u. A. Dechambre: De quelques marbres antiques concern. des
etudes anatomiques in der Gaz. hebd. de med. et de chir. , Paris 1857, T. IV,
No. 25. 27. 30 (wo auch der sogen. Aesop der Villa Albani in Rom besprochen wird).
3 F. G. Welcker: Kleine Schriften, Bd. III, S. 223.
4 Petronius: Satyr., c. 34.
5 G. E. Lessing: Wie die Alten den Tod abgebildet haben. — J. M. F.
v. Olfers: Über ein Grab bei Kumae in den Abhandlungen der Akad. d. Wiss.,
Berlin 1830.
88 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Mannes, der ein vor ihm stehendes menschliches Skelett an der linken
Hand anfasst, deutet eher auf die Schöpfung des Menschen durch
Prometheus hin, als auf anatomische Belehrung.
Ungewiss ist es, ob man beim anatomischen Unterricht Zeichnungen
gebrauchte; doch ist es nicht gerade unwahrscheinlich, da man auch
in anderen Disciplinen von solchen Lehrmitteln Gebrauch machte.1
Ob die in einigen Handschriften des Muscio enthaltenen Darstellungen
des Uterus und der Ovarien aus dem Alterthum stammen, lässt sich
natürlich nicht bestimmen. Das Gleiche ist der Fall mit den angeblich
einer Le}rdener Handschrift entnommenen anatomischen Zeichnungen in
der Introductio anatomica anonymi, welche durch J. St. Beenaed
(Lugd.-Bat. 1744) veröffentlicht worden sind.
Mit dem anatomischen Unterricht wurden die Erklärungen der
Funktionen des menschlichen Körpers und seiner einzelnen Theile ver-
bunden. Man ging dabei von der aprioristischen Voraussetzung einer
planmässigen Bildung der Organe aus, nahm also an, dass die letzteren
nur geschaffen worden seien, damit die von der Natur gewollten Funk-
tionen ausgeführt werden können.
Die dieser Anschauung entgegengesetzte, von Epikue und später
von Asklepiades vertretene Meinung, dass die Natur gar manche ver-
gebliche Versuche macht, bevor sie ein dauerndes Resultat erzielt, und
dass der Gebrauch der Organe, d. h. ihre Funktion erst erlernt wird,
nachdem dieselben schon gebildet sind,2 fand in Galen einen erbitterten
Gegner. Mit allem Scharfsinn und aller Gelehrsamkeit, die ihm zu
Gebote standen, unternahm er es, den Teleologismus zu begründen,
in welchem er das beste Mittel sah, den Realismus des Aristoteles
mit dem Platonischen Idealismus zu versöhnen. Doch scheint in ihm
bisweilen die Ahnung aufgetaucht zu sein, dass die Spekulation allein
keine befriedigende Antwort zu geben vermag. Er wurde dadurch auf
den Weg geführt, der hier allein zum Ziele führt, auf den Weg der
Beobachtung und des Experiments.
Auf diese Weise trachtete er, den Vorgang der Athmung und die
Herzthätigkeit kennen zu lernen. An Thieren durchschnitt er das
Rückenmark, die Intercostal-Muskeln oder ihre Nerven und entfernte
einzelne Rippen,3 um zu sehen, welche Veränderungen der Respiration
dadurch hervorgerufen werden. Dabei fand er, dass bei der ruhigen
Athmung hauptsächlich das Zwerchfell thätig ist und sich die Inter-
1 Marquaudt a. a. 0. Bd. VII, S. 107. 802.
2 Galen III, 74. 364.
3 Galen II, 475. 681. 696. IV, 685. V, 239. — Oribasius a. a. 0. III, 23H.
Der medicinische Unterricht in Rom. 89
costal-Muskeln nur bei angestrengter Respiration betheiligen.1 Die
Bewegungen des Herzens beobachtete er an Thieren, deren Brust-
kasten eröffnet worden war; auch hatte er einmal dazu Gelegenheit
bei einem Knaben, dessen Herz in Folge einer penetrirenden Brust-
wunde bloss lag.2
Durch zahlreiche totale oder partielle Durchschneidungen des
Rückenmarks und einzelner Nerven und durch schichtenweise Ab-
tragungen des Gehirns , die er an Schweinen vornahm, hoffte er die
physiologische Bedeutung dieser Organe zu erforschen.3 Mögen die
von ihm gewonnenen Resultate, welche er genau beschreibt, auch nicht
seinen Erwartungen entsprochen haben, so verdienen diese Versuche
doch volle Anerkennung, weil sie die ersten in ihrer Art waren und
die richtige Methode zeigten, nach welcher diese Fragen gelöst werden
müssen.
Galen wurde dabei von einer überaus glücklichen Phantasie unter-
stützt, die ihm die treffenden Worte in den Mund gab, selbst dort,
wo er zu keinem Verständniss durchdringen, wo er den Sachverhalt
kaum ahnen konnte. Wenn er z. B. erklärt, dass sich der Schall
„einer Welle gleich" fortleitet,4 oder die Vermuthung ausspricht, dass
derselbe Bestandtheil der Luft, welcher für die Athmung massgebend
ist, auch bei der Verbrennung wirkt,5 so sind dies Gedanken, die über-
raschen, da deren volle Bedeutung zu verstehen erst zwei Jahrtausende
später möglich war.
Zur Zeit Galens hatten die Ärzte übrigens nur geringes Interesse
für die Probleme der Physiologie. Ihre Aufmerksamkeit wurde haupt-
sächlich durch die praktische Heilkunde in Anspruch genommen. Die
Kunst zu heilen, stand ihnen höher, als die Wissenschaft vom Menschen
— und war auch einträglicher.
Diese Richtung führte zu einer Üeissigen Bearbeitung der Arznei-
mittellehre. Zahlreiche Sammlungen von gereimten und ungereimten
Recepten und Zusammenstellungen von Medicamenten gaben diesen
Bestrebungen in der Literatur Ausdruck. Zu den hervorragenderen
Erscheinungen derselben gehörten die pharmakologischen Schriften des
Philon aus Tarsus, Scribonius Lakgus, Sextiüs Niger, Menekrates,
Andromachus, Damokrates, vor Allem aber das Werk des Pedanius
1 Galen IV, 465 u. ff. 2 Galen II, 631.
3 Galen II, 677. 682. 692. 697. V, 645. — Ch. Daremberg: Histoire des
seiences medicales, T. I, p. 224.
4 Galen III, 644.
5 Galen III, 412. — Vergl. a. Haeser: Geschichte der Medicin, Bd. I,
S. 360, 3. Aufl.
90 Der medicinisehe Unterricht im Alter thum.
Dioskobldes aus Anazarba in Cilicien, der als Militärarzt einen grossen
Theil des römischen Keiches kennen gelernt und von Jugend auf das
Studium der Heilmittel als Lebensaufgabe betrachtet hatte.1
Er lieferte eine durch Vollständigkeit ausgezeichnete systematische
Übersicht aller damals bekannten Arzneistoffe aus den drei Naturreichen.
Es werden darin die verschiedenen Namen, mit welchen sie in den
einzelnen Ländern bezeichnet wurden, aufgezählt, ihre Heimath genannt
und ihre Gewinnung oder künstliche Bereitung, sowie ihre medicinischen
Wirkungen geschildert. Dadurch ist dieses Buch nicht nur für die
Heilkunde, sondern auch für die vergleichende Sprachwissenschaft,
namentlich aber für die Botanik sehr wichtig.
Dioskokides hat darin ungefähr 500 Pflanzen beschrieben und
zwar so genau, dass es möglich war, die meisten derselben zu bestimmen.
E. Meyee hat seine Verdienste auf diesem Gebiet mit den Worten
charakterisirt: „Was uns Theophrastos für die generelle, das ist uns
Dioskokides für die specielle Botanik der Alten, die Hauptquelle, die
allein mehr gilt, als die übrigen mit einander."2
Das Werk des Dioskokides wurde schon von Galen, der sich bei
verschiedenen Gelegenheiten darauf beruft, sehr hoch geschätzt und
bildete das ganze Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit das werth-
vollste Lehrbuch der Arzneimittellehre.
Sicherlich trug es nicht wenig dazu bei, den Sinn für botanische
und pharmakologische Studien zu erwecken und zu erhalten. „Der
Arzt soll womöglich alle Pflanzen, oder doch wenigstens die meisten
und gebräuchlichsten kennen," schreibt Galen. „Die Gattungen oder,
wenn man will, die Unterschiede derselben sind: Bäume, Sträucher,
Kräuter, Dornen, Stauden. Wer sie von ihrer Entstehung an, bis sie
ausgewachsen sind, unterscheiden kann, wird sie an vielen Orten der
Erde finden. So habe ich selbst in vielen Gegenden Italiens Pflanzen
gefunden, welche Diejenigen, die sie nur in getrocknetem Zustande ge-
sehen hatten, weder während des Wachsthums, noch nachher zu
erkennen vermochten. Jeder Salbenhändler kennt die Pflanzen und
Früchte, die von Kreta hierher gebracht werden ; aber Niemand weiss,
dass viele davon in der Umgegend Roms wachsen. Deshalb denkt man
auch nicht daran, sie zu suchen, wenn die Zeit ihrer Reife gekommen
ist."3 Er erklärt dann, dass er darüber unterrichtet sei und es nicht
versäume, die Pflanzen zur richtigen Zeit zu sammeln, bevor sie von
1 Pedanii Dioscoridis materia medica ed. Curt. Sprengel, Lips. 1829, T.I, p.4.
2 E. Meyer: Geschichte der Botanik, Königsberg 1855, Bd. II, S. 117.
3 Galen XIV, 30. — Meyer a. a. 0. S. 191.
Der medicinische Unterricht in Born. 91
der Hitze des Sommers ausgetrocknet und die Früchte überreif ge-
worden sind. An einer anderen Stelle bemerkt er,1 dass man die
Botanik nicht aus Büchern, von denen manche mit xlbbildungen aus-
gestattet sein mochten,2 lernen kann, sondern nur, indem man die
Pflanzen selbst unter Anleitung eines Lehrers betrachtet und aufsucht.
„Diese Unterrichtsmethode," setzt er hinzu, „gilt nicht blos für die
Pflanzen, sondern überhaupt für die gesammte Arzneimittellehre."
Die Ärzte mussten sich mit diesem Gegenstande sehr eingehend
beschäftigen, weil sie genöthigt waren, die Arzneien selbst zu bereiten.
Allerdings zogen es Einzelne aus Bequemlichkeit vor, bei den Droguen-
händlern, welche ausserdem noch Mittel zum Färben der Haare, zur
Beförderung der Schönheit und allerlei Toiletten-Artikel auf dem Lager
hielten, anstatt der Rohmaterialien die zusammengesetzten Medicamente
zu kaufen.3 Aber im Allgemeinen pflegten die Ärzte nur die ein-
fachen Arzneistoffe zu kaufen, welche sie zur Bereitung ihrer Recepte
bedurften.
Die Furcht, dabei durch verdorbene oder verfälschte Waaren be-
trogen zu werden, veranlasste Manche, die medicamentösen Stoffe aus
erster Hand zu erwerben oder selbst zu sammeln. Galen unternahm
zu diesem Zweck sogar weite Reisen; auch liess er sich die Arzneistoffe
aus den Ländern, wo sie gewonnen wurden, durch Yermittelung ver-
lässlicher Freunde senden, um sicher zu sein, dass sie echt waren.4
Diese Besorgniss war gerechtfertigt, da die Verfälschung der Arznei-
mittel geschäftsmässig betrieben wurde und es nicht einmal möglich
war, den Balsamsaft, der auf der kaiserlichen D omaine Engaddi in
Palästina gewonnen wurde und Staatsmonopol bildete, in Rom unver-
fälscht zu erhalten.
Für den kaiserlichen Hof wurden aus diesem Grunde die Arznei-
stoffe unter der Aufsicht von Beamten gesammelt, in Papier verpackt und
mit einer Aufschrift versehen, welche den Namen und bisweilen auch
den Fundort der Pflanze angab, und dann nach Rom gesandt, wo sie
in besonderen Magazinen aufbewahrt wurden.5 Die letzteren enthielten
einen solchen Yorrath an medicamentösen Stoffen, dass er nicht nur
für den Gebrauch des Hofes ausreichte, sondern davon noch an Privat-
personen verkauft werden konnte. Doch war dies keineswegs genügend,
um den Handel mit Verfälschungen wesentlich zu beeinträchtigen.
Dieselben gingen übrigens nicht so sehr von den Droguenhändlern, als
1 Galen XI, 797. 2 Plinius: Hist. nat. XXV, 8.
3 Plinius a. a. 0. XXXIV, 25. 4 Galen XII, 216. XIV, 7 u. ff.
5 Galen XIV, 9. 25. 79.
92 Der medicinisehe Unterricht im Alierthum.
von deren Lieferanten und den Wurzelsuchern aus, welche die Arznei-
kräuter aus dem Gebirge in die Stadt brachten.1
Die Fälschungen wurden so geschickt gemacht, dass die geriebensten
Kenner, wie Galen2 bemerkt, dadurch getäuscht wurden und die
Waaren für echt hielten. Er hatte in seiner Jugend selbst, wie er
erzählt,3 bei einem Manne, der sich mit der Herstellung solcher Fäl-
schungen beschäftigte, Unterricht darin genommen und ihm ein hohes
Honorar dafür bezahlt, dass er ihn in diese Geheimnisse einweihte.
Da er dies Alles kannte, so gab er den Studierenden der Heilkunde
den wohlmeinenden Rath, grossen Fleiss auf das Studium der Arznei-
mittel zu verwenden. „Die Jünglinge müssen dieselben nicht blos
einmal oder zweimal, sondern oft sehen. Denn nur, wenn man diese
Dinge mit den Sinnen in sich aufnimmt," schreibt er,4 „und recht
häufig betrachtet, erlangt man eine gründliche Kenntniss derselben.-
Die Medicamente wurden mit einer Etikette versehen, auf welcher
der Name derselben und ihres Erfinders, die Krankheit, gegen die sie
verordnet wurde, die Art ihres Gebrauchs, und manchmal auch der
Name des Kranken angegeben war.
Die Augensalben, welche einen gangbaren Handelsartikel bildeten,
wurden in Gefässe verpackt, denen der Stempel des Arztes, der sie
bereitet hatte, aufgedrückt wurde. Stempel dieser Art wurden in Frank-
reich, England, Deutschland und Siebenbürgen aufgefunden, namentlich
dort, wo Lagerplätze der römischen Legionen gewesen sind. Man hat
bis jetzt mehr als 1 60 verschiedene Stempel von Augenärzten beschrieben.5
Die Recepte waren lang und complicirt; der Theriak bestand z. B.
aus mehr als 70 verschiedenen pflanzlichen und thierischen Stoffen.6
Manche derselben waren widerlich und ekelhaft, und Galen wunderte
sich über die Verordnungen des Arztes Xenokrates, welcher sogar
Menschenfleisch empfohlen hatte, „da es ja doch im römischen Reiche
verboten sei, Menschen zu fressen".7 Bei einer anderen Gelegenheit,
wo von einem Arzt die Rede ist, welcher den Landleuten Ziegenmist
verordnete, machte Galen die witzige Bemerkung, dass dergleichen
nicht für die feingebildeten Städter passe; denn der Mist sei nur den
Bauern zuträglich.8
1 Galen XIII, 571. 2 Galen XIV, 7. 3 Galen XII, 216.
4 Galen XIII, 570.
6 C. L. Grotefend: Die Stempel der römischen Augenärzte, Hannover 1867.
— J. Klein: Stempel römischer Augenärzte, Bonn 1874 (Nachtrag zu Grotefend's
Buch). — Marquardt a. a. 0. S. 758. — Heron de Villefosse et H. Thedenat:
Oachets d'oculistes romains, Tours et Paris 1882.
6 Galen XIV, 8R u. ff. 7 Galen XII, 24s. 8 Galen XII. 299.
Der medicinische Unterricht in Rom. 93
Die urtheilslose Menge huldigte der irrigen Meinung, dass die
theuersten Arzneistoffe auch zugleich die heilkräftigsten seien, l und ein
reicher Geldprotz war empört darüber, dass Galen ihm dasselbe Medi-
cament empfahl, welches er bei seinem Sklaven mit Erfolg angewendet
hatte. Als er hörte, dass es aus lauter billigen Substanzen bestehe,
rief er ihm zu: „Dies magst Du für Bettler aufbewahren; ich will ein
Mittel, welches mehr Geld kostet."2
Galen befolgte in seiner ärztlichen Praxis den rationellen Grund-
satz, in erster Linie das Heilbestreben der Natur wirken zu lassen und
nur dann, wenn dasselbe erfolglos blieb, einzugreifen.
Die Untersuchung und Behandlung der Kranken war im Wesent-
lichen die gleiche, wie zu den Zeiten der Hippokratiker. Ebenso be-
diente man sich derselben diagnostischen Hilfsmittel, um die Krank-
heiten zu erkennen; doch hatte die Pulslehre unter dem Einfluss der
Alexandrinischen Schule eine sorgfältigere Bearbeitung erfahren. In
xler Abhandlung über den Puls, welche dem Bueus zugeschrieben wird,3
werden die Veränderungen geschildert, welche er in den einzelnen
Lebensaltern und in verschiedenen Krankheiten zeigt, und eine be-
stimmte Anzahl verschiedener Formen desselben unterschieden. Da-
gegen war von der Auskultation kaum mehr die Bede, wenn man
nicht einige Bemerkungen des Aretaeus und Caelius Aurelianus,
in denen von Geräuschen des Herzens gesprochen wird, darauf be-
ziehen will.4
Bemerkenswerthe Fortschritte hatte die specielle Pathologie ge-
macht. Die römischen Ärzte kannten verschiedene Krankheiten, welche,
wie der Aussatz5 und die Hunds wuth,6 in früheren Zeiten der Beob-
achtung entgangen waren. Aretaeus lieferte die erste Beschreibung
der diphtheritischen Halsgeschwüre im Munde, die er als syrische oder
ägyptische Geschwüre bezeichnete.7 Andere Krankheiten, wie die Kuhr,8
der Icterus,9 die Lithiasis, welcher Galen die gleiche Entstehungs-
ursache zuschrieb wie den Gichtknoten,10 und die Schwindsucht11 wurden
1 Plinius: Hist. nat. XXIX, 8. 2 Galen XIII, 636.
8 Kufus a. a. 0. p. 219—232.
4 Aretaeus: de acut. II, 3. — Caelius Aurelianus: de acut. II, 14. —
Galen XVIII, B. 649.
5 Lucrez VI, v. 1112—14. — Celsus III, 25. — Plinius: Hist. nat. XXVI,
5. — Caelius Aurel.: de chron. IV, 1. — Aretaeus: de chron. II, 13.
6 Plinius a. a. 0. VIII, 63. XXIX, 32. — Celsus V, 27. — Caelius Aure-
lian.: de acut. III, 9—16. — Aretaeus: de acut. I, 7.
7 Aretaeus: de acut. I, 9. 8 Galen XVII A, 351.
9 Galen XVII B, 742. 10 Galen XIII, 993. XVH A, 835.
11 Celsus III, 22. — Aretaeus: de chron. I, 8. — Cael. Aurel.: de chron. II, 14.
94 Der medicinische Unterricht im Älterthum.
genauer erforscht. Gegen die letztere empfahl man ausser Anderem
Seereisen und den Aufenthalt an klimatischen Kurorten, besonders in
Ägypten.
Auch die Nervenpathologie wurde eifrig und erfolgreich betrieben.
Galen berichtet, dass er in einem Falle die Lähmung der Finger von
einem Kückenmarksleiden herzuleiten vermochte,1 und Aeetaeus wusste
bereits, dass sich die Nervenfasern bald nach ihrem Ursprung durch-
kreuzen, und erklärte dadurch die Thatsache, dass nach Verletzungen
einer Gehirnhälfte die entgegengesetzte Seite des Körpers gelähmt wird.2
Der Unterricht in der praktischen Heilkunde wurde theils in der
Privatpraxis des Lehrers, der die Schüler zu seinen Patienten mitnahm,
theils in den Iatreien ertheilt. Die letzteren wurden nach griechischem
Muster eingerichtet und Tabernae medicae oder Medicinae genannt.3
Es waren die Läden oder offenen Geschäfte der Ärzte, welche hier
Kranke empfingen und behandelten, chirurgische Operationen ausführten,
Arzneien bereiteten und verkauften und mit ihren Gehilfen und Schülern
wohnten. In einzelnen dieser Anstalten fanden Patienten, z. B. Geistes-
kranke, auch Aufnahme.4
Viele Städte richteten auf ihre Kosten Iatreien ein und übergaben
sie Ärzten, um sie dadurch zu bestimmen, ihren festen Wohnsitz dort
zu nehmen. 5 Sie befanden sich, wie Galen, welcher darüber sehr aus-
führliche Angaben hinterlassen hat,6 schreibt, meistens in grossen Ge-
bäuden, hatten hohe Thüren, welche viel Licht und Luft hereinliessen
und waren mit chirurgischen Instrumenten und Medicamenten aus-
gestattet.
Auch die Valetudinarien, 7 die Krankenzimmer, welche die Gross-
grundbesitzer für ihr Hausgesinde und ihre zahlreichen Sklaven ein-
richten Hessen, mögen oft Gelegenheit zur praktischen Unterweisung
in der Untersuchung und Behandlung der Kranken geboten haben.
Jedenfalls wurden hier die Sklaven, welche auf Wunsch ihrer Herren
zu Ärzten ausgebildet wurden, in der Heilkunst unterrichtet. — Ähn-
lichen Zwecken dürften auch zuweilen die Militärlazarethe gedient
haben, welche ebenso wie Krankenställe für Pferde überall, wo grössere
Truppenmassen zusammen kamen, angelegt wurden.8
1 Galen VIII, 213. 2 Aretaeus: de chron. I, 7.
3 Plautüs: Amphytryo IV, 4. Epidic. II, 1.
4 Plautüs: Menaechmi V, 947—956. — Spartianus: Vita Hadriani, c. 12.
5 Galen XVIII B, 678. 6 Galen XVIII B, 629—925.
7 Columella: de re rust. XI, 1. XII, 3. — Seneca: de ira I, 16. nat. quaest.
praef. — Tacitus: de orat. dial., c. 21.
8 Hyginus: de munit. castrorum, c. 34.
Der medieinische Unterricht in Rom. 95
Die Gebäude, welche Antoninus Pius in der Nähe der Aeskulap-
Tempel zu Epidauros und auf der Tiber-Insel errichten liess, können
nicht als Krankenanstalten betrachtet werden. Sie sollten sterbenden
Personen und schwangeren Weibern, welche von der Geburt überrascht
wurden, Aufnahme gewähren, damit die Heiligthümer rein gehalten
und nicht entweiht würden.1
Die Pflege und Behandlung der Kranken in den Iatreien und an-
deren Anstalten dieser Art war im Alterthum verhältnissmässig selten.
Die meisten Kranken wurden in ihren Wohnungen von den Ärzten be-
sucht. Aus diesem Grunde geschah auch der Unterricht in der prak-
tischen Heilkunst häufiger dort, als in den Iatreien und Kranken-
häusern.
Die Ärzte Hessen sich von den Studierenden der Medicin zu den
Kranken begleiten und erklärten ihnen an dem betreffenden Fall die
Erscheinungen und die Behandlung der Krankheit. Dabei wurden die
Schüler angeleitet, sich von den krankhaften Veränderungen durch die
Besichtigung und Betastung des leidenden Körpers zu überzeugen.
Als der kranke Philiskus von den Ärzten Seleucus und Steatokles
behandelt wurde, brachten sie, wie Philostratus erzählt,2 mehr als
30 Schüler mit sich. Bekannt ist auch das witzige Epigramm Mar-
tial's an seinen Arzt Symmachus: „Ich war krank. Du kamst deshalb
sofort zu mir; aber 100 Schüler begleiteten Dich. Hundert eiskalte
Hände legten sich mir auf den Bauch. Bis dahin hatte ich kein Fieber
gehabt; da erst bekam ich es."3
Galen ermahnte seine Schüler, darauf zu achten, dass sie beim
Eintritt in das Krankenzimmer nicht durch Poltern mit den Füssen
und durch lautes Geschrei den Kranken aufwecken und in Zorn ver-
setzen. Er ertheilte ihnen dann wohlwollende Rathschläge in Bezug
auf ihre Kleidung, ihr Benehmen, und die Gespräche, die sie mit den
Patienten führen sollten, empfahl ihnen Reinlichkeit und eine passende
Haarfrisur, und verbot ihnen, vor dem Besuch des Kranken Zwiebeln
oder Knoblauch zu geniessen oder zu viel Wein zu trinken, damit sie
nicht den Leidenden durch den übelen Geruch aus dem Munde be-
lästigen und „wie die Böcke stinken".4
Die hohe Bedeutung und Notwendigkeit der Ausbildung in der
praktischen Heilkunde wurde von allen Seiten anerkannt. Galen
spottete über die gelehrten Theoretiker und Sophisten, welche „vom
1 Pausanias II, 27. 2 Philostratus: Vita Apollonii Tyan. VIII, 7.
3 Martialis: Epigr. V, 9.
4 Galen XVII B, 144—152. — Celsus III, 6.
96 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
hohen Katheder herab ihre Schüler mit gelehrten Auseinandersetzungen
überschütten, wenn sie aber zu einem Kranken gerufen werden, von
seinem Leiden nicht das Geringste verstehen."1 Das Publikum wandte
sich natürlich lieber an Ärzte, welche praktische Erfahrung besassen,
als an solche, die nur schöne Reden über die Heilkunst zu halten
wussten. 2
Die Chirurgie hatte sich, wie Celsus berichtet,3 bald nach der
Zeit des Hippokrates von der übrigen Heilkunde getrennt. Sie bildete
fortan einen besonderen selbstständigen Wissens- und Unterrichtsgegen-
stand. In Rom war es nicht üblich, dass die Ärzte, welche innere
Krankheiten behandelten, auch die Chirurgie ausübten; aus diesem
Grunde zog sich auch Galen von der letzteren zurück, als er sich
dort niederliess.4
Celsus nennt die Chirurgen Philoxenüs, Gorgpas, Sostratus,
die beiden Hero, die Apollonier und den Lithotomisten Ammonius in
Alexandria, ferner den älteren Tryphon, den Euelpistus und Meges
in Rom, welche sich sowohl als Lehrer wie als Schriftsteller auf dem
Felde der Chirurgie hervorthaten. Leider sind ihre Werke verloren
gegangen, und wir sind auf die Mittheilungen der späteren Autoren
angewiesen, wenn wir uns ein Urtheil über ihre Leistungen bilden
wollen. Celsus schreibt, „dass diese Männer in der Chirurgie viele
Verbesserungen und Erfindungen gemacht haben."
Vergleicht man nun den Zustand dieses Zweiges der Heilkunst
unter den römischen Kaisern mit den Kenntnissen der Hippokratischen
Ärzte, so ist man allerdings überrascht von den mächtigen Fortschritten,
welche dieses Fach zeigt. Man besass nicht nur richtigere Vorstellungen
von dem Wesen und der Behandlung mancher Krankheiten und Ver-
letzungen, welche das chirurgische Eingreifen verlangen, sondern man
wagte sich auch an die Ausführung grösserer Operationen, zu denen
gründliche Kenntnisse in der Anatomie und in der Technik der chi-
rurgischen Instrumente gehörten.
Der Instrumenten- Apparat war ziemlich reichhaltig. Die Aus-
grabungen zu Herculanum und Pompeji, bei denen eine grosse Anzahl
solcher Werkzeuge aufgefunden wurden, haben darüber werthvolle Auf-
schlüsse gegeben. Darnach waren gerade und gekrümmte Nadeln,
Sonden verschiedener Art, Hohlsonden, gekrümmte und gezähnte Zangen,
Katheter mit leichter S-förmiger Krümmung, mehrere Formen von
Pincetten, darunter auch solche mit Haken und Schiebern, konische
1 Galen XVIII B, 258. 2 Lucian: Hippias, c. 1.
3 Celsus VII, Praef. 4 Galen X, 455.
Der medicinische Unterricht in Bon/. 97
und kugelförmige Schröpf köpfe, scharfe und stumpfe Haken , gabelförmige
und scheibenähnliche Glüheisen, Messer, Spatel, Meissel, Lanzetten,
Bistouris, Mastdarm- und Scheidenspiegel u. a. m. im Gebrauch. l Die
Specula waren theils einfach, theils zweitheilig oder dreith eilig. Im
Jahre 1882 wurde in Pompeji ein viertheiliges aufgefunden, welches
aus zwei geraden und zwei S-förmigen Armen besteht.2 Auch kannte
man verschiedene Arten von Verbänden, von Extensions- und Lagerungs-
apparaten, welche bei der Behandlung der Knochen-Frakturen und
Luxationen in Anwendung kamen.
Die Ausführung der chirurgischen Operationen wurde dadurch er-
leichtert, dass man bessere Blutstillungs-Methoden kennen lernte; man
war nicht mehr blos auf die Kälte, die Compression, die Styptica und
die Glühhitze beschränkt, sondern griff zur Ligatur3 und der Torsion4
der Gefässe, wenn jene Mittel nicht zum Ziel führten. Es konnten
daher blutreiche Neubildungen entfernt und Amputationen und Resek-
tionen unternommen werden. Antyllus wagte sich sogar an die Ope-
ration der Aneurysmen.5
Bei der Amputation bediente man sich sowohl des Cirkelschnittes
als des Lappenschnittes.6 Den grössten Triumph feierte die Geschick-
lichkeit der römischen Chirurgen in der Resektion. Antyllus und
Heliodor7 entfernten erkrankte Knochentheile mit sorgfältiger Erhal-
tung der Continuität des Knochens; sie nahmen den Humerus in seinem
ganzen Umfange, einen Theil des Acromial -Fortsatzes, ebenso Partien
des Oberschenkelknochens, der Tibia und der Vorderarmknochen, ja sogar
den Unterkiefer, wobei die Gelenke geschont wurden, und Theile des
Oberkiefers hinweg.
Auch die plastische Chirurgie war ihnen nicht unbekannt. Durch
Herüberziehen benachbarter Partien der Haut und der darunter liegen-
den Gewebstheile versuchten sie, Substanzverluste an den Ohren, den
Wangen, der Nase und den Lippen zu ersetzen.8
1 B. Vulpes: Illustrazione di tutti gli strumenti chirurgici scavati in Erco-
lano e Pompei, Napoli 1847. — Quaranta und Vulpes im Museo Borbonico,
Vol. XIV, 36. XV, 23.
2 A. Jacobelli: Speculi chirurgici scavati dalle rovine dclle citta dissepoltc
Pompei ed Ercolano im Morgagni, Napoli 1883, T. XXV, p. 185 u. ft'.
3 Celsus V, 26. — Galen X, 314.
4 Oribasius IV. 485. — Rufits bei Aetius XIV, c. 51.
5 Oribasius IV, 52. Vergl. Ed. Albert in d. Wiener Med. Blättern 1882,
No. 1. 3. 4. 5.
6 Celsus VII, 33. — Archigenes und Heliodor bei Oribasius IV, 244. 247.
7 Oribasius III, 582. 615 u. ff.
8 Celsus VII, 9. — Antyllus bei Oribasius IV, 56 u. ff.
Puschmann, Unterricht. n
98 Der medicinische Unterricht im Alter thum.
Von verschiedenen Gelehrten ist die Frage erörtert worden, ob von
den Alten beim Mangel einzelner Glieder künstliche Nachbildungen
derselben verwendet wurden. Auf einer aus der DuRAND'schen Samm-
lung stammenden Vase des Louvre ist eine männliche Figur mit einem
angeblichen Stelzbein dargestellt.1 Bei genauer Betrachtung erkennt
man jedoch, dass der Unterschenkel nicht fehlt, sondern um einen
langen Stab nach vorn und oben gelegt ist. Dagegen ergiebt sich aus
einer Bemerkung Lucian's2 mit Bestimmtheit, dass künstliche Füsse
aus Feigenholz verfertigt wurden, deren sich Amputirte bedienten.
Die Tracheotomie wurde zwar ausgeführt, erzielte aber nicht, wie
es scheint, grosse Erfolge und vermochte sich daher kein Vertrauen zu
erringen. 3
Die Operation des Blasensteins hat Celsus4 ausführlich beschrieben.
Derselbe erwähnte bei dieser Gelegenheit auch, dass der Chirurg Am-
monius den Versuch machte, grössere Steine, die sich schwer entfernen
Hessen, in der Blase zu zertrümmern. Leider ist die Schilderung des
Verfahrens nicht deutlich genug, um dasselbe als Lithotrypsie bezeichnen
zu können. Doch liefert eine Stelle in der von einem anonymen Autor
verfassten Biographie des heiligen Theophanes den unzweifelhaften
Beweis, dass dieselbe im Alterthum bekannt war und ausgeübt wurde;
es wird darin nämlich berichtet, dass Theophanes an Blasensteinen litt,
welche durch Werkzeuge, die man eingeführt hatte, zerbrochen und
dann nach aussen befördert wurden.5 Olympios glaubt, dass dazu
pincettenähnliche Instrumente mit mäusezahnartiger Spitze, wie deren
auf Milo gefunden wurden, benutzt worden sind.6
Als Entstehungsursache der Hernien betrachtete man die Verlänge-
rung und die Zerreissung des Bauchfells; nur Galen zog ausserdem
die Betheiligung der Muskeln in Betracht. 7 Zur Beseitigung der Her-
nien wurden Bruchbänder oder die Badikal-Operation empfohlen. 8 Von
der letzteren hat Heliodor eine Beschreibung hinterlassen, die durch
ihre Genauigkeit und Klarheit gerechte Bewunderung erregt.9 Auch
1 E. Riviere: Prothese chirurgicale chez les anciens in Gaz. des höp., Paris
1883, No. 132. 136.
2 Lucian: Ad indoct., c. 6.
3 Aretaeus: de acut. I, 7. — Caelius Aurelian.: de acut. III, 4. — Galen
XIV, 734. 4 Celsus VII, 26.
5 Corp. Script, bist. Byzant., Bonn 1839, Vol. XXVI, Th. I, p. XXXIV. —
Patrolog. ed. Migne. ser. graec, T. 108, p. 37, Paris 1863.
6 R. Briau in der Gaz. hebd. de med. et de chir., Paris 1858, No. 9.
7 Galen VII, 730. 8 Celsus VII, 20.
9 Oribasius IV, 484. — Ed. Albert: Die Herniologie der Alten, Wien
1878, 8. 144.
Der medicinische Unterricht in Born. 99
die Incarcerationserscheinungen wurden von einigen Beobachtern ge-
schildert. l
Die Strikturen der Harnröhre trennte Heliodor mittelst eines
schneidenden Instruments und legte dann Bougies aus trockenem Papier
und metallene Sonden in die Urethra.2 Ebenso verstand man auch
die Phimosis und Paraphimosis, die Condylome und die Hämorrhoidal-
knoten auf geschickte Weise zu operiren.3
Die Augenheilkunde konnte ebenfalls bedeutende Erfolge aufweisen.
Es wurden nicht nur die Trichiasis, das Hypopyon, die Leukome, die
Thränenfisteln und andere Leiden der äusseren Theile des Auges, son-
dern sogar der graue Staar auf operativem Wege geheilt. Allerdings
kannte man nicht das Wesen dieser Krankheit, aber man heilte sie.
Die Kunst ging hier, wie so oft in der Medicin, der Wissenschaft voraus.
Die Staaroperation geschah durch Depression der erkrankten Linse.
Wenn die letztere wieder nach oben stieg oder eine weiche Consistenz
zeigte, so nahm man ausserdem noch die Zerstückelung derselben vor.4
— Vielleicht kannte man auch die Extraktion. Allerdings ist die Be-
merkung des Plinius, dass die Ärzte aus Habsucht die squama im
Auge lieber hinwegschieben als herausziehen wollen, zu undeutlich, als
dass sie sich darauf beziehen lässt. Eher berechtigt die Angabe Galen's,
dass einige Chirurgen, anstatt den Staar zu dislociren, den Versuch
gemacht haben, ihn nach aussen zu entleeren,5 zu der Vermuthung,
dass man die Extraktionsmethode geübt hat.0 Eine Beschreibung der-
selben findet sich nirgends. Der arabische Schriftsteller Rhazes schreibt
ihre Kenntniss dem Antyllus zu und berichtet zugleich, dass derselbe
auch mit der Beseitigung des Staares durch Suction Bescheid gewusst habe.7
1 Celsus VII, 18. 20. — Aretaeus: de acut. II, 6. — Aetius XIV, 24. —
Paulus Aegin. III, 43. 2 Oribasius IV, 472.
3 Oribasius IV, 466. 470. — Paulus Aeo. VI, 79.
4 Celsus VII, 7. — Galen X, 1019. Vk<;etiu^ Renatus: Mulomedicina
II, 17. — Paulus Aegin. VI, 21. — A. Anagnostakis: Contributions ä l'histoire
de la Chirurgie oculaire chez les anciens, Athenes 1872.
5 Plinius: Hist. nat. XXIX, 8. — Galen X, 987. — Vergl. dazu v. Hasner:
Phakolog. Studien, Prag 1868.
6 H. Magnus (Geschichte des grauen Staares, Leipzig 1876, S. 226 u. ff.)
vertritt mit Gründen, deren Berechtigung nicht zu leugnen ist, die Ansicht, dass
es sich dabei nicht um die Staar-Extraktion, sondern um die Hypopyon- Punction
handelt. Jedenfalls „ist", wie Alfr. v. Graefe (Klin. Monatsbl. f. Augenheil-
kunde 1868, Januar) sagt, „die Wiegenperiode der Extraktion eines der schwie-
rigsten Kapitel der medicinischen Geschichtsforschung" und eine sichere Beant-
wortung der Frage, ob die Alten dieselbe gekannt haben, nicht möglich.
7 Rhazes: Continens II, c. 3, Abs. 7. Ed. Venet. 1506, fol. 41. — Sichel
im Archiv f. Ophthalm. 1868, XIV, 3, S. 1.
100 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Es ist sehr bedauerlich, dass die ophthalmologische Literatur des
Alterthums grösstenteils verloren gegangen ist. Das Werk des be-
rühmten Augenarztes Demosthenes, welches noch zu Ende des 13. Jahr-
hunderts von Simon von Genua benutzt wurde und in einer Abschrift
vielleicht heut noch in irgend einer Bibliothek verborgen liegt, würde
über manche Dinge Aufschluss geben, über welche gegenwärtig nur
Yermuthungen möglich sind.
Die chirurgische Disciplin umfasste nach Celsus1 zunächst die
gesammte Operationskunst und ferner die Behandlung der Wunden
und Geschwüre und aller Knochenkrankheiten. Vom Wundarzt verlangt
er, „dass er im kräftigen Mannesalter stehe, eine sichere und feste
Hand besitze, die niemals zittert, und die linke Hand ebenso geschickt
zu gebrauchen wisse, als die rechte. Scharf und hell soll die Kraft
seiner Augen, furchtlos sein Gemüth und dem Mitleid nicht soweit zu-
gänglich sein, dass er sich durch das Geschrei der Kranken, deren
Behandlung er übernommen hat, bewegen lässt, rascher, als es die
Sachlage fordert, zu operiren oder weniger, als nothwendig ist, fort-
zunehmen. Er darf sich bei seinen chirurgischen Eingriffen in keiner
Weise durch die Klagen der Kranken beeinflussen lassen."
Die Chirurgen wurden bei den Operationen durch ihre Gehilfen
und Schüler unterstützt. Die Dienste, welche dieselben dabei leisten
mussten, werden in mehreren der oben angegebenen Stellen ausführlich
erörtert.
Die Geburtshilfe wurde von den Hebammen ausgeübt; nur in
schwierigen Fällen nahm man die Hilfe der Ärzte oder Chirurgen in
Anspruch.2 Frauen, welche sich zu Hebammen ausbilden wollen, sollen,
wie Soeanus in seinem gynäkologischen Werk sagt, „lesen können,
Verstand und ein gutes Gedächtniss besitzen, rührig, anständig, in
ihrer Sinnesthätigkeit nicht gehindert, gesund und kräftig sein und
lange feine Finger mit kurzen Nägeln haben."
Es wurde nicht, wie in Griechenland, von ihnen gefordert, dass
sie bereits selbst einmal geboren haben. Doch hält es Soeanus für
gut, wenn sie nicht zu jung sind. Ferner empfiehlt er den Hebammen,
stets nüchtern, ruhig und verschwiegen, und weder geldgierig noch
abergläubisch zu sein, sich nicht aus Habsucht zur Verabreichung von
Abortivmitteln verleiten oder durch Träume, Ahnungen, Mysterien und
religiöse Gebräuche in der Erfüllung ihrer Pflichten stören zu lassen.
1 Celsus VII, Praef.
2 Soranus Ephesius, Ed. Dietz, p. 107. — Vergl. J. Pinoff im Janus I,
S. 705— 752. IT, 16-52. 217—245. 780— 744.
Der medicinische Unterricht in Rom. 101
Auch giebt er ihnen den Rath, besondere Sorgfalt auf die Pflege ihrer
Hände zu verwenden, sie häutig mit feinen Salben einzureiben und
mit Wollearbeiten zu verschonen, weil dadurch die Haut hart und
spröde wird.1
Bei der Ausbildung der Hebammen wurde sowohl die Theorie als
die Praxis berücksichtigt, vor Allem aber darauf gesehen, dass sie in
der Diätetik, der Arzneimittellehre und den nothwendigen chirurgischen
Verrichtungen unterrichtet wurden. Ihre Kenntnisse vom Bau der
weiblichen Genitalorgane waren sehr mangelhaft; Soeanus war der
Meinung, dass sie davon nicht viel zu wissen brauchten.
Dafür hatten sie ziemlich richtige Vorstellungen vom Verlauf der
normalen Geburt und von der Hilfe, die dabei geleistet werden musste;
sie unterstützten den Damm der Gebärenden mit einem Tuch, unter-
banden die Nabelschnur nach der Geburt, sorgten für die Lösung der
Nachgeburt u. a. m. Auch wurden sie mit den verschiedenen Lagen
des kindlichen Körpers bekannt gemacht und erhielten eine vortreffliche
Anleitung zur Wahl der Amme und zur Pflege der Neugeborenen.2
Sie unternahmen selbst wichtige Operationen wie die Wendung auf den
Kopf oder die Füsse bei fehlerhafter Kindeslage.3 Die Embryotomie
wurde nur ausgeführt, wenn alle Versuche, die Frucht lebend nach
aussen zu befördern, vergeblich waren.4
Ein angeblich von Numa Pompilius erlassenes Gesetz gebot, den
Kaiserschnitt an schwangeren Verstorbenen vorzunehmen, um wenn
möglich das Leben des Kindes zu retten.5 Plinius (j erzählt, dass er
auch an lebenden Schwangeren ausgeführt wurde, und Scipio Africanus
dieser Operation sein Leben verdankte.
Manche Hebammen beschränkten ihre Thätigkeit nicht auf die
Geburtshilfe und die Behandlung der Frauenkrankheiten, sondern zogen
die gesammte Heilkunde in ihren Bereich und waren somit eigentlich
Ärztinnen. 7
Der Hebammenstand genoss grosses Ansehen. Sie wurden von
den Gerichten als Sachverständige vernommen8 und erhielten später
das Recht, wegen der Forderungen für ihre Dienste klagbar zu werden.9
Zahlreiche Inschriften geben der Verehrung, die man ihnen zollte,
1 SoRANUS p. 3 — 5. 2 SORANUS p. 79 U. ff. 3 SoRANUS p. 110 U. ff.
4 Soranus p. 113 u. ff. — Tertullian: de anima, c. 25.
5 Pandect, lib. XI, tit. 8, de mortuo inferendo.
6 Plinius: Hist. nat. VII, 7.
7 Martial: Epigr. XI, 71. — Apulejus: Metamorph. V, 24. — Plinius:
Hist. nat. XXVIII, 7. 18. 23. 80. — Juvenal II, 141.
8 Seneca: Epist. 66. 9 Pandect., lib. 50, tit, 13.
102 Der meditinische Unterricht im Alterthum.
Ausdruck. Auf einem Grabdenkmal, welches von Mommsen beschrieben
wurde, befindet sich ein Nachruf an „die unvergleichliche Gattin, edelste
Frau und vortreffliche Hebamme". Einer der bekanntesten medicini-
schen Schriftsteller und Ärzte, Theodorus Pmscianus, widmete sogar
ein Buch einer Hebamme, „der lieblichen Gehilfin seiner Kunst", wie
er sie nennt.1
Der ärztliche Stand in Rom.
Die Ausübung der ärztlichen Praxis stand, wie erwähnt, Jedem
frei, ohne dass derselbe in einer Prüfung seine Befähigung dazu nach-
zuweisen genöthigt war;, aber schon die Lex Cornelia (88 v. Chr.) machte
ihn dafür haftbar, wenn durch seine Schuld der Tod eines Menschen
herbeigeführt wurde. Auch die Bewerbung am eine Anstellung im
öffentlichen Sanitätsdienst und um die Aufnahme in die Zahl der mit
bestimmten Vorrechten ausgestatteten Ärzte, sowie die Stellung der
ärztlichen Honorarklagen, besonders die extraordinaria cognitio, dürften
Veranlassung gegeben haben, dass die wissenschaftlich gebildeten Ärzte
von den Pfuschern, wenn auch nicht durch das Gesetz, so doch im
praktischen Leben geschieden wurden.2
Da viele Ärzte nur eine lückenhafte fachmännische Bildung be-
lassen und nicht in allen Zweigen der Heilkunde unterrichtet waren,
so befassten sie sich nur mit einem Theile derselben. Auf einem eng-
begrenzten Gebiet der Heilkunst konnten sie in kurzer Zeit die für die
Praxis nothwendigen Kenntnisse erwerben. — Das Specialistenwesen,
dessen Anfänge in eine frühe Zeit zurückreichen, bekam dadurch eine
sehr schlimme Form; denn es wurde nicht so sehr der Ausdruck her-
vorragender Leistungen auf einem speciellen Gebiet, als der halb-
gebildeten Charlatanerie. Seine Vertreter gaben sich im Verkehr mit
unterrichteten Ärzten bedenkliche Blossen und dienten den Lustspiel-
dichtern als willkommene Objekte des Spottes.
Die Theilung der ärztlichen Arbeit wurde in sinnloser Weise über-
trieben. Man unterschied nicht nur Chirurgen, Geburtshelfer und
Frauenärzte, Augenärzte, Ohrenärzte und Zahnärzte, sondern es gab fast
für jeden Theil des Körpers besondere Specialisten. Einige beschränkten
1 Th. Priscian. lib. III, Praef.
2 Th. Löwenfeld: Inaestimabilität und llonorirung der artes liberales nach
römischen Recht, München 1887, S. 428,
Der ärztliche Stand in Ho in. 103
sich auf die Behandlung- von Fisteln und Brüchen oder bestimmter
Körper theile, z. B. des Afters, Andere beschäftigten sich ausschliesslich
mit dem Steinschnitt, der Hernien-Operation oder der Staaroperation. l
In einem Epigramm des Martial2 heisst es: „Cascelliuk zieht Zähne
aus oder ergänzt sie, Hyginus brennt die in die Augen wachsenden
Wimperhaare weg, Fannius heilt das geschwollene Zäpfchen, ohne zu
schneiden, Eros beseitigt die Brandmale aus der Haut der Sklaven,
und Hermes ist der beste Arzt für Hernien." Man hatte besondere
Ärzte für die Krankheiten der Kinder, wie für diejenigen des Greisen-
alters. Manche Specialisten bedienten sich bestimmter Kurmethoden
und wendeten vorzugsweise das Wasser, den Wein, die Milch, gewisse
Arzneistoffe und Pflanzen, z. B. die Niesswurz, an.3
Tüchtige Ärzte, wie Galen, verachteten dieses Treiben und wid-
meten allen Theilen der Heilkunde ihre Aufmerksamkeit, wenn sie auch
in der Praxis diesen oder jenen Zweig derselben bevorzugen mochten.
„Ich glaube," schreibt Celsus,4 „dass es wohl möglich ist, alle Gebiete
der Heilkunst zu beherrschen. Werden sie aber von einander getheilt,
so lobe ich mir den Arzt, welcher die meisten derselben kennt."
Zwischen den Ärzten und den Chirurgen bestanden freundschaft-
liche Beziehungen. „Sie unterstützten und empfahlen sich gegenseitig,"
erzählt Plutarch. 5 Es scheint nicht, dass die Chirurgen eine niedrigere
gesellschaftliche Stellung einnahmen, als die Ärzte für innere Krank-
heiten, wie dies in späteren Zeiten der Fall war. Auch lässt Nichts
darauf schliessen, dass Jene im Allgemeinen eine geringere Allgemein-
bildung besassen, als diese.
In manchen Fällen wurden von den Kranken oder ihren Ange-
hörigen mehrere Ärzte zu Rath gezogen, welche in gemeinsamen Be-
ratungen die Diagnose und Behandlung besprachen. Dabei mag es
wohl häufig zu heftigen Meinungskämpfen gekommen sein,6 in denen
die Grenzen des Anstandes überschritten wurden. Ihre ungleiche wissen-
schaftliche Bildung erklärt es, dass unterrichtete und erfahrene Ärzte,
wie Galen, im Unmuth über die Unwissenheit und Unfähigkeit ihrer
Collegen ein scharfes Urtheil über deren Ansichten und Verordnungen
fällten.7
Theodohüs Priscianus hat eine drastische Schilderung solcher
1 Pseudo-GALEN : De part. artis medic. Ed. Chartier II, 282. — Galen V, 846.
2 Martial: Epigr. X, 56. 3 Plinius: Hist. nat. XXIX, 5.
4 Celsus VII, Praef.
5 Plutarch: de fraterno amore, c. 15. — Galen XVIII A, 346.
6 Plinius a. a. 0. XXIX, 5.
7 Galen VIII, 357. X, 910. XIV, 623 u. ff.
104 Der medicinische Unterricht im Alterthum.
Consilien hinterlassen. * „Während der Kranke von Schmerzen gepeinigt,"
schreibt er, „auf seinem Lager hin und her geworfen wird, stürmt die
Schaar der Ärzte herein, von denen Jeder nur bedacht ist, die Auf-
merksamkeit der Übrigen auf sich zu lenken und sich um den Zu-
stand des Kranken wenig kümmert. Wie im Cirkus oder beim Wett-
kampf trachtet der Eine durch seine Redekunst oder Dialektik, der
Andere durch den künstlichen Aufbau von Thesen, welche sein Gegner
wieder niederreisst, ausserordentlichen Ruhm zu ernten." Der Volks-
witz machte sich über diese Verhältnisse lustig und erfand die von
Plinius (a. a. 0.) erzählte Anekdote, dass auf einer Grabschrift zu lesen
war, der Verstorbene sei an der Menge der ihn behandelnden Ärzte zu
Grunde gegangen.
Der ärztliche Stand genoss Anfangs nicht dasjenige Ansehen,
welches seiner anstrengenden opferwilligen Thätigkeit gebührt. Die
vornehmen Römer hatten für die Medicin höchstens ein dilettanten-
haftes Interesse und betrachteten die Ausübung der Praxis als eine
Beschäftigung, die sich nur für Leute von niederem Herkommen, für
Diener und Sklaven schicke.2
Als später die Einwanderung der fremden Ärzte erfolgte, und
Heilkünstler aus Griechenland, Ägypten, Kleinasien und Palästina sich
in Rom niederliessen, trat der beschränkte Nativismus, das spiessbürger-
liche Vorurtheil, welches man gegen alle Fremden hatte, einer Ver-
besserung der socialen Stellung der Ärzte hindernd in den Weg.
Freilich trugen die letzteren auch selbst einen grossen Theil der
Schuld. Die Prahlereien, die Habsucht und die Laster, durch welche
sich Einzelne von ihnen verächtlich machten, boten ihren Gegnern
wirksame Wallen, welche sich gegen den ganzen Stand richteten.
Plinius berichtet, dass Ärzte ihre Vertrauensstellung dazu missbrauchten,
um Erbschleicherei und Ehebruch zu treiben und durch Darreichung
von Gift den Tod eines Menschen zu bewerkstelligen.3 Galen ver-
gleicht die Ärzte in Rom sogar mit Räubern und sagt, dass zwischen
ihnen nur der einzige Unterschied bestehe, dass diese im Gebirge und
jene in der Stadt ihre Schandthaten begehen.4
Dazu kam das aufdringliche und prahlerische Auftreten mancher
fremden Heilkünstler, welches dem würdigen Ernst der Römer missfiel.
So durchzog Thessalus, der sich den „Besieger der Ärzte" nannte,
1 Theod. Pkiscianus I, Praef. 2 Plinius a. a. 0. XXIX, 8.
3 Plinius a. a. 0. XXIX, 8. — Martialis: Epigr. VI, 31. — Tacitus: Annal.
IV, 3. XII, 67.
4 Galen XIV, 622.
Der ärztliche Stand in Rom. 105
mit einem Schwärm von Anhängern die Strassen, „wie ihn kaum ein
Schauspieler oder berühmter Cirkusreiter hatte."1 Einzelne Ärzte be-
trieben die Jagd auf Patienten ganz offenkundig und entblödeten sich
nicht, Vorübergehende zum Eintritt in ihre Officinen aufzufordern, die
dann häutig genug zum Aufenthaltsort von Müssiggängern und Gaunern
entarteten.
Der Wunsch, bekannt zu werden und Praxis zu erwerben, ver-
anlasste Viele, „sich um die Gunst der vermögenden und einflussreichen
Personen zu bewerben, mit ihnen auf den Strassen einher zu stolziren,
Schmausereien zu feiern und Possen zu reissen, während Andere durch
die Pracht ihrer Kleidung, durch werthvolle Ringe und andere Schmuck-
gegensfcände die urtheilslose Menge zu blenden suchten."2 Wie zu
allen Zeiten, so liebten auch damals die Ignoranten und Charlatane,
durch den Glanz der äusseren Erscheinung die Hohlheit ihres inneren
AVesens zu verbergen.3 Ärzte, welche mehr Wissen und Verstand be-
sassen, wendeten sich an die Öffentlichkeit, um für sich Reklame zu
machen. Sie hielten populäre Vorlesungen, veranstalteten Disputationen
mit ihren Collegen, welche sich zu erbitterten Redetournieren gestalteten
und im Allgemeinen mehr zur Unterhaltung als zur Belehrung des
Publikums beitrugen, und führten vor den Augen desselben im Theater,
im Cirkus oder an anderen öffentlichen Orten chirurgische Operationen
aus.4 Diese Sitte, welche sich bei herumziehenden Heilkünstlern,
namentlich bei den Zahnärzten, bis heut in Italien erhalten hat, scheint
griechisch-orientalischen Ursprungs und erst mit der Einwanderung der
fremden Ärzte nach Rom gelangt zu sein.
Das Honorar, welches die Ärzte für ihre Dienste empfingen, war
natürlich sehr verschieden und richtete sich nach den Vermögensver-
hältnissen des Kranken und der Stellung und Tüchtigkeit des Arztes.
Galen erhielt vom Consul ßoethus, dessen Frau er längere Zeit be-
handelt hatte, 400 Goldstücke. 5 Der ehemalige Praetor und Legat von
Aquitanien, Manlius Cornutus, zahlte dem Arzt, der ihn von einem
Hautleiden befreite, 200,000 Sestertien. G Die gleiche Summe verlangte
Chaemis, der durch seine Kaltwasser-Behandlung Aufsehen erregte, für
eine Kur, die er in der Provinz unternahm.7
1 Pliniüs: Hist. mit. XXIX, 5. 2 Galen XIV, 600.
3 Lucian: Ad. indoctum, c. 29.
4 Plutarch: de adulatore et amico, c. 82.
5 Galen XIV, 647. Die Summe hat nach Marquardt (a. a. 0. Bd. V, S. 70)
einen Goldwerth von etwa 8000 Mark D. R.-W.
0 Plinius: Hist. nat. XXVI, 3. Über 40,000 Mark. Marquardt a. a. 0. S. 72.
7 Pliniüs a. a. 0. XXIX, 5. 8.
106 Der msdidnische Unterricht im Alterthum.
Als Q. Stektinius zum Leibarzt des Kaisers Claudius ernannt
werden sollte, erklärte er, dass ihm die Besoldung von 250,000 Sestertien
zu niedrig sei, da ihm, wie er durch Aufzählung der Familien, wo er
Hausarzt war, nachwies, die Praxis ein jährliches Einkommen von
600,000 Sestertien sicherte. l Der Arzt Krinas, welcher die Astrologie
zur Grundlage seiner Verordnungen machte, hinterliess, wie Plinius
(a. a, 0.) erzählt, ein .Vermögen von 10 Millionen Sestertien, obwohl
er grosse Summen für öffentliche Bauten ausgegeben hatte. Vom
Chirurgen Alkon wird berichtet,2 dass derselbe, nachdem er zu einer
Strafe von 10 Millionen Sestertien und zur Verbannung verurtheilt
worden war, sich nach seiner Rückkehr binnen wenigen Jahren die
gleiche Summe wieder erworben habe.
Aber solche glänzenden Einnahmen wurden sicherlich nur wenigen
Glücklichen zu Theil. Die grosse Mehrzahl der Ärzte verdiente kaum
soviel, als der Lebensunterhalt erheischte. Die ungleiche Vertheilung
des Besitzes, welcher sich in den Händen einzelner Familien anhäufte
und die grosse Masse des Volkes dem Proletariat überliess, eröffnete
nur wenigen Ärzten die Aussicht, durch Ausübung ihrer Kunst Reich-
thümer zu erwerben. Auch trug die rücksichtslose Concurrenz, die sie
sich machten, dazu bei, dass ihre Dienstleistungen möglichst gering
honorirt wurden. Wer die Armen-Praxis ausübte, blieb natürlich selbst
ein armer Mann.3
Es kam sogar vor, dass Ärzte ihren Beruf aufgaben, weil er sie
nicht ernährte, und sich dem — wie es scheint — einträglicheren
Metier eines Gladiators oder Leichenbestatters widmeten. Darauf be-
zieht sich ein boshaftes Epigramm Martial's, in welchem er sagt:
„Diaulus war Arzt, jetzt ist er Leichenträger. Er macht von der ärzt-
lichen Kunst den Gebrauch, welchen er am besten kennt." „Übrigens
war er auch früher, da er noch Arzt war, doch nur ein Leichen-
bestatter."4
Nur langsam und allmälig verbesserte sich die gesellschaftliche
Stellung der Ärzte. Sie verdankten dies theils den erfolgreichen Be-
strebungen jener Mitglieder ihres Standes, welche durch die Tiefe ihres
Wissens und die Reinheit ihres Charakters die Achtung und Bewun-
derung ihrer Mitbürger errangen, theils der sich immer mehr Bahn
brechenden Erkenntniss der Notwendigkeit und Wichtigkeit der ärzt-
lichen Kunst.
Die Gebildeten begannen, ein lebhaftes Interesse für anatomisch-
1 Plinius a. a. 0. XXIX, 5. 2 Plinius a. a. 0. XXIX, 8.
3 Galen XII, 916. 4 Martialls: Epigr. I, 30. 47. VIII, 74.
Der ärztliche Stand in liom. 107
physiologische Untersuchungen und für die Heilkunde überhaupt zu
empfinden. „Ich glaube," schreibt Gelliun, „dass es nicht blos fin-
den Arzt, sondern für jeden selbstständigen Menschen, der eine gute
Erziehung genossen hat, eine Schande ist, wenn er nicht über die Dinge,
welche den menschlichen Körper betreffen, Bescheid weiss und die
Mittel kennt, welche uns die Natur zur Erhaltung der Gesundheit offen
vor die Augen gelegt hat. Ich habe deshalb alle Zeit, die ich erübrigen
konnte, auf das Studium medicinischer Werke verwendet, weil ich darin
die beste Belehrung zu finden hoffte."1 Ebenso war Plutakch der
Meinung, dass Jeder seinen Puls kennen und wissen müsse, was ihm
nützlich oder schädlich sei.2
Auch die ethische Seite des ärztlichen Berufs wurde von einigen
Autoren hervorgehoben. „Der Arzt soll nicht gezwungen werden, die
Kranken zu besuchen," schreibt Lucian;3 „er darf nicht eingeschüchtert,
nicht mit Gewalt dorthin geführt werden, sondern muss freiwillig und
gern zu ihnen kommen."
Man kann die hohe Würde, den idealen Werth der Heilkunst nicht
besser kennzeichnen, als Seneca, wenn er sagt: „Man giebt dem Arzt
nur den Lohn für seine Mühe; denjenigen für sein Herz bleibt man
ihm schuldig." „Glaubst Du denn," heisst es an einer anderen Stelle,
„dass Du dem Arzt und dem Lehrer nichts weiter schuldest, als sein
Honorar? Bei uns widmet man Beiden grosse Verehrung und Liebe.
. . . Wir empfangen von ihnen unschätzbare Güter, vom Arzt Ge-
sundheit und Leben, vom Lehrer die edle Bildung des Geistes. . . .
Beide sind uns Freunde und verdienen sich nicht durch ihre verkäuf-
liche Kunst, wohl aber durch ihr aufrichtiges Wohlwollen unseren in-
nigsten Dank."4
Das Bedürfniss nach ärztlicher Hilfe führte schon in früher Zeit
dahin, dass man Hausärzte, Ärzte für Gemeinden, das Heer, und für
Genossenschaften anstellte. Reiche Leute, welche einen grossen Haus-
stand und viele Sklaven besassen, waren darauf bedacht, dass ihnen in
Krankheitsfällen zu jeder Zeit ein Arzt zu Gebot stand. Zu diesem
Zweck schlössen sie mit einem in der Nähe wohnenden Arzt einen
Vertrag, der denselben verpflichtete, ihnen gegen einen bestimmten Jahres-
gehalt alle ärztlichen Dienste zu leisten.5
Noch bequemer aber war es für sie, wenn sich unter ihrer Diener-
1 Gellius: Noct. Attic. XVIII, 10.
2 Plutarch: de sanitate tuenda praec, c. 24. 25.
3 Lucian: Abdicatus (Der verstossene Sohn), c. 23.
4 Seneca: de benefic. VI, 15. 16. 17.
5 Varro: de re rust. I, 16,
108 Der medicinische Unterricht im Alter thum.
schaft ein heilkundiger Sklave befand, dem sie die Sorge für ihre und
der Ihrigen Gesundheit anvertrauen konnten.1 Sklaven dieser Art
waren daher sehr gesucht und standen höher im Preise als die übrigen
Sklaven; sie wurden sogar theurer verkauft, als die Eunuchen.2 Auch
kam es vor, dass junge begabte Sklaven auf Kosten ihrer Herren in
der Heilkunst unterrichtet und zu Ärzten ausgebildet wurden. — Die
abhängige Stellung dieser Ärzte entschuldigt sie, wenn sie ihr medici-
nisches Wissen nicht blos dazu verwendeten, um Schmerzen zu lin*dern
und Krankheiten zu heilen, sondern auch zu scheusslichen Handlungen
und schweren Verbrechen, 3 welche sie auf Befehl ihres Herrn ausführten.
War der letztere selbst Arzt, so dienten sie ihm als Assistenten
und Gehilfen in der Praxis; wenn sie selbstständig Kranke behandelten,
so mussten sie ihm das Honorar, welches sie dafür erhielten, abliefern
und bildeten somit eine bisweilen recht ergiebige Erwerbsquelle für
ihn. Aus diesen Umständen wird es begreiflich, dass er Sklaven dieser
Art nur ungern die Freiheit gab; denn er verminderte dadurch nicht
nur seine Einnahmen, sondern schuf sich auch zuweilen einen Concur-
renten, .der ihm, weil er seine Patienten kannte, doppelt gefährlich
werden konnte.
Ebensowenig waien Nichtärzte, welche Sklaven mit medicinischen
Kenntnissen besassen, geneigt, sich dieses Besitzes zu entledigen, weil
sie damit den immer bereiten, gänzlich ergebenen Hausarzt verloren.4
Das Gesetz war daher genöthigt, die einander entgegengesetzten Interessen
der Herren und ihrer Sklaven zu versöhnen, indem es einerseits die
Bedingungen, unter denen die letzteren ihre Freiheit zu fordern be-
rechtigt waren, und die Normen feststellte, nach welchen die Höhe des
Lösegeldes berechnet werden sollte, und andererseits den Freigelassenen
bestimmte Verpflichtungen gegen ihre ehemaligen Herren auferlegte,
welche die letzteren vor übermässigen Nachtheilen schützen sollten.5
Die im Besitz des Staates befindlichen Sklaven des ärztlichen
Standes, welche wahrscheinlich die Behandlung der erkrankten Servi
publici besorgten, scheinen sich im Allgemeinen in einer günstigeren
Lage und freieren Stellung befunden zu haben, als ihre Berufsgenossen,
welche Privatpersonen gehörten.
Den freien Ärzten wurden verschiedene materielle Vortheile und
Vorrechte gewährt, weil man erkannte, wie nützlich und wichtig die
1 Sueton: Nero, c. 2. Calig. c. 8. — Seneca: de benef. III, 24.
2 Cod. Just. VI, tit. 43, 3. VII, tit. 7, 1. 5.
3 Cicero: ad Pison., c. 34. pro Cluentio, c. 14 u. ff. — Tacitus Annal. XV, 63.
4 Digest. XL, tit. 5, c. 41, 6.
5 Digest. XXXVIII, tit. 1, c. 25—27.
Der ärztliche Stand in Rom. 109
Heilkunst für das allgemeine Wohl ist. Als Cäsar bei einer Hungers-
noth, die im Jahre 46 v. Chr. in Rom ausbrach, die Ausweisung der
Fremden anordnete, nahm er ausdrücklich die Ärzte und die Lehrer
von dieser Massregel aus, „damit sie um so lieber in der Stadt wohnen
bleiben und noch Andere dorthin nachziehen".1 Der Kaiser Augustus
gewährte den Ärzten i. J. 10 n. Chr. die Immunität, d. i. die Befreiung
von Steuern und anderen Lasten, angeblich aus Dank für die erfolg-
reiche Kur, durch welche ihn sein Leibarzt Musa, ein begeisterter
Anhänger der Hydrotherapie, von hartnäckigen rheumatischen Be-
schwerden erlöst hatte.2 Vespasian erneuerte oder bestätigte dieses
Privilegium, und Hadrian erliess erläuternde Bestimmungen über die
den Ärzten verliehenen Vorrechte.3
Aus dieser Verordnung, welche unter Antoninus Pius erneuert
wurde, ergiebt sich, dass sie von der Übernahme verschiedener zeit-
raubenden und mit manchen Unbequemlichkeiten und Unkosten ver-
bundenen Ämter, z. B. der Überwachung der öffentlichen Spiele, der
Ädilität, und den priesterlichen Verrichtungen, ebenso wie von der Ein-
quartierungslast befreit und der Pflicht enthoben waren, zu dem Ein-
kauf von Getreide und Öl, wenn er von Seiten des Staates geschah,
beizutragen, auch nicht genöthigt wurden, als Richter oder Legaten zu
fungiren, und weder zum Militär noch zu anderen öffentlichen Dienst-
leistungen herangezogen werden konnten.4
Antoninus Pius bestimmte aber gleichzeitig, dass diese weitgehen-
den Privilegien nicht allen Ärzten ohne Unterschied, sondern nur einer
bestimmten Anzahl derselben zu Theil würden. Es wurde angeordnet,
dass in kleineren Städten nur fünf, in mittleren sieben und in grösseren
zehn Ärzte die Immunität erhalten sollten, und die letztere ihnen,
wenn sie sich in ihrem Beruf Nachlässigkeiten zu Schulden kommen
Hessen, jeder Zeit von der Stadtbehörde wieder entzogen werden konnte.
Ferner wurde bei der Verleihung dieser Vorrechte den einheimischen
Ärzten, welche in ihrem Heimathsort prakticirten , der Vorzug einge-
räumt vor den Fremden, die dort eingewandert waren. Die letzteren
sollten nur, wenn sie sich durch hervorragende Leistungen auszeichneten,
berücksichtigt werden. In solchen aussergewöhnlichen Fällen durfte
sogar die vorgeschriebene Zahl der mit Immunität ausgestatteten Ärzte
ausnahmsweise überschritten werden.
1 Sueton: J. Cäsar, c. 42.
2 Dio Cassius LIII, 30. — Sueton: Augustus, c. 59. — Horaz: Epist. I, 15.
3 Digest. L, tit. 4. de muner. et honor. lex 18, 30.
4 Digest. XXVII, tit. 1. de excusat., c. 6, 8. — E. Kuhn: Die städtische
und bürgerl. Verfassung des röm. Eeiches, Leipzig 1864, I, S. 69 u. ff.
110 Der medizinische Unterricht im Alterthum.
Alexander Severus erliess das Gesetz, dass in den Provinzen die
Immunität nicht mehr von den staatlichen Behörden, sondern von den
Bürgern und Grundbesitzern verliehen würde, weil diese den Charakter
und die Tüchtigkeit der Ärzte, denen sie sich in Krankheiten anver-
trauen, am besten kennen. 1 Später wurden den Ärzten noch die extra-
orclinaria cognitio gewährt, nämlich das Recht, ihre Klagen wegen rück-
ständiger Honorarforderungen unmittelbar bei der höchsten Instanz der
Provinz vorzubringen. 2
Es scheint, dass man durch solche Begünstigungen zunächst nur
beabsichtigte, tüchtige unterrichtete Ärzte an einen Ort zu fesseln, wie
das Beispiel des Archagathus lehrt. Bald aber wird man ihnen dafür
auch bestimmte Verpflichtungen auferlegt haben, welche im öffentlichen
Interesse lagen. Als sich das Institut der Gemeindeärzte, wie es in
Griechenland bestand, im römischen Reiche einbürgerte, wurden ihnen
die mit den Pflichten des öffentlichen Dienstes verbundenen Vorrechte
vorbehalten. Die erwähnten Privilegien wurden somit später vorzugs-
weise, wenn nicht ausschliesslich, den Gemeindeärzten zu Theil. Ihre
Zahl richtete sich nach der Grösse der Stadt und war, wie es scheint,
die gleiche, wie diejenige, welche das Gesetz für die Verleihung der
Immunität bestimmte.
In Gallien hatte man schon vor Stüabo's Zeit Gemeindeärzte,3 in
Kleinasien vielleicht schon früher* und in Latium jedenfalls unter
Trajan, wie aus einer Grabschrift hervorgeht, welche dem besoldeten
Arzt der Stadt Ferentinum gewidmet ist.5 In Rom wurde für jeden
Bezirk der Stadt ein Arzt angestellt.
Die Gemeindeärzte waren vorzugsweise dazu verpflichtet, Arme
unentgeltlich zu behandeln; doch war ihnen die übrige Praxis keines-
wegs verwehrt. Ferner wurden sie bei Epidemien und anderen Ereig-
nissen, welche mit einer Zunahme der Krankheiten und Sterbefälle
verbunden waren, zu Rath gezogen ; ausserdem gehörte der medicinische
Unterricht zu ihren besonderen Obliegenheiten.
Von der Gemeinde erhielten sie eine Besoldung, welche haupt-
sächlich in Naturallieferungen bestand. In grösseren Städten, wie in
Rom, bildeten sie Collegien, welche sich, wenn eine Stelle erledigt
wurde, durch Cooptation ergänzten. Doch unterlag ihre Wahl der
kaiserlichen Bestätigung. Manchmal scheint das Amt auch von dem
Vater auf den Sohn übergegangen zu sein.6
1 Digest. L, tit. IX. de decretis ab ord. fac., c. 1.
2 Digest. I, tit. 13, c. 1. 3 Strabo IV, 1.
4 Vercoutre a. a. 0. p. 351. — Orelli: Inscript. lat, No. 3507.
5 Marqfärdt a. a. 0. VIT, 755. 6 Vercoutre a. a. 0. S. 321.
Der ärztliche Stand in Rom. 111
Unter der Regierung der Kaiser Yalentinian I. und Valens (368 n. Chr.)
wurden die amtlichen Competenzen und Beziehungen der Gemeindeärzte
in ihren Einzelheiten festgestellt,1 Seit dieser Zeit führten sie auch
officiell den Titel Ärchiatri populäres, dessen Entstehung jedenfalls in
eine frühere Zeit fällt. Das Wort Archiater kommt schon hei Ake-
taeus vor2 und ist offenbar nach der Analogie anderer Ausdrücke
mit der Wurzel do/ gebildet, um die Würde, die höhere Stellung zu
bezeichnen. 3
Am frühesten scheint es zur Bezeichnung der Ärzte des kaiser-
lichen Hofes gebraucht worden zu sein. Schon Stektinius Xenophon,
über dessen Lebensschicksale durch die Auffindung seines mit Inschriften
bedeckten Leichensteins vor Kurzem interessante Aufschlüsse gegeben
wurden,4 führte den Titel eines Archiaters, und vor ihm vielleicht schon
M. Livicjs Eutychus.5 Ebenso wurde der Leibarzt Nero's, Andbo-
machus, zum Archiater ernannt, weil der Kaiser damit, wie Galen
bemerkt,6 andeuten wollte, dass er die übrigen Ärzte durch Erfahrung
und Wissen überrage. An einer anderen Stelle gedenkt Galen der
Ärzte Magnus und Demeteiüs, welche zu seiner Zeit die Würde des
Archiaters bekleideten. 7
Später führten die Hofärzte den Titel Ärchiatri palatini im Gegen-
satz zu den Ärchiatri populäres, den Gemeindeärzten. Am Hofe des
Kaisers Alexander Severus gab es sieben Ärzte, von denen aber nur
der erste, der eigentliche Leibarzt, einen Gehalt in baarem Gelde bezog,
während den übrigen Lebensmittel geliefert wurden. Ausserdem
nahmen sie an allen Privilegien und Begünstigungen Theil, welche
den Archiatern und Ärzten überhaupt verliehen worden waren.8
Wie der Hof und die Gemeinden, so hatten auch manche Ge-
nossenschaften ihre eigenen Ärzte. Ebenso wurden für einzelne Be-
amten-Kategorien, das Theaterpersonal, den Cirkus und die Gladiatoren
besondere Ärzte angestellt.9
Auch die verschiedenen Truppentheile erhielten ihre Ärzte, die sie
ins Feld begleiteten und die erkrankten und verwundeten Soldaten
1 Cod. Theodos. XIII, T. 3. de med. et profess., c. 8 — 10. — Cod. Justin.
X, T. 52, c. 10.
2 Aretaeus: de acut. cur. II, 5.
3 G. Curtius: Grundzüge der griechischen Etymologie, Leipzig 1879, S. 189.
4 M. Dübois: Un medecin de l'empereur Claude. Bull. d. corresp. hellen.
1881, No. 7. 8.
5 K. Briau: Archiatrie romaine, Paris 1877, c. 2.
6 Galen XIV, 211. 7 Galen XIV, 261.
8 Lampridius: Alexander Severus, c. 42.
9 R. Briau: L'assistance medicale chez les Romains, Paris 1869.
112 Der medicinische Unterrieht im Alter thum.
entweder in ihren Zelten oder in den Lazarethen behandelten. Sie
trugen Waffen, wie die übrigen Soldaten l und genossen die den übrigen
Ärzten gewährte Immunität. Über die Rangverhältnisse der Militär-
ärzte und ihre Beziehungen zu ihren Vorgesetzten bestanden genaue
Bestimmungen.2 An der Spitze des ganzen Militär-Sanitätswesens stand
vielleicht ein General -Stabsarzt.3 Desgleichen war die Marine mit
Ärzten versehen; es gab darunter sogar Specialisten, wie aus einer Be-
merkung Galen's hervorgeht.4
Ärzte, welche sich durch ihre Thätigkeit hervorragende Verdienste
erwarben, wurden mit Titeln und Würden, mit Rangerhöhungen und
anderen Ehren ausgezeichnet. Wie überall, so waren es auch in Rom
vorzugsweise die Hofärzte, denen diese Gunstbezeugungen zu Theil
wurden.5 Müsa wurde vom Kaiser Augustus in den Ritterstand er-
hoben und seine Statue im Aeskulaptempel aufgestellt. Stertinius
Xenophon erhielt für seine Leistungen als Militärarzt von Claudius
die corona aurea und hasta pura; als kaiserlicher Leibarzt erlangte er
einen derartigen Einfluss, dass er zum Staats-Sekretär für die griechi-
schen Angelegenheiten ernannt wurde. Seine Heimath, die Insel Kos,
verdankte es ihm hauptsächlich, dass sie von Steuern befreit wurde.6
In späteren Zeiten geschah es nicht selten, dass Ärzte hohe Stellungen
am Hofe oder in der Verwaltung des Staates annahmen und damit
wahrscheinlich ihrer bisherigen Berufsthätigkeit entsagten.
Der Verfall des römischen Reiches erstickte das wissenschaftliche
Streben und vernichtete manche vortreffliche Einrichtung, welche auf
dem Gebiet des Unterrichts und der Heilkunde geschaffen worden war;
aber die wesentlichen Grundzüge dieser Organisation blieben erhalten,
wenn sie auch durch Unverstand und Erbärmlichkeit missbraucht und
bisweilen sogar in ihr Gegen theil verkehrt wurden. Die reiche medi-
cinische Literatur, welche gerettet wurde, überlieferte der neuen Zeit
die Errungenschaften der alten und wies der ärztlichen Forschung die
Wege, welche sie wandeln muss, wenn sie Erfolge erringen will.
1 Auf der Trajans-Säule in Rom sind zwei Militärärzte dargestellt, welehe
Wunden verbinden und Pfeile ausziehen und dabei bewaffnet sind.
2 R. Briau: Du Service de sante militaire chez les Romains, Paris 1866.
8 Achilles Tatius: de Clitop. et Leucipp. amor. IV, 10.
4 Galen XII, 786. 5 Cod. Just. XII, tit. 13.
6 Tacitus: Annal. XII, 61.
IL Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Der Einfluss des Christenthums.
Der römische Staatsorganismus wurde durch schleichende Krank-
heiten, welche sein Lebensmark zerstörten, einem langen Siechthum
zugeführt, dem die siegreichen Angriffe äusserer Feinde ein unrühm-
liches Ende bereiteten.
Die Unfähigkeit und Verworfenheit auf dem Throne, die Theilung
der Regierung unter mehreren einander missgünstigen und befehdenden
Machthaberu, die Corruption der Beamten und die Käuflichkeit einer
übermüthigen und übermächtigen Soldateska untergruben seine politische
Existenz, während die Lockerung der Familienbande, die Genusssucht,
der Hochmuth und die Verschwendung der Reichen neben dem Elend
der Massen, und die freche Schamlosigkeit, mit welcher das Laster sich
vor Aller Augen zeigte, das sociale Leben in Rom vergifteten. Die
frischen Naturvölker des Nordens, welche zuerst als gedungene Söldner-
schaaren, dann als umworbene Beschützer und zuletzt als gebietende
Herren dorthin kamen, beschleunigten den Zersetzungsprozess und
gaben dem durch innere Leiden zerrütteten, aus unzähligen Wunden
blutenden und verstümmelten römischen Reiche aus Mitleid endlich
den Todesstoss.
Der Mannesmuth und Heldensinn, welcher den Namen der Römer
mit Ruhm bedeckt und ihren Staat gross gemacht hatte, war erloschen.
Wenn eine vereinzelte kühne That an die Zeiten der Vergangenheit
erinnerte, so erhellte sie nur für einen Augenblick wie ein leuchtender
Blitz die dunkele Nacht der Gegenwart.
Der nach idealen Zielen ringende Ehrgeiz suchte seine Aufgaben
vorzugsweise auf dem Gebiet der Theologie und der entsagungsvollen
Frömmigkeit. Diese Denkweise, welche von den sittenstrengen An-
hängern der Stoa vorbereitet, aber erst durch das Christenthum allge-
meiner verbreitet wurde, sah in dem geduldigen Ertragen der Leiden,
Puschmann, Unterricht. ,S
114 Der lnedicmisehe Unterricht im Mittelalter.
in der Enthaltsamkeit von den Genüssen des Lebens die vornehmste
und höchste Tugend, die der Mensch anstreben soll. Einen wirksamen
Ansporn dazu gab die christliche Glaubenslehre, indem sie die Aussicht
eröffnete auf ein Leben nach dem Tode, in welchem alle Ungerechtig-
keiten gesühnt werden, die Tugend ihren Lohn und das Laster seine
Strafe erhalten sollten. Den Armen und Elenden dieser Welt wurde
damit die Hoffnung auf eine bessere schönere Zukunft gewährt, welche
sie über den Jammer der Gegenwart trösten konnte, den Reichen das
Mitleid in die Seele geträufelt und die Sünder mit Furcht und Schrecken
erfüllt und dadurch zur Besserung geführt. Diese Lösung der socialen
Frage entsprach den Bedürfnissen und dem Culturzustande jener Zeit
und musste sich daher allgemeine Anerkennung erringen.
Die ersten Anhänger des Christenthums gehörten den Kreisen der
Unterdrückten, der Enterbten an; später fand es auch in den mit
Glücksgütern gesegneten, sogenannten höheren Klassen der mensch-
lichen Gesellschaft Gläubige, welche, angewidert von der moralischen
Verkommenheit ihrer Zeit, in den Lehren des neuen Evangeliums Trost
und Erhebung suchten.
So lange die christliche Kirche aus solchen Elementen bestand,
bewahrte sie ihre Reinheit und blieb die Religion des Friedens und
der Liebe, welche ihr erhabener Stifter geträumt hatte. Als ihr aber
mit der zunehmenden Verbreitung auch die Macht und der Reichthum
zulioss und dadurch eine Masse ehrsüchtiger und charakterloser Streber
angezogen wurde, wurde sie zum Tummelplatz menschlicher Leiden-
schaften gemacht und stiftete manchmal mehr Unheil als Segen.
Das Christenthum beschäftigte sich nur mit der ethischen Erziehung
des Menschengeschlechts; der wissenschaftlichen Ausbildung stand es
gleichgültig, zuweilen sogar feindlich gegenüber. Es war dies auch
natürlich; denn in einer Weltanschauung, welche, Avie die christliche,
ihre Ziele in einer übersinnlichen Welt der Ideale suchte und die sitt-
liche Vervollkommnung der Menschen für deren wichtigste oder einzige
Aufgabe erklärte, konnte der wissenschaftlichen Forschung keine grosse
Bedeutung zugestanden werden.
In direkten Widerspruch zum christlichen Dogma aber trat die
letztere, wenn sie die Erscheinungen der Natur, z. B. den Körper des
Menschen, welchen der christliche Glaube für unrein und werthlos,
Avenn nicht verächtlich erklärte, zum Gegenstande ihrer Studien machte.
Die Naturwissenschaften und die theoretische Medicin haben daher
unter der Herrschaft der christlichen Kirche keine wesentlichen Fort-
schritte gemacht. Dagegen verdankt die praktische Heilkunde ihrer
Anregung die Gründung zahlreicher Krankenhäuser und anderer Wohl-
Der Einfluss des Ghristenthums. 115
thätigkeitsanstalten, welche die Humanität wie die ärztliche Heilkunst
in gleichem Maasse förderten.
Die Entwicklung der Wissenschaften wurde in jener Zeit auch
noch durch andere Verhältnisse und Thatsachen gehemmt. Die be-
ständigen Kriege und Kaubzüge feindlicher Arolksstämme, die religiösen
Verfolgungen und dogmatischen Streitigkeiten, die durch die Unsicher-
heit des Besitzes und des Lebens hervorgerufenen socialen Verände-
rungen und die schweren Seuchen, welche die Länder entvölkerten und
in Wüsteneien verwandelten, lenkten die Aufmerksamkeit von den
wissenschaftlichen Studien ab und nahmen den Gemüthern die dazu
erforderliche Kühe.
Aber die wichtigste Ursache des wissenschaftlichen Stillstandes lag
darin, dass die Völker, welche das Reich der Römer unter sich theilten,
ihnen an Bildung bei weitem nachstanden und daher zunächst die
Aufgabe hatten, deren Cultur in sich aufzunehmen. Dieser Prozess
dauerte Jahrhunderte und fand eigentlich erst am Ende des Mittelalters
seinen Abschluss.
Die Theilung der römischen Monarchie in eine östliche und eine
westliche Hälfte gab dem alten Gegensatz zwischen dem Orient und
dem Occident, der niemals gänzlich verschwunden war, wieder einen
deutlichen politischen Ausdruck. Damit begann aber zugleich die Auf-
lösung des grossen Staatsorganismus, von dem nun ein Glied nach dem
anderen getrennt wurde. Die losen Beziehungen der Provinzen zur
Centralgewalt in Rom oder Konstantinopel erleichterten deren Loslösung.
Die germanischen Stämme, welche die Völkern" uth aus dem Norden und
Osten gegen Süden und Westen trieb, machten sich in ihren neuen
Wohnsitzen bald heimisch und gründeten neue Staaten. Als das 5. Jahr-
hundert zu Ende ging, geboten die Ostguthen, denen später die Longo-
barden folgten, in Italien, die Westgothen in Spanien und dem süd-
westlichen Erankreich, Burgunder und Pranken im Osten und Norden
dieses Landes, während angelsächsische Stämme nach Britannien über-
setzten, und die römische Provinz Afrika eine Beute der Vandalen
wurde. In Germanien blieben sächsische, bayerische, allemannische und
fränkische Stämme zurück, und die Herrschaft der Byzantiner wurde
in Asien von den Persern, in Europa von den Gothen, Hunnen und
Slaven mehr und mehr zurückgedrängt.
Die Eroberer behielten einen grossen Theil der politischen und
socialen Einrichtungen bei, welche sie in den von ihnen unterworfenen
Ländern vorfanden. Es war dies ein Triumph, den die höhere Cultur
der im physischen Kampfe Unterlegenen über die geringere Bildung
ihrer Sieger feierte. Die letzteren erkannten die grossen Vortheile,
116 Der medicinischc Unterricht im Mittelalter.
welche ihnen aus der Bereicherung ihrer Kenntnisse erwachsen würden,
und sorgten daher dafür, dass die Schulen und Unterrichtsanstalten
soviel als möglich erhalten wurden.
Der civilisatorische Einüuss der Kömer hatte sich in allen Theilen
des Reiches, namentlich aber in der westlichen Hälfte desselben, geltend
gemacht. Zahlreiche Bildungsstätten in Gallien, Spanien, Britannien
und Nordafrika gaben davon Zeugniss. Die literarischen Leistungen der
römischen Schriftsteller, die aus diesen Ländern stammten, zeigen, wie
erfolgreich jene gewirkt haben. l
Nach dem Muster der höheren Unterrichtsanstalten zu Athen,
Alexandria und Born entstanden Hochschulen sowohl in den Ländern
des Orients als in verschiedenen grösseren Städten Italiens, Galliens
und Spaniens,2 an denen neben der griechischen und römischen Lite-
ratur, Grammatik, Geschichte, Philosophie, Rhetorik, Jurisprudenz,
Mathematik, Physik und Astronomie zuweilen auch Medicin gelehrt
wurde. Ihre Organisation war in vielen Beziehungen ähnlich derjenigen
der englischen Universitäten. Sie wollten nicht so sehr für einen be-
stimmten Beruf vorbereiten, als eine alles Wissen ihrer Zeit umfassende
Allgemeinbildung bieten.
Die Professoren dieser Hochschulen wurden auf öffentliche Kosten
besoldet und genossen Immunität, Steuerfreiheit und andere Privilegien.
Ihre Zahl war beschränkt und richtete sich, wie diejenige der Archiatri,
nach der Grösse der Stadt. An der Hochschule zu Konstantinopel,
welche im 5. Jahrhundert n. Chr. gegründet wurde, waren 31 Profes-
soren angestellt.3 Ausser den von den Stadtbehörden oder der Regie-
rung ernannten Professoren scheint es noch Lehrer gegeben zu haben,
welche gleich unseren Privatdocenten, ohne bestimmten Gehalt zu em-
pfangen, die Lehrthätigkeit ausübten. Söhne wohlhabender Eltern
wurden häufig von Pädagogen zur Hochschule begleitet, die, halb Hof-
meister und halb Bediente, in den meisten Fällen dem Stande der
Sklaven oder Freigelassenen angehörten.
Die Lehrer bezogen von ihren Schülern ein auf Vereinbarung be-
ruhendes Honorar. Da dasselbe eine wesentliche Quelle ihres Einkommens
1 Mommsen a. a. 0. Bd. V, S. 69 u. ff., 100 u. ff., 176 u. ff,, 643, 655 u. ff.
— Gibbon: Geschichte des Unterganges des römischen Weltreiches, übers, von
J. Sporschil, Bd. I, S. 59.
2 F. Cramer: Geschichte der Erziehung und des Unterrichts im Alterthum,
Elberfeld 1832, Bd. I, S. 477 u. ff'.
3 J. C. F. Bahr: De literarum universitate Constantinopoli , Heidelberg
1835. — Savigny: Geschichte des römischen Rechts, Bd. I, S. 396.
Der Einfluss des Christenthums. 117
bildete, so musste ihnen viel daran gelegen sein, recht viele Schüler
zu unterrichten.
Das Studentenleben, welches sich in Rom und Athen entwickelte,
glich in manchen Beziehungen dem unserigen. Die Studierenden ver-
einigten sich nach ihrer Heimath zu landsmannschaftlichen Verbindungen,
suchten dafür die neuen Ankömmlinge, die „Füchse", mit allen Mitteln
der Überredung, der List und manchmal sogar der Gewalt zu gewinnen,
feierten Trinkgelage und Schmausereien und Hessen gelegentlich der
überschäumenden Jugendlust die Zügel schiessen. Auch an tollen und
übermüthigen Streichen und beklagenswerthen Ausschreitungen fehlte
es nicht.
In Antiochia kam es vor, dass die Studenten einen Pädagogen,
der sich ihr Missfallen zugezogen hatte, in' eine Decke hüllten und
dann so lange in die Luft schleuderten und wieder auffingen, bis er
ohnmächtig wurde. Der Philosoph Libanius, der damals dort eine
Lehrkanzel hatte, hielt deshalb seinen Schülern, welche sich wahrschein-
lich an diesem rohen Spass betheiligt hatten, eine Strafrede, in welcher
er sagte, „es sei schon schlimm genug, wenn sich Studierende an ge-
wöhnlichen Bürgersleuten vergreifen, einen Goldschmied beschimpfen,
einen Schuster necken, einen Zimmermann stossen, einem Weber einen
Tritt versetzen, einen Krämer herumzerren, oder einen Ölverkäufer be-
drohen; wenn sie aber sogar einen Pädagogen misshandeln, so sei dies
eine Beleidigung eines der ehrenwerthesten und nützlichsten Stände
und verdiene, dass sie dafür mit dem Stock und der Peitsche gezüchtigt
würden".1
Übrigens waren die Studierenden strengen Gesetzen unterworfen.
Nach einer Verordnung Valentinians (370 n. Chr.) mussten sie beim
Beginn ihrer Studien Zeugnisse der Obrigkeit ihrer Heimath vorlegen,
worauf dann ihr Name und ihre Wohnung und der Stand der Eltern
in ein öffentliches Verzeichniss eingetragen wurde. Es war ihnen
untersagt, ihre Zeit in Vergnügungen zu vergeuden. Wenn sie diese
Gebote übertraten, so setzten sie sich körperlichen Strafen aus und
konnten von der Schule entfernt werden. Der Präfekt der Stadt er-
stattete alljährlich einen Bericht über die Fähigkeiten und das Betragen
der Studierenden an die vorgesetzte kaiserliche Behörde.2
Mit dem 20. Lebensjahre sollten die Studien beendet sein. Es
scheint also, dass man ziemlich früh damit anfing. In der fälschlich
1 Libanius: Orat. et declamat. ed. J. J. Reiske, Altenburg 1795, T. III,
p. 254. 259 (ntqi rov rd7T7]roq).
2 Cod. Theodos. L. XIV, T. 1, 1.
118 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
dem Soranus zugeschriebenen, aber jedenfalls auf alten Quellen be-
ruhenden Isagoge in artem medicam1 wird das 15. Jahr als die ge-
eignetste Zeit für den Beginn der medicinischen Studien erklärt. Der
Verfasser sagt bei dieser Gelegenheit, „dass der Studierende fleissig,
talentvoll und scharfsinnig sein müsse, damit er schnell begreife und
lerne, und dass er einen kräftigen Körper brauche, damit er die ihm
bevorstehenden Anstrengungen ertragen kann". Ferner wird von ihm
verlangt, dass er eine wissenschaftliche Vorbildung besitze und in der
Grammatik, Literaturgeschichte, Rhetorik, Mathematik und Astronomie
unterrichtet worden sei. „Der Arzt", heisst es weiter, „muss Milde und
Bescheidenheit mit der geziemenden Ehrenhaftigkeit verbinden, einen
unantastbaren Charakter besitzen, darf nicht hochmüthig auftreten und
soll die Armen wie die Reichen, die Sklaven wie die Freien in gleicher
Weise behandeln." —
Die medicinischen Vorträge, welche von gelehrten Theoretikern,
den Iatrosophisten , wie sie genannt wurden, an den Hochschulen ge-
halten wurden, bestanden in philosophischen Betrachtungen und tief-
durchdachten Erörterungen verschiedener Fragen der Physiologie und
Pathologie; aber sie genügten nicht, um den Zuhörer zur Ausübung
der ärztlichen Berufsthätigkeit zu befähigen.
Diesem Theile der ärztlichen Erziehung wurde von den Archiatern
und überhaupt von den praktischen Ärzten, welche Unterricht in der
Heilkunst erth eilten, in einer zweckmassigeren und wirksameren Weise
entsprochen.
Die Sophisten-Schulen und höheren Lehranstalten verlangten kein
bestimmtes religiöses Glaubensbekenntniss von den Lehrern und Schülern.
An ihnen unterrichteten Heiden und Christen, und in ihren Hörsälen
drängten sich Anhänger verschiedener Kirchen und Sekten. Nur unter
der kurzen Regierung Julians wurden die Christen vom Lehramt an
den heidnischen Schulen ausgeschlossen.
Schon damals wurden schwache Versuche unternommen, um das
Christenthum von der Bildung der Heiden zu emancipiren; aber erst
ein Jahrhundert später gelang es den Bestrebungen eines Salvianus,
Prudentius, Orosius u. A., eine Literatur mit christlichem Inhalt zu
schaffen, welche sich auf die Schriften des alten und neuen Testaments
stützte. Die Gleichgültigkeit und Verachtung, welche die Leuchten der
christlichen Kirche gegen die geistigen Schöpfungen der Griechen und
Römer kundgaben,2 die Einseitigkeit, mit der man sich bei der Aus-
1 Val. Rose: Anecclota graeca et graecolatina, Berlin 1864, II, p. 169. 244 u. ff.
2 Archiv f. Geschichte u. Literatur; herausg. v. F. C. Schlosser u. Bercht,
T, S. 253 u. ff.
Der FAnfluss des Christenthums. 119
wähl des Stoffes auf die jüdisch-christliche Überlieferung beschränkte
und die tendenziöse Entstellung der Culturerrun genschaften des Alter-
thums gaben diesen literarischen Produkten ein sehr unvorteilhaftes
Licht und erklären es, wenn aufgeklärte Zeitgenossen, die nicht in
religiösen Vorurtheilen befangen waren, darin keinen Fortschritt in der
intellektuellen Entwicklung des menschlichen Geschlechts erblickten.
Wenn der Kampf zwischen der christlichen und der antiken Bildung
mit den Waffen des Geistes entschieden worden wäre, so musste er die
Überlegenheit der letzteren darthun; aber er wurde bald auf das Ge-
biet der politischen Macht verlegt, wo der Sieg Demjenigen zufällt,
welcher der Stärkere ist.
Als die Christen, nachdem sie Jahrhunderte hindurch von den
Heiden verfolgt worden waren, die Herrschaft im Staat erlangten, be-
gannen sie ihrerseits, ihre einstigen Bedrücker zu verfolgen. Eifrig
bemüht, die Wurzeln, mit welchen die Menschheit an der heidnischen
Vergangenheit hing, auszugraben, bekämpften sie das auf dem Studium
der Alten beruhende Unterrichtssystem und suchten es in ihrem Sinne
umzugestalten, damit es eine mit dem christlichen Dogma vereinbare
Form erhielt. Wenn man damit nicht zum Ziel kam, so griff man
zur Gewalt und hob die Lehranstalten auf. Durch ein Edikt Justinians
vom Jahre 529 wurden die philosophischen Schulen zu Athen und
Alexandria geschlossen. Die letzten griechischen Philosophen ver-
liessen ihre Heimath und suchten in der Fremde Schutz und geistige
Freiheit.
In Konstantinopel und anderen Orten, namentlich in den Ländern
des Westens, wurden die Musentempel in christliche Unterrichtsanstalteü
umgewandelt, in denen das Studium der Religion die massgebende
Stelle erhielt. Die Geistlichen übernahmen die Leitung der Erziehung
und wurden die Vertreter der Wissenschaft. Da ihnen aber der reli-
giöse Glaube das höchste Gesetz war, so wurden der Forschung Grenzen
gesteckt, welche sie nicht überschreiten durfte.
In den Schulen, welche an den Bischofssitzen und bei den Klöstern
entstanden, wurden nicht blos Theologie und Kirchengeschichte, sondern
alle Wissenschaften gelehrt, welche theils zur Allgemeinbildung gehörten,
theils für das tägliche Leben brauchbar und nützlich erschienen. Auch
die Heilkunde wurde häufig in den Kreis der Unterrichtsgegenständc
gezogen; namentlich beschäftigte man sich in den Schulen des Orients
damit.
Der hl. Benedikt führte diese Einrichtung dann auch im Abend-
lande ein und regte die Mitglieder des Ordens, den er stiftete, zu
medicinischen Studien an. Auch Cassiodor empfahl den Mönchen, in
120 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter.
deren Kloster er sich zurückgezogen hatte, nachdem er als Minister
des Ostgothenkönigs Theodorich viele Jahre hindurch eine hervorragende
Rolle im politischen Leben gespielt hatte, die Beschäftigung mit der
Heilkunde und gab ihnen ausführliche Rathschläge, welche medici-
nischen Schriftsteller des Alterthums sie ihren Studien zu Grunde legen
sollten.1
Sehr eifrig wurde die Medicin, wie es scheint, in den Schulen
der Nestorianer gepflegt. Hohe Geistliche dieser Sekte wurden wegen
ihrer ärztlichen Tüchtigkeit gerühmt und von den Fürsten zu Rath
gezogen. 2
Die Unterrichtsanstalten der Nestorianer waren eingerichtet wie
die Schulen des hl. Okigines zu Alexandria.3 Als Lehrer an den-
selben wirkten auch Andersgläubige, sogar Heiden, natürlich nur in
den profanen Wissenschaften. Die Schüler mussten für den Unterricht
ein Honorar zahlen, das manchmal nicht unbedeutend war. Das Lehr-
geld für arme Schüler zahlte die Kirche, welche ihnen ausserdem noch
Unterstützungen gewährte.
Die bekanntesten Lehranstalten bestanden zu Edessa, Nisibis, Se-
leucia und Dorkena; später wurden auch in Bagdad, Mesena, Hirta,
Matotha. Jemama und anderen Städten Syriens derartige Schulen ge-
gründet.4 Manche waren sehr besucht; Nisibis zählte einmal 800 Schüler,
von denen einzelne bis aus Italien und Afrika kamen.
Als die Nestorianischen Gelehrten durch den religiösen Fanatismus
der byzantinischen Kaiser aus Edessa vertrieben wurden, flüchteten sie
nach Persien, wo sie wesentlich zu dem Aufschwünge beitrugen, den
die Wissenschaften, besonders die Heilkunde, an der Schule von Gon-
disapur erfuhren. Die ersten Anfänge derselben reichen vielleicht bis
ins 3. Jahrhundert zurück;5 ihre Blüthezeit erlebte sie unter Kesra
Nuschirvan im sechsten Jahrhundert.
Dieser Monarch war ein gründlicher Kenner der griechischen Lite-
ratur und wohlwollender Beschützer aller wissenschaftlichen Bestre-
bungen. Bei ihm fanden die vertriebenen Nestorianer dieselbe herz-
liche Aufnahme wie die Philosophen von Athen; in der gleichen Weise
unterstützte und förderte er die jüdischen und syrischen Gelehrten,
welche den Persern die Cultur der Griechen übermittelten. Er schickte
1 Cassiodor: Institut, divin. lect. I, c. 31.
2 Assemani: Bibliotheca orientalis, Rom 1728, III, pars 1, p. 166.
3 Assemani a. a. 0. III, pars 2, p. 919 u. ff
4 Assemani a. a. O. III, pars 2, p. 924.
5 J. H. Schulze: De Gondisapora Persarum quondam academia medica In
Comment. acad. Petropolit. 1751, XIII, p. 437 u. ff.
Der Einfluss des Christenthums. 121
seinen Leibarzt Burzweih nach Indien, damit derselbe die dortige
Heilkunst kennen lerne und Arzneien und medicinische Schriften mit-
bringe, und stellte, als er mit dem byzantinischen Kaiser Frieden
schloss, die Bedingung, dass ihm der Arzt Tribunus aus Palästina,
einer der berühmtesten Praktiker seiner Zeit, auf ein Jahr überlassen
würde.
In Gondisapur berührten sich das abendländische Wissen und die
Weisheit des Morgenlandes. Hier trat die griechische Medicin in Ver-
bindung mit der Heilkunst der Perser und Indier und diese Vermäh-
lung barg in sich die Keime zu dem Aufschwünge, den diese Wissen-
schaft unter den Arabern erfuhr.
Der medicinische Unterricht an den Schulen zu Gondisapur wurde
hauptsächlich, wenn auch nicht ausschliesslich von den Nestorianischen
Gelehrten ertheilt. Er war nicht blos theoretisch, sondern vorzugsweise
praktischer Natur und fand im Krankenhause statt. 1 Das letztere blieb
auch unter der arabischen Herrschaft erhalten und wurde noch zu Ende
des zehnten Jahrhunderts erwähnt.
Die medicinische Wissenschaft machte in der Periode des Verfalls
des römischen Reiches und der darauf folgenden Zeit keine bemerkens-
werthen Fortschritte. Die Erziehung der Ärzte war im Allgemeinen
weniger zweckmässig als früher. Es fehlte an manchen vortrefflichen
Einrichtungen, welche den medicinischen Unterricht bei den Römern
erleichtert hatten.
Die anatomischen Studien wjirden hauptsächlich nach Büchern
betrieben. An die Zergliederung menschlicher Leichen war bei den
religiösen und socialen Vorurtheilen, welche darin eine Schändung der
Menschenwürde sahen, nicht mehr zu denken. Sogar die Sektionen
thierischer Cadaver waren nicht immer möglich; denn sie brachten
den Forscher mindestens in die Gefahr, für einen Zauberer gehalten
zu werden.2
Das anatomische Wissen erfuhr daher nur wenige Bereicherungen,
von denen die Entdeckung des Olfactorius als eines selbstständigen
Nerven und die Lehre, dass die Entwickelung der Schädelknochen und
der Wirbelsäule von der Bildung des Gehirns und Rückenmarks ab-
hänge, vielleicht allein Erwähnung verdienen.3
Die anatomischen und phvsiologischen Schriften Galen's bildeten
1 Assemani a. a. 0. III, pars 2, p. 940 u. ff.
2 Apülejus Madaurensis: Apologia, c. 36.
3 Theophilus Protospatharius : De corp. human, fabrica ed. A. Greenhill,
Oxford 1842, p. 129. 151.
122 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
die Grundlage des Unterrichts in diesen Gegenständen. Das anatomische
Wissen, welches derselbe dort niedergelegt hatte, erfüllte nach der
Meinung der Ärzte jener Zeit die höchsten Anforderungen, welche an
ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet gestellt werden durften. Die Re-
sultate, zu welchen er bei seinen anatomischen Untersuchungen gelangt
war, schienen ihnen weder einer Berichtigung noch eiuer Ergänzung
bedürftig zu sein.
Den gleichen Charakter der Vollendung schrieben sie den physio-
logischen Theorien Galen's zu. Der Teleologismus, welchem er huldigte,
und die aufrichtige Bewunderung der göttlichen Allmacht und Weisheit,
der er bei jeder Gelegenheit Ausdruck gab, bewegten sich auf dem
Boden der christlichen Auffassung und fanden daher bei den christ-
lichen Gelehrten willkommene Aufnahme. Diesem Umstände verdankte
es Galen zum grossen Theile, dass seine Werke von den mit fana-
tischer Brutalität gegen die literarischen Denkmäler des Alterthums
wüthenden Theosophen der christlichen und islamitischen Ära nicht
vernichtet, sondern sorgfältig erhalten und eifrig studiert und weiter
verbreitet wurden.
Während die theoretischen Disciplinen der Medicin zum Stillstand
verurtheilt wurden, eröffnete sich der praktischen Heilkunde durch die
Gründung von Krankenhäusern die Aussicht auf eine erfolgreiche wissen-
schaftliche Bearbeitung. Die Wohlthätigkeitsanstalten, welche die christ-
liche Nächstenliebe ins Leben rief, boten Gelegenheit zur Beobachtung
von Krankheiten und Leiden aller Art und erleichterten es den Ärzten,
sich in ihrer Kunst auszubilden und Erfahrungen zu sammeln.
Wenn man behauptet hat, dass die Gründung öffentlicher Ho-
spitäler einzig und allein vom Christenthum ausgegangen sei, so ist
dies freilich nicht richtig. Schon die Buddhisten kannten derartige
Anstalten,1 und die Iatreien der griechischen Ärzte, besonders diejenigen,
welche auf öffentliche Kosten unterhalten wurden, waren gewiss im
Wesentlichen nichts Anderes als öffentliche Krankenhäuser. Die Vale-
tudinarien der Römer, welche für die Sklaven und die Soldaten einge-
richtet wurden, unterschieden sich davon vielleicht nur dadurch, dass
sie für bestimmte Klassen der Bevölkerung bestimmt waren. Die
Spanier fanden, als sie nach der Entdeckung Amerikas nach Mexiko
kamen, auch dort Spitäler, denen sie sogar grosses Lob spendeten.2
Virchow hat daher Recht, wenn er sagt, „dass jede Cultur, welche
die Sitten bis zu einem gewissen Maasse mildert und eine mehr ge-
1 S. oben S. 14.
2 Prescott: The conquest of Mexico, London 1803, 2. Aufl., I, p. 26. 169.
Der Einfluss des Christenthwms. 123
schlossene Form der Gesellschaft herstellt, endlich auch zur Gründung
von Krankenanstalten führen wird."1
Das unbestreitbare Verdienst des Christenthums aber ist es, die
in der Verborgenheit glühenden Funken echter Menschenliebe zur hellen
Flamme der Begeisterung angefacht zu haben. Keine andere Religion,
keine politische oder sociale Macht hat soviel für die Humanität ge-
leistet und geschaffen, wie das Christen thum. Wo sich dasselbe ver-
breitete und Anhänger gewann, wurden Werke der Barmherzigkeit geübt
und der Wohlthätigkeit Tempel errichtet.
Die ausserordentlichen Erfolge, welche die christliche Religion in
den ersten Jahrhunderten nach ihrer Entstehung errang, beruhten
sicherlich zum grossen Theile auf den humanitären Ideen, die es ver-
kündete. Allerdings hat auch das Alterthum Thaten der Menschenliebe
hervorgebracht, welche die Bewunderung herausfordern; aber sie waren
nur vereinzelt und erzielten keine nachhaltige Wirkung. Das Christen-
thum vereinigte die humanitären Bestrebungen der Einzelnen und gab
der Wohlthätigkeit einen collectiven Ausdruck.
Das Alterthum sah in dem Sklaven ein mit der menschlichen
Sprache begabtes Thier, ein zur Ausbeutung bestimmtes Besitzthum;
das Christenthum konnte die Sklaverei zwar nicht abschaffen, aber es
wies doch auf die auch im Sklaven vorhandene Menschenwürde hin.
Cato gab den Landwirthen den Rath, sie möchten die alten und
kranken Sklaven verkaufen, wie das Rindvieh, das nicht mehr zur
Arbeit tauglich ist, und das alte Eisen.2 Viele Herren jagten ihre
Sklaven, wenn sie durch Krankheit oder Alter erwerbsunfähig geworden
waren, aus dem Hause, sodass der Kaiser Claudius, um diesem Unfug
zu steuern, die letzteren in diesem Fall für frei erklären liess.3
Das Christenthum predigte Mitleid mit den Unterdrückten, Unter-
stützung der Armen und Hilflosen und Pflege der Kranken. Viele
seiner Gläubigen gaben ihre Besitzthümer den Bedürftigen oder der
Kirche, damit sie davon Almosen spende. Die Kirche zu Rom ge-
währte im 3. Jahrhundert 1500 Armen den täglichen Unterhalt,4 und
diejenige zu Antiochia ernährte deren zur Zeit des hl. Cheysostomus
über 3000. 5
Die Errichtung der christlichen Armen- und Krankenhäuser und
anderer Wohlthätigkeitsanstalten scheint im Orient begonnen zu haben.
1 Virchow: Über Hospitäler und Lazarethe in seinen gesammelten Abhand-
lungen, Berlin 1879, II, S. 8.
2 Cato: de re rust., c. 2. * Sueton: Claudius, c. 25.
4 Eusebius: Hist. eccles. VI, 43. 5 Chrysost. : hom. 66 in Matth.
124 Der medicinischc Unterricht im Mittelalter.
In Griechenland wurden die Sklaven besser und menschlicher behandelt,
als in jedem anderen Lande der antiken Welt;1 hier fanden Arme und
Fremde schon zu den Zeiten des Heidenthums in den Xenodochien
freundliche Aufnahme und ärztliche Pflege, wenn sie erkrankten. Das
Ghristenthum organisirte dann die Ausübung der Wohlthätigkeit und
rief Anstalten ins Leben, welche in solcher Grösse und Ausdehnung
vorher niemals existirt hatten.
Die vom hl. Basilius (370 — 79) gegründete Anstalt zu Caesarea
glich einer Stadt; sie enthielt zahlreiche Wohnungen für Arme und
Kranke, wurde vortrefflich geleitet und hatte besondere Ärzte und
Krankenwärter in ihrem Dienst.2 Geegor von Nazianz nennt diese
Anstalt „den Schatz der Frömmigkeit, wo die Krankheit eine Schule
der Weisheit wird, wo das Elend sich in Glück umgestaltet."3 Edessa
erhielt i. J. 375 ein Hospital, welches mit 300 Lagerstätten versehen
wurde. 4
Nach • diesen Vorbildern entstanden auch an anderen Orten Klein-
asiens, sowie in Alexandria und Konstantinopel, ähnliche Anstalten für
Leidende und Gebrechliche. In Rom wurde, wie der hl. Hieronymus
erzählt, das erste christliche Krankenhaus von der Wittwe Fabiola,
welche von dem alten Geschlecht der Fabier abstammte, zu Ende des
4. Jahrhunderts gegründet.5 Ihrem frommen Beispiel folgten andere
reiche Privatleute, und die Errichtung von Wohlthätigkeitsanstalten
wurde bei den vornehmen römischen Damen Mode. Jedenfalls brachte
es der Menschheit mehr Segen, wenn die hl. Paula ein Hospital er-
baute, als wenn sie ihre Tochter zur beständigen Jungfrauschaft ver-
urtheilte, obgleich sie dafür vom hl. Hieronymus mit dem Titel einer
Schwiegermutter Gottes belohnt wurde, wie Gibbon erzählt.6
Auch an anderen Orten Italiens, sowie in Gallien und Spanien
wurden Kranken- und Armenhäuser errichtet. Der Bischof Masona
von Merida (573 — 606), ein Gothe, gründete ein Hospital, in welchem
Christen wie Juden, Sklaven und Freie Aufnahme fanden, und bestimmte,
dass die Hälfte aller Geschenke, welche die Kirche erhielt, dieser An-
1 Mommsen a. a. 0. V, 250.
2 Gregor von Nazianz: Grat, funebr. in Basil. u. Orat. de pauperum cura.
— Basilius: Epist. 94.
8 C. Schmidt: Die bürgerliche Gesellschaft in der altrömischen Welt und
ihre Umgestaltung durch das Christenthum, Leipzig 1857, S. 246.
4 E. Chastel: Die christliche Barmherzigkeit in den ersten Jahrhunderten
der Kirche, übers, v. Wichern, Hamburg 1854, S. 135.
5 Hieronymus: Ep. 77, Ed. Vallarsi.
6 Gibbon a. a. O. VIT, cap. 37.
Der Einfluss des Ghristenthtmis. 125
stalt gegeben wurde. Den Ärzten, welche dort angestellt wurden, be-
fahl er, in der Stadt umher zu gehen und die Kranken einzuladen,
sich nach diesem Hause bringen zu lassen. Das Hötel-Dieu zu Lyon
wurde i. J. ,542 von Childebert I. gestiftet und stand unter der Auf-
sicht von Laien.1
Die Kirche erklärte die Krankenpflege für ein gottgefälliges Werk.
Die Gläubigen wetteiferten daher miteinander, den Leidenden zu helfen,
und scheuten dabei selbst vor den niedrigsten und unangenehmsten
Verrichtungen nicht zurück. Fabiola trug die Kranken auf ihren
Armen zum Lager und wusch ihnen die Wunden aus, welche Andere
kaum anzuschauen vermochten.2 Die Kaiserin Placilla Augusta ver-
richtete in den Spitälern die Dienste einer Magd.3
Eine aufopferungsvolle Thätigkeit entfalteten die Christen bei den
grossen Epidemien, welche in jener Zeit die Menschheit heimsuchten.
Als im 3. und 4. Jahrhundert ansteckende Seuchen in Alexandria
und Carthago wütheten, nahmen sie sich der Kranken ohne Unter-
schied des religiösen Glaubens an, pflegten sie und bestatteten die
Todten.4 Viele wurden dabei selbst von der Seuche ergriffen und er-
lagen ihr.
Der Heldenmuth der Liebe, welchen die Christen bei derartigen
Gelegenheiten zeigten, erfüllte auch die Andersgläubigen mit staunen-
der Bewunderung. Selbst Julian, der eifrigste Gegner des Christen-
thums, Hess ihrem wohlthätigen Wirken diese Anerkennung zu Theil
werden. „Wir sehen," schrieb er, „was die Feinde der Götter stark
macht, ihre Menschenliebe gegen die Fremdlinge und Armen, ihre
Sorgfalt für die Todten und ihre wenn auch gemachte Heiligkeit des
Lebens."5 Er fühlte sich dadurch bewogen, das Beispiel der Christen
nachzuahmen, und beschloss in allen Städten Hospitäler zu errichten.
Von den Krankheiten erregte namentlich der Aussatz, unter dessen
Namen eine Menge von Hautleiden verschiedener Art zusammengefasst
wurden, damals die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Aussätzigen wurden
wegen ihres abschreckenden Aussehens von den Leuten, sogar von ihren
eigenen Verwandten und Freunden gemieden und wegen der Gefahr
der Ansteckung, der man sich aussetzte, gefürchtet.
Die Christen erbarmten sich auch dieser Unglücklichen und gaben
ihnen in den Hospitälern Unterkunft und Pflege. Der hl. Basiliüs
1 C. F. Heusinger im Jarnis I, S. 772 u. ff.
2 Hieronymus: Ep. 84.
3 Theodoret: Hist. eccles. V, 19.
4 Eusebius: Hist. eccles. VII, 22. IX, 8. — Sozomenos: Hist. eccles. V, 16.
5 Julian: Epist. 49.
126 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
„umarmte sie wie Brüder, nicht weil er mit seinem Muthe prahlen
wollte, sondern um Denjenigen ein Beispiel zu geben, welchen er ihre
Pflege anvertraute."1 Er räumte ihnen eine besondere Abtheilung in
seiner Anstalt zu Caesarea ein.
In Konstantinopel wurde ein Spital nur für Aussätzige bestimmt, 2
und in Italien entstanden an vielen Orten die Leprosen-Häuser früher,
als die Anstalten für die übrigen Kranken.3 In Frankreich gab es
schon zur Zeit des hl. Gregor von Tours (560) Aussatz-Häuser, und
in einer Testaments-Urkunde v. J. 636 werden Anstalten dieser Art
in Verdun, Metz und Mastricht erwähnt.4 Hundert Jahre später sam-
melte der hl. Othmar die Aussätzigen von den Feldern bei St. Gallen
und richtete ihnen ein Spital ein.
Ausser den Armen- und Krankenhäusern schuf die christliche Liebe
auch Anstalten, in welchen altersschwache Greise, Krüppel, Blinde, arme
Wöchnerinnen, Waisen und verlassene und ausgesetzte Kinder aufge-
nommen und verpflegt wurden. Das Aussetzen der Neugeborenen
wurde allerdings schon unter Valentinian verboten; aber die socialen
Missstände hielten diesen verbrecherischen Gebrauch aufrecht.5 Im
5. Jahrhundert kam in einigen Städten Galliens, z. B. in Arles, Trier,
Macon und Rouen, die Sitte auf, die Kinder, deren man sich entledigen
wollte, vor den Thüren der Kirchen niederzulegen. Die Geistlichkeit
nahm sich der armen Verlassenen an und Hess sie erziehen. Die ersten
Findelhäuser sollen zu Trier, Angers und Mailand entstanden sein.6
Leider, äusserte sich die Fürsorge, welche die Christen den Kranken
und Hilfsbedürftigen widmeten, nicht immer in dieser edlen und ver-
nünftigen Weise. Unverstand und Aberglaube deuteten die Worte des
hl. Jacobus:7 „Ist Jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten der
Gemeinde und lasse sie über sich beten und salben mit Öl im Namen
des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen,
und der Herr wird ihn aufrichten", dahin, dass die Hilfe des Arztes
überflüssig sei, und die Kraft des Gebetes allein genüge, um den Kranken
gesund zu machen. Damit kehrte man wieder zurück auf jenen theur-
1 Gregor v. Naz.: orat. VIII a. a. 0.
2 Duoange: Constantinop. Christ., Paris 1680, IV, 165.
3 Muratori: Antiq. ital. med. aevi, T. I, Dissert. 16.
4 R. Virchow: Zur Geschichte des Aussatzes in Virchow's Archiv, Bd. 20,
Berlin 1861, S. 169.
5 Lecky: Sittengeschichte Europas von Augustus bis zu Karl dein Grossen,
Leipzig 1870, II, 20 u. ff.
6 Chastel a. a. 0. S. 53. 138.
7 Neues Testament, Epist. Jacobi, c. 5, v. 14. 15.
Der Einfluss des Christenthums. 127
gischen Standpunkt, von dem aus die Krankheiten als Strafen Gottes
erscheinen, die nur durch Bussübungen und Gebete beseitigt werden
können.
Wie einst zu den Aeskulap-Tempeln, so kamen jetzt die Leidenden
in die christlichen Kirchen, um von den Priestern Eath und Hilfe zu
erbitten. Glückliche Erfolge, deren Ursache man der Fürbitte eines
Heiligen zuschrieb, hatten einen vermehrten Zulauf von Kranken zur
Folge. So entwickelte sich namentlich in Kirchen, in denen die Ge-
beine der Heiligen ruhten, ein Cultus, welcher sich von dem Aeskulap-
Dienst fast gar nicht unterschied.1
Die Kranken brachten dort die Nächte mit Fasten und Beten zu
in der Hoffnung, dass ihnen der Heilige im Traume oder während des
Wachens erscheinen und die Heilmittel angeben werde, welche ihre
Genesung herbeizuführen geeignet waren, und die Priester erklärten die
Hallucinationen und Traumbilder der Patienten, schrieben die Erzäh-
lungen der glücklichen Kuren, welche stattfanden, nieder und sorgten
dafür, dass die Erinnerung daran durch bildliche Darstellungen der ge-
heilten Körpertheile, welche in den Kirchen niedergelegt wurden, bei
den Gläubigen fortdauerte.
Die Verehrung, welche den Märtyrern, die für ihren Glauben den
Tod erlitten hatten, gezollt wurde, führte schon sehr früh dazu, dass
ihren Reliquien eine grosse Heilkraft zugeschrieben wurde. Die Kranken
hofften Erlösung von ihren Leiden zu finden, wenn sie den Leichnam
derselben oder Gegenstände, welche von ihnen herrührten, anschauen
oder berühren, ihr Grab besuchen, oder den Staub, der dasselbe be-
deckte, geniessen durften. Amulette und Wunder spielten in der Heil-
kunde der Christen fortan eine hervorragende Rolle.
Die mystischen Schwärmereien der Neuplatoniker und Neupythago-
räer, welche einst als Waffen im Kampfe gegen die christliche Kirche
verwendet worden waren, fanden nun Eingang in deren Hallen. Unter
ihrem Schutz konnten sich Betrug und Aberglaube auf einem Gebiet
geltend machen, wo von der Wahrheit nicht blos der Fortschritt der
Wissenschaft, sondern auch die Gesundheit, oft sogar das Leben der
Menschen abhängt.
Die medicinische Literatur joner Periode trug den Charakter der
UnSelbstständigkeit. Arm an originellen Ideen, unfähig zu eigenen
Forschungen, begnügte man sich damit, Das, was die vorangegangenen
Zeiten geschaffen hatten, zu sammeln und zu gedrängten Auszügen zu
verarbeiten.
1 Alb. Marignan: La uiedecine dans l'eglise au sixieme siecle, Paris 1887.
128 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Die praktischen Ärzte verlangten Receptbücher, welche dem täg-
lichen Bedürfniss entsprachen. Dieser Art waren die Schriften des
QuiNTus Serenus Samonicus, Sextus Placitus Papyrensis, Vindi-
cianus, Marcellus Empiricus, Lucius Apulejus, Cassiüs Felix,
Theodorus Priscianus u. A., die lateinischen Übersetzungen einzelner
Werke der Hippokratiker, des Dioskorides, Galen und Soranus, und
die Compilationen aus Plinius, Caelius Aurelianus u. A. Sie zeigen
in ihrer Sprache, wie in ihrem Inhalt den raschen Verfall des wissen-
schaftlichen Geistes, welcher diese Periode kennzeichnet.
Werthvoller und gehaltreicher waren die literarischen Leistungen
der Griechen auf diesem Gebiet; doch konnte man auch hier erkennen,
dass die schöpferische Kraft des Alterthums geschwunden war. Auch
für die Griechen galt das Urtheil, welches der Philosoph Longinus im
3. Jahrhundert über seine Zeitgenossen fällte: „Gleich wie Kinder,
deren zarte Glieder zu sehr eingeengt worden sind, Zwerge bleiben, so
ist unser zärtlicher, durch Vorurtheile und die Gewohnheiten einer
verdienten Sklaverei gefesselter Geist unfähig, sich auszudehnen und
jene Grösse zu erreichen, die wir an den Alten bewundern/*1
Im 4. Jahrhundert legte Oribasius auf Wunsch und Befehl des
Kaisers Julian, dessen Leibarzt und Freund er war, eine Sammlung
von Excerpten aus den wichtigsten Schriften der bedeutendsten medi-
cinischen Autoren des Alterthums an, 2 welche er mit manchen interes-
santen Zusätzen bereicherte. Nach dem gleichen Plane stellte Aetius
im 6. Jahrhundert eine Menge von Abhandlungen über die einzelnen
Theile der Heilkunde zusammen. Da viele derselben von Ärzten her-
rühren, deren Werke verloren gegangen sind, und darin manche That-
sache berichtet wird, welche man sonst nirgends erwähnt findet, so
bildet diese Sammlung eine unschätzbare Quelle nicht blos für die
Geschichte der Medicin, sondern auch für diejenige der Philosophie
und anderer Wissenschaften. Leider wird die Benutzung derselben
sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht durch den Umstand,
dass der griechische Text des Werkes bisher noch niemals vollständig-
gedruckt worden ist.
Um dieselbe Zeit wie Aetius, lebte auch Alexander Trallianus,
welchen Freind dem Hippokrates und Aretaeus an die Seite stellte.
Seit langer Zeit der erste Arzt, der originell im Denken und Handeln
war, rief er die Erinnerung an die grosse Vergangenheit der griechischen
1 Longinus: De sublim., c. 44 nach Gibbon.
2 Sie wurde von Ch. Daremberg mit Unterstützung der französ. Regierung
herausgegeben. (Paris 1851 — 76.)
Der Einfluss des Christenthums. 129
Medicin wieder wach. Sein Lehrbuch der speciellen Pathologie und
Therapie der inneren Krankheiten, welches von mir herausgegeben
worden ist,1 enthält eine Fülle von ärztlichen Beobachtungen und Er-
fahrungen, die er in seiner langjährigen Praxis gemacht hat, und lässt
in dem Autor einen Mann erkennen, der ein richtiges Urtheil mit
reichem Wissen verband.
Dem 7. Jahrhundert gehört das von Paulus aus Aegina mit
grosser Selbstständigkeit verfasste Compendium der gesammten Heil-
kunde an, welches namentlich in seinen chirurgischen Abschnitten von
hohem Werth ist, weil darin die operativen Leistungen der Chirurgen
jener Zeit ausführlich geschildert werden.2
Die medicinischen Schriften der Byzantiner trugen fast ohne Aus-
nahme den Stempel der Oberflächlichkeit und bestanden, wie die Werke
des Meletius, Theophanes Nonnus, Simon Seth, Niketas, Deme-
trius Pepagomenus, Nicolaus Myrepsus u. A. zum grossen Theile
in kritiklosen Compilationen und Keceptsammlungen. Daneben ent-
wickelte sich eine encyklopädische Richtung, welche in Photius, Michael
Psellus u. A. ihre Vertreter fand und auch in den Origines des Bi-
schofs Isidor von Sevilla und den Elementa philosophiae des Mönchs
Beda zum Ausdruck kam.
Die Encyklopädisten durcheilten im Fluge alle Wissenschaften,
sprachen von Gott und der Welt, von Himmel und Erde, begannen
mit der Theologie und schlössen mit der Kochkunst. Auch die Medicin
zogen sie in den Kreis ihrer Betrachtung; doch lieferten sie selten
mehr als ein Verzeichniss von Namen für Dinge, die sie selbst nur
sehr wenig kannten.
Einen würdigen Abschluss erhielt die Medicin der Byzantiner durch
Johannes Actuarius, dessen Schriften über den Harn und über die
Physiologie und Pathologie der Seele sich nach Inhalt und Form den
besten literarischen Leistungen der Griechen anschlössen. 3 „Dem letzten
Aufflackern einer ersterbenden Lichtflamme gleich", wie Haeser sagt,
erschien er, kurz bevor die Türken den ruhmreichen Namen der Griechen
für Jahrhunderte auslöschten aus der Geschichte der Völker.
Wenn man die geistige Thätigkeit jener Periode überblickt, so darf
1 Th. Püschmann: Alexander von Tralles, Originaltext und Übersetzung,
Wien 1878/79, 2 Bde. Auf S. 108—286 der Einleitung dazu findet man eine
Darstellung der wissenschaftlichen Leistungen und Verdienste des Alexander
Trallianus.
2 F. Adams: The seven books of Paulus Aegineta, London 1844 — 47.
3 J. L. Ideler: Physici et medici Graeci minores, Berlin 1841/42, I,
p. 312—386. II, 1—193. 353—463.
Püschmann, Unterricht. 9
130 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
man sich nicht über die Armuth an origineller Produktion verwundern.
Dagegen muss man mit Eecht erstaunen, dass trotz des schweren
Druckes, der auf den Gemüthern der Menschen lastete, trotz der ent-
setzlichen Zerrüttung aller Verhältnisse überhaupt noch Muth und
Kraft zum selbstständigen geistigen Schaffen vorhanden war.
Wie Wüstenpflanzen, welche der Dürre des Lebens trotzen, mussten
sich die wissenschaftlichen Leistungen dieser Zeit ihr Dasein mit schweren
Mühen erkämpfen. Man darf von ihnen nicht verlangen, dass sie die
starre Öde in üppige Fruchtbarkeit verwandeln, sondern muss ihnen
dankbar sein, wenn sie das Auge des ermüdeten Wanderers durch ein
grünes Blatt der Hoffnung erfreuen.
Die arabische Cultur.
Als die an ein unstätes Wanderleben, an beständige Kriegs- und
Beutezüge gewöhnten semitischen Horden der arabischen Halbinsel aus-
zogen, um die Welt zu erobern, lagen ihnen die Interessen für Kunst
und Wissenschaft fern. Sie wussten davon nur, was sie eine flüchtige
Berührung mit den benachbarten Völkern gelehrt hatte.
Die arabische Literatur bestand aus wenig mehr als aus einigen
Heldengedichten, in denen „die Liebe zur Heimath, die Begierde nach
Ruhm, die Tapferkeit, und unversöhnliche Rachelust, gemildert durch
Liebestrauer, Wohlthätigkeit und Aufopferung", wie Goethe1 schreibt,
besungen wurden. Der Koran, „dessen zerstreute, auf Palmblätter,
Lederstücke, flache Knochen und anderes rohes Schreibmaterial gekritzelte
oder gar nur dem Gedächtniss der Gläubigen anvertraute Suren erst
Abu Bekr sammeln und Othman in die noch bestehende Ordnung
bringen liess",2 legte eigentlich erst den Grund zu einer arabischen
Schriftsprache. Da der Koran das religiöse und bürgerliche Gesetzbuch
der Anhänger des Islams war, so wurde er überall, wo die Lehre Mo-
hammeds Gläubige fand, gelesen und verbreitet. Mit ihm zog auch
die arabische Sprache von Land zu Land; ihm verdankte sie es, dass
sie zur Sprache des religiösen Cultus des Islams und dadurch zum
einigenden Bande für alle Völker, welche dem gleichen Glauben hul-
digten, gemacht wurde.
1 Goethe: Noten und Abhandlungen zum west-östlichen Divan.
2 E. Meyer a. a. 0. III, S. 90.
Die arabische Cultur. 131
Dieser Umstand sowohl als die Pflege und Ausbildung, welche sie
in Folge dessen erfuhr, erklären es, dass sie die Sprache der Gebildeten,
der Gelehrten wurde. Sie gewann für die mohammedanische Welt
dieselbe Bedeutung, welche die lateinische Sprache für das christliche
Mittelalter hatte.
Allmälig wuchs aus ihr eine reiche Literatur, eine blühende Cultur
hervor, deren Gebiet wie ein breiter Gürtel fast die Hälfte der damals
bekannten Erde umfasste. Indier im Osten, Gothen in Spanien, Ar-
menier und Tartaren am kaspischen und Äthiopier am Ausgange des
rofchen Meeres, nahmen mit der Religion auch die Sprache der Araber
an. Allerdings behielten diese verschiedenen Nationen für den volks-
tümlichen Verkehr ihre eigene Sprache bei, und ausnahmsweise lie-
ferte auch diese einmal ein literarisches Produkt, das sich indessen nur
durch die Form der Buchstaben von der arabischen Literatur unter-
schied, in seinem Inhalt aber den gleichen Geist, die gleiche Denkweise
athmete.
Das arabische Volk hat zu Dem? was wir die arabische Cultur
nennen, vielleicht nur wenig beigetragen. Die Wurzeln derselben sind
bei den Persern, den Griechen Kleinasiens und Alexandrias und in
Indien zu suchen; an ihrer Entwickelung betheiligten sich fast alle den
Arabern unterworfenen Völker von den Säulen des Herkules im Westen
bis zu dem Meere der Finsterniss im fernen Osten, wie die Araber den
indischen Ocean nannten.
Während der ersten Decennien ihres weltgeschichtlichen Auftretens
waren sie mit Thronstreitigkeiten und Eroberungskriegen so sehr be-
schäftigt, dass sie für die Künste des Friedens nur wenig Müsse fanden.
Es waren „die Tage der Unwissenheit". Bekannt ist die von Abulfarag1
berichtete Anekdote, dass Omar, als er nach der Einnahme Alexandrias
gefragt wurde, was mit den vielen Büchern geschehen solle, die sich
dort befanden, geantwortet habe: „Entweder enthalten diese Schriften
Das, was im Koran steht, und dann sind sie überflüssig; oder sie ent-
halten andere Dinge, dann sind sie schädlich. In beiden Fällen müssen
sie vertilgt werden." Mögen dieser Erzählung auch keine Thatsachen
zu Grunde liegen, mögen die berühmten Bibliotheken der Ptolemäer
schon früher, wie es historisch feststeht, grösstentheils dem Feuer und
der Zerstörungswuth eines fanatisirten Christenpöbels zum Opfer ge-
fallen sein, immerhin kennzeichnet sich darin der Geist, welcher die
ersten arabischen Eroberer beseelte.
1 Abulfaragius : Hist. dynast. ed. Pococke, Oxon. 1672, p. 114. — v. Hammer-
Pürgstall: Literaturgeschichte der Araber, Wien 1850, Bd. I, Einl. S. XXX VIII.
132 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Erst als die politische Herrschaft der Araber gesichert war, erst
unter der Dynastie der Ommajaden, zeigten sich höhere geistige Be-
strebungen. Der Khalif Muawija, welcher seine Residenz in Damaskus
aufschlug, gründete dort Schulen, Bibliotheken und Sternwarten. Er
liess ausländische Gelehrte, namentlich Griechen, an seinen Hof kommen
und übertrug ihnen die Ausführung wichtiger Arbeiten; sogar die
Moscheen wurden unter der Leitung griechischer Architekten und
Künstler erbaut.
Die griechische Geistesbildung gelangte theils von Alexandria aus,
theils durch die Vermittelung der Syrer und über Persien zu den
Arabern. Auch die Medicin wählte diese Wege.
In Alexandria bestanden im 7. Jahrhundert mehrere ärztliche
Schulen, in welchen der Unterricht nach Galen's Werken ertheilt
wurde.1 Unter den dortigen Lehrern der Heilkunde befand sich Al-
kin ani, ein christlicher Arzt arabischer Abstammung, welcher sich
später zum Islam bekehrte. Er scheint wesentlich dazu beigetragen zu
haben, dass die medicinischen Studien und der ärztliche Unterricht
von Alexandria nach Antiochien und Harran verpflanzt wurden.2 Um
dieselbe Zeit lebte der Grieche Theodocus, der als Leibarzt des Hed-
schadsch, des blutgierigen Statthalters von Irak, eine einflussreiche Stel-
lung einnahm, als mediciniseher Schriftsteller durch seine vortrefflichen
diätetischen Vorschriften Beifall erntete und als Lehrer der Heilkunde
mehrere Schüler, wie z. B. den Fokat Ben Schannatha, einen Israe-
liten, zu berühmten Ärzten heranbildete.3 Der Prinz Chalid Ben Jazid,
welcher von Marianus, einem christlichen Mönch, der vorher wahr-
scheinlich als Lehrer an der medicinischen Schule zu Alexandria ge-
wirkt hatte, in der Heilkunde unterrichtet wurde, liess sich vom älteren
Stephanus, einem Griechen aus Alexandria, medicinische, alchymistische
und astronomische Werke aus dem Griechischen ins Arabische über-
setzen. Dies waren, wie der Verfasser des Fihrist sagt, die ersten
Übersetzungen aus einer fremden Sprache, welche unter der Herrschaft
des Islams angefertigt wurden.
In Kleinasien, wo der Hellenismus schon seit der Zeit des grossen
Alexander von Macedonien einen massgebenden Einfluss besass, den er
auch unter den politischen Wechselfällen der römischen Periode zu
behaupten wusste, hatte die griechische Literatur viele Freunde und
Verehrer gefunden. Gelehrte Nestorianer, welche an der Schule zu
1 L. Leclerc: Histöire de la medecine Arabe, Paris 1876, I, p. 38 u. ff.
2 v. Hammer-Pürgstall a. a. 0. Bd. II, S. 194. — Freind: Hist. medicinae,
Venet. 1735, p. 89.
8 Leclerc a. a. 0. I, p. 82.
Die arabische Gultur. 133
Edessa die Lehrthätigkeit ausübten, übersetzten die Schriften des Ari-
stoteles aus dem Griechischen ins Syrische. l Schon früher hatte man
syrische Übersetzungen des neuen Testaments und anderer theologischer
Werke angefertigt. Die Nestorianer setzten diese verdienstvolle Thätig-
keit auch fort, als sie in Persien Unterrichtsanstalten gründeten und
an der Schule zu Gondisapur eine erfolgreiche Wirksamkeit entfalteten.
Übrigens waren sie nicht die Einzigen, welche derartige Arbeiten unter-
nahmen.
Auch die Mitglieder anderer Religionsgenossenschaften und Sekten
erwarben sich auf diesem Gebiet Verdienste. Mehrere Jakobiten machten
sich ebenfalls als Übersetzer bekannt,2 unter ihnen namentlich Sergius,
welcher am Hofe Kesra Nuschirwans lebte. Er war der Freund des
griechischen Geschichtsschreibers Agathias, mit der griechischen Sprache
ebenso vertraut als mit der syrischen, durch Gelehrsamkeit ausgezeichnet
und der beste Übersetzer seiner Zeit.3 Von ihm wurden mehrere me-
dicinische Werke, denen er, da er Arzt war, sein besonderes Interesse
widmete, aus dem Griechischen ins Syrische übertragen, z. B. einzelne
Schriften des Hippokrates; ferner schrieb er Erklärungen zu Ari-
stoteles und ergänzte das medicinische Compendium des Alexandrin i-
schen Arztes Ahron.4
Die zahlreichen jüdischen Gelehrten, welche sich in Syrien und
Persien niedergelassen hatten, vermittelten nicht blos die Bekanntschaft
mit der hebräischen Cultur, sondern dürften auch zur Verbreitung der
griechischen Literatur, besonders auf dem Gebiet der Medicin, beige-
tragen haben. Das Unterrichtswesen der Juden war vortrefflich orga-
nisirt, und ihre Hochschulen zu Tiberias in Palästina, zu Sepphoris und
Nisibis in Syrien und zu Sura und Pumbeditha in Persien erlangten
grossen Ruf.5
Durch die Übertragung griechischer Werke in die syrische, he-
bräische oder persische Sprache wurde den Arabern das Studium der-
selben näher gerückt. Die verwandtschaftlichen Beziehungen dieser
Sprachen zur eigenen erleichterten ihnen die Übersetzung der Schriften
ins Arabische.
Unter den Abbasiden wurde diese Thätigkeit in systematischer
Weise betrieben und geleitet. Schon AI Mansur, der zweite Khalif aus
1 J. G. Wenrich: De auctorum Graecorum versionibus et commentariis
Syriacis Arabicis Armeniacis Persicisque commentatio, Lips. 1842, p. 8.
2 Wenrich a. a. 0. p. 11.
3 Agathias: Histor. IV, c. 30. — Assemani a. a. 0. T. II, p. 315. 323. —
Abülfarag a. a. 0. p. 94. 172.
4 Wenrich a. a. O. Index XXXV 5 Cramer a. a. 0. I, S. 109 u. ff.
134 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
diesem Herrschergeschlecht, der Gründer der neuen Hauptstadt Bagdad,
beauftragte, wie Ibn Abu Oseibia berichtet, seinen Leibarzt Georg
Bachtischua damit, medicinische Werke der Griechen ins Arabische
zu übersetzen. 1 Nach Hadji Khalea's Angabe soll er Gesandte nach
Konstantinopel geschickt haben, um von dort die Schriften Euklids und
naturwissenschaftliche Werke zu holen.
Einer seiner Nachfolger, der von der Sage gefeierte Harun al
Raschid, der Zeitgenosse des fränkischen Kaisers Karl des Grossen, mit
dem er auch im Verkehr stand, stellte nach der Niederlage des byzan-
tinischen Kaisers Nicephorus die Friedensbedingung, dass ihm Hand-
schriften griechischer Meisterwerke ausgeliefert würden. Auch die
Schätze dieser Art, welche ihm in Ankyra und anderen griechischen
Städten, sowie auf der Insel Cypern in die Hände fielen, waren ihm
eine willkommene Kriegsbeute. Er befahl, dass dieselben in die arabische
Sprache übertragen würden. Dabei stand ihm einer seiner Ärzte,
Johannes Mesue (Maseweih), ein syrischer Christ, welcher unter AI
Mamun eine hervorragende Stellung erlangte, mit Rath und That
zur Seite.
Dieser Fürst errichtete ein Übersetzungs-Institut, in welchem Werke
aus fremden Sprachen ins Arabische übertragen wurden. „Zu diesem
Zweck versammelte er", wie Leo Aeeicanus schreibt,2 „eine grosse
Menge Gelehrter, welche verschiedene Sprachen kannten, und erkundigte
sich nach den Schriftstellern und Schriften in griechischer, persischer,
chaldäischer und ägyptischer Sprache, deren ihm viele genannt wurden.
Darauf sandte er viele seiner Diener nach Syrien, Armenien und
Ägypten, um die bezeichneten Bücher zu kaufen, und sie brachten un-
endliche Lasten derselben zusammen. Nun liess AI Mamun die nütz-
lichen Bücher, welche die Medicin, Physik, Astronomie, Musik, Kosmo-
graphie und Chronologie betrafen, aussondern, und machte zum Vorsteher
der Übersetzer aus dem Griechischen Johannes, Sohn des Mesue, weil
damals die griechischen Studien unter den Christen blühten. Viele
Andere wurden demselben untergeordnet. Für die persische Literatur
bestellte er den Mahan und den so eben genannten Mesue. Diese
und viele andere Gelehrte übersetzten die Medicin des Galen und
darauf sämmtliche Werke des Akistoteles."
Von den byzantinischen Kaisern erbat sich AI Mamun eine Anzahl
griechischer Handschriften, wobei ihm der gelehrte Photius, welcher
1 Wenrich a. a. 0. p. 13. — Leclerc a. a. 0. I, p. 124 u. ft.
2 Leo Africanüs in Fabricius Bibl. Graeca, Hamburg 1726, XIII, p. 261.
— Meyer a. a. 0. III, 115.
Die arabische Oultur. 135
eine Zeitlang am Hofe zu Bagdad lebte, als Vermittler diente. Auch
indische Werke, wie die Schrift Chanaks über die Gifte und der Ayur-
veda des Susruta und des Charaka, wurden übersetzt und zwar, wie
es scheint, zunächst ins Persische und dann ins Arabische. Die in-
dischen Ärzte Mankah, Saleh Ben Baleh u. A., welche sich in Bagdad
niedergelassen hatten, leisteten dabei wesentliche Dienste.1 Ebenso
fanden auch einzelne Produkte der chaldäischen Literatur den Weg zu
den Arabern.
Diese Übersetzungs- Anstalt blieb auch unter den Nachfolgern AI
Mamuns bestehen; unter den Gelehrten, welche an derselben ange-
stellt waren, hat sich namentlich Honein (Johannitius), welcher die
wichtigsten medicinischen Autoren der Griechen übersetzte, bekannt
gemacht.
Auf diesen Grundlagen entwickelte sich allmälig eine selbstständige
medicinische Literatur. Die Anfänge derselben reichen bis in das
9. Jahrhundert zurück; ihre Blüthe erlebte sie aber erst im 11. Jahr-
hundert.
Der Aufschwung der arabischen Cultur wurde ausserordentlich
begünstigt durch den Zerfall des Reiches in mehrere unabhängige
Staaten. Die Fürstensitze der Samaniden in Bochara, und der Ghas-
nawiden in Ghasna, der Buiden in Persien, der Hamadaniden in Meso-
potamien und Syrien, der Edrisiden in Magreb, der Aglabiten in Quai-
ruan und der Fathimiden in Ägypten bildeten oft Krystallisationspunkte
für künstlerische und wissenschaftliche Bestrebungen. Den wirksamsten
Schutz aber fanden dieselben bei den Ommajaden in Spanien, welche
dort nach ihrer Vertreibung aus der Heimath um die Mitte des 8. Jahr-
hunderts zur Herrschaft gelangten.
Abderrahman, der erste Fürst dieses Hauses, vergrösserte seine
Residenz Cordova und verschönte sie durch Bauwerke, deren Reste noch
jetzt die Bewunderung hervorrufen. Er pflanzte dort die erste Palme:
ein Ereigniss, welches er durch eine Elegie verherrlicht hat, in der er
der Sehnsucht nach dem fernen Bagdad ergreifenden Ausdruck gab.2
Die glänzende Periode der arabischen Herrschaft in Spanien be-
gann mit Abderrahman III. Er Hess grossartige Bauten aufführen,
Wasserleitungen und Landstrassen anlegen und Gelehrte aus dem Morgen-
lande nach Spanien kommen. Die Gelehrten standen an seinem Hofe
1 Zu Mohammeds Zeit bestand in Sanaa im südlichen Arabien eine be-
rühmte medicinische Schule, deren Vorstand, Härit Ben Kaldah, in Indien seine
Kenntnisse gesammelt hatte, wie Lassen (Indische Alterth. II, 519) erzählt.
2 v. Hammer-Pürgstall a. a. 0. III, 31. — Meyer a. a. 0. III, 126.
136 Der medieini-sche Unterricht im Mittelalter.
in grosser Achtung und hielten, nach Fachwissenschaften gesondert,
Berathungen.
Noch grössere Aufmerksamkeit widmete sein Nachfolger Hakim IL
den~ wissenschaftlichen Bestrebungen. Er war selbst ein Gelehrter und
nahm persönlich Antheil an den schwebenden Streitfragen. Überall
liess er seltene Bücher aufkaufen, die er durchstudierte und mit An-
merkungen versah. Seine Bibliothek soll 600,000 Bände enthalten, der
Katalog derselben allein 44 Bände gefüllt haben. Er gründete in
Cordova eine Art von Akademie, deren Mitglieder mit Specialforschungen
über die Geschichte des Landes, über Literaturgeschichte und Natur-
wissenschaften beauftragt wurden.1
Wenn die Wissenschaften unter solchen Verhältnissen gediehen,
so verdankten sie dies zum grossen Theile allerdings der wohlwollenden
Förderung, die ihnen von den regierenden Herren zu Theil wurde;
aber die Erinnerungen, welche die römische Cultur in Spanien zurück-
gelassen hatte, die Pflege der letzteren durch die westgothischen Er-
oberer, die Niederlassung strebsamer und unternehmungslustiger Juden,
welche überall Schulen errichteten und Bildung verbreiteten, und die
glückliche Verschmelzung des semitischen Charakters mit den roma-
nischen und germanischen Elementen übten ebenfalls beachtenswerthen
Einfluss darauf aus.
So kam es, dass sich zu einer Zeit, in welcher das übrige Europa
in Unwissenheit, Aberglauben und Sittenrohheit versunken war, auf
der spanischen Halbinsel ein reiches, auf allen Gebieten intellektueller
Thätigkeit fruchtbares Geistesleben entfaltete. Im 12. Jahrhundert
besass Spanien 70 öffentliche Bibliotheken und 17 höhere Lehranstalten.
150 Schriftsteller nannten Cordova, 52 Almeria, 61 Murcia und 53 Ma-
laga ihre Heimath.2
Die Leistungen der Araber in der Mathematik, 3 Physik, * besonders
in der Mechanik und Optik, ferner in der Chemie,5 Astronomie6 und
Geographie7 sind bekannt. Sie waren es, welche die Messungen und
das Experiment in die Naturforschung einführten. Alhazens vortreff-
1 Vergl. R. Dozy: Geschichte der Mauren in Spanien, deutsche Übers.,
Leipzig 1874, II, S. 68 u. ff.
2 Mich. Casiri: Bibl. Arab. Hisp. Escur., Madrid 1760, T. II, p. 71.
3 M. Cantor: Geschichte der Mathematik, Leipzig 1880, I, S. 593 u. ff.
4 J. C. Po<;gendorff: Geschichte der Physik, Leipzig 1879, S. 56 u. ff.
5 H. Kopp: Geschichte der Chemie, Braunschweig 1843, I. S. 51 u. ff.
6 W. Whewell: Geschichte der inductiven Wissenschaften, übersetzt von
Littrow, Stuttgart 1840, Bd. I, S. 184 u. ff.
7 0. Peschel: Geschichte der Erdkunde, München 1877, S. 104 u. ff.
Medicin. Wissenschaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 137
liehe Arbeiten über die Strahlenbrechung bereiteten das Verständniss
der Physiologie des Sehens vor, und Geber wurde der Begründer der
wissenschaftlichen Chemie. x
Medicinische Wissenschaft und medicinischer
Unterricht bei den Arabern.
Die Medicin erfreute sich schon in der frühesten Periode des Is-
lams, wie Abulfarag sagt,2 einer eifrigen Pflege. Gleichwohl haben
die Araber auf diesem Gebiet nur geringe Fortschritte und keine Ent-
deckungen von bahnbrechender Bedeutung gemacht. Es lag dies haupt-
sächlich an der unselbstständigen Entwickelung, welche die Heilkunde
gleich anderen Wissenschaften bei ihnen nahm.
Daraus entsprang auch jener unbegrenzte Autoritätsglaube, der
sie abhielt, die Richtigkeit der übernommenen Wissensresultate zu
prüfen, und ihnen den Muth raubte zu selbstständigen Forschungen.
Dazu kamen sociale und religiöse Vorurtheile, die jeden Versuch, der
in dieser Richtung unternommen wurde, im Keime erstickten.
Die Anatomie und Physiologie blieb daher im Wesentlichen auf
dem GALEN'schen Standpunkt. Da die Sektionen menschlicher Leichen
durch den religiösen Glauben der Mohammedaner verboten wurden, so
war an eine Vermehrung der anatomischen Kenntnisse nicht zu denken.
Zufällige Beobachtungen, wie sie Abdel-Letif bei Gelegenheit einer
Epidemie in Ägypten machte, wo es ihm gelang, durch die Unter-
suchung der Schädel der Gestorbenen mehrere Irrthümer Galen's in
der Osteologie zu berichtigen,3 bildeten eine Ausnahme. Im Allge-
meinen beschränkte sich die anatomische Literatur auf Auszüge und
kurze Compendien, die sich auf die Schriften Galen's stützten.
Ebenso sklavisch folgte man den physiologischen Theorien desselben.
Selbst die vielversprechenden Ergebnisse, welche die Physik und Chemie
auf dem Wege des Experiments erzielten, änderten daran nur wenig.
Man war nicht im Stande, dieselben vollständig für die Physiologie
des Menschen zu verwerthen, und gelangte nicht dahin, auch hier diese
Methode der Forschung anzuwenden.
1 H. Kopp: Beiträge zur Geschichte der Chemie, Braunschweig 1875, III,
S. 13 u. ff.
2 Abulfarag a. a. 0. p, 160. — Vergl. auch A. Sprenger: De origin. med.
arab., Lugd.-Batav. 1840, p. 6.
3 Abdollatiphii Hist. Aegypt. ed. White, Oxon. 1800, p. 277.
138 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Grössere Selbstständigkeit bekundeten die Araber in der praktischen
Heilkunde. Ihre zahlreichen Schriften über diesen Gegenstand sind
allerdings ebenfalls abhängig von den Werken der Alten und bestehen
grösstentheils aus Auszügen, Umarbeitungen oder Übersetzungen der-
selben; aber hier und dort findet sich doch auch eine eigene Beob-
achtung, eine selbstständige Erfahrung, welche zeigt, dass der Verfasser
das wissenschaftliche Material beherrschte und zu vermehren im Stande
war. Die wissenschaftlichen Leistungen eines Rhazes, Ali Abbas,
Abulkasem, Avicenna, Avenzoar, Aveeroes, Maimonides, Ibn El-
Beithar, Oseibia u. A.1 nehmen einen ehrenvollen Platz ein in der
Geschichte der medicinischen Wissenschaft und verdienen umsomehr
Anerkennung, als sie in eine Zeit fielen, in welcher die Entwicklung
derselben nirgends Fortschritte machte.
Die arabischen Ärzte widmeten der Untersuchung des kranken
Körpers grosse Sorgfalt. Sie zogen dabei zwar sämmtliche Krankheits-
erscheinungen in Betracht; aber den meisten Werth legten sie auf die
Form des Pulses und die Eigenschaften des Harns. In der Prognostik
erlangten sie eine bemerkenswerthe Geschicklichkeit. Der Diätetik zollten
sie gebührende Anerkennung2 und den Arzneischatz vermehrten sie
durch eine grosse Anzahl von Heilmitteln.
Sie waren eifrig bemüht, die Ursachen der Erkrankungen zu er-
forschen, und erzielten auch darin einige Erfolge. Avenzoar deutete
bereits auf die Krätzmilbe hin und hob deren Beziehungen zur Ent-
stehung der Scabies hervor.3 Abulkasem hinterliess eine vortreffliche
Beschreibung des Medina -Wurms und der dadurch hervorgerufenen
Krankheitszustände. 4
Die specielle Pathologie verdankte den arabischen Ärzten manche
Förderung; sie gaben über die Ursachen und den Charakter einzelner
Krankheiten, z. B. der schweren Pestepidemien, der Pocken, Morbillen
und anderer exanthematischer Leiden,5 der Schwindsucht,6 des Gesichts-
schmerzes7 u. a. m. werthvolle Aufschlüsse.
1 F. Wüstenfeld: Gesch. der Arab. Ärzte u. Naturforscher, Göttingen 1840.
2 Vergl. El-Anteri's treffliche Verse bei v. Hammer-Purustall a. a. 0.
Bd. VIT, S. 499.
8 Raspail: Memoire sur l'histoire naturelle de l'insecte de la gale im Bull,
gen. de therap., Paris 1834, T. VII, p. 169. — F. Hebra (Acute Exantheme u.
Hautkrankheiten in Virchow's Handbuch, Bd. III, S. 413, Erlangen 1860) glaubte
nicht, dass Avenzoar die Krätzmilbe kannte.
4 Abulkasem: Chirurgie II, 93, Edit. Leclerc, Paris 1861, p. 230.
5 Rhazes: De variolis et morbillis, Edit. Channing, London 1766.
6 Waldenburg: Die Tuberkulose, Berlin 1869, S. 25.
7 Avicenna: Canon ITT, fen. 1, tract. 1, c. 12.
Medicin. Wissenschaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 139
Dagegen machte die operative Chirurgie bei den Arabern offenbare
Rückschritte. Die Vernachlässigung der Anatomie und die den Orien-
talen eigentümliche Scheu vor blutigen Eingriffen in den menschlichen
Organismus trugen die Schuld daran. An die Stelle des Messers traten
die Ätzmittel und das Glüheisen. Wo die Chirurgen früher schnitten,
waren sie jetzt genöthigt zu ätzen und zu brennen. Schon Abulkasem
beklagte den Verfall der Chirurgie. „Die Operationskunst," schreibt er,
„ist bei uns verschwunden, fast ohne irgend welche Spuren zu hinter-
lassen. Nur in den Schriften der Alten findet man noch einige Hin-
weise darauf; aber auch sie sind durch schlechte Übersetzungen, durch
Irrthümer und Verwechselungen nahezu unverständlich und unbrauch-
bar geworden."1
Bei dieser Gelegenheit berichtet er mehrere Erlebnisse aus der
Praxis, welche ein grelles Licht auf die Unwissenheit seiner chirurgischen
Collegen werfen. Die Cauterien bildeten das gebräuchlichste und wich-
tigste Handwerkszeug des Wundarztes. Das Glüheisen wurde neben
der Compression, der Kälte und der Ligatur zur Stillung der Blutungen
empfohlen;2 es wurde bei einer Menge von Leiden angewendet, z. B.
bei Lähmungen, 3 bei Wunden und Fisteln, 4 bei Gangraen, 5 beim Krebs
und anderen Neubildungen,6 bei der Lepra, 7 zur Eröffnung der Leber-
Abcesse,8 bei der cariösen Hüftgelenkentzündung und der Spondylar-
throcace der Kinder9 u. a, m.
Die chirurgische Pyrotechnik wurde von den arabischen Ärzten zu
einer hohen Stufe der Entwickelung geführt. Ein grosser Theil der
151 chirurgischen Instrumente, deren Abbildungen den Handschriften
des Abulkasem beigegeben sind, diente diesem Zweck.
Die chirurgische Operationskunst trat der Pyrotechnik gegenüber
in den Hintergrund und vermochte nicht jenen Grad der Vollendung,
den sie unter den Wundärzten der römischen Kaiserzeit erreicht hatte,
zu behaupten. Die Amputation wagte man nur am Vorderarm oder
am Unterschenkel und höchstens in dem zunächst gelegenen Ellen-
bogen- oder Knie-Gelenk, niemals aber am Oberarm und am Ober-
schenkel auszuführen. 10 Die Haut wurde dabei oberhalb und unterhalb
der Stelle, an welcher eingeschnitten werden sollte, durch Binden fixirt
1 Abulkasem: Introd. a. a. 0. p. 1. 2 Abulkasem I, 56 a. a. 0. p. 56.
3 Abulkasem a. a. 0. I, 6, 9, p. 17. 19.
4 Abulkasem a. a. 0. I, 17, 19, 36, p. 25. 27. 38.
:' Abulkasem a. a. 0. I, 52, p. 54.
6 Abulkasem a. a. 0. I, 50, 53, p. 53. 54.
7 Abulkasem a. a. 0. I, 47, p. 50. 8 Abulkasem a. a. 0. I, 28, p. 33.
9 Abulkasem a. a. 0. I, 43, p. 46. 10 Abulkasem a. a. O. II, 89, p. 219.
140 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter.
und vor dem Beginn der Operation nach oben gezogen, um einen mög-
lichst grossen Hautlappen zur Bedeckung des Stumpfes zu gewinnen.
Die bei der Amputation auftretenden Blutungen stillte Abülkasem
durch styptische Mittel und durch Cauterien; von der Unterbindung
der Gefässe sagt er in seiner Beschreibung dieser Operation kein Wort.
An einer anderen Stelle erzählt derselbe, dass er bei einem Kranken
einen Theil der nekrotischen Tibia resecirt habe.1
Die Tracheotomie wurde zu seiner Zeit nicht mehr ausgeführt.
Er kannte dieselbe nur aus den Berichten der Alten , hielt sie aber
für angezeigt in Fällen, in denen durch Neubildungen die Gefahr einer
Erstickung drohte.2 Avenzoak unternahm die Operation, wie er an-
giebt, an einer Ziege, um die Folgen derselben kennen zu lernen.3
Der Steinschnitt wurde von Abülkasem beschrieben, welcher dabei
auch der Lithothrjpsie gedachte.4 Moses Maimonldes verbesserte die
Methode der Beschneidung, welche auch von den Arabern ausgeübt
wurde, und führte verschiedene Vorsichtsmassregeln ein, welche bei
dieser Operation zu beachten sind.5
In der Behandlung der Knochen-Frakturen und Verrenkungen,
welche Abülkasem in seinem dritten Buche besprach, folgte man den
bewährten Grundsätzen der Ärzte des Alterthums. 6 Erwähnung ver-
dient nur, dass Avicenna die Einrichtung des luxirten Humerus durch
direkten Druck, d. i. die direkte Reposition, empfohlen hat.7
Der graue Staar wurde durch Depression der Linse beseitigt.8
Die Extraktion hielt man, wenn nicht für unmöglich, so doch für sehr
gefährlich.9 Abülkasem gedenkt, wie schon Rhazes vor ihm, auch
der Heilung des Staares durch Suction und bemerkt dabei, dass dieses
Verfahren in Persien geübt wurde. 10 Ebenso erwähnt auch der Augen-
arzt Isa Ben Ali diese Operations- Methode ; ein Manuscript seines
Werkes giebt am Rande eine Zeichnung der Hohlnadel, welche dabei
1 Abülkasem a. a. O. II, 88, p. 216.
2 Abülkasem a. a. 0. II, 43, p. 120.
3 Avenzoak, : Altheisir., Lib. I, Tr. X, c. 14, Venet. 1542.
4 Abülkasem II, 60 a. a. 0. p. 151 u. ff.
5 J. B. Friedreich: Zur Bibel, Nürnberg 1848, II, S. 46 u. ff. — H. Ploss:
Geschichtliches und Ethnologisches über Knabenbeschneidung im Deutschen Arch.
f. Gesch. d. Med., Leipzig 1885, VIII, S. 324 u. ff'.
6 Abülkasem III a. a. 0. p. 270—342.
7 Avicenna: Canon IV, fen. 5, tract. 1, c. 11. 14.
8 Abülkasem II, 23 a. a. 0. p. 91 u. ff.
9 Avenzoar: Altheisir., Lib. I, tract. 8, c. 19. — Avh enna a. a. 0. III, 3,
tract. 4, c. 20.
10 Abülkasem II, 23 a. a. 0. p. 93.
Medicin. Wissenschaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 141
gebraucht wurde.1 Canamusali, welcher diese Operation mehrmals
ausführte, schickte derselben eine Incision in die Cornea voraus, damit
die Hohlnadel leichter eingeführt werden konnte.2
Die Geburtshilfe war Sache der Hebammen, welche nicht blos die
bei normalen Entbindungen erforderliche Hilfe leisteten, sondern sogar
die geburtshilflichen Operationen unternahmen. Die durch die socialen
Zustände bedingte strenge Absperrung der Frauen hinderte die Ärzte,
sich mit diesem Gegenstande praktisch zu beschäftigen. Sie hatten
dazu wohl nur ausnahmsweise Gelegenheit;3 in ihren Schriften befassten
sie sich hauptsächlich damit, den Hebammen Medicamente zu em-
pfehlen, welche sie bei den hilfesuchenden Frauen anwenden sollten,
und Kathschläge für die Ausführung einzelner Operationen zu ertheilen. 4
Unter den von Abulkasem angegebenen Instrumenten, welche zur
Herausbeförderung abgestorbener Früchte dienten, findet sich ein Dila-
tatorium, welches einige Ähnlichkeit mit der Geburtszange hat;5 doch
ist es klar, dass es niemals, wie schon Muldee bemerkte, zur Ex-
traktion lebender Kinder verwendet worden ist.6 Eine andere Zeich-
nung zeigt die Form des Kranioklasten und wurde auch zum gleichen
Zweck gebraucht.7
Eine erfreuliche Erscheinung ist das rege Interesse, welches die
arabischen Ärzte der Geschichte ihrer Wissenschaft widmeten. Die
Werke des Ibn Dscholdschol und Ibn Abu Oseibia8 bilden eine un-
schätzbare, leider noch wenig benutzte Quelle für die medicinische Ge-
schichtsforschung wie für die Culturgeschichte überhaupt. Der histo-
rische Sinn, welcher den Arabern anerzogen wurde, veranlasste sie,
ihre Schriften mit einer Menge von Citaten zu schmücken, durch welche
manche wichtige Thatsache vor der Vergessenheit geschützt wurde.
Welche überraschenden Aufschlüsse über die Culturzustände, besonders
die Medicin, des Alterthums dürfen wir erwarten, wenn einst die lite-
rarischen Schätze der mohammedanischen Musensitze des Orients und
Nordafrikas, wie in Quairuan, der Wissenschaft erschlossen werden! —
Schon in den ersten Zeiten des Islams wurden überall bei den
1 Sichel im Arch. f. Ophthalmol. 1868, Bd. XIV, 3, p. 9.
2 Leclerc a. a. 0. I, p. 535.
3 C. J. v. Siebold: Geschichte der Geburtshilfe, Berlin 1839. I, S. 272, Anm.
4 Siebold a. a. O. I, S. 298 u. ff.
5 Abulkasem II, 76, 77 a. a. 0. p. 180 u. ff. u. Anhang Fin'. 103.
6 J. Muldek: Geschichte der Zangen u. Hebel in der Geburtshilfe, Leipzig
1798, S. 9. — Siebold a. a. 0. I, S. 295, Anm. 1.
7 Abulkasem a. a. 0. Fig. 106.
8 Wüstenfeld a. a. 0. S. 132 u. ff. — Leclerc a. a. 0. II, 187 u. ff.
142 Der medicinische Unterrieht im Mittelalter.
Moscheen Elementarschulen errichtet, in denen die Kinder den Koran
lesen lernten. Daran schloss sich später die Lektüre anderer Schriften,
sowie die Grammatik und der Unterricht im Schreiben. Der Besuch
der Schule begann mit dem 6. Lebensjahre.1
Die Religion lag nicht blos dem niederen, sondern auch dem
höheren Unterricht zu Grunde. Auch die höheren Lehranstalten standen
Anfangs mit den Moscheen in Verbindung. In den Nischen und Gängen
derselben oder in anstossenden Sälen versammelten Gelehrte einen
Kreis wissbegieriger Schüler um sich und hielten Vorträge über theo-
logische, philologische, philosophische, juristische und medicinische
Fragen.
Während der ersten Jahrhunderte durfte Jeder als Lehrer auf-
treten, ohne dass er seine Befähigung dazu nachzuweisen brauchte;
nur von den Lehrern der Theologie und der Jurisprudenz verlangte
man, dass sie über ihre Ausbildung durch einen von der öffentlichen
Meinung anerkannten Lehrer dieser Wissenschaften Rechenschaft gaben.
Manche Lehrer übten neben ihrer Lehrthätigkeit noch einen an-
deren Beruf aus ; sie wirkten als Vorleser und Prediger an den Moscheen,
als Beamte, Richter, Sekretäre, Marktaufseher, ja selbst als Kaufleute
und Handwerker.2 Die Lehrer der Heilkunde waren sicherlich in den
meisten Fällen als praktische Ärzte thätig.
Da die Vorträge unentgeltlich stattfanden, so war es ganz natür-
lich, dass die Lehrer, wenn sie nicht eigenes Vermögen besassen, durch
eine andere Beschäftigung für ihren Lebensunterhalt sorgten. Viele
gaben den Studierenden Kost und Wohnung, um durch die Geschenke
und Gelder, welche sie dafür von ihnen erhielten, einen Beitrag zur
Bestreitung ihrer Ausgaben zu gewinnen. Zuweilen wählten sie sich
aus ihnen auch einen Schwiegersohn aus.3
Die Vorlesungen bestanden entweder in freien Vorträgen oder
wurden aus Heften vorgelesen. Recht witzig bemerkt Samachschaei :
„Der Ruhm des Gelehrten liegt in seinen Heften, wie der Ruhm des
Kaufmanns in seiner Kasse." Die Worte des Lehrers wurden von den
Studierenden nachgeschrieben, und die letzteren setzten sich sogar einer
Rüge aus, wenn sie dies unterliessen. Der Lehrer überzeugte sich
durch Fragen, ob die Schüler den Inhalt seines Vortrages verstanden
hatten. Manchmal folgten darauf Disputatorien, bei denen es gelegent-
1 D, Haneberg: Über das Schul- und Lehrwesen der Muhamedaner im
Mittelalter, München 1850, S. 4 u. ff.
2 F. Wüstenfeld: Die Akademien der Araber und ihre Lehrer, Göttingen
1837, S. 6.
3 Haneberg a. a. 0. S. 31.
Medioin. Wissenschaß u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 143
lieh auch einmal vorkam, dass ein tüchtiger Gelehrter, der sich zu-
fällig unter den Zuhörern befand, dem Lehrer selbst eine Niederlage
bereitete. l
Der Zutritt zu den Vorlesungen war Jedem ohne Unterschied der
Nationalität gestattet. Man sah in den Hörsälen neben Jünglingen,
die kaum dem Knabenalter entwachsen waren, gereifte Männer und
weissbärtige Greise. Manche kamen aus weiter Ferne, um die Ansichten
eines berühmten Lehrers kennen zu lernen. Da in allen dem Islam
unterworfenen Ländern die arabische Sprache beim Unterricht gebraucht
wurde, so war es den Gelehrten der verschiedenen Nationen leicht, sich
mit einander zu verständigen und ihr Wissen zu vermehren oder An-
deren mitzutheilen.
Die durch die religiösen Wallfahrten erweckte Keiselust der Araber
wurde dadurch auch bei den Gelehrten und Studenten gefördert. Auf
ihren Wanderungen von einer Hochschule zur anderen vermittelten sie
den Austausch der geistigen Errungenschaften und trugen auf diese
Weise dazu bei, dass sich die Cultur in allen arabischen Ländern gleich-
massig entwickelte.
Die Studenten Hessen sich oft von ihren Lehrern Zeugnisse über
den Besuch ihrer Vorlesungen ausstellen und schriftlich die Erlaubniss
ertheilen, die Kenntnisse, welche sie dort gewonnen hatten, durch Wort
und Schrift weiter zu verbreiten. Einzelne Lehrer waren in dieser
Hinsicht sehr entgegenkommend. Von einem derselben heisst es in
einer etwas überschwänglichen Weise: „Er bedeckte die Erde mit Zeug-
nissen über Gehörtes und mit Licenzen zum Lehren."2
Manche Schulen und Moscheen besassen grosse Bibliotheken.
QuatremEre hat deren 40 beschrieben, und v. Hammer -Purgstall
lieferte dazu werthvolle Zusätze.3 Die Bücherliebhaberei war übrigens
auch bei Privatleuten sehr verbreitet. Der Arzt Algizar (Irn Dschezzar)
hinterliess, als er i. J. 1009 zu Quairuan starb, eine Bibliothek, welche
25 Centner wog.4
Seit dem 11. Jahrhundert entstanden die Madaris, die man weder
unseren Akademien, wie es Wüsteneeld thut, noch unseren Gymnasien,
wie Meyer vorschlägt, gleichstellen darf. Die meiste Ähnlichkeit haben
sie mit den englischen Colleges. Es waren dem höheren Unterricht
1 Haneberg a. a. 0. S. 12. 2 Haneberg a. a. 0. S. 22.
3 Quatremere: Sur le goüt des livres chez les Orientaux im Joum. asiat,
ser. III, t. VI, p. 35, Paris 1838, u. ser. IV, t. XI, p. 187 u. ff, Paris 1848. —
Leclerc a. a. 0. I, 583 u. ff. — A. v. Kremer: Culturgeschichte des Orients unter
den Khalifen, Wien 1877, II, S. 434.
4 Leclerc a. a. 0. I, 584.
144 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter.
gewidmete Pensionate, in welchen Lehrer und Schüler zusammen
wohnten. Einzelnen standen prachtvolle Gebäude zur Verfügung; alle
waren mit Bibliotheken ausgestattet.
Die berühmtesten Madaris befanden sich zu Bagdad, Basra, Bochara,
Nisabur, Damaskus, Samarkand und Cahira;1 Spanien besass in seiner
Blüthe 17 derartige Anstalten. Wüstenfeld hat deren 37 beschrieben
und dabei über die Lebensumstände der Lehrer, welche an denselben
thätig waren, und ihre literarischen Leistungen ausführliche Mitthei-
lungen gemacht.
Wenn man das reichhaltige Verzeichniss ihrer Schriften durchsieht,
so findet man, dass sie hauptsächlich die Theologie, Rechtskunde, Phi-
losophie und Philologie betreffen; nur wenige handeln über Mathematik.
Astronomie, Chemie, Naturwissenschaften und andere Gegenstände, kein
einziges aber über Medicin. Es scheint darnach, dass diese Anstalten
vorzugsweise der Erlangung einer humanistischen, theologischen und
juridischen Ausbildung dienten, während für den Unterricht in den
Naturwissenschaften und in der Heilkunde andere Institute vorhanden
waren.
Die Gesellschaft der „Brüder der Reinheit", welche im 10. Jahr-
hundert zu Basra entstand, rechnete den Unterricht nicht zu ihren
eigentlichen Aufgaben. Allerdings suchte sie durch Herausgabe theo-
logischer, philosophischer, mathematischer und naturwissenschaftlicher
Abhandlungen Bildung zu verbreiten; aber das Ziel, welches sie dabei
verfolgte, war die Verbindung der Vernunft mit dem Glauben und die
Begründung oder Läuterung des letzteren durch die Wissenschaft.
E. Dieteeici hat ihre Bestrebungen und Leistungen durch eine Reihe
werthvoller Schriften erläutert.
Den Charakter einer Universität zeigte in manchen Beziehungen
das vom Khalifen Hakim Biimrillah i. J. 1105 zu Cahira gegründete
„Haus der Weisheit". Dort wurde neben anderen Wissenschaften auch
die Medicin gelehrt, und unter den reich besoldeten Lehrern, welche
an demselben angestellt waren, befanden sich nicht blos Theologen,
Grammatiker, Philosophen und Rechtskundige, sondern auch Mathema-
tiker, Astronomen und Ärzte. Es war auch Nicht- Mohammedanern,
z. B. Juden und Christen, erlaubt, den Vorträgen, welche hier gehalten
wurden, beizuwohnen und die der Anstalt gehörige Bibliothek, welche
18 Säle füllte, zu benutzen.2
Das Studium der Heilkunde geschah auf verschiedene Arten. Wer
1 Wüstenfeld a. a. 0. S. 6.
2 v. Hammer-Purgstall a. a. 0. Bd. I, Einleit, S. LXIV.
Medicin. Wissenschaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 145
sich dem ärztlichen Beruf widmen wollte, konnte die dazu erforderlichen
fachmännischen Kenntnisse entweder unter der persönlichen Anleitung
eines älteren erfahrenen Arztes, zu welchem er sich in die Lehre begab,
oder in medicinischen Lehranstalten oder in den mit manchen Hospi-
tälern verbundenen ärztlichen Schulen erwerben. Viele mögen alle
drei Methoden verbunden haben, um eine gründliche Ausbildung in
der Heilkunst zu erlangen.
Die medicinischen Vorlesungen, welche in den mit den Moscheen
zusammenhängenden höheren Unterrichts-Instituten und ähnlichen An-
stalten, z. B. in dem Hause der Weisheit, stattfanden, betrafen, wie es
scheint, vorzugsweise theoretische Gegenstände und machten die Schüler
mit der Literatur bekannt, während das praktische ärztliche Wissen
hauptsächlich in den Krankenhäusern erworben wurde.
Nach Maceizi1 gab es in Ägypten schon in der Vor-Islamitischen
Zeit Hospitäler, welche mit Ärzten und Medicamenten versehen waren.
Bei den Mohammedanern dienten die Moschee und die dazu gehörigen
Gebäude häufig als Herberge für arme Fremde oder als Lazareth für
Kranke.
Unter der Herrschaft des Islams wurde das erste Hospital für
Kranke i. J. 707 vom Khalifen El Welid Ben Abd-el-Malik errichtet,
welcher auch dafür sorgte, dass unbemittelte Keisende, wenn sie er-
krankten, ärztliche Hilfe erhielten. „Er stellte in dem Hospital Ärzte
an und bestritt ihre Ausgaben; er befahl, die Aussätzigen einzusperren,
damit sie nicht auf die Strassen gingen, und sorgte für ihre und der
Blinden Bedürfnisse."
Später wurden in allen grösseren Städten Hospitäler und Kranken-
häuser errichtet, welche ihre Entstehung frommen Stiftungen verdankten.
Die meisten derselben dienten zugleich dem medicinischen Unterricht.
Man nahm dabei die Einrichtungen, welche an der medicinischen Schule
zu Gondisapur und den mit Spitälern verbundenen ärztlichen Lehr-
anstalten der Nestorianer bestanden, zum Muster. Die Spitalärzte
wirkten hier zugleich als Lehrer der Medicin und unterrichteten ihre
Schüler in den verschiedenen Theilen der Heilkunde.
Die Nachrichten', welche uns über die arabischen Krankenhäuser
überliefert worden sind, gewähren einen Einblick in deren Verhältnisse
und. Zustände. Das Hospital zu Gondisapur, welches durch mehrere
Generationen unter der ärztlichen Leitung von Mitgliedern der Familie
Bachtischua (Bochtjesu) stand, bewahrte auch unter der arabischen
1 Macrizi's Beschreibung der Hospitäler in el-Cahira nach Wüstenfeld's
Übersetzung im Janus, Breslau 1846, I, S. 28 u. ff.
Puschmann, Unterricht. 10
146 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Herrschaft seinen guten Ruf. Es war mit einer wohleingerichteten
Apotheke verbunden, welcher der Stammvater einer anderen berühmten
ärztlichen Familie, der ältere Mesue, durch 40 Jahre vorstand. I. J. 869
war der um die Arzneimittellehre verdiente Sabue Ben Sahl Direktor
dieser Anstalt. Sie bestand wahrscheinlich noch in späteren Zeiten;
doch trat sie in den Schatten, als die glänzend ausgestatteten Hospitäler
der Araber in Bagdad und anderen Orten zu Ansehen gelangten.
In Bagdad existirte schon im 9. Jahrhundert ein Krankenhaus und
eine medicinische Schule.1 Ein zweites gründete i. J. 914 der Yezir
Ali Ben Issa. Derselbe lernte bei einer Epidemie den Mangel an Ärzten
und Medicamenten kennen, welcher bei den Truppen und auf dem
Lande herrschte, und beschloss deshalb, etwas zur Besserung dieser
Zustände zu thun. Er ordnete an, dass die Kranken täglich von den
Ärzten besucht würden und Arzneien und Nahrungsmittel empfingen,
und liess ein neues Hospital eröffnen. Als man ihm mittheilte, dass
einige Dörfer, welche grösstenteils von Juden bewohnt waren, der ärzt-
lichen Hilfe gänzlich entbehrten, antwortete er, dass man auch für die
Ungläubigen sorgen müsse.
Auf Sinan Ben Tsabet Ben Corra's Veranlassung2 wurden in Bagdad
noch andere Krankenhäuser errichtet. Die Mittel dazu boten die zu
Wohlthätigkeitszwecken bestimmten reichen Vermächtnisse der Sedjah,
der Mutter des Khalifen Mottawakl. Das grösste und berühmteste
dieser Spitäler wurde i. J. 977 vom Buiden-Emir Adhad Ed Daula ge-
stiftet, oder vielleicht nur, nachdem es schon früher existirte und in
Verfall gerathen war, mit grösseren Mitteln wieder hergestellt.3 Bei
der ursprünglichen Gründung, die wahrscheinlich um ein Jahrhundert
zurückreicht, soll nach Ibn Abu Oseibia's Angabe Rhazes mitgewirkt
haben, indem er einen in hygienischer Hinsicht geeigneten Platz dafür
aussuchte.
An diesem Hospital waren 24 Ärzte angestellt, welche nach ihrer
Tüchtigkeit im Range auf einander folgten. Es gab unter ihnen Spe-
cialisten, indem sich Einzelne nur mit der Behandlung fieberhafter
Krankheiten, Andere mit der Heilung von Wunden, mit dem Einrichten
von Luxationen oder mit Augenleiden befassten. Die Kranken waren
nach der Art ihrer Erkrankung in verschiedene Abtheilungen gesondert.
Merkwürdige Beobachtungen, welche die Ärzte an einzelnen Krankheits-
1 M. Steinschneider in Virchow's Archiv, Bd. 52, S. 372.
2 Aus dessen Lebensbeschreibung nach Leclerc a. a. 0. I, 365. 559 u. ff.
3 v. Hammer-Purgstall a. a. 0. IV, 358. — Wüstenfeld: Gesch. d. arab.
Arzte, S. 42, Anm. — Leclerc a. a. 0. I, 561.
Medicin. Wissensciiaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 147
fallen machten, wurden niedergeschrieben und aufbewahrt. Die Ver-
waltung des Hospitals leitete ein hoher Beamter, z. B. ein Kadi; unter
ihm stand ein Ökonom. Ibn El Makistania, der eine Zeitlang als
Arzt an dieser Anstalt wirkte, hat eine Geschichte derselben verfasstr
die leider verloren gegangen ist. Dieses Krankenhaus existirte noch im
13. Jahrhundert, vielleicht auch in späterer Zeit.
Ferner bestanden zu Merw, zu Ray, dem Geburtsort des Rhazes,
zu Ispahan, Schiras, Jerusalem, Antiochia, Mekka und Medina Kranken-
häuser.
In Damaskus gab es mehrere; das grösste verdankte angeblich
dem Nureddin seine Entstehung. Es diente zugleich als medicinische
Lehranstalt. In dem mit Teppichen bedeckten Hofe wurden nach der
Beendigung der Krankenvisiten medicinische Vorträge gehalten, welche
oft mehrere Stunden dauerten. Eine medicinische Bibliothek, welche
sich in der Anstalt befand, sorgte für die literarischen Bedürfnisse der
Lehrenden und Lernenden. Die Zahl der Schüler war sehr gross. In
dem Verzeichniss der Lehrer finden sich Namen, welche zu den be-
rühmtesten der arabischen Heilkunde gehören.1 Die Kranken wurden
nach ihren Leiden eingetheilt; es gab z. B. eine besondere Abtheilung
für Augenkranke.2 Die Verpflegung war so vortrefflich, dass Mancher,
wie Abd-el Letie erzählt,3 sich krank stellte, um in der Anstalt bleiben
zu dürfen; denn er wurde dort „mit zarten Hühnern, Backwerk, Sorbet
und Früchten aller Art" bewirthet.
In Damaskus bestanden neben dieser Anstalt noch andere medici-
nische Schulen; zuweilen docirte derselbe Lehrer an zwei solchen In-
stituten. Die medicinischen Schulen von Damaskus nahmen im 13. Jahr-
hundert den ersten Rang ein unter allen ihren Schwester-Anstalten und
überstrahlten durch ihren Ruhm sogar diejenigen zu Bagdad und Cairo.
Über die Spitäler Ägyptens und ihre Organisation hat Maceizi
ausführliche Nachrichten hinterlassen. Er berichtet, dass das erste
Krankenhaus von Ibn Tulun um d. J. 875 gestiftet und mit reichen
Mitteln zu seiner Erhaltung ausgestattet wurde. „Er traf für das Ho-
spital die Bestimmung, dass darin weder ein Soldat noch ein Sklave
aufgenommen werde; auch richtete er für das Hospital zwei Bäder ein,
das eine für die Männer und das andere für die Frauen, und vermachte
beide dem Hospital und anderen Anstalten. Er befahl ferner, dass,
1 Wenn dieses Hospital erst von Nureddin, welcher 1173 starb, gestiftet
wurde, so bezogen sich einzelne der hier erwähnten Thatsachen wahrscheinlich
auf andere Krankenhäuser Bagdads. •
2 Leclerc a. a. 0. I, 565 u. ff. — Abülfarag a. a. 0. p. 343.
3 Abd-Allatif: Relation de l'Egypte ed. Silv. de Sacy, Paris 1810, p. 441.
10*
148 Der medieinische Unterricht im Mittelalter.
wenn ein Kranker gebracht würde, ihm seine Kleider und sein Geld
abgenommen und bei dem Hospital- Verwalter in Verwahrung gegeben,
dann ihm andere Kleider angezogen, er ins Bett gelegt, ihm Essen
gegeben, und er durch Arznei und Nahrungsmittel und durch Ärzte
bedient werden sollte, bis er hergestellt sei; dann nachdem er ein junges
Huhn und Kuchen zu essen bekommen, soll er entlassen werden und
sein Geld und seine Kleider zurückerhalten."1
In dem Hospital befand sich auch eine Abtheilung für Geistes-
kranke. Diese Anstalt scheint nicht lange existirt zu haben ; zu Mackizi's
Zeit war sie nahezu vollständig vergessen. Derselbe erwähnt dann
das Hospital Kafür's, welches i. J. 957 in der Stadt Misr errichtet
wurde, und dasjenige, welches nach der Strasse El Magatir genannt
wurde und, wie es scheint, nur kurze Zeit bestanden hat. In Fostath
existirte schon im 10. Jahrhundert ein Hospital; ein anderes, an wel-
chem Ibn Abu Oseibia kurze Zeit ärztliche Dienste verrichtete, ver-
dankte dem Nasr Saladin seine Entstehung.
Die bedeutendste aller dieser Stiftungen war das grosse Mansuri-
sche Hospital zu Cairo. Der Sultan El Mansur Gilavun liess dasselbe
i. J. 1283 aus einem fürstlichen Schloss, welches bis dahin einer Prin-
zessin zum Wohnsitz gedient hatte, mit grossem Aufwand herrichten.
Die Grundmauern, die Steine und Marmorsäulen jenes Theiles des
Schlosses, welches niedergerissen wurde, verwendete man zum Bau des
Hospitals. Alle Handwerker von Misr und Cairo mussten dabei thätig
sein und durften während dieser Zeit keine Arbeit für andere Leute
übernehmen. Der Sultan ritt täglich zum Bauplatz, beaufsichtigte die
Arbeiter, half sogar selbst mit und nöthigte die Vorübergehenden, Steine
zu tragen oder andere Dienste zu verrichten. Er hatte übrigens bei
dem Bau ein merkwürdiges Glück; beim Ausgraben der Erde fand ein
Arbeiter ein mit Gold und Edelsteinen gefülltes Kästchen, dessen Werth
die sämmtlichen Baukosten deckte.
Vier grosse Krankensäle umschlossen den Hof; in jedem derselben
war ein Springbrunnen, welcher aus einem in der Mitte des Hofes be-
findlichen Wasserbehälter gespeist wurde. Als der Bau der Anstalt
vollendet war, sprach der Sultan: „Dies habe ich gestiftet für meines
Gleichen und für Geringere; ich habe es bestimmt zu einer Stiftung
für den König und den Diener, den Soldaten und den Emir, den
Grossen und den Kleinen, den Freien und den Sklaven, für Männer
und Frauen. Er bestimmte dafür die Medicamente, die Ärzte, und
alles Übrige, was Jemand darin in irgend einer Krankheit nöthig haben
1 Macrizi nach Wüstenfeld's Übersetzung a. a. 0. S. 30.
Medicin. Wissenschaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 149
konnte. Der Sultan stellte männliche und weibliche Bettmacher an
zur Bedienung der Kranken und bestimmte ihnen die Gehalte; er
richtete die Betten für die Kranken ein und versah sie mit allen Arten
von Decken, die in irgend einer Krankheit nöthig waren. Jede Klasse
von Kranken bekam einen besonderen Baum. Die vier Säle des Ho-
spitals bestimmte er für die an Fiebern und dergleichen Leidenden,
einen Hof sonderte er für die Augenkranken, einen für die Verwundeten,
einen für Diejenigen, welche an Durchfällen litten, und einen für die
Frauen; ein Zimmer für die Beconvalescenten theilte er in zwei Theile,
den einen für die Männer, den anderen für die Frauen. An alle diese
Orte wurde das Wasser geleitet. Ein besonderes Zimmer war für das
Kochen der Speisen, Medicamente und Syrupe, ein anderes für das
Mischen der Confekte, Balsame, Augensalben u. dgi. bestimmt. An
verschiedenen Orten wurden die Vorräthe aufbewahrt; in einem Zimmer
waren die Syrupe und Medicamente allein. In einem Zimmer hatte
der Oberarzt seinen Sitz, um medicinische Vorlesungen zu halten. Die
Zahl der Kranken war nicht begrenzt, sondern jeder Bedürftige und
Arme, welcher dahin kam, fand dort Aufnahme; ebensowenig war die
Zeit des Aufenthalts eines Kranken darin bestimmt, und es wurde
daraus sogar Denjenigen, welche zu Hause krank lagen, Alles, was sie
nöthig hatten, verabreicht."1
Dieses Hospital erfuhr im Verlauf der Zeit manche bauliche Ver-
besserungen und Erweiterungen. Im Garten wurde ein grosses Zelt
errichtet, damit die Kranken dort im Schatten spazieren gehen konnten.
Eine am Thore des Hospitals gelegene Cisterne, aus welcher die Thiere
zu trinken pflegten, wurde verlegt, „weil die Leute durch den stinken-
den Geruch des Schmutzes belästigt wurden", und eine Wasserleitung-
angelegt.
Der Stifter der Anstalt vermachte derselben so vielen Grundbesitz,
dass der jährliche Ertrag desselben nahezu eine Million Dirhem aus-
machte. Zwei Beamte waren damit beauftragt, die aus den Grund-
stücken der Anstalt zufliessenden Gelder einzutreiben; andere hatten
die Controlle der Ausgaben oder die Aufsicht über die Gebäude und
die Küche.
Wie Lecleec angiebt,2 wurden in diesem Hospital Anfangs nur
Geisteskranke und erst später Leidende aller Art aufgenommen. Sie
wurden dort gut verpflegt und genossen ein behagliches Leben. Wenn
sie an Schlaflosigkeit litten, so wurde ihnen durch Musik, durch
1 Macrizi nach Wüstenfeld a. a. 0. S. 34.
2 Leclerc a. a. 0. I, 570.
150 Der medizinische Unterricht im Mittelalter
Märchen-Erzähler und andere Zerstreuungen die Zeit vertrieben. Beim
Verlassen der Anstalt erhielt jeder Pflegling 5 Goldstücke, damit er
nicht genöthigt war, sofort schwere Arbeiten zu übernehmen.
Mit dem Hospital war eine Moschee verbunden, in welcher zu
jeder Zeit der Koran vorgelesen und erklärt wurde. Ferner befand
sich dort eine Bibliothek, in welcher 6 Eunuchen als Diener angestellt
waren, ein Waisenhaus nebst der dazu gehörigen Schule und eise
höhere Lehranstalt. Es dürfte zu jener Zeit keine Wohlthätigkeits-
Stiftung in der Welt gegeben haben, welche sich an Grossartigkeit,
Pracht und Ausdehnung mit dieser Schöpfung messen konnte.
Maoeizi beschreibt dann noch das Muajjidische Hospital in Cairo,
welches um d. J. 1420 eröffnet wurde, aber nur kurze Zeit als Heil-
anstalt diente. Auch in Fez gab es, wie Leo Africanus berichtet,
Krankenhäuser; einzelne hatten besondere Abtheilungen für Geisteskranke.
Spanien soll reich an Hospitälern gewesen sein; doch sind die
darüber vorhandenen Nachrichten sehr spärlich. Zu Algesiras bestand
im 12. Jahrhundert ein Krankenhaus und Cordova soll nach einer
wahrscheinlich an orientalischer Übertreibung leidenden Mittheilung
sogar 50 derartige Anstalten besessen haben.
Die liebende Fürsorge, welche die Mohammedaner den Irren wid-
meten, hatte ihren Grund in der Religion. Sie sahen in den Hal-
lucinationen und wirren Reden dieser Kranken häufig Äusserungen
einer überirdischen Welt und zollten Denen, welche damit begnadet
wurden, gebührende Verehrung. Die Christen huldigten der gleichen
Anschauung; aber sie erblickten darin Strafen Gottes und Wirkungen
des Teufels und der bösen Geister. Die Geisteskranken fanden daher
in den Ländern des Islams freundliche Worte und sorgsame Pflege in
den Hospitälern, während sie von den Christen wie Verbrecher behan-
delt, in die Gefängnisse geworfen und geschlagen oder als Zauberer
und Hexen mit Feuer und Schwert vertilgt wurden.1
In Bagdad und Cairo bestanden Irrenanstalten längst, bevor man
in den Ländern der Christenheit an die Errichtung derselben dachte,
und hier entstanden die ersten in Spanien, auf dessen geistige Ent-
wickelung die arabische Cultur den grössten Einfluss ausgeübt hat.
Auf dem Gebiet der Irrenpflege neigt sich die Waage der Huma-
nität entschieden zu Gunsten der Mohammedaner; das Christenthum
zeigt hier einen hässlichen Flecken, welcher dem Religionseifer seiner
Anhänger zur Last fällt.
1 Lecky a. a. 0. II, 68 u. ff. — Desmaisons: Des asiles dalionos en Espagne,
Paris 1859.
Mediein. Wissenschaft u. mediein. Unterricht bei den Arabern. 151
Die Araber hatten in ihren Spitälern besondere Abtheilungen für
die verschiedenen Arten der menschlichen Leiden; auch gab es be-
sondere Anstalten für einzelne Krankheiten, z. B. diejenigen der Augen.
Die Studierenden, welche diese Krankenhäuser besuchten, wurden
hier unter der Anleitung erfahrener Ärzte in die Kunst eingeweiht,
die Krankheiten zu erkennen und zu behandeln. Sie wohnten der Aus-
führung chirurgischer Operationen bei und konnten auch manchmal
einige praktische Kenntnisse in der Geburtshilfe erwerben, Avie es ihnen
Ali Ben Abbas empfahl.
In den Apotheken hatten sie Gelegenheit, die Bereitung der Arz-
neien kennen zu lernen. Die Araber haben die Apotheken in die Heil-
kunde eingeführt; es scheint, dass sie durch die Nestorianer damit be-
kannt gemacht wurden.1 Die arabischen Apotheker handelten nicht
blos mit Arzneistoffen, namentlich Sandelholz, weshalb sie auch Szan-
dalani genannt wurden, sowie mit Parfümerien, kosmetischen und an-
deren Mitteln, sondern beschäftigten sich auch mit der Zusammensetzung
derselben zu Medicamenten und führten die Dispensatorien ein. Die
systematische Anwendung der Destillir-Apparate und die Erfindung
einzelner Formen der Arzneien war ihr Verdienst.
Ihre chemischen und botanischen Studien kamen ihnen dabei sehr
zu Statten. Die Botanik bildete, wie Hadji Khalfa sagt,2 eine Hilfs-
wissenschaft der Mediein. Viele Ärzte waren eifrige Botaniker; von
Rachid Eddin Ibn Aszuri wird erzählt, dass er sich auf seinen bo-
tanischen Exemtionen von einem Maler begleiten Hess, welcher die
Pflanzen in ihren verschiedenen Entwickelungsstadien zeichnete.3 Mo-
hammed Ben Ali Ben Farak, der Leibarzt des Fürsten von Cadix,
soll sogar schon einen botanischen Garten angelegt haben.4
Die arabischen Ärzte trachteten nicht blos darnach, sich gründ-
liche Kenntnisse in der Mediein und in den Naturwissenschaften zu
erwerben, sondern widmeten auch den Lehren der Philosophen ein
reges Interesse und standen an der Spitze aller liberalen Bestrebungen.
Die Namen eines Avicenna, Avempace, Averroes und Moses Mai-
monides glänzen fast noch mehr in der Geschichte der Philosophie als
in derjenigen der Heilkunde.
Die Grundlage ihrer philosophischen Ideen bildete das Aristotelische,
System, welches sie nach verschiedenen Richtungen weiter entwickelten.
1 K. Sprengel: Geschichte der Botanik, Leipzig 1817, I, S. 205.
2 Hadji Khalfa: Lexicon bibliographicum et encyclopaedicum ed. G. Flügel,
London 1845, T. IV, p. 114.
3 Hadji Khalfa a. a. 0. T. I, p. 227, No. 361. — Leclerc a. a. 0. I, 564.
4 Casiri a. a. 0. T. II, p. 89.
152 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Während Avicenna dadurch zu einem teleologischen Theismus geführt
wurde, der ihn den christlichen Schulen des Mittelalters empfahl , ge-
langte Averroes zu einem pantheistischen Naturalismus, welcher wegen
seines rationalistischen Charakters nicht nur von der christlichen Kirche
verdammt wurde, sondern ihm auch unter seinen eigenen Landsleuten
und Glaubensgenossen viele Gegner schuf. Wenn Averroes erklärte,
dass die Eeligion nur der schwachen Geister wegen da sei, dass der
Mensch auch ohne die Offenbarung, nur allein durch die Vernunft zur
Erkenntniss des Wesens der Dinge gelangen könne, wenn er an die
Stelle einer durch den allmächtigen Willen der Gottheit entstandenen
Schöpfung eine nach Art der Aristotelischen Entelechien durch die Zeit
aus dem Zustande der Möglichkeit in denjenigen der Wirklichkeit über-
geführte Natur setzte und die Ewigkeit der Welt und der Materie, die
Verschmelzung der Gottheit mit der Natur und die Wesenseinheit der
Vernunft predigte, so rüttelte er an den Fundamenten der mono-
theistischen Beligionssysteme und musste einen erbitterten Kampf der-
selben erwarten.1
Auch sein Schüler und Anhänger, der jüdische Arzt Moses Mai-
monldes erfuhr dies, als er den Versuch machte, die Vorschriften des
Talmuds mit den Forderungen der Vernunft zu versöhnen. Er eröffnete
der freieren Richtung im Judenthum die Bahn. „Von Spinoza bis zu
Mendelssohn hat," wie Munk sagt, „das Judenthum keinen frei-
sinnigen Denker hervorgebracht, der nicht von Maimonedes die erste
Weihe erhalten hat."
In den Ländern des Islams herrschte während der ersten Jahr-
hunderte seines Bestehens eine religiöse Toleranz gegen Andersgläubige,
wie sie bei den Christen zu jener Zeit nirgends gefunden wurde. Die
höheren Lehranstalten und medicinischen Schulen der Araber hatten
unter ihren Lehrern ebenso wie unter ihren Schülern viele Juden,
Christen und Bekenner anderer Religionen. An ihren Hospitälern
wurden nicht blos mohammedanische, sondern auch christliche und
jüdische Ärzte angestellt, und Kranke, welche nicht dem herrschenden
Glauben angehörten, fanden dort ebenfalls freundliche Aufnahme und
wohlwollende Pflege.
Schon der Prophet MÄiammed selbst hatte seinen Anhängern einen
Ungläubigen als Arzt empfohlen.2 An den Höfen der Khalifen und
mohammedanischen Fürsten spielten Juden und Christen, namentlich
Xestorianer, als Leibärzte eine hervorragende Rolle; auch zu anderen
einflussreichen Stellungen im Sanitätswesen wurden sie befördert.
1 E. Renan: Averroes et TAverroi'sme, Paris 1860.
2 v. Hammer-Purgstall a. a. 0. II, S. 192. — Abulfarag a. a. 0. p. 99.
Medicin. Wissenschaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 153
Die Ausübung" der ärztlichen Praxis stand Anfangs Jedem frei;
aber allmälig wurde es üblich, dass sich die Ärzte von den Lehrern,
welche sie in der Heilkunst unterrichtet hatten, Zeugnisse geben Hessen,
weil sie dadurch dem Publikum grösseres Vertrauen einflössten. 1 Ein
ärztlicher Missgriff, welcher den Tod eines Patienten zur Folge hatte,
war die Veranlassung, dass i. J. 931 alle Ärzte von Bagdad und der
Umgegend aufgefordert wurden, sich prüfen zu lassen; nur den Ärzten
des Hofes und solchen Ärzten, deren Tüchtigkeit allgemein anerkannt
war, wurde das Examen erlassen. Alle übrigen Heilkünstler, deren
Zahl 860 betrug, mussten ihre Befähigung zum ärztlichen Beruf durch
eine Prüfung nachweisen, welche der Leibarzt des Khalifen, Sinan
Ben Tsabet Ben Coera abnahm.2 Meyek3 glaubt, dass dies nur
eine vorübergehende, gegen die Charlatane gerichtete Polizeimassregel
war, weil kein Nachfolger dieses Examinators genannt wurde; aber
ähnliche Einrichtungen bestanden zu Bagdad auch im 12. Jahrhundert
und in Cordova schon früher.4 Es scheint mir darnach nicht zweifelhaft,
dass die Anfänge des ärztlichen Prüfungswesens bei den Arabern zu
suchen sind.
Wie bei allen orientalischen Völkern, so war es auch bei den
Arabern eine häufige Erscheinung, dass der Sohn den Beruf des Vaters
wählte. Einzelne Familien, wie die Bachtischua, deren Stammtafel
Meyer zusammengestellt hat,5 die Corra,6 die Honein und die Zohr,7
welcher Avenzoar angehörte, lieferten durch mehrere Generationen
Ärzte, von denen Einzelne sehr berühmt wurden. Auch auf anderen
Gebieten der Gelehrsamkeit war dies der Fall, wie das von Wüsten-
feld8 angeführte Beispiel der Familie Sobki beweist.
Manche Ärzte beschränkten ihre Thätigkeit auf einen speciellen Theil
der Medicin, z. B. die Augenheilkunde.
Schon in früher Zeit wurde die Einrichtung getroffen, dass Proto-
medici ernannt wurden,9 welche, wenn dies nicht blos ein Titel war,
die Aufsicht über die übrigen Ärzte führten. Wahrscheinlich war dieses
Amt stets mit demjenigen des Leibarztes verbunden. Vielleicht hing
es mit der Einführung der ärztlichen Prüfungen zusammen?
1 Leclerc a. a. 0. I, 574.
2 Casiri a. a. O. T. I, p. 438. — Leclerc a. a. 0. I, 576.
3 Meyer a. a. 0. III, 122. 4 Leclerc a. a. 0. I, 577.
5 Meyer a. a. 0. III, 109.
6 Wüstenfeld: Gesch. d. arab. Ärzte, S. 34 u. ff.
7 Wüstenfeld a. a. 0. S. 88 u. ff.
8 Wüstenfeld: Akademien der Araber, S. 119.
9 Leclerc a. a. 0. I, 576.
154 Der medieinische Unterricht im Mittelalter.
Ibn Beithar, der Verfasser des besten arabischen Werkes über
die Arzneimittel, welcher am ägyptischen Hofe als Leibarzt wirkte,
wurde zum Vorgesetzten aller Ärzte und Herboristen (Apotheker?) dieses
Landes ernannt.
Die Ärzte nahmen im socialen Leben eine bevorzugte Stellung ein;
manche erlangten als Freunde und Rathgeber der Herrscher grossen
Einfluss. Die Leibärzte an dem Hofe der Khalifen erhielten reichen1
Besoldungen und Geschenke, als andere Gelehrte und Beamte,1 und
wurden mit Ehren und Auszeichnungen überhäuft. Nicht Wenige er-
langten die Würde des Vezirs, welche, wenn auch nicht immer dem
Range eines Ministers, so doch jedenfalls demjenigen unserer geheimen
Häthe und Hofräthe entsprach.2
Andererseits scheint es dem ärztlichen Stande auch nicht an jenen
Elementen gefehlt zu haben, welche das Publikum mit den unlauteren
Mitteln der Charlatanerie anlocken. Rhazes fühlte sich dadurch sogar
veranlasst, eine Schrift zu verfassen „über die in der medicinischen
Kunst vorkommenden Umstände, welche die Herzen der meisten Men-
schen von den achtbarsten Ärzten ablenken und den niedrigsten zu-
wenden."3
Die arabischen Ärzte Hessen der idealen Aufgabe ihres Berufes
zwar volle Anerkennung zu Theil werden; aber sie huldigten einer
nüchternen Auffassung des Lebens und nahmen die Dinge, wie sie
wirklich sind, nicht, wie sie sein sollten. In dem „Führer der Ärzte",
als dessen Autor der Jude Isak Israeli gilt, werden ihnen Lebens-
regeln ertheilt, welche davon Zeugniss geben. Dort heisst es: „Die
wichtigste Aufgabe des Arztes ist es, Erkrankungen zu verhüten." —
Die meisten Krankheiten heilen ohne Beistand des Arztes durch die
Hilfe der Natur." — „Vermagst Du den Kranken durch diätetische
Mittel zu heilen, so unterlass die Verordnung von Arzneien!" — „Ver-
lass Dich bei Deinen Kuren niemals auf Wundermittel, da sie meistens
auf Thorheit und Aberglauben beruhen!" — „Stelle den Kranken die
Genesung in Aussicht, selbst wenn Du auch nicht davon überzeugt
bist; denn Du wirst dadurch jedenfalls das Heilbestreben der Natur
unterstützen." — „Wenn der Arzt von weither gekommen ist und
eine fremde Sprache redet, dann hält ihn die Menge für klug, drängt
sich zu ihm und sucht seinen Rath." — „Sprich niemals ungünstig
über andere Ärzte; denn ein Jeder hat seine glücklichen und seine
n
1 v. Hammer-Purostall a. a. 0. Bd. I, Einleit., p. L.
2 Leclerc a. a. 0. I, 578.
3 M. Steinschneider in Vtrchow's Archiv, Bd. 36, S. 574 u. ff.
Medicin. Wissenschaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern. 155
unglücklichen Stunden. Lass Deine Thaten Dich rühmen, nicht Deine
Zunge!" — „Besuche den Kranken, wenn es ihm am schlimmsten er-
geht. In dieser Zeit verständige Dich mit ihm über Deinen Lohn;
denn wenn der Kranke gesund ist, erinnert er sich an nichts." —
..Stelle Dein Honorar so hoch als möglich; denn was Du unentgeltlich
thust, wird für gering geachtet !" — „Lass Dir die Heilung von Fürsten
und Reichen angelegen sein; denn sie werden nach ihrer Genesung
gegen Dich freigebig sein, Dich stets preisen und lieben, während die
gemeinen Leute Dich, wenn sie geheilt sind, noch hassen, wenn sie an
das Honorar denken."1 — Sollte man nicht glauben, dieses Buch wäre
gestern geschrieben? —
Die arabische Cultur sank fast ebenso rasch von ihrer Höhe herab,
als sie dieselbe erklommen hatte. Die berühmten Schulen der Nesto-
rianer waren schon im 9. Jahrhundert im Verfall.2 Die höheren Lehr-
anstalten der Araber erhielten sich bis ins 14. Jahrhundert und gingen
dann allmälig oder rasch zu Grunde, und mit ihnen schwand auch
das wissenschaftliche Leben, welches der Menschheit so reiche Früchte
getragen hatte.
Die Religionskriege, welche im Osten unter dem Namen der Kreuz-
züge von einigen beutegierigen Abenteurern unternommen wurden und
im Westen zur Eroberung Spaniens und der süditalienischen Inseln
durch christliche Fürsten führten, riefen den Glaubensfanatismus der
Mohammedaner hervor3 und lähmten ihr geistiges Streben. Die mon-
golischen und türkischen Stämme, die im 13. Jahrhundert sengend und
mordend in die Länder der arisch-semitischen Welt einbrachen, zer-
traten die alten Culturstätten Asiens und verwandelten blühende Städte
in wüste Einöden. Der Orient hat sich von diesem Schlage niemals
wieder erholt, und die türkische Herrschaft wurde gleichbedeutend mit
dem geistigen Tode. Aber im christlichen Abendlande bildeten die
Ausläufer der arabischen Cultur die Keime zu dem geistigen Auf-
schwünge, welcher an den Schulen von Salerno und Montpellier seine
ersten Triumphe feierte.
1 Soave im Giorn. Veneto di scienze mediche 1861, ser. II, t. 18, p. 393
u. ff. — D. Kaufmann im Magazin f. d. Wissensch. d. Judenthums, Berlin 1884,
S. 97 u. ff.
2 Assemani a. a. 0. III, pars II, p. 940.
3 v. Kremer: Ibn Chaldun und seine Culturgeschichte , Wien 1879, S. 39.
156 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Die Medicin der Germanen und der Unterricht
in den Klosterschulen.
Die germanischen Stämme, welche nach der sogenannten Völker-
wanderung in der westlichen Hälfte des römischen Reiches zur Herr-
schaft gelangten, standen im 5. Jahrhundert längst nicht mehr auf
der niedrigen Culturstufe, wie sie Tacitus geschildert hat. x Im Kriege
wie im Frieden waren sie mit den Römern in Verkehr getreten und
hatten deren Überlegenheit in den Wissenschaften und Künsten kennen
gelernt. Als Soldaten im römischen Heere, als freudig begrüsste Bundes-
genossen oder als Geissein für die beschworenen Verträge erhielten sie
Gelegenheit, die Vortheile der römischen Cultur zu gemessen und Kennt-
nisse zu erwerben, welche sie ihren Landsleuten, die in der Heimath
zurückgeblieben waren, übermittelten. Die Keime edler Gesittung im
germanischen Volke, welchen Tacitus ein bewunderungsvolles Lob
spendet, wurden durch die höhere Bildung veredelt und weiter ent-
wickelt.
Als die Stämme der Gothen und andere deutsche Völker aus ihren
bisherigen Wohnsitzen durch die von Osten andrängenden Horden der
Hunnen vertrieben wurden, und von Thatendurst und Sucht nach Reich-
thum und Macht erfüllt, ihre weltgeschichtlichen Wanderungen antraten,
besassen sie bereits eine Schriftsprache, ein geordnetes Staatswesen, eine
gesicherte Rechtspflege und mancherlei Kenntnisse auf den verschie-
denen Gebieten des geistigen Lebens. In der Heilkunde huldigten sie
der Anschauung, dass die Krankheiten durch überirdische Gewalten
erzeugt würden, welche durch Gebete und Zauberei versöhnt werden
müssen; aber sie versäumten darüber nicht die Anwendung heilkräftiger
Kräuter und anderer Mittel, deren günstige Wirkung die Erfahrung
gelehrt hatte. Den Frauen, welche im germanischen Leben eine sehr
hervorragende Rolle spielten, lag es hauptsächlich ob, die WTunden zu
verbinden und die Kranken zu pflegen. 2
Erst allmälig, vorzugsweise unter dem Einfluss der römischen Cultur,
entwickelte sich bei ihnen ein eigentlicher ärztlicher Stand. Die grie-
chischen und römischen Ärzte, welche durch den Beruf eines Militär-
arztes zu ihnen geführt wurden oder, wie Oeibasius und Anthimus,
in der Verbannung oder als Gesandte bei ihnen weilten, dürften dazu
nicht wenig beigetragen haben.
1 Tacitus: Germania, c. 5, 19 u. a. 0. — Gibbon a. a. 0. c. 9. — Rev.
scient., Paris, oct. 1873.
2 Tacitus a. a. 0. c. 7. 8. 18.
Die Mediein der Germanen u. der Unterrieht in den Klosterschulen. 157
Wenn Guizot1 sagt, dass es schwer sei, die geistigen Zustände
der Germanen vor der Völkerwanderung zu schildern, so gilt dies be-
sonders von der Heilkunde. Aus der vergleichenden Linguistik ergiebt
sich allerdings, dass sie bestimmte Bezeichnungen für einzelne Krank-
heiten hatten,2 und die Analogie mit der Culturentwickelung anderer
Völker, namentlich mit den Zuständen der Germanen des Nordens, lässt
manche Folgerungen zu.
Auch dort übten weise Frauen die Heilkunst aus, und man ver-
ehrte sogar eine weibliche Gottheit der Heilkunde, Eir mit Namen.3
Brunhilde, „die Ärztin", und die Nornen verstanden die Kunst des
Entbindens. Wenn Sigrdrifa (Brunhilde) zu Sigurdr sagt, dass er
Eunen einer gewissen Art kennen müsse, damit das Kind von der
Mutter gelöst werde, und wenn es vom Jarlssohn Konr heisst, dass er
die Runen kannte und den Frauen bei der Entbindung Beistand leistete,
so handelt es sich offenbar um mystische Zauberformeln, denen ein
wunderbarer Einfluss auf den Geburtsakt zugeschrieben wurde. Auch
Held Gönguhrolf half bei der Entbindung, indem er die Hände auf-
legte. Fürsten und Helden galten, wie schon Odhin, der Arzt, als be-
sonders erfahren in der Heilkunde;4 es deutet dies vielleicht darauf
hin, dass die letztere vorzugsweise von den angesehenen Männern,
welche an der Spitze eines grossen Haushalts standen, ausgeübt wurde,
ähnlich wie es noch zur Zeit Cato's in Rom geschah.
Unter den Krankheiten, welche genannt werden, treten Geistes-
störungen, Impotenz, aber am häufigsten die chronischen Geschwüre
des Unterschenkels auf, welche manchmal sogar tödtlich endeten. Mit
der Behandlung der Wunden wusste man recht gut Bescheid. Selbst
die Amputation wurde ausgeführt und der Verlust des Unterschenkels
durch künstliche Nachbildungen aus Holz ersetzt. Die Stelzfüsse waren,
wie es scheint, nicht selten. Auch von der Bauchnaht ist die Rede.
Doch stammen diese Mittheilungen aus der Zeit der Wikinger-Fahrten,
in welcher schon Berührungen zwischen den Germanen des Nordens
und den entwickelteren Culturzuständen weiter vorgeschrittener Völker
stattfanden.
1 Guizot: Cours d'histoire moderne. Histoire de la civilisation en France,
Bruxelles 1829, I, p. 204.
2 Ad. Pictet: Die alten Krankheits-Namen bei den Indogermanen in der
Zeitschr. f. vergl. Sprachforschung, Bd. V, S. 321 u. ff.
3 K. Weinhold: Altnordisches Leben, Berlin 1856, S. 385 u. ff.
4 Sigurdharkoida I, 17. Fafnismal 12. Sigrdrifumal 9. Rigsmal 40. For-
nalda sögur III, 276. Saxo Gramm. I, 1, 25. 33. 128. Prof. R. Heinzel in Wien
hatte die Güte, mich auf diese Stellen aufmerksam zu machen.
158 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Snorri Sturluson und Heafn Sweinbiörnsson erlangten durch
ihre glücklichen Kuren einen grossen Kuf. Der letztere soll sogar den
Blasensteinschnitt mit glücklichem Erfolg ausgeführt haben.1 Der
mythische Vitolf galt als der Patron der nordischen Chirurgen. 2 Ingigerd,
des Kussenkönigs Ingvar Tochter, gründete ein kleines Hospital und
übergab dem lindhändigen Frauenvolk die Pflege der Kranken.3
Im 10. Jahrhundert gab es in Norwegen bereits eine Menge von
Ärzten, welche ihre Kunst gewerbsmässig ausübten; man hatte sogar
schon Hausärzte, welche reichlich belohnt wurden.4 Es existirte auch
bereits eine Medicinaltaxe ; die Höhe des ärztlichen Honorars richtete
sich nach der Schwere des Leidens, welches geheilt worden war.
In dem Südermannländischen Gesetzbuch, das allerdings erst 1327
veröffentlicht wurde, aber auf alten Einrichtungen beruht, wurde be-
stimmt, dass nur Derjenige als Arzt anerkannt werde, der eine Hieb-
wunde, einen Knochenbruch, eine innere Verletzung, eine Verstümme-
lung oder eine tiefe Stichwunde geheilt hat. Die Geburtshilfe blieb
natürlich den Frauen überlassen. Übrigens wird bereits des Kaiser-
schnitts gedacht.
Es wäre unrichtig, wenn man diese Nachrichten, von denen ein-
zelne offenbar das Gepräge späterer Cultur-Einflüsse zeigen, auf die
Germanen der ersten Jahrhunderte übertragen wollte, wie es von
manchen medicinischen Historikern geschehen ist. Sie berechtigen
höchstens zu einigen Vermuthungen über den Zustand der Heilkunde
bei ihnen.
Die Kenntnisse und Einrichtungen, welche die Gothen, die Longo-
barden, die Franken, die Burgunder und andere germanische Stämme
aus ihrer Heimath in die von ihnen unterworfenen Länder mitbrachten,
verschmolzen rasch mit Dem, was die vorangegangenen Culturperioden
dort zurückgelassen hatten. Die Bereitwilligkeit, mit welcher sich die
Sieger der höheren Bildung der besiegten Völker fügten, zeigt, dass sie
fähig und reif genug waren, dieselbe in sich aufzunehmen. Ihre Heil-
kunde ging auf in dem medicinischen Lehrgebäude, welches die Griechen
und Römer aufgerichtet hatten. Nur in der Volksmedicin erhielten
sich einzelne Erinnerungen an die Arzneikunde der Kelten, Basken,
Gaelen, Gothen und Angelsachsen.
In den Gesetzen der Westgothen, welche zum Theil schon im
1 Sagenbibliothek des skandinav. Alterthums, herausg. von P. E. Müller,
übers, von K. Lachmann, Berlin 1816, S. 176. — L. Faye: Rafn Sweinbjörnsens
liv og virksomhed, Kristiania 1878.
2 Geimm: Mytholog. 994. 1101. 3 Weinhold a. a. 0. S. 390.
4 Vapnfirdlinga saga, e. 13. 29.
Die Mediüin der Germanen u. der Unterricht in den Kloster schulen. 159
5. Jahrhundert niedergeschrieben wurden, aber ohne Zweifel viele rö-
mische Elemente enthalten, wurde vorgeschrieben,1 wie viel der Arzt
für verschiedene Kuren, z. B. die Staaroperation , verlangen durfte.
Bevor er dieselbe unternahm, schloss er mit dem Kranken oder dessen
V erwandten einen Vertrag, in welchem das ärztliche Honorar festgestellt
wurde; doch durfte er darauf nur Anspruch machen, wenn die Behand-
lung einen günstigen Erfolg hatte. Im anderen Falle musste er für
den unglücklichen Ausgang derselben haften. Wurde dadurch der Tod
eines Leibeigenen herbeigeführt, so wurde er genöthigt, den Schaden
zu ersetzen; handelte es sich um Nachtheile, die der Gesundheit oder
dem Leben eines Freigeborenen zugefügt worden waren, so wurde er
zu einer entsprechenden Geldstrafe verurtheilt oder den Verwandten
des Geschädigten oder Verstorbenen zur Bestrafung überliefert.
Bezeichnend für die sociale Stellung, welche der Arzt einnahm, ist
es, dass er weibliche Personen aus dem Stande der Freien nur in
Gegenwart ihrer Verwandten oder Dienstboten sehen und behandeln
durfte, damit er derartige Gelegenheiten nicht zu unsittlichen Scherzen
missbrauchte. Das westgothische Becht enthielt auch Bestimmungen
über die geistige Zurechnungsfähigkeit, über die Strafen der Verbrechen
gegen die Person, z. B. deren Verletzung und Verstümmelung, über
Kindesabtreibung und über geschlechtliche Vergehen.
Von besonderem Interesse ist die darin enthaltene Verordnung^
dass der Arzt für den Unterricht in der Heilkunde, den er seinem
Schüler ertheilte, ein Lehrgeld von 12 Solidi zu fordern berechtigt
war; es geht daraus hervor, dass die Ärzte wie im Alterthum durch
die persönliche Unterweisung eines Meisters in ihrer Kunst ausgebildet
wurden.
Die Gesetzbücher der Alemannen, Salier, Ripuarier, Burgunder,
Bajuvaren, Friesen, Sachsen und Longobarden enthalten ebenfalls Be-
stimmungen über die Strafen von Verletzungen und anderer Verbrechen
gegen die Person.2
Die Erziehung der Ärzte geschah handwerksmässig. Der Lehrling
der Heilkunde begab sich zu einem angesehenen Arzt, der ihn mit
mechanischen Kenntnissen ausrüstete. Manche Ärzte suchten ihr Wissen
in den grossen Städten des byzantinischen Reiches und Italiens zu ver-
vollständigen. Auch befanden sich unter ihnen viele Griechen, Römer
und Juden, welche namentlich als Ärzte an den fürstlichen Höfen ge-
sucht waren.
1 Leg. Wisigoth, Hb. XI, tit. 1, de medicis et aegrotis. — F. Dahn: West-
gothische Studien, Würzburg 1874, S. 3. 61. 145. 220. 229. 230 u. m.
2 Corpus juris German. antiq. ed. F. Walter, Berol. 1824, T. I.
160 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Der griechische Arzt Petrus1 wirkte als Leibarzt des Westgothen-
Königs Theodorich IL Am Hofe der Merovinger bekleideten dieses
Amt Marileif von Poitiers, welcher sich aus dem niedrigsten Stande
zu dieser Stellung emporgeschwungen hatte, und Keoval, der seine
ärztliche Bildung in Konstantinopel erworben hatte.2 Der letztere
führte eine Hoden-Exstirpation mit glücklichem Erfolge aus. Die Thätig-
keit eines Leibarztes am fränkischen Hofe war zwar sehr einträglich,
wie die Keichthümer Marileif's beweisen, aber auch mit manchen
Gefahren verbunden. Als Austrigildis, die Gemahlin des Königs Gun-
tram, von einer Seuche, welche i. J. 580 wüthete, dahingerafft wurde,
verlangte sie, dass ihre beiden Ärzte Nicolaus und Donatus sofort
nach ihrem Tode hingerichtet würden, zur Strafe dafür, dass sie sie
nicht gerettet hatten, und der fromme Guntram hielt sich für ver-
pflichtet, den letzten Wunsch seiner sterbenden Gattin zu erfüllen.3
Karl der Grosse soll arabische Ärzte zu Eath gezogen haben, wie
Bulaeus und Freind behaupten;4 doch sind diese xingaben, wenn sie
auch bei dem Ansehen, welches damals die arabische Medicin genoss,
gerade nicht unwahrscheinlich klingen, doch nicht durch den Nachweis
der Quellen verbürgt. Sicher ist, dass einer seiner Leibärzte den deut-
schen Namen Wintarus führte.5
Im Leben Ludwigs des Frommen wird erzählt, dass die Gemahlin
Karls, Hildegard, ihm zwei Söhne gebar, von denen der eine sofort
nach der Geburt gestorben sei, der andere, nämlich Ludwig, aus dem
Schooss der Mutter gehoben und künstlich ernährt worden sei.6 Ob
es sich dabei um den Kaiserschnitt oder um eine durch Manualhilfe
vollzogene Geburt handelt, ist ungewiss. Der grosse Karl hatte übrigens
über die Medicin eine geringe Meinung,7 welche sich vielleicht aus
dem verwahrlosten Zustande der Heilkunde seiner Zeit erklärt.
Es war daher begreiflich, dass er bemüht war, diese Wissenschaft
zu heben und die Kenntniss derselben zu verbreiten. Aus diesem
Grunde erliess er in dem Capitulare von Diedenhofen (Thionville)
v. J. 806 die Vorschrift, dass die Knaben in der Heilkunst unterrichtet
werden sollten.8 Meyer9 glaubt, dass sie nur eine Anleitung zur
1 Fredegar: Chron., c. 27, übers, v. 0. Abel.
2 Gregor v. Tours V, 14. VII, 25. X, 15. 8 Gregor v. Tours V, 35.
4 Freind: Hist. med., p. 148.
5 Eigil's Leben des Abtes Sturm von Fulda, c. 25, Ed. Migne, T. 105, p. 443.
6 J. L. W. Schmidt im Progr. des hess. Gymnas. zu Giessen 1872, S. 5.
7 Einhard: Vita Caroli Magni, c. 22, ed. Pertz, Hanno v. 1863.
8 Pertz: Mon. Germ. III, p. 131, De medicinali arte ut infantes hanc
discere mittantur. 9 Meyer a. a. 0. III, 413.
Die Medicin der Germanen u. der Unterricht in den Klosterschulen. 161
Krankenpflege erhalten hätten, da man „Kinder doch nicht Medicin
studieren lasse". Aber das Studium dieser Wissenschaft wurde im
Alterthum schon in früher Jugendzeit begonnen. Ausserdem befanden
sich in den Schulen jener Zeit Knaben von 14 und 15 Jahren.1
Übrigens wird sich dieser Unterricht zunächst wohl nur auf die
Lektüre medicinischer Schriften des Alterthums, welche erklärt wurden,
beschränkt haben, wie dies auch in vielen Klosterschulen der Fall war.
Später lernten die Schüler die Arzneipflanzen kennen, wozu ihnen in
den kaiserlichen Gärten Gelegenheit geboten wurde.2
Auch die Ausübung der praktischen Heilkunde scheint man in
den Bereich des Unterrichts gezogen zu haben. Die Worte in Alcuin's
Gedicht an Karl den Grossen3 lassen sich kaum anders deuten, als
dass in der Nähe des Hofes ein Krankenhaus bestand, in welchem die
Ärzte ihre verschiedenen Yerrichtungen vornahmen. „Der Eine öffnete
den Kranken die Ader, ein Anderer mischte Kräuter im Topf, Jener
kochte einen Brei, während Dieser ein Getränk bereitete."
Als Vorbild für diese Einrichtungen dienten wahrscheinlich die
Krankenanstalten, welche mit vielen Klöstern verbunden waren. Die
Mönche beschäftigten sich eifrig mit der Krankenpflege. „Lernet die
Eigenschaften der Kräuter und die Mischungen der Arzneien kennen,"
rief ihnen Cassiodor zu;4 „aber setzt alle euere Hoffnung auf den
Herrn, der Leben ohne Ende gewährt. Wenn euch die Sprache der
Griechen nicht unbekannt ist, so habt ihr das Kräuterbuch des Dio-
skorldes, welcher die Pflanzen des Feldes mit überraschender Kichtig-
keit beschrieben und abgebildet hat. Nachher lest den Hippokrates
und Galen in lateinischer Übersetzung, d. h. die Therapeutik des letz-
teren, welche er an den Philosophen Glaucon gerichtet hat, und das
Werk eines ungenannten Verfassers, welches, wie die Untersuchung
ergiebt, aus verschiedenen Autoren zusammengetragen ist. Ferner
1 J. Ch. F. Baehr: De literarum studiis a Carolo Magno revocatis ac schola
Palatina instaurata, Heidelberg 1856, S. 26, Anm. 33.
2 Capit. de villis. Vergl. Meyer a. a. 0. III, S. 397 u. ff.
3 Alcuinii carmina, Ed. E. Dümmler in Mon. Germ. Poet, lat., t. I, p. 245,
No. XXVI, v. 12—16.
Accurrunt medici mox Hippocratica secta;
Hie venas fundit herbas hie miscet in olla,
Ille coquit pultes, alter sed pocula praefert;
Et tarnen, o medici, eunetis impendite gratis
Ut manibus vestris adsit benedictio Christi.
Wenn man anstatt secta in der ersten Zeile teeta liest, so erscheint die Beziehung
auf ein Hospital noch deutlicher.
4 Cassiodor: Inst, divin. lect. I, c. 31.
Puschmann, Unterricht. \\
162 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
studiert die Medicin des Aurelius Caelius, das Buch des Hippokrates
über die Kräuter und Heilmethoden und verschiedene andere Schriften
über die Heilkunst, welche ich in meiner Bibliothek aufgestellt und
euch hinterlassen habe."
Unter den Benediktinern machten sich Einige, wie der Abt Ber-
tharius zu Monte-Casino im 9. Jahrhundert, als Ärzte vortheilhaft be-
kannt. l Vielleicht schon in früher Zeit wurden dort fromme Pilger
und Kranke aufgenommen und gepflegt, wie es der Gründer des Ordens,
der hl. Benedikt, im Orient gesehen und dann vorgeschrieben hatte.
Doch stammen die sicheren Nachrichten darüber, dass in Monte-
Casino Anstalten dieser Art bestanden, erst aus dem 11. und 12. Jahr-
hundert. 2
Die Sitte, die hilfsbedürftigen Kranken in die Kirchen und Klöster
zu bringen, damit die Priester sie mit Weihwasser besprengen und für
ihre Genesung Gebete verrichten, erlangte in den ersten Jahrhunderten
des Mittelalters allgemeine Verbreitung. Daraus entwickelte sich all-
mälig die Einrichtung, dass dort Anstalten errichtet wurden, in denen
Gebrechliche und Leidende Unterkunft fanden. Die Priester und Mönche,
welche darüber die Aufsicht führten und den Kranken als Bathgeber
zur Seite standen, wandten ausser den psychischen Mitteln auch heil-
same Kräuter und andere Medicamente an, deren günstige Wirkung
sie aus der medicinischen Literatur oder durch die eigene Erfahrung
kennen gelernt hatten.
Auf diese Weise wurden die medicinischen Kenntnisse zu einem
Bestandtheil der Bildung des Geistlichen, deren er bei der Ausübung
seines Berufs bedurfte. Die Schulen des Mittelalters, welche die Er-
ziehung des Klerus als ihre wichtigste Aufgabe betrachteten, suchten
diesem Bedürfniss zu genügen, wenn sie die Heilkunde, allerdings nur
in rein theoretischer Weise, in ihren Lehrplan aufnahmen. So geschah
es in vielen Klosterschulen, namentlich Galliens, z. B. in Bheims,
Chartres, Fleury, Dijon, Bec in der Normandie und St. Denis.3
Auch der Reichthum an medicinischen Handschriften, welchen
manche dieser Klöster besassen,4 sowie die literarische Thätigkeit ihrer
1 S. de Renzi: Storia docum. della scuola medica di Salerno, 2. ed., Napoli
1857, p. 64 u. ff.
2 Tosti: Storia della badia di Monte Casino, Napoli 1842, I, 229. 341 u. ff.
II, p. 193. 209. 289. — Reg. S. Bened. 36 in Muratori Script, rer. Ital.
3 J. B. L. Chomel: Essai historique sur la medecine en France, Paris 1762.
4 Die Bibliothek zu Tegernsee enthielt z. B. i. J. 1500 281 medicinische
Schriften, wie Lammert (Volksmedicin u. medicin. Aberglaube in Bayern, Würz-
burg 1868, S. 4) erzählt.
Die Medicin der Germanen u. der Unterricht in den Kloster schulen. 163
Mönche beweisen , dass die Heilkunde dort fleissig getrieben und stu-
diert wurde.
Wenn die Schüler durch den Unterricht und die Lektüre medi-
cinischer Schriften einige allgemeine Kenntnisse der Heilkunst erworben
hatten, so werden sie vielleicht darin auch praktisch ausgebildet worden
sein, indem sie unter der Aufsicht ihres Lehrers Arzneipflanzen auf-
suchten und sammelten, die Bereitung der Medicamente übten und bei
der Behandlung der Kranken Dienste leisteten. Es ist sehr wahrschein-
lich, dass sich diese Verhältnisse ungefähr so gestalteten, wie es der
Verfasser des Tagebuchs1 des Walafridus Strabo mit fruchtbarer Phan-
tasie und anerkennenswerther Sachkenntniss schildert. —
Manche Lehrer der Heilkunde erlangten grossen Kuf. So erzählt
Bichee, dass er i. J. 991 zu Hembrand nach Chartres reiste, um von
ihm die Erklärung der Aphorismen des Hippokeates zu hören. Der-
selbe unterrichtete ihn auch in der Semiotik der Krankheiten und
lehrte, worin Hippokeates, Galen und Soeanus übereinstimmen. Er
besass bedeutende Kenntnisse in der Arzneimittellehre, Botanik und
Chirurgie, wie Bichee rühmend hervorhebt.2 Aus der Schule von
Chartres gingen viele berühmte Ärzte hervor, unter ihnen Johann, der
Leibarzt Heinrich I. von Frankreich. An der bischöflichen Schule zu
Bheims wirkte Gebbert d'Aueillac, als Pabst unter dem Namen
Sylvester IL bekannt, eine Zeitlang als Lehrer der Medicin.
Am Hofe Karls des Grossen bestand ausser der Palastschule, in
welcher die Kinder des Kaisers und einiger vornehmen Würdenträger
unterrichtet wurden, eine Art von Akademie, zu deren Mitgliedern die
bedeutendsten Gelehrten jener Zeit gehörten. Sie führten als solche
besondere Namen; Alcuin hiess Flaccus, Karl selbst wurde König David
genannt. Sie beschäftigten sich mit Theologie, Philosophie, Arithmetik,
Geometrie, Astronomie, Latein, Griechisch, Geschichte, Geographie und
Poesie.3 Diese Akademie scheint aber nur kurze Zeit bestanden zu
haben, während die Hofschule noch in der Mitte des 9. Jahrhunderts
blühte.
Im J. 789 beschloss die Synode von Aachen, dass in jedem Kloster
und Domstift eine Schule sei, in welcher die Knaben die Psalmen, die
1 Dasselbe wurde in dem Jahresbericht der Erziehungsanstalt des Benedik-
tinerstifts zu Maria-Einsiedeln (1856/57) veröffentlicht, ist aber eine Dichtung des
P. Martin Marty und keineswegs echt, wie einzelne Autoren seltsamer Weise
geglaubt haben.
2 Pertz: Monum. Germ., T. V (script. III), p. 643.
3 W. F. C. Schmeidler: Die Hofschule und die Hof- Akademie Karls des
Grossen, Breslau 1872.
11*
164 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Schriftzeichen, den Gesang, das Berechnen der kirchlichen Feiertage
und die lateinische Grammatik erlernen könnten.1 Das Muster dieser
Unterrichtsanstalten war die Schule zu Tours, wo Alctjin seit 796 als
Abt des St. Martin-Klosters lebte.
Berühmte Schulen dieser Art entstanden in Fulda, Hersfeld, Corvey,
Reichenau, St. Gallen, Mainz, Worms, Speyer, Köln, Münster, Bremen,
Hildesheim, Magdeburg, Paderborn, Halberstadt, in Salzburg, Freising,
Passau, Tegernsee, Benediktbeuern, Regensburg, in Mailand, Parma und
anderen Orten Italiens, ebenso bei vielen Klöstern Frankreichs, in Eng-
land, z. B. in Canterbury, und in Irland.
Dem Unterricht der dort ertheilt wurde, lag die Lehrmethode der
römischen Schulen zu Grunde. Die Unterrichtsgegenstände wurden in
einer bestimmten Reihenfolge vorgetragen und umfassten in der einen
Abtheilung die drei sprachlichen Fächer, nämlich die Grammatik, Rhe-
torik und Dialektik, und in der anderen die Arithmetik, Geometrie,
Astronomie und Musik. Man nannte dies das Trivium und das Qua-
drivium.
Die Begriffe dieser Lehrgegenstände deckten sich aber keineswegs
mit den heutigen; denn in der Rhetorik wurden z. B. nicht blos die
Grundregeln der Beredsamkeit gelehrt, sondern auch der lateinische
Geschäftsstyl geübt, da die Geistlichen zu jener Zeit die Urkunden aus-
stellten und die Kanzleigeschäfte besorgten. Daran schloss sich häufig
das Studium des Rechts und der Gesetze. Unter Geometrie verstand
man hauptsächlich die Geographie und die Erdbeschreibung, deren
Kenntniss Heabanus Maubus namentlich für die Ärzte als nothwendig
erachtete, weil sie dadurch die eigenthümlichen klimatischen Verhält-
nisse der verschiedenen Gegenden und die Lage der einzelnen Orte
kennen lernen und sich darnach bei den Verhaltungsmassregeln , die
sie bei den Krankheiten ertheilen, richten könnten.2 Auch wurde damit
der Unterricht in den Naturwissenschaften verbunden, indem die wich-
tigsten der damals bekannten Thatsachen aus den drei Naturreichen,
aus der Anthropologie und Meteorologie gelehrt wurden.
Später wurden überall, wo eine Pfarrei war, Schulen gegründet.
Der Unterricht beschränkte sich hier auf die elementaren Gegenstände.
Seit dem Aufblühen der Städte, seit dem Ende des 12. Jahrhunderts
entstanden auch Stadtschulen, welche das gleiche Lehrziel anstrebten,
1 F. A. Specht: Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den
ältesten Zeiten bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1885, S. 21.
2 Specht a. a. 0. S. 145. — St. Fellner: Compendium der Naturwissen-
schaften an der Schule zu Fulda im 10. Jahrhundert, Berlin 1879, S. 28.
Die Medicin der Germanen u. der Unterricht in den Kloster schulen. 165
wie die Kloster- und Stiftsschulen, und sie in ihren Leistungen manch-
mal sogar übertrafen.
Dies war die Vorbildung , welche die unterrichteten Ärzte jener
Zeit, besonders diejenigen, die dem geistlichen Stande angehörten, be-
sassen. Dass es neben ihnen viele Heilkünstler gab, welchen dieselbe
mangelte, unterliegt keinem Zweifel. Die grosse Menge der Empiriker
blieb ohne Kenntniss der medicinischen Literatur und lernte die Heil-
kunde wie ein Handwerk.
Die wissenschaftliche Bearbeitung der Medicin lag gänzlich dar-
nieder. Der Schatz des Wissens, den man aus dem Alterthum über-
nommen hatte, wurde nicht vermehrt, ja nicht einmal unversehrt er-
halten. Es gab in jener Periode keine Naturforschung und kaum eine
Naturbeobachtung.
Die medicinische und naturwissenschaftliche Literatur bestand
hauptsächlich in Auszügen und Bearbeitungen der älteren Werke. Nur
selten fanden darin selbstständige Ideen und Erfahrungen einen Platz.
Hierher gehören das Receptbuch des Mailänder Erzbischofs Benedictes
Ceispüs, das encyklopädische Werk des Heabanus Maukus, Erzbischofs
von Mainz und primus praeceptor Germaniae, was K. Schmid als „erster
Schulmann Deutschlands" übersetzt, ferner die Schilderung der Pflanzen
des Walafeidus Steabo, Abtes von Reichenau, die medicinischen
Schriften des Abtes Beethaeius, des räthselhaften Macee Floeldus
Buch über die Heilkräfte der Pflanzen, der Lapidarius des Bischofs
Maebod von Rennes, der Bestiarius des Engländers Philipp von Thaün,
die Naturlehre seines Landsmanns Alexandee Neckam, die Physica
der hl. Hildegaed, Äbtissin des Klosters auf dem Rupertsberge bei
Bingen, „eine unverkennbar aus der Volksüberlieferung geschöpfte
Heilmittellehre" wie Meyee1 dieses Buch treffend kennzeichnet, und
der vielbesprochene Physiologus.
Das geistige Leben des christlichen Europas jener Zeit glich einer
durch ihre einförmige Flachheit und öde Unfruchtbarkeit ermüdenden
Landschaft; nur selten begegnet dem Wanderer ein Punkt, welcher
seinen Blick zu fesseln vermag.
Da tauchten im Süden unseres Welttheils Bilder voll berauschen-
der Farbenpracht auf, welche den Muth neu belebten und die Brust
mit Hoffnung erfüllten. Das glänzende Gestirn der arabischen Cultur
ergoss sein Licht über diese Länder und sandte einige Strahlen nach
den übrigen Theilen des christlichen Abendlandes, welche hier erwär-
mend und zugleich aufklärend wirkten.
Meyer a. a. 0. III, 518.
166 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Die Schule von Salerno.
In Salerno in Unter -Italien, wo sich der Einfluss der Araber in
Folge der Nachbarschaft Siciliens, welches lange Zeit ihrer Herrschaft
unterworfen war, zunächst geltend machte, 1 entstand eine medicinische
Schule, welche schon im 10. Jahrhundert einen weitverbreiteten Ruf
erlangte.
Der Ursprung derselben ist unbekannt, obwohl schon viel darüber
geschrieben worden ist. Wenn man von den leeren Yermuthungen
absieht, welche einzelne Autoren darüber ausgesprochen haben, so treten
folgende Meinungen in den Vordergrund. Einige glaubten, dass sie
schon im 7. Jahrhundert existirt und an die Traditionen des Griechen-
thums angeknüpft habe, welches sich in Sprache und Sitte in jenen
Gegenden länger erhielt, als im übrigen Italien; 2 Andere, wie K. Spkengel,
Puccinotti3 und eine Zeitlang auch S. de Renzi, leiteten die Grün-
dung derselben von den Benediktinern ab, welche in Monte-Casino, in
La Cava und Salerno selbst Klöster errichtet hatten, während Haller
u. A. dieselbe den Arabern zuschrieben. Meyer4 stellte die Hypothese
auf, dass in Salerno Anfangs eine Gilde, eine Zunft der Ärzte bestanden
habe, welche ihre Lehre geheim hielt, und dass die letztere erst durch
Constantin Africanus veröffentlicht und dadurch der Grund zur Ent-
wickelung einer ärztlichen Unterrichtsanstalt in unserem Sinne gelegt
worden sei. Überzeugende Beweise für diese Ansichten wurden von
Niemandem geliefert.
Die historischen Thatsachen der Salernitanischen Medicin reichen
bis in die Mitte des 9. Jahrhunderts zurück; in Documenten v. J. 848
und 855 werden die dortigen Ärzte Josef und Josua erwähnt. 5 Um
d. J. 900 lebte Ragenifrld, ein Longobarde, wie der Name zeigt, als
Leibarzt des Fürsten Waimar von Salerno, und ein halbes Jahrhundert
später der Arzt Petrus, welcher beim Fürsten Gisulf in hoher Gunst
stand und zum Bischof von Salerno erhoben wurde. In dieser Zeit
treten noch andere Ärzte auf, welche dem geistlichen Stande ange-
hörten; aber neben ihnen übten in Salerno auch jüdische Ärzte die
Heilkunst aus, wie durch historische Zeugnisse festgestellt ist.6
1 Vergl. A. F. v. Schack: Poesie und Kunst der Araber in Spanien und
Sizilien, Berlin 1865, II, 1—252.
2 G. Morosi: Studij sui dialetti greci della terra d'Otranto, Napoli 1870.
3 Storia della medicina, Livorno 1855, II, p. 247 u. ff.
4 a. a. 0. III, 451.
5 S. de Renzi: Storia docum. della scuola med. di Salerno, Napoli 1857,
p. 157 u. ff. 6 S. de Renzi: Collectio Salernitana III, 325, Napoli 1852.
Die Schule von Salerno. 167
Die Ärzte Salernos hatten im 10. Jahrhundert bereits einen sol-
chen Ruf, dass sie als Leibärzte an fremde Höfe gezogen wurden. Einer
derselben spielte am Hofe Ludwigs des Einfältigen von Frankreich eine
merkwürdige Rolle. Er war Arzt der Gemahlin desselben, als sich
zwischen ihm und seinem Collegen Deroldus, welcher als ärztlicher
Beistand des Königs diente und später Bischof von Amiens wurde, ein
wissenschaftlicher Wettkampf entspann, der wie Richer1 erzählt, die
Folge hatte, dass sie sich aus Xeid gegenseitig zu vergiften trachteten
Vornehme Kranke suchten bereits zu dieser Zeit Salerno auf, um
die Hilfe der dortigen Ärzte in Anspruch zu nehmen. Aus diesem
Grunde begab sich Bischof Adalberon von Verdun i. J. 984 dorthin,
fand aber keine Heilung von seinem Leiden. 2 Auch der Abt Desiderius,
welcher nachher unter dem Namen Victor III. den päbstlichen Thron
bestieg, hoffte hier seine durch Nachtwachen und Fasten zerstörte Ge-
sundheit wieder zu erlangen.3 Herzog Guiscard schickte seinen Sohn
Bohemund hierher, damit seine im Kriege erhaltene Wunde geheilt
werde; wegen derselben Ursache verweilte auch Wilhelm der Eroberer,
der spätere König von England, in Salerno. Der Ruhm seiner Ärzte
wuchs mehr und mehr, und aus fernen Ländern kamen die Patienten,
um sich von den dortigen Ärzten behandeln zu lassen. Der Minne-
sänger Hartmann von der Aue verlegte den Schauplatz seines rüh-
renden Gedichts „Der arme Heinrich" hierher, liess seinen Ritter aber
nicht durch die Kunst der Ärzte, sondern durch ein Wunder vom
Aussatz genesen.
Über das Alter und die Entstehung der Schule von Salerno wusste
man schon im 11. Jahrhundert nichts Bestimmtes anzugeben. Der als
Dichter und Arzt bekannte Alphanus, welcher später zum Erzbischof
von Salerno erhoben wurde, schreibt, dass die Heilkunst dort schon
vor Guaimarus IL, d. i. im 9. Jahrhundert geblüht habe.4
Der normannische Historiker Ordericus Vitalis, welcher um
d. J. 1140 lebte, erzählt, dass, als der berühmte Rodoleus, genannt
Mala Corona, nach Salerno kam, dort schon seit alter Zeit bedeutende
medicinische Schulen bestanden.5 Auch bei einer anderen Gelegenheit
bezeugt dieser Autor ihren längst bestehenden Ruhm.
1 Richer: Hist., Hb. II, c. 59 in Pertz: Monum. German., T. V (script. III),
p. 600.
2 Gest. episcop. Virdun. in Pertz: Mon. Genn., T. VI (script. IV), p. 47
u. Hugo Flav. Chron., üb. I in Pertz: Mon. Germ., T. X (script, VIII), p. 367.
3 de Renzi: Storia doc. della scuola, p. 150.
4 de Renzi: Collect, Salem. I, p. 95, Anm.
5 Ord. Vit. Hist, eccles. III in Hist. Normann. scriptor. ed. Duchesne, Paris
1619, p. 477 „tibi maximae medicorum sckolae ab antiquo tempore habentur".
168 Der rnedicinische Unterricht im Mittelalter.
In der alten Chronik von Salerno, welche Ant. Mazza benutzte
und dann Salv. de Renzi wieder auffand,1 wird berichtet, dass die
dortige rnedicinische Schule von vier Ärzten gestiftet wurde, nämlich
vom jüdischen Rabbi Elinus, dem Griechen Pontus, dem Sarazenen
Adala und einem Salernitaner, welche in ihrer Muttersprache vortrugen.
Unter den ersten Lehrern werden Guglielmus de Bononia, Michael
Scottüs, Guglielmus de Ravegna, Eneicus de Padua, Tetulus
Geaecus, Salümonus Ebeaeus und Abdana Saeacenus genannt. Es
ist selbstverständlich, dass diese Nachrichten nicht als historische That-
sachen angesehen werden dürfen; aber es liegt darin wahrscheinlich
ein Körnchen Wahrheit verborgen. Man wollte damit andeuten, dass
zu der Gründung der Schule von Salerno Angehörige verschiedener
Nationen, Juden, Araber, Griechen und Lateiner, beigetragen haben,
dass der Unterricht dort Anfangs in verschiedenen Sprachen ertheilt
wurde, und dass die rnedicinische Lehre der Salernitaner sich aus den
wissenschaftlichen Errungenschaften der Griechen und Römer, der
Hebräer und Araber entwickelte. Einzelne der angeführten Namen
sind durch eine unrichtige Schreibweise verdorben; es ist leicht zu er-
kennen, dass Elinus aus Elias entstanden ist, und Pontus in Gario-
pontus, Adala in Abdallah verbessert werden muss.
Aus diesen Mittheilungen ergiebt sich, dass wir nicht wissen, wann
und wie die Schule von Salerno entstanden ist. Die Anfänge derselben
waren entweder so bescheiden, dass sie unbemerkt blieben, oder sie
reichen so weit in der Zeit zurück, dass sich Niemand daran erinnern
konnte.
Die wechselvollen politischen Schicksale dieser Stadt, welche ihre
Bewohner mit den Römern und Griechen, den Longobarden, Arabern
und Normannen in Berührung brachten, mussten tiefe Spuren in ihrer
Cultur-Entwickelung hinterlassen und einen mächtigen Einfluss ausüben
auf alle Gebiete des geistigen Lebens.
In Italien erhielt sich die im Alterthum gebräuchliche Einrichtung,
dass Privat -Gelehrte Schüler annahmen und in ihren Wissenschaften
unterrichteten, auch im Mittelalter.2 Wenn die Ärzte diesem Beispiel
folgten, so wird es ihnen in Salerno, dessen mildes Klima und herrliche
1 Mazza: Urbis Salem, hist. et antiq., Nap. 1681, abgedruckt in G-raevius
et Purmann: Thesaur. antiq. et hist. Italiae, Lugd. Bat. 1723, t. IX, pars 4. —
de Renzi: Storia docum., p. XXVI u. ff. u. Collect. Salern. I, p. 106 u. ff.
2 W. Giesebrecht: De litterarum studiis apud Italos primis medii aevi
saeculis, Berol. 1845, p. 15. — S. de Renzi (Storia docum., p. 161) führt eine
grosse Anzahl von Ärzten an, welche zur Zeit der Longobarden in Italien prak-
tizirten; einer derselben wird zugleich als magister scolae bezeichnet.
Die Schule von Salerno. 169
Lage an der Meeresbucht , unweit von schattigen Wäldern und heil-
kräftigen Mineralquellen, die Kranken aus weiter Ferne anzogen, niemals
an Schülern gefehlt haben.
Es ist nicht bekannt, wann die Ärzte, welche in Salerno die Heil-
kunst lehrten, sich zu einer gemeinsamen Wirksamkeit verbanden und
eine Organisation gaben. Anfangs durfte, wie es scheint, als Lehrer
der Heilkunde jeder Arzt auftreten ohne Unterschied der Nationalität
und. des religiösen Glaubens. Später befanden sich unter den dortigen
Lehrern der Medicin viele Geistliche, von denen einige sogar zu hohen
kirchlichen Würden gelangten. Aber niemals gewannen dieselben das
ausschliessliche Recht, zu lehren, wie dies an den meisten übrigen
Hochschulen des Mittelalters üblich wurde. Zu allen Zeiten bewahrte
die Anstalt ihren weltlichen Charakter, welcher in ihrer Entstehung
begründet war.
In Salerno wurden sogar die Frauen zur Lehrthätigkeit zugelassen,
und einige derselben traten auch als medicinische Schriftstellerinnen
auf. Am meisten bekannt unter den weiblichen Ärzten wurde Trotula,
die Verfasserin eines oft citirten Werkes über die Krankheiten der
Frauen und die Behandlung derselben vor, während und nach der
Geburt. In ihren Schriften erörterte sie alle Theile der Pathologie,
selbst die für das weibliche Gefühl recht peinlichen Erkrankungen der
männlichen Geschlechtstheile. Ihre Berufsgenossin Abella schrieb de
natura seminis humani. Einer späteren Zeit gehören die durch Schön-
heit und Klugheit gleich ausgezeichnete Costanza Calenda, die Tochter
des Priors (Vorstandes) der medicinischen Schule, ferner Meecueiade
und Rebecca Guaena an.
In der ersten Zeit des Bestehens der Schule von Salerno waren
die Lehrer derselben wahrscheinlich nur auf die Honorare angewiesen,
welche ihre Schüler für den Unterricht zahlten. Später empfingen sie
bestimmte Besoldungen, welche verschieden waren und bei Einzelnen
12 Unzen Goldes jährlich betrugen; im Verlauf der Zeiten wurden
dieselben natürlich erhöht. Auch erhielten die Lehrer Steuerfreiheit
und zuweilen auch die Nutzniessung von Häusern und Grundstücken.1
Den medicinischen Unterricht ertheilten gleichzeitig mehrere Lehrer,
wie aus dem von S. de Renzi mitgetheilten Verzeichniss derselben
hervorgeht. 2
Zu ihren Vorträgen hatten Angehörige aller Nationen Zutritt;
1 de Renzi: Collect. Salern. I, 366 u. ff. — Storia docum. a. a. 0. Anhang,
Docum. No. 296 u. ff.
2 de Renzi: Collect. Salernit, I, 517. III, 326 u. ff. Es enthält 340 Namen
auf einen Zeitraum von ungefähr 1000 Jahren.
170 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter.
ebensowenig bildete dabei das Geschlecht oder die Keligion ein Hin-
derniss. Sehr zahlreich waren unter ihnen im 11. Jahrhundert die
israelitischen Studenten vertreten, wie Mazza berichtet. Wenn dagegen
der jüdische Reisende Benjamin von Tudela erzählt, dass er, als er
i. J. 1160 Salerno besuchte, unter seinen vielen dort lebenden Glaubens-
genossen keinen einzigen Arzt getroffen habe, so widerspricht diese
Angabe allen übrigen Nachrichten, nach welchen es theils ausdrücklich
bezeugt wird, dass einzelne Salernitanische Ärzte der mosaischen Reli-
gion angehörten, theils aus deren Namen vermuthet werden darf.1
Aus weiter Ferne kamen die Studierenden, um sich in Salerno
der Heilkunde zu widmen, sogar aus Deutschland und Frankreich. Ein
Student aus Köln, welcher im 12. Jahrhundert in Salerno medicinisehe
Vorlesungen besucht hatte, von dort aber wegen Krankheit in seine
Heimath zurückkehren musste, klagt in einem Gedicht über die ihm
verhassten betrügerischen Leute von Salerno.2 Ein anderer Schüler,
Aegidius (Gilles) von Corbeil, welcher später als Canonicus und
Leibarzt des Königs Philipp August von Frankreich in Paris lebte,
verkündete dort in Wort und Schrift den Ruhm der medicinischen
Schule von Salerno.
Über die Art des Unterrichts in den einzelnen Disciplinen ist
Folgendes bekannt:
Die Anatomie wurde an Schweinen gelehrt. In der von einem
ungenannten Verfasser herrührenden Demonstratio anatomica, welche
offenbar einen Collegien -Vortrag bildete, werden Vorschriften ertheilt,
wie dabei verfahren werden sollte. Darnach wurde das Thier durch
die Durchschneidung der Halsgefässe getödtet, dann an den Hinter-
beinen aufgehängt und, nachdem es ausgeblutet hatte, zum Unterricht
benutzt. Derselbe beschränkte sich, wie es scheint, hauptsächlich auf
die Eröffnung der grossen Körperhöhlen und die Demonstration der
darin gelagerten Organe. Daran schlössen sich einige Bemerkungen
über die Gestalt und den vermeintlichen Zweck derselben beim Menschen.
Man stützte sich dabei auf die Schriften des Galen, Rufus und Theo-
philus Peotospatharius, ohne dass man deren wissenschaftliche Höhe
zu erreichen vermochte. Auch Copho's Anatomie des Schweines bestand
im Wesentlichen nur in einer Aufzählung der wichtigsten Körpertheile.
1 Vergl. M. Steinschneider in Virchow's 'Archiv, Bd. 38 (1867), S. 74 u. ff.
2 Laudibus eternum nullus negat esse Salernum;
Iüug pro morbis totus circumfluit orbls.
Nee debet sperni, fateor, doctrina Salerni
Quam vis exosa mihi sit gens lila dolosa.
Jac. Grimm: Gedichte des Mittelalters in Kleine Schriften, Berlin 1866, S. 64.
Die Schule von Salerno. 171
Doch finden sich darin einige Hinweise auf eingehendere Untersuchungen
und pathologisch-anatomische Beobachtungen. So wird z. B. gesagt,
dass man die Lunge durch Einführen eines Röhrchens von der Trachea
aus aufblasen kann. 1 Ferner ist von Stoffablagerungen im Herzbeutel
und im Pleura-Sack die Rede.
Mehr Pflege widmete man der praktischen Heilkunde. Schon
i. J. 820 wurde in Salerno vom Erzpriester Adelmus ein öffentliches
Hospital gegründet, welches mit dem Benediktiner-Kloster in Verbindung
gebracht wurde. Später entstanden noch mehrere andere Krankenhäuser
und Wohlthätigkeitsanstalten , die mit reichem Besitz ausgestattet und
von Krankenpfleger-Orden geleitet wurden.2 Ob dort auch klinischer
Unterricht ertheilt wurde, ist ungewiss.
Akchimatthaeus giebt in einer Schrift3 ausführliche Rathschläge,
wie sich der Arzt beim Besuch des Kranken verhalten soll. Er möge
sich unter den Schutz Gottes stellen, heisst es dort, und den Beistand
des Engels, der den Tobias begleitete, anflehen. Auf dem Wege zu
dem Kranken soll er den Boten, der ihn geholt hat, über die Verhält-
nisse und Leidenszustände des Patienten ausfragen; denn wenn er später
nach der Untersuchung des Pulses und des Urins keine bestimmte
Diagnose zu stellen vermag, so wird er den Patienten wenigstens durch
die genaue Kenntniss der Krankheitssymptome in Erstaunen setzen
und dadurch sein Vertrauen gewinnen. Auch hält es der Verfasser
für zweckmässig, dass der Kranke dem Priester beichtet, bevor der
Arzt zu ihm kommt; denn „wenn davon erst später die Rede ist, so
glauben die Kranken, dass sie verloren sind". „Wenn der Arzt die
Wohnung des Patienten betritt, soll er weder hochmüthig noch gierig
aussehen, sondern mit bescheidener Miene grüssen, sich hierauf in der
Nähe des Kranken niederlassen, ein Getränk, das man ihm anbietet,
zu sich nehmen, und mit einigen Worten die Schönheit der Gegend,
die Lage des Hauses und die Freigebigkeit der Famile loben, falls dies
passend erscheint." Hierauf wird die Art besprochen, wie der Puls
und der Urin untersucht wird. „Wenn der Arzt den Kranken verlässt,
soll er ihm versprechen, dass er wieder gesund werden wird, der Um-
gebung desselben aber erklären, dass er schwer krank sei; denn wenn
der Patient dann geheilt wird, so wird der Ruhm des Arztes um so
grösser sein, wenn jener aber stirbt, so werden die Leute sagen, dass
der Arzt dies vorausgesehen hat." Der Verfasser erörtert dann die
1 de Renzi: Collect. Salem. IT, 389.
2 de Renzi: Storia docnm. della scuola med. di Salerno, p. 563, Doc. 329.
3 Anonymi Salernitani de adventu medici ad aegrotum ed. A. Gr. E. Th.
Henschel, Vratist. 1850. — de Renzi: Collect. Salernit. II, 74—81. V, 333—349.
172 Der medicinische Unterricht im. Mittelalter.
Behandlung des Kranken, namentlich seine Ernährung, die Anwendung
von Bädern und der Blutentziehungen und setzt dabei auseinander,
wie sich der Arzt benehmen soll, wenn er vom Kranken zu Tisch ge-
laden wird, „wie dies üblich ist", und wenn er das Honorar für die
geleisteten Dienste fordert.
Diese Schrift ist ein seltsames Gemisch von reicher ärztlicher Er-
fahrung, tiefer Frömmigkeit und schlauer Berechnung. Sie ist, wie aus
der Schreibweise hervorgeht, offenbar für Anfänger in der Heilkunst
bestimmt und wirft ein merkwürdiges Licht auf die socialen Verhält-
nisse des ärztlichen Standes jener Zeit.
Die ärztlichen Grundsätze der Salernitanischen Schule beruhten
auf den Theorien des Alterthums. Die Säftelehre der Hippokratiker,
die Communitäten der Methodiker und der Galenismus bildeten ihre
Stützen, während in der Arzneimittellehre die Fortschritte, welche man
den Arabern verdankte, ihren Platz erhielten.
Die Schilderung der Krankheiten ist naturgetreu und wird durch
manche selbstständige Beobachtung veranschaulicht. Namentlich ver-
dient die Beschreibung der Intermittens-Fieber, der Geistesstörungen,
Pneumonie, Phthisis, der Lepra, des Lupus (malum mortuum) und der
an den Geschlechtstheilen vorkommenden Geschwüre, unter denen der
Schanker leicht zu erkennen ist, hervorgehoben zu werden. Die Salerni-
tanischen Ärzte erkannten die üble prognostische Bedeutung mancher
Symptome recht gut; so erklärten sie, dass Schwindsüchtige, bei welchen
Durchfälle auftreten, bald darauf sterben.
In der Behandlung legten sie grossen Werth auf eine vernünftig
geregelte Lebensweise und eine passende Ernährung. Wenn z. B. der
Verdacht einer beginnenden Lungen-Phthisis vorlag, so Hessen sie den
Kranken gut und kräftig nähren. Pneumoniker mussten sich in einer
gleichmässig erwärmten Luft, z. B. im Winter im geheizten Zimmer,
aufhalten.1 Zur Abkühlung der Luft des Krankenzimmers empfahl
Afflacius die Einrichtung, dass beständig Wassertropfen zur Erde
fallen und dort verdunsten.2 Bei Milzanschwellungen verordnete man
Eisen.
Die Chirurgie nahm einen niedrigeren Standpunkt ein, als zu den
Zeiten der Griechen und Kömer. Es lag dies theils an der Vernach-
lässigung der Anatomie, theils daran, dass die Chirurgie weniger von
den gebildeten Ärzten als von den Empirikern ausgeübt wurde, be-
1 de Renzi: Collect. Salern. II, 215 u. ff.
2 de Renzi: Collect. Salernit. II, 741 (ßat etiam artificialiter pluvialis aqua
circa aegrum).
Die Schule von Salerno. 173
sonders seitdem sehr viele Mitglieder des ärztlichen Standes dem Klerus
angehörten.
In der älteren Zeit beschränkten sich die chirurgischen Kenntnisse
hauptsächlich auf die Behandlung der Wunden, die Heilung der Knochen-
brüche und das Einrichten der Verrenkungen. Erst am Ende des
12. Jahrhunderts unternahm es ein Arzt, die Grundsätze der Chirurgie,
welche sich durch Tradition erhalten hatten, schriftstellerisch zu ver-
treten. Dieses Werk, welches den Ruggiero zum Verfasser hat, aber
häufig nach seinem späteren Bearbeiter Rolando genannt wird, zeigt,
dass die Chirurgen der Salernitanischen Schule nicht so sehr in den
Schriften der Alten als in der eigenen Erfahrung Belehrung suchten.
Sie wurden dadurch freilich vor jenem kritiklosen Nachbeten fremder
Beobachtungen, wie es in der arabischen Literatur häufig zu Tage tritt,
bewahrt, aber zugleich der wichtigen Anregung und Correktur, welche
die Kenntniss der Geschichte einer Wissenschaft bietet, bis zu einem
gewissen Grade beraubt. Immerhin ist es bemerkenswerth, dass unter
den Mitteln der Blutstillung neben den Stypticis auch der blutigen
Naht und der Unterbindung gedacht wird.1 Zur Beseitigung des
Kropfes wurde der innere Gebrauch des Meerschwammes empfohlen
oder die Operation mittelst des Haarseils ausgeführt; um Recidiven zu
verhüten, wurde dabei die ganze Kapsel exstirpirt. Auch wurde von
der Massage des Kropfes Gebrauch gemacht.2
Von den übrigen Operationen werden die Trepanation, die Ent-
fernung der Nasenpolypen, die Resektion des Unterkiefers,3 die Ope-
ration der Hernien, welche nach der Anleitung des Paulus Aegineta
vorgenommen wurde, und der Steinschnitt nach der Vorschrift des
Celsus genannt. Die Staaroperation geschah durch Skleroticonyxis.
Ferner ist von geschwürigen Zerstörungen im Gaumen und am männ-
lichen Gliede die Rede, welche sich auf carcinomatöse und syphilitische
Erkrankungen beziehen, sowie von bösartigen Geschwülsten des Mast-
darms und der Gebärmutter.
Der Verfall der chirurgischen Operationskunst und die häufige
Anwendung des Glüheisens beweisen den Einfluss der arabischen Heil-
kunde. Noch schlimmer als mit der Chirurgie stand es mit der Ge-
burtshilfe, obwohl dieses Fach von wissenschaftlich gebildeten Frauen
1 Chirurg. Rogeri in de Renzi: Collect. Salern. II, 436.
2 A. Wölfler: Die chirurg. Behandlung des Kropfes, Berlin 1887, S. 10 u. ff.
8 de Renzi: Collect. Salernit. II, 445. 513. 628. 650 (lib. II, der Glossen der
vier Meister). Die räthselhaften vier Meister erinnern an die vier Doktoren der
Rechtswissenschaft zu Bologna, von denen Savigny (Geschichte des römischen
Rechts, Bd. IV, S. 68) spricht.
174 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
bearbeitet wurde. Die Trotula deutet nur an einer einzigen Stelle
ihres Werkes auf die Wendung hin.1 Im Allgemeinen bestand die
Geburtshilfe hauptsächlich in der Anwendung innerer Medicamente und
psychischer Mittel.
Eine feste abgeschlossene Organisation erhielt die Schule von Sa-
lerno erst durch die von der Staatsbehörde angeordnete Einführung
von Prüfungen. König Roger (Ruggiero) erliess bereits i. J. 1140 das
Gesetz: „Wer von nun an die ärztliche Praxis ausüben will, soll sich
unseren Beamten und Richtern vorstellen und ihrem Urtheil unter-
werfen. Wer so verwegen ist, dies zu unterlassen, wird mit Gefängniss
und Confiskation seines Vermögens bestraft. Diese Anordnung hat den
Zweck, die Unterthanen unseres Reiches vor den aus der Unwissenheit
der Ärzte entspringenden Gefahren zu schützen."2
Der Hohenstaufen-Kaiser Friedrich II. bestätigte dieses Gesetz und
gab der medicinischen Schule zu Salerno i. J. 1240 eine ausführliche
Studien Ordnung. „Da man die medicinische Wissenschaft nur dann
verstehen kann," heisst es in seinen Verordnungen, „wenn man vorher
etwas Logik gelernt hat, so bestimmen wir, dass Niemand zum Studium
der Medicin zugelassen werde, bevor er sich nicht drei Jahre hindurch
mit Logik beschäftigt hat. Nach diesen drei Jahren mag er, wenn er
will, zum Studium der Medicin übergehen. Auf das letztere muss er
fünf Jahre verwenden und sich innerhalb dieser Zeit auch Kenntnisse
in der Chirurgie erwerben, weil dieselbe einen Theil der Heilkunde
bildet. Nachher, aber nicht früher, darf ihm die Erlaubniss, zu prak-
tiziren, ertheilt werden, vorausgesetzt, dass er sich dem von der Be-
hörde vorgeschriebenen Examen unterzieht, und dabei ein Zeugniss
darüber, dass er die gesetzmässige Zeit studiert hat, vorlegt."3
„Die Lehrer sollen während des Quinquenniums in ihren Vor-
lesungen echte Schriften des Hippokeates und Galen über die Theorie
und die Praxis der Heilkunde erklären."
„Aber auch wenn die vorgeschriebenen fünf Jahre des medicinischen
Studiums vorüber sind, wird der Arzt nicht sofort selbstständig prakti-
ziren, sondern noch ein volles Jahr hindurch in der Ausübung seines
Berufs einen älteren erfahrenen Praktiker zu Rath ziehen."
1 de Renzi: Collect. Salern. I, 149 u. ff. — v. Siebold a. a. 0. I, 317.
2 Quisquis amodo mederi vohierit, officialibus nostris et judicibus se pre-
sentet, eorum discutiendus judicio; quod si sua iemeritate presumpserit, carceri
constringatur bonis suis omnibus publicatis. Hoc enim prospectum est, ne in
regno nostro subjecti periclitentur ex imperitia medicorum. Hist. diploin.
Fried. IL imperat. ed. Huillard-Breholles, Paris 1854, T. IV, pars 1, p. 149, tit. 44.
3 Hist. diplom. Frid. IL a. a. 0. p. 235, lib. 3, tit. 46.
Die Schule von Salerno. 175
Über die Beweggründe, welche die Einführung ärztlicher Prüfungen
hervorriefen, wird gesagt: „Wir fördern den Nutzen des Einzelnen,
indem wir für das allgemeine Wohl sorgen. Wenn wir demnach den
schweren Verlust und unersetzbaren Schaden ins Auge fassen, welcher
aus der Unwissenheit der Ärzte entspringen kann, befehlen wir, dass
in Zukunft Niemand den Titel eines Arztes in Anspruch nehme und
zu praktiziren oder zu kuriren wage, wenn er nicht zuerst zu Salerno
in einer öffentlichen Versammlung durch das Urtheil der Lehrer für
fähig befunden worden ist, sich dann durch schriftliche Zeugnisse seiner
Lehrer sowohl als unserer Beamten über seine Ehrenhaftigkeit und
seine wissenschaftliche Reife vor uns oder unserem Stellvertreter aus-
gewiesen und in Folge dessen die staatliche Erlaubniss zur Ausübung
der Praxis erhalten hat. Wer dieses Gesetz übertritt und ohne Licenz
zu praktiziren wagt, wird mit Einziehung seines Vermögens und Ge-
fängniss bis zu einem Jahre bestraft."1
In Bezug auf die Ausbildung der Chirurgen wurde bestimmt, „dass
kein Chirurg zur Praxis zugelassen werde, bevor er nicht durch schrift-
liche Zeugnisse der Lehrer der medicinischen Eacultät den Nachweis
geliefert hat, dass er wenigstens ein Jahr hindurch den Theil der Heil-
kunde studiert hat, welcher die Befähigung zur Ausübung der Chirurgie
verleiht, dass er in den Collegien namentlich die Anatomie des mensch-
lichen Körpers fleissig gelernt hat und auch darin vollkommen erfahren
ist, wie die Operationen mit Erfolg ausgeführt werden, und auf welche
Weise nachher die Heilung zu Stande kommt."2
Wenn der Arzt die Prüfungen bestanden und die staatliche Er-
laubniss zur Praxis erhalten hatte, so wurde ihm ein Diplom ausgestellt,
welches lautete: „Notum facimus fidelitati vestrae, quod ftdelis noster
N. N. ad euriam nostram aceedens , examinatus , inventus ftdelis et de
genere fidelium ortus et suffwiens ad artem medicinae exercendam, extitit
per nostram euriam approbatus. Propter quod de ipsius prudentia et le-
galitate conftsi) recepto ab eo in curia ?wstra fidelitatis sacramento et de
arte ipsa ftdeliter exercenda juxta consuetudinem juramento , dedimus ei
licentiam exercendi artem medicinae in partibus ipsis: ut amodo artem
ipsam ad honorem et fidelitatem nostram et salutem eorum qui indigent,
ftdeliter ibi debeat exercere. Quocirca ftdelitati vestrae praecipiendo man-
damus, quatenus nullus sit, qui praedictum N. N. ftdelem nostrum super
arte ipsa medicinae in terris ipsis, ut dictum est, exercenda impediat de
cetero vel perturbet.uS
1 a. a. 0. p. 150, tit. 45. 2 a. a. 0. p. 236.
3 Peter de Vineis: Epist., lib. VI, c. 24, Basil. 1740. — Hist. dipl. Frid. II.
a. a. 0. p. 150, Anm. 2.
176 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
In dem Eide, welchen der junge Arzt bei dieser Gelegenheit
schwören musste, wurde er verpflichtet, „Armen unentgeltlich seinen
Kath zu ertheilen und Apotheker, welche die Medicamente nicht den
Vorschriften entsprechend zubereiten, der Behörde anzuzeigen."
Ferner wurde gesetzlich angeordnet, wieviel er für einen Kranken-
besuch verlangen durfte. Darnach betrug die Maximaltaxe für eine
Kranken visite am Tage innerhalb der Stadt einen halben Gold-Tarenus, 1
ausserhalb des Ortes drei oder höchstens vier Tareni nebst Ersatz der
Reisekosten.
Dem Arzt wurde es untersagt, mit den Apothekern Geschäftsver-
bindungen einzugehen oder selbst eine Apotheke zu halten. Die Apo-
theker wurden angewiesen, die Arzneien nach der Vorschrift der Ärzte
zu bereiten und zu bestimmten Preisen zu liefern. Bevor sie zur Aus-
übung ihrer Kunst zugelassen wurden, mussten sie sich durch einen
Eid verpflichten, die Medicamente nach der vorgeschriebenen Eorm
herzustellen und sich dabei keinen Betrug zu Schulden kommen zu
lassen. Gleichzeitig wurde angegeben, welchen Preisaufschlag sich die-
selben bei Arzneien, welche vielleicht lange Zeit vorräthig gehalten
werden müssen, ehe sie zur Verwendung kommen, erlauben dürfen,
und ein Gesetz über die Anzahl der Apotheken in den verschiedenen
Städten des Landes in Aussicht gestellt.2 Ausserdem wurden Inspek-
toren ernannt, welche die Bereitung der Arzneien überwachen und
deren Tadellosigkeit durch Zeugnisse bestätigen sollten; in Salerno selbst
führten die Lehrer der Heilkunde die Aufsicht darüber.3
„Gleichzeitig verordnen wir," heisst es an derselben Stelle, „dass
Niemand über Medicin und Chirurgie irgendwo Vorlesungen halte,
als zu Salerno, oder den Titel eines Lehrers annehme, wenn er nicht
in Gegenwart unserer Beamten und der Lehrer dieser Kunst sorgfältig
geprüft worden ist." Den Beamten, welche bei der Ausführung dieser
Gesetze ihre Pflichten verletzten, wurde die Todesstrafe angedroht.
Die Verordnungen des Kaisers Friedrich IL dienten den späteren
Einrichtungen des medicinischen Studiums als Muster. Sie bildeten die
ersten Versuche einer staatlichen Organisation desselben.
Leider wurde in den folgenden Jahrhunderten der Einfluss der
weltlichen Behörden hier wie auf anderen Gebieten durch die zu-
nehmende Macht des Klerus zurückgedrängt. Diese Thatsache gab der
Cultur eine eigentümliche Färbung und beherrschte die Entwickelung
der Universitäten bis in die neueste Zeit.
1 Ein Gold-Tarenus war eine Goldmünze im Gewicht von 20 Gran.
2 Hist. diplom. Frid. IL a. a. 0. p. 236. 3 a. a. 0. p. 151, tit. 47.
Die Schule von Salerno. 177
Die medicinische Schule zu Salerno erlebte im 11. und 12. Jahr-
hundert ihre Blüthe. In dieser Zeit entfaltete sie eine reiche literarische
Thätigkeit, von welcher die Werke eines GUriopontus, Petroncellus,
Alphanus, der beiden Copho, der Platearier, des Constantinus Afei-
canus, welcher durch seine Übersetzungen viel dazu beitrug, dass die
Salernitanischen Ärzte mit der arabischen Heilkunde bekannt wurden,
das Arzneibuch des Bartholomaeus, welches schon bald nachher ins
Deutsche übertragen wurde,1 die Schriften des Afflacius, Aechimat-
thaeus, Musandinus und Aegidius von Coebeil, die Receptensamm-
lung des Nicolaus Peaepositus, die Uroskopie des Maueus, vor Allem
aber die berühmten Gesundheitsregeln der Schule von Salerno, welche
in alle Sprachen übersetzt wurden und mehr als 200 Auflagen erlebten,
Zeugniss geben.
Im Jahre 1252 beschloss der König Konrad, die medicinische
Schule zu Salerno zu einer Universität zu vervollständigen, an welcher
auch die Jurisprudenz und die artes gepflegt werden sollten. Aber sein
Plan kam nur theil weise zur Ausführung. König Manfred stellte i. J. 1258
die Universität Neapel, welche kurz vorher aufgehoben worden war,
wieder her, und es blieb in Salerno nur die medicinische Schule be-
stehen. Allerdings wurde dort neben der Heilkunde auch Rechts-
wissenschaft gelehrt; aber es wurden in diesem Fach keine akademischen
Würden verliehen.2
Als in Neapel und anderen Städten Italiens und Prankreichs me-
dicinische Schulen entstanden, verminderte sich die Zahl der Studie-
renden in Salerno. Dazu kam, dass auch die Lehrkräfte, welche dort
wirkten, allmälig von denjenigen anderer Hochschulen über troffen wurden,
und ihre wissenschaftliche Thätigkeit erlahmte. Schon Aegidius von
Coebeil klagte darüber, dass in Salerno bartlose unreife Knaben die
Würde des Arztes erhielten und als Lehrer der Heilkunde auftreten durften:
„0 wie tief bist Du von der Höhe des Ruhmes, Salerno,
Der einst so sehr Dich geschmückt, wie tief doch zu Boden gesunken!
Denn wie erträgst Du es doch, dass jetzt Deinem Boden entspriesset
Manch' unreifes Pflänzchen unwürdiger Söhne der Heilkunst,
Denen weit besser wohl ziemt Schulmeisters kräftige Ruthe
Und die gediegene Zucht des viel erfahrenen Alters,
Als dass sie selbst nun mit Pomp des Katheders Stufen betreten!"3
1 Jos. Haupt in den Sitzungsber. d. K. Akad. d. Wiss., Philos.-histor. KL,
Wien 1872, Bd. 71, S. 451 u. ff.
2 J. A. de Nigris bei J. C. G. Ackermann : Regimen sanitatis Salerni, Stendal
1790, p. 83.
3 Aegidius v. Corbeil: de medicam. compos., v. 569 u. ff. nach H. Haeser
in Nord u. Süd 1877, III, 7, S. 145.
Püschmanw, Unterricht. 12
178 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Im 14. Jahrhundert sagte Petrakca: „Es geht die Sage, dass die
Medicin in Salerno ihren Ursprung genommen hat, aber Alles fällt
einmal dem welkenden Alter zur Beute."
In den darauf folgenden Zeiten sank die Schule von Salerno mehr
und mehr, und alle Versuche, ihr durch Privilegien und Dotationen
frisches Leben einzuflössen, waren vergeblich. Ein Dekret der fran-
zösischen Regierung, welche eine Zeitlang die Geschicke des Landes
leitete, machte am 29. November 1811 der Existenz der ältesten me-
dicinischen Schule Europas ein Ende.
Die medicinische Schule zu Montpellier.
Auch die Entstehung der medicinischen Schule zu Montpellier
hüllt sich in sagenhaftes Dunkel. Man weiss nicht, wann die dortigen
Arzte begonnen haben, Schüler in der Heilkunde zu unterrichten.
Unter den Ärzten, welche im 10. und 11. Jahrhundert zu Mont-
pellier die Praxis ausübten, befanden sich wahrscheinlich viele Juden
und Araber; die Thatsache, dass ein grosser Theil der Bevölkerung
dieser Stadt aus Angehörigen dieser Nationen bestand, und die Nähe
Spaniens, wo die jüdischen Ärzte unter der arabischen Herrschaft sehr
zahlreich und angesehen waren, rechtfertigen diese Annahme. An den
Triumphen, welche die arabische Medicin in Spanien feierte, hatten die
Juden einen hervorragenden Antheil.
Die Namen eines Moses Maimonides, Chasdai Schapeout, Juda
Halevi, Nachmanides u. A. erzählen von ihrem Wirken auf verschie-
denen Gebieten des geistigen Lebens. Die Kabbiner und jüdischen
Gelehrten beschäftigten sich gern mit der Medicin, und die medicinischen
Schulen der Juden zu Toledo, Granada und Cordova standen in hohem
Ansehen. Die arabischen Fürsten der iberischen Halbinsel ebenso wie
ihre christlichen Nachfolger wählten mit Vorliebe Juden zu ihren
Leibärzten. *
Aber die grössten Verdienste erwarben sich die jüdischen Ärzte,
indem sie die Vermittelung zwischen der arabischen Heilkunde und
dem christlichen Abendlande übernahmen. Theils durch Übersetzungen
arabischer Werke, die sie anfertigten, theils durch das lebendige Wort
machten sie die Bewohner der benachbarten christlichen Länder mit
J. Münz: Über die jüdischen Ärzte im Mittelalter, Berlin 1887, S. 17 u. ff.
Die medieiniscJie Schule zu Montpellier. 179
den wissenschaftlichen Errungenschaften ihrer semitischen Stammes-
genossen bekannt.
Die arabischen und jüdischen Schulen Spaniens bewahrten auch
nach der Eroberung dieses Landes durch die Christen lange Zeit den
Ruf der Gelehrsamkeit. Noch im 11. und 12. Jahrhundert pilgerten
wissensdurstige Forscher, wie Geebeet, der später als Pabst Sylvester IL
genannt wurde, Heemannus Conteactus, David Moeley, Pieteo von
Abano, Aenald von Villanova u. A. nach Spanien, besonders nach
Toledo, um dort in das Wissen der Araber eingeweiht zu werden.
Diesen Verhältnissen muss ohne Zweifel ein bedeutender Einfiuss
auf die Entstehung und Entwickelung der Schule von Montpellier zu-
geschrieben werden. Man hat sogar nachzuweisen versucht, dass ein
jüdischer Arzt aus Narbonne der Erste gewesen sei, der dort medici-
nischen Unterricht ertheilt habe. *
Als Benjamin von Tudela i. J. 1160 Montpellier besuchte, fand
er viele Juden unter den dortigen Einwohnern, wie er erzählt. Aber
schon damals machte sich die Reaktion gegen die Macht der Juden
geltend. Graf Wilhelm von Montpellier bestimmte 1121 in seinem
Testament, dass kein Sarazene oder Jude zur Würde eines Stadthaupt-
manns (Bailli) zugelassen werde, und 1146 und 1172 wurde dieses
Verbot in Betreff der Juden erneuert, da es den Sarazenen gegenüber
wahrscheinlich nicht mehr nothwendig erschien. Jedenfalls beweist
diese Thatsache, dass vor dieser Zeit die Araber und Juden in Mont-
pellier gleiche Rechte wie ihre christlichen Mitbürger besassen und
Anspruch auf die angesehensten Stellen erheben durften.
Bis zur Unterwerfung Spaniens durch die Christen herrschte dort
ein Geist der Toleranz, welcher auf die Humanität wie auf die Wissen-
schaft fördernd gewirkt hat; in diese Periode fällt, wie historisch fest-
steht, die Gründung der medicinischen Schule zu Montpellier.
Als Bischof Adalbeet von Mainz i. J. 1137 dorthin kam, bestand
dieselbe bereits und besass sogar schon eigene Gebäude, wie aus den
Worten des zur gleichen Zeit lebenden Bischofs Anselmus von Havelberg
hervorgeht. 2 Bischof Adalbeet liess sich von den Ärzten, welche in Mont-
pellier die Heilkunde lehrten, über die Ursachen der Naturerscheinungen
1 Ravel in der Revue therapeut. du midi, Montpellier 1855. — Carmoly:
Histoire des medecins juifs, Bruxelles 1844, p. 77. — A. Germain: Histoire de
la commune de Montpellier, Montpellier 1851, T. I, p. LXIX.
2 Anselmi episcopi Havelbergensis vita Adelberti Moguntini in Bibl. rer.
german. ed. Ph. Jaffe, Berol. 1866, III, 592. — A. Dübouchet: Un document
curieux sur l'ecole de medecine de Montpellier in der Gaz. hebd. des scienc. med.
de Montpellier, 10. Juli 1886.
12*
180 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
und der Krankheiten unterrichten, und zwar „nicht etwa weil er Ge-
winn aus der Kenntniss dieser Dinge ziehen wollte, sondern nur, um
das tiefverborgene Wesen der Dinge kennen zu lernen," wie sein Bio-
graph hinzufügt.
In einem Briefe des hl. Bernhard v. J. 1153 wird erzählt, dass der
Erzbischof von Lyon, als er erkrankt war, sich nach Montpellier begab,
um sich von den dortigen Ärzten behandeln zu lassen, und bei dieser
Gelegenheit nicht blos das Geld verbrauchte, welches er bei sich führte,
sondern noch Schulden machte.1 Jean de Salisbury, welcher auch
derselben Zeit angehört, erklärte, dass Diejenigen, welche sich der
Medicin widmen wollten, die dafür erforderlichen Kenntnisse in Salerno
oder Montpellier erwarben. Auch Aegidius von Corbeil und Hart-
mann von der Aue haben für den alten Ruhm der Schule von Mont-
pellier Zeugniss abgelegt. Der Mönch Caesariüs von Heisterbach
nannte Montpellier die „Quelle der medicinischen Weisheit" und be-
merkte mit Bedauern, dass die dortigen Ärzte an die Wunderheilungen
nicht glauben wollten und in ironischer Weise darüber sprachen.
I. J. 1180 erliess Wilhelm IV., Graf von Montpellier, die Ver-
ordnung, dass Jeder, „wer er auch sei und woher er stammen möge,
ohne dass er von irgend wem darüber zur Rede gestellt Averde, das
Recht habe, dort medicinischen Unterricht zu ertheilen."2
Obwohl sich in Folge dessen die medicinische Schule sehr hob?
war diese schrankenlose Lehrfreiheit doch nicht aufrecht zu halten,
weil dadurch manche ungeeignete Elemente angezogen wurden. Die
Lehrer und Schüler wünschten deshalb, dass Massregeln dagegen ge-
troffen wurden. Es ist bezeichnend für die Macht, welche der Klerus
unterdessen gewonnen hatte, dass man sich an den päbstlichen Legaten
wandte, der im Einvernehmen mit den Bischöfen von Maguelone,
Avignon u. A. i. J. 1220 die gewünschten Bestimmungen traf.
Cardinal Konrad, welcher dadurch die Grundlagen zur weiteren
Entwickelung der Schule von Montpellier schuf, war ein Deutscher und
stammte aus dem schwäbischen Geschlecht der Grafen von Urach. Er
wies in den Statuten, die er entwarf, zunächst darauf hin, dass die
Heilkunde in Montpellier schon seit langer Zeit blühe und Ruhm ernte^
und gab dann das Gesetz, dass fortan Niemand dort als Lehrer dieser
1 Expendit et quod habebat ed quod non habebat in Bernard. Epist 307,
nach Astruc: Memoires pour servir ä Thistoire de la faculte de medecine de
Montpellier, Paris 1767, p. 7.
2 Mando, volo, laudo atque coneedo in perpetuum, quod omnes homines
quicumque sint vel undecunque sint, sine aliqua interpellatione regant seolas
de fisiea in Montepessulano. Astruc a. a. 0. p. 34.
Die medicinische Schule zu Montpellier. 181
Wissenschaft auftreten dürfe, der nicht darin geprüft und vom Bischof
von Maguelone unter Zuziehung und nach Befragen seiner Lehrer die
Licenz erhalten habe, dass Niemand als Schüler betrachtet werde, der
nicht bei seinen Studien der Anleitung seines Lehrers folgt, dass der
Bischof von Maguelone in Gemeinschaft mit drei angesehenen älteren
Lehrern einen Kanzler wähle, welcher die Disciplin überwachen und
die Streitigkeiten zwischen den Meistern und Schülern schlichten sollte,
dass der Bischof den Kanzler durch seine Autorität unterstütze, und
dass alle Lehrer und Schüler einander beistehen und Sorge tragen,
dass auf die Schule keine Schande falle. l
Manche Studierende unterbrachen ihre Studien, wie aus Abschnitt 14
dieser Statuten2 hervorgeht, auf längere Zeit, um die ärztliche Praxis
auszuüben, nnd kehrten dann zur Fortsetzung der Studien nach Mont-
pellier zurück. Die Schüler zahlten den Lehrern Honorar für den
L^nterricht, den sie empfingen.
In den Gesetzen Konrads war allerdings keine Rede davon, die
Andersgläubigen von der Schule auszuschliessen; doch wurden dieselben
ohne Zweifel durch den mächtigen Einfluss, welcher darin dem Bischof
eingeräumt wurde, einigermassen zurückgedrängt. Gleichwohl gab es
dort im 13. und 14. Jahrhundert noch viele jüdische Studierende und
Ärzte, wie Jacob ben Machie, bekannter unter dem Namen Pkofatius.
der wahrscheinlich sogar als Lehrer thätig war.3
L J. 1230 wurde bestimmt, dass Niemand die ärztliche Praxis
treibe, bevor er von zwei Magistern der Heilkunde, welche der Bischof
zu Examinatoren wählte, geprüft und für fähig befunden worden sei.
Der glückliche Erfolg der Prüfung wurde ihm durch ein Zeugniss,
welches die Unterschrift des Bischofs und der Examinatoren trug,
bestätigt.
Wer die ärztliche Praxis ausübte, ohne sich dieser Prüfung unter-
zogen zu haben, wurde mit der Strafe der Excommunication bedroht.
Doch blieben die Chirurgen von der Verpflichtung, sich examiniren zu
lassen, befreit. Aber die Gesetze gegen die Kurpfuscher wurden, wie
es scheint, nicht streng beobachtet; denn sie mussten von Zeit zu Zeit
immer wieder ins Gedächtniss zurückgerufen werden.
1 Astruc a. a. 0. p. 37.
2 Quando seholaris redit a locis, in quibus practicaverit, libere sibi addicat.
quemcunque voluerit, magisirum, dum tarnen priori suo magistro non teneatur
ratione salari vel alter ins alicajus rei. Astruc a. a. 0. p. 39. — A. Germain
a. a. 0. T. III, 424.
3 Carmoly a. a. 0. S. 90. Derselbe erwähnt noch andere jüdische Lehrer
der Medicin, z. B. Samuel Ben Tibbon.
182 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Die Statuten und Lehrpläne, welche i. J. 1240 gegeben wurden,
stützten sich auf die für Salerno erlassenen Verordnungen des Kaisers
Friedrich IL1
Die medicinische Schule war somit vollständig organisirt. Neben
ihr wurde in Montpellier seit dem Ende des 13. Jahrhunderts auch
Unterricht in der Reehtskunde ertheilt; ebenso gab es schon 1242
Lehrer der philosophischen Disciplinen. Pabst Nicolaus IV. fasste 1289
den Entschluss, dort ein Studium generale, d. h. eine Universität zu
errichten; aber es gelang ihm nicht, die medicinische Schule mit den
übrigen Facultäten zu einer Lehranstalt zu verschmelzen. Sie bewahrte
eifersüchtig ihre Hechte und behauptete ihre Selbstständigkeit.
So kam es, dass in Montpellier fortan eigentlich zwei Universitäten
bestanden, von denen die eine nur die medicinische Facultät, die andere
die übrigen Facultäten umfasste. Jede von ihnen bildete ein besonderes
Institut, hatte ihren eigenen Kanzler und führte den Namen einer
Universität. Sie waren auch dazu berechtigt; denn man verstand unter
dem Studium generale im Mittelalter nicht die Vereinigung aller Facul-
täten an einem Ort, sondern eine höhere Unterrichtsanstalt, welche
allgemein zugänglich war und Zeugnisse ertheilte, die überall Geltung
hatten.2 Der Ausdruck Studium generale machte im 14. Jahrhundert
demjenigen der Universität Platz, mit welchem der Begriff der Corpo-
ration, der organisirten Verbandseinheit verbunden war. Daneben ge-
brauchte man bereits zu jener Zeit auch die Bezeichnungen „Gymna-
sium" und „Alma mater- für die Hochschule.
Während an der aus der juristischen, philosophischen und theo-
logischen Facultät, welche erst 1421 errichtet wurde, bestehenden
Universität zu Montpellier der Bischof fortan die Würde des Kanzlers
bekleidete, wurde an der medicinischen Schule dieses Amt auch ferner
einem Lehrer derselben übertragen. Alle Versuche, welche später ge-
macht wurden, um die letztere vollständig dem klerikalen Einfluss zu
unterwerfen, waren vergeblich. Die medicinische Facultät behielt ihre
Autonomie selbst unter der centralisirenden Macht der französischen
Könige, und Ludwig XIV. fühlte sich sogar veranlasst, ein Dekret,
welches die Vereinigung der medicinischen Facultät mit den übrigen
Facultäten anordnete, wieder zurückzunehmen.3
1 Germain a. a. O. T. III, p. 424.
2 H. Denifle: Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400.
Berlin 1885, I, S. 15 u. ff — Vergl. dagegen G. Kaufmann: Geschichte der
deutschen Universitäten, Stuttgart 1888, I, 98 u. ff.
3 A. Dubouchet: Documents pour servir ä l'histoire de luniversite de me-
decine de Montpellier in der Gaz. hebd. des sciences med. de Montpellier 1887, No. 4.
Die medicinische Schule zu Montpellier. 183
Da die Wahl des Kanzlers durch den Bisehof und drei von ihm
zugezogene Lehrer manche Unzuträglichkeiten im Gefolge hatte, so
befahl Pabst Clemens V. i. J. 1308, dass der Candidat fortan ausser
der Zustimmung des Bischofs zwei Drittel der Stimmen sämmtlicher
Magister der medicinischen Hochschule vereinigen müsse.
Gleichzeitig wurde bestimmt, welche Bücher dem Unterricht zu
Grunde gelegt werden sollten, und die Studien- und Prüfungsordnung
dahin erläutert, dass jeder Studierende mindestens fünf Jahre medici-
nische Vorlesungen hören und während acht Monaten oder zwei Sommer
hindurch ärztliche Praxis ausüben müsse, 1 bevor er zur Promotion zu-
gelassen werde.
I. J. 1350 wurde gesetzlich bestimmt, dass Niemand ärztliche
Praxis treibe, ehe er den Grad eines Magisters erlangt habe.2 Aus
dem an den Pabst gesandten Kotulus v. J. 1362 geht hervor, dass
alle Scholaren der Medicin zu Montpellier in artibus graduirt waren,3
also eine allgemein-wissenschaftliche Vorbildung besassen.
Die Statuten der dortigen medicinischen Schule v. J. 13404 ge-
währen einen Einblick in die Zustände derselben. Sie beschäftigen sich
mit der Würde des Kanzlers, der die Gerichtsbarkeit leitete, mit dem
Dekanat, welches Demjenigen, welcher die Lehrthätigkeit am längsten
ausübte, übertragen wurde, hauptsächlich die Vertretung des Kanzlers
zur Aufgabe hatte und eigentlich nur ein Ehrenamt war, mit der Wahl
von zwei Procuratoren aus der Zahl der Lehrer, welche die Aufsicht
über die Verwaltung der Güter und Besitzungen der Universität führten,
mit den zweimal im Jahre stattfindenden allgemeinen Versammlungen
der Lehrer, in denen über die Angelegenheiten des Unterrichts und
die Finanzen der Schule berathen wurde, und mit den Pflichten der
Lehrer und Schüler.
Die letzteren mussten sich sofort nach ihrer Ankunft den Pro-
curatoren vorstellen, welche ihre Namen, und den Tag, an dem sie
ihre Studien begannen und beendeten, in ein Buch eintrugen und dafür
eine Taxe erhoben, welche eine verschiedene Höhe hatte, je nachdem
es sich um einen Scholaren oder um einen Baccalaureus handelte, und
1 In locis famosis quinque annis, si in artibus magistri existant idonei,
alioquin per sex annos, pro quolibet anno octo duntaxat mensibus computatis
ejusdem facultatem audiverint medicinae, ac in similibus locis per octo menses
aut per duas aestates ad minus ejusdem medicinae praxim duxerint exercendam.
Astruc a. a. 0. p. 46.
2 Astruc a. a. 0. p. 54.
3 Denifle a. a. 0. S. 355, Anm. 562.
4 A. Dubouchet a. a. O. Gaz. hebd. No. 6 u. ff.
184 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
unseren Gebühren für Immatriculation und Exmatriculation entsprach.
Die Studierenden gelobten bei der Aufnahme in den Verband der Hoch-
schule, deren Gesetze gewissenhaft beobachten zu wollen.
Sie waren verpflichtet, während der ersten drei Jahre der Studien-
zeit nach Abzug der Ferien durch volle 24 Monate medicinische Vor-
lesungen zu besuchen. Hierauf folgte eine Prüfung, bei der jeder der
Lehrer eine Frage stellte, und darauf die Promotion zum Baccalaureus.
In dieser Eigenschaft setzte der Studierende seine Studien noch min-
destens zwei Jahre hindurch fort, hielt aber zugleich Vorlesungen über
einzelne Abschnitte aus den medicinischen Schriften der Alten. Den
Schluss des Studiums bildete die Bewerbung um das Magisterium der
Heilkunde.
Als ordentlicher Lehrer wurde Derjenige betrachtet, welcher min-
destens den ganzen Winter hindurch regelmässigen Unterricht ertheilte.
Die Lehrer wählten in ihren Versammlungen die Gegenstände, über
welche sie vortragen wollten; der Ältere hatte dabei den Vorrang vor
dem Jüngeren. Auch wurde streng darüber gewacht, dass nicht ein
Lehrstoff, welcher binnen einem Jahre abgehandelt werden sollte, auf
mehrere Jahre vertheilt würde.
Anfangs war jeder Magister und unter gewissen Beschränkungen
sogar jeder Baccalaureus berechtigt, die Lehrthätigkeit auszuüben, ohne
dass er jedoch dafür irgendwelche Besoldung empfing. Erst i. J. 1498
wurden vier ordentliche Lehrkanzeln der Medicin errichtet, deren In-
haber für den Gehalt von je 100 livres das ganze Jahr hindurch un-
entgeltlich vortragen mussten. Die Besetzung dieser Professuren erfolgte
durch den Bischof auf Vorschlag der übrigen Lehrer der medicinischen
Schule. Die Besoldung der Professoren wurde unter Carl IX. auf
400 livr. und unter Heinrich IV. auf 600 livr. erhöht. Ausserdem
waren sie gleich den übrigen Mitgliedern der Universität von Steuern
und manchen anderen Lasten befreit.
Die medicinische Schule zu Montpellier erlebte im 13. und H.Jahr-
hundert ihre Glanzperiode. Aus weiter Ferne kamen damals die Kranken,
wie der Bischof von Herford aus England und der König Johann von
Böhmen, um bei den dortigen Ärzten, welche namentlich wegen ihrer
praktischen Tüchtigkeit geschätzt waren,1 Hilfe zu suchen. Ihnen
erwuchs eine gefährliche Concurrenz, als die Universitäten, welche in
jener Zeit in Italien, Frankreich und Deutschland gegründet wurden,
zur Blüthe gelangten.
1 Arnald von Villanova: Breviar. IV, 10. — Guy von Chauliac: Chir.,
tr. VI, d. 2, c. 2.
Die ältesten Hochschulen Italiens. 185
Die ältesten Hochschulen Italiens.
Kaiser Friedrich IL schuf i. J. 1224 die Hochschule zu Neapel,1
an welcher alle Wissenschaften gelehrt werden sollten, damit die wissens-
durstigen Jünglinge nicht genöthigt würden, „wie Bettler ausserhalb
des Landes die geistige Nahrung zu suchen".2 Anfangs waren hier,
wie es scheint, sämmtliche Facultäten vertreten; aber schon 1231 ging
die medicinische ein, weil die Heilkunde nach einer kaiserlichen Ver-
ordnung fortan nur in Salerno gelehrt werden durfte. I. J. 1252
wurden auch die übrigen Facultäten nach Salerno verlegt und mit der
dortigen medicinischen Schule zu einer Universität vereinigt.
Doch wurde die Hochschule zu Neapel schon 1258 wiederhergestellt.
Da sie in der Hauptstadt des Landes gelegen, von Norden und Osten
leichter zugänglich und mit grösseren Rechten und Geldmitteln aus-
gestattet war, als ihre ältere Schwesteranstalt zu Salerno, so überholte
sie dieselbe später durch die Zahl der Schüler sowohl wie durch ihre
Bedeutung und ihre Leistungen.
Gleich den Anfängen der Hochschulen zu Salerno und Montpellier
verlieren sich auch diejenigen von Bologna in sehr frühe Zeiten.3
Kaiser Friedrich I. versprach der dortigen Universität i. J. 1158 seinen
Schutz und verlieh ihr eigene Gerichtsbarkeit.4 Sie war damals eigent-
lich nur eine Kechtsschule ; doch wurden im 12. Jahrhundert auch
andere Wissenschaften gelehrt, und die Ärzte waren vielleicht schon
zu einem Collegium verbunden.5
Im 13. Jahrhundert wurde die medicinische und philosophische
Facultät als „Universität der Artisten" neben der juristischen organisirt.
Die juristische Schule behielt indessen auch später durch die Zahl der
Lehrer und Studierenden das Übergewicht über die anderen Facultäten.
Die medicinische Facultät wurde erst seit 1280, als Thaddaeus
Floeentinus dort als Lehrer wirkte, in weiteren Kreisen bekannt und
1 Müratori: Rer. It. Script. VIII, p. 496.
2 Huillard - Breholles a. a. 0. T. II, p. 450. Disponimus apad Kapolim
doceri artes cujuscunque professionis et vigere studia, ut jejuni et famelici doc-
trinarum in ipso regno inveniant, unde ipsorum aviditati satisfiat neque com-
'pellantur ad investigandas scientias peregrinas naiiones expetere nee in alienis
regionibus mendicare.
3 F. C. v. Savigny: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Heidel-
berg 1834, Bd. III, S. 164 u. ff.
4 Cod. Auth. Habita. — Giesebrecht in den Sitzungsber. d. K. b. Akad.
d. Wiss., histor. Klasse, 1879, Bd. II, S. 285.
5 M. Medici: Compendio storico della scuola anatomica di Bologna 1855, p. 3.
186 Der medicinische Unterrieht im Mittelalter.
berühmt. Übrigens hatte die Organisation der Universität zu Bologna
ihren Schwerpunkt nicht so sehr in den Facultäten als in den Corpo-
rationen der Schüler.
Dieselben schieden sich Anfangs in die Citramontani und die
Ultramontani, von denen sich jede aus mehreren Nationen zusammen-
setzte. Diese landsmannschaftlichen Vereinigungen der Studierenden,
welche ihr Vorbild in den Verbindungen fanden, die an den Hoch-
schulen des Alterthums, z. B. in Athen, bestanden, entsprangen dem
Bedürfniss, sich nach ihrer heimathlichen Zusammengehörigkeit in der
Fremde an einander anzuschliessen, und organisirten sich nach Art der
italienischen Zünfte. An der Spitze jeder der beiden Scholaren-Corpo-
rationen stand ein Eector, der also dort ursprünglich durchaas nicht
das Haupt der Universität war, sondern nur die Angelegenheiten der
Studierenden, die ihn zu ihrem Vertreter gewählt hatten, leitete. An-
fangs wurde diese Würde an Professoren ebenso wie an Studierende
verliehen, seit der Mitte des 13. Jahrhunderts jedoch nur noch an die
letzteren, und in den Statuten der Universität aus dem 14. Jahrhundert
wurde dies sogar gesetzlich anerkannt.1 Seit dem 16. Jahrhundert gab
es für beide Scholaren-Corporationen nur einen einzigen Rector.
Als die italienischen Städte, in denen sich Hochschulen befanden,
mit einander wetteiferten, um durch Verleihung von Vorrechten und
Auszeichnungen fremde Studierende dorthin zu ziehen, erlangten die
letzteren allmälig eine ausserordentliche Machtstellung, und die Pro-
fessoren geriethen in ein Abhängigkeitsverhältniss zu ihnen. In Bologna
und Padua erhielten die Studierenden sogar das Recht, die Professoren
zu wählen.2
In Montpellier durften ihre Vertreter, die Procuratoren, den Pro-
fessoren den Gehalt sperren, wenn sie nicht fleissig Vorlesungen hielten. 3
Der aus der Mitte der Studierenden gewählte Rector, der zuerst
nur über die Corporation, welcher er angehörte, die Gerichtsbarkeit
besessen hatte, übte sie später über die ganze Universität, sogar über
die Professoren und deren Familien, aus. Allerdings stand ihm dabei
ein Mitglied der juristischen Facultät als Rathgeber zur Seite, und es
dürfte sich ein ähnliches Verhältniss entwickelt haben, wie es im 16.
und 17. Jahrhundert zuweilen auch an deutschen Universitäten be-
1 Ad reetoratus igitur officium eligatur Scolaris nostrae universitatis in
den Statuten der Universität Bologna. Savigny a. a. 0. Bd. III, S. 643.
2 C. Meiners: Geschichte der Entstehung und Entwickelung der hohen
Schulen unseres Erdtheils, Göttingen 1802. — Savigny a. a. 0. Bd. III, S. 292 u. ff.
3 Thomas u. Felix Platter: Zwei Autobiographien, her. v. Fechter, Basel
1840, S. 155.
Die ältesten Hochschulen Italiens. 187
standen hat, wenn man Studierenden aus vornehmen Familien das
Kectorat übertrug.
Auf das Studien- und Prüfungswesen hatten die Rectoren keinen
Einfluss; dies blieb den Professoren überlassen. Die letzteren erhielten
für den Unterricht, welchen sie ertheilten, von ihren Schülern Honorare;
seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts gewährte die Stadt ausserdem
eine gewisse Besoldung.
Nach einem Bericht, welchen der Cardinal-Legat Anglicus i. J. 1371
erstattete,1 lehrten in Bologna damals 3 Magister die theoretische,
3 die praktische Medicin und einer die Chirurgie. Sie wurden von der
Stadt besoldet; doch gab es neben ihnen noch andere Lehrer, welche
keinen Gehalt bezogen. Im J. 1388 waren dort 68 Professoren an-
gestellt, darunter 14 Mediciner, 27 Legisten, 12 Canonisten und 15 Ar-
tisten, Grammatiker und Magister der Notariatskunst; i. J. 1451 betrug
die Zahl der Lehrer sogar mehr als 170, und es erfolgte deshalb eine
Verminderung der Lehrkanzeln.2 Unter den Professoren, welche im
Mittelalter dort wirkten, befanden sich Franzosen, Deutsche, Spanier,
Engländer, Portugiesen, Polen und Griechen,3 und ebenso waren auch
unter den Studenten alle europäischen Nationen vertreten.
Die Professoren mussten sich beim Antritt des Lehramts durch
einen Eid verpflichten, ihre Wissenschaft an keinem anderen Ort zu
lehren als in Bologna und mit allen Kräften zum Gedeihen der dor-
tigen Hochschule beizutragen.4 Gleichwohl wurde dadurch nicht ver-
hütet, dass bei verschiedenen Gelegenheiten Schüler und Lehrer in
grösserer Anzahl aus Bologna fortzogen und einen anderen Studiensitz
aufsuchten. Schon 1222 geschah dies und gab die Veranlassung zur
Gründung oder Erweiterung der Hochschule zu Padua, wo vielleicht
schon lange vorher Schulen für einzelne Wissenschaften bestanden hatten.
Die Universität Padua wurde nach dem Muster derjenigen von
Bologna eingerichtet. Auch in Padua stand der Rector an der Spitze
der Scholaren-Verbindungen, deren man nach ihrer Nationalität vier unter-
schied, nämlich die der Italiener, Franzosen, Provenzalen und Deutschen.5
Auch hier wurde der Rector aus der Zahl der Studierenden gewählt;
es wurde von ihm nur verlangt, dass er einen unbescholtenen Ruf be-
sitze, mindestens 22 Jahre alt sei und ein Jahr in Padua von seinem
eigenen Vermögen gelebt habe.
1 Denifle a. a. 0. S. 208 u. ff.
2 E. Coppi: Le universita italiane nel medio evo, Firenze 1880, S. 257.
3 Mazetti: Repertorio di tutti i professori dell' universita di Bologna, Bo-
logna 1847. 4 E. Coppi a. a. 0. S. 78, Anm.
5 F. C. Colle: Storia dello studio di Padova, 1824.
188 Der medioinische Unterricht im Mittelalter.
Wie die Universität Bologna wurde auch diejenige zu Padua vor-
zugsweise von Juristen besucht. Im J. 1262 gab es in Padua drei
Lehrer der Medicin und der Naturwissenschaften. Das Studium der
Heilkunde gelangte in Padua und Bologna eigentlich erst im 15. und
16. Jahrhundert zur Blüthe.
Die Hochschule zu Vercelli, welche seit 1220 bestand, verdankte
dem Umstände, dass in Folge von Streitigkeiten i. J. 1228 ein Theil
der Professoren und Studenten zu Padua diese Stadt verliess, einen
grossen Aufschwung. Der Rath der Stadt Vercelli schloss mit denselben
einen Vertrag,1 in welchem sie durch verschiedene Vortheile bewogen
wurden, dorthin zu übersiedeln. In Vercelli waren alle Fächer ver-
treten; die Medicin hatte zwei Lehrkanzeln. Doch existirte die Hoch-
schule nicht viel länger als ein Jahrhundert.
Die Universität zu Vicenza entstand wahrscheinlich auf dieselbe
Weise, indem Schüler und Lehrer von Bologna dorthin kamen. Sie
erlangte als Kechtsschule im Beginn des 13. Jahrhunderts einen gün-
stigen Ruf. Erst 1261 wurde ein Lehrer der Medicin angestellt, welcher
eine jährliche Besoldung von 150 librae denariorum erhielt.
In Modena, wo die juristischen AVissenschaften schon im 12. Jahr-
hundert eifrig getrieben wurden, gab es erst im 14. Jahrhundert einen
Lehrer der Heilkunde. Reggio (Emilia) besass seit 1188 eine Rechts-
schule, die aber keine grosse Bedeutung erlangte. Die Hochschule zu
Arezzo, an welcher auch die Medicin gelehrt wurde, bestand bereits
im 13. Jahrhundert,2 wurde aber erst 1355 förmlich zur Universität
erklärt und ging im 16. Jahrhundert wieder ein.
Siena war schon 1203 wegen seiner vortrefflichen Schulen be-
kannt. Im J. 1241 wurde dort ausser anderen Wissenschaften auch
die Medicin gelehrt, und 1247 gab es bereits drei Lehrer dieser Dis-
ciplin. Als i. J. 1285 im Stadtrath die Berufung fremder Professoren
zur Sprache kam, suchte man auch den in der Chirurgie erfahrenen
Ranuccius zu gewinnen; ausserdem lehrte dort ein Magister Orlandüs
die Medicin.3
Im J. 1321 vergrösserte sich die Universität zu Siena, da sie Zuzug
von Bologna erhielt. Dino di Garbo, welcher damals in Siena die
Medicin vertrat, bezog einen jährlichen Gehalt von 1155 Lire. Später
sank die Universität, und ihr Verfall wurde auch nicht wesentlich auf-
gehalten dadurch, dass sie vom Kaiser Carl IV. i. J. 1357 die officielle
1 Coppi a. a. 0. S. 109 u. ff. — Savigny a, a. 0. Bd. III, S. 666 u. ff.
2 Savigny a. a. 0. Bd. III, S. 312 u. ff.
3 Denifle a. a. 0. I, S. 437.
Die ältesten Hochschulen Italiens. 189
Anerkennung als Studium generale empfing. Erst am Ende des 1 5. Jahr-
hunderts hob sie sich wieder.
Piacenza besass am Schluss des 12. Jahrhunderts eine Rechts-
schule, welche 1248 zu einer Universität erhoben wurde. Als Lehrer
der Medicin wirkte damals der Magister Hugo, ein Kleriker. Die
Hochschule erlangte erst unter Galezza Visconti ein gewisses An-
sehen; i. J. 1399 hatte sie 71 Lehrer, unter denen sich 22 Mediciner
befanden. Sie wurde schon 1403 wieder aufgehoben.
Am Sitz der päbstlichen Curie entstand 1244 eine mit den Rechten
einer Universität ausgestattete Unterrichtsanstalt, in welcher Theologie,
Jurisprudenz, orientalische Sprachen und später auch Medicin gelehrt
wurden. Sie befand sich zuerst in Avignon und dann in Rom, wo
sie mit der dort seit 1303 bestehenden Hochschule vereinigt wurde.
An derselben lehrten i. J. 1514 88 Professoren, nämlich 4 Theo-
logen, 11 Canonisten, 20 Legisten, 15 Mediciner und 38 Philosophen,
Mathematiker, Rhetoriker und Grammatiker; dagegen war die Zahl der
Schüler verhältnissmässig gering. Unter dem Pabst Alexander VI.
begann der Bau der Sapienza, deren Hallen noch heut als Sitz der
Universität Rom dienen.
In Perugia bestand im 13. Jahrhundert eine Rechtsschule; doch
wurden daneben auch andere Wissenschaften und namentlich die Me-
dicin gelehrt. Im J. 1308 erklärte der Pabst die Schule für eine
Universität. Es gab an derselben Anfangs nur einen, aber seit 1314
zwei Lehrer der Medicin, welche indessen nur stets für einen Zeitraum
von 3 Jahren angestellt wurden. In der Matrikel von 1339 erscheinen
neben 4 Doktoren des canonischen Rechts, 3 des Civilrechts, 1 der
Philosophie, 1 der Logik auch 3 der Medicin und neben 119 Studenten
der Jurisprudenz 23 Mediciner; doch waren dies sämmtlich Auswärtige,
weil die Einheimischen nicht aufgezählt wurden.1 Die Mehrzahl der-
selben stammte allerdings aus Italien, aber viele auch aus Deutschland.
Bemerkenswerth ist dabei, dass die Lehrer und Schüler der Jurisprudenz
den Titel Dominus, diejenigen der Medicin und der Philosophie den
Titel Magister führten.
Im Jahre 1342 wurden die Lehrkräfte vermehrt und in den
Statuten von 1366 bestimmt, dass mindestens 7 Lehrer der Heilkunde
vorhanden seien. Im J. 1431 gab es deren 8, von denen einer speciell
den Unterricht in der Osteologie ertheilen musste.
Treviso hatte im 13. Jahrhundert eine höhere Lehranstalt, die
i. J. 1314 in ein Studium generale umgewandelt wurde, welches 1318
1 Denifle a. a. 0. I, S. 546. — Coppi a. a. 0. S. 127, Anm.
190 Der medicinische Unterricht im Mittelalter
das kaiserliche Privilegium erhielt. Die Stadt beschloss, 12 Lehrkanzeln
zu gründen, von denen drei für die Medicin bestimmt wurden. Dieser
Universität war nur eine kurze Dauer beschieden; denn sie hatte schon
im Beginn des 15. Jahrhunderts zu sein aufgehört.
Die Hochschule zu Pisa ging 1343 aus einer Kechtsschule hervor.
Sie musste mit manchen widrigen Verhältnissen kämpfen; so wurden
z. B. 1359 sämmtliche Professoren entlassen, weil das Geld für ihre Be-
soldungen fehlte. Im J. 1403 wurde die Universität aufgehoben und
erst 1473 unter Lorenzo de Medici, der sie sehr begünstigte, wieder
eröffnet.
Von dieser Zeit an hob sie sich rasch und erlangte noch am
Schluss des 15. Jahrhunderts eine hervorragende Bedeutung. Zum
grossen Theile verdankte sie dies dem Umstände, dass die Universität
Florenz, welche schon im 14. Jahrhundert berühmte Mediciner unter
ihren Lehrern hatte und Stiftungsbriefe vom Pabst und vom Kaiser
besass, i. J. 1473 nach Pisa verlegt wurde.
Auch die Universität Pavia entwickelte sich aus einer Kechtsschule.
Sie wurde 1361 vom Kaiser Carl IV. zu einem Studium, generale er-
hoben. Die Heilkunde fand dort eifrige Pflege und Förderung.1 Unter
den Studierenden befanden sich viele Deutsche.
In Ferrara gab es im 13. Jahrhundert berühmte Artisten-Schulen.
Sie wurden 1391 zu einer Universität vereinigt und gleichzeitig dafür
Sorge getragen, dass auch die Rechtswissenschaft und die Medicin ver-
treten waren. Im J. 1474 lehrten an der dortigen Hochschule 51 Pro-
fessoren, darunter auch mehrere Mediciner.
Turin erhielt 1405 und Catania 1445 eine Hochschule. Auch in
Parma, Cremona, Lucca und anderen Städten Italiens wurde während
des Mittelalters zeitweilig Unterricht in einzelnen Wissenschaften, z. B.
in der Rechtskunde und Medicin, ertheilt, ohne dass sich jedoch dort
ein mit gesetzlichen Privilegien ausgestattetes regelrechtes Universitäts-
studium entwickelte.
Die ältesten Hochschulen in Prankreich.
In Frankreich entstanden in jener Periode eine grosse Anzahl von
Hochschulen.2 In Orleans, Angers und Rheims gab es schon im
1 Alf. Corradi in den Memorie e documenti per la storia dell' universitä
di Pavia, Pavia 1878, I, 99—145.
2 E. Pasquier: Recherches de la France, Paris 1633, p. 888 u. ff.
Die ältesten Hochschulen in Frankreich. 191
13. Jahrhundert oder noch früher besuchte Rechtsschulen, welche später
zu Universitäten erklärt wurden. Sie waren bemüht, fremde Studierende
dorthin zu ziehen und gewährten ihnen aus diesem Grunde manche
Vorrechte. So hatten die Studenten aus Deutschland in Orleans ihre
besondere Gerichtsbarkeit und freien Eintritt in das Theater und wurden
ohne Unterschied der Geburt wie Adelige behandelt.1
Der Unterricht in der Medicin wurde dort nur ausnahmsweise er*
theilt und erlangte niemals besondere Bedeutung. Angers hatte z. B.
i. J. 1362 unter 44 Lehrern nur einen einzigen, welcher Heilkunde
vortrug. Ähnlich stand es in Toulouse, wo 1229 ein Studium generale
gegründet wurde. Ebensowenig wurde die Medicin an den Hochschulen
zu Avignon, Cahors, Grenoble und Orange beachtet, welche im 14. Jahr-
hundert errichtet wurden.2
Einzelne derselben hatten niemals viele Studenten. Yon Orange
ging, wie Gölnitz erzählt, der Witz, dass die gesammte Universität
nur aus drei Personen bestehe, nämlich dem Rector, dem Schreiber und
dem Pedell.3
Ä.uch die Hochschulen zu Perpignan, Aix, Dole, Caen, Poitiers,
Valence, Lyon, Bordeaux, Bourges und Nantes, die bis zum 16. Jahr-
hundert entstanden, erlangten keine grössere Bedeutung.
Die Entwickelung der politischen und socialen Verhältnisse Frank-
reichs brachte es mit sich, dass die kleinen Provinzial-Universitäten in
den Hintergrund gedrängt wurden durch Paris, welches den Mittelpunkt
alles geistigen Lebens bildete.
Diese Universität entstand durch die Vereinigung der von einander
unabhängigen höheren Schulen zu Paris, in welchen schon im 12. Jahr-
hundert die Rechtskunde, die Medicin und mehrere andere Wissen-
schaften gelehrt wurden. Über die Einrichtungen derselben und die
Studien, welche in ihnen gepflegt wurden, hat Johann von Salisbuey
genauere Nachrichten hinterlassen.4
Es ist nicht bekannt, wie es kam, dass die Lehrer derselben Dis-
ciplin sich an einander anschlössen und einen Verband bildeten. Wahr-
scheinlich geschah dies i. J. 1209 auf Veranlassung des Pabstes Inno-
cenz III., welcher den Meistern der verschiedenen Wissenschaften be-
fahl, sich Gesetze zu geben.5
1 Savigny a. a. 0. Bd. III, 8. 402 «. ff.
2 G. Bayle: Les medecins d' Avignon, Avignon 1882, p. 43 u. ff.
3 A. Gölnitz: Ulysses Belgico-Gallicus, Lugd-Batav. 1631, p. 468.
4 Johannes Saresberiensis : Metalog. , lib. II, c. 10, Ed. Migne (Patrol. lat.
Bd. 199, p. 867).
5 A. F. Thery: Histoire de l'education en France, Paris 1858.
192 Der medicinisGhe Unterricht i?n Mittelalter.
Im J. 1215 traten die Magistri der vier Disciplinen bereits als
Corporationen, als Facultäten in unserem Sinne, auf und hatten ihre
besonderen Statuten.1 Ihre Vereinigung zu einer Universität erfolgte
jedoch erst 1254.
Neben ihrer Eintheilung in die Facultäten bestand schon im
13. Jahrhundert zu Paris diejenige in vier Nationen, welche offenbar
den an den italienischen Universitäten vorhandenen Einrichtungen nach-
gebildet war. Dieselbe scheint sogar auf die Verwaltung der Hoch-
schule grösseren Einfluss ausgeübt zu haben, als die Scheidung der
Facultäten.
Das Studium der artes liberales bildete die Vorstufe zu demjenigen
der Theologie, der Jurisprudenz und der Medicin, und die philosophische
Facultät diente den drei übrigen gleichsam als Grundlage.
Unter der „medicinischen Facultät" verstand man nicht blos, wie
heut, das Lehrer-Collegium der medicinischen Schule, sondern die Zunft
der diplomirten Ärzte zu Paris. Da Anfangs jeder geprüfte Arzt be-
rechtigt war, die Lehrthätigkeit an der Hochschule auszuüben, so lag
es nahe, beide Corporationen zu identiiiciren , umsomehr als in ihnen
häufig dieselben Personen die leitende Rolle spielten.
Aber nicht jeder Arzt konnte und wollte zugleich als Lehrer seiner
Kunst thätig sein. Die ärztliche Corporation beschloss deshalb, all-
jährlich einige ihrer Mitglieder zum Lehramt zu deputiren. Dasselbe
verlangte jedoch manche Kenntnisse und Fähigkeiten, welche nicht
Jeder besitzt, und es war daher sehr natürlich, dass sich allmälig eine
Klasse von Ärzten entwickelte, welche die Lehrthätigkeit zu ihrem
Beruf machte.
Diese Verhältnisse müssen sorgfältig berücksichtigt werden, wenn
man die damaligen Zustände der Universität Paris und des medicinischen
Studiums an derselben richtig verstehen will. Sie erklären die selbst-
ständige Stellung der medicinischen Facultät gegenüber der Universität,
den Einfluss der dem Lehramt fernstehenden Ärzte auf den medicinischen
Unterricht und manche andere Thatsachen, welche in den historischen
Überlieferungen seltsam und räthselhaft erscheinen.
Der Rector war auch in Paris ursprünglich das Haupt der Scho-
laren-Corporationen, der Nationen. Da ihre Mitglieder als Schüler
oder als Graduirte zur philosophischen Facultät gehörten oder in Be-
ziehungen standen, so machte es sich von selbst, dass er allmälig die
Leitung derselben erhielt. Die Facultät der Artisten bildete aber den
Grundstock der ganzen Universität; daher kam es, dass der Rector
1 Bulaeus: Historia univerßitatis Parisiensis, Paris 1665 — 73, T. III, p. 81.
Die ältesten Hochschulen in Frankreich. 193
später an deren Spitze trat. Schon 1280 galt er als Haupt der ge-
sammten Universität; nur die theologische Facultät machte davon eine
Ausnahme; doch wurde sie in der Mitte des 14. Jahrhunderts ebenfalls
seiner Autorität unterstellt.
Zum Rector konnte nur Jemand erwählt werden, der einen aka-
demischen Grad in der philosophischen Facultät, also eine wissenschaft-
liche Allgemeinbildung besass. Allmälig entstand der Gebrauch, diese
Würde einem Manne in hervorragender Lebensstellung zu übertragen,
der bisweilen, wenn auch nicht immer, dem Lehrer-Collegium angehörte.
Die gleiche Einrichtung herrschte später auch an den Hochschulen zu
Wien, Prag u. a. 0.
Ein Dekan der medicinischen Facultät wird i. J. 1267 erwähnt;
es war Petrus Lemonensis. l Der Dekan wurde von der ärztlichen
Zunft, deren Vorstand er war, gewählt. Er durfte, wenigstens in
späteren Zeiten, die Lehrthätigkeit nicht ausüben, damit die letztere
nicht durch die administrativen Geschäfte, welche ihm übertragen wurden,
vernachlässigt würde.
Die Lehrer der medicinischen Facultät schieden sich in diejenigen,
welche zu Vorträgen verpflichtet waren und durch dieselben eine be-
stimmte Lücke im Studienplan ausfüllten, und in solche, welche aus
freiem Willen Vorlesungen hielten.
Die ersteren führten den Vorsitz bei Disputationen und feierlichen
Gelegenheiten und wurden Doctores oder Magistri actu regentes genannt;
ihre Stellung entsprach ungefähr derjenigen unserer ordentlichen Pro-
fessoren. Die übrigen Mitglieder des Lehrkörpers, die Doctores non
regentes, hatten keine Verpflichtung zur Lehrthätigkeit und dafür auch
keinen Antheil an verschiedenen Vorrechten und Einnahmequellen,
welche jenen vorbehalten waren.
Die Lehrer der Hochschule unterrichteten gewöhnlich in ihren
Wohnungen. Die medicinische Facultät erhielt erst 1505 ein eigenes
Gebäude. Bis dahin fanden die Versammlungen Tierseiben in der Kirche
des Mathurins oder im Dom zu Notre-Dame statt.
Über das numerische Verhältniss der einzelnen Facultäten giebt
die Thatsache Aufschluss, dass es i. J. 1348 in Paris 32 Magistri der
Theologie, 18 des canonischen Rechts, 46 der Medicin und 514 der
artes liberales gab. 2
1 Büchez: De la faculte de medecine de Paris im Journal des progres des
sciences et institutions medicales, Paris 1822.
2 Wenn Denifle a. a. 0. I, S. 123, dem ich diese Zahlen entnehme, sie
sämmtlich für regentes hält, so widerspricht diese Annahme allen übrigen Ver-
hältnissen.
Puschmann, Unterricht. 13
194 Der medieinische Unterricht im Mittelalter
Die Zahl der zum Collegium der Ärzte, also zur medicinisclien
Facultät zu Paris gehörenden Doktoren, betrug i. J. 1311 29, i. J.
1395 31 und von 1391— 1431 durchschnittlich 36. Als die Engländer
1442 Paris belagerten, waren nur 10 bis 12 diplomirte Ärzte in der
Stadt anwesend; doch schaarte sich um sie eine Menge von Schülern,
welche unter ihrer Aufsicht die Praxis ausübten.
Auch später wuchs die medicinische Facultät nicht in dem gleichen
Verhältniss wie die Stadt Paris; denn i. J. 1500 bestand die dortige
medicinische Facultät aus 72, i. J. 1566 aus 81, 1626 aus 85, 1634
aus 101, 1675 aus 105 und 1768 aus 148 Doktoren.1 Neben ihnen
existirten in Paris eine grosse Anzahl von Ärzten, welche zwar zur
Ausübung der Praxis berechtigt waren, aber nicht den Doktor-Titel
erworben hatten und daher auch nicht Mitglieder der medicinischen
Facultät sein konnten, sowie von geprüften Chirurgen und andern vom
Gesetz legitimirten Heilkundigen.
Die Organisation und die Einrichtungen der Universität Paris bil-
deten das Vorbild für die meisten Hochschulen, welche in den folgenden
Jahrhunderten in Deutschland, England und den übrigen Staaten ge-
gründet wurden.
Die übrigen Universitäten Europas im Mittelalter.
Die ältesten Universitäten Spaniens entstanden wahrscheinlich unter
dem Einfluss der arabischen Traditionen.
In Palencia gab es schon zur Grothenzeit berühmte Schulen; im
Beginn des 13. Jahrhunderts errichtete Alfons VIII. dort eine Uni-
versität, an welcher jedoch die medicinische Facultät fehlte. Übrigens
bestand die Hochschule nur kurze Zeit.
Die Universität Salamanca, welche von Ferdinand III. i. J. 1243
gegründet wurde, entwickelte sich, wie es scheint, aus einer Kathedral-
schule. An ihr waren alle Fächer mit Ausnahme der Theologie, die
erst im 14. Jahrhundert hinzukam, vertreten. Den medicinischen Unter-
richt ertheilten Anfangs nur zwei Lehrer, wie dies auch an anderen
Hochschulen jener Zeit der Fall war. Salamanca erlangte einen Ruf,
der weit über die Grenzen Spaniens hinausreichte und wurde vom
1 A. Springer: Paris im 13. Jahrhundert, Leipzig 1856. — J. C. Sabatier:
Recherches historiques sur la faculte de medecine de Paris, 1835.
Die übrigen Universitäten Europas im Mittelalter. 195
Pabst Martin V. neben Bologna, Neapel und Paris zu einer der vier
ersten Hochschulen der Christenheit erklärt.1
Geringere Bedeutung hatten die übrigen Universitäten der iberischen
Halbinsel. In Sevilla wurde vorzugsweise das Studium der orientalischen
Sprachen, besonders des Arabischen, getrieben; die Hochschule diente
zur Erziehung von Missionaren und wurde erst im Beginn des 16. Jahr-
hunderts mit den übrigen Facultäten ausgestattet.
Die Universität zu Lissabon wurde 1288 gestiftet, aber 1308 nach
Coimbra verlegt. Dieses Schicksal widerfuhr ihr noch mehrere Male;
denn sie kam 1338 wieder nach Lissabon, 1354 wieder nach Coimbra,
1377 wieder nach Lissabon, und 1537 wieder nach Coimbra. Es macht
fast den Eindruck, als ob die beiden Städte mit einander einen Vertrag
geschlossen hätten, dass der Sitz der Universität zwischen ihnen un-
gefähr alle 20 Jahre wechsele. Es wurden an ihr alle Wissenschaften
gelehrt; doch bestand für die Heilkunde i. J. 1400 nur eine einzige
Lehrkanzel.
Spanien erhielt ausserdem um 1260 in Valladolid, i. J. 1300 zu
Lerida, 1354 zu Huesca, 1411 zu Valencia, 1446 zu Gerona (?), 1450
zu Barcelona, 1474 zu Saragossa, um 1480 zu Siguenza, 1482 zu
Avila, 1483 in Palma, und 1499 zu Alcala Universitäten. An einigen
von ihnen fehlte die medicinische Facultät.
Die spanischen Universitäten schienen durch die politischen Er-
eignisse wie durch die geographische Lage ihres Landes vorzugsweise
zu der grossen Aufgabe berufen zu sein, die arabische Cultur dem
christlichen Europa zu übermitteln, und durften hoffen, dass sie in
Eolge der Anregungen, welche sie aus dem ihnen übergebenen reichen
Wissensschatz ihrer semitischen Vorgänger erhielten, durch lange Zeit
eine massgebende Kolle unter den höheren Unterrichtsanstalten behaupten
würden. Wenn sie gleichwohl keinen nachhaltigen Einfluss auf die
Entwickelung der Wissenschaften ausübten und nach einer kurzen
Blütheperiode, welche wie ein freundlicher Lichtschimmer die Geschichte
des 16. Jahrhunderts verklärt, in einen Zustand geistiger Erstarrung
versanken, der ihnen die Fähigkeit selbstständiger Bewegung nahm, so
liegt die Schuld an dem politischen und religiösen Druck, welcher hier
eine beispiellose Höhe erreichte. Selbst in den schlimmsten Zeiten der
Despotie und des Aberglaubens hat es dort an frischen Blüthen des
geistigen Lebens nicht gefehlt; aber sie wurden zertreten und konnten
nur zur Reife gedeihen, wenn sie dem heimischen Boden entzogen
wurden.
1 V.delaFuente: Historia de las universidadesen Espana, Madrid 1884. 85, 2 Bde.
13*
196 Der medizinische Unterricht im Mittelalter.
Die alten englischen Universitäten zu Oxford und Cambridge ent-
wickelten sich allmälig aus den Schulen, welche schon im 12. Jahr-
hundert dort existirten. x Es lässt sich nicht bestimmen, wann sie den
Charakter von Hochschulen annahmen. In den ersten Decennien des
13. Jahrhunderts erscheinen sie bereits als organisirte akademische
Körperschaften, als Universitäten.
Die Heilkunde wurde in diesen Studienanstalten neben anderen
Wissenschaften zwar auch gelehrt, aber nur als ein Theil der allge-
meinen philosophischen Ausbildung. Für diesen Zweck genügte ein
Lehrer dieser Disciplin, welcher den Schülern die wichtigsten Thatsachen
derselben mittheilte. Ähnliche Verhältnisse herrschten an der Hoch-
schule zu St. Andrews, welche 1411, zu Glasgow, die 1450, und Aber-
deen, welche 1494 gegründet wurde.
Auf deutschem Boden wurde die erste Universität i. J. 1348 zu
Prag, der Residenz des Kaisers Carl IV. errichtet. Ein wohlwollender
Freund und Gönner aller wissenschaftlichen und künstlerischen Be-
strebungen, war derselbe eifrig bemüht, die Unterthanen seines Reiches,
namentlich aber seines böhmischen Erblandes, mit den Vortheilen der
italienischen und französischen Cultur bekannt zu machen. Aus diesem
Grunde schuf er in seiner Hauptstadt ein Studium generale, welches er
nach dem Muster der Pariser Hochschule einrichtete.
Dasselbe enthielt sämmtliche vier Facultäten, und den Professoren
wurden feste Besoldungen angewiesen. Die Studierenden wurden wie
in Paris und Bologna in vier Nationen eingetheilt, nämlich in die
böhmische, bayerische, sächsische und polnische. An ihrer Spitze stand
der Rector, welcher zum Klerus, aber nicht zu einem geistlichen Orden
gehören, d. h. eine der niederen Weihen besitzen, mindestens 25 Jahre
alt, und legitimer Herkunft sein und ein tadelloses Leben geführt
haben musste.2 Es konnten zu dieser Würde auch Studierende ge-
wählt werden.
Die oberste Aufsicht über die Universität wurde dem Erzbischof
von Prag übertragen, also einem hohen Geistlichen, wie dies zu jener
Zeit bereits an vielen Hochschulen üblich war.
Die Universität Prag hob sich sehr rasch. Schon Benesch de
Waitmuel, ein Schriftsteller des 14. Jahrhunderts, sagte, dass „an
keinem Ort in Deutschland die Wissenschaften solche sorgsame Pflege
fanden, wie in Prag, und dass dorthin Studierende aus England und
1 H. C. Maxwell Lyte: A history of the university of Oxford from the
earliest times to 1530, London 1886. — James Bass Mullinger: The university
of Cambridge (reicht bis z. J. 1535), Cambridge 1873.
2 W. Tomek: Geschichte der Prager Universität, Prag 1849.
Die übrigen Universitäten Europas ini Mittelalter. 197
Frankreich, der Lombardei, aus Ungarn, Polen und den angrenzenden
Ländern kamen, unter ihnen Söhne von Adeligen und Fürsten und
hohe Prälaten aus den verschiedenen Theilen der Welt."1
Wenn auch die Angaben über die Zahl der Studenten, welche die
Hochschule damals zählte, übertrieben,2 jedenfalls aber sehr unverläss-
lich sind, so lässt sich doch annehmen, dass dieselbe nicht unbedeutend
war. Im J. 1372 constituirte sich die juristische Facultät als besondere
Universität und wählte ihren eigenen Kector; sie bestand damals aus
37 Mitgliedern der böhmischen, 48 der ba3'erischen, 41 der polnischen
und 29 der sächsischen Nation.
Das medicinische Studium fand keineswegs die gebührende Be-
rücksichtigung; es wurde durch einen oder höchstens zwei Lehrer ver-
treten. Als die ersten werden Nicolaus de G-evicka, Balthasae de
Tuscia und Walther genannt.
Die nationalen und religiösen Streitigkeiten, welche später in Prag
ausbrachen, hatten die Folge, dass viel fremde Studierende die dortige
Universität verliessen und die Studien vernachlässigt wurden. Damit
begann ihr Verfall, der auf dem Gebiete der Medicin am Schluss des
15. Jahrhunderts bereits ziemlich deutlich zu Tage trat.
Die Wiener Universität wurde 1365 gestiftet, trat aber eigentlich
erst 1385 ins Leben. Sie wurde nach dem Vorbild der Pariser Hoch-
schule organisirt. Wie dort, schieden sich auch hier die Mitglieder
derselben in vier Nationen, an deren Spitze Procuratoren standen, welche
den Rector wählten. Das Haupt der ganzen Universität war der
Kector, welcher dieselbe nach aussen vertrat und die Gerichtsbarkeit
ausübte. Das Amt des Kanzlers bekleidete der Probst der St. Stefans-
Kirche.
Die medicinische Facultät bildete die Vereinigung der diplomirten
Ärzte; ihr Vorstand, der Dekan, wurde von ihnen gewählt. Zur Lehr-
tätigkeit waren sie sämmtlich berechtigt; doch übten nur Einzelne
dieselbe aus und zwar selten mehr als 6 bis 8.3 Die Doetores regentes
erhielten bestimmte Besoldungen. Die ersten Lehrer der Medicin waren
1 Denifle a. a. 0. I, S. 600.
2 Darnach soll es in Prag damals 30 000 Studenten gegeben haben ; von
Bologna, Oxford und Löwen existiren ähnliche Berichte. Wahrscheinlich rechnete
man dazu nicht blos die Studenten und Schüler, welche für die Universitäts-
studien vorbereitet wurden, sondern auch alle Jene, welche in früheren Jahren
dort studiert hatten, sowie die Beamten und Handwerker, die zu der Hochschule
in geschäftlichen Beziehungen standen. Vergl. Paulsen in Sybel's histor. Zeit-
schr. 1881, Bd. 45, S. 291 u. ff.
3 J. Aschbach: Geschichte der Wiener Universität, Wien 1865, I, S. 326.
1 98 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Johann Gallici aus Breslau, Hermann Lurcz aus Nürnberg, Her-
mann von Treysa aus Hessen, Conrad von Schiverstadt und Martin
von Wallsee.
Im J. 1364 gründete König Kasimir von Polen in Krakau eine
Hochschule, an welcher zwei Lehrkanzeln für die Heilkunde bestimmt
wurden. Doch wurden diese Pläne erst i. J. 1400 verwirklicht. Auch
für Kulm wurde 1387 ein päbstlicher Stiftungsbrief erwirkt; aber die
Universität scheint nicht ins Leben getreten zu sein.
Die Universität Heidelberg entstand 1386. Sie hatte Anfangs nur
vier Professuren für alle Facultäten. Der erste Lehrer der Medicin wurde
1390 angestellt. Er blieb auch lange Zeit der einzige Vertreter dieser
Wissenschaft. 1
In Köln a/Rh. wurde 1388 eine Hochschule gestiftet, die einen
glänzenden Anfang nahm. Sie bestand bis z. J. 1798 und wurde erst
unter der französischen Herrschaft gleichzeitig mit den Universitäten
Trier und Mainz aufgehoben.
Die Erfurter Hochschule, welche schon 1379 die Rechte eines
Studium generale erhielt und jedenfalls seit 1392 als solches bestand,
erlangte im 15. Jahrhundert einen grossen Ruf, besonders durch ihre
Pflege der Rechtswissenschaften. Sie existirte bis 1816.
Die beiden ungarischen Hochschulen zu Fünfkirchen und Ofen,
welche im 14. Jahrhundert errichtet wurden, hatten nur eine kurze
Dauer; die letztere wurde am Schluss des 15. Jahrhunderts wieder-
hergestellt.
Auch die Universität Würzburg existirte nach ihrer Gründung
i. J. 1403 nur 10 Jahre. Ihre Geschichte, die für die Heilkunde eine
ausserordentliche Bedeutung besitzt, beginnt eigentlich erst i. J. 1582,
nachdem sie nach langer Pause wieder eröffnet worden war.
Im 15. Jahrhundert wurden ferner die Universitäten zu Leipzig
(1409), Rostock (1419), Löwen (1426), Greifswald (1456), Freiburg i/Br.
(1457), Basel (1460), Trier und Ingolstadt (1472), Tübingen und Mainz
(1477), Upsala (1477), und Kopenhagen (1479) gestiftet.2
Die medicinischen Studien spielten an diesen Hochschulen eine
bescheidene Rolle. Für den Unterricht in der Heilkunde waren selten
mehr als ein oder zwei Lehrer vorhanden, und häufig betrug auch die
Zahl der Schüler nicht viel mehr.
1 J. F. Hautz: Geschichte der Universität Heidelberg, Mannheim 1862, 2 Bde.
2 Vergl. Paulsen in Sybel's histor. Zeitschr. 1881, Bd. 45, S. 266 u. ff.
Dia Bildung der Ärzte im Allgemeinen. 199
Die Bildung der Ärzte im Allgemeinen.
Die Universitäten des Mittelalters waren andere Anstalten, als
diejenigen der Gegenwart. Die Begriffe, welche mit den Dingen ver-
bunden werden, wechseln mit der Zeit ebenso wie die Namen, mit
denen man sie bezeichnet.
Die Hochschulen jener Periode waren aber auch unter einander
sehr verschieden, je nach der Zeit und dem Ort ihrer Entstehung. Die-
jenigen von Salerno und Montpellier erscheinen als medicinische Fach-
schulen, an welche sich die übrigen Facultäten in ziemlich loser Weise
angliederten.
Die Hochschulen in Bologna, Padua und anderen Orten Italiens
gleichen wandernden Kolonien von Professoren und Studenten, welche
dort ihren Sitz aufschlugen, wo ihnen möglichst viele Freiheiten und
Yortheile gewährt wurden; manche traten in Verbindung mit einer der
zahlreichen Kechtsschulen, welche in vielen Städten seit langer Zeit
bestanden.
Die Universität Paris und die nach ihrem Vorbild eingerichteten
Hochschulen Englands und Deutschlands machen den Eindruck von
philosophischen Facultäten, welche der Heilkunde neben anderen Wissen-
schaften einen Platz innerhalb des Kahmens ihres Studienplans ge-
währten; an einzelnen derselben, wie in Paris, Wien, Prag, Basel und
anderen Orten, stand der medicinische Unterricht in engem Zusammen-
hange mit der ärztlichen Zunft, wie dies ursprünglich auch an den
ältesten medicinischen Schulen zu Salerno und Montpellier der Fall
war. Wie die Handwerker und Künstler in ihren Gilden, so nahmen
auch die Meister der Heilkunst das Recht in Anspruch, in ihren Ver-
sammlungen zu bestimmen, in welcher Weise sie gelehrt werden sollte
und wer das zur selbstständigen Ausübung derselben erforderliche
Wissen besitze.
Auch an den übrigen Hochschulen bedeuteten die medicinischen
Facultäten etwas Anderes, als heut; denn sie boten in jener Zeit keine
vollständige fachmännische Ausbildung, sondern nur die auf der Literatur
beruhende theoretische Grundlage dazu, und überliessen es den Studie-
renden, sich später unter der Anleitung eines praktischen Arztes oder
in Krankenhäusern die erforderlichen praktischen Kenntnisse in der
Heilkunst zu erwerben. Dadurch wurde der Schwerpunkt der ärztlichen
Erziehung aus der Facultät und damit zugleich auch aus der Univer-
sität verlegt, wie dies namentlich in England geschah, während in
Deutschland, wo es häufig an den noth wendigen Anstalten fehlte und
200 Der medicinische Unterricht im Mittelalter
die Mittel dürftig und beschränkt waren, die praktische Ausbildung der.
Ärzte überhaupt vernachlässigt wurde.
Im Allgemeinen gestaltete sich der Gang der medicinischen Studien
durch Gewohnheit sowohl wie durch gesetzliche Verordnungen an den
verschiedenen Hochschulen ziemlich gleichartig. Die Voraussetzung
derselben bildete der Besitz einer allgemeinen wissenschaftlichen Vor-
bildung, welche die TInterrichtsgegenstände umfasste, die an den Kloster-
und Domschulen, sowie an den Stadtschulen gelehrt wurden. Wenn
diese höheren Unterrichtsanstalten in Städten existirten, in welchen
später Universitäten errichtet wurden, so wurden sie den letzteren ein-
verleibt, wie in Paris, Prag, Wien u. a. 0. Daher kam es, dass viele
Studierende an der Universität selbst die zu ihren späteren Fachstudien
erforderliche Vorbildung erwarben, indem die philosophischen Facultäten
gleichsam die Stelle unserer Gymnasien vertraten. Diese Einrichtung
erhielt sich an den österreichischen Hochschulen in der Form der
beiden philosophischen Jahrgänge, welche vor dem Beginn der medi-
cinischen Studien absolvirt werden mussten, bis z. J. 1848 und besteht
an den englischen Hochschulen in modificirter Form noch heut.
Schon Kaiser Friedrich IL befahl, wie erwähnt, dass dem Beginn
der medicinischen Studien eine allgemeine wissenschaftliche Ausbildung
vorausgehe, auf welche drei Jahre verwendet werden sollten. Allmälig
wurde es an den meisten Hochschulen üblich, dass die Studierenden,
bevor sie das medicinische Studium begannen, in artibus graduirten.
jedenfalls aber durch einige Jahre Vorlesungen an der philosophischen
Facultät hörten. In Paris konnten sie nach einem zweijährigen Besuch
derselben das Baccalaureat, nach einem 3 J/2 jährigen die Licenz und
das Magisterium der Philosophie erlangen.1
Die Studienzeit der Mediciner dauerte vier oder fünf Jahre, konnte
aber um ein halbes oder ganzes Jahr abgekürzt werden, wenn der Stu-
dierende einen akademischen Grad in der philosophischen Facultät
besass. Sie zerfiel in zwei Abschnitte, deren erster die ersten zwei
oder drei Studienjahre umfasste und mit dem Baccalaureats- Examen
abschloss, während der zweite sich aus den beiden letzten Studienjahren
zusammensetzte und mit der Licenz zur Praxis sein Ende fand.
Der medicinische Unterricht bestand hauptsächlich in theoretischen
Vorträgen. Denselben wurden die medicinischen Schriften der Alten
und ihrer arabischen und italienischen Commentatoren zu Grunde gelegt.
Der Lehrer knüpfte an die Lektüre dieser Bücher fachmännische Er-
klärungen und Erzählungen aus seiner eigenen Praxis. Gewöhnlich
1 L. Hahn: Das Unterriclitswesen in Frankreich, Breslau 1848.
Die Bildung der Ärzte im Allgemeinen. 201
wurden die verschiedenen Unterrichtsgegenstände unter den Lehrern
derartig vertheilt, dass ein einzelnes Thema in abgerundeter Weise
vorgetragen wurde , z. B. die Anatomie, die Fieberlehre, der Aderlass.
die Diätetik, die Arzneimittellehre, die specielle Pathologie, die Chirurgie
u. a. m. Die Auditorien, welche in bildlichen Darstellungen jener Zeit
erscheinen,1 zeigen den Lehrer auf erhöhtem Sitz, wie er seinen Schülern,
die sich auf Bänken niedergelassen haben oder in seiner Nähe stehen,
aus einem dickleibigen Buche vorliest, während dieselben seine Worte
nachschreiben.
Über den Inhalt der medicinischen Vorlesungen giebt ein Studien-
plan der medicinischen Facultät zu Leipzig aus dem Ende des 15. Jahr-
hunderts genauen Aufschluss. Darin wurde bestimmt,2 dass die erste
Vorlesung im Winter um 7 Uhr, im Sommer um 6 Uhr früh beginne
und über die theoretische Medicin handele. Es wurden auf diesen
Gegenstand drei Jahre verwendet und zwar der Art, dass den Vor-
trägen im ersten Jahre der erste Canon des Avicenna mit den Er-
klärungen des Jacobus Foroliviensis, im zweiten die ars parva des
Galen mit dem Commentar des Trusianus und im dritten die Apho-
rismen des Hippokrates nebst den dazu gehörigen Bemerkungen Galen's
als Richtschnur dienten. Um 1 Uhr Nachmittags fanden die Vor-
lesungen über die praktische Medicin statt, welche ebenfalls einen Cursus
von drei Jahren in Anspruch nahmen. Dabei wurde im ersten Jahre
das 9. Buch des Liber medicinalis ad Älmansorem des Rhazes, welches
die Pathologie enthält, mit den Bemerkungen des Joh. Arculanus,
im zweiten die Fieberlehre und im dritten die allgemeine Therapie
nach dem Canon des Avicenna mit den Erklärungen des Dino de Garbo
u. A. zu Grunde gelegt.
Neben diesen ordentlichen Vorlesungen, welche die angestellten
Professoren abhielten, behandelten einzelne zur medicinischen Facultät
gehörige Doktoren in ausserordentlichen Collegien besondere Themata,
die sie freiwillig wählten, z. B. die Prognostik des Hippokrates.
Ähnlich war der Lehrplan, welchen der Professor an der medici-
nischen Facultät zu Wien, Martin Stainpeis, i. J. 1520 den Studie-
1 Cod. Galeni Dresd., No. 92, fol. 20 b. 30 a. 39 a. 296 a. No. 93, fol. 587 b. 608 \
— Ch. Meaux St. Marc: L'ecole de Salerne, Paris 1880 (Vignette). — Lacroix:
Science et lettres au moyen-age, Paris 1877. — L. Geiger: Renaissance und
Humanismus, Berlin 1882, S. 408 (nach einem Deckengemälde des Laurentius
de Voltolina).
2 F. Zarncke: Die Statutenbücher der Universität Leipzig, 1861, S. 38,
586 u. ff.
202 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
renden empfahl. l Er zählt in seinem Buch die medicinischen Schriften
auf, welche sie lesen sollten, und zwar nach ihrem Inhalt so geordnet,
dass sie in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge geeignet erscheinen, den
Studierenden allmälig mit den einzelnen Theilen der Heilkunde bekannt
zu machen. Unter ihnen werden die wichtigsten medicinischen Autoren
des Alterthums und der Araber und ihre Erklärer, sowie eine Anzahl
italienischer Ärzte, deren Werke damals eine grössere Verbreitung erlangt
hatten, genannt.
Stainpeis erörtert dabei den Nutzen dieser Lektüre für den künf-
tigen Arzt und giebt den Kath, dass immer mehrere Schüler zusammen
studieren sollen, damit sie einander gegenseitig über Dinge, welche dem
einen von ihnen unklar sind, belehren können. „Vor dem Schlafen-
gehen muss jeder Schüler Das, was er am Tage gelernt hat, wie ein
Ochs wiederkäuen (fol. XVII)." Auf diese Weise vergingen die ersten
drei Jahre der medicinischen Studienzeit.
Während der zweiten Hälfte derselben, also nach der Erlangung
des Baccalaureats, beschäftigten sich die Studierenden der Medicin damit,
Vorlesungen über einzelne Gegenstände zu hören, an den Disputationen,
welche allwöchentlich unter Aufsicht der Professoren stattfanden, Theil
zu nehmen, anatomischen Zergliederungen beizuwohnen, Hospitäler zu
besuchen und die praktische Behandlung der Krankheiten kennen zu
lernen.
Die Disputationen, welche schon in den Schulen der Iatrosophisten
des Alterthums üblich waren, und auch von den Arabern eifrig ge-
trieben wurden, bildeten einen wesentlichen Bestandtheil des medici-
nischen Unterrichts. Sie entsprachen der ganzen Erziehungsmethode
der scholastischen Periode, welche mehr in der dialektischen Gewandtheit
als in der Tiefe des Wissens, mehr in der todten Schulgelehrsamkeit
als in der praktischen Tüchtigkeit, welche das Leben fordert, ihr Ziel
suchte. Im Grunde genommen dienten die Disputationen als eine
nützliche Ergänzung der theoretischen Vorlesungen; denn sie boten
den Schülern Gelegenheit, zu zeigen, ob und wie sie den Inhalt der-
selben in sich aufgenommen hatten.
Sie waren somit gleichsam Prüfungen, welche die Studierenden in
Gegenwart ihrer Lehrer und Mitschüler ablegten. Die Lernenden
wurden dadurch auf Lücken ihres Wissens und die Lehrenden auf
Mängel des Unterrichts aufmerksam gemacht. Leider entarteten diese
1 Martin Staixpeis: Liber de modo studendi seu legendi in medicina, Vienn.
1520, f. VII u. ff. — A. v. Rosas: Geschichte der Wiener Hochschule u. bes. der
med. Faeultät, Wien 1843, I, 149 u. ff.
Der Unterricht in der Anatomie. 203
Disputationen häufig in hohle Redeübungen, welche nicht die Sache
förderten, sondern nur die persönliche Eitelkeit befriedigten. Die jungen
Leute „prahlen dabei mit Hippokrates und Galen, gebrauchen unge-
wöhnliche Worte und bringen überall ihre Aphorismen an", sagte
Johann von Salisbuky.
Die Baccalaureen waren ausserdem verpflichtet, die jungen Studie-
renden zu unterrichten, indem sie ihnen Abschnitte aus den medicini-
schen Schriften der alten Autoren übersetzten und erklärten und Vor-
träge über einzelne Theile der Heilkunde hielten. Die Gewohnheit
schuf auch hier bestimmte Regeln; so wurde es in Paris eingeführt,
dass über die Aphorismen des Hippokrates 50, über das Buch de
regimene 30, über die akuten Krankheiten 38, über die Prognostik
36 Vorlesungen stattfanden.1 Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese
Unterrichtsmethode für die Studierenden manche Vortheile hatte. Die
Jesuiten, welche sie später in ihren Schulen anwendeten, verdankten
ihr zum grossen Theile die Lehrerfolge, die sie erzielten.
Der Unterricht in der Anatomie.
Der medicinische Unterricht an den Universitäten trug also im
Wesentlichen einen theoretischen Charakter; nur auf einzelnen Gebieten
wurden Versuche gemacht, denselben mit praktischen Demonstrationen
zu verbinden. So wurde die Anatomie zwar hauptsächlich nach Büchern
gelehrt, aber durch Zeichnungen and Abbildungen, durch die Betrach-
tung lebender Körper und die Zergliederung todter Thiere und Menschen
erläutert.
Leider haben sich nur wenige anatomische Zeichnungen aus jener
Zeit erhalten. Henei de Mondeville, welcher zuerst Professor in Mont-
pellier und später Leibarzt Philipps des Schönen (1285 — 1314) von
Frankreich war, gab seiner Anatomie 13 Abbildungen bei, wie Guy
von Chauliac berichtet.2 Die königliche Bibliothek zu Berlin besitzt
das Collegienheft eines Studenten, welcher i. J. 1304 die Vorlesungen
desselben nachgeschrieben hat; am Rande befinden sich rohe Feder-
zeichnungen, denen H. de Mondeville's Abbildungen wahrscheinlich
als Vorlage dienten.
1 Sabatier a. a. 0.
2 Guy von Chauliac: Clrirurgia, Tract. I, doctr. 2, c. 1.
204 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Ein Pergament -Codex aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts,
welcher in der königlichen Bibliothek zu Dresden aufbewahrt wird.1
enthält Initialen mit Abbildungen, welche Vorgänge aus dem ärztlichen
Leben, darunter auch mehrere anatomische Demonstrationen, darstellen.
Aus denselben scheint hervorzugehen, dass beim Unterricht nackte
Personen vorgestellt wurden, an denen die einzelnen Theile des mensch-
lichen Körpers gezeigt und erläutert wurden. Vielleicht wurden die
inneren Organe durch Umrisse auf der äusseren Haut gezeichnet? —
Das gebräuchlichste Hilfsmittel des anatomischen Unterrichts bil-
deten die Zergliederungen von Thieren. In Salerno benutzte man dazu
vorzugsweise Schweine; an anderen Hochschulen ahmte man dieses
Beispiel nach. Ferner wurden auch Bären, Affen, namentlich aber
Hunde zu diesem Zweck verwendet.2 In den Rechnungen der medi-
cinischen Facultäten jener Zeit spielte daher der Ankauf von Schweinen
und anderen Thieren zu anatomischen Untersuchungen bisweilen keine
unbedeutende Rolle. Die Zergliederungen thierischer Körper blieben
auch gebräuchlich, nachdem die Sektionen menschlicher Leichen ge-
stattet worden waren, da sich nur sehr selten die Gelegenheit zur Vor-
nahme derselben bot.
In den ersten Jahrhunderten des Mittelalters wurden sie durch
die religiösen und politischen Gesetze ebenso wie durch die socialen
Vorurtheile verhindert. Es scheint, dass die Ärzte jener Zeit dieses
wichtige Mittel der medicinischen Ausbildung auch nicht entbehrten;
denn das anatomische Wissen Galen's und seiner Erklärer genügte
ihnen, und ein Bedürmiss zu selbstständigen Forschungen war nicht
vorhanden. Die verständigen Ärzte verkannten freilich niemals, welche
Bedeutung die Anatomie für die Medicin besitzt;3 aber erst im 13. und
14. Jahrhundert gelang es, die Hindernisse zu beseitigen, welche das
Studium derselben erschwerten oder unmöglich machten.
Kaiser Friedrich IL ermahnte die Studierenden von Salerno, sich
1 Cod. Galeni No. 92. 93 mit dem Commentar des Nicol. v. Reggio, No. 92,
fol. 19b. 26b. 34b. 50a. 59a. 83b. 93b. 96b. 109a. 151a. 158a. 164b. 169b. 177a.
304 :i. — L. Choulant: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung,
Leipzig 1852, S. 2.
2 Mondino : de anatomia (matricis). — Mag. Richardus bei Haeser a. a. 0.
I, S. 736. — J. Hyrtl: Vergangenheit und Gegenwart des Museums für mensch-
liche Anatomie an d. Wiener Universität, Wien 1869, p. XII.
3 So erklärte Taddeo Alderotti (1223—1303), dass er über das Wesen der
Schwangerschaft nicht genaue Auskunft geben könne, weil er leider niemals
Gelegenheit gehabt habe, eine Schwangere zu seciren. — A. Corradi: Dello
studio e dell' insegnamento dell' anatomia in Italia nel medio evo in Rendiconti
del R. istit. Lombardo, Milano 1873, ser. II, vol. VI, p. 634.
Der Unterricht in der Anatomie. 205
mit der Anatomie zu beschäftigen , und verordnete, dass kein Chirurg
zur Praxis zugelassen werde, bevor er den Nachweis geliefert habe,
dass er sich ein Jahr hindurch dem Studium der Anatomie gewidmet
habe. Auf den Antrag des Maktianus, Protomedicus von Sicilien,
erliess er i. J. 1238 den Befehl, dass alle fünf Jahre in Gegenwart
der Ärzte und Chirurgen eine Leiche secirt werde.1
In Bologna fanden wahrscheinlich schon im 13. Jahrhundert
Sektionen menschlicher Leichen statt. Im J. 1302 wurde auf Befehl
des Richters dort sogar eine gerichtsärztliche Sektion vorgenommen, da
der Verdacht vorlag, dass ein Mann vergiftet worden sei; zu dieser
Untersuchung wurden 2 Ärzte und 3 Chirurgen hinzugezogen.
Aus der Schilderung dieses Ereignisses geht nicht hervor, dass es
der erste Fall dieser Art war, sondern im Gegentheil, dass man in
solchen Untersuchungen und der Beurtheilung ihrer Ergebnisse bereits
einige Erfahrungen besass.2 Aus dem gleichen Grunde soll Wilhelm
von Saliceto den Leichnam des Neffen des Marchese Pallavicini secirt
haben.3
Der Minoriten-Mönch Salimbeni erzählt, dass während einer Seuche,
die i. J. 1286 in Italien wüthete, ein Arzt viele Leichen, deren Tod
dadurch herbeigeführt worden war, öffnete, um die Ursache des Leidens
zu ergründen. Während der grossen Pestepidemie von 1348 haben
verschiedene Ärzte diesen Versuch gemacht;4 leider war das Resultat,
zu welchem sie dabei gelangten, nicht viel werth.
Man scheute sich auch nicht, die Leichen vornehmer Personen,
welche fern von ihrer Heimath starben, durch Kochen und Maceration
für den Transport herzurichten. So erging es den Bischöfen, Fürsten
und adeligen Herren, die mit dem Heere Friedrich Barbarossa's 1167
in die Nähe von Rom kamen und dort einer Seuche erlagen, 5 und dem
Kaiser selbst, als er im Flusse Saleph bei Jerusalem ertrank. 6 Ebenso
machte man es mit der Leiche Ludwigs IX. von Frankreich, der 1270
bei Tunis starb,7 sowie mit derjenigen Philipps des Kühnen und seiner
Gemahlin. 8
1 A. Burggraeve: Precis de l'histoire de l'anatomie, Gand 1840, p. 47.
2 Medici a. a. 0. p. 5 u. ff. 10.
3 Puccinotti: Storia della medicina II, pars II, 357.
4 A. Corradi: Annali delle epidemie in Italia, Bologna pro a. 1286 u. 1348.
5 G. H. Pertz: Monum. Welforum ant. in Script, rer. German., Hannov.
1869, p. 41.
6 Benedictus Petrobürg: Gesta regni Henrici IL in Script, rer. Brit. med.
aevi, London 1867, T. 49, Vol. II, p. 89.
7 Corradi a. a. 0. anno 1270.
8 Muratori: Rer. script. it. VIII, 861.
206 Der medicinische Unter rieht im Mittelalter.
Pabst Bonifaz VIII. verbot dieses Verfahren i. J. 1300 1 und nahm
damit der anatomischen Forschung, welche damals eben wieder begann,
ein Hilfsmittel, dessen Verlust ihr empfindlich war. Mondino schrieb,
dass gewisse Knochen nur deutlich zu erkennen seien, wenn sie durch
Kochen präparirt würden, dass er dies aber nicht thue, weil er sich
fürchte, eine Sünde zu begehen.2 Sein Commentator Bebengar von
Caepi sagt ihm freilich nach, dass er dieser Sünde nicht immer
Widerstand geleistet und doch manchmal menschliche Knochen ge-
kocht habe.3
Mondino, welcher in Bologna die Lehrthätigkeit ausübte, hat eine
grosse Anzahl von Leichen-Sektionen ausgeführt.4 Er selbst erklärt
bei einer Gelegenheit, wo er über die Grössenverhältnisse des jung-
fräulichen, des in der Menstruation begriffenen und des schwangeren
Uterus spricht, dass er i. J. 1315 zwei weibliche Leichen zergliedert
habe. 5 Bei seinen Arbeiten sollen ihn sein Prosector Otto Agenio aus
Lustrula und eine junge Dame, Alessandra Gtliani aus Persiceto,
unterstützt haben.6
Der praktische Unterricht an der Leiche wurde in vier Lektionen
beendet, wie Guy von Chauliac berichtet, welcher bei Bertuccio,
einem Schüler Mondino's, gehört hatte. In der ersten Vorlesung wurden
die Organe der Ernährung, d. h. diejenigen der Bauchhöhle, „weil sie
am schnellsten der Verderbniss anheimfallen," in der zweiten die membra
spiritualia, also die der Brusthöhle, in der dritten die membra animata
(Gehirn) und in der vierten die Extremitäten besprochen.7
Um die Bänder, Knorpel, Gelenke, grösseren Nerven u. a. m. zu
sehen und zu studieren, wurden die Leichen längere Zeit an der Sonne
getrocknet, in die Erde vergraben, damit sie faulen, oder in fliessendes.
1 Decr. de sepulturis. S. auch Corradi: Dello studio dell anatomia a. a. 0.
p. 865.
2 Mondino: De anatomia auris. 3 Comment. Bonon. 1521, f. 510.
4 multoties, wie Guy von Chauliac in seiner Chirurgie (I, 1, 1) schreibt.
5 Mondino: de anatom. matricis.
6 Wenn Al. Macchiavelli (Effemeridi sacro-civili, Bologna 1736, p. 60 u. ff.)
von der letzteren erzählt, dass sie verstanden hätte, die Blutgefässe selbst in
ihren feinsten Verästelungen zu reinigen, ohne sie zu zerreissen, und sie dann
mit einer gefärbten Flüssigkeit gefüllt habe, welche nach der Gerinnung die
Form der Gefässe deutlich wahrnehmen Hess, so wird diese Erzählung durch
keine älteren Autoren verbürgt. Es ist nicht recht wahrscheinlich, dass man zu
einer Zeit, da die Anatomie noch einen sehr niedrigen Standpunkt innehatte,
bereits die Kunst der Gefäss-Injektion gekannt habe. Vergl. M. Medici a. a. 0.
p. 28 u. ff.
7 Guy v. Chauliac: Chirurgia a. a. 0.
Der Unterricht in der Anatomie. 207
zuweilen auch in kochendes Wasser gelegt. Manche Anatomen, wie
der Magister Richaedus, fanden eine derartige Behandlung des mensch-
lichen Körpers „schrecklich" und zogen es deshalb vor, die Anatomie
an den Leibern von Thieren zu lehren. Andere wird weniger die reli-
giöse Scheu, als der Umstand, dass sich nur selten die Gelegenheit zu
Sektionen menschlicher Körper bot, dazu veranlasst haben.
Manche Ärzte verschafften sich die Leichen, wenn sie dieselben
nicht auf rechtmässige Weise erhalten konnten, durch Diebstahl. So
spielte i. J. 1319 ein Prozess in Bologna, in welchem ein dortiger
Lehrer der Medicin und vier seiner Schüler angeklagt waren, die Leiche
eines Gehenkten heimlich aus dem Grabe genommen zu haben, um
sie zu seciren.1 Derartige Fälle mögen sich in jener Zeit ziemlich
häufig ereignet haben. Man rechnete mit dieser Thatsache und liess
die Leichen nehmen, weil man sie nicht gern geben wollte. „Die Ge-
setze gegen die Entweihung der Gräber schwiegen", wie Coeeadi sagt,2
„ohne dass sie aufgehoben wurden, und man schritt nur dann ein,
wenn offenbare Gewalt angewendet oder grosses Ärgerniss gegeben
worden war."
Nur ganz allmälig wurden für die Vornahme der Sektionen mensch-
licher Leichname legale Formen gefunden. Der Senat von Venedig
verordnete i. J. 1368, dass alljährlich eine Sektion stattfinde, damit sich
die Ärzte und Chirurgen über die Lage der einzelnen Theile des Körpers
unterrichten könnten. 3
Die Universität Montpellier erhielt 1376 das Recht, alle Jahre die
Leiche eines Verbrechers, an dem die Todesstrafe vollzogen worden
war, zu zergliedern,4 und der Universität zu Lerida wurde 1391 das-
selbe Privilegium vom König Johann I. verliehen.5 Derselbe bestimmte,
dass die Stadtobrigkeit zu diesem Zweck den Leichnam eines Verbrechers
liefere, welcher durch gewaltsames Untertauchen ins Wasser getödtet
worden war, damit der Körper völlig unversehrt erscheine.
Ferdinand der Katholische erlaubte den Ärzten und Chirurgen zu
Saragossa, die Leichen der Personen, welche in dem dortigen Spital
gestorben waren, zu öffnen, wenn sie es für nützlich hielten,6 und der
Pabst gestattete dies den Ärzten des Klosters della Guadelupe zu Estre-
madura.7 Die medicinische Facultät zu Tübingen erhielt vom Pabst
1 Medici a. a. 0. p. 36. 427 u. ff. 2 Coeeadi a. a. O. p. 642.
3 Coeeadi a. a. 0. p. 635. 4 Asteuc a. a. 0. p. 32.
5 Geemain a. a. 0. III, 134. — Denifle a. a. 0. I, S. 507.
6 A. H. Moeejon: Historia bibliografica de la medicina espagiiola, Madrid
1842, I, 252.
7 Moeejon a. a. 0. II, 25. Leider sagt er nicht, wann dies geschehen ist.
208 Der medieiniscke Unterricht im Mittelalter.
Sixtus IV. i. J. 1482 das Recht, die Leichname von hingerichteten
Verbrechern zu seeiren. 1
In den Statuten der Universität Bologna v. J. 1405 wurde an-
geordnet, „dass sich kein Doktor oder Student der Medicin, überhaupt
Niemand eine Leiche aneignen dürfe ohne Erlaubniss des Rectors."
Wenn Sektionen unter der Leitung eines Professors stattfanden, so wurde
eine bestimmte Anzahl von Studierenden aufgefordert, denselben bei-
zuwohnen; bei der Zergliederung einer männlichen Leiche durften nicht
mehr als 20, bei derjenigen einer weiblichen, weil dieselbe seltener
vorkam, nicht mehr als 30 Schüler anwesend sein, damit Jeder Alles
deutlich sehen konnte. Kein Student wurde zu diesen Demonstrationen
früher zugelassen, als nachdem er bereits zwei Jahre medicinische Vor-
lesungen gehört hatte.
Der Rector musste dafür sorgen, dass allmälig sämmtliche Medi-
ciner Gelegenheit erhielten, eine Leichensektion zu sehen, und dass bei
den Einladungen dazu die Mitglieder aller Scholaren-Corporationen die
gleiche Berücksichtigung erfuhren. Aus diesem Grunde wurde be-
stimmt, dass kein Student, welcher die Sektion eines männlichen Leich-
nams gesehen hatte, iu demselben Jahre ein zweites Mal zu der gleichen
Demonstration hinzugezogen würde. War dies im folgenden Studien-
jahre geschehen, so wurde er überhaupt nicht mehr zu der Sektion
einer männlichen, sondern nur noch zu derjenigen einer weiblichen
Leiche eingeladen, so dass er während seiner Studienzeit im günstigsten
Falle der Zergliederung von zwei männlichen und einem weiblichen
Körper beiwohnen konnte.
Die Kosten, welche die Erwerbung, der Transport, die Herrichtung
und Bestattung der Leiche verursachte, mussten die anwesenden Stu-
dierenden tragen; doch durften sie bei einem männlichen Körper nicht
über 16, bei einem weiblichen nicht über 20 Bologneser Pfund be-
tragen. Von dieser Summe erhielt der Professor, welcher die Sektion
vollzog, 100 Solidi. Die Mitglieder des Lehrer-Collegiums lösten sich
in dieser Funktion ab; kein Lehrer durfte die Aufforderung der Stu-
dierenden, die Zergliederung einer Leiche vorzunehmen, ablehnen.2
Im J. 1442 wurde gesetzlich angeordnet, dass die Obrigkeit oder
die Gerichtsbehörden von Bologna der Universität alljährlich zwei
Leichen und zwar eine männliche und eine weibliche oder, wenn die
letztere nicht zu erlangen war, zwei männliche für anatomische Zer-
1 L. F. Froriep: Die anatomischen Anstalten zu Tübingen, Weimar 1811,
Beil. I, 14.
2 Statut, dell' univ. di Bologna v. 1405, Rubr. 96, bei Corradi: Dello studio
dell' anat. in Italia a. a. 0. p. 638 u. ff. 647.
Der Unterricht in der Anatomie. 209
gliederungen liefern. Es war dabei nicht vorgeschrieben, dass sie von
hingerichteten Verbrechern stammen, sondern dem Ermessen der Be-
hörden überlassen, sie zu beschaffen, auf welche Art es möglich war
(quomodoomnqiie fieri poterif); nur durften sie nicht von Personen her-
rühren, welche in Bologna ihre Heimath hatten. l Ähnliche Verhältnisse
bestanden in Padua, Ferrara und Pisa.2
Im Allgemeinen pflegte man zu anatomischen Untersuchungen die
Körper von Verbrechern zu verwenden, an welchen die Todesstrafe voll-
zogen worden war. Das Volk betrachtete, wie schon im Alterthum,
die Verstümmelung oder Zerschneidung des todten Leibes als eine Ent-
weihung, welcher man höchstens Personen aussetzen durfte, die durch
fluchwürdige Verbrechen die allgemeine Verachtung auf sich geladen
hatten.
Als die wissenschaftlichen Bedürfnisse wuchsen, genügte diese Art,
das Leichenmaterial zu beschaffen, nicht, und man musste dasselbe
noch auf anderen Wegen zu erwerben suchen. Aber auch dann hielt
man daran fest, dass zu diesem in der öffentlichen Meinung entehrenden
Zweck nur die Leichen fremder oder, wenn einheimischer, doch nur
solcher Personen verwendet wurden, welche von niederem Herkommen
waren. Es war eine Ausnahme, wenn man in Pisa dazu auch die
todten Körper der Bürger dieser Stadt, sowie der Studenten und Dok-
toren, wenn es ihre Verwandten gestatteten, benutzte, und erklärt sich
vielleicht aus dem demokratischen Geist, welcher damals dort herrschte.3
Später und in weit geringerem Umfange als an den Hochschulen
Italiens entwickelte sich der praktische Unterricht in der Anatomie an
den Universitäten der übrigen Länder. In Paris begann man erst im
15. Jahrhundert mit derartigen Demonstrationen. In Prag fanden seit
1460 anatomische Zergliederungen statt, nachdem die dortige medici-
nische Facultät durch Schenkung in den Besitz eines eigenen Hauses
gelangt war.4 In Wien veranstaltete der von Padua dorthin berufene
Professor Galeazzo di S. Sofia i. J. 1404 die ersten anatomischen
Demonstrationen, zu welchen ihm eine männliche Leiche geliefert wurde.
Sie geschahen im Bürgerspital und dauerten acht Tage. Nach der
Beendigung derselben sammelte der Professor bei den Zuschauern Geld,
welches in die Kasse der Facultät floss.5 Es vergingen 12 Jahre, bis
die nächste öffentliche anatomische Sektion stattfand; dies geschah dann
1 Statut v. 1442, Rubr. 19, bei Corradi a. a. 0. p. 648.
2 Corradi a. a. O. p. 638.
3 Fabroni: Hist. acad. Pisan., Pisa 1792, T. II, 73.
4 Hyrtl: Geschichte der Anatomie in Prag, 1841, S. 9.
5 Hyrtl: Vergangenheit und Gegenwart a. a. 0. S. VIII.
Püschmann, Unterricht. 14
210 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter.
wieder 1418. Zu. diesen Demonstrationen wurden Doktoren und Stu-
denten der Medicin, Chirurgen, Apotheker, Gelehrte und vornehme
Standespersonen eingeladen.
Im J. 1433 wurde ein besonderer Lector der Anatomie, Dr. Joh.
Aigel aus Nürnberg, angestellt. Auf eine seltsame Weise wurde die
Facultät i. J. 1440 in ihren Erwartungen einer anatomischen Sektion
getäuscht. Es war ihr zu diesem Zweck der Körper eines Verbrechers,
welcher gehenkt worden war, übergeben worden; aber als man die
Zergliederung vornehmen wollte, kam derselbe wieder zum Leben. Er
wurde in Folge dessen begnadigt und in Begleitung des Universitäts-
Pedells in seine Heimath Alt-Ötting in Bayern abgeschoben, wo er
später wegen neuer Verbrechen doch noch am Galgen starb.
Im J. 1452 wurde in Wien zum ersten Male eine weibliche Leiche
zergliedert; doch wurden dabei nur Ärzte und Chirurgen zugelassen.
Im 15. Jahrhundert fanden dort ungefähr alle 8 Jahre einmal ana-
tomische Demonstrationen an der Leiche statt.
Die Statuten der medicinischen Facultät zu Tübingen v. J. 1497
bestimmen, dass alle 3 oder 4 Jahre eine menschliche Leiche öffentlich
zergliedert werde; ein Professor musste während dessen die Erklärung
dazu aus Mondino's Anatomie den Zuschauern vorlesen. Ähnlich ver-
fuhr man an anderen deutschen Hochschulen.
Es war unter solchen Verhältnissen kein Wunder, dass die ana-
tomische Wissenschaft in jener Periode keine sichtbaren Fortschritte
machte. Mondino's anatomisches Werk, welches seit den Zeiten des
Alterthums das erste war, dessen Verfasser menschliche Leichen zer-
gliedert hatte, befand sich trotzdem noch vollständig auf dem Stand-
punkte Galen's.
Auf teleologischer Grundlage ruhend, liefert es auf etwa 80 Seiten
eine ziemlich dürftige Beschreibung der Lage der einzelnen Theile des
Körpers, namentlich der Organe der drei grossen Körperhöhlen, und
ihres vermeintlichen Nutzens; von den Muskeln werden nur diejenigen
der Bauchwand ausführlicher beschrieben. Zahlreiche Bemerkungen
über Krankheiten und Operationen an einzelnen Körpertheilen, welche
in die Schilderung derselben eingestreut sind, weisen darauf hin, welchem
Zweck das Buch dienen sollte. Gleichwohl erlangte dasselbe ein ausser-
ordentliches Ansehen und bildete durch mehr als zwei Jahrhunderte
das beliebteste Lehrbuch der Anatomie.
Das anatomische Wissen erfuhr auch durch Guy von Chauliac,
Matthaeus de Gradibus, Peter von Argelata und ihre Nachfolger
keine bemerkenswerthen Bereicherungen. Die rohen Holzschnitte, welche
der Leipziger Professor Magnus Hundt seinem anatomischen Werk
Der Unterricht in der Arzneibereitung und der ärztlichen Praxis. 211
beigegeben hat, l werfen ein schlimmes Licht auf den Zustand der Ana-
tomie im 15. Jahrhundert.
Auf einer höheren Stufe stehen die anatomischen Zeichnungen in
dem Werk des Johannes de Ketham, weil sie zum Theil von tüchtigen
Künstlern, wie Bened. Montagna, herrühren.
Der Unterricht in der Arzneibereitung und der
ärztlichen Praxis.
Zum Studium der Arzneipflanzen bot sich in den Gärten, welche
bei vielen Klöstern bestanden, Gelegenheit. Auch manche Ärzte, wie
Matthaeus Sylvaticus in Salerno und der Magister Waltee in
Venedig, welchem der Senat zu diesem Zweck i. J. 1333 einen Platz
anwies,2 legten derartige Gärten an. Aber die Universitäten besassen
in jener Zeit dieses werth volle Lehrmittel noch nicht, und die Kennt-
niss der Arzneipflanzen wurde hauptsächlich durch den theoretischen
Unterricht und durch Bücher, welche manchmal mit botanischen Zeich-
nungen verziert waren, vermittelt.
Die Droguen und die Bereitung der Heilmittel lernten die Stu-
dierenden in den Apotheken kennen, die vom 13. Jahrhundert ab in
allen grösseren Städten entstanden. Stainpeis empfahl den Studenten
und jungen Ärzten, zu diesem Zweck oft die Apotheken zu besuchen.
Felix Plattee3 erzählt, „dass er in Montpellier neben stetigem Stu-
dieren und Lektionen -Zuhören sich sehr übte in Präparationen von
allerlei Arznei, wohl aufzumerken in der Apotheke/' und viele Kräuter
sammelte, die er „zierlich" in Papier einhüllte.
Die Apotheker bezogen einen grossen Theil der Droguen von aus-
wärts, und es entwickelte sich in diesen Dingen im Mittelalter ein
reger Handel, der aus dem Orient über Italien führte.4 Ausser den
Arzneistoffen hielten die Apotheken übrigens noch andere Artikel, ver-
schiedene Specereien, Gewürze, Wachskerzen, Papier, Zucker und Süssig-
keiten zum Verkauf; an vielen Orten, namentlich in Deutschland, übten
die Apotheker zugleich das Pfefferküchler-Handwerk aus und waren
1 Choulant a. a. O. S. 24. 2 Meyer a. a. 0. IV, 255.
3 Platter a. a. 0. S. 151.
4 W. Heyd: Geschichte des Levantehandels, Stuttgart 1879, II, 550 u. ff.
14*
212 Der medioinische Unterrieht im Mittelalter.
verpflichtet, den Rathsherren der Stadt alljährlich in der Fastenzeit
allerlei Näschereien als Geschenk zu übersenden.1
Über die Arzneistoffe, welche damals in den Apotheken vorräthig
gehalten und am meisten gebraucht wurden, und deren Preise giebt
ein Vertrag v. J. 1424 Aufschluss, in welchem ein Apotheker sich ver-
pflichtet, die erforderlichen Medicamente für den herzoglichen Hof zu
Este zu liefern.2 Eine Bestätigung und Ergänzung erfahren diese
Mittheilungen durch die Angaben, die über den Inhalt einer Apotheke
zu Kosel in Schlesien i. J. 1417 3 und über die Droguen und Medi-
camente, welche die Apotheker in Frankfurt a. M. i. J. 1450 verkauften.4
gemacht worden sind.
Von den Einrichtungen der Apotheken jener Zeit zeichnen einzelne
Abbildungen des oben erwähnten Dresdener Codex und verschiedener
medicinischer Incunabeln ein deutliches Bild.5
In Italien und Frankreich bildeten die Apotheker schon im 13. Jahr-
hundert Genossenschaften, die sich ihre eigenen Gesetze gaben und
streng darüber wachten, dass ihre Rechte nicht verletzt wurden.6 In
Deutschland sollen die ersten Apotheken zu Wetzlar 1233, in Schweid-
nitz 1248, in Würzburg 1276, in Augsburg 1285, in Esslingen 1300
und in Frankfurt a. M. 1343 errichtet worden sein. Im 15. Jahr-
hundert besassen nicht blos alle grösseren Städte, sondern schon viele
mittlere und kleine Orte, wie z. B. Znaim, Pressburg, Krems, Budweis,
Olmütz, Brunn und Kuttenberg Apotheken.7
Die Ausbildung der Apotheker geschah handwerksmässig. 8 Als
Lehrbücher dienten hauptsächlich die Werke des Nicolaus Myeepsos,
Nicolaus Praepositus, Christoph de Honestis, Saladin von Asculo,
Quiricus de Augustis u. A. Bevor den Apothekern die Erlaubniss
zur Ausübung ihrer Thätigkeit ertheilt wurde, mussten sie sich einer
1 A. Philippe: Geschichte der Apotheker, übers, v. H. Ludwig, Jena 1859,
I, S. 87.
2 A. Corradi: Su i documenti storici spett. alla medicina, chirurgia, far-
maceutica, in Annal. univ. di med., vol. 273, Milano 1885.
3 Henschel im Janus, Breslau 1847, II, 152.
4 J. A. Flückiger: Die Frankfurter Liste, Halle 1873.
5 Cod. Graleni No. 92, fol. 181 b. 182a. 193 a. 265a. 266a. — Choulant in
Naumann's Arch. f. d. zeichnenden Künste, Leipzig 1855, Bd. I, 2, S. 264. —
H. Peters: Mittelalterliche Apotheken im Anzeiger des germ. Nationalmuseums,
Nürnberg 1885, Bd. I, H. 1/2. — A. Essenwein in d. Beil. z. Anz. d. germ. Nat,
Bd. I, No. 11/12.
6 A. Corradi: Grli antichi statuti degli speziali in Annali univ. di med.,
Vol. 277, Milano 1886.
7 Stainpeis a. a. 0. f. 29. 8 Stainpeis a. a. O. f. 29 b.
Der Unterricht in der Arzneibereitung und der ärztlichen Praxis. 213
Prüfung unterziehen, bei welcher ihre Meister und einige Ärzte die
Fragen stellten. Die Aufsicht über die Apotheken und ihre Visitationen
wurde von den Ärzten , in späterer Zeit überall von den Stadtärzten,
ausgeübt.
Wie der praktische Unterricht in der Heilmittel lehre, so lag auch
die praktische Unterweisung in der Behandlung der Kranken ausser-
halb der Aufgaben, welche sich die Universitäten stellten. Aber man
darf daraus nicht etwa schliessen, dass die Studierenden jener Zeit
überhaupt keinen Unterricht am Krankenbett erhalten hätten. Nam-
hafte Historiker kamen zu dieser irrigen Meinung, weil in den Nach-
richten, welche von der älteren Geschichte der Hochschulen und
medicinischen Facultäten handeln, darüber wenig oder gar nichts ge-
sagt wird.
Der praktische Unterricht in der Krankenbehandlung geschah un-
abhängig von den Universitäten, weil die letzteren nicht in Verbindung
standen mit Hospitälern.
Wenn der Studierende der Medicin das Baccalaureats-Examen ab-
gelegt hatte, so trachtete er, sich unter der Anleitung seines Lehrers,
bei dem er die theoretischen Vorlesungen gehört hatte, oder eines an-
deren erfahrenen Arztes in der medicinischen Praxis auszubilden. Er
begleitete ihn zu diesem Zweck, wenn derselbe seine Patienten besuchte,
oder bemühte sich, in den Krankenhäusern die Gelegenheit zu erhalten,
die Heilung der Leiden zu sehen und zu erlernen. Hatte er bereits
einige Kenntnisse auf diesem Gebiet erworben, so durfte er seinen
Meister unterstützen und vertreten und unter dessen Aufsicht und
Verantwortung beginnen, selbst die Kranken zu behandeln.
Diese Methode der ärztlichen Ausbildung, welche der heutigen
gleicht, wurde schon in der medicinischen Studienordnung des Kaisers
Friedrich IL empfohlen. Die jungen Ärzte zu Salerno standen, wie
erwähnt, nach Beendigung der gesetzlichen Studienzeit noch ein volles
Jahr unter der Aufsicht eines älteren Praktikers, bevor sie selbstständig
ihre Kunst ausüben durften.
In dem schon mehrmals erwähnten Galen-Codex des 15. Jahr-
hunderts zu Dresden finden sich mehrere Initialen-Miniaturen, welche
auf klinische Unterweisung hindeuten. So zeigt No. 93 fol. 461 b das
Bild eines an Marasmus leidenden, im Bett liegenden Kranken, bei
welchem der Arzt steht und seinem Schüler ein Recept diktirt; ausser-
dem sind noch zwei Wärterinnen anwesend. Die Abbildung auf
fol. 565 b stellt einen Arzt dar, welcher seinen Schülern zwei Kranke,
deren Schenkel mit Geschwüren bedeckt sind, demonstrirt; fol. 468 b
zeigt eine chirurgische Operation am Unterschenkel, welche der Schüler
214 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
in Gegenwart des Lehrers ausführt, 500 b die Eröffnung eines Abscesses
in der Achselhöhle. In Cod. 92 fol. 268 b erscheint eine Kinder-Poli-
klinik, und fol. 158a und 295 b werden nackte Schwangere vorgestellt.1
In Montpellier, wo schon i. J. 1198 ein Hospital existirte, war es
üblich, dass die Studierenden der Medicin, nachdem sie das Bacca-
laureat erlangt hatten, unter der Anleitung eines erfahrenen Arztes die
ärztliche Praxis ausübten. Astruc2 führt in den Biographien der früheren
Lehrer der Medicin an der Schule zu Montpellier verschiedene Fälle
an, in welchen dieses System beobachtet wurde, und betrachtet die-
selben keineswegs als besondere Ausnahmen, sondern als allgemeine
Begel.
Die medicinische Facultät zu Paris forderte i. J. 1449 von ihren
Baccalaureen, dass sie fleissig die Hospitäler besuchten oder einen tüch-
tigen Arzt bei seinen Krankenbesuchen begleiteten, und verweigerte
ihnen, wenn diese Vorschrift nicht erfüllt wurde, die Zulassung zur
Licenz. 3
In den ältesten Statuten der Wiener medicinischen Facultät aus
dem 14. Jahrhundert wurde bestimmt, dass die Baccalaureen der Me-
dicin die Heilkunst innerhalb der Mauern Wiens nur mit Wissen und
unter der Leitung ihres Lehrers oder eines anderen Doktors der Wiener
Facultät ausüben durften.4 Stainpeis gab den Studierenden vortreff-
liche Kathschläge, wie sie dabei verfahren sollten. 5 Vor Allem gilt es,
wie er sagt, die Ursache der Krankheit zu ergründen; hierauf wird
der leidende Theil genau besichtigt und dann der übrige Körper einer
sorgfältigen Untersuchung unterzogen.
An der Universität zu Ingolstadt mussten die Baccalaureen der
»&'
Medicin nach den Statuten von 1472 dem Dekan einen Eid leisten,
dass sie innerhalb der Stadt und im Umkreise von sechs Meilen nur
1 Vergl. auch Cod. Galeni No. 92, fol. 7b. 17b. 43 a. 75 b. 121 a. 128 a. 208 a.
224a. No. 93, fol. 458 \ 471b. 475b. 482b. 496a. 504a. 535b. 560b.
2 Astruc a. a. 0. p. 236 (apres son baecalaureat, il alla en Provence pour
y exercer la medecine, suivant Vusage de ce temps-lä) , p. 243 (apres quoi il
alla passer le temps, qn'il etoit alors destine pour s exercer a la pratique apres
le baecalaureat) u. a. m. — Vergl. Platter a. a. 0. S. 154. — In den Statuten
von 1240 heisst es: Item nullus magister presentet aliquem (zur Licenz), nisi
ille steterit in practica extra villam Montispessulani per dimidium annum (nach
Gtermain a. a. 0. III, 424).
3 Hazon: Eloge historique de la faculte de medecine de Paris, 1770, p. 20
(qu'ils suivissent les höpitaux ou la pratique de quelque niattre pendant le cours
de la licence, faute de quoi ils n'etoient point adrnis ä ce degre).
4 J. Zeisl: Chronol. dipl. universit. Vindob. Vienn. 1755, Statut, p. 80.
5 Stainpeis a. a. 0. f. 102 b u. ff.
Der Unterricht in der Arzneibereitung und der ärztlichen Praxis. 215
Kranke besuchen und prakticiren würden , wenn sie als Stellvertreter
ihres Lehrers oder eines anderen Doktors der dortigen Facultät auf-
gestellt worden seien. l Sie hatten also ungefähr dieselben Funktionen,
wie unsere Praktikanten an den poliklinischen Instituten mancher
Hochschulen.
An Hospitälern, in welchen die Baccalaureen der Medicin Gelegen-
heit zur praktischen Ausbildung in der Heilkunst fanden, war im
Mittelalter kein Mangel. Ihre grosse Anzahl muss umsomehr Erstaunen
erregen, als uns nur ein Theil derselben bekannt ist. Die Nachrichten,
welche sich darüber erhalten haben, sind unvollständig und lückenhaft.
Soweit sie sich auf Deutschland beziehen, oder die Leprosenhäuser be-
treffen, wurden sie von Viechow zusammengestellt.2
Ein reiches Material liegt ausserdem zerstreut in den Archiven
und Bibliotheken; viele Quellen sind wahrscheinlich noch unerschlossen.
Es wäre eine dankenswerthe Aufgabe, eine Geschichte der Gründung
und Entwickelung der Spitäler im Mittelalter zu schreiben; sie würde
auf die Geschichte der Medicin wie auf die allgemeine Culturgeschichte
manchen Lichtblick werfen.
Das Christenthum hatte eine Menge von Wohlthätigkeitsanstalten
ins Leben gerufen, wie ich in einem früheren Abschnitt auseinander-
gesetzt habe. Überall wo seine Lehren verkündet wurden und Gläubige
fanden, entstanden neben den Kirchen und Klöstern auch Hospitäler
und Häuser für Arme und Gebrechliche aller Art. Die christlichen
Missionäre, welche aus Italien und Frankreich nach den Ländern des
Nordens und Ostens Europas kamen, waren Träger der Cultur, indem
sie Humanität predigten und Wissenschaften lehrten, wenigstens soweit
sie dabei mit ihren eigenen Interessen nicht in Conflikt geriethen.
Unvergängliche Triumphe feierte die christliche Wohlthätigkeit
durch Gründung zahlreicher geistlicher und weltlicher Ordensgenossen-
schaften, deren Mitglieder die Pflege der Kranken zu ihrer Lebensaufgabe
machten. Ein Enthusiasmus der Menschenliebe erfüllte die Herzen,
wie ihn die Welt nur ein einziges Mal gesehen hat. Hochgeborene
Fürstinnen und arme Bauern, Ritter und Bürger wetteiferten miteinander
in den Werken der Barmherzigkeit. Wohl möglich, dass Viele nicht
so sehr der Idealismus der Liebe, als die Hoffnung auf die Belohnungen
des Jenseits und andere weniger edele Beweggründe dazu führten, ihr
1 C. Prantl: Geschichte der Ludwig Maximilians-Universität zu Ingolstadt,
Landshut, München 1872, I, 50. II, 43.
2 Virchow's Archiv, Bd. 18, S. 138—162. 273—329. Bd. 19, S. 43—93.
Bd. 20, S. 166—198. 459—512.
216 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
Leben dem Dienst der Menschheit zu weihen; aber haben ihre guten
Thaten deshalb vielleicht weniger Segen gestiftet? —
Das Sehnen und Bingen nach Idealen, welche die von der Gegen-
wart unbefriedigte Menschheit in einer übersinnlichen Welt der Zukunft
verwirklicht glaubte, wirkte veredelnd auf den Charakter, milderte die
Rohheit der Sitten und umgab manches Unternehmen mit einem Zauber,
ohne welchen es vielleicht thöricht oder verächtlich erschienen wäre.
Dieser romantische Zug drückte auch den Kreuzzügen, in welchen
sich wilde Lust nach Abenteuern und gemeine Habsucht mit frommer
Glaubenseinfalt verbanden, ein eigenthümliches Gepräge auf. Wenn
auch das eigentliche Ziel dieser militärischen Expeditionen, das Land,
in welchem die Wiege des Christenthums stand, von der Herrschaft
der Mohammedaner zu befreien, nicht, wenigstens nicht dauernd erreicht
wurde, so hatten sie doch für die Entwicklung der Cultur manche
wohlthätige Folgen; denn es wurden dadurch Handelsbeziehungen zwi-
schen dem Orient und dem Occident eröffnet, der geistige Gesichtskreis
der Bewohner Europas erweitert und bei den Christen im Verkehr mit
den Andersgläubigen das Gefühl der Zusammengehörigkeit geweckt,
welches sich in der Stiftung von Hospitäler q und Ordensgenossenschaften
äusserte, die sich zu gemeinsamem Wirken auf dem Felde der Kranken-
pflege verbanden.
Das grosse Hospital, welches die Johanniter im 12. Jahrhundert
in Jerusalem besassen, vermochte 2000 Kranke aufzunehmen. Es be-
stand aus mehreren Gebäuden, welche, wie der Ritter Johann von
Maundeville berichtet, von 124 Marmorsäulen getragen wurden.
5 Ärzte und 3 Chirurgen, welche an diesem Krankenhause angestellt
waren, besorgten den ärztlichen Dienst.1
Im J. 1236 besass der Orden 4000 Ordenshäuser, welche über
die verschiedenen Länder der Christenheit vertheilt waren; aber schon
ein Jahrhundert später klagte Pabst Clemens VI. darüber, dass sich
die vornehmen Ritter desselben lieber an schönen Pferden und Hunden,
an Schmausereien, prächtigen Kleidern, goldenen und silbernen Gefässen
und Kostbarkeiten aller Art ergötzten und Reichthümer anhäuften, als
dass sie Kranke pflegten und Almosen spendeten.2
Auch der deutsche Orden, welcher eine grosse Anzahl von Ho-
spitälern errichtete, wandte sich seit dem 14. Jahrhundert mehr und
mehr von der Krankenpflege ab und zog es vor, durch kriegerische
Eroberungen politische Macht zu gewinnen.
1 F. v. Raumer: Geschichte der Hohenstaufen, Leipzig 1858, VI, 439.
2 J. Taaffe: The history of the holy military sovereign order of St. John
of Jerusalem, London 1852, ad ann. 1343.
Der Unterricht in der Arzneibereitung und der ärztlichen Praxis. 217
Der Orden der Lazaristen, welcher ebenfalls in Palästina entstand
und die Pflege der Aussätzigen zur Aufgabe hatte, gründete eine Menge
von Leprosen-Häusern. l Als der Aussatz in Folge der Verbesserungen
der Hygiene und der richtigeren Diagnostik der verschiedenen Leiden,
welche man bis dahin unter seinem Namen zusammengefasst hatte,
allmälig seltener wurde, und in einzelnen Ländern schon im 16. Jahr-
hundert gänzlich erlosch, fühlten sich die Kitter des hl. Lazarus ihrer
Pflicht, Kranke zu pflegen, überhoben.
Treuer hielten an dieser Aufgabe die bürgerlichen Krankenpfleger-
Genossenschaften fest, wenn auch einzelne derselben später ebenfalls
entarteten. Der Orden des hl. Geistes war eine Schöpfung des Pabstes
Innocenz III. , der ihn zum Werkzeug ausersehen hatte, um dadurch
der Krankenpflege eine die ganze Christenheit umfassende Organisation
zu geben.2 Es macht, wie Vikchow schreibt, einen ergreifenden und
zugleich versöhnenden Eindruck, zu sehen, wie „dieser gewaltige Mann,
welcher den Kaiser demüthigte und Könige entsetzte, der unerbittliche
Verfolger der Albigenser,. seinen Blick mitleidsvoll auf die Armen und
Kranken wendete und die Hilflosen und Elenden aufsuchte".3
Der Orden des hl. Geistes wird zuerst in einer Urkunde v. J. 1198
erwähnt; damals besass er bereits zwei Hospitäler in Eom, eines in
Montpellier und noch sieben andere in Frankreich. Im J. 1204 wurde
das von Innocenz III. erbaute Hospital zu S. Spirito in Rom eingeweiht;
der Boden, auf dem es errichtet wurde, soll schon unter dem Pabst
Symmachus im 6. Jahrhundert das alte Sachsen-Hospiz getragen haben.4
Der Orden zum hl. Geist entfaltete eine ausserordentliche Thätig-
keit. Schon bald nach seiner Entstehung stiftete er an verschiedenen
Orten, wie z. B. in Zürich, Halberstadt, Wien, Spandau, Breslau, Riga,
Lübeck, Bremen und Hamburg, Krankenhäuser oder übernahm die
Leitung von Anstalten, welche wie diejenigen zu Memmingen, Frei-
burg i/Br., Mainz und Ulm, schon in früherer Zeit bestanden. Vikchow
hat die Nachrichten über 154 Krankenhäuser dieses Ordens in Deutsch-
land, welche mit wenigen Ausnahmen im 13. und 14. Jahrhundert
gegründet wurden, gesammelt.5 Daneben bestanden noch viele Spitäler,
welche von anderen Krankenpfleger -Genossenschaften geleitet wurden.
Die Gründung von Wohlthätigkeits- Anstalten folgte dem Wege,
1 F. v. Raumer a. a. 0. VI, 534.
2 Hurter: Geschichte des Pabstes Innocenz III., Hamburg 1842.
3 Virchow: Gesammelte Abhandlungen, Berlin 1879, II, S. 24.
4 C. L. Morichini: Degli istituti cli carita, Roma 1870, p. 99. — Grecjorovius:
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Stuttgart 1859, II, 467.
5 Virchow a. a. 0. II, 45 u. ff.
218 Der medioinisöhe Unterricht im Mittelalter.
auf welchem sich die Cultur in Europa verbreitete. Italien, Frankreich
und das südliche und westliche Deutschland gingen voran, und die
nördlichen und östlichen Länder unseres Welttheils folgten ihnen. Um
ein Urtheil über diese Thätigkeit und ihre Erfolge im Einzelnen zu
erhalten, ist es am besten, ein beschränktes Gebiet ins Auge zu fassen.
Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Pommern und Schlesien, also die-
jenigen Länder, welche damals etwa die Grenze der Cultur bildeten,
waren schon im 13. Jahrhundert reich versehen mit Hospitälern und
Leproserien ; 1 selbst kleine Orte, deren Namen in der Geschichte kaum
genannt werden, besassen derartige Anstalten. In Schlesien gab es
deren zu Breslau (1214), Kloster-Trebnitz , Neisse (1226), Neumarkt
(1234), Bunzlau (1261), Brieg (1273), Glatz (1275), Münsterberg (1276),
Liegnitz (1280), Sagan (1283), Steinau(1290), Katibor (1295), Gr. Glogau
(1296), Görlitz (1298), Sprottau und Schweidnitz (1299), Beuthen (1302).
Oels (1307), Frankenstein (1319), Freistadt (1320), Löwenberg (1322),
Leubus (1330), Strehlen (1347), Goldberg (1348) u. a. 0. Allerdings
sind die Angaben, welche darüber gemacht werden, unvollständig und
ungenau; aber sie liefern doch ein Bild von dem Keichthum an An-
stalten, welche man zur Pflege der Kranken getroffen hatte.
Es darf wohl angenommen werden, dass es in jenen Ländern,
deren Cultur älter und mehr entwickelt und deren Reichthum grösser
war, jedenfalls nicht schlechter, sondern wahrscheinlich noch besser
damit bestellt war. Frankfurt a/M. besass im 13. Jahrhundert schon
drei oder vier Krankenhäuser.2 Das für Kranke und Sieche errichtete
Katharinen- Hospital zu Regensburg hatte in der Mitte des 13. Jahr-
hunderts 250 Pfleglinge. Eine derartige Zahl bildete damals sicherlich
eine Ausnahme; denn die meisten Hospitäler jener Zeit waren klein
und konnten nur wenige Personen aufnehmen.
Die Leiter der Regensburger iinstalt machten auch darauf auf-
merksam, dass dieselbe überfüllt war, und dass in Folge dessen die
Luft verpestet und Krankheiten auf gesunde Leute übertragen wurden.
Welche Unreinlichkeit und sanitätswidrigen Verhältnisse noch im
15. Jahrhundert in einzelnen dieser Spitäler herrschten, zeigen die
drastischen Mittheilungen, welche Thomas Platter über seinen Aufent-
halt im Krankenhause zu Breslau hinterlassen hat.3
Es ist leider noch wenig erforscht, inwieweit und in welcher Art
1 Virchow's Archiv, Bd. 18, S. 150 u. ff. 275 u. ff. 310 u. ff.
2 Gr. L. Kriege: Deutsches Bürgerthum im Mittelalter, Frankfurt a/M. 1868,
I, S. 76 u. ff. — W. Stricker: Geschichte der Heilkunde in Frankfurt a/M.,
1847, S. 129.
3 Platter a. a. O. S. 22.
Die ärztlichen Prüfungen. . 219
die Spitäler des Mittelalters zum Unterricht der Studierenden der Me-
dicin und jungen Ärzte verwendet wurden.
Die Errichtung von Krankenanstalten erfolgte an vielen Orten
früher, als sich dort wissenschaftlich gebildete Ärzte niederliessen. Die
Krankenpflege ging somit häufig der Krankenbehandlung voraus.
Die ärztlichen Prüfungen.
Die medicinischen Prüfungen, welche die Studierenden der Heil-
kunde ablegen mussten, bevor sie zur Praxis zugelassen wurden, hatten
ihr Vorbild an den Einrichtungen, die der Kaiser Friedrich IL zu
Salerno geschaffen hatte.
Im Verlauf der Zeit traten jedoch an die Stelle des einen Examens,
welches am Schluss der Studien stattfand, die Prüfungen für das Bacca-
laureat, die Licenz und das Magisterium oder Doktorat. Diese aka-
demischen Grade wurden zuerst, wie es scheint, in Bologna und Paris
eingeführt. In Salerno und Neapel wurden sie von Carl von Anjou
1278 und 1280 angeordnet, wie aus den von S. de Eenzi citirten
Documenten hervorgeht. 1
Wer sich um das Baccalaureat der Medicin bewarb, musste zwei
oder drei Jahre hindurch medicinische Vorlesungen gehört haben und
dann in einem mündlichen Examen, welches vor den Mitgliedern der
medicinischen Facultät stattfand, den Nachweis liefern, dass er sich
eine allgemeine theoretische Kenntniss der einzelnen Zweige der Heil-
kunde erworben hatte. Durch einen feierlichen Aj^t, die Determination,
bei welcher der Candidat eine ihm gestellte wissenschaftliche Frage
erörterte, wurde er aus der Klasse der Scholaren in diejenige der
„Baccalarien", wie es in dem corrumpirten Latein des Mittelalters heisst,
versetzt. Das Wort wird von einigen Erklärern mit baculum, dem
Stock, in Verbindung gebracht, der den Baccalaureen angeblich als
Zeichen ihrer neuen Würde überreicht worden sein soll. 2 Mit grösserer
Wahrscheinlichkeit wird es von bacca lauri abgeleitet; es erinnert an die
Krönungen der Dichter mit dem Lorbeerkranz, von denen die Geschichte
des Mittelalters erzählt.
Auf das Baccalaureat folgten nach einem Zeitraum von zwei oder
drei Jahren, welche der Candidat zu seiner weiteren fachwissenschaft-
1 S. de Renzi: Storia docura. della scuola med. di Salerno, Doc. No. 287. 291.
2 de Renzi: Storia docum. della scuola med. di Salerno, p. 556:
220 . Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
liehen, namentlich aber zur praktischen Ausbildung benutzte, die Prü-
fungen, welche der Ertheilung der Licenz vorausgingen. Bei der Zu-
lassung wurde vorausgesetzt, dass der Baccalaureus ausser den Vor-
lesungen, die er besucht hatte, an den Disputationen Theil genommen
und dabei den Professoren mehrmals geantwortet, einige Vorträge ge-
halten, den anatomischen Demonstrationen beigewohnt und sich in der
praktischen Heilkunst ausgebildet habe. Die Examina wurden ebenfalls
von der medicinischen Facultät abgehalten, bestanden in der Erklärung
eines Hippokratischen Aphorismus, der Beschreibung einiger Krank-
heiten und der Beantwortung der Fragen, welche daran geknüpft
wurden. War das Ergebniss günstig, so wurde der Candidat durch
zwei Mitglieder der Facultät dem Kanzler der U-niversität vorgestellt,
welcher ihm in feierlicher Weise die Licenz ertheilte.
Da die Kanzler- Würde überall von hohen Geistlichen bekleidet
wurde, welche sich als Vertreter des Pabstes, des obersten Schutzherrn
des Unterrichts, betrachteten, so fand dieser Akt in der Kirche statt.
Derselbe trug daher gleichsam einen religiösen Charakter, welcher
Andersgläubige, z. B. die Juden, von der Erlangung der Licenz aus-
schloss; doch scheint man schon in sehr früher Zeit einen Ausweg ge-
funden zu haben, indem man die Verleihung der Licenz in solchen
Fällen der Facultät überliess.1
Die Ärzte, welche in den Prüfungen ihre Befähigung zur Aus-
übung der ärztlichen Praxis gezeigt und die Erlaubniss dazu erhalten
hatten, wurden Meister oder Magistri genannt. Nachdem bei den Ju-
risten zu Bologna der Doktor-Titel üblich geworden war2 und in allen
Rechtsschulen Eingang gefunden hatte, begannen auch die medicinischen
Facultäten, denselben zu gebrauchen.
Das Wort „Doctor" kommt schon in der Literatur des Alterthums
vor3 und bezeichnet dort einen Lehrer (von docere). In diesem Sinne
wurde der Doktor-Titel auch von den medicinischen Facultäten zunächst
Denjenigen ertheilt, welche als Lehrer der Heilkunde thätig waren.
Dies geschah an den meisten Hochschulen bereits im 13. Jahrhundert.
Da das Recht, zu lehren, jedem Arzt zustand, welcher zur Ausübung
seiner Kunst legitimirt war, so wurde auch der Doktor-Titel allmälig
allen Ärzten gegeben.
1 de Renzi a. a. 0. p. 558. 572.
2 Savigny a. a. 0. I, 476. — Gruner's Almanach für Ärzte, Jena 1789,
S. 250 u. ff.
3 Cicero: de orat. I, 19. — Sueton: Caesar c. 42. — Valer. Maxim. II, 3.
— Quintilian: Instit. orat. XI, 3, XII, 2. — Ersch u. Gruber: Encyklop. sect. I,
Th. 25, S.237 u. ff.
Die ärztlichen Prüfungen. 221
Als man anfing, zwischen den Doctores legentes et non legentes,
zwischen Denjenigen , welche die Lehrthätigkeit ausübten, und Jenen,
welche dies unterliessen, zu unterscheiden, entstand der Gebrauch, die
ersteren Professoren zu nennen. Auch dieser Ausdruck stammt aus
dem Alterthum;1 er kommt von profiteri, „eine Kunst oder Wissen-
schaft öffentlich ausüben oder lehren". An den deutschen Universitäten
kam der Titel „Professor" erst im 16. Jahrhundert auf, und zwar
wurden damit nur diejenigen Lehrer der Hochschule bezeichnet, welche
mit der Abhaltung von Vorlesungen beauftragt waren und für diese
Lehrthätigkeit eine Besoldung oder Remuneration bezogen. Es waren
dies also die Mitglieder des Lehrer-Collegiums, welche man früher
Doctores regentes genannt hatte.
Der Wechsel in der Bedeutung der Titulaturen und Formen der
Höflichkeit, wie er sich im Verlauf der Zeiten vollzieht, hat seinen
Grund zum grossen Theile in der menschlichen Eitelkeit. Heut ergeht
es dem Professor-Titel wie einst dem Doktor-Titel; er wird an Ärzte
verliehen, welche dem Lehramt gänzlich fernstehen, während manche
Lehrer der Hochschulen schon nicht mehr so gern den Titel von Pro-
fessoren, als denjenigen von Geheimen Käthen, Hofräthen oder Re-
gierungsräthen führen.
Die Würde eines Doktors der Mediän konnte Jeder erlangen, der
die Licenz zur Ausübung der ärztlichen Praxis besass. Zu diesem Zweck
waren keine besonderen Prüfungen erforderlich; dagegen wurde ver-
langt, dass der Candidat von ehrenhafter und ehelicher Abkunft, un-
bescholten und sittsam, mindestens 26 Jahre alt, ohne körperliche
Mängel und wohlgestaltet sei. An einigen Universitäten wurde das
Alter auf 28 Jahre festgesetzt und ein Nachlass in dieser Hinsicht nur
dann gestattet, wenn der Candidat nicht zu weibisch und jugendlich
aussah. Personen, welche missgestaltet oder abschreckend hässlich
waren, sollten nicht zugelassen werden und zwar aus einem sonder-
baren Grunde; man befürchtete nämlich, dass sich schwangere Frauen
an ihnen versehen könnten.
Der Promotions-Akt war mit einer öffentlichen Disputation und
verschiedenen Ceremonien verbunden, welche die Aufnahme des Can-
didaten in die ärztliche Zunft versinnbilden und ihm die hohe Bedeu-
tung seiner neuen Würde deutlich vor Augen führen sollten. Die
Feier wurde unter Glockengeläute und Theilnahme der ganzen Facultät
1 Celsus: Praef. u. II, 6. — Sueton: Rhetor. 5. — Quintilian: Institut
orat. Prooem. u. I, 9. XII, 11. — Savigny a. a. 0. I, 396. — H. Conring: Autiq.
acad. I, 25.
222 Der medizinische Unterricht im Mittelalter
vollzogen. Sie begann mit einem Vortrage des Doktoranden, dessen
Verdienste von dem Professor, welcher den Akt leitete, in einer Rede
beleuchtet wurden. Der Candidat legte dann einen Eid ab, dass er
jeder Zeit seine Pflichten gegen die Facultät und den ärztlichen Stand
überhaupt erfüllen werde; hierauf wurde ihm der sogenannte Doktorhut
aufgesetzt, ein Ring an den Finger gesteckt als Zeichen des ritterlichen
Ranges, dem die Doktorwürde gleichgeachtet wurde, ein goldener Gürtel
umgelegt, und ein Buch des Hippokeates vor ihm aufgeschlagen.
Dann wurde er eingeladen, sich an der Seite des Promotors nieder-
zulassen, von Diesem umarmt und ihm der Segen ertheilt. Mit dem
Dank des neuen Doktors schloss die Feier, welcher ein Grastmahl folgte,
an welchem alle Mitglieder der Facultät Theil nahmen.
Die Ausgaben dafür, sowie die Taxen, welche gezahlt, und die
Geschenke, die an verschiedene Personen vertheilt wurden, machten die
Doktor-Promotion zu einer ziemlich kostspieligen Sache. In Wien hatte
der Candidat die Verpflichtung, einem Doktor der medicinischen Facultät
einen vollständigen Anzug zu schenken; es mussten dazu 14 Ellen
Tuch von guter Qualität verwendet werden. Übrigens blieb es ihm
unbenommen, mehrere seiner Collegen auf diese Weise zu erfreuen.
Ferner erhielt jeder Doktor der Facultät ein Barett und ein Paar ge-
wirkter Handschuhe, jeder Licentiat und Baccalaureus ein Paar gewöhn-
licher Handschuhe, „wobei jedoch der Anstand und die Ehre der Facultät
zu berücksichtigen sind."1 Ähnliche Anforderungen wurden auch an
anderen Universitäten gestellt. Am meisten betrugen die Ausgaben,
welche die Promotion in Paris verursachte. Armen Doktoranden wurden,
wenn sie sich durch ihre Kenntnisse auszeichneten, die hohen Spesen
ausnahmsweise erlassen, und an einzelnen Hochschulen geschah dies regel-
mässig in bestimmten Zeiträumen.2
Manche wurden durch die mit der Promotion verbundenen Un-
kosten von der Bewerbung abgeschreckt und begnügten sich damit, als
Licentiaten die ärztliche Praxis auszuüben. Die letzteren genossen in
dieser Hinsicht die gleichen Rechte wie die Doktoren. Es bestand
zwischen ihnen nur der einzige Unterschied, dass die Doktoren voll-
berechtigte Mitglieder der Facultät waren, über die Angelegenheiten
derselben Berathungen pflegten und Beschlüsse fassten und an einzelnen
Beneficien Theil nahmen.
In dem Wesen des Studium generale lag es, dass die Doktor- Würde
in allen Ländern der Christenheit Geltung hatte. Allerdings wurden
1 Eosas a. a. 0. I, S. 35. — Hautz a. a. 0. I, 160.
9 Coppi a. a. 0. p. 204.
Die Chirurgie und Geburtshilfe. 223
schon in früher Zeit einige Beschränkungen geltend gemacht; doch
richteten sich dieselben nicht so sehr gegen das Recht, überall die
ärztliche Berufsthätigkeit auszuüben, als gegen den Anspruch, als voll-
berechtigtes Mitglied in die medicinische Facultät einer anderen Uni-
versität aufgenommen zu werden. Die Facultäten sahen in der Pro-
motion eine wichtige Einnahmequelle, welche geschmälert wurde, wenn
Doktoren, die an fremden Hochschulen promovirt worden waren, ohne
Weiteres als Mitglieder derselben betrachtet wurden. So weigerten sich
die Ärzte von Bologna i. J. 1298, einen Collegen, den Sohn eines
dortigen Bürgers, in ihre Genossenschaft aufzunehmen, weil er in
Salerno die medicinische Doktorwürde erworben hatte und noch nicht
30 Jahre alt war. Derselbe antwortete selbstbewusst, dass er den Mangel
an Jahren durch Kenntnisse ersetze.1
Zwischen Paris und Montpellier herrschten beständig derartige
Streitigkeiter], und ebenso war es auch an anderen Hochschulen. Den-
selben wurde erst ein Ende gemacht, als bestimmt wurde, dass die
Doktoren, wenn sie die Aufnahme in eine Facultät nachsuchten, von
welcher sie nicht ihren akademischen Grad erhalten hatten, einige
Prüfungen, die jedoch in der Hauptsache nur eine Formalität waren,
ablegten und bestimmte Taxen bezahlten.
Die zur Praxis berechtigten Ärzte, welche an den Universitäten
ihre theoretische Ausbildung erlangt hatten, zerfielen also in die Dok-
toren und die Licentiaten, die sich aber nicht durch ihr Wissen, sondern
lediglich durch den Titel unterschieden.
Die Chirurgie und Geburtshilfe.
Nach ihrer Thätigkeit sonderten sich die Ärzte in solche, welche
hauptsächlich innere Krankheiten, und in solche, welche äussere Leiden
behandelten. Die Trennung der Chirurgie von der internen Medicin
bestand, wie früher auseinandergesetzt worden ist, schon im Alterthum.
Sie dürfte sich auch nachher während der ersten Jahrhunderte des Mittel-
alters erhalten haben, ohne dass jedoch eine strenge Scheidung der Ver-
treter dieser beiden Disciplinen stattfand. W^enn sie durch ihre Kennt-
nisse und ihre Tüchtigkeit einander ebenbürtig waren, so werden sie
sicherlich auch im gesellschaftlichen Leben dasselbe Mass von Achtung
genossen haben.
1 Meiners: Geschichte der hohen Schulen, Bd. II, S. 267.
224 Der medieinische Unterricht im Mittelalter.
In der Studienordnung des Kaisers Friedrich II. wurde die Zu-
sammengehörigkeit dieser beiden Theile der Heilkunst hervorgehoben;
und die medicinischen Schulen zu Salerno und Montpellier widmeten
der Chirurgie im Lehrplan die gebührende Aufmerksamkeit und bil-
deten beide Kategorien der Ärzte aus. Man bezeichnete die Heil-
kundigen als medici physici und medici chirurgi und wollte damit viel-
leicht andeuten, dass sie eine äquivalente fachmännische Ausbildung
besassen. Auch wurde der Titel Phvsici anstatt Medici gebraucht.
Leider vernachlässigten später die meisten Universitäten nach dem
Vorgange von Paris den Unterricht in der praktischen Heilkunde, be-
sonders in der Chirurgie. Da gleichzeitig den Ärzten, welche dem
geistlichen Stande angehörten, die Ausübung der Chirurgie untersagt
wurde, so stellte sich das Bedürfniss heraus, dass eine Klasse von Heil-
kundigen existire, welche die Wundarzneikunst zu ihrer besonderen
Aufgabe machten. Dazu kam, dass die Kriege und beständigen Fehden
zwischen den kleinen Territorialherren, die Kreuzzüge, namentlich aber
die grossen Seuchen, welche im Mittelalter die Länder verheerten, den
Beweis lieferten, dass die vorhandenen Ärzte weder nach ihrer Zahl,
noch' nach ihren Kenntnissen den Bedürfnissen genügten. Diese Um-
stände begünstigten die Bildung eines chirurgischen Standes, die eigent-
lich erst im 1 3. Jahrhundert deutlich hervortrat. 1
Derselbe setzte sich zusammen aus Doktoren und Licentiaten der
Medicin, welche hervorragende Neigung oder Begabung zur Chirurgie
führte, aus Heilkünstlern, denen aus religiösen oder socialen Gründen
die Erlangung akademischer Grade versagt war, und aus jener Masse
von Empirikern, welche sich eine bemerkenswerthe Sicherheit in der
Behandlung chirurgischer Leiden erworben hatten. Er barg also Ele-
mente von sehr verschiedener wissenschaftlicher Qualität in sich.
Die Chirurgen Italiens und Frankreichs standen im Allgemeinen
den Ärzten ihrer Heimath ebenbürtig zur Seite. Sie besuchten einige
Zeit hindurch die Vorlesungen an der Universität2 und erwarben sich
eine allgemein-wissenschaftliche und fachmännische Bildung, welche den
Forderungen jener Zeit entsprach. Viele waren zugleich zur Behand-
lung der inneren Krankheiten berechtigt und zeichneten sich darin
eben so sehr aus als in der Chirurgie. Die Namen eines Hugo und
Teodoeico Boegognoni, Bruno von Longobuego, Wilhelm von
Saliceto, Lanfeanchi, Henei de Mondeville, Guy von Chauliac,
1 A. Chiapelli: Studii sull' esercizio della medicina in Italia negli ultimi
tre secoli del medio evo, Milano 1885, p. 5.
2 Coppi a. a/O. p. 199.
Die Ohirwgie und Geburtshilfe. 225
Peter von Argelata, Marcello Cumano, Leon. Bertapaglia u. A.
gehören zu den glänzendsten, welche die chirurgische Literatur jener
Zeit wie die Geschichte der Heilkunde überhaupt aufweisen kann.
Die Pariser Chirurgen bildeten schon um die Mitte des 13. Jahr-
hunderts eine Genossenschaft, welche sich nach dem Muster der medi-
cinischen Facultät organisirte. Sie wurde nach dem hl. Cosmas, welchen
sie zu ihrem Schutzpatron wählte, das College de St. Cöme genannt.
Die Mitglieder desselben hielten regelmässige Versammlungen ab,
in welchen sie die Standes- und Unterrichtsangelegenheiten besprachen,
und ertheilten ihren Schülern Unterricht in ihrer Kunst. Der letztere
war, wie es scheint, vorzugsweise praktischer Natur, indem die Lehr-
linge ihre Meister zu den Kranken begleiteten und dort die chirurgischen
Verrichtungen kennen lernten. Lanfranchi, welcher am College de
St. Cöme lehrte, führte in Gegenwart seiner Schüler die chirurgischen
Operationen aus und wurde dabei von ihnen unterstützt. Auch wohnten
die Schüler den öffentlichen unentgeltlichen Krankenordinationen bei,
welche die Mitglieder des College abhielten, und besuchten mit ihnen
die Hospitäler, an denen ihre Lehrer angestellt waren. Einzelne ver-
sahen dort vielleicht die Funktionen, welche unsere Heilgehilfen und
Krankenwärter verrichten. Ausserdem wurden sie zu anatomischen De-
monstrationen zugezogen, wenn sich dazu die Gelegenheit bot.
Die Schüler mussten sich am Schluss ihrer Studien einer Prüfung
unterziehen; schon 1254 verlangten die Chirurgen, dass zu diesem Zweck
Examinatoren ernannt würden. Ein Edikt Philipp des Schönen v. J.
1311 bestimmte, dass Niemand die chirurgische Praxis ausüben dürfe,
der nicht von den Meistern für fähig erachtet und vom Leibchirurgen
des Königs die Licenz dazu erhalten habe.1 Später wurden die Stu-
dierenden der Chirurgie genöthigt, an der Universität den Grad eines
Magister artium zu erwerben und einige Vorlesungen an der medici-
nischen Facultät zu hören.
Im J. 1416 wurde das College de St. Cöme als besondere Facultät
der Pariser Hochschule einverleibt.
Die Zöglinge desselben erlangten somit eine wissenschaftliche Aus-
bildung, welche keineswegs hinter derjenigen der Ärzte zurückstand.
Trotzdem wurden sie ihnen in der socialen Kangordnung nicht gleich-
geachtet. Diese Zurücksetzung des chirurgischen Standes, welche zuerst
in Paris zu Tage trat, hatte ihren Grund theils in dem schon erwähnten
Umstände, dass sich der Klerus, welcher damals im gesellschaftlichen
Leben die erste Stelle behauptete, von ihm fern hielt, theils darin, dass
1 Buchez: De la faculte de med. de Paris a. a. 0. 1822.
Puschmann, Unterricht. 15
226 Der mcdieinisehe Unterricht im Mittelalter.
sich unter den Berufsgenossen der Chirurgen auch viele ungebildete
Leute von niederem Herkommen befanden, vor Allem aber in den
Eifersüchteleien und Streitigkeiten mit der medicinischen Facultät,
welche eine unberechtigte wissenschaftliche Superiorität in Anspruch
nahm.
Der Kampf zwischen den Ärzten und den Chirurgen dauerte bis
zum Beginn des 18. Jahrhunderts und wurde mit einer Erbitterung-
geführt, welche auf beiden Seiten beklagenswerthe Ausschreitungen im
Gefolge hatte. Die medicinische Facultät zu Paris legte i. J. 1350
ihren Mitgliedern und Studierenden die Verpflichtung auf, keine Chirurgie
auszuüben, und schloss dieselben aus, wenn sie dieses Verbot über-
traten.1 Da sie bei den Chirurgen zu wenig Demuth und Unter-
würfigkeit fand, so setzte sie es 1372 durch, dass den Barbierern das
Recht ertheilt wurde, nicht blos den Aderlass auszuführen, sondern die
ganze sogenannte kleine Chirurgie auszuüben und Geschwüre und
Wunden zu behandeln, so lange sie nicht lebensgefährlich seien. Übrigens
mag sich auch wohl die Notwendigkeit einer Klasse von Heilgehilfen
ergeben haben, welche den Ärzten zu jeder Zeit zu Diensten standen,
um die alltäglichen niederen chirurgischen Verrichtungen auszuführen;
denn die eigentlichen Wundärzte mit fachmännischer Bildung waren
selten und daher sehr beschäftigt.
Durch diese Einrichtungen wurde die Grenze zwischen den Chirurgen
und den Barbierern, welche wahrscheinlich niemals unübersteigbar war,
noch mehr verwischt. Die Pariser medicinische Facultät war bestrebt,
den letzteren die Möglichkeit, sich zu Chirurgen heranzubilden, zu er-
leichtern, indem sie i. J. 1491 Vorlesungen für sie eröffnete, welche
in französischer Sprache gehalten wurden und die verschiedenen Theile
der Chirurgie und Operationskunst behandelten.2 In der That gingen
auch aus dem Stande der Barbierer eine grosse Anzahl von Chirurgen
hervor, von denen sich Einige um die Vervollkommnung der Heilkunst,
unvergängliche Verdienste erworben haben.
In den übrigen Ländern des christlichen Europas befand sich die
Chirurgie auf einer niedrigeren Stufe, als in Italien und Frankreich.
Wenn der Niederländer Jehan Yperman im 13. Jahrhundert und der
Engländer John Ardern im 14. Jahrhundert ihre Berufsgenossen in
der Heimath an Wissen weit überragten, so verdankten sie dies lediglich
dem Umstände, dass sie ihre fachmännische Bildung in Frankreich er-
halten hatten.
1 A. F. Thery: Histoire de l'education en France, Paris 1858.
2 Hazon a. a. 0.
Die Chirurgie und Geburtshilfe. 227
Nur in Spanien scheinen einige Zeit hindurch günstigere Verhält-
nisse bestanden zu haben. In Saragossa wurden die Ärzte in der
Chirurgie geprüft und erhielten den Titel von Medico-Chirurgen ; eine
Einrichtung, die erst i. J. 1585 aufgehoben wurde.1
AVelche Art von Heilkünstlern in Deutschland die Chirurgie aus-
übte, zeigen einige Thatsachen, die aus dem Ende des 12. Jahrhunderts
berichtet werden. Als der Markgraf Dedo von Rochlitz und Groiz den
Kaiser Heinrich VI. i. J. 1190 nach Italien begleiten sollte, fürchtete
er wegen seiner Dickleibigkeit das heisse Klima und die Strapazen der
Reise und liess einen Arzt kommen, der ihm ohne Weiteres den Leib
aufschnitt, um das Fett herauszunehmen. Der Markgraf ging an dieser
seltsamen Operation natürlich zu Grunde.2
Der Herzog Leopold V. von Österreich brach sich i. J. 1195 durch
einen Sturz vom Pferde den Unterschenkel, so dass die Bruchenden
des Knochens durch die Haut hindurch drangen. Seine Ärzte behan-
delten ihn mit Pflastern und Arzneien, bis der Brand eintrat. Sie
weigerten sich, die Amputation vorzunehmen, obwohl der Patient sie
verlangte. Einer seiner Diener vollzog sie dann; aber der Erfolg war,
wie vorauszusehen, ein ungünstiger. Der Herzog starb am folgenden
Tage.3 Verwegenheit und Feigheit, die Kinder der Unwissenheit, waren
die Eigenschaften, welche die grosse Masse der deutschen Chirurgen
jener Zeit kennzeichneten.
Selbst die Bündth-Erzney des deutschen Ordensritters Heineich
von Pfolspeundt, des hervorragendsten Wundarztes, welchen unser
Vaterland im 15. Jahrhundert hervorgebracht hat, kann sich nicht
mit den chirurgischen Werken der Italiener und Franzosen messen;
denn sie war eigentlich nicht viel mehr als eine Anleitung zum Ver-
binden und Behandeln der Wunden und äusseren Schäden.
Nirgends vermochte sich die Chirurgie während des Mittelalters
zu der Höhe zu erheben, welche sie im Alterthum erreicht hatte.
Allerdings finden sich in den Schriften einzelner Wundärzte Bemerkungen,
welche eine richtige Erkenntniss der Aufgaben der Chirurgie, eine vor-
treffliche Beobachtungsgabe und eine reiche Erfahrung bekunden; aber
der Grundton derselben war die geistige UnSelbstständigkeit, die das
ganze Zeitalter beherrschte.
Teod. BorgtOGtNOni empfahl eine möglichst einfache Behandlungs-
1 V. de la Fuente a. a. 0. II, p. 479.
2 Chron. mont. seren. ed. Eckstein im Progr. d. Latein. Hauptschule zu
Halle, Halle 1844, p. 53.
3 Will, op Newburgh: Hist. rer. Angl. lib. V, c. 8 in Rer. brit. med. aevi
Script, T. 82, Abth. 2, p. 432 u. ff., London 1885.
15*
228 Der medioinisehe Unterricht im Mittelalter.
weise und wies auf die Heilung per primam hin.1 Unter den Blut-
stillungsmitteln wurde von Lanfranchi u. A. auch die Unterbindung-
erwähnt. Derselbe suchte ferner die Diagnostik der Schädel-Frakturen
zu fördern und beschränkte die Trepanation auf diejenigen Fälle, in
denen das Gehirn durch eingedrungene Knochen-Fragmente in Mitleiden-
schaft gezogen war.2 Guy von Chauliac schrieb, dass der Verletzte,
wenn man einen Metallstab, den er zwischen den Zähnen hält, berührt,
einen Schmerz an der Stelle des Schädels, wo der Bruch ist, empfindet.
Er stellte ebenfalls die Indicationen zur Trepanation fest und schilderte
die Ausführung derselben.3
Der Amputation ging er aus dem Wege; trat Brand in einer Ex-
tremität auf, so wartete er, bis sich derselbe in dem zunächst gelegenen
Gelenk abgrenzte und sich das Glied von selbst ablöste. 4 Bei der Be-
handlung der Fraktur des Oberschenkels wendete er die dauernde Ex-
tension des Gliedes an, die er durch ein Gewicht, welches an einer
über Rollen laufenden Schnur zog, herbeizuführen suchte.5 Die Binden,
die zum Verband gebrochener Extremitäten gebraucht wurden, bestrich
man vorher mit Eiweiss, welches nach der Gerinnung eine gewisse Un-
beweglichkeit des Gliedes bewirkte.6
Man kannte die Schlundsonde und benutzte sie zur künstlichen
Ernährung. 7
Fisteln wurden durch die Enzianwurzel erweitert oder mit dem
Messer in offene Wunden umgewandelt.8 In der Operation der Mast-
darmfisteln genoss John Aedeen einen grossen Ruf.9 Die Hernien
wurden durch andauernde Rückenlage oder durch Bruchbänder be-
handelt.10 Eine wesentliche Förderung erfuhr die Herniologie durch
Guy v. Chauliac, welcher verschiedene Formen der Hernien nach
ihren Bruchpforten unterschied und die Varicocele, Hydrocele und
Sarcocele überhaupt davon absonderte.11 Die Radikalheilung suchte man
1 Chirurg. II, c. 27. 2 Lanfranchi: Chir. parva, c. 7.
3 Guy v. Chauliac: Ars chirurg. tr. III, doctr. 2, cap. 1, Venet. 1546.
4 Guy v. Chauliac a. a. 0. tr. VI, d. 1, c. 8.
5 Guy v. Chauliac a. a. 0. tr. V, d. 1, c. 7 (ad pedem ligo pondus plumbo
transeundo chordam super parvam polegeam; itaque tenebit tibiam in sua
longitudine). 6 Guy v. Chauliac a. a. 0. tr. V, d. 1, c. 1.
7 M. C. Broekx: La Chirurgie de M. J. Yperman in den Annal. de Tacad.
d'archeol. de Belgique, Anvers 1863, p. 128—326.
8 Guy v. Chauliac a. a. 0. tract. IV, d. 1, c. 5.
9 A. Gore im Dublin Journal of medical science 1883, p. 269 u. ff.
10 Broekx: Yperman a. a. 0. p. 178.
11 Guy v. Chauliac a. a. 0. tr. VI, d. 2, c. 6. 7. — E. Albert: Die Hernio-
logie d. Alten, S. 161 u. ff.
Die Chirurgie und Geburtshilfe. 229
durch Ätzungen der Bruchpforte nach Keposition der vorgefalleneu
Eingeweide zu erzielen. Zu der Entfernung des Hodens, welche bei
Scrotal-Hernien angewendet wurde, entschlossen sich nur die herum-
ziehenden Empiriker.
Auch der Steinschnitt, welcher nach der Methode des Celsus aus-
geführt wurde, lag in den Händen von Specialisten dieser Art. Bei
Strikturen der Harnröhre wurden Bougies aus Wachs, Zinn oder Silber
gebraucht. Bei Erkrankungen der Bl-ase und beim Tripper verordnete
John Aedeen Einspritzungen.
Einzelne Beschreibungen von Geschwüren und brandigen Zer-
störungen an den Geschlechtstheilen beziehen sich mit grosser Wahr-
scheinlichkeit auf venerische Affectionen. Auf die ältere Geschichte der
Syphilis, von der man lange Zeit irrthümlicher Weise annahm, dass
sie am Ende des 15. Jahrhunderts überhaupt erst entstanden sei, wirft
die Erzählung, dass Ypeeman mit einer Quecksilber-Salbe viele „Aus-
sätzige" geheilt habe, ein klärendes Licht.1 Übrigens wurde dieses
Mittel damals häufig bei Geschwüren und Hautleiden gebraucht,2
Guy v. Chauliac gab den Rath, hartnäckige Geschwüre durch Auf-
legen einer Bleiplatte, welche mit Quecksilbersalbe bestrichen war, zu
behandeln. Beim Carcinom empfahl er das Glüheisen und den subli-
mirten Arsenik.3
Eine bedeutende Bereicherung erhielt die Chirurgie durch das
Wiederaufleben der plastischen Operationen, welche, wie erwähnt, schon
im Alterthum bekannt waren. In Norcia und Preci in Calabrien be-
schäftigten sich die Mitglieder mehrerer Familien seit jeher mit der
Ausführung einzelner chirurgischer Operationen, z. B. der Bruchoperation,
dem Steinschnitt, der Staaroperation u. a. m. Hier tauchte auch die
erste Kenntniss der Rhinoplastik auf. Der Wundarzt Beanca, welcher
im Beginn des 15. Jahrhunderts zu Catania in Sicilien die Praxis aus-
übte, erregte durch die Kunst, fehlende Nasen und Lippen durch
Herüberziehen benachbarter Theile der Gesichtshaut zu ersetzen, be-
rechtigtes Aufsehen.4 Auch sein Sohn Antonio besass darin eine
grosse Geschicklichkeit; doch wurde später statt der Haut des Gesichts
eine geeignete Stelle der Haut des Oberarms zum Ersatz des Substanz-
verlustes verwendet. Dieses Operationsverfahren wurde allmälig bei
1 Broekx: Yperman a. a. 0. p. 145.
2 Annalen von Waverley bei Alf. Corradi: Nuovi documenti per la storia
delle malattie veneree in Ann. univ. di med. Milano 1884, vol. 269, p. 289.
s Guy v. Chauliac a. a. 0. tr. IV, doetr. 2, c. 6.
4 Barth. Factus: De viris illustr. Florent. 1745, p. 38. — E. Zeis: Geschichte
der plast. Chirurgie, Leipzig 1863, S. 188 u. ff.
230 Der medioinische Unterricht im Mittelalter.
den Chirurgen bekannt und gelangte sogar nach Deutschland, wie aus
Pfolspeundt's Buch hervorgeht.
Nicht unerwähnt darf bleiben, dass man bei den grossen chirur-
gischen Operationen bereits anästhesirende Inhalationen anwendete.
Sie wurden zuerst im Antidotarium des Nicolaus Praepositus erwähnt;
man Hess zu diesem Zweck Lösungen narkotischer Substanzen, z. B. von
Opium, Hyoscyamus u. a., von einem neuen Schwamm aufsaugen, der
hierauf an der Sonne getrocknet, vor dem Gebrauch in heisses Wasser
gelegt und dann dem Kranken an die Nase gehalten wurde, damit die
aufsteigenden Dünste ihn in einen Zustand von Betäubung und Schmerz-
losigkeit versetzen. l
Die Augenheilkunde lag grösstentheils in den Händen von Em-
pirikern, welche mit Salben und Medicamenten die Heilung der Krank-
heiten des Auges versuchten. Die besten Augenärzte gab es, wie
Al. Benedetti sagt, im Orient;2 von dort kamen Einzelne, wie
Benvenutüs Geapheus, nach Europa und erzielten durch ihre Kunst
grosse Erfolge. Die Staaroperation wurde, wie im Alterthum, durch
Depression der erkrankten Linse, ausgeführt; Guy v. Chauliac schreibt,
dass man sie, um ihr Wiederaufsteigen zu verhüten, so lange darnieder-
halten soll, bis man drei Vaterunser oder ein Miserere gebetet hat.3
Noch schlimmer als mit der Augenheilkunde, stand es mit der
Geburtshilfe im Mittelalter. Die Ärzte, welche dem geistlichen Stande
angehörten, durften sich nicht damit befassen, damit sie vor einer un-
ziemlichen Vertraulichkeit mit Erauen bewahrt wurden, und die übrigen
Heilkünstler thaten es auch nicht. Unwissenheit, Bequemlichkeit und
andere Ursachen hielten die Ärzte ab, Geburtshilfe zu treiben. Sie
wurden zu Gebärenden nur gerufen, wenn es sich darum handelte,
abgestorbene Früchte aus dem Mutterleibe zu entfernen oder die nach
der Geburt zurückgebliebene Nachgeburt zu lösen. Auf diese beiden
Aufgaben beschränkte sich im Allgemeinen die ärztliche Thätigkeit auf
diesem Gebiet. Guy v. Chauliac sagt in seinem chirurgischen Werk,
dass er sich dabei nicht lange aufhalten wolle, weil die Geburtshilfe
gewöhnlich nur von Frauen ausgeübt werde.
Allerdings ist in dem naturwissenschaftlichen Werk des Thomas
von Cantimpee, sowie in dem Breviarium, welches vielleicht mit Un-
recht dem Aenald von Villanova zugeschrieben wird, von der Wendung
1 Guy v. Chauliac: Chirurg., tr. I, doct. 1, c. 8. — A. Corradi: Escursioni
d' im medico nel Decamerone in Atti dell' istituto Lombardo, 1878, p. 127 u. ff.
2 A. Hirsch: Geschichte der Augenheilkunde a. a. 0. S. 295.
3 Guy v. Chauliac a. a. 0. tr. VI, doctr. 2, c. 2.
Die Chirurgie und Geburtshilfe. 231
auf den Kopf und die Füsse die Kede, 1 und auch Guy spricht von der
Umwandelung der anomalen Kindeslage in eine normale; aber es lässt
sich nicht entscheiden, inwieweit diese Bemerkungen nicht blos auf
literarischen Reminiscenzen, sondern auf eigenen Erfahrungen beruhten.
Der Kaiserschnitt wurde ausgeführt, wenn die Schwangere vor der
Geburt starb, um wenn möglich das Leben des Kindes zu retten. Auch
an Lebenden wurde die Operation in einzelnen Fällen unternommen.
Schon der wegen seiner ärztlichen Geschicklichkeit berühmte Bischof
Paulus von Meeida, welcher im 6. Jahrhundert lebte, entfernte bei
einer Extra-Uterin-Schwangerschaft durch einen Einschnitt in den Unter-
leib ein abgestorbenes Kind.2 Im J. 1350 wurde an einer schwangeren
Frau zu Medingen in Schwaben, welche, weil sie angeblich drei Hostien
gestohlen hatte, um sie den Juden zu verkaufen, zum Tode verurtheilt
worden war, der Kaiserschnitt vollzogen, bevor sie verbrannt wurde.3
Die Geburtshilfe lag hauptsächlich den Hebammen ob, welche auch
die bei der Geburt erforderlichen manuellen Eingriffe unternahmen.
Ihre Ausbildung geschah wahrscheinlich handwerksmässig. Ihre me-
dicinischen Kenntnisse waren sehr verschieden in den einzelnen Ländern.
In Italien und Frankreich erhoben sich Einzelne derselben zu Ärztinnen,
deren Wissen sich über die gesammte Heilkunde erstreckte; in Deutsch-
land waren sie selten mehr als geübte Wartefrauen, welche in der
Geburtshilfe einige Erfahrungen gesammelt hatten.
Prüfungen wurden Anfangs nicht von ihnen verlangt. Über ihre
Befähigung urtheilte die öffentliche Meinung, welche in diesem Falle
durch die angesehensten Frauen des Ortes vertreten wurde. Dieselben
führten auch eine gewisse Aufsicht über die Hebammen. Später standen
die letzteren unter den Stadtärzten, welche sie über ihre Kenntnisse
examinirten. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts begannen einzelne
Städte in Deutschland, Hebammen anzustellen. Ihre Besoldung war
freilich nicht bedeutend; so erhielt die erste Stadt -Hebamme in
Frankfurt a. M. jährlich vier Gulden, und von den übrigen jede zwei
Gulden.4
1 Arnald v. Villanova: Breviarium, lib. III, c. 4.
2 C. F. Heusinger im Janus I, 764 u. ff.
3 G. Lammert : Volksmedicin u. medicin. Aberglaube in Bayern, Würzburg
1868, S. 12.
4 Kriegk a. a. 0. I, 14.
232 Der medicinische Unterricht im Mittelalter
Der ärztliche Stand und die medicinische Literatur
jener Zeit.
Ausser den Ärztea für innere Krankheiten, den Chirurgen und
Augenärzten gab es Zahnärzte und Specialisten für verschiedene innere
und äussere Leiden.^
Die Barbierer und Bader waren ebenfalls zu gewissen ärztlichen
Verrichtungen berechtigt. Sie unterschieden sich in den ersten Jahr-
hunderten des Mittelalters von einander und verschmolzen erst später
zu einer Zunft. Die Bader waren damals zahlreicher als heut, weil
die Sitte des Badens allgemeiner verbreitet war. Jede Stadt, ja sogar
viele Dörfer hatten öffentliche Bäder. Frankfurt a. M. besass im J. 1387
wenigstens 15 2 und zählte unter seinen Bürgern 29 Bader; Mainz hatte
im 14. Jahrhundert 4, Würzburg im 15. Jahrhundert 8, Ulm 11, Nürn-
berg 13, Augsburg 17 und Wien 29 öffentliche Bäder.3
Zu diesem zur Heilkunst durch die gesetzlichen Verordnungen
mehr oder weniger legitimirten Heilpersonal traten noch andere Kate-
gorien, welche das Herkommen als Rechtstitel für diese Beschäftigung
betrachten durften. Hierher gehörte zunächst der Scharfrichter und
zwar nicht etwa in dem Sinne, dass derselbe durch seine Berufsthätig-
keit allen Leiden des Menschen in summarischer Weise ein Ende macht,
sondern der Henker verrichtete in der That ärztliche Dienste, indem
er die Wunden, welche die Folter geschlagen hatte, behandelte, die
ausgerenkten Glieder wieder einrichtete u. a. m.
Die Ausübung der ärztlichen Praxis war allerdings in den meisten
Ländern nur Denjenigen gestattet, welche durch erfolgreiche Prüfungen
ihre Befähigung dazu nachgewiesen hatten. In Paris wurde die Kur-
pfuscherei schon i. J. 1220 verboten. Übertretungen dieses Gesetzes
wurden streng bestraft, wie die Akten eines darauf bezüglichen Pro-
zesses v. J. 1311 beweisen.4 Es kam sogar zur Excommunication.
Auch in Wien wurden Leute dieser Art vom Empfang der Sakramente
ausgeschlossen.5 Gleichwohl fehlte es nicht an Kurpfuschern beiderlei
1 Chiapelli a. a. 0. p. 7 u. ff. — S. de Renzi: Storia docum. della scuola
med. di Salerno, p. 559.
2 Kriege a. a. 0. II, 15 u. ff.
3 G. Zappert: Über das Badewesen mittelalterlicher und späterer Zeit im
Archiv für Kunde österr. Geschichtsquellen, Wien 1858, Bd. 21. — R. Hoffmann:
Die Augsburger Bäder und das Handwerk der Bader in d. Zeitschr. d. histor.
Vereins f. Schwaben, 1886, Jahrg. 12.
4 Hazon a. a. 0. 5 Rosas a. a. 0. I, 124 u. ff.
Der ärztliche Stand und die medicinisclte Literatur jener Zeit. 233
Geschlechts. Übrigens kam es nicht selten vor, dass Empiriker, welche
keine systematische medicinische Ausbildung erhalten hatten, von hohen
Herren und Behörden Zeugnisse und Diplome empfingen, wenn sie
Erfolge in der Heilkunst erzielten, und Mangel an Ärzten herrschte.
Über die Höhe der ärztlichen Honorare lässt sich ein ungefähres
Urtheil fällen, wenn man die gesetzlichen Taxen, die in einzelnen
Orten bestanden, in Betracht zieht. Darnach wurde im 14. und 15. Jahr-
hundert zu Venedig für jede ärztliche Visite bei alltäglichen Krank-
heiten 10 Soldi gezahlt; in Mailand durfte der Arzt für jeden Tag der
Behandlung 12 — 20 Soldi, für einen Besuch in der Nacht einen Du-
katen, und ausserhalb der Stadt für jeden Tag 4 — 6 Lire fordern.1
John Ardern verlangte für die Operation der Mastdarmfistel ein Ho-
norar von mindestens 100 Gold-Sols. Keiche und vornehme Patienten
beschenkten ihre Ärzte mit grossen Summen und Landgütern, während
die Armen ihre Schuld durch ein Paar Hühner, durch Eier, oder
Früchte abzutragen suchten.2
Auch die Besoldungen, welche die Leibärzte und Stadtärzte be-
zogen, zeigen, wie hoch die ärztlichen Dienste damals geschätzt wurden.
Die Herzöge von Savoyen, welche bekanntlich nicht zu den reichen
Fürsten gehörten, gaben ihren Leibärzten einen jährlichen Gehalt von
40 bis 60 Gulden; am Hofe zu Neapel erhielten sie dagegen 100 bis
300 Dukaten. In Prag wurde den königlichen Leibärzten der Niess-
brauch mehrerer Landgüter eingeräumt.
Das Institut der Archiatri populäres, der besoldeten Stadtärzte, wie
es im Alterthum bestand, hat sich in manchen Städten Italiens wahr-
scheinlich ohne Unterbrechung durch das ganze Mittelalter erhalten.
Die Ostgothen und Longobarden übernahmen es von den Kömern und
überlieferten es vielleicht unverändert ihren Nachfolgern in der Herr-
schaft Italiens.
In Born, ebenso wie in Dänemark und Schweden, war der Name
Archiater als Titel für einen höheren Medicinalbeamten bis in die
neueste Zeit üblich.
Die Stadtärzte hatten die Pflicht, die städtischen Beamten, sowie
die Armen der Stadt unentgeltlich zu behandeln, den ärztlichen Dienst
in den städtischen Krankenhäusern zu versehen, den Gerichtsbehörden
als Sachverständige zur Seite zu stehen und in Kriegszeiten die Bürger
ins Feld zu begleiten; ferner führten sie die Aufsicht über die Apo-
theken und öffentlichen Häuser und leiteten die öffentliche Gesundheits-
1 Chiapelli a. a. 0. p. 29.
2 Chiapelli a. a. 0. p. 28.
234 Der medicinisclie Unterricht im Mittelalter.
pflege. Später übernahmen sie an manchen Orten auch den Unterricht
des niederen Heilpersonals und examinirten dasselbe.
In Venedig gab es 12 Ärzte und 12 Chirurgen, welche von der
Stadt angestellt waren; davon empfingen die ersteren Jahrgelder von
15 bis zu 100 Dukaten, die letzteren von 10 bis 130 Dukaten. Selbst
kleinere Orte widmeten diesem Zweck in ihrem Ausgaben-Budget eine
bestimmte Summe. Treviso zahlte seinen drei Communalärzten 728 Lire
jährlich, Conegliano den Ärzten 350, den Chirurgen 250 Lire, und
Palermo bewilligte den beiden dortigen Stadtärzten 50 Goldunzen
jährlich. 1
In Deutschland wurden erst im 14. Jahrhundert Communalärzte
angestellt. In einer Verordnung des Kaisers Siegmund v. J. 1426
heisst es: „Es soll in jeder Reichsstadt ein Meister- Arzt sein; der soll
haben hundert Gulden. Die mag er niessen von einer Kirche. Und
soll männiglich arzneien umsonst und soll seine Pfründt verdienen
ernstlich und getreulich."2 Frankfurt a. M. hatte 1348 einen Stadt-
arzt, welcher die Kleidung und 10 Malter Korn erhielt;3 später gab
es deren drei, deren Besoldungen sich zwischen 10 und 100 Gulden
bewegten.
Auch für das Militär, die Hospitäler, die Klöster und für einzelne
Gefängnisse wurden Ärzte gehalten, welche eine bestimmte Besoldung
erhielten.
Die Ärzte, wenigstens die Stadtärzte, genossen an vielen Orten
Steuerfreiheit und andere Vorrechte. Einige erhielten von den Städten,
in denen sie sich niedergelassen hatten, kostenfrei das Bürgerrecht. In
gesellschaftlicher Beziehung standen sie im Range der Adeligen.
Die Mitglieder des ärztlichen Standes gehörten grösstenteils den
wohlhabenden Klassen an; man findet unter ihnen z. B. die Namen
der vornehmsten Familien Italiens vertreten. Dagegen gingen die
Chirurgen, namentlich in Deutschland, wohl vorzugsweise aus den ärmeren
Ständen hervor.
Ungemein zahlreich waren die Juden unter den Ärzten. Als
während der ersten Jahrhunderte des Mittelalters das medicinische
Studium in den christlichen Staaten des Abendlandes darniederlag, war
es ihnen vergönnt, durch die Berührung mit der arabischen Cultur
und aus den Forschungen gelehrter Rabbiner Belehrung zu schöpfen.
Es war daher nicht wunderbar, dass sie ihre christlichen Zunftgenossen
1 Chiapelli a. a. O. p. 22. 31.
2 Moehsen: Geschichte der Wissenschaften in Brandenburg, Berlin 1783,
S. 564. — P. Frank: System der medicin. Polizei, Wien 1817. VI, 1, S. 174.
3 Krieok a. a. 0. S. 8.
Der ärztliche Stand und die medicinische Literatur jener Zeit. 235
an Wissen und Geschicklichkeit übertrafen. So kam es, dass sie, be-
sonders in jenen Ländern, in denen wie z. B. in Deutschland, die
Heilkunst am meisten vernachlässigt wurde, die gesuchtesten Ärzte
wurden.
Nicht blos Fürsten und regierende Herren, selbst Bischöfe und
Päbste hatten jüdische Leibärzte; in den meisten Klöstern waren Juden
als Ärzte angestellt, wie Abnald von Villanova schreibt.1 In Prag
war im 12. Jahrhundert fast die ganze ärztliche Praxis in den Händen
jüdischer Ärzte; ähnlich scheint es in Avignon gewesen zu sein.2 In
Frankfurt a. M. war i. J. 1574 Adam Lonicerus der einzige christ-
liche Arzt; seine dortigen Collegen gehörten sämmtlich dem israelitischen
Glauben an.3 Es erklärt sich dies zum Theil daraus, dass den Juden
die meisten übrigen gelehrten Carrieren verschlossen waren. Allerdings
wurde auf mehreren Kirchen -Concilien bestimmt, dass die Christen
keine jüdischen Ärzte zu Eath ziehen sollten; aber die Geistlichen
kehrten sich selbst nicht an dieses Verbot. Auch hatte es keine Geltung,
wenn an dem Ort gar kein oder wenigstens kein tüchtiger Arzt des
christlichen Glaubens vorhanden war.
Als die Wogen der religiösen Leidenschaften höher gingen, und
die Judenverfolgungen begannen, machten sich die Folgen auch auf
diesem Gebiet bemerkbar. In den Statuten der medicinischen Facultät
zu Ingolstadt v. J. 1472 wurde den christlichen Ärzten verboten, mit
ihren jüdischen Collegen Consilien abzuhalten,4 und in der Hebammen-
Ordnung, welche 1451 zu Begensburg erlassen wurde, heisst es, dass
dieselben zu jeder ihrer Hilfe bedürftigen Frau gehen sollen, „nur allein
zu einer Jüdin sollen sie nit kommen".5
Der Klerus wurde von der Ausübung der ärztlichen Praxis sowohl
durch die Gesetze der Kirche als durch die zunehmende ärztliche Con-
currenz, welche ihm seit der Gründung der Universitäten entgegentrat,
mehr und mehr zurückgeschreckt. Auf den Concilien zu Rheims (1131),
im Lateran (1139), zu Montpellier (1162), Tours (1163), Paris (1212),
im Lateran (1215) und durch die Deere talen der Päbste Alexander III.
(1180) und Honorius III. (1219) wurde den Geistlichen untersagt, ärzt-
liche Praxis, besonders Chirurgie, zu treiben.
Dieses Verbot wurde wahrscheinlich nicht befolgt, weil es so oft
1 Güdemann: Geschichte des Erziehungswesens der Juden, Wien, I, S. 155.
2 J. v. Hasner in der Prager Vierteljahrsschrift 1866, Bd. 90. — G. Bayle
a. a. 0. p. 68.
3 W. Stricker: Geschichte der Heilkunde in Frankfurt a. M., 1847, S. 68.
4 Prantl a. a. 0. II, 47.
5 G. Lammert: Geschichte des bürgerlichen Lebens, Regensburg 1880, S. 289.
236 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.
wiederholt werden musste, jedenfalls aber häufig umgangen, wozu
Stipendien, Dispensationen1 und manche andere Einrichtungen sogar
direkt aufforderten. Immerhin wurde soviel erreicht, dass sich die
Geistlichen wenigstens von der Ausführung chirurgischer Operationen
und der Behandlung der Frauen fernhielten. Dagegen blieb das
medicinische Lehramt an manchen Hochschulen noch lange Zeit in
ihren Händen. Es lag dies daran, dass mit den Lehrstellen zuweilen
Pfründen verbunden waren, deren Genuss den geistlichen Charakter
ihres Inhabers zur Voraussetzung hatte. So war z. B. der Professor
der Medicin an der Wiener Universität H. Luecz zugleich Pfarrer von
Hohlfeld in Bayern; er hielt sich dort einen Vikar, während er selbst
in Wien die Lehrthätigkeit ausübte.2
In Folge dieser Verhältnisse wurde auch an vielen Universitäten
das Cölibat von den Lehrern der Medicin gefordert. Als i. J. 1479 der
Kurfürst Philipp einen Laien als Professor der Heilkunde in Heidel-
berg anstellen wollte, protestirte die Hochschule dagegen, weil er kein
Kleriker war. Es wurde erst durchgesetzt, nachdem der Pabst i. J. 1482
gestattet hatte, dass auch Laien, sogar verheirathete, zu Professoren der
Medicin ernannt wurden.3
In Paris, wo man das Cölibat so streng beobachtet hatte, dass
dem Jean de Pois i. J. 1395, weil er sich verheirathet hatte, sogar
die Licenz entzogen wurde, wurden diese Bestimmungen durch den
Cardinal d'Estouteville 1452 aufgehoben. An manchen Orten setzte
man sich stillschweigend darüber hinweg und gewährte in solchen
Fällen auch Pfründen an Bewerber, welche nicht allen Vorschriften der
kanonischen Gesetze zu genügen vermochten.4
Der Klerikalismus machte sein Übergewicht auf allen Gebieten
des öffentlichen und privaten Lebens geltend. Er blickte aus allen
geistigen Bestrebungen, welche die Periode der Scholastik erfüllten,
siegesgewiss hervor. Auch die naturwissenschaftliche und medicinische
Literatur wurde davon beherrscht. Sie diente ebenfalls nur dem einen
Zweck, die Wissenschaft zur Begründung und Stütze des theologischen
Dogma zu machen.
Die naturwissenschaftlichen Werke des 13. Jahrhunderts trugen
einen encyklopädischen Charakter. Die hervorragendsten Autoren waren
der Dominikanermönch und spätere Bischof von Regensburg Albertus
1 A. Corradi in Eend. d. R. ist. Lomb. 1873, ser. II, v. VI, p. 863.
2 Aschbach a. a. 0. I, S. 410.
3 J. F. Hautz a. a. 0.
4 Paulsen in Sybel's histor. Zeitschr. Bd. 45, S. 310. 434. — Hefele: Con-
ciliengeschichte VII, 355.
Der ärztliche Stand und die medicinische Literatur jener Zeit. 237
Magnus, der Minorit Bartholomäus Anglicus, die Franzosen Thomas
von Cantimpre und Vincenz von Beauvais, die Italiener Brunetto
Latini, der Lehrer Dante's, und Ristorio d'Arezzo und der Deutsche
Kunrat von Megenberg; auch die von Mönchen des Klosters Mainau
verfasste Naturlehre gehört hierher.
Die eigentliche ärztliche Literatur lieferte hauptsächlich Erklärungs-
schriften zu den Werken der Alten und der durch lateinische Über-
setzungen bekannten arabischen Schriftsteller. Dieser Art waren die
Arbeiten von Taddeo Alderotti, genannt Florentinus, Dino und
Tommaso di Garbo, Bartolomeo Varignana, Torrigiano, Giacomo
della torre, glovanni und marsilio di s. sofia, glacomo de dondi,
Francesco di Piedimonte und Jacques Despars aus Tournay.
Kurze für den Unterricht der Studierenden und den Gebrauch der
Ärzte berechnete Auszüge der umfangreichen therapeutischen Werke der
Araber und gedrängte Zusammenstellungen der gebräuchlichsten Heil-
mittel entsprachen den Bedürfnissen des Tages. Hierher gehören der
Clavis sanationis des Simon von Genua, die medicinischen Pandekten
des Matthäus Sylvaticus, der Aggregator Brixianus des Guglielmo
Corvi, die medicinischen Compendien des Gilbertus Anglicus und
des Schotten Gordon, und die Schriften des Johann von Tornamira,
des Portugiesen Valescus von Taranta, des Florentiners Niccolo
Falcucci, des Michele Savonarola, Antonio Guaineri u. A.
Einen unabhängigeren Standpunkt nahm der durch seine natur-
wissenschaftlichen Kenntnisse hervorragende Peter von Abano ein,
welcher in seinem Conciliator differentiarum eine strenge, zuweilen zer-
setzende Kritik der damaligen Theorien der Heilkunde lieferte. Um
dieselbe Zeit traten der Engländer Roger Bacon und der Catalonier
Arnald von Villanova für die Freiheit der Forschung ein und er-
klärten, dass die Naturwissenschaften und die Medicin nur allein durch
die Beobachtung und die Erfahrung eine sichere Grundlage erhalten.
Sie bahnten dadurch eine selbstständigere Richtung in der Heilkunde
an, welche sich in den Schriften ihrer Anhänger, besonders an den
Schulen zu Montpellier und Prag, kund gab and sich auch in den
zahlreichen Sammlungen von Krankengeschichten äusserte, welche im
14. und 15. Jahrhundert verfasst wurden. Bei allem Festhalten an den
herrschenden Lehren brachten sie doch manche werthvolle eigene Be-
obachtung, welche eine Bereicherung der medicinischen Wissenschaft
bildete.
So beschrieb Hugo Bencio Fälle von periodischem Wahnsinn,
Spermatorrhoe und Syphilis. Matteo Ferrari de Gradibus behandelte
einen Studenten, der am Schreibkrampf litt, und beobachtete die mit
238 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter
Verzerrung des Gesichts verbundene Lähmung des N. Facialis, Hallu-
cinationen des Gesichts und hartnäckigen Speichelfluss. Baverius be-
richtete über einen Paralysis der oberen Extremitäten mit Störung der
Sprache und Gedächtnissschwäche, welche angeblich nach einer heftigen
Halsentzündung zurückgeblieben war.1 Henri de Mondeville und
Guy Von Chauliac sahen Fälle von Verletzungen des Gehirns mit
Verlust von Substanz desselben, ohne dass dauernde geistige Störung
eintrat. 2
Gleichzeitig mit dem Wiederbeginn einer selbstständigen Kranken-
beobachtung wurde ein regeres Studium der Anatomie und ein erfolg-
reicher Aufschwung der Chirurgie vorbereitet, wie ich an einer früheren
Stelle auseinandergesetzt habe. Auch andere Zweige der Heilkunde
wurden gefördert; es entstand eine durch den Reichthum ihrer Erzeug-
nisse bemerkenswerthe balneologische Literatur, welche die meisten der
damals bekannten Bäder in Betracht zog. Auch Deutschland war
darunter vertreten; der Nürnberger Barbier und Meistersänger Hanns
Folz verfasste i. J. 1400 ein „Büchlein von allen Bädern, die von
Natur heiss sind."
Daneben erschienen besonders in Deutschland auch viele populäre
medicinische Schriften; es waren dies für den häuslichen Gebrauch
bestimmte Receptsammlungen oder diätetische Verhaltungsmassregeln,
die nach dem Muster des Regimen Salernitanum bearbeitet waren, wie
das Arzneibuch des Ortolf von Bayerland, der Mainzer Gesundheits-
garten u. a. m.
Das Mittelalter war somit in geistiger Beziehung keineswegs so
öde und unfruchtbar, als es von manchen Schriftstellern dargestellt
wird. Es herrschte ein reges Leben auf allen Gebieten der intellektuellen
Thätigkeit. Wenn die Ergebnisse derselben nicht den Mühen und
Arbeiten, welche aufgewendet wurden, entsprachen, so lag dies daran,
dass die letzteren eine falsche Richtung verfolgten oder auf ihrem Wege
Hemmnisse fanden, die sie nicht überwinden konnten. Das Joch der
Scholastik lastete auf der Wissenschaft, und die Autorität der Kirche
wies ihr Ziele an, welche ihrem Wesen fern lagen und unerreichbar
waren.
1 Ch. Daremberg a. a. O. I, p. 338 u. ff.
2 Guy v. Chauliac a. a. 0. tract. III, doctr. 1, c. 1.
III. Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Der Charakter des 16. Jahrhunderts.
Jemehr das Wissen sich vermehrte und verbreitete, desto mehr
brach sich die Überzeugung Bahn, dass der Gedanke von den Fesseln,
welche ihn darnieder hielten, erlöst werden müsse. Was im 13. Jahr-
hundert nur von wenigen auserlesenen Geistern gefühlt und kühn und
unerschrocken verkündet worden war, erfüllte am Schluss des 15. Jahr-
hunderts die Herzen aller Gebildeten. Der Drang nach Freiheit und
Selbstständigkeit machte sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens
geltend und bildete in der Kunst wie in der Wissenschaft, in der Ke-
ligion wie in der Politik den Grundton, der überall hindurchklang.
Mächtige culturhistorische Bewegungen, wie diejenigen des 16. Jahr-
hunderts, entstehen nicht plötzlich, sondern sind die Frucht einer langen
vorbereitenden Thätigkeit. Sie bestehen längst, bevor sie in die Er-
scheinung treten, der oberflächlichen Betrachtung entzogen und nur
dem kundigen Auge erkennbar. Gleich den Keimen der Pflanzen,
welche den Erdboden erfüllen, reifen sie in der Verborgenheit und
brechen hervor, wenn ihre Zeit gekommen ist.
Die Wurzeln der reformatorischen Bestrebungen des 16. Jahr-
hunderts reichen weit in das Mittelalter zurück. Ihre Geschichte erzählt
von vergeblichen Versuchen, fruchtlosen Mühen, zertretenen Hoffnungen
und blutigen Opfern. Um die Freiheit des Gedankens wurde schon
in früheren Jahrhunderten mit Begeisterung und Hingebung gerungen;
aber die Kämpfer standen vereinzelt und wurden von ihren Gegnern
überwältigt.
Luther und Melanchthon hatten ihre Vorläufer, welche für ihre
Überzeugung in den Tod gingen.
Die Unterdrückung des Raubritter wesens und die Angriffe gegen
den Feudalismus wurden durch die Entwickelung eines unabhängigen
wohlhabenden Bürgerthums vorbereitet und begünstigt.
240 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Kunst und Wissenschaft wurden durch den Humanismus, welcher
seit Petrarca in Italien gepflegt wurde, zum Studium der Antike und
der Beobachtung der Natur zurückgeführt. Die Künstler machten sich
von den mittelalterlichen Traditionen los und gaben ihren Gestalten
einen freieren Ausdruck, welcher der Natur abgelauscht und darum
wahr war und die Herzen erwärmte.
Was für die Kunst die Früh-Renaissance, das war für die Wissen-
schaft das Studium der römischen und griechischen Originalwerke und
der Beginn einer selbstständigen Naturforschung. In den Schulen des
Mittelalters hatte man die Schriften der römischen Classiker nur selten
und diejenigen der griechischen niemals in ihrem ursprünglichen Text
kennen gelernt. Das Latein, welches beim Unterricht und im täglichen
Verkehr zwischen den Lehrern und Schülern gesprochen wurde, war
sehr verschieden von der Sprache eines Cicero oder Quintilian. Die
griechische Sprache wurde nirgends in den Bereich des Unterrichts
gezogen, und die Kenntniss derselben war so selten, dass Petrarca
i. J. 1360 kaum zehn Gelehrte in Italien zu nennen vermochte, welche
sie verstanden.1
In den übrigen Ländern stand es damit jedenfalls nicht besser.
Die literarischen Werke des Alterthums wurden dem Mittelalter haupt-
sächlich durch lateinische Übersetzungen, Bearbeitungen und Auszüge
zugänglich gemacht, welche häufig nicht nach dem Original, sondern
nach arabischen Übertragungen angefertigt wurden. Auf die Form
und den Ausdruck der Sprache legte man dabei wenig Gewicht; denn
sie wurde nicht als Bildungsmittel des Geistes betrachtet, sondern galt
nur als die werthlose Schale für den kostbaren Inhalt, den man suchte.
Aber auch dieser erhielt sich nicht rein und unverfälscht; denn er
erfuhr diejenigen Änderungen, welche man im Zeitalter der Scholastik
für die Autorität der Kirche und das Seelenheil der Gläubigen für
nothwendig hielt.
Als man erkannte, dass man bei diesem Verfahren nicht in den
vollen ungeschmälerten Besitz der reichen Schätze des Wissens gelangte,
welche das Alterthum hinterlassen hatte, begann man, die Schriften
derselben wieder in ihrer ursprünglichen Überlieferung zu studieren.
Die heidnischen Classiker erwachten zu ueuem Leben und verkündeten
mit flammenden Worten die Grösse und den Ruhm der Vergangenheit.
Am frühesten geschah dies in Italien, wo zahlreiche Überreste von
Bauwerken, Statuen und Inschriften an die Cultur der Römer erinnerten.
1 G. Voigt: Die, Wiederbelebung des classisehen Alterthums, Berlin 1881,
II, 107.
Der Charakter des 16. Jahrhunderts. 241
Auf diesem Boden lernte man zuerst wieder die echte Latinität kennen,
und von dort gelangte diese Wissenschaft im 15. Jahrhundert auch in
andere Länder. An den deutschen Hochschulen wurden Lehrkanzeln
für lateinische Eloquenz und Rhetorik errichtet, deren Inhaber durch
ihre Reden und Dichtungen die Bewunderung und den Neid ihrer Zeit-
genossen erregten. Gleichzeitig erlangte die Kenntniss der griechischen
Sprache eine allgemeine Verbreitung in den Kreisen der Gelehrten.
Es war dies zum grossen Theile das Verdienst der griechischen Flücht-
linge, welche nach der Unterwerfung ihres Vaterlandes durch die Türken
nach Italien kamen und dort eine neue Heimath fanden. Chetsolaeas,
Geoegios von Teapezunt, Theodoeos Gaza, Bessaeion, Konstantin
Laskaeis u. A. brachten viele werthvolle griechische Handschriften mit
und sammelten einen Kreis von auserwählten Schülern um sich.
An den Höfen der für Kunst und Wissenschaft empfänglichen
Fürsten Italiens, namentlich unter den Mediceern, entwickelte sich ein
Cultus des Hellenenthums, welcher die hervorragendsten Männer des
Staates vereinigte. Gelehrte Gesellschaften, welche sich Platonische
Akademien nannten,1 machten die Pflege der griechischen Literatur zu
ihrer Lebensaufgabe. Die heiteren Formen des griechischen Lebens
zauberten ihnen Bilder lachenden Menschenglücks vor die Seele, die
sie dem traurigen Ernst der christlichen Entsagung entrückten, welcher
die Freude hasste und verdammte. An den Idealen der Freiheit und
antiken Heldengrösse richteten sie sich auf, wenn sie die Betrachtung
der trostlosen politischen Zustände der Gegenwart darnieder drückte.
Die Schriften der Weisen des Alterthums boten ihnen reiche Anregung
und Belehrung auf allen Gebieten der wissenschaftlichen Thätigkeit;
hier fanden sie die Grundlagen der Philosophie, Rechtswissenschaft,
Mathematik, Astronomie, Geographie und Physik, der Naturwissenschaften
und der Heilkunde.
Mit der Wiederbelebung der griechischen und römischen Literatur
erschloss sich eine Welt von Ideen und Bestrebungen, welche geeignet
erschienen, an die Stelle der abgestorbenen Lebensformen des Mittel-
alters zu treten. Der nach einer modernen Entwicklung der Cultur
ringende Geist des Zeitalters glaubte darin eine wirksame Waffe fin-
den grossen Kampf gegen die Kirche und die Scholastik zu finden
und täuschte sich nicht. Allerdings blieb der Humanismus auf einen
kleinen Kreis beschränkt; aber derselbe bestand aus der geistigen Elite
der Völker.
1 P. Villari: Nicolo Macchiavelli und seine Zeit, Deutsche Übers., Rudol-
stadt 1882, I, 147 u. ff.
Puschmann, Unterricht. \Q
242 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Die Ideen des Humanismus ergriffen die Gemüther mit solcher
Macht , dass sich ihnen Niemand entziehen konnte , nicht einmal Die-
jenigen, welche darin ihre natürlichen Feinde sehen mussten, die Ver-
treter der Kirche und des Klerikalismus. Selbst am päbstlichen Hofe
fanden sie gastliche Aufnahme. Nicolaus V. war ihr wohlwollender
Freund und Gönner, wenn auch vielleicht mehr aus persönlicher Eitel-
keit, als aus innerer Überzeugung. Pius IL hatte vor seiner Thron-
besteigung, als er noch den Namen Aeneas Sylvius führte, mit grossem
Eifer für ihre Verbreitung in Deutschland gewirkt und blieb allezeit
ihr treuer Anhänger und Vertheidiger in Wort und Schrift.
Ihre Wirkungen äusserten sich übrigens weniger in der Religion
als in der Kunst und Wissenschaft. Die Humanisten vermieden im
Allgemeinen direkte Angriffe gegen die Dogmen der Kirche. Auch war
nicht zu befürchten, dass die lustigen, bisweilen sogar etwas frivolen
Götter Griechenlands den christlichen Cultus verdrängen würden, wenn
dies auch manchen Vertretern des Humanismus nach der Art eines
Peter Luder, Buschiüs oder Ulrich von Hütten vielleicht erwünscht
gewesen wäre. Der Einfluss, welchen die humanistischen Studien auf
die christliche Religion ausübten, lag hauptsächlich darin, dass sie zu
einer Vergleichung mit den supranaturalistischen und ethischen An-
schauungen des Alterthums herausforderten und dadurch eine freiere
Beurtheilung der christlichen Lehren ermöglichten.
Reiche Anregung verdankte die Kunst der Antike. Der eng-
begrenzte Ideenkreis der jüdisch-christlichen Legende, welcher bis dahin
den Künstlern nahezu ausschliesslich die Stoffe geliefert hatte, die durch
die beständige Wiederholung allmälig monoton wurden, erhielt eine
angenehme Bereicherung durch die Mythologie der Griechen und die
Heldengeschichte Roms. Dabei zeigte die Behandlung der Form einen
ungezwungenen kühnen Charakter, welcher einen wohlthuenden Gegen-
satz zu der Steifheit und Unbeholfenheit früherer Zeiten bildete.
Dadurch traten die Gestalten, selbst diejenigen, welche der trans-
cendenten Welt der religiösen Mystik entnommen wurden, dem Fühlen
des Menschen näher. Verklärt von den Idealen des Guten, Schönen
und Wahren erschienen sie dem Auge nicht mehr finster-drohend, über-
irdisch-gewaltig, sondern als Frohsinn verkündende, Segen spendende
Mächte.
Wer kennt nicht das glänzende Dreigestirn in Florenz: Lionardo
da Vinci, Raeael Sanzio und Michelangelo Buonarotti? Ein
Jahrhundert, welches drei solche Künstler neben einander sah, durfte
sich wohl dem vielgepriesenen Zeitalter des Perikles vergleichen. Alle
Drei umfassten die Kunst als Ganzes; alle Drei waren Maler, Bildhauer
Der- Charakter des 16. Jahrhunderts. 243
und Architekten zugleich und schufen in jeder dieser Künste Grosses,
der Unsterblichkeit Werthes. Lionaedo war aber nicht blos Künstler,
sondern auch Mathematiker, Ingenieur, Physiker und Physiologe und
hat sich in der Geschichte der Wissenschaft ebenfalls einen ehrenvollen
Platz erworben.
Die Blüthe der italienischen Kunst wirkte anregend auch auf die
übrigen Länder, namentlich auf Deutschland und die Niederlande. Die
Namen Albrecht Dürer, Hans Holbein und Lucas Cranach geben
Zeugniss davon.
In Nürnberg gediehen die Holzschneidekunst und die Goldschmiede-
kunst zu hoher Vollendung. Deutschlands freie Städte erzeugten ein
Bürgerthum, welches kunstsinnig und kunstverständig war und heitere
Lebenslust mit sittlichem Ernst verband. In ihm fanden die künst-
lerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen eifrige Anhänger und
Vertreter.
Auf dem Felde der Wissenschaft wurde der Humanismus vorzugs-
weise von den gelehrten Vereinigungen gepflegt, welche allenthalben
nach dem Muster der sogenannten Platonischen Akademien entstanden.
Am bekanntesten unter ihnen wurde die Rheinische Gesellschaft, zu
deren Mitgliedern Männer wie der gelehrte Abt Trithemius, der Nürn-
berger Patricier Willibald Pirkheimer, ferner Rudolf Agricola,
der Dichter Conrad Celtes, Joh. Reuchlin, Erasmus von Rotterdam
u. A. gehörten.
Das wachsende Interesse für die Literatur der Griechen und Römer
hatte zunächst die Folge, dass die überlieferten Texte mit einander ver-
glichen und auf Grund linguistischer und sachlicher Erwägungen ein
Wortlaut festgestellt wurde, welcher allen Anforderungen zu entsprechen
schien. Damit begann die wissenschaftliche Behandlung der Philologie,
welche auf die Culturentwickelung der folgenden Zeiten den weittragend-
sten Einfluss ausübte. Die Philologie übernahm die Rolle des Zauberers,
der das in tausendjährigem Schlafe befangene Dornröschen der Wissen-
schaft erlöste, und blieb ihr auch später ein väterlicher Freund, welcher
ihre ersten Schritte mit ängstlicher Sorgfalt überwachte. Der Philologie
verdanken es die Wissenschaften und nicht am wenigsten die Natur-
wissenschaften, dass sie die richtige Methode der Forschung einschlugen;
denn von ihr lernten sie die peinliche Genauigkeit in der Sichtung des
wissenschaftlichen Materials und die strenge Kritik der gewonnenen
Ergebnisse.
Auch bei der Neugestaltung der Medicin leistete die Philologie
wesentliche Dienste. Es wurden Ausgaben der meisten medicinischen
Autoren des Alterthums veranstaltet. Die Ärzte, welche sich an dieser
16*
244 Der medicinische Unterricht in der 'Neuzeit.
literarischen Thätigkeit betheiligten , bereiteten sich dazu durch eine
tüchtige philologische Bildung vor; nicht wenige von ihnen wirkten als
Lehrer der alten Sprachen, bevor sie sich der Heilkunde zuwandten.
Die Kenntniss des Griechischen galt in jener Zeit als notwendiges
wissenschaftliches Hilfsmittel für Jeden, der auf den Namen eines ge-
bildeten Arztes Anspruch erhob, ähnlich wie man heut von ihm verlangt,
dass er mit dem Mikroskop umzugehen versteht.
Wenn die durch den Humanismus angefachte literarische Wirk-
samkeit der Ärzte in ungeahnter Weise sich entfaltete und zur Ver-
breitung der medicinischen Wissenschaft beitrug, so war dies allerdings
zum grössten Theile das Verdienst der Buchdruckerkunst, welche im
15. Jahrhundert erfunden wurde. Sie trat nicht unvermittelt ins Leben;
denn sie war vorbereitet durch die Holzschneidekunst, durch die Kupfer-
stecherei, durch die vielleicht aus China nach Europa gebrachte, ziem-
lich unvollkommene Methode des Druckes mit feststehenden Lettern
und durch andere Umstände. Gleichwohl war es ein ausserordentlicher
Fortschritt, als man um das Jahr 1440 begann, beim Druck beweg-
liche Typen zu gebrauchen.
Erst dadurch wurde der Druck umfangreicher Werke, der Betrieb
im Grossen, ermöglicht. Freilich litt die Buchdruckerkunst im Anfang
an vielen Mängeln; sie war sehr mühsam und in Folge dessen auch
sehr kostspielig. So dauerte z. B. der Druck der Bibel, des ersten
grossen Werkes, das aus der von Guttenbekg gegründeten, später
FusT-ScHöFFER'schen Buchdruckerei in Mainz hervorging, 11 Jahre
und erforderte 4000 Gulden, bevor noch der 12. Bogen vollendet war.
Mit den Verbesserungen, welche die Buchdruckerkunst erfuhr, nahm
sie allmälig einen grösseren Aufschwung. Dabembekg schätzt die Zahl
der medicinischen Schriften, welche bis zum J. 1500 gedruckt wurden,
auf ungefähr 800. x
i&
Die neue Erfindung übte auf die geistigen Bewegungen des
16. Jahrhunderts eine mächtige Wirkung aus. Die Kanzel, welche bis
dahin der einzige Ort gewesen war, von dem aus zum Volke gesprochen
wurde, erhielt einen Nebenbuhler, welcher ihr gelegentlich feindlich
entgegen trat. Die freiheitlichen Ideen fanden hier einen Bundesge-
nossen, und der Kampf gegen die bisherigen Autoritäten wurde mit
wirksamen Waffen geführt. , Aber die grösste Bedeutung erlangte die
Buchdruckerkunst für die Entwickelung der Wissenschaft; denn die
geistigen Errungenschaften konnten jetzt zum Gemeingut Aller und
Jedem leicht zugänglich gemacht werden.
1 Ch. Daremberg: Histoire des sciences medicales, T. I, 313.
Der Charakter des 16. Jahrhunderts. 245
Das Studium der aus dem Alterthum übernommenen Überlieferungen
regte zur kritischen Prüfung ihrer realen Begründung an, und die da-
durch hervorgerufenen eigenen Beobachtungen führten zur Berichtigung
alter Irrthümer und zur Entdeckung neuer Thatsachen.
Die Reformation der Wissenschaft welche sich auf diese Weise
vollzog, bildet neben derjenigen des religiösen und politischen Lebens die
markanteste Erscheinung der durch die Emancipation des individuellen
Urtheils charakterisirten Strömung der Zeit.
Diese Richtung erhielt eine unerwartete Förderung durch die Ent-
deckung Amerikas, welche am Schluss des 15. Jahrhunderts die Ver-
wunderung und das Staunen der Menschen erregte. Man fand dort
eine Bevölkerung, die körperlich ebenso gebildet, geistig ebenso geartet
war, wie diejenige Europas, und eine Cultur, welche viele Ähnlichkeiten
zeigte mit manchen Einrichtungen der alten Welt. Von diesen Dingen,
sowie von der Thierwelt und dem Pflanzen-Reichthum des neuen Welt-
theils hatte weder die Kirche noch das Alterthum etwas gewusst. Von
den beiden höchsten Autoritäten, welche man damals kannte, verlassen
wurden die Denker und Forscher plötzlich selbstständig und' genöthigt,
auf ihre eigenen Beobachtungen zu vertrauen.
Wenige Decennien nach der Entdeckung Amerikas erfolgte die
erste Umschiffung der Erde, und damit wurde der unwiderlegbare
Beweis geliefert, dass die Erde rund ist. Schon die griechischen Natur-
philosophen ahnten die Kugelgestalt derselben, und Aristoteles nahm
sie als sicher an; aber Lactantius und andere Kirchenväter1 hatten
diese Ansicht verworfen und für absurd erklärt. Ihre Autorität erlitt
somit eine bemerkenswerthe Niederlage. Noch mehr wurde die Autorität
der Kirche erschüttert, als die angeblich schon von Pythagoeas auf-
gestellte heliocentrische Theorie durch Kopeenikus und Kepler be-
gründet wurde.2 Die Theologen bekämpften dieselbe, weil sie sehr
richtig erkannten, dass mit ihrer Annahme die Erde nur als einer der
unzählbaren Sterne, welche das Firmament beleben, erscheinen und der
Mensch als ihr Bewohner die ihm von der christlichen Weltanschauung
vindicirte herrschende Stellung verlieren werde. Auch der Streit zwischen
der heliocentrischen und der geocentrischen Lehre wurde gegen die
Kirche entschieden.
Es ist begreiflich, dass durch diese Ereignisse der Glaube an die
Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntniss-Apparats, welchen die
1 0. Peschel a. a. 0. S. 96 u. ff. — W. Whewell a. a. O. I, 226 u. ff.
2 Whewell a. a. 0. I, 381 u. ff. — J. W. Draper: Geschichte der geistigen
Entwicklung Europas, Leipzig 1871, S. 521 u. ff.
246 Der medioinische Unterricht in der Neuzeit.
von der kirchlichen Autorität gestützte Scholastik gepredigt hatte, unter-
graben wurde. Am weitesten ging der Protestantismus, indem er die
Berechtigung des menschlichen Urtheils sogar auf das theologische
Dogma ausdehnte.
Auf keinem Gebiet des geistigen Schaffens wirkte die errungene
geistige Selbstständigkeit tiefer und nachhaltiger als auf demjenigen der
Naturwissenschaften und der Medicin.
Die Mineralogie erfuhr zum ersten Male eine wissenschaftliche Be-
trachtung; der Arzt Georg Agricola machte den Versuch, die Mine-
ralien auf Grund ihrer äusseren Merkmale in verschiedene Gruppen
einzutheilen. Die Botanik begann aus dem Abhängigkeits-Verhältniss.
in welches sie zur Arzneimittel- und Nahrungsmittellehre gerathen war.
herauszutreten und sich zu einer Wissenschaft zu entwickeln, die um
ihrer selbst willen getrieben wurde. Sie wurde durch eine Menge von
Pflanzenbeschreibungen bereichert, und die Flora Europas sowohl wie
diejenige der neu entdeckten überseeischen Länder genau erforscht.
Einige Botaniker unternahmen es, zur leichteren Übersicht die Pflanzen
nach bestimmten Ähnlichkeiten in verschiedene Abtheilungen zu scheiden ;
Conrad Gessner und A. Cesalpini benutzten dazu bereits die Blüthen
und Früchte, waren also gleichsam Vorläufer Linne's.
Auch für die Zoologie begann eine neue Periode ihrer Geschichte.
Des gelehrten. Gessner's grosses Werk bildete den Markstein derselben;
es enthielt nicht blos alle Thatsachen, welche auf diesem Gebiet in den
vorangegangenen Zeiten festgestellt worden waren, sondern noch eine
grosse Anzahl neuer Beobachtungen. Andere Forscher wählten einzelne
Klassen des Thierreichs zum Gegenstande ihrer Untersuchungen, wie
z. B. Belon die Vögel und Rondelet die Fische, oder beschäftigten
sich mit der Thierwelt fremder Länder.
Ebenso machte sich in der Physik und Chemie eine rege Thätig-
keit bemerkbar. Schon Nicolaus Cusanus, der freisinnige Bischof von
Brixen, und der grosse Künstler Lionardo da Vinci bearbeiteten die
Physik mit glücklichem Erfolge.1 Während dann die Mathematik durch
Hieronymus Cardanus, Tartaglia, welcher die Lösung der Gleichungen
dritten Grades entdeckte, u. A. gefördert wurde, machte auch die Optik
erhebliche Fortschritte, die sie hauptsächlich dem Giambattista Porta,
dem Erfinder der Camera obscura, und Joh. Kepler verdankte. Be-
deutende Erfolge errangen die Physik und Chemie jedoch erst im
17. Jahrhundert; erst in dieser Zeit erlangten sie für die Medicin eine
grosse Bedeutung.
1 Poggendorf a. a. 0. S. 11 3 u. ff.
Die Emancipation vorn Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin etc. 247
Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet
der Medicin und die Portschritte der Wissenschaft.
Die Heilkunde machte den gleichen Entwickelungsprozess durch,
wie die ganze übrige Cultur; sie schüttelte das Joch der nur auf Tra-
ditionen beruhenden Autoritäten ab und wurde selbstständig. Nur in
Verbindung mit den die ganze Zeitrichtung erfüllenden Bestrebungen
erscheint diese Thatsache natürlich und begreiflich; losgelöst von ihnen
kann sie sich wohl dem Gedächtniss, nicht aber dem Verstände ein-
prägen.
Die Emancipationsbewegung gab sich in allen Zweigen der Medicin
kund und erreichte in einzelnen Disciplinen, namentlich in der Ana-
tomie, Arzneimittellehre, Chirurgie und Geburtshilfe, bereits im 16. Jahr-
hundert beachtenswerthe Resultate.
Die Anatomen hörten auf, an die Unfehlbarkeit Galen's zu glauben,
und fingen an, eigene Untersuchungen an der Leiche anzustellen.
Gabkiele Zeebi sonderte in seiner anatomischen Beschreibung des
menschlichen Körpers bereits die Knochen, Muskeln und Gefässe; er
machte auf die schrägen und kreisförmigen Muskelfasern des Magens
aufmerksam und erwähnte die Thränenpunkte, die Ligamenti uteri
u. a. m. 1 Al. Achillini bemerkte die Einmündung des Ductus cholc-
dochus in den Zwölffingerdarm, sowie die Blinddarmklappe. 2 Berengar
von Carpi berichtigte verschiedene Irrthümer Mondino's und gilt als
der Entdecker der Keilbeinhöhlen und des Wurmfortsatzes; ferner wies
er darauf hin, dass beim Mann der Thorax, beim Weibe das Becken
eine grössere Breite besitzt.3 Canani lieferte eine vortreffliche Schil-
derung der Muskeln und sah zuerst die Venen-Klappen an der Vena
azygos. 4
Alle diese Forscher übertraf an Keichthum der Entdeckungen An-
dreas Vesalius, den man den Reformator der Anatomie nennen kann.
Er stammte von einer deutschen Familie ab, welche ursprünglich den
Namen Witing führte und von Wesel nach Brüssel übergesiedelt war.
Vesal's Untersuchungen umfassten alle Theile der Anatomie und
schufen die Basis eines neuen anatomischen Lehrgebäudes.5 Er gab
Aufschlüsse über die Ernährung der Knochen durch die Gefässe des
1 Medici a. a. 0. p. 43.
2 Bürggraeve a. a. 0. p. 55. — Medici a. a. 0. p. 51.
3 Carpi: Comuientaria cum ampl. addition. super anat. Mundini, Bonon. 1521.
4 Amatus Lusitanus: Curat, med. cent., Basil. 1556, p. 84.
5 Bürggraeve a. a. 0. p. 72 u. ff.
248 Der medizinische Unterricht in der Neuzeit.
Periosts und die Vasa nutrienia und zeigte zuerst, dass der Nerv in
den Muskel eindringt. An den Gefässwänden unterschied er zwei Lagen,
von denen die innere eine stärkere Consistenz besitze und aus Muskel-
fasern zusammengesetzt sei. Ziemlich richtig beschrieb er das Herz,
seine Lage, Bewegungen und Gestalt-Veränderungen, sowie die Klappen-
Apparate; doch vermochte er sich niemals vollständig von dem alten
Irrthum zu befreien, dass das Blut durch die Scheidewand des Herzens
hindurchtrete. Aber während er in der ersten Ausgabe seines ana-
tomischen Hauptwerkes v. J. 1543 daran noch gar nicht zweifelte, er-
klärte er in der zweiten Auflage v. J. 1555, vielleicht unter dem Ein-
fluss Servet's, dass er nicht einsehen könne, wie es möglich sei, dass
das Blut, wenn auch nur in einer sehr geringen Menge, aus dem
rechten Herzen in das linke durch die dichte feste Substanz des Septums
hin durchschwitze. 1
Ein bedeutender Fortschritt zeigt sich in seiner Beschreibung des
Bauchfells und Magens, sowie in der Schilderung der Leber und der
männlichen und weiblichen Geschlechtstheile. Er kannte die Schwell-
körper und die Samenkanälchen, deutete auf die Samenbläschen hin,
und erörterte die Veränderungen, welche der Uterus durch die Schwanger-
schaft erfährt. Grosse Sorgfalt widmete er der Untersuchung des Ge-
hirns; er hob den Unterschied zwischen der grauen und weissen Substanz
hervor und bemerkte das Corpus callosum, das Septum lucidum, die
Zirbeldrüse, die Vierhügel u. a. m.
Vesal's Entdeckungen riefen ein unerhörtes Aufsehen hervor;
nicht blos in den Kreisen der Ärzte war man erstaunt über die Kühn-
heit, mit der er die Unrichtigkeit dessen nachwies, was man bisher
für wahr gehalten hatte. Die Verehrer des Alten, die Anhänger der
geltenden Autorität, befeindeten ihn aufs heftigste, Allen voran sein
früherer Lehrer Sylvius, der ihn mit einem gerade nicht sehr feinen
W ortspiel auf seinen Namen einen Vesanus, einen Verrückten, nannte,
der mit seinem giftigen Hauche Europa verpeste.2
Die Entdeckungen Vesal's wurden in vielen Punkten verbessert
und ergänzt durch seine Zeitgenossen Eustachio und Ealoppio. Der
erstere beschäftigte sich namentlich mit der Struktur der Nieren und
erwähnte bereits die Bellinischen Köhren. 3 Dagegen wird ihm mit
Unrecht die Entdeckung der nach ihm genannten Klappe an der Mün-
dung der unteren Hohlvene zugeschrieben, da dieselbe schon früher
1 H. Tollin im Biolog. Centralblatt 1885, Bd. 5, S. 474 u. ff.
2 Jacob. Sylvius: Vesani cujusdam calumniarum in Hipp, et Galen depulsior
Paris 1551.
3 Burggraeve a. a. 0. p. 201 u. ff.
Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Mcdicin etc. 249
bekannt war. Er bereicherte ausserdem die Kenntniss des Gehörorgans,
beobachtete die Muskeln der Paukenhöhle, die Spindel der Schnecke
und die Ohrtrompete, welche noch jetzt seinen Namen führt, und
hinterliess eine vorzügliche Beschreibung der Grundfläche des Gehirns.
Faloppio, der geniale Schüler Vesal's, controllirte die Entdeckungen
seines Lehrers mit gewissenhafter Sorgfalt, und berichtigte und ver-
vollständigte sie durch eine Menge neuer Thatsachen. Neben Yesal
hat er am meisten zur Neubegründung der Anatomie beigetragen.
Er gab werthvolle Aufschlüsse über die Entwicklung der Knochen
und Zähne, beschrieb das Felsenbein genauer, bereicherte die Myologie
durch musterhafte Schilderungen der Muskeln des äusseren Ohres, des
Antlitzes, des Gaumens und der Zunge, sprach sich über die anasto-
motischen Verbindungen einiger Gefässe aus, z. B. zwischen den Caro-
tiden und den Vertebral-Arterien, und entdeckte den Nervus trochlearis.
Auch die Anatomie der Sinnesorgane verdankte ihm einige Fortschritte;
er stellte sehr genaue Untersuchungen an über die einzelnen Theile
des Gehörorgans und des Auges, wobei er z. B. das Ligamentum ciliare,
die Tunica hyaloidea und die Linse besser kennen lehrte. Ebenso war
dies mit den weiblichen Geschlechtsorganen der Fall ; die Eileiter haben
seinen Namen in der anatomischen Terminologie verewigt.
Von den übrigen Anatomen jener Zeit haben sich Ingrassias durch
seine osteologischen Arbeiten, besonders durch die Entdeckung des
Steigebügels und der unteren Muscheln des Siebbeins, Aeanzio, welcher
die Anatomie des Fötus eingehend studierte, Varolio, an den die
Brücke erinnert, durch seine Untersuchungen des Gehirns und Nerven-
systems, Volcher Koyter durch seine Beiträge zur Entwicklungs-
geschichte und pathologischen Anatomie, Fabrizio ab Aquapendente
durch die erste vollständige Beschreibung der Venenklappen, Casserio
durch seine Arbeiten über die Organe der Stimme und des Gehörs,
Adrian van den Spigel, der seine Aufmerksamkeit vorzugsweise der
Leber zuwandte, von welcher ein Lappen noch heut seinen Namen
trägt, Salomon Alberti durch seine Schilderung der Thränen- Werk-
zeuge und Peter Paaw, welcher zuerst auf die Bassen-Verschieden-
heiten der Schädel aufmerksam machte, um die Entwickelung der ana-
tomischen Wissenschaft verdient gemacht.1
Geringer waren die Fortschritte, welche die Physiologie in jener
Zeit machte. Es war dies auch ganz begreiflich; denn man musste
erst das Vorhandensein der anatomischen Thatsachen feststellen, ehe
1 K. Sprengel: Versuch einer pragmat. Geschichte der Arzneikunde, Halle
1827, III, 64 u. ff.
250 Der medieinisehe Unterricht in der Neu: eil.
man nach dem Zweck derselben fragen durfte. Doch erkannte man
wenigstens die Fruchtlosigkeit der spekulativen Richtung und kehrte
wieder auf den Weg der induktiven Forschung zurück, den schon Aei-
stoteles gezeigt hatte.
So injicirte Eustachio Wasser in die Nieren- Arterie, um die Bil-
dung des Urins kennen zu lernen.1 Recht bezeichnend für die voll-
ständige Veränderung, welche sich in der Denkweise der medicinischen
Forscher vollzog, sind die Worte Realdo Colombo's, dass man aus
der Zergliederung eines Hundes an einem Tage mehr lernt, als wenn
man beständig den Puls fühlt oder mehrere Monate hindurch Gtalen's
Schriften studiert.2
Michael Servet und Realdo Colombo, der Prosector und Nach-
folger Vesals im Lehramt zu Padua, waren die Ersten, welche den
alten Irrthum berichtigten, dass das Blut durch die Scheidewand des
Herzens aus dem rechten Herzen in das linke übertrete, und auf den
Weg durch die Lungen hinwiesen. Wem von Beiden die Priorität
dieser Entdeckung gebührt, lässt sich nicht sicher feststellen, wenn auch
eine Menge von W^ahrscheinlichkeitsgründen für Servet sprechen.3
Übrigens hat weder der Eine, noch der Andere klar und unzweideutig
auseinandergesetzt, wie der Übertritt des Blutes aus der Lungen-Arterie
in die Lungenvenen erfolgt.
Der Aufschwung der Physiologie begann erst im 17. Jahrhundert,
als mit der Entdeckung des Blutkreislaufs die Experimentalforschung
zur Herrschaft gelangte.
Die Fortschritte in der Anatomie mussten namentlich auf die
Chirurgie, also den Theil der Heilkunde, der auf die Kenntniss des
Baues des menschlichen Körpers am meisten angewiesen ist, einen an-
regenden und fördernden Einfluss ausüben. Die Operationsmethoden
der Chirurgen des Alterthums waren zum Theil seit langer Zeit ver-
gessen oder wurden doch nur von Wenigen ausgeübt, die sie wie ein
Geheimniss bewahrten und deren Kenntniss im engsten Kreise ver-
erbten. Sie mussten gleichsam wieder aufs Neue erfunden werden;
diese Aufgabe lösten einige geniale Praktiker, welche das Bedürfniss
zur Verbesserung der bisherigen Heilmethoden führte.
Nur in beschränktem Maass wirkte darauf die Wiederbelebung des
Studiums der alten Literatur hin; denn die ungelehrten Wundärzte
wurden im Allgemeinen davon nicht berührt, und den studierten Ärzten
1 Barth. Eustachius: De renurn structura, Venet. 1564, c. 37. 46.
2 Realdo Columbo: De re anatomica, Venet. 1559, lib. XIV, p. 258.
3 H. Tollin im Deutschen Archiv f. Gesch. d. Med., Bd. VII, 1884, S. 171
u. tf. und in Virchow's Archiv, Bd. 91, S. 39 u. ff".
Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem (reblet der Med lein etc. 251
fehlte häutig das praktische Verständniss für die Beurtheilung der von
den Alten hinterlassenen Erfahrungen.
Eine ausserordentliche Bedeutung für die Entwicklung der Chirurgie
hatte die Einführung der Schusswaffen in die Kriegskunst. Während
man vorher hauptsächlich nur Hieb- und Stichwunden zur Behandlung
bekam, traten jetzt die Schusswunden in den Vordergrund. Die da-
durch erzeugten Verletzungen hatten Erscheinungen im Gefolge, die
bis dahin vollständig unbekannt waren. Die Schriften der Alten gaben
darüber natürlich gar keine Auskunft. Die Chirurgen waren daher
genöthigt, selbst Beobachtungen anzustellen und Erfahrungen zu sam-
meln, wie die Schusswunden zu beurtheilen und zu behandeln sind.
Dadurch erhielt ihre Emancipation von der traditionellen Autorität und
ihre geistige Selbstständigkeit eine mächtige Förderung.
Die Grösse der durch die Schusswaffen herbeigeführten Zerstörungen
und manche Zufälle und Nachkrankheiten, welche dabei beobachtet
wurden, erregten den Verdacht, dass ausser der mechanischen Ver-
letzung noch andere Umstände wirksam sind. So kamen die Chirurgen
auf die Vermuthung, dass die Schuss wunden durch Verbrennung und
Vergiftung erzeugt werden, und erklärten dies durch die Natur der
Stoffe, nämlich des Pulvers und Bleis, welche die Verletzung hervor-
rufen. Um diese vermeintliche Wirkung unschädlich zu machen, be-
handelten sie die Schuss wunden mit reizenden und ätzenden Mitteln.
Diese Kurmethode erlangte allgemeine Gültigkeit, bis ein glück-
licher Zufall einer richtigeren Erkenntniss die Wege ebnete. Es fehlte
nach einer Schlacht an heissem Ol, um die Verwundeten zu cauterisiren.
Der berühmte französische Chirurg Ambroise Pake, welcher diese
Thatsache in sehr anschaulicher Weise geschildert hat,1 wendete daher
statt dessen nur einen Verband aus einfacher Digestiv-Salbe an und
sah mit Besorgniss den Folgen entgegen, welche dieses Verfahren haben
würde. Wer aber beschreibt sein Erstaunen, als er am nächsten Morgen
fand, dass diejenigen Wunden, welche er auf diese Weise behandelt
hatte, ein gutes Aussehen darboten und weder schmerzhaft noch ent-
zündet und geschwollen waren, wie die übrigen Wunden, die nach der
alten Methode cauterisirt worden waren. Wiederholte Versuche be-
stätigten diese Erfahrung, und die günstigen Erfolge, welche man mit
dieser einfachen Behandlungsweise erzielte, beseitigten allmälig die dem
Kranken wie dem Arzt unbequeme Cauterisation.
1 Oeuvres d'Ambroise Pare ed. par J. F. Malgaigne, Paris 1840, T. II,
p. 127 u. ff. — Le Paulmier: Ambroise Pare d'apres des nouveaux documents,
Paris 1885.
252 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Parü und Maggi lieferten ferner den Nachweis, dass die Schuss-
wunden auch nicht durch Verbrennung erzeugt werden, da man Flinten-
kugeln auf Säcke, die mit Schiesspulver gefüllt sind, abfeuern könne,
ohne dass dieselben dadurch in Brand gerathen. l
Jedenfalls aber wurde das Wesen der Verletzungen durch die neue
Art der Kriegsführung wesentlich verändert. Die Geschosse führten
grosse Zerstörungen der Knochen herbei, welche mit den früher üblichen
Waffen gar nicht oder nur selten erzeugt werden konnten.
Die bis dahin wenig geübte Amputation wurde daher jetzt häufiger
erforderlich. Mit den vermehrten Erfahrungen gewannen die Wund-
ärzte grössere Sicherheit in der Ausführung dieser Operation und fingen
an, die bisherigen Methoden zu verbessern. Die hauptsächlichsten
Fehler derselben bestanden darin, dass man die Amputation zu lange
hinauszuschieben pflegte, sie im kranken, im brandigen Fleisch aus-
führte und den Stumpf mit dem Glüheisen oder heissem Öl cauterisirte,
um die Blutungen zu stillen und die nekrotischen Gewebstheile zur
Abstossung zu bringen.
Es war daher ein bedeutender Fortschritt , als Botallo die
Fordeiung aufstellte, dass die Amputation sofort unternommen werde,
wenn sich die Zeichen des drohenden Brandes zeigen, als ferner die
Chirurgen wieder begannen, die Abtrennung in den gesunden Theilen
vorzunehmen, und als Hanns von Gersdorf, welcher sich rühmen
durfte, ungefähr 200 Amputationen ausgeführt zu haben, den Stumpf
mit einer feuchten Thierblase bedeckte und mit kühlenden Mitteln be-
handelte. Er gewann dadurch eine ausreichende Bedeckung des Stumpfes
mit Haut- und Weichtheilen , welche bei der Anwendung des Glüh-
eisens in zu umfangreicher Weise zerstört worden waren.
Um der mit der Operation verbundenen Gefahr der Verblutung
vorzubeugen, wurde das Glied oberhalb der Einschnittslinie mit Binden
fest umschnürt. Durch den Druck, welchen die letzteren auf die Blut-
gefässe und Nerven ausübten, hoffte man, wie A. Pare schreibt,2 nicht
blos die Blutungen zu verhüten, sondern zugleich die Schmerzen zu
vermindern und eine lokale Unempfindlichkeit herbeizuführen.
Die meiste Sicherheit gegen die drohenden Blutverluste gewährte
die Unterbindung der Arterienstämme, welche durch A. ParE wieder
empfohlen wurde.3 Sie war, wie erwähnt, schon den Chirurgen des
1 Oeuvres d'Ambr. Pare a. a. 0. T. II, 134.
2 Oeuvres dAmbr. Pare a. a. 0. T. II, p. 222.
3 Oeuvres dAmbr. Pare a. a. 0. T. II, 226 u. ff. — Adamkiewicz: Die
mechanischen Blutstillungsmittel bei verletzten Arterien von Pare bis auf die
neueste Zeit, Würzburg 1872.
Die Emancipation vorn Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin etc. 253
Alterthums bekannt; auch im Mittelalter wurde sie von einzelnen hervor-
ragenden Operateuren gelegentlich ausgeübt. Park erzählt, dass er
durch das Studium Galens zu dem Versuch, die Gefässe zu unter-
binden, angeregt worden sei; er brachte dieses Verfahren i. J. 1552 bei
einer Amputation des Unterschenkels zuerst wieder zur Anwendung.
Später nahm er anstatt der Unterbindung der isolirten Arterien die
Ligatur en masse vor, indem er die Nerven mit den Gelassen zusammen
unterband. Man glaubte dadurch das Ausströmen des „Nervengeistes"
zu verhüten. Bei Nachblutungen wurden die Gefässstämme von aussen
mit den Fingern comprimirt; auch ist von einer Methode die Rede,
welche nach der etwas dunkelen Beschreibung von A. Pake der per-
cutanen Ligatur zu entsprechen scheint.
Unter den in Folge von Verwundungen auftretenden Krankheiten
wurde das Erysipel, der Hospitalbrand, die Diphtherie, die Pyaemie,
sowie Trismus und Tetanus beobachtet.1
Eine bedeutende Bereicherung erfuhr die Technik des Steinschnitts
im 16. Jahrhundert. Die bis dahin gebräuchliche, von Celsus be-
schriebene und von Paulus Aegineta vereinfachte Methode wurde
dadurch verbessert, dass vor der Operation eine katheterartig gekrümmte
Hohlsonde, welche mit der Convexität nach dem Perineum drängte, in
die Harnröhre eingeführt wurde. Indem der Schnitt in die Pars
membranaeea in der Rinne dieser Hohlsonde gezogen wurde, erhielt die
Hand des Operateurs eine sichere Leitung, welche für den Erfolg von
grosser Bedeutung war. Man nannte dieses Verfahren die Operation
mit der grossen Geräthschaft und betrachtet Bernardo di Rapallü
als den Erfinder derselben. Allgemeiner bekannt wurde sie durch
Mariano Santo.
Die Nachtheile, welche der Steinschnitt vom Perineum aus zu-
weilen im Gefolge hatte, namentlich die Vereiterung der Prostata und
der Samenausführungsgänge und die dadurch hervorgerufene Zeugungs-
Unfähigkeit, vor allen Dingen aber die Unmöglichkeit > sehr grosse
Steine oder, wenn sich dieselben abgesackt haben, auf diesem Wege
durch die Perineal- Wunde zu entfernen, regten zu dem Gedanken an,
ob es nicht möglich sei, den Stein von oben her durch einen Ein-
schnitt über der Schambeinfuge herauszuholen.2 Pierre Franco führte
den hohen Steinschnitt zum ersten Male i. J. 1560 mit glücklichem
1 F. Würtz: Practica der Wundartzney, Basel 1642, S. 271. 538. 645 u. ff.
— Th. Billroth: Historische Studien über die Beurtheilung und Behandlung
der Schusswunden, Berlin 1859, S. 15 u. ff. — Wolzendorff im Deutschen Archiv
f. Gesch. d. Medicin, Bd. II, S. 23 u. ff., Leipzig 1879.
2 C. B. Günther: Der hohe Steinschnitt seit seinem Ursprünge, Leipzig 1851.
254 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Erfolge bei einem zweijährigen Kinde aus, nachdem er vergeblich ver-
sucht hatte, den Stein, der die Grösse eines Hühnereies hatte, nach
der alten Methode zu entfernen. Er fühlte sich dazu besonders da-
durch veranlasst, dass die Blase stark nach vorn drängte. Rousset
gab deshalb auch später den sehr vernünftigen Rath, die Harnblase
mit Wasser anzufüllen, bevor man zur Operation schreitet.
Auch der hohe Steinschnitt hatte manche Gefahren, welche den
Erfolg der Operation in Frage stellten. Schon Pierre Franco er-
kannte dies und beschäftigte sich aus diesem Grunde wieder mit dem
Perineal-Steinschnitt, für welchen er eine neue Methode angab. Darnach
wurde der Schnitt auf der in die Harnröhre eingeführten Furchensonde
seitlich von der Raphe ausgeführt und durch die Prostata verlängert.
Der Seitensteinschnitt, wie dieses Verfahren genannt wurde, hatte
wenigstens den Yortheil, dass dabei selbst Steine von bedeutendem
Umfange entfernt werden konnten.
P. Franco machte darauf aufmerksam, dass Blasensteine beim
weiblichen Geschlecht häufig durch eine einfache Erweiterung der
Harnröhre herausgebracht werden.
Die Lithothrypsie war nahezu in Vergessenheit gerathen. Aless.
Benedetti erzählte, dass einige Chirurgen den Blasenstein, ohne dass
ein Einschnitt gemacht wird, mit eisernen Instrumenten zertrümmerten,1
hielt aber von diesem Verfahren nicht viel.
Eine eigenthümliche Methode beschrieb Prosper Alpini,2 welche
er in Ägypten kennen gelernt hatte. Sie bestand darin, dass die
Harnröhre erweitert und der Stein von aussen in dieselbe hinein-
gedrängt wurde.
Die Hernien suchte man durch anhaltende Rückenlage oder Bruch-
bänder zur Heilung zu bringen; auch entschloss man sich nicht selten
zur Radikaloperation. Zu diesem Zweck wurde bei Leistenbrüchen die
Pforte nach der Reposition der vorgefallenen Eingeweide mit einem
feinen goldenen oder bleiernen Draht oder einem Faden vernäht.
Ambroise ParE erwarb sich das grosse Verdienst, dass er das operative
Eingreifen so viel als möglich auf die eingeklemmten Hernien be-
schränkte. Nur in diesen Fällen führte er die regelrechte Herniotomie
aus. Allerdings haben andere Chirurgen, wie P. Franco und Rousset,
dies schon vor ihm gethan; aber erst durch A. Pare wurde dieses
Verfahren bei eingeklemmten Hernien wissenschaftlich begründet und
1 Al. Benedictus: Omnium a vertice ad calcem morborum signa, causae etc.,
Basil. 1508, lib. XXH, c. 48.
2 De medicina Aegyptorum III, c. 14.
Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Mediein etc. 255
damit den Kranken dieser Art, welche man früher häufig ihrem Schicksal
überlassen hatte, die Aussicht auf Rettung geboten.1
Auch die operative Beseitigung der Harnröhren-Strikturen durch
gewaltsame Trennung mit dem Messer, welche schon die Chirurgen der
römischen Kaiserzeit gekannt hatten, wurde durch A. Pak£ wieder der
Vergessenheit entrissen. Ausserdem wendete man gegen dieses Leiden
Bougies an, die mit geeigneten Arzneistoffen bestrichen waren; sie
wurden namentlich von Lagttna empfohlen.
Die Kenntniss der plastischen Operationen hatte im 1 6. Jahrhundert
längst aufgehört, das Geheimniss der Empiriker von Norcia und Preci
zu sein. Mehrere tüchtige Wundärzte befassten sich damit und er-
warben sich in der Ausführung dieser Operationen eine grosse Ge-
schicklichkeit. Die meisten Erfolge auf diesem Gebiet erzielte Gaspaee
Tagliacozzi, Professor in Bologna, welcher das Verfahren ausführlich
beschrieben hat.2
Zum Ersatz des Substanzverlustes benutzte er, wie schon Ant. Branca,
die Haut des Oberarms. Aus ganz Europa kamen die Patienten zu ihm,
um sich von ihm operiren zu lassen. Wenn es auch nur eine witzige
Anekdote ist, dass er einst in seinem Hospital zu gleicher Zeit 1 2 deutsche
Grafen, 19 französische Marquis, 100 spanische Granden und einen eng-
lischen Esquire gehabt habe, welche sämmtlich durch Liederlichkeit ihre
Nasen eingebüsst hatten und neue von ihm verlangten,3 so zeigt sie
doch, wie weit verbreitet sein Ruf als Operateur war.
Tagliacozzi erntete für seine menschenfreundlichen Handlungen
wenig Dank. Ein bornirter Glaubensfanatismus sah in seinen Ver-
suchen, den Verlust der Nase oder der Lippen zu ersetzen, einen frevel-
haften Eingriff in die Rechte des Schöpfers. Als er gestorben war,
hörten die frommen Schwestern des Klosters, in welchem man seine
irdischen Überreste bestattet hatte, mehrere Wochen hindurch eine
Stimme, welche ausrief: „Tagliacozzi ist verdammt!" Auf Betreiben der
Geistlichkeit in Bologna wurde seine Leiche deshalb ausgegraben und
an ungeweihter Stätte beerdigt.4
Die Glaubenseinfalt des 16. Jahrhunderts findet in dem niedrigen
Culturzustande jener Zeit eine Entschuldigung. Die Menschen des
19. Jahrhunderts dürfen aber nicht mit geringschätzendem Lächeln
darauf herabsehen; denn als vor etwa 40 Jahren die Anwendung der
1 E. Albert: Die Herniologie der Alten, S. 180 u. ff. — A. Gyergyai im
Deutschen Arch. f. Gesch. d. Mediein, Leipzig 1880, Bd. III, S. 326 u. ff.
2 De chirurgia curtorum per insitionem, Ed. Troschel, Berol. 1831.
3 J. Bickerstaff: The tatler, London 1723, IV, No. 260.
4 A. Corradi: Dell' antica autoplastica italiana, Sep.-Abdr. 1874.
256 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Äther-Narkose bei schweren Geburten vorgeschlagen wurde, eiferten die
englischen Zeloten dagegen, indem sie sich auf das Wort der Bibel
beriefen: „Das Weib soll mit Schmerzen gebären!"
Ausser Tagliacozzi machten sich auch andere Chirurgen, wie
Griffon in Lausanne und Cobtesi in Bologna, durch ihre glücklichen
rhinoplastischen Operationen bekannt. Der Verlust der Nase wurde
übrigens nicht blos durch Krankheiten, besonders die Syphilis, sondern
zuweilen auch auf Befehl der Obrigkeit herbeigeführt. Eine derartige
Strafe traf nach der Gesetzgebung des Kaisers Friedrich II. Ehe-
brecherinnen und Mütter, welche ihre Töchter der Prostitution über-
lieferten. Das Augsburger Stadtrecht v. J. 1276 bestimmte, dass den
„fahrenden Fräulein oder Hübschierinnen", wie sie genannt wurden,
die Nase abgeschnitten würde, wenn sie sich während der Fastenzeit
oder Samstags Nachts auf der Strasse herumtrieben, ausgenommen wenn
vornehme fremde Herren in der Stadt anwesend waren.1
Die Augenheilkunde nahm an den grossen Fortschritten, welche
die Chirurgie in jener Periode machte, keinen bemerkenswerthen An-
theil. Sie lag nahezu gänzlich in den Händen herumziehender Kur-
pfuscher, welche oft, ohne irgend welche Kenntniss von dem Bau des
Auges und dem Wesen der Krankheiten, die sie behandelten, zu be-
sitzen, mit verwegener Dreistigkeit die schwierigsten Operationen unter-
nahmen. Als einer dieser Leute, welcher kurz vorher noch Bedienter
gewesen war, gefragt wurde, wie er denn so keck sein könne, den Staar
zu stechen, antwortete er, dass der Patient dabei ja nichts zu verlieren
habe; denn wenn die Operation misslinge, so bleibe er doch nur blind
wie vorher.
Auch die Geburtshilfe wurde während der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts vollständig vernachlässigt. Wie gering die Kennt-
nisse der Ärzte auf diesem Gebiet damals waren, zeigt das Lehrbuch
für Hebammen, welches Euchaeiüs Röslin i. J. 1512 unter dem Titel:
„Der schwangeren Frauen Rosengarten" herausgegeben hat. Dasselbe
enthält unglaubliche Irrthümer und Abbildungen von verschiedenen
Kindeslagen, die nur von einer fruchtbaren Phantasie ersonnen, in
der Wirklichkeit aber niemals beobachtet werden können.
Auf einem ähnlichen Standpunkt befanden sich seine Nachahmer
W^ alther Reiff und Jacob Rueff, Bürger und Steinschneider zu
Zürich, auch als Dichter geistlicher Komödien bekannt. Noch un-
bedeutender war die der Lucrezia Borgia gewidmete Schrift des
1 Huillard-Breholles: Hist. dipl. Fried. II, a. a. 0. IV, p. 168, 170, Hb. III,
tit. 74. 80. — Lammert: Zur Geschichte des bürgerlichen Lebens a. a. 0. S. 76.
Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin etc. 257
Lud. Bonacciuoli, Professor in Ferrara, in welcher unter Anderem
erzählt wird, dass von Schwangeren manchmal 70 und mehr Früchte
gleichzeitig' abgingen; der Verfasser scheint dieselben mit Eingeweide-
würmern verwechselt zu haben.1
Erst mit dem Aufschwung der Anatomie und Chirurgie eröffnete
sich auch für die Geburtshilfe die Aussicht auf eine wissenschaftliche
Gestaltung. Wiederum war es Ambeoise Pake, welcher richtigere
Anschauungen und bessere Behandlungsmethoden anbahnte. Er be-
stimmte die Indicationen für die Vornahme der Wendung, welche zwar
schon im Alterthum bekannt war, aber nachher nur selten geübt wurde,
und gab eine Anleitung zu ihrer Ausführung.2 Ihm war es zu danken,
dass dieselbe fortan einen dauernden Platz in der operativen Geburts-
hilfe behauptete.
Seine Lehren wurden von Pierre Franco und Jacques Guille-
meau weiter entwickelt und fester begründet. Der erstere empfahl,
zur Extraktion des Kindes ein dreiarmiges Speculum in die Scheide
einzuführen, in welches er den Kopf oder die Füsse zu leiten suchte;
er kam somit der Erfindung der Geburtszange schon ziemlich nahe.3
Guillemeau beobachtete bereits die Plaeenta praevia, ohne dass er
jedoch die Art ihrer Entstehung erkannte, und führte bei der Tochter
des A. Pare das Aceouckement force aus.
Der Kaiserschnitt wurde an Lebenden unternommen; doch scheint
es sich in mehreren Fällen, über welche berichtet wird, nur um den
Bauchschnitt bei Extra-Uterin-Schwangerschaft gehandelt zu haben. So
erzählt Bauhin, dass Jacob Nufer, ein Schweizer Hodenschneider,
i. J. 1500 seiner schwangeren Frau, nachdem 13 Hebammen und
mehrere Chirurgen vergeblich versucht hatten, dieselbe auf natürlichem
Wege zu entbinden, den Leib aufgeschnitten habe, „wie er es bei den
Schweinen zu thun gewohnt war".4 Dabei soll er sofort nach dem
ersten Schnitt ein lebendes Kind herausbefördert haben.
Dagegen müssen andere Fälle auf den eigentlichen Kaiserschnitt
bezogen werden.5 Man scheint denselben sogar häufiger, als noth-
wendig war, ausgeführt zu haben; A. Pare warnte davor und wies auf
die Gefahren der Operation hin. Aber man war noch nicht so weit
in der Wissenschaft vorgeschritten, um die Bedingungen feststellen zu
1 E. C. J. v. Siebold a. a. 0. II, 17.
2 Oeuvres d'Ambroise Pare ed. Malgaigne, T. II, 628 u. ff.
3 Siebold a. a. 0. II, 83.
4 C. J. v. Siebold a. a. 0. II, 94 u. ff.
5 Siebold a. a. 0. II, 106 u. ff. — 0. Wachs: Der Wittenberger Kaiserschnitt
von 1610, Leipzig 1868.
Puschmann, Unterricht. ] 7
258 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
können, unter welchen der Kaiserschnitt vorgenommen werden soll,
wenn auch Aranzios Arbeiten über die Beckenenge den Ärzten vielleicht
eine Ahnung davon verschafften.
Auch auf anderen Gebieten der Heilkunde regte sich der Geist
des Kriticismus und rüttelte an den durch die herrschenden Autoritäten
gestützten Lehren und Einrichtungen.
Pierre Brissot erklärte, dass es unrichtig sei, den Aderlass bei
entzündlichen Krankheiten möglichst entfernt von der leidenden Stelle
vorzunehmen, wie es damals üblich war, und führte ihn im Gegentheil
in der Nähe des erkrankten Theiles aus. Seine an den hergebrachten
Meinungen festhaltenden Gegner griffen ihn deshalb heftig an und
behaupteten, dass seine Neuerung eben so gefährlich für die Körper
sei, als der religiöse Glaube Luthers für die Seelen.1 Wichtiger als
dieser ganze Aderlassstreit war es, dass in Folge dessen Zweifel auf-
tauchten, ob der Aderlass überhaupt in gewissen Fällen immer er-
forderlich sei.
Um dieselbe Zeit bekämpfte Mich. Servet die irrige Lehre von
der Kochung der Säfte. Ferner erfuhr die übertriebene Bedeutung,
welche man dem Puls und der Harnschau beilegte, eine vernünftige
und nothwendige Einschränkung. Gewissenlose Abenteurer und un-
Avissende Empiriker trieben damit einen unerträglichen Missbrauch.
Das Uringlas bildete gleichsam das Wahrzeichen des Arztes, wie man
an den Bildern der niederländischen Schule sehen kann, und sollte
über die geheimsten und wunderbarsten Dinge Auskunft geben. Es
war begreiflich, dass sich ehrliche Ärzte und verständige Laien, wie der
Bischof Dudith von Horekowicz, gegen dieses Treiben wandten und
eine wissenschaftliche Behandlung der Urinlehre anstrebten.
Freilich konnte dies erst dann mit Erfolg geschehen, wenn die
Chemie eine höhere Entwickelung erreicht hatte. In dieser Richtung
hat Niemand während des 16. Jahrhunderts mehr geleistet, als Theo-
phrastus Bombastus Paracelsus von Hoheuheim. Dieser Mann,
welcher zu den merkwürdigsten Erscheinungen der Culturgeschichte
gehört, ist von Einigen über Gebühr verherrlicht, von Andern mit Spott
und Verachtung überhäuft, selten aber vorurtheilslos und gerecht be-
urtheilt worden. Er war eine Faustische Natur, welche die höchsten
und edelsten Ziele ins Auge fasste, aber mit ihren kühnen, weitgreifenden
Plänen Schiffbruch litt und im Kampf mit den umgebenden Verhält-
nissen Alles, sogar sich selbst verlor.
1 K. Sprengel: Geschichte der Arzneikunde TII, 170 nach Moreait: De
miss. sanguin. in pleurit., Paris 1630, p. 102.
Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin etc. 259
Aber diese traurige Thatsache kann ihm nicht das grosse Ver-
dienst rauben, welches er sich um die Medicin erworben hat, indem
er die Säftetheorie der Alten bestritt und zuerst dem Gedanken Aus-
druck gab, dass der Lebensprozess ein chemischer ist und chemische
Veränderungen die Bedingungen der Gesundheit und Krankheit bilden.
Er erkannte die Unrichtigkeit der aus dem Alterthum stammenden
Lehre, dass das Herz der Sitz der Wärme sei, und sagte, dass jeder
Körpertheil seine Wärmequelle in sich trage. l Er wies auf die Analogie
der Gicht mit den Steinleiden hin, indem es bei beiden Krankheiten
zur Ablagerung fester Stoffe komme, und empfahl in diesen Fällen den
Gebrauch alkalinischer Säuerlinge. Die innere Anwendung verschiedener
chemischer, besonders mineralischer Substanzen wurde von ihm zuerst
versucht; zu diesen gehören das Quecksilber in verschiedener Gestalt,
mehrere Bleiverbindungen, antimonhaltige Arzneien, die Schwefelmilch,
der Kupfervitriol, der Eisensafran und andere Eisenpräparate.
Paeacelsus erklärte, dass die Chemie nicht die Aufgabe habe,
Gold zu fabriciren, sondern Arzneien darzustellen. Er widmete dieser
Wissenschaft ein eifriges Studium2 und war z. B. der Erste, der sich
zur Bestimmung des Eisengehalts der Mineralwässer der Galläpfel-
tinktur bediente. Die übelen Folgen, welche der länger fortgesetzte
Gebrauch einzelner mineralischer Stoffe, z. B. des Quecksilbers, hinter-
lässt, entgingen ihm keineswegs; er hatte sie an den Arbeitern der
Bergwerke von Idria kennen gelernt. Ebenso schilderte er die Wirkungen
des Arseniks und die Krankheiten, denen die Bergleute beim Schmelzen
mancher Metalle ausgesetzt sind. Indem er die Chemie aus den Händen
der Alchy misten befreite und der Heilkunde nutzbar machte, gab er
die Anregung zur wissenschaftlichen Bearbeitung der Chemie und zur
Begründung der medicinischen Chemie.
Die Wirkungen dieser Thatsachen zeigten sich in der Pharma-
kologie; zahlreiche halb- oder ganz vergessene Arzneien wurden wieder
in Erinnerung gebracht und andere neu erfunden. Gleichzeitig erfuhr
der Arzneischatz durch die Medicamente, welche aus Amerika einge-
führt wurden, manche Bereicherung.
Kaiser Carl V. gebrauchte auf Vesals Verordnung, als er an der
Gicht darniederlag, eine Abkochung der China-Wurzel. Das Guajak-
holz erlangte einen grossen Ruf als specifisches Mittel gegen die S}^philis.
Ulrich yon Hütten, welcher selbst an dieser Krankheit viele Jahre
litt, hat die Wirkungen des Guajakholzes ausführlich geschildert.3
1 Paracelsus: Paramirum, Lib. I. 2 Kopp: Gesch. der Chemie a. a. 0. 1, 96.
3 U. V. Hütten: De Guajaci medicina, Mogunt. 1519. — F. F. A. Potton:
Livre du Chevalier allemand Ulrich de Hütten sur la maladie fran^aise, Lyon 1865.
17*
260 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Auf dem Felde der inneren Medicin förderte der durch den Kampf
gegen den Autoritätsglauben geweckte Geist der Selbstständigkeit eine
Menge von Beobachtungen zu Tage, welche zur Kenntniss der Krank-
heiten viel beitrugen. Das Wesen der Syphilis, die damals mit un-
gewöhnlicher Heftigkeit und in seuchenhafter Ausbreitung auftrat, und
deshalb für eine neue Krankheit gehalten wurde, die aus den neuent-
deckten überseeischen Ländern nach Europa gelangt sei, wurde durch
die Feststellung der genetischen Beziehungen zwischen den secundären
und tertiären Folgezuständen und der primären Lokal-Affektion in ein
überraschendes Licht gestellt. Mit dem Verlauf, den Erscheinungen
und der Behandlung dieses Leidens beschäftigten sich zahlreiche
Schriften, welche alle Theile des Krankheitsbildes berücksichtigten.
Aus derselben Zeit stammen die ersten Mittheilungen über den
Scorbut. Vasco de Gama verlor auf seiner Expedition i. J. 1498 nicht
weniger als 55 seiner Schiffsgefährten, die an dieser Krankheit zu
Grunde gingen.1 Auch in den Küstenländern der Nord- und Ostsee
und in einzelnen andern Gegenden wurde das Auftreten derselben
beobachtet.
In das Ende des 16. Jahrhunderts fallen ferner die ältesten Berichte
über die Kriebelkrankheit, den Ergotismus convulsivus, der sich von
der gangränösen Form dieser Intoxication , welche man in früheren
Zeiten gewöhnlich als Ignis sacer bezeichnete, sowohl durch die Krank-
heitserscheinungen als durch die geographische Verbreitung unterschied.
Durch das sorgfältigere Studium der Krankheitserscheinungen und
den Fortschritt der medicinischen Wissenschaft gelangte man auch
allmälig dahin, dass die vielumfassenden nosologischen Begriffe des
Aussatzes und der Pest in die einzelnen Krankheiten, aus denen sie
sich zusammengesetzt hatten, zerlegt werden konnten. In Folge dessen
erlangten neben verschiedenen Leiden, die sich durch Ablagerungen in
der Haut kennzeichnen, die typhösen Erkrankungen einen selbststän-
digen Platz in der wissenschaftlichen Pathologie.
Fkacastorio, der hervorragendste Epidemiograph des 16. Jahr-
hunderts, veröffentlichte die erste Beschreibung des exanthematischen
Typhus. Baillou hinterliess die ersten unzweideutigen Schilderungen
des Keuchhustens und des Croups.
Ausser diesen fundamentalen Arbeiten verdient die casuistische
Literatur hervorgehoben zu werden, welche für die Entwickelung der
Heilkunde von grosser Bedeutung war. Einzelne Beobachtungen bieten
1 A. Hirsch: Handbuch der historisch-geographischen Pathologie, Stuttgart
1883, II, 358 u. ff.
Die Universitäten im 16. Jahrhundert. 261
noch jetzt Interesse, wie diejenigen über Gallensteine von Al. Benedetti,
ferner die durch eine Abbildung illustrirte Beschreibung der Nieren-
steine des Herzogs Albrecht V. von Bayern, denen der Volksglaube die
Gestalt von Jesuiten-Köpfen andichtete,1 der von F. Vallekiola erzählte
Fall, in dem eine Pistolenkugel, welche in die Bauchhöhle eingedrungen
war, nach einiger Zeit, ohne weitere Folgen zu hinterlassen, durch den
After entleert wurde,2 der Bericht des Dodonaeus, welcher bei der
Sektion eines französischen Prinzen, der lange Zeit am Tripper und an
Nierenschmerzen gelitten hatte, Vereiterung der Ureteren und Ver-
härtung der Nieren fand,3 die psychiatrischen Erfahrungen Felix
Plattebs, welcher sich gegen die Zwangsmassregeln und die Ein-
sperrung der Geisteskranken in Gefängnisse aussprach, u. ä. m.
Welche reiche Vermehrung des Inhalts die medicinische Wissen-
schaft im 16. Jahrhundert erfahren hat, lässt sich hier leider nur
andeuten ; denn eine ausführliche Schilderung der einzelnen Fortschritte
würde zu weit führen und ist nicht die Aufgabe dieses Buches. Die
angeführten Beispiele werden genügen, um zu zeigen, wie sich der
Zeitgeist in der Entwickelung der Medicin wiederspiegelte.
Die Universitäten im 16. Jahrhundert.
Das mit ungeahnter Kraft sich entfaltende Geistesleben hatte die
Gründung zahlreicher Universitäten zur Folge. In Spanien und Por-
tugal, welche durch die überseeischen Entdeckungen in den Vorder-
grund der öffentlichen Interessen gedrängt wurden, wurden Hochschulen
zu Toledo (1520), Baeza (1533), Compostella (1534), Granada (1540),
Ossuna und Gandia (1549), Almagro (1552), Orchuela (1555), Terra-
gona (1572) und Oviedo (1580) errichtet; selbst in der neuen Welt,
in Lima (1551) und Mexiko (1553), entstanden Universitäten.
Aber ihre Bedeutung für die Entwickelung der Wissenschaft blieb
gering. Sie sanken rasch in Vergessenheit, als Spanien, dem das
Schicksal die Bolle der leitenden Seemacht zugedacht hatte, durch die
kurzsichtige Glaubenspolitik seiner Herrscher und den beschränkten
Klerikalismus seines Volkes von der politischen Höhe, die es erreicht
hatte, herabgestürzt wurde.
1 Crede u. Distel in Virchow's Archiv, Bd. 96, S. 501 u. ff.
2 Observat. medicin., lib. IV, c. 9, Lugd. 1605.
3 Medic. observat. exempla rara, Harderwjk 1521, p. 72, c. 41.
262 Der medicinische Unterricht m der Neuzeit.
England und die Niederlande , welche an Spaniens Stelle traten
und bald den Handel und Verkehr mit den überseeischen Ländern
beherrschten, wussten besser den Vortheil ihrer Lage auszunutzen.
Sie blühten empor und wurden die wohlhabendsten Länder der Welt.
Sie vereinigten die Reichthümer Amerikas mit den Schätzen Asiens
in ihrem Besitz; denn auch der Orienthandel, welcher bis dahin seinen
Weg über Italien genommen hatte, schlug eine andere Richtung ein
und gelangte zur See nach den Küsten Britanniens, Hollands und
Norddeutschlands.
In dieser Thatsache liegt die Erklärung der merkwürdigen Er-
scheinung, dass diese Länder fortan auch auf den geistigen Gebieten,
in der Kunst und Wissenschaft, eine hervorragende Rolle spielten,
während sie andererseits auf den Verfall Italiens, der mit jener Zeit
begann und am Schluss des 17. Jahrhunderts deutlich zu Tage trat,
ein Licht wirft.
Italien erhielt im 16. Jahrhundert nur zwei Hochschulen, nämlich
zu Macerata (1540) und zu Messina (1548). In Frankreich wurden
Universitäten zu Rheims (1558), Douai (1561), Besancon (1564) und
Pont-ä-Mousson (1572)1 gegründet, denen sich die in der französischen
Schweiz gelegenen Universitäten zu Lausanne (1536) und Genf (1569)
anschlössen. Ausserdem errichtete der König Franz I. das College de
France, an welchem unentgeltliche Vorlesungen gehalten wurden, deren
Besuch Jedermann gestattet war. Unter den reich dotirten 12 Lehr-
kanzeln befand sich auch eine für Medicin.
Auf den britt.ischen Inseln erhielt Edinburg 1583 und Dublin 1591
eine Universität. In den Niederlanden entstanden derartige Anstalten
zu Leyden (1575) und Franecker (1585). An der östlichen Grenze
der Cultur wurde Wilna (1597) zum Sitz einer Hochschule gemacht.
Auch die Zahl der deutschen Universitäten wurde erheblich ver-
mehrt. Schon auf dem Reichstage zu Worms i. J. 1495 richtete der
Kaiser Maximilian I. an die Kurfürsten die Aufforderung, dass Jeder
in seinem Lande eine Hochschule gründe. Was die Kurfürsten thaten,
das wollten auch die übrigen Landesherren durchsetzen, wenn es irgend
möglich war. So wurde eine Menge von Universitäten ins Leben ge-
rufen, von denen manche kaum die notdürftigsten Mittel zu ihrer
Existenz erhielten.
Im J. 1502 errichtete der Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen
mit kaiserlicher Genehmigung die Hochschule zu Wittenberg, welche
1 Toürdes: Origine de l'enseignement med. au Lorraine. La faculte de med.
de Pont-ä-Mousson, Paris 1876. — Legrand; L'universite de Douai, Douai II
Die Universitäten im 16. Jahrhundert. 263
in den folgenden Decennien den Mittelpunkt der religiösen Reform-
bewegung bildete. Darauf folgte 1506 die Gründung der Universität
zu Frankfurt a/O. für die Markgrafschaft Brandenburg.
Die erste Hochschule, die nach der Kirchenspaltung entstand und
einen ausgesprochen protestantischen Charakter trug, war diejenige zu
Marburg in Hessen, welche 1527 errichtet wurde, aber erst 1541 die
Bestätigung des Kaisers erhielt. Gleich der Marburger Universität
entstand auch diejenige zu Königsberg in Preussen (1544) unter
Melanchthüns Einfluss; sein Schwiegersohn Sabin us war ihr erster
Rector.1
In Dillingen gründete der Augsburger Bischof 0. von Truchsess
i. J. 1549 eine Bildungsanstalt für Kleriker, welcher 1554 vom Pabst
die Hechte einer Universität verliehen wurden. Sie wurde später von
den Jesuiten geleitet und 1804 aufgehoben.2
Die Entstehung der Universität Jena (1558) hatte darin ihren
Grund, dass der Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, als er nach
der unglücklichen Schlacht bei Mühlberg genöthigt wurde, sein Land
gegen dasjenige seines Vetters Moritz zu vertauschen, eine Universität
in der Nähe seiner Residenz haben wollte. — Seinem Beispiel folgte
Herzog Julius von Braunschweig und schuf 1576 die Universität
Helmstädt, welche bis 1809 existirte. Die medicinische Facultät der-
selben führte in ihrem Wappen einen gekrönten Ochsen unter einem
Stern.3
In den Ländern der Habsburgischen Dynastie wurden Hochschulen
zu Olmütz (1573) und Graz (1585) mit katholischem Charakter errichtet,
die jedoch nicht mit allen Facultäten ausgestattet waren.
Nur die Universität zu Würzburg, welche i. J. 1582 vom Fürst-
bischof Julius Echter wiedereröffnet wurde, besass reichere Hilfsmittel
für das medicinische Studium. Übrigens hatten auch die übrigen der
neu entstandenen Universitäten selten mehr als einen Professor der
Medicin. Die Theologie stand immer noch im Vordergrunde.
Die protestantischen Hochschulen kämpften nicht weniger eifrig
für den neuen Glauben, als die katholischen Universitäten unter jesuiti-
scher Führung die Autorität des Pabstes verth eidigten. An der Hoch-
schule zu Helmstädt wurde Niemand geduldet, der nicht dem luthe-
rischen Glauben anhing. Der Herzog von Braunschweig erklärte 1584
dem General -Consistorium, dass es besser sei, wenn derartige Leute
1 M. Toppen: Die Gründung der Universität zu Königsberg, 1844.
2 Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts a. a. 0. S. 268.
3 Geschichte der ehemaligen Hochschule zu Helmstädt, Helmstädt 1876.
264 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
„zum Teufel führen, als dass sie seine Kirchen und Schulen verunreinten
und befleckten".1 Aber es war doch schon ein grosser Fortschritt zur
Toleranz, dass er die Andersgläubigen nur ins Jenseits wünschte und
nicht mehr gewaltsam dorthin befördern liess.
Leider kam auch dies unter der Herrschaft des Protestantismus
nur zu oft vor, wie abgesehen von den grausamen und blutigen Ver-
folgungen, deren Schauplatz England und die ihm unterworfenen Länder
waren, das Beispiel des unglücklichen Michael Servet beweist, der auf
Calvins Betreiben in Genf den Scheiterhaufen besteigen musste, weil
ihm das Verständniss für die Dreieinigkeit Gottes nicht gelang.2
Die Wirkung der Kirchenspaltung auf die Universitäten, welche
sich der religiösen Reformbewegung anschlössen, äusserte sich zunächst
in der Loslösung von Rom, in der Beseitigung der päbstlichen Ingerenz.
Aber der kirchliche Einfluss wurde dadurch nicht aufgehoben; es traten
nur an die Stelle der katholischen Theologen die protestantischen, deren
Herrschaft in manchen Ländern, z. B. in England, sehr drückend war
und sich in unberechtigter Weise auf alle möglichen Gebiete des geistigen
Lebens ausdehnte.
Ein freierer Geist beseelte die protestantischen Hochschulen Deutsch-
lands. Die Geistlichkeit der neuen Kirchen gewann hier geringere
Macht und entwickelte sich allmälig zu einem Organ der Staatsgewalt,
die aus Gründen der politischen Zweckmässigkeit brutale Ausbrüche
der religiösen Intoleranz vermeiden musste. In Frankreich wurde die
Verstaatlichung der Universitäten und überhaupt des gesammten Schul-
wesens, welche in den protestantischen Ländern Deutschlands unter dem
Einfluss der Kirchenspaltung zu Stande kam, durch die Kraft der Re-
gierungen allmälig herbeigeführt.
In den katholischen Ländern Deutschlands vollzog sich dieser
Prozess erst im 18. Jahrhundert, in anderen Staaten, z. B. in Italien,
im 19. Jahrhundert. Derselbe hatte manche Veränderungen in der
Organisation der Universitäten im Gefolge. Die Kanzler-Würde wurde,
wenn man sie nicht gänzlich abschaffte, mit hohen Beamten oder Ver-
trauensmännern der Staatsregierung besetzt und die Licenz nicht mehr
von der Kirche, sondern vom Staat ertheilt.
Der kosmopolitische Charakter der Universitäten hörte damit auf;
sie waren fortan nichts weiter als die höchsten Lehranstalten des Staates,
und ihre akademischen Grade hatten nicht mehr, wie früher, Geltung
1 Paulsen a. a. 0. S. 178 nach E. L. T. Henke: Georg Calixtus und seine
Zeit, Halle 1853.
2 W. E. H. Lecky: Geschichte der Aufklärung in Europa II, 31 u. ff.
Die Universitäten im IG. Jahrhundert. 265
für alle Länder der Christenheit, sondern nur für einen engbegrenzten
politischen Bezirk. Die schrankenlose Freizügigkeit, deren sich die ge-
lehrten Stände im Mittelalter erfreuten, wurde aufgehoben, und es ent-
wickelte sich allmälig ein Prohibitivsystem, welches die Wissenschaft
nur anerkannte, wenn sie innerhalb der eigenen Grenzpfähle erworben
worden war.
Eine grosse Umwälzung erfuhren im Allgemeinen die finanziellen
Verhältnisse der Universitäten Deutschlands und mehrerer anderer
Länder, welche sich dem Protestantismus anschlössen. Die Professoren
verloren die Aussicht auf eine Vermehrung ihrer Einnahmen durch
fette Kirchenpfründen. Die geringe Erhöhung ihrer Besoldungen, welche
bei der Säcularisation der Kirchengüter erfolgte, bot dafür nur einen
dürftigen Ersatz. Überall fühlte man, dass der sichere Rückhalt, den
man an den reichen Geldmitteln der Kirche gehabt hatte, nicht mehr
vorhanden war.
Wie geringfügig die Mittel waren, welche damals die Erhaltung
einer Universität erforderte, zeigt das Jahres-Budget der Tübinger Hoch-
schule von 1541/42. Die Einnahmen betrugen 5176 fl., die Ausgaben
4853 fl.; in den letzteren waren die Professoren-Gehälter für 3 Theo-
logen, 6 Juristen, 2 Medianer und 10 Artisten mit je 40 — 200 fl.,
im Ganzen 2394 fl. enthalten.1
Die Bedürfnisse einer kleinen Universität in jener Zeit waren nicht
bedeutend, wie das Beispiel von Greifs wald zeigt, wo sich sämmtliche
Räumlichkeiten derselben in einem einzigen Hause befanden. Sie be-
standen aus drei Hörsälen, dem Senatssaal, dem Laden für die aka-
demische Buchhandlung, dem Bibliot.hekzimmer, dem Archiv, zwei
Professoren- Wohnungen, mehreren Kammern, in denen Studenten wohnten,
und dem Carcer im Souterrain.2
Die katholischen Hochschulen befanden sich in dieser Beziehung
in einer günstigeren Lage. Pabst Julius III. erliess i. J. 1553 eine
Bulle, nach welcher es gesetzlich gestattet war, geistliche Pfründen an
weltliche Professoren zu verleihen, was übrigens schon seit langer Zeit
gebräuchlich war und stillschweigend geduldet wurde.
Das Cölibat der Universitätslehrer wurde dadurch gegenstandslos
und hörte allmälig auch in den katholischen Ländern auf. An den
protestantischen Hochschulen war es selbstverständlich ausgeschlossen;
doch wirkte die Gewohnheit so mächtig, dass man z. B. in Tübingen
daran noch festhielt und es sogar von den Professoren der Medicin
1 F. Paulsen in Sybel's histor. Zeitschr. 1881, Bd. 45, S. 278 u. ff.
2 F. Paulsen a. a. 0. S. 304. 407.
266 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
verlangte, nachdem die Universität schon längst protestantisch ge-
worden war.
Die Besoldungen der Professoren waren verschieden in den ein-
zelnen Ländern und Facultäten; diejenigen der Mediciner standen denen
der Theologen und Juristen im Allgemeinen nach. In Paris erhielt
jeder Professor der Heilkunde i. J. 1505 12 livres jährlich.1 In
Königsberg wurden den beiden Lehrern der Medicin i. J. 1544 Be-
soldungen von 200 und 150 fl. ausgesetzt.2 In Heidelberg bezogen
die drei Professoren der Medicin vor der Reformation Jahresgehälter
von 180, 160 und 140 fl. Im J. 1588 wurden dieselben erhöht auf
270, 180 und 170 fl. ; ausserdem erhielt Jeder freie Wohnung, sowie
ein Puder Wein und 12 Malter Korn jährlich. 3
Der Herzog Wilhelm von Bayern stellte 1537 einen Kechtslehrer
in Ingolstadt mit 300 fl. Gehalt an. Dies war die höchste Besoldung,
die damals auf einer deutschen Universität gezahlt wurde.4
Die Studentenschaft wurde von den grossen Begebenheiten der
Zeit ebenfalls mächtig ergriffen. Der auf allen Linien eröffnete Kampf
gegen die Autorität, der Humanismus, welcher in den ungezwungenen
Lebensformen der antiken Welt seine Ideale fand, vor Allem aber die
Kirchenspaltung erzeugten einen Geist der Freiheit und Unabhängigkeit,
welcher sich manchmal gegen jede Beeinträchtigung der Selbstständig-
keit auflehnte.
Die Senatsprotokolle der Tübinger Universität enthalten merk-
würdige Belege für die Sittengeschichte der Studierenden des 16. Jahr-
hunderts. So beschwerten sich die Nonnen von Suchen in einem
Schreiben v. J. 1564 beim Senat, dass sie durch die häufigen und zu-
dringlichen Besuche der Studenten belästigt wurden. Viele Studenten
in Tübingen waren verheirathet und Familienväter; i. J. 1575 wurde
den jungen Studierenden verboten, sich ohne Einwilligung ihrer Eltern
zu verehelichen. Im J. 1589 wurde dem Senat angezeigt, dass eine
Wittwe mit Studenten Unzucht trieb; zur Strafe dafür wurde sie „in
einem Stüblein an die Kette gelegt".5
1 Hazon a. a. 0.
2 D. H. Aknoldt: Historie der Königsbergischen Universität, Königsberg 1746.
3 Hautz a. a. 0.
4 Meiners: Geschichte der Entstehung der hohen Schulen, Göttingen 1802.
5 R. v. Mohl: Nach Weisungen über die Sitten und das Betragen der Tü-
binger Studierenden während des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1871. — Jon.
Huber: Deutsches Studentenleben in Kleine Schriften, Leipzig 1871, S. 364 u. ff.
— B. Gebhardt in der Zeitschr. f. allgem. Gesch. her. v. Zwiedineck- Südenhorst,
Bd. IV, 1887, S. 962.
Die Universitäten im 16. Jahrhundert. 267
In Wittenberg kamen ähnliche Excesse vor.1 Auch unter den
Studenten katholischer Universitäten herrschte ein roher gewaltthätiger
Ton, wie die Nachrichten über Ingolstadt beweisen.2
Die Studenten wohnten theils in Bursen oder Convikten, wie sie
schon im Mittelalter existirten, theils bei Privatleuten oder Professoren.
Die letzteren fanden in dem Gelde, welches sie für die Aufnahme und
Verpflegung der Studierenden empfingen, eine bisweilen recht erwünschte
Einnahme-Quelle. Maetin Lutheu's Sohn hielt eine vielbesuchte
Studenten-Pension in Wittenberg.3 In Heidelberg kam es nicht selten
vor, dass die Professoren den Wein, welcher einen Theil ihrer Gehalts-
bezüge bildete, öffentlich ausschenken Hessen; sie durften sicher darauf
rechnen, dass ihre Hörer dabei mindestens ebenso fleissig erscheinen
würden, als in ihren Vorlesungen.
Arme Studenten waren der bittersten Noth ausgesetzt. Ein er-
greifendes Bild dieses traurigen Daseins hat Thomas Platter in seiner
Selbstbiographie gezeichnet. Hungernd und frierend, in Lumpen ge-
hüllt und bettelnd durchzog er mit seinen Gefährten die Schweiz und
Deutschland. Die fahrenden Studenten bildeten ein Vagabundenthum,
welches die Leichtgläubigkeit und Unwissenheit brandschatzte und in
manchen Gegenden zu einer argen Landplage wurde.
Eine tiefe gesellschaftliche Kluft trennte diese Bettelstudenten von
den reichen und vornehmen Studierenden, welchen an den meisten
Universitäten eine bevorzugte Stellung eingeräumt wurde. Dieselben
suchten häufig durch kostspielige Schmausereien und Gelage, durch ein
verschwenderisches Auftreten und übertriebenen Kleiderluxus Aufsehen
zu erregen. So kosteten z. B. die Pluderhosen mancher Studenten über
100 fl.: eine Summe, deren Bedeutung man erst begreift, wenn man
bedenkt, dass der aus drei Gängen und einem Quart Wein bestehende
Mittagstisch für die Tübinger Studenten damals mit 38 fl. jährlich be-
zahlt wurde. Gesetze, Predigten und Bücher eiferten gegen die Ver-
schwendungssucht der Studenten, aber, wie es scheint, ohne Erfolg.
Professor Musculus zu Frankfurt a/O. geisselte die Sitte der Pluder-
hosen in einer Schrift, welche den Titel führte: „Vermahnung und
Warnung vom zerluderten, zucht- und ehrverwegenen pludrichten Hosen-
teufel. (Frankfurt a/O 1556.)" Ein Senatsbeschluss der Tübinger Hoch-
schule v. J. 1554 verwarnte „die Edelleute, so neuerlich hierher ge-
kommen, wegen ihrer Bruttalhosen und Blossgesäss und forderte sie
auf, solch' unfläthig und kriegerisch Kleid abzulegen."
1 J. F. A. Gillet: Crato von Crafftheim, Frankfurt a/M. 1860, I, 101.
2 B. Gebhardt a. a. 0. S. 957. 3 Paulsen: Gesch. d. gel. Unterrichts S. 161.
268 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Der medicinische Unterricht.
Die Veränderungen, welche die medicinische Wissenschaft erfuhr,
äusserten ihren Einfluss auf den medicinischen Unterricht dadurch, dass
die Summe des Lehrstoffes sowohl wie die Anzahl der Professuren und
die Lehrmittel vermehrt wurden, und die Methode der ärztlichen Aus-
bildung, entsprechend der grösseren Bedeutung, welche die Anatomie
und Chirurgie erlangt hatten, allmälig eine etwas mehr praktische
Richtung erhielt. Die culturhistorischen Ereignisse, die Erfindungen
und Entdeckungen, übten ebenfalls eine mächtige Wirkung auf das
Unterrichtswesen aus.
Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst gehörten Bibliotheken
zu den seltensten und kostbarsten Dingen. Die medicinische Facultät
zu Paris besass i. J. 1395 nicht mehr als 9 Werke, unter welchen
der Continens des Khazes am höchsten geschätzt wurde. Als der
König Ludwig XL dieses Werk i. J. 1471 ausleihen wollte, um es ab-
schreiben zu lassen, fanden deshalb lange Berathungen der Facultät
statt, und dieselbe ertheilte ihre Bewilligung erst, nachdem der König
eine Caution von 12 Mark Silber erlegt und 100 Thaler Gold herge-
liehen hatte.1
Privatleute waren nur mit Aufwand grosser Mittel im Stande, sich
Büchersammlungen anzulegen. Selbst ein so hervorragender und ver-
mögender Arzt, wie Taddeo Aldebotti, hinterliess bei seinem Tode
nur 4 Bücher; im Nachlass des Arztes Fkeidank fand man nicht mehr
als 3 Bücher.2
Die Anfertigung der Abschrift eines Werkes nahm Jahre des an-
gestrengtesten Fleisses in Anspruch und setzte Kenntnisse voraus, die
damals wenig verbreitet waren. Mit der Erfindung des Bücherdrucks
vollzog sich in dieser Hinsicht ein Umschwung, ähnlich demjenigen,
der in neuester Zeit geschah, als die Maschinen-Arbeit den Handbetrieb
in der Herstellung der Waaren ersetzte.
Die Gründung und Vermehrung der Bibliotheken der Hochschulen
wurde dadurch erleichtert oder eigentlich erst ermöglicht. Die Uni-
versitäten gewannen damit ein Lehrmittel, welches die Entwicklung
des Geistes und Charakters in gleicher Weise förderte. Sie erkannten
die Wichtigkeit desselben sehr gut und waren bemüht, die für die
1 J. C. Sabatier a. a. 0. — Koseoarten (Geschichte der Universität Greifs-
wald, Greifswald 1857, II, 232) giebt ein Verzeichniss der Bücher, welche sich
1482 im Besitz der dortigen medicinischen Facultät befanden.
2 Kriege: a. a. 0. I, 17.
Der medicinisohe Unterricht. 269
Erwerbung von Büchern erforderlichen Geldmittel herbeizuschaffen und
die Benutzung- der Sammlungen durch zweckmässige Einrichtungen
und Vorschriften zu regeln. x Die Bibliotheksordnimg der medicinischen
Facultät zu Montpellier v. J. 1534 bestimmte, dass die Bibliothek im
Sommer um 6 Uhr, im Winter um 8 Uhr früh geöffnet und Nach-
mittags um 4 Uhr geschlossen wurde, und machte die Studierenden,
welche sie benutzten, für jeden Schaden, der durch Verlust oder Ver-
unreinigung der Bücher entstand, verantwortlich.2
Im 16. Jahrhundert begann man auch, die Universitäten mit bo-
tanischen Gärten auszustatten. Die Kepublik Venedig ging darin allen
übrigen Staaten mit gutem Beispiel voran, indem sie 1545 in Padua
einen botanischen Garten anlegen Hess.3 Darauf entstanden diejenigen
zu Pisa (1547) und Bologna (1568), wo später A. Cesalpini, „der
grösste Botaniker seines Jahrhunderts", lehrte und wirkte. Leyden er-
hielt 1577, Montpellier 1593 einen botanischen Garten. An den deut-
schen Hochschulen wurden die ersten zu Leipzig (1580), Breslau (1587),
Basel (1588) und Heidelberg (1593) gegründet.4 Sie hatten zunächst
wohl nur den Zweck, das Studium der Arzneipflanzen zu begünstigen.
Der Unterricht in der Botanik wurde mit Demonstrationen der
Pflanzen verbunden, welche das Verständniss des Vortrags ausser-
ordentlich erleichterten. Ausserdem wurden dazu Herbarien, Samm-
lungen getrockneter Pflanzen, welche ungefähr seit der Mitte des
16. Jahrhunderts eingeführt wurden,5 sowie Abbildungen der Pflanzen
benutzt.
Schon im iUterthum pflegte man botanische Werke mit Zeich-
nungen zu verzieren. Diejenigen der Handschriften des Dioskoeides,
welche sich im Besitz der kaiserlichen Hofbibliothek zu Wien befinden,
stammen aus dem 5. Jahrhundert. Auch aus der späteren Zeit, be-
sonders aus dem 15. Jahrhundert, haben sich mehrere Pflanzen-Zeich-
nungen erhalten.6
Durch die Erfindung des Holzschnitts und Kupferstichs wurde es
möglich, die Abbildungen in wünschenswerther Weise zu vervielfältigen.
Hervorragende Künstler, ja sogar die Meisterhand eines Guido Reni,
entwarfen die Zeichnungen dazu. Die botanische Literatur wurde im
1 Prantl a. a. 0. I, 215.
2 Dübouchet in der Gaz. hebd. des scienc. med. de Montpellier 1887, No. 11,
p. 124. Vergl. auch das sehr detaillirte Reglement der Bibliothek der Ecole de
medecine zu Paris v. J. 1395 bei Sabatier a. a. 0.
3 Meyer a. a. 0. IV, 256 u. ff. 4 Hatttz a. a. 0.
5 Meyer a. a. 0. IV, 266 u. ff.
6 Meyer a. a. 0. IV, 273 u. ff.
270 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
15. und 16. Jahrhundert mit einer grossen Anzahl von illustrirten
Werken dieser Art bereichert.
Noch mehr verdankte die Anatomie der bildenden Kunst. Die
berühmtesten Maler jener Zeit widmeten der Anatomie des mensch-
lichen Körpers ein eifriges Studium. Lionakdo da Vinci liess sich
von seinem Freunde, dem Anatomen Maec Antonio della Toeee,
über den Verlauf und die Form der Muskeln und die Lage der ein-
zelnen Theile des menschlichen Körpers belehren. Er lieferte ihm die
Zeichnungen zu einem anatomischen Werk, welches derselbe heraus-
geben wollte, das aber niemals erschienen ist. Dieselben kamen später
grösstentheils in die Biblioteca Ambrosiana nach Mailand und dann
nach Paris; ein Theil gelangte in den Besitz des englischen Königs-
hauses und wurde theils durch den Stich, theils mit Hilfe der Photo-
graphie veröffentlicht. x
Auch Michelangelo beschäftigte sich viele Jahre hindurch mit
anatomischen Studien und wurde dabei während seines Aufenthalts in
Rom vom Anatomen Realdo Colombo unterstützt, der ihm den Leichnam
eines wunderbar schönen jungen Negers zu diesem Zweck überliess.2 An
den Leichen in den Kellern von S. Spirito zu Florenz betrachtete er
den Bau des Menschen; mit grosser Aufmerksamkeit folgte er den
Sektionen, welchen er beizuwohnen Gelegenheit erhielt. Es ging sogar
die Sage, dass er, als er den Heiland am Kreuz darstellen musste,
einen lebenden Menschen als Modell benutzt habe, gerade so, wie man
dies bekanntlich auch im Alterthum von Paeehasios erzählte, als er
den vom Geier zerfleischten Prometheus malte.3
Von den anatomischen Zeichnungen Michelangelo's mag die
Skizze einer Leichen-Sektion und das Bild eines männlichen Körpers,
dessen Muskeln stark hervortreten, erwähnt werden; das letztere ist
durch die genaue Abgrenzung der Proportionen ausgezeichnet. Auch
Rafaels Skelett-Studien sind streng nach der Natur gezeichnet; durch
innere Wahrheit und den Ernst des Ausdrucks machen sie einen er-
greifenden Eindruck.
1 Vasari: Leben der ausgezeichneten Maler, Bildhauer und Baumeister.
Deutsche Übersetzung, Stuttgart 1843, Bd. III, S. 26. — R. Knox: Great Artists
and great Anatomists, London 1852. — Choulant a. a. 0. p. 6 u. ff. — K. F. H.
Marx: Über Marc Antonio della Torre und Lionardo da Vinci in Abhdlgn. der
Göttinger Soc. d. Wissensch., Bd. IV, 177 u. ff. — C. Langer in d. Sitzungsber.
d. k. k. Akad. d. Wiss. Math.-Naturwiss. KL, Wien 1867, Bd. 55, I, 637.
2 A. Corradi in Rendic. del R. Ist. Lomb. di sc. e lett. , vol. VI , ser. II,
p. 643.
3 Haeser a. a. 0. II, 27. — Choulant a. a. 0. p. 10 u. ff. - - Ann. Seneca:
Controvers., lib. X, c. 5 (No. 34).
Der medicinisvhe Unterricht. 271
Vortreffliche Darstellungen der Muskeln und des Skeletts des
menschlichen Körpers gab Rosso de Rossi, ein Schüler des Andrea
del Sarto, welche durch den Kupferstich vervielfältigt wurden. l Auch
die Skulptur wurde von dieser Richtung beeinflusst, wie die im Mai-
länder Dome befindliche, von Marco Agrate herrührende Statue des
hl. Bartholomäus beweist, an welcher die Muskeln blosgelegt erscheinen.
Yesals anatomische Tafeln und die seinen beiden grösseren Werken
beigegebenen Zeichnungen stammen aus der Schule Tizians, wahr-
scheinlich grösstenteils von Johann Calcar, einzelne Blätter und Ver-
besserungen auf anderen vielleicht von Tizian selbst. Möglicherweise
gehört dazu ausser den beiden bekannten Figuren eines männlichen
und weiblichen Körpers auch das Titelblatt, auf welchem Vesal er-
scheint, wie er im anatomischen Theater in Gegenwart eines grossen
Zuschauer-Publikums die Zergliederung einer Leiche ausführt.
Geringeren Werth haben die anatomischen Tafeln der Vor-Vesalischen
Periode, wie z. B. Bart. Passarotti's Aderlassfigur, welche, wie es scheint,
zum Unterricht der Chirurgen und Bader diente.2
Albrecht Dürer und Lionardo da Vinci gaben Werke über die
menschlichen Proportionen heraus,3 welche in fremde Sprachen über-
setzt wurden und einen grossen Einfluss ausübten, wie aus den Arbeiten
mehrerer spanischen Künstler hervorgeht. Einzelne Anatomen lieferten
ebenfalls werth volle anatomische Zeichnungen, Das Bild, welches Varolio
von der unteren Fläche des Gehirns entwarf, zeigt richtige, wenn auch
derbe Contouren und war offenbar für den Unterricht bestimmt.4
Berengar von Carpi war nach dem Zeugniss von Benvenuto
Cellini nicht blos ein erfahrener Arzt und Anatom, sondern auch ein
geschickter Zeichner. Er stattete seine anatomischen Werke mit Holz-
schnitten aus, welche ebenso sehr die Interessen der Künstler als die-
jenigen der Ärzte berücksichtigten. Auch die Myologie des Cannani,
sowie die anatomischen Schriften von Charles Estienne (Stephanus),
Eustachio und Volcher Koyter, welche selbst viele anatomische Zeich-
nungen machten, des Spaniers Valverde de Hamusco, ferner von
Guidi (Vidiüs), Jacques Guillemeau, Felix Platter, Salomon Al-
berti, Giulio Casserio und Adrian van den Spigel waren mit Ab-
bildungen versehen.
Neben den anatomischen Zeichnungen, welche für die ärztliche
Ausbildung ohne Zweifel eine grosse Bedeutung hatten, und dem theo-
1 Choulant a. a. 0. S. 16 u. ff. 2 Choulant a. a. 0. S. 39 u. ff.
3 A. W. Becker: Kunst und Künstler des 16. Jahrhunderts, Leipzig 1863,
Bd. T, 341. IV, 163.
4 Choulant a. a. 0. S. 69.
272 Der medieinische Unterricht in der Neuzeit.
retischen Vortrag bildeten die praktischen Demonstrationen, zu welchen
die Leichen-Zergliederungen Gelegenheit boten, das gebräuchlichste Lehr-
mittel in der Anatomie. Dieselben wurden im Verlauf des 16. Jahr-
hunderts an allen Universitäten, welche mit medicinischen Facul täten
verbunden waren, eingeführt.,
Anfangs gingen sie in der Weise vor sich, dass der Professor vom
Katheder aus die Beschreibungen und Erklärungen der einzelnen Theile
des Körpers vortrug, während die Sektion selbst von einem Chirurgen
oder Barbier ausgeführt wurde. Die gelehrten Doktoren glaubten häufig,
dass ihre Würde herabgesetzt werde, wenn sie sich mit der Zergliederung
von Leichen befassten. Als Vesal in Paris studierte, lag der ana-
tomische Unterricht dort gänzlich in den Händen „unwissender Bart-
scherer", wie er erzählt,1 „welche sich darauf beschränkten, die Muskeln
des Unterleibs in zerrissenem und schmählich zerfetztem Zustande vor-
zuzeigen, sonst aber keinen andern Muskel und keinen Knochen demon-
strirten und noch weniger eine geordnete Übersicht der Arterien, Venen
und Nerven gaben". Guinter von Andernach, 2 welcher in Paris den
anatomischen Unterricht ertheilte, hielt sich von praktischen Arbeiten
fern; Vesal sagt von ihm, dass er das Messer wohl niemals zu andern
Dingen, als zum Zerschneiden des Bratens gebraucht habe.
Die italienischen Anatomen schlugen eine richtigere Methode ein,
indem sie selbst die Leichen-Sektionen ausführten. Diesem Umstände
war es gewiss hauptsächlich zu verdanken, dass fast alle grossen ana-
tomischen Entdeckungen jener Zeit von Italien ausgingen.
Die anatomischen Schulen dieses Landes waren die besten auf der
ganzen Welt. Alle hervorragenden Anatomen des 16. Jahrhunderts
haben hier ihre Ausbildung erhalten; unter ihren Lehrern finden sich
die glänzendsten Namen, welche die Geschichte dieser Wissenschaft
kennt. Man beschränkte sich bei der Auswahl derselben keineswegs
auf Italien, sondern nahm die tüchtigsten Lehrkräfte aller Länder; auch
mehrere Niederländer und Deutsche wirkten als Lehrer der Anatomie
an italienischen Hochschulen.
Auf Aless. Benedetti's Veranlassung wurde i. J. 1490 in Bologna
ein anatomisches Theater errichtet. Nach dem Muster desselben ent-
standen später auch in Padua (1548), Amsterdam (1555) und an anderen
Hochschulen derartige Anstalten.3
Ein grosses Hemmniss der Entwicklung des anatomischen Unter-
1 Vesalius: Epist. dedicat. zu De corp. hum. fabrica.
2 Über diesen Gelehrten s. E. Turner in der Gaz. hebdom. de med. Paris.
1881, No. 27. 28. 32.
3 Cervetto: Di alcuni illustri anatomici, Verona 1842, p. 150 u. ff.
Der medicinische Unterricht. 273
richts war der Mangel an Leichen, welcher nur ganz allmälig beseitigt
wurde. Noch Yesal erklärte, dass er so selten Gelegenheit gehabt
habe, den Uterus schwangerer Frauen zu seciren, dass er eigentlich
gar nicht wisse, wodurch sich derselbe von demjenigen einer schwangeren
Hündin unterscheide. l Als Student in Paris und später in Löwen be-
suchte er mit seinen Gefährten Nachts die Friedhöfe, um menschliche
Knochen auszugraben und zu sammeln ; einmal soll er bei einem solchen
Ausflug sogar auf den Galgen gestiegen sein und das Skelett des ge-
henkten Verbrechers herabgeholt haben.2
Ähnlich ging es auch an anderen Orten zu. Felix Platter
berichtet, dass er als Student in Montpellier mit seinen Freunden, unter
denen sich ein „verwegener Mönch des Augustiner-Klosters" befand, bei
Nacht, „nachdem sie einen tüchtigen Trunk gethan", auf dem Kirch-
hofe mit den Händen Leichen ausgegraben und die Knochen heimlich
in die Stadt getragen habe. 3 Aber nicht blos die Studierenden, sondern
auch die Professoren beklagten sich über den Mangel an Leichen.
Kondelet in Montpellier soll deshalb sogar seinen eigenen Sohn, als
dieser gestorben war, secirt haben. Ferner wird von ihm erzählt, dass
er seinen Collegen Fontano, während derselbe schwer krank darnieder-
lag, gebeten habe, dass er seinen Körper nach dem Tode anatomischen
Zwecken widmen möge.4
Allerdings gab es in den Statuten der medicinischen Facultäten
Bestimmungen, dass jährlich eine oder mehrere anatomische Demon-
strationen stattfinden und die Behörden das dafür erforderliche Leichen-
Material liefern sollten. Aber die letzteren kamen diesen Verpflichtungen
nicht immer nach, und selbst, wenn dies geschah, so genügte das
Studien-Material kaum für den Unterricht, geschweige denn, dass es
für die Untersuchungen der anatomischen Forscher ausreichend war.
Es war daher erklärlich, dass sie sich dasselbe, wenn sie es nicht
auf legalem Wege erlangen konnten, auf andere Weise zu verschaffen
suchten. Der Kauf und der Diebstahl der Leichen waren in Folge
dessen nicht selten und wurden von den Behörden mit einer gewissen
Toleranz betrachtet, wenn es zu wissenschaftlichen Zwecken geschah.
Aber man scheint dies manchmal zu offenkundig getrieben und auch
missbraucht zu haben, sodass dagegen eingeschritten werden musste.
In Padua verlangte das Volk i. J. 1550, dass die Gesetze gegen
1 Vesalius: Epist. radic. chyn. decoct. rat. pertractans nach A. Corradi
a. a. 0. p. 634.
2 H. Tollin im Biolog. Centralblatt 1885, Bd. V, 276 u. ff.
3 Felix Platter: Selbstbiographie a. a. 0. S. 152.
4 Corradi a. a. 0. p. 643. — Portal: Hist. de lanatomie I, 522.
Puschmann, Unterricht. 18
274 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
die Entweihung der Gräber und den Leichenraub strenger gehandhabt
würden. 1
Der Vornahme der Leichen-Sektionen standen nicht mehr, wie
früher, religiöse, sondern sociale Vorurtheile entgegen. Nur das Wohl-
wollen einsichtsvoller Behörden und die thatkräftige Unterstützung
vornehmer Herren, welche sich für die Anatomie interessirten, ermög-
lichte es den. Forschern, das nothwendige Studien-Material zu erwerben.
Faloppio erhielt Gelegenheit, in einem einzigen Jahre 7 mensch-
liche Leichen zu seciren, Realdo Colombo brachte es sogar auf 14.2
Felix Platter berichtet, dass er während einer 30 jährigen Thätigkeit
mehr als 50 Leichen zergliedert habe:3 eine Zahl, welche für jene Zeit
aussergewöhnlich hoch war. Vesal erhielt während seiner erfolgreichen
Wirksamkeit an den Hochschulen zu Padua, Pisa und Bologna soviel
Leichen, als er wünschte; sie wurden ihm von den Richtstätten wie
aus den Spitälern geliefert. Die Richter hatten die Gefälligkeit, für
die Verurtheilten eine Todesart zu wählen, welche Vesal im Interesse
der unversehrten Erhaltung der Körper vorschlug, oder die Hinrichtung
auf seinen Wunsch aufzuschieben bis zu einer Zeit, in welcher Mangel
an Leichen herrschte.
Dieses Entgegenkommen ging soweit, dass Cosimo von Medici
ihm, als er behufs Lösung der damals noch unentschiedenen4 Frage, ob
das Hymen virginitatis existire, in Verlegenheit war, woher er ein
passendes weibliches Objekt nehmen sollte, den Leichnam einer frommen
Nonne, welche kurz vorher gestorben war, zur Verfügung stellte. Da-
durch konnte, wie Hyrtl bemerkt, dieses wichtige Attribut der Jungfern-
schaft in seine Rechte eingesetzt werden, was vorher nicht möglich
war, da die Jungfern, welche vom Galgen geliefert wurden, sich ge-
wöhnlich nicht mehr im Besitz desselben befanden.
Der praktische Unterricht in der Anatomie bestand hauptsächlich
in der Demonstration der Leiche ntheile; nur ausnahmsweise erhielten
die Studierenden Gelegenheit, selbst an der Zergliederung mitzuarbeiten.
Aus den Statuten der medicinischen Facultäten lässt sich übrigens er-
kennen, dass die Zahl der jährlichen Sektionen, welche zur Ausbildung
der Ärzte gehörten, allmälig zunahm.
In Leipzig wurde 1519 angeordnet, dass jedes Jahr eine Leiche
öffentlich zergliedert werde, da ohne anatomische Zergliederung die
1 Corradi a. a. O. p. 642.
2 K. Colombo a. a. 0. lib. XV, p. 262.
3 F. Platerus: De corp. hum. structura ot usu, Basil. 1583, in der Wid-
mung nach dem Titelblatt.
4 H. Tollin im Biolog. Centralbl. V, 347.
Der medicinische Unterricht. 275
Kenntniss des menschlichen Körpers und seiner Krankheiten unmöglich
sei.1 Die gleiche Vorschrift findet sich in den Statuten, welche der
Herzog Ulrich für Tübingen erliess.
In Prag lag nicht blos das anatomische Studium darnieder, sondern
die ganze Universität war herabgekommen. Der Priester Jacob an der
Teynkirche nannte sie i. J. 1517 ein „verrostetes Kleinod". 2 Medicin
wurde im 15. und 16. Jahrhundert kaum mehr gelehrt. Anatomische
Demonstrationen wurden erst durch Johann Jesensky (Jessenius) ein-
geführt, welcher dort am Schluss des 16. Jahrhunderts eine Professur
der Medicin übernahm.3
Nicht viel besser war es in Wien während der ersten Hälfte des
1 6. Jahrhunderts. Erst nachdem Aichholtz das Lehramt der Anatomie
angetreten hatte, fanden wenigstens in jedem Winter einmal öffentliche
Zergliederungen statt. Doch hörte dies später wieder auf; denn 1567
baten die Studierenden der Medicin, dass wieder einmal eine Sektion
vorgenommen werde, da dies seit mehreren Jahren nicht geschehen sei.
Ihr Gesuch wurde aber abgewiesen; sie wiederholten es daher im
folgenden Jahre, aber mit dem gleichen Erfolge; erst 1571 wurde ihr
Wunsch erfüllt.4
In Basel hat Vesal um 1542 die erste Zergliederung einer mensch-
lichen Leiche veranstaltet. Das Skelett derselben wird neben demjenigen,
welches von Felix Platter präparirt worden ist, noch jetzt im ana-
tomischen Museum der dortigen Universität aufbewahrt.5 Der letztere
unternahm in Gegenwart der Ärzte und Wundärzte und anderer Zu-
schauer in den Jahren 1559, 1563 und 1571 öffentliche Sektionen.
Regelmässige anatomische Demonstrationen wurden jedoch erst ein-
geführt, nachdem C. Bauhin zum Professor der Anatomie und Botanik
ernannt worden war. In Edinburg erhielt die Chirurgen-Zunft i. J. 1505
die Erlaubniss, einmal im Jahre die Leiche eines Gerichteten zu zergliedern.
Die Statuten der medicinischen Eacultät zu Montpellier v. J. 1534
enthalten genaue Angaben, wie sich die Studierenden bei den Sektionen
zu verhalten und wieviel sie dafür zu bezahlen hatten. Im J. 1598
wurde dort ein anatomisches Theater errichtet und ein Prosector mit
100 Thalern Gehalt angestellt.6
1 Zabncke: Statutenb lieber der Universität Leipzig, 1861, S. 39.
2 W. Tomek: Geschieh te der Prager Universität, 1849.
3 J. Hyrtl: Geschichte der Anatomie in Prag, Prag 1841, p. 11.
4 Rosas a. a. 0. II, 85. 89. 104.
5 His im Correspond.-Blatt der Schweizer Ärzte, 1879, S. 121 u. ff.
6 Dubouchet in der Gaz. hebd. d. scienc. med. de Montpellier, 1887, No. 11
u. 17. — Astruc a. a. 0. p. 66 u. ff.
18*
276 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
In Paris wurde das Amt desselben schon 1576 geschaffen; es
wurde mit einem Chirurgen besetzt, welcher die praktischen Ver-
richtungen ausführte, während ein Baccalaureus der Medicin, der sich
durch seine anatomischen Kenntnisse auszeichnete, die theoretischen
Erklärungen aus der Literatur zusammenstellen und vortragen musste.
Der letztere führte den Titel Archidiaconus. Der Prosector hatte eine
sehr abhängige Stellung. Er stand unter der Aufsicht des Professors
der Anatomie, welcher, wie es in den Statuten von 1598 heisst, darauf
achten sollte, dass sich der Prosector nicht herumtreibe, sondern fleissig
mit anatomischen Zergliederungen und Demonstrationen beschäftige
(non sinat dissectorem divagari, sed contincat in officio dissecandi et
demonstrandi). Es wurde ferner bestimmt, dass jährlich mindestens zwei
öffentliche Sektionen veranstaltet würden. Gleichzeitig wurden die Be-
hörden angewiesen, keine Leiche ohne Wissen des Dekans der me-
dicinischen Facultät zu anatomischen Zwecken herzugeben und bei der
Lieferung derselben zunächst die Professoren und Doktoren der Medicin
zu berücksichtigen, und sie nur, wenn die letzteren darauf verzichteten,
den Chirurgen zu überlassen.1
Die mit den anatomischen Demonstrationen verbundenen Kosten
wurden überall von den Zuschauern, also von den Studenten, getragen,2
während die theoretischen Vorlesungen der Professoren seit dem Beginn
des 16. Jahrhunderts unentgeltlich abgehalten wurden.
Bei weitem später als die anatomischen Zergliederungen wurde der
praktische Unterricht in der Heilmittellehre und der Behandlung der
Krankheiten in den Bereich der Universitäten gezogen.
Die Arzneistoffe und ihre Zusammensetzung lernten die Studierenden
in den Apotheken kennen. In Paris wurde 1536 gesetzlich angeordnet,
„dass die Baccalaureen der Medicin die Ärzte bei der Visitation der
Apotheken begleiten sollten, damit sie sich über die Droguen unter-
richten könnten".3 Apotheken gab es damals bereits fast in allen
Städten. Sie waren mit Destillations-Apparaten, chemisch-pharma-
ceutischen Feuerheerden und Öfen, pharmaceutischen Waaren und ver-
schiedenen chirurgischen Utensilien, welche dort zum Verkauf vorräthig
gehalten wurden, ausgestattet.4
1 D. Puylon: Statuts de la faculte de medecine cn Tuniversite de Paris
1672, Art. 56 u. Nachtr. Art. 5. — A. Pinet: Lois, decrets, reglements et circu-
laires conc. les facultes et les ecoles preparatoires de medecine, Paris 1880, I,
Art. 56, Nachtr. Art. 8.
2 Vergl. Cervetto a. a. 0. p. 139.
8 Philippe a. a. 0. S. 153.
4 H. Peters: Aus pharmaceutischer Vorzeit, Berlin 1886, S. 25 u. ff., 111 u. ff.
Der medicinische Unterricht. 277
Durch ein Edikt Ludwig XII. v. J. 1514 wurden die Apotheker
von Paris von der Gemeinschaft mit den Gewürzkrämern, mit denen
sie bis dahin zu einer Zunft vereinigt waren, befreit. Wer sich dem
Beruf des Apothekers widmete, musste, wie es in den von Franz I. er-
lassenen Statuten heisst, eine gute Schulbildung erhalten und soviel
Latein gelernt haben, dass er die in lateinischer Sprache geschriebenen
Lehrbücher der Pharmacie und die Pharmakopoen verstehen konnte,
und hierauf eine vierjährige Lehrzeit in einer Apotheke durchmachen.
In Paris wurde die Einrichtung getroffen, dass sie während der Dauer
eines Jahres in jeder Woche zwei Vorlesungen über die Apothekerkunst
hörten, welche ein dazu geeignetes angesehenes Mitglied der medicinischen
Facultät hielt. Die Prüfung fand vor einer aus Ärzten und Apothekern
bestehenden Commission statt und bestand aus einem theoretischen und
einem praktischen Theile; in dem letzteren musste der Candidat zeigen,
dass er in der Kenntniss der Arzneipflanzen erfahren war, und durch
die Herstellung von fünf Compositionen sein Meisterstück liefern.1
Auch der Unterricht am Krankenbett lag ausserhalb des Lehr-
plans der Universität. Die Studierenden der Medicin wandten sich zu
diesem Zweck an ihren Lehrer oder einen anderen beschäftigten Arzt,
der ihnen in seiner Privatpraxis oder einem Hospital, an welchem er
thätig war, die Gelegenheit bieten konnte, Kranke zu beobachten und
ihre Behandlung zu lernen.
An einigen Hochschulen wurden die Professoren durch gesetzliche
Bestimmungen aufgefordert, ihren Schülern die dazu erforderliche An-
leitung zu geben. In Wien, Heidelberg, Würzburg, Ingolstadt u. a. 0.
erhielten sie den Auftrag, die Studierenden zuweilen an das Bett ihrer
Patienten zu führen, vorausgesetzt dass die letzteren dadurch nicht be-
lästigt würden. In Basel war der Stadtarzt, welcher zugleich das Lehr-
amt der praktischen Heilkunde bekleidete und das städtische Hospital
leitete, verpflichtet, den Studierenden der Medicin den Zutritt zu dem-
selben zu gestatten und die Patienten, welche in diesem Krankenhause
behandelt wurden, vorzustellen. 2 In Paris durften die Baccalaureen der
Medicin unter der Aufsicht der Mitglieder der Facultät und in ihrer
Vertretung die ärztliche Praxis ausüben.3
Aber die systematische Anleitung zur Behandlung der Kranken
1 Philippe a. a. 0. S. 165 u. ff.
2 0. Becker: Zur Geschichte der medicin. Facultät in Heidelberg, 1876. —
A. v. Kölliker: Zur Geschichte der medicin. Facultät in Würzburg, 1871. —
F. Miescher: Die medicin. Facultät in Basel, 1860, S. 32 u. ff. — W. Vischer:
Gesch. d. Univ. Basel, Basel 1860.
3 Pinet a. a. 0. u. Puyton a. a. 0. Art. 59.
278 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit
fehlte; diesen Mangel konnten gelegentliche Beobachtungen und zu-
sammenhanglose Erfahrungen nicht ersetzen. Nicht blos die Ärzte, wie
z. B. der schwedische Leiharzt W. Lemnius,1 sondern auch verständige
Laien sahen dies ein. Der Philosoph P. Ramus forderte i. J. 1562 in
einem Briefe an Carl IX. von Frankreich, in welchem er verschiedene
Reformen des Unterrichtswesens vorschlug, die Einrichtung klinischer
Lehranstalten. 2
Dieser Gedanke war damals bereits verwirklicht worden und zwar
in Padua. Giambattista da Monte (Montanus), welcher gleichzeitig
mit Vesal dort lehrte, soll die klinische Unterrichtsmethode schon 1543
angewendet haben.3 Aber nach seinem Tode (1551) hörte diese Ein-
richtung auf und wurde erst 1578 wieder erneuert.
Um diese Zeit begannen die Professoren Albertino Bottoni und
Marco Oddo, von denen der eine die Abtheilung für Männer, der
andere diejenige für Frauen im Hospital des hl. Franciscus leitete, auf
Verlangen der deutschen Studenten dort Klinik zu halten; auch wurden
die Leichen der Patienten, welche im Krankenhause starben, wenn es
die Jahreszeit gestattete, geöffnet, um den Studierenden den Sitz und
die Ursachen der Krankheiten zu zeigen (sed cum in fine Octobris coeli
constitutio frigidior esset, professores cadavera aperiunt et loca affeeta
auditoribus demonstrant) . Leider wurden die Sektionen schon nach kurzer
Zeit verboten, weil Ungehörigkeiten vorgekommen und Leichentheile
aus der Anstalt verschleppt worden waren.4
Als Bottoni und Oddo starben, Hess der Eifer unter den Lehrern
und Schülern nach, und der Unterricht beschränkte sich zuletzt haupt-
sächlich auf die Untersuchung des Pulses und des Urins.
Die Versuche, den Unterricht in der Heilkunde praktisch zu ge-
stalten, traten jedoch im Lehrplan der medicinischen Facultäten weit
zurück gegenüber den theoretischen Vorlesungen, welche die mass-
gebende Stellung behaupteten. Nach den Statuten der Würzburger
medicinischen Facultät v. J. 1587 gab es dort drei Lehrkanzeln der
Pleilkunde. Der Inhaber der ersten, der Professor der Theorie sollte
1 P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 189.
2 Ch. Jourdain: Histoire de l'universite de Paris au 17 et au 18 siecle,
Paris 1862—66, T. I, p. 3.
3 G. Cervetto: Di Giambattista da Monte e della medicina italiana nel
secolo XVI, Verona 1839, S. 51.
4 A. Comparetti: Saggio della scuola clinica nello spedale di Padova 1793,
p. 6 u. ff. — C. Neubert in d. Beiträgen zur prakt. Heilkunde, her. v. Clarus
u. Radius, Leipzig 1836, II, 148 u. ff. — Dagegen bringt P. A. 0. Mahon (Hi-
stoire de la m^decine clinique, Paris 1804) nichts über den klinischen Unterricht.
Der medizinische Unterricht. 279
im ersten Jahre primam primi libri Avicennae et libros Galeni de mor-
borum differentiis , causis et symptomatibus , im zweiten Galeni artein
medicinalem cum Hippocratis prognosticis, im dritten de pidsibus et winis
nach Actuakius, ferner de victus ratione in morbis acutis nach Hippo-
krates, Galeni de alimentorum facullatibus und Avicennae tertiam primi
vortragen, der Professor der Praxis im ersten Jahre über allgemeine
Therapie lesen und dabei auch den Aderlass und die Purgationen, sowie
das Wesen der Fieber nach Avicenna erörtern, im zweiten und dritten
specielle Pathologie und Therapie der einzelnen Krankheiten vortragen,
und der Professor der Chirurgie im ersten Jahre de tumoribus nach
Gtalen, im zweiten über Geschwüre und Wunden nach Galen, Hippo-
keates und den Arabern, und im dritten über Frakturen und Luxationen
nach Galen und Hippokrates sprechen. Daneben musste er im Sommer
Arzneimittellehre vortragen und die officinellen Pflanzen vorzeigen, und
im Winter Anatomie und Physiologie lehren. Genauer wurde das
Lektionsverzeichniss von den Professoren in den Hundstagsferien fest-
gestellt, damit es mit demjenigen der übrigen Facultäten in den Katalog
aufgenommen und veröffentlicht werden konnte.1
In einem amtlichen Bericht, welcher 1569 über die Lehrthätigkeit
der Professoren der Medicin in Heidelberg erstattet wurde, heisst es:
1 . Professor Curio liest de generibus morborum ex Galeno, erklärt Hippo-
cratis de morborum signis und hat 3 — 4 Zuhörer. 2. Professor Erastus
hält keine Vorlesungen, weil er sich auf der Messe in Frankfurt a. M.
befindet. 3. Professor Siegmund Melanchthon trägt über die Heil-
kunst nach Galen vor und hat etwa 5 Schüler.2
Dieser Bericht wirft auch ein Licht auf die Frequenz der me-
dicinischen Facultäten jener Zeit. Dieselbe war im Vergleich zu heut
sehr gering. In Leipzig gab es selten mehr als 4 — 6 Mediciner. Die
Hochschule zu Basel zählte 1556 2 Professoren und 2 Studenten der
Medicin.3 In Erfurt wurden in dem Zeitraum von 1392 — 1520 neben
120 Doktoren der Theologie und 40 der Jurisprudenz nur 5 Doktoren
der Medicin creirt.
Viele Deutsche bezogen Universitäten des Auslandes, namentlich
Paris, Bologna, Padua und Montpellier. In Padua gab es i. J. 1564
ungefähr 200 Deutsche, welche die Kechts Wissenschaft studierten.4 Die
Mediciner suchten vorzugsweise Montpellier und Padua auf, wie aus
1 A. v. Kölliker a. a. 0. S. 58. — F. v. Wegele: Geschichte der Univer-
sität Würzburg, 1885, II, 191 — 199.
2 J. F. Hautz a. a. 0. 3 Platter a. a. 0. S. 169.
4 Meiners: Geschichte der Entstehung u. Entwickelung der hohen Schulen,
Göttingen 1802.
280 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
zahlreichen Lebensbeschreibungen hervorragender Ärzte des 16. Jahr-
hunderts hervorgeht.1 Ein Göttinger Arzt hinterliess in seinem Testa-
ment 1420 ein Legat von 600 Fl., aus dessen Zinsen ein armer Student
der Medicin durch 4 Jahre in Montpellier erhalten werden sollte.2
Auch Felix Platter begab sich von Basel dorthin, um die me-
dicinischen Studien zu absolviren.
Der ärztliche Stand und seine Stellung zu den
Bewegungen des 16. Jahrhunderts.
Die ärztlichen Prüfungen geschahen nach den gleichen Vorschriften,
wie früher. Doch sanken die akademischen Grade durch die Leicht-
fertigkeit, mit der sie an manchen Hochschulen verliehen wurden, sehr
im Werth. Schon 1503 klagte man darüber, dass „Pferdehändler, Vieh-
händler und andere gemeine Leute, die von Aristoteles nicht das
Geringste wissen und nicht einmal die ersten Elemente der Grammatik
kennen", die Magister-Würde in der philosophischen Facultät zu Paris
erlangten. 3
An einigen französischen Universitäten wurde sogar der medicinische
Doktor-Grad für Geld verkauft. König Franz I. fühlte sich dadurch
veranlasst, nur die medicinischen Diplome von Paris und Montpellier
anzuerkennen. 4
In Padua entstand die seltsame Sitte, dass die Examinanden Bei-
stände zur Prüfung mitbringen durften, welche ihnen die Antworten
auf die Fragen, die gestellt wurden, zuflüsterten. Noch bequemer wurde
es den Prüflingen gemacht, wenn man ihnen, wie Augustin Leyser
in Helmstädt berichtet, die Fragen nebst den Antworten vorher schrift-
lich übergab.5 Dazu kam, dass die Doktor-Würde nicht blos von den
Universitäten, sondern auch vom Pabst und vom Kaiser verliehen wurde.
1 Melchior Adam: Vitae G-ermanorum medicorum, Heidelberg 1620. —
A. Budinszky: Die Universität Paris und die Fremden an derselben im Mittel-
alter, Berlin 1876, S. 115 u. ff.
2 Schmidt: Göttinger Urkundenbuch II, 20.
3 Bulaeus: Hist. Universität. Paris 1673, T. VI, p. 11.
4 H. Tollin in Virchow's Archiv 1880, Bd. 80, S. 66 u. im Biol. Centralblatt
Bd. V, S. 341.
5 C. Meiners: Über die Verfassung und Verwaltung deutscher Universi-
täten, Göttingen 1801, I, 328 u. ff. u. C. Meiners: Geschichte der Entstehung u.
Entwickelung der hohen Schulen, I, 188.
Der ärztliche Stand u. seine Stellung zu den Beivegungen des 16. Jahrh. 281
Im 14. Jahrhundert erhielten sogar die Pfalzgrafen das Recht, Doktoren
zu ernennen, ebenso wie sie bekanntlich auch befugt waren, uneheliche
Kinder zu legitimiren.
Für solche Verhältnisse mochte manchmal die drastische Schilderung
passen, welche Petrarca von der Doktor-Promotion hinterlassen hat.
„Da erscheint der junge Mann, bläht sich auf und murmelt einiges
unverstandenes Zeug, während ihn das Volk anstaunt und seine Freunde
ihn mit Beifall begrüssen. Dabei werden die Glocken geläutet, Trompeten
geblasen, Ringe und Küsse gewechselt und ihm das runde Barett des
Meisters auf das Haupt gesetzt. Hierauf kommt derjenige, welcher als
Dummkopf den Katheder bestiegen hatte, als weiser Mann herab. Dies
ist eine Verwandlung, von welcher Ovid nichts wusste". l
Viele Studierende verzichteten wegen der Kostspieligkeit und der
geringen Achtung der Doktor- Würde gänzlich darauf, dieselbe zu er-
werben. Daraus erklärt es sich vielleicht, dass man die Diplome ver-
schiedener hervorragender Ärzte, wie Jac. Sylvius, Vesal, M. Servet,
J. Thibault u. A. nicht aufzufinden vermochte.
Die Chirurgen waren von der Erlangung des medicinischen Doktor-
Grades überhaupt ausgeschlossen. Nur in Italien, wo die Trennung der
Chirurgie von der übrigen Heilkunde niemals so vollständig war, wie
in den übrigen Ländern, machte man eine Ausnahme.
Auch in Frankreich empfingen die Chirurgen eine wissenschaftliche
Ausbildung. Das College de St. Cöme erhielt 1545 das Recht, akademische
Grade zu verleihen. Die Zöglinge desselben mussten 4 Jahre studieren
und nicht blos Vorlesungen über Chirurgie, sondern auch über Anatomie,
Arzneimittellehre u. a. m. hören. Leider dauerten die Eifersüchteleien und
Streitigkeiten zwischen der chirurgischen Facultät, wie man das College
de St. Cöme nennen kann, und der medicinischen zum Schaden der
gemeinsamen Wissenschaft auch in dieser Zeitperiode fort.
Die Ärzte waren bemüht, den Chirurgen in den sogenannten
Barbier-Chirurgen ebenbürtige Gegner zu schaffen, indem sie Sorge
trugen, dass die letzteren eine grössere Summe von allgemeinen und
fachwissenschaftlichen Kenntnissen erwarben. Wenn dies zu manchen
Unzuträglichkeiten zwischen den beiden Klassen von Wundärzten führte,
so hatte es doch das Gute, dass dadurch hochbegabten Mitgliedern des
niederen Chirurgen-Standes die Möglichkeit geboten wurde, sich zu
Chirurgen, zu Operateuren in unserem Sinne zu entwickeln. Das Bei-
spiel eines Ambroise Pare zeigt, wieviel die Chirurgie und damit die
Medicin überhaupt, diesem Umstände zu verdanken hat.
1 Petrarca: De vera sapienta, Dial. I. (Op. ed. Basil. 1554, p. 365.)
282 Der medicinische Unterricht in der Neuzeil.
Freilich verfolgte die medicinische Facultät bei ihrem Vorgehen
nicht diesen löblichen Zweck, sondern sie wollte das Ansehen der
Chirurgie darnieder drücken und die Vertreter derselben zu ihren er-
gebenen Dienern machen, welche ihre geistige Überlegenheit bereitwillig-
anerkannten. Dieser Standpunkt kennzeichnet sich deutlich in den
Worten M. Servins, welcher 1607 schrieb, „que la science n'est pour
ceux qui n'ont que la main, qu'ils doivent laisser ä juger aux medecins.1
Als einer der Professoren, Robert le Secq, in der Prüfung der Chirurgen
i. J. 1606 auch die Physiologie berührte und auf die Thätigkeit der
Muskeln, den Mechanismus der Respiration u. ä. m. einging, protestirte
die medicinische Facultät dagegen, weil dies wissenschaftliche Streit-
fragen seien.2
In Deutschland und anderen Ländern erhob sich die Chirurgie
selten über das Handwerk. Nur an einzelnen Universitäten wurde die-
selbe gelehrt. In Wien wurde 1537 ein Professor der Chirurgie an-
gestellt, welcher eine jährliche Besoldung von 52 fl. erhielt.3
Die deutschen Wundärzte gingen fast ohne Ausnahme aus dem
Stande der Barbierer und Bader hervor. Sie erlernten bei einem Meister
die Behandlung der Wunden und Geschwüre, der Frakturen und Luxa-
tionen und bildeten sich dann in Spitälern und im Militärdienst weiter
aus. Einzelne, wie Hieronymus Brunschwyg, Hanns von Gersdore,
Felix Würtz u. A. erwarben sich eine bedeutende operative Geschick-
lichkeit.
Der Mangel an studierten Ärzten, welcher in Deutschland herrschte,
und die vielen Kriege und Seuchen, welche dieses Land im 16. Jahr-
hundert zu ertragen hatte, Hessen die Chirurgen als eine Notwendig-
keit erscheinen; dazu kam, dass ihnen mit der Behandlung der äusseren
Leiden auch diejenige der Geschlechtskrankheiten zufiel. Da sie die
Ärzte an praktischer Gewandtheit und Erfahrung häufig übertrafen,
dem Volk in socialer Beziehung näher standen und billigere Forde-
rungen für ihre Dienste stellten, so erfreuten sie sich einer grossen
Beliebtheit. Viele wurden als Leibärzte an fürstlichen Höfen, im Com-
munaldienst oder in hervorragenden ärztlichen Stellungen beim Heere
beschäftigt.
Die Ärzte nahmen an den geistigen Bewegungen des 16. Jahr-
hunderts lebhaften Antheil. Wie immer, so schlössen sie sich auch
damals in ihrer grossen Mehrheit der freiheitlichen Richtung an.
Es war leicht begreiflich, dass der zum Radikalismus neigende
1 D. Püylon: Statuts de la faculte de medeciue, Paris 1672.
2 Hazon a. a. 0. 3 Rosas a. a. 0. IT, 51.
Der ärztliche Stand u. seine Stellung zu den Bewegungen des 16. e/ahrh. 283
Paracelsus allen Strömungen, welche sich gegen die bestehenden Auto-
ritäten richteten, mit Begeisterung folgte und ihr Anwachsen zur ver-
heerenden Fluth ersehnte. Aber auch die besonnenen, ruhig urtheilenden
Männer führte ihre Überzeugung in das Lager der Reformation, nament-
lich als sie sahen, dass sich dieselbe innerhalb der Grenzen der natür-
lichen Entwicklung vollzog.
Die Heerführer des Protestantismus widmeten der Medicin ein
reges Interesse. Martin Luther Hess seinen Sohn Paul die Heilkunde
studieren; derselbe wirkte später als Leibarzt in Gotha, Berlin und
Dresden und trat auch als medicinischer Schriftsteller auf. Melanch-
thon's Schwiegersohn, Caspar Peucer, war Professor der Medicin in
Wittenberg, sein Neffe Siegmund in Heidelberg. Adam von Boden-
stein, der Sohn des Theologen Karlstadt, übte in Basel die ärztliche
Praxis aus. Crato von Crafftheim vertauschte auf Martin Luther's
Rath das Studium der Theologie, welches er unter dessen Leitung be-
gonnen hatte, mit demjenigen der Heilkunde; er hat darin grosse Er-
folge errungen und als Leibarzt in Wien bei drei Kaisern hervorragende
Dienste geleistet. Er war der Mittelpunkt des Protestantismus in
Breslau und später der eifrigste Vertreter desselben am Wiener Hofe. 1
Auch sein College Diomedes Cornarus (Hagenbutt), Leibarzt des
Kaisers Maximilian IL, gehörte wahrscheinlich diesem Glauben an.
In Wien erklärten sich i. J. 1584 drei Ärzte vor ihrem Tode für
confessionslos, und ein vierter verbat sich das Glockengeläut bei seinem
Begräbniss und verlangte, dass sein Leichnam in ungeweihter Erde
bestattet werde. Der Doktor der Medicin Caspar Pirchpach liess,
als er 1568 das Rectorat der Wiener Universität bekleidete, die For-
derung der Statuten, dass sich die Lehrer derselben zum römisch-katho-
lischen Glauben bekennen sollen, beseitigen und das Wort eatholicae
durch christianae (fidei) ersetzen. Gleichzeitig wurde bestimmt, dass
Angehörige der Augsburgischen Confession zur Doktor -Promotion zu-
gelassen wurden.2 Sogar in Ingolstadt, dem Mittelpunkt der kirchlichen
Reaktion, huldigten mehrere Professoren der medicinischen Facultät
einer freieren religiösen Meinung; sie wurden deshalb durch den Je-
suitismus, der bald darauf dort zur Herrschaft gelangte, aus ihren Stel-
lungen gedrängt.3
Als das 16. Jahrhundert zu Ende ging, hatten die geistigen Be-
wegungen, mit denen es begonnen hatte, fast überall den Sieg errungen.
1 J. F. A. Gillet: Crato von Crafftheim u. seine Freunde, Frankfurt a/M.
1860, IT, 14.
2 Patjlsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts, S. 272.
3 Prantl a. a. 0. T, 319.
284 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Soweit sie einen revolutionären Charakter trugen, waren sie allerdings
gescheitert; aber sie erreichten ihr Ziel, wenn sie sich innerhalb ver-
nunftgemässer Reformen bewegten. Ihr grösster Erfolg bestand jedoch
darin, dass selbst ihre Gegner genöthigt wurden, ihre Berechtigung
anzuerkennen, die bisherigen Wege verliessen und neue Bahnen ein-
schlugen.
Wohl nirgends hatte die Pflugschar der geistigen Arbeit tiefere
Furchen gezogen, als auf dem Boden der Naturwissenschaften und der
Medicin. Doch muss ihre Bedeutung nicht so sehr in Dem, was er-
reicht wurde, gesucht werden, als in Dem, was die Zukunft der wissen-
schaftlichen Forschung versprach.
Erleuchtete Geister, wie Francis Bacon von Yeeulam, begannen
zu erkennen, welche massgebende Rolle den Naturwissenschaften in der
Cultur- Entwicklung der Menschheit beschieden war. Dieser hervor-
ragende englische Staatsmann und Philosoph, welcher gleichsam das
Facit aus den geistigen Errungenschaften des 16. Jahrhunderts zog,
erklärte, dass der induktive Empirismus allein die Lösung der Fragen
zu bieten vermag, welche die wissenschaftliche Forschung anstrebt.
War er auch selbst nicht im Stande, die Wissenschaft durch neue
Entdeckungen zu bereichern, so hat er ihr doch die Wege gewiesen,
welche zu ihnen führen. Er hat allerdings den richtigen Zusammen-
hang mancher Erscheinungen geahnt, deren klare Erkenntniss den
späteren Jahrhunderten vorbehalten war. So sprach er bereits die
Vermuthung aus, dass die Luft der Pflanze zur Nahrung dient, dass
die Farbe eine Modifikation des Lichts, die Wärme eine Form der Be-
wegung sei, und dass es dereinst gelingen werde, die Mineralquellen
künstlich nachzubilden.1 Er wies auf den Werth der Vivisektionen,
auf die Bedeutung der pathologischen Anatomie, der Statistik der
Heilungs-Resultate u. a. m. hin. Aber seine verdienstvollsten Leistungen
liegen auf dem Gebiet der Erkenntnisstheorie; er hat die Methode der
Forschung so klar und ausführlich entwickelt, wie es vor ihm noch
niemals geschehen war.
Bacon war weder jener seichte hohle Schwätzer ohne jede Origi-
nalität der Gedanken, wie ihn Einige dargestellt haben, noch jener
schöpferische Genius, aus dessen Haupt die Wissenschaft in vollendeter
Schönheit entsprang, wie ihn Andere geschildert haben. Er glich dem
Zeiger am Zifferblatt der Uhr, welcher uns sagt, wie weit die Zeit
vorgeschritten war.
1 H. v. Bamberger: Über Bacon von Verulam, Würzburg 1865, S. 15. 21 u. ff.
Die experimentelle Richtung der Naturwissensch. etc. während d. 1 7. Jahrh. 285
Die experimentelle Richtung der Naturwissenschaften,
der Physik und Chemie während des 17. Jahrhunderts.
Die Erwartungen, welche der Aufschwung der Naturwissenschaften
im 16. Jahrhundert erregt hatte, wurden im folgenden Jahrhundert
im reichsten Maasse erfüllt. Hatte man sich vorher darauf beschränkt,
die Thatsachen in der Natur zu beobachten und die Existenz der Dinge
festzustellen, so begann man jetzt, nach deren Ursachen zu forschen
und ihre gegenseitigen Beziehungen zu ergründen. Man wollte die
Vorgänge im organischen Leben in ihrer Entwickelung kennen lernen
und stellte zu diesem Zweck Versuche an, bei denen das Vorgehen der
Natur auf künstliche Weise nachgeahmt wurde.
Das Experiment trat in den Vordergrund und gab der Denkweise
des 17. Jahrhunderts eine charakteristische Färbung. Kein Gebiet des
geistigen Schaffens wurde dadurch mehr berührt, als die Naturwissen-
schaften und die Medicin. Sie verdankten dieser Eichtung die An-
regung zu neuen Forschungen und gewannen dabei diejenige Sicherheit
ihrer Lehren, welche zum Wesen der Wissenschaft gehört.
Die Physik, Chemie und Physiologie, also diejenigen Disciplinen,
welche hauptsächlich auf das Experiment angewiesen sind, wurden in
dieser Zeit durch eine Menge Entdeckungen bereichert. Für sie begann
eine neue Periode ihrer Geschichte.
Auch die Mineralogie, Botanik, Zoologie und Anatomie machten
bedeutende Fortschritte. Die Krystallographie wurde durch die Beobach-
tungen Nie. Steno's und Gulielmini's über die Streifung und Zu-
sammensetzung der Krystalle und die Unveränderlichkeit der Winkel
gefördert. Bob. Boyle bemerkte die Krystallisation des Wismuths aus
dem Schmelzfluss, und der dänische Arzt Eeasmus Baetholinus fand
am isländischen Kalkspath die doppelte Strahlenbrechung (1670), welche
dann von Huygens genauer untersucht wurde und für seine Undu-
lations-Theorie des Lichts von Bedeutung war.1
Gleichzeitig erfuhr die Botanik wichtige Veränderungen. Während
die specielle Pflanzenkenntniss durch zahlreiche Arbeiten über die Flora
einzelner Gegenden und Länder vermehrt wurde, trugen die verschie-
denen Versuche, die Pflanzen nach der Ähnlichkeit ihrer Organe in
Familien und Gruppen zu sondern, dazu bei, dass ihr Bau genauer
studiert wurde. Aber erst die Begründung der Phytotomie durch
Malpighi und Geew und ihre vortrefflichen Untersuchungen der fei-
1 F. v. Kobell: Geschichte der Mineralogie, München 1864, S. 8 u. ff.
286 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
neren Struktur der Pflanzen, besonders ihre Arbeiten über die Blüthen,
Früchte und Samen, sowie der experimentelle Beweis der Sexualität im
Pflanzenreiche durch R. J. Camerarius ermöglichten die Aufstellung
eines Systems, welches den Forderungen der Wissenschaft entsprach.
Linne, welcher diese Aufgabe löste, gab der Botanik durch die
mit der Durchführung der binären Nomenclatur verbundene methodische
Charakteristik der Gattungen und Arten eine bestimmte abgeschlossene
Form, neben welcher die Entdeckung eines natürlichen Systems als
wünschenswerthes Postulat der Zukunft vorbehalten blieb.1
Der Zoologie wurde mit der Verwendung der Loupe und des
Mikroskops zu wissenschaftlichen Untersuchungen eine neue Welt von
Lebewesen erschlossen, von deren Dasein man bis dahin keine Ahnung
gehabt hatte. Leeuwenhoek entdeckte die Infusionsthierchen, beschrie 1)
einzelne Räderthiere, beobachtete die facettirten Augen der Insekten
und studierte die Entstehung und Entwickelung verschiedener niederer
Thierarten. Malpighi gab über die Struktur und Zusammensetzung
der Organe des thierischen Körpers merkwürdige Aufschlüsse und
sprach bereits den Gedanken aus, dass der complicirte Bau der höher
entwickelten Organismen dem einfacheren der niederen Wesen analog
ist und durch ihn verständlich wird. Er kam sogar der Entdeckung
der thierischen Zelle schon ziemlich nahe, während Rob. Hooke auf
den zelligen Bau der Pflanzen aufmerksam machte.
Die zootomischen Arbeiten Swammerdams, von deren Genauigkeit
seine Untersuchungen mehrerer Mollusken, der Urogenital-Organe des
Frosches, der Anatomie der Biene u. a. m. Zeugniss geben, und die
Beobachtungen F. Redi's über die Urzeugung, durch welche er den
Nachweis lieferte, dass sich im faulenden Fleische keine Maden ent-
wickeln, wenn man die Fliegen davon abhält, übten natürlich auf die
wissenschaftlichen Anschauungen einen klärenden Einfluss aus. Auf
Grund dieser Ergebnisse durften dann John Ray, J. Tn. Klein, Linne
u. A. den Versuch machen, durch eine systematische Klassifikation der
Thiere das Studium derselben zu erleichtern und eine übersichtliche
Darstellung der zoologischen Wissenschaft zu liefern.2
Die bedeutendsten Umgestaltungen erlebten in jener Zeit aber die
Physik und die Chemie. Als die letztere durch Paeacelsus und seine
Anhänger von der Alchymie abgelenkt und auf die Arzneimittellehre
hingewiesen wurde, da nahm sie einen Aufschwung, welcher für die
1 J. Sachs: Geschichte der Botanik, München 1875, S. 84 u. ff., 246 u. ff.,
417 u. ff.
2 V. Cakus: Geschichte der Zoologie, München 1872, S. 386 u. ff.
Die experimentelle Richtung der Naturwissensch. etc. ivährend d. 17. Jahrh. 287
Medicin wie für die Chemie gleich segensreich war. Es wurde eine
grosse Anzahl neuer Arzneien entdeckt und die Technik ihrer Bereitung
in mannigfacher Weise gefördert.
Vielleicht nicht weniger bedeutend war die Wirkung, welche die
chemischen Anschauungen und Kenntnisse auf die Physiologie und
Pathologie ausübten. Ein Theil der Ärzte sah in allem organischen
Geschehen Gährungs- und Zersetzungsprozesse und wollte die meisten
Äusserungen des gesunden und kranken Körpers durch chemische Vor-
gänge erklären. Diese chemiatrische Richtung ging manchmal zu weit,
indem sie sich an Aufgaben wagte, deren Lösung bei der geringen
Entwicklung, welche die Chemie zu jener Zeit erlangt hatte, unmög-
lich war; aber sie hatte das grosse Verdienst, dass sie die Ärzte an
den Gedanken gewöhnte, von der Spekulation wenig, von der Unter-
suchung der Thatsachen viel, wenn nicht Alles zu erwarten.
Die Chemie verdankte dieser Erkenntniss viele Entdeckungen und
eine bedeutende Vermehrung ihres Inhalts. Der Arzt Libavius erfand
die Bereitung der Schwefelsäure aus Schwefel und Salpeter und er-
kannte, dass sie identisch war mit derjenigen, welche sich aus Vitriol
oder Alaun bildet. Er stellte zuerst das Doppelt-Chlorzinn durch
Destillation des Quecksilbersublimats mit Zinn dar und kannte die
Färbung der Glasflüsse durch Zusatz von Gold. Turquet de Mayerne
lehrte die Sublimation der Benzoe-Blumen.
Auch J. B. van Helmont bereicherte die Chemie mit einer Menge
neuer Thatsachen. Er sprach den Satz aus, dass nur diejenigen Metalle
aus einer Lösung ausgeschieden werden, welche schon vorher darin ent-
halten waren, und gab damit der Goldmacherkunst den Todesstoss. Er
entdeckte die Kohlensäure und führte den Begriff der Gase für Luft-
arten, welche nicht mit der atmosphärischen Luft übereinstimmen, in
die Chemie ein. Von der experimentellen Methode seiner Forschung
liefert der Versuch, welchen er anstellte, um den Antheil des Bodens,
des Wassers und der Luft an der Ernährung der Pflanze zu studieren,
einen deutlichen Beweis.
In den Schriften Glaubers, welcher über das schwefelsaure Natron
und mehrere andere Salze genauere Aufschlüsse gab, findet sich sogar
schon ein ahnungsvolles Verständniss der chemischen Verwandtschaft.1
Eine tiefere Begründung erhielt dieselbe durch Robert Boyle, welcher
in seiner Corpuscular-Theorie die Auflösung chemischer Verbindungen
in ihre Bestandtheile und deren Vereinigung mit denjenigen anderer
1 Kopp a. a. 0. I, 111. 114. 120 u. ff 130.
288 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit
chemischer Verbindungen durch die Anziehung und Abstossung, welche
sie aufeinander ausüben, zu erklären suchte.
Mit Boyle begann die Zeit, da man die Chemie um ihrer selbst
willen studierte und nicht mehr als blosses Hilfsmittel betrachtete, um
den Stein der Weisen zu finden, wie die Alchymisten, oder um neue
Medicamente darzustellen, wie die Chemiatriker. Er entdeckte die
Phosphorsäure, das Kupferchlorür, die flüchtige Schwefelleber und war
der Erste, welcher das entgegengesetzte Verhalten der Säuren und
Alkalien gegenüber gewissen Pflanzenfarben beobachtete. Von ihm
rührt der Gebrauch her, Papierstreifen mit Pflanzenfarben zu tränken
und als Reagentien zu benutzen. Boyle erwarb sich grosse Verdienste
um die Begründung der analytischen Chemie, sowie um die Verwendung
der Chemie zu technischen Zwecken.1
An dem weiteren Aufbau der wissenschaftlichen Chemie nahmen
Kunkel, Becher, W. Homberg, Lemery, Stahl, F. Hoeemann, welcher
sich vorzugsweise mit der chemischen Untersuchung der Mineralquellen
beschäftigte und z. B. in dem Seidlitzer Mineralwasser das Bittersalz
auffand, Marggraf, der Begründer der Runkelrübenzucker-Fabrikation,
du Hamel, der auf die Verschiedenheit des Natrons und Kali auf-
merksam machte, die Darstellung der Soda lehrte und ihr Vorkommen
in der Asche von Pflanzen, die an der Meeresküste wachsen, nachwies,
H. Cavendish, dessen Untersuchungen über das Wasserstoffgas, welches
er leider für das gesuchte, nicht existirende Phlogiston hielt, über die
Wirkungen, das specifische Gewicht und die Absorbirbarkeit der Kohlen-
säure durch Wasser, Öl und Alkohol hier Erwähnung verdienen, Berg-
mann, welcher die Lehre von der chemischen Verwandtschaft bearbeitete,
Scheele, der sich um die organische Chemie Verdienste erwarb und
ausser verschiedenen Pflanzensäuren die Milchsäure und die Harnsäure
entdeckte, aber auch die anorganische Chemie durch die Auffindung
mehrerer neuer Elemente, wie das Chlor und Mangan, förderte, u. A.
einen hervorragenden Antheil. Viele unter ihnen waren zugleich Ärzte
und widmeten daher den Beziehungen der Chemie zur Medicin ihre
besondere Aufmerksamkeit.
Leider wurde der Fortschritt der Chemie beeinträchtigt durch vor-
gefasste irrige Meinungen, welche sich zu Dogmen von allgemeiner
Geltung entwickelt hatten. So nahm man an, dass der Verbrennungs-
prozess von dem Vorhandensein eines Stoffes, den man Phlogiston
nannte, abhängig sei, und dass die grössere oder geringere Verbrenn-
lichkeit eines Körpers darauf beruhe, in welcher Menge er diesen
1 Kopp a. a. 0. I, 165 u. ff.
Die eorperimentelle Richtung der Natur luissensch. etc. während d. 17. Jahrh. 289
hypothetischen Brennstoff enthalte. Die phlogistische Theorie, nach
deren Analogie man den Säuren einen sauern Stoff, die sogenannte
Ursäure, und den kaustischen Alkalien einen kaustischen Stoff zu Grunde
legte, beherrschte die Geister nahezu ein Jahrhundert und wurde erst
durch Lavoisiee beseitigt.
Ein glücklicherer Stern waltete über der Physik,1 indem die
Forscher hier nicht durch haltlose unbegründete Hypothesen in ihrem
Urtheile beeinflusst und auf Irrwege geleitet wurden, sondern ihre ganze
geistige Kraft dazu gebrauchten, Bausteine herbeizutragen, welche zu
der Errichtung eines Lehrgebäudes der wissenschaftlichen Physik ver-
wendet werden konnten.
Galilei, dessen Leistungen in der Astronomie und dessen Martyrium
für seine Überzeugung bekannter sind als seine Verdienste um die
Physik, entdeckte die Fall- und Pendelgesetze. Er erkannte die Be-
deutung des Satzes vom Parallelogramm der Kräfte und versuchte - mit
Hilfe desselben die Bahn geworfener Körper zu bestimmen. Gleich-
zeitig mit Stevinus bearbeitete er auch die Hydrostatik und Hydro-
dynamik. „Wenn ein Einzelner auf die Ehre des Begründers einer so
vielfach verzweigten Wissenschaft, wie die Physik ist, Anspruch machen
kann, schreibt Poggendoree (a. a. 0. S. 268), so ist sie unbedenklich
keinem Andern als Galilei zu ertheilen; denn er hat den Grund zu
der wissenschaftlichen Mechanik gelegt, die alle übrigen Theile der
Physik mehr oder weniger als Nerv durchzieht".
Schon 1597 verfertigte Galilei einen Thermometer, mit dessen
Herstellung sich auch Bob. Fludd, Sanctoeius und Coen. Dbebbel
beschäftigt haben.
Galilei's hochbegabter Schüler Toericelli stellte die Gesetze des
Ausfliessens von Flüssigkeiten aus Röhren fest, erfand (1643) den Baro-
meter und erklärte die Veränderungen des Luftdruckes für die Ursachen
des Steigens und Fallens der Quecksilbersäule. Pascal lieferte dafür
unwiderlegbare Beweise und zeigte, dass man mit Hilfe des Barometers
die Höhenunterschiede zweier Orte feststellen kann. Maeiotte, J. Pecquet
und Sinclair führten diesen Gedanken weiter aus und brachten ihn
seiner Verwirklichung näher. Pascal construirte einen Wein-Barometer,
während Berti und 0. v. Guericke statt des Quecksilbers Wasser in
die Röhre einschlössen.
Der Bürgermeister von Magdeburg und ehemalige Ingenieur der
Festung Erfurt, Otto von Guericke, ersann die Luftpumpe und setzte
die auf dem Reichstage zu Regensburg i. J. 1654 versammelten Fürsten
1 J. C. Poggendorff, Geschichte der Physik, Leipzig 1879, S. 204 u. ff.
Puschmann, Unterricht. ig
290 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
durch die Versuche, welche er damit anstellte, in kein geringes Er-
staunen. Er machte gute Beobachtungen über das Gewicht der Luft
und verfertigte den ersten Manometer, um den Grad der Dichtigkeit und
des Druckes der Luft zu messen. Auch wies er nach, dass im luftleeren
Baume kein Ton zu Stande kommt und keine Verbrennung stattfindet.
Seine Beobachtungen wurden durch Boyle vervollständigt, welcher
die Elasticität der Luft genauer studierte und das irriger Weise nach
Mariotte genannte Gesetz entdeckte, dass die Volumina derselben Luft-
masse im umgekehrten Verhältnisse zu dem auf ihnen lastenden Drucke
stehen.
Um die gleiche Zeit versuchte man die Geschwindigkeit des Schalles
zu bestimmen. Gassendi gab an, dass derselbe in einer Sekunde einen
Weg von 1473 Fuss zurücklege. Meksenne kam der Wahrheit schon
etwas näher, indem er diese Zahl auf 1380 Fuss ermässigte. Waren
auch die Kesultate, zu denen sie gelangten, unrichtig, so schlugen sie
doch die richtige Methode der Untersuchung ein, und dies war schon
ein ausserordentlicher Fortschritt. Selbst ein Newton vermochte nicht
alle Fehlerquellen zu vermeiden; er berechnete die Geschwindigkeit des
Schalles auf 906 Pariser Fuss in der Sekunde, weil er, wie Laplace
gezeigt hat, den Einfluss der Wärme nicht genügend berücksichtigte.
Die bedeutendsten Fortschritte geschahen in der Optik. Sie wurden
begünstigt und zum Theil überhaupt erst ermöglicht durch verschiedene
Instrumente, deren Erfindung in jene Zeit fiel. Das Fernrohr befähigte
das Auge zum Sehen in die Ferne, das Mikroskop eröffnete ihm die
Einsicht in die Welt des Kleinen. Durch diese beiden optischen Hilfs-
mittel wurde das menschliche Sehvermögen in ungeahnter Weise ver-
stärkt und der Forschung Gebiete erschlossen, welche jenseits der natür-
lichen Grenzen des menschlichen Erkennens lagen.
Die Heimath dieser Erfindungen war Holland. Wem ihre Priorität
gebührt, ist zweifelhaft; doch scheint es, dass die Brüder Janssen,
welche im Beginn des 17. Jahrhunderts als Glasschleifer in Middelburg
lebten, wenigstens in Bezug auf das zusammengesetzte Mikroskop die
meisten Ansprüche darauf haben. Es ist hier nicht meine Aufgabe,
auf die Geschichte dieser Entdeckung näher einzugehen, und auch über-
flüssig, da sie von Haeting eine ziemlich erschöpfende Darstellung
erfahren hat. l Welche ausserordentliche Bedeutung das Mikroskop für
die Naturwissenschaften erlangt hat, lässt sich mit Worten nicht ge-
nügend schildern.
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1 P. HARTrNG: Das Mikroskop, ins Deutsche übers, v. Theile, III. Theil,
Braunschweig 1866.
Die experimentelle Richtung der Naturwissensch. etc. während d. 17. Jahrh. 291
Die Instrumente wurden allmälig in mannigfacher Weise ver-
bessert und vervollkommnet. Die Erfindung der Spiegel-Teleskope durch
James Gregory, diejenige des Mikrometers oder Fadenkreuzes durch
Bob. Hooke, die erste Construktion achromatischer Linsen aus einer
Combination von Krön- und Flintglas durch More Hall u. a. m.
schlössen sich später daran an.
Man wagte sich jetzt sogar an die schwierigen Probleme des Lichts
und der Farben. Der grosse Denker Descartes (Cartesius), dem die
Mathematik die Einführung der negativen Wurzeln der Gleichungen
und die Begründung der analytischen Geometrie verdankt, versuchte
eine Erklärung des Kegenbogens und entwickelte dabei das Gesetz des
Einfalls- und Keiiexwinkels. Snell stellte das Verhältniss der Medien
zu der Brechung der Lichtstrahlen fest, und Grimaldi entdeckte die
Diffraction oder Inflexion des Lichts, sowie die Dispersion oder Farben-
zerstreuung.
Schon der Letztere, noch mehr aber Hooke, als er seine Be-
obachtungen über die Farben dünner Blättchen veröffentlichte, hatte
eine Ahnung von der wellenförmigen Bewegung des Lichts, welche
Huygens, gestützt auf das Phänomen der doppelten Strahlenbrechung,
in seiner Undulations- Theorie zu einer wissenschaftlichen Thatsache
erhob. Freilich dauerte es länger als ein Jahrhundert, bis sie allgemein
anerkannt wurde; denn Newton hatte behauptet, dass das Licht aus
konkreten Theilchen bestehe, die mit grosser Schnelligkeit vom leuchten-
den Körper ausgesandt werden, und seine Autorität war so mächtig, dass
ihr gegenüber alle Versuche, der Wahrheit zum Siege zu verhelfen,
vergeblich waren. Erst 1815 gelang es den Bemühungen eines Fresnel
und Araoo, der Undulations-Theorie überall Eingang zu verschaffen.
Aus dem Ende des 17. Jahrhunderts stammen auch die ersten
Mittheilungen über die Erscheinungen der Polarisation, welche Newton
zwar beobachtete, aber selbstverständlich nicht zu erklären vermochte.
Dagegen kam er bei seinen Versuchen über die Dispersion des Sonnen-
lichts, welche er in der Weise anstellte, wie es schon Grimaldi und
vor diesem der Prager Arzt Marcus Marci von Kronland gethan hatten,
zu dem wichtigen Ergebniss, dass das weisse Licht aus unzählig vielen
Farbenstrahlen von verschiedener Brechbarkeit zusammengesetzt wird
und jedem Grade von Brechbar keit eine bestimmte Farbe entspricht.
Newtons Ansicht über die Entstehung und das Wesen der Farben war
nicht richtig; es scheint, dass hier Leonh. Euler zuerst (1746) den
richtigen Zusammenhang geahnt hat.
Dem 17. Jahrhundert gehören ferner eine Anzahl physikalischer
Entdeckungen an, welche die Cultur nach verschiedenen Richtungen
19*
292 Der medicinisehe Unterricht in der Neuzeit.
mächtig gefördert haben. Hooke vervollkommnete die Taschenuhren
durch die Spiralfeder, und Huygens erfand die Pendel-Uhren.
Der Marquis von Worcester, der Kapitän Savery, Moreland,
Papin u. A. studierten die Dampfkraft genauer und ersannen Maschinen
zu ihrer praktischen Verwerthung. Dieselben litten Anfangs an manchen
Unvollkommenheiten. So musste das Öffnen und Schliessen der Hähne
am Einspritzrohr und Dampfrohr von Menschenhand besorgt werden.
Da bemerkte eines Tages ein kluger Bursche, dem dieses Geschäft an-
vertraut war, dass das Drehen der Hähne mit der Bewegung des
Balanciers zusammenhing. Er verband sie daher mit Bindfäden und
sah, dass die Maschine fortan von selbst ging. Der Bindfaden wurde
später natürlich durch andere praktische Vorrichtungen ersetzt. Papin
machte sogar schon den Vorschlag, die Dampfkraft zur Bewegung von
Schiffen zu benutzen.
Auch die ersten Beobachtungen der elektrischen Erscheinungen
reichen in jene Periode zurück.1 Der Engländer Gilbert, welcher den
tellurischen Magnetismus entdeckte, fand, dass die Elektricität durch
Reiben entsteht, aber nicht in allen Körpern erzeugt werden kann und
vom Magnetismus verschieden ist. 0. v. Guericke beobachtete mit
Hilfe eines von ihm construirten Apparates, der eine Vorstufe zur
Elektrisirmaschine bildete, ausser der schon bekannten elektrischen An-
ziehung auch die Abstossung, von der man bis dahin nichts wusste,
sowie das Leuchten und Knistern beim Elektrisiren. Den eigentlichen
elektrischen Funken beschrieb dann der englische Forscher Wall
i. J. 1698, welcher dieses Licht und das beim Elektrisiren entstehende
Knistern bereits mit dem Blitz und Donner verglich. Stephan Gray
stellte (1729) den Unterschied zwischen Leitern und Nichtleitern der
Elektricität durch Experimente fest, zeigte, dass die Elektricität von
einem Körper dem andern mitgetheilt wird, und dass dazu nicht immer
die direkte Berührung erforderlich ist, sondern schon die Annäherung
genügt; er wies ferner nach, dass es bei der Elektrisirung der Körper
nicht auf deren Masse, sondern nur auf ihre Oberfläche ankommt, und
war der Erste, welcher das Wasser und den Menschen elektrisirte und
sich dabei bereits des Isolirschemmels bediente.
Bald darauf machte Düfay die wichtige Entdeckung, dass es zwei
verschiedene Arten der Elektricität giebt, von denen die eine am Glase,
die andere am Harz haftet. Daran schlössen sich die Verbesserungen
der Apparate zur Erzeugung von Elektricität durch Böse, J. H. Winkler
u. A., welche zur Construktion der Elektrisirmaschine führten, ferner
1 E. Hoppe: Geschichte der Elektricität, Leipzig 1884.
Die experimentelle Richtung der Naturwissensch. etc. während d. 17. Jahrh. 293
die Erfindung der Verstärkungsflasche, die ziemlich gleichzeitig von
Musschenbroek in Leyden und dem Baron Kleist in Pommern ge-
macht wurde, sowie die Entdeckung der atmosphärischen Elektricität
durch Le Monnier, die Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin
Franklin und die Herstellung des ersten Elektrometers durch John
Canton.
Endlich müssen hier noch einige Fortschritte in der Physik er-
wähnt werden, welche der gleichen Zeit angehören. Der Thermometer
wurde auf Anregung des Mediceers Ferdinand IL verbessert. Man erfand
auch schon den Differential-Thermometer. Amontons, der das Hygroskop
ersann und den Einfluss der Wärme auf den Barometer studierte, ver-
fertigte den ersten wirklichen Luft-Thermometer. Durch die Graduirung
und Anbringung einer Skala am Thermometer, wodurch sich nament-
lich der Danziger Fahrenheit Verdienste erwarb, wurde seine prak-
tische Verwendbarkeit sehr erhöht.
In Florenz machte man die ersten Beobachtungen über die spe-
cifische Wärme, die man Wärme-Kapacität nannte.
Ale. Borelli gab Aufschlüsse über die schon von Lionardo da
Vinci gekannten Erscheinungen der Capillarität.
Aber alle diese Thatsachen traten an Bedeutung zurück vor J. New-
ton's Entdeckung der allgemeinen Gravitation.1 durch welche die unendlich
complicirten Bewegungen der Himmelskörper nach den allgemein gül-
tigen Gesetzen der Mathematik und Physik erklärt und der Beweis ge-
liefert wurde, dass die letzteren im ganzen Weltall Geltung haben.
Dieser Gedanke übte den grössten Einfluss auf die Emancipation des
menschlichen Geistes von den mystisch-transcendenten Gewalten aus
und gab ihm eine Macht, die in das Gebiet des Überirdischen zu
reichen schien.
Wenn sich Newton sonst kein Verdienst um die Physik erworben
hätte, so würde die Gravitationstheorie genügen, seinen Namen in der
Geschichte dieser Wissenschaft unter den Ersten zu nennen. Er war
einer der grössten Mathematiker und Physiker, die jemals gelebt haben.
Will man die für die Physik an Ergebnissen und Entdeckungen so un-
gemein fruchtbare Geistesrichtung jener Zeit mit einem Wrorte be-
zeichnen, so darf man nur an Newton erinnern, der ihr hervorragendster
Vertreter war.
Welcher mächtige Umschwung in der Denkweise hatte sich voll-
zogen in dem Zeiträume von Galilei bis Newton! Die Naturwissen-
1 W. Whewell: Geschichte der inductiven Wissenschaften, Stuttgart 1840,
II, 158 u. ff.
294 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
schaften, welche noch im 16. Jahrhundert von den herrschenden Auto-
ritäten unterdrückt und bevormundet, von der öffentlichen Meinung mit
Gleichgültigkeit oder Missachtung behandelt und nur von Wenigen ge-
pflegt und thatkräftig gefördert wurden, standen jetzt im Brennpunkte
der geistigen Interessen und durften ohne Scheu die höchsten Probleme
des menschlichen Daseins in den Bereich ihrer Untersuchungen ziehen.
Mit jugendlichem Feuereifer ging die Naturforschung an ihre Auf-
gaben, und die raschen, alle Erwartungen übersteigenden Erfolge, die
sie errang, schienen zu der Hoffnung zu berechtigen, dass ihr keine
Schranke gesetzt sei. Als sich dieselbe nicht erfüllte und der mensch-
lichen Erkenntniss unüberwindliche Hindernisse entgegentraten, da er-
lahmte der Fleiss, und die Arbeit begann zu stocken. Man wandte
sich wiederum anderen Bestrebungen zu, welche mehr Erfolg versprachen,
als die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften.
Auf den siegreichen Aufschwung, welchen die Naturwissenschaften
im 16. und 17. Jahrhundert erlebten, folgte ihr Niedergang oder Still-
stand im 18. Jahrhundert, welches keine wesentliche Vermehrung des
Wissensinhalts brachte, aber unter dem Einfluss einer encyklopädischen
Richtung der Geister zu einer Sammlung und Sichtung der gewonnenen
Ergebnisse führte, die für ihre weitere Entwickelung nützlich und noth-
wendig war.
Die mikroskopische Forschung in der Anatomie und
das Experiment in der Physiologie.
Das 16. Jahrhundert sah die glänzenden Triumphe der Anatomen,
welche den Bau des menschlichen Körpers erforschten; dem 17. Jahr-
hundert drückte das physiologische Experiment, welches eine auf That-
sachen begründete Wissenschaft schuf, die Signatur auf.
Die Anatomie wurde, soweit es durch Untersuchungen mit dem
unbewaffneten Auge möglich war, in ihren wesentlichen Grundzügen
schon im 16. Jahrhundert festgestellt. Die folgenden Zeiten hatten
die Aufgabe, die errungenen Wissens-Resultate zu prüfen, zu berich-
tigen und durch Detailforschungen zu vervollständigen und weiter aus-
zuarbeiten.
Diese Untersuchungen gewannen durch die Loupe und das Mikro-
skop eine Tiefe und Gründlichkeit, welche man früher nicht erreichen
konnte. Die Anatomen widmeten daher ihre Aufmerksamkeit haupt-
sächlich der feineren Struktur der Organe, welche mittelst der neu
Die mikroskop. Forschg. in d. Anatomie u. d. Experiment in d. Physiologie. 295
entdeckten optischen Instrumente in erfolgreicher Weise untersucht
wurde. Die besten Mikroskope besass Leeuwenhoek, welcher sie selbst
zusammensetzte. Sie ermöglichten eine 160 — 270 fache Vergrößerung,
während die Instrumente, welche andere Forscher benutzten, höchstens
eine 143 fache Vergrößerung zuliessen.
Leeuwenhoek schilderte den röhrigen Bau der Knochen und be-
merkte bereits die Knochen -Körperchen, welche später von Purkinje
wieder entdeckt und genauer beschrieben wurden. l Er wies ferner auf
die Schmelzsubstanz der Zähne hin, deren übrige Struktur von Malpighi
aufgeklärt wurde. Clopton Havers entdeckte die noch jetzt seinen
Namen führenden Knochenkanäle;2 du Hamel studierte die Bildung
des Knochengewebes und erkannte, dass sich dasselbe unter Betheiligung
des Periosts aus Knorpel entwickelt, wobei die Gefässe nach seiner An-
gabe das erforderliche Bildungsmaterial zuführen; J. Th. Klinkosch
in Prag lehrte dann die Entstehung des Knochens aus Bindegewebe,
während Haller an der Entwicklung desselben aus Knorpel festhielt
und die Umwandlung von den Gefässen, welche die von ihm entdeckten
Primordial-Knochenkerne umspinnen, ausgehen liess.
Daneben wurde auch die makroskopische Kenntniss der Osteologie
bereichert. Nath. Highmore entdeckte die Höhle des Oberkiefers,
Olaus Worm beschrieb die nach ihm genannten, schon von Eustachio
gekannten Nahtknochen, Th. Kerckring verfolgte die Entwickelung
des Skeletts am Fötus, und Friedr. Kuysch machte auf die Ver-
schiedenheiten des männlichen und weiblichen Skeletts, namentlich auf
die Unterschiede in der Form des Beckens und des Brustkorbes bei
beiden Geschlechtern aufmerksam. Die Bänderlehre erfuhr durch Josias
Weitbrecht eine sorgfältige Bearbeitung.3
Die Struktur der äusseren Haut wurde von Malpighi, an den das
Bete mucosum noch heut erinnert, und Leeuwenhoek untersucht,
welcher die glatten Schuppen der Epidermis, sowie die durch die Bil-
dung von Schwielen und Narben erzeugten Veränderungen der Haut
und die Ablagerung des Pigments bei farbigen Menschenrassen beob-
achtete. Über die Struktur und die Funktion der Nasenschleimhaut
gab C. V. Schneider einige Aufschlüsse.4
Mit der Zusammensetzung der Muskelsubstanz beschäftigten sich
A. Borelli, R. Hooke und vor Allen Nicolaus Steno, welcher auf
1 P. J. Haaxmann in der Nederl. Tijdschr. v. Geneesk 1871, II, 1—86.
2 Cl. Havers: Observationes de ossibus, Amstelod. 1731, p. 63.
3 Jos. Weitbrecht: Syndesmologie, Deutsche Ausgabe, Strassburg 1779.
4 K. F. H. Marx in den Abhandlungen d. kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen,
Bd. 19, 1873.
296 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit
die Gleichartigkeit ihres Baues bei Menschen und Thieren hinwies und
zeigte, dass Gefässe und Nerven in die Muskeln eintreten, und dass die
letzteren aus Fibrillenbündeln bestehen und von einer Haut umgeben
sind, welche auch zwischen die einzelnen Fibrillenbündel eindringt.
Leeuwenhoek bemerkte die Querstreifung der Muskelbündel und lehrte,
dass das Wachsthum der Muskeln nicht durch die Vermehrung, sondern
durch die Vergrößerung der Primitivbündel erfolgt. Er erklärte, dass
die Muskel Substanz aus kleinen Kugeln zusammengesetzt sei. K. Hooke
hielt dieselben für Prismen.
Das Studium der Gefässlehre wurde durch das neu entdeckte In-
jektions-Verfahren, um dessen Vervollkommnung sich Swammeedam und
Kuysch die meisten Verdienste erwarben, ausserordentlich erleichtert.1
Zur Einspritzung in die Gefässe verwendeten sie gefärbte, leicht gerinn-
bare harzige Flüssigkeiten. Ruysch, von dem man sagte, dass er die
Hände einer Fee und die Augen eines Luchses besitze, konnte dadurch
das Vorhandensein und die Vertheilung der Blutgefässe an Körper-
stellen nachweisen, die man früher für gefässlos gehalten hatte. Er
beschrieb auch die Bronchialgefässe und die Kranzgefässe des Herzens;
Keeckeing fand an der Pfortader des Pferdes die Vasa vasorum, und
Leeuwenhoek erläuterte die Struktur der Gefässhäute.
Der Bau des Herzens wurde von Steno, Lowee und Vieussens
aufgeklärt. Daran schlössen sich später die Arbeiten von Winslow und
Senac an. Die Lungen wurden von Malpighi sorgfältig untersucht;
derselbe wies nach, dass sie aus kleinen Bläschen bestehen, deren Wände
mit Gefässen reich versehen sind.2 Eine musterhafte Darstellung der
anatomischen Verhältnisse der Leber gab Glisson,3 während Malpighi,
welcher auch zuerst den acinösen Bau der Drüsen erkannte,4 der Milz
seine Aufmerksamkeit widmete.
Die Ausbreitung des Bauchfells schilderte James Douglas, dessen
Name sich noch durch andere Beobachtungen in der Geschichte der
Anatomie erhalten hat. Die Schweizer Ärzte Peyee und Beunnee ent-
deckten die Drüsen des Darmkanals. G. Wiesung fand den Ductus
pancreaticus , Steno den Ausführungsgang der Parotis, Whaeton den-
jenigen der Unterkieferdrüse und Quieinus üivinus denjenigen der
Glandula subungualis.
Den Bau der Nieren untersuchten Malpighi, Bellini und Beetin,
1 Burggraeve a. a. 0. p. 294 u. ff.
2 De pulmonibus epist. duae in Malpighi: Op. omnia, London 1686, III,
133 u. ff.
3 F. Glisson: Anatomia hepatis, Amstelod. 1659.
4 M. Malpighi: De structura glandularum conglob., London 1697.
Die mikroskop. Forschg. in d. Anatomie u. d. Experiment in d. Physiologie. 297
während die Kenntniss der Sexualorgane durch W. Cowper, der die
nach ihm genannten, schon früher bekannten Drüsen beschrieb, durch
Reinier de Graae, welcher die Follikel des Eierstocks schilderte, durch
D. Santorini, der die corpora lutea einer näheren Untersuchung unter-
zog, und besonders durch William Hunter gefördert wurde, welcher
die besten Beobachtungen über die Anatomie des Hodens anstellte und
die erste richtige Darstellung der Veränderungen, welche der Uterus
durch die Schwangerschaft erfährt, veröffentlichte.
Auf einem niedrigen Standpunkte befand sich die Neurologie.
Steno gestand offenherzig, dass er von dem Bau des Gehirns nichts
verstehe, und meinte, dass es den übrigen Anatomen ebenso ergehe.
Er verlangte, dass man die Nervenfasern durch die Gehirnsubstanz ver-
folge, war sich indessen der Schwierigkeiten dieser Untersuchungs-
methode wohl bewusst, und zweifelte, ob man jemals ohne besondere
Apparate damit zum Ziele kommen werde.1
Willis, der Entdecker des Nervus accessorius, Sylvius und Humphr y
Ridley lieferten gute Beschreibungen des Gehirns; J. J. Wepeer schil-
derte die Verbreitung der Blutgefässe desselben; Vieussens bemerkte
die Pyramiden und Oliven der Medulla oblongata und fand, dass die
harte Hirnhaut Nervenfäden vom Trigeminus erhält;2 Lancisi machte
auf die Faserung des Corpus callosum aufmerksam und untersuchte den
Bau der Zirbeldrüse; Malpighi gab über die Vertheilung der grauen
und weissen Substanz des Gehirns Aufschlüsse und beobachtete den
Übergang der Faserzüge des Rückenmarks in das Gehirn.3
In Betreff der feineren Struktur der Gehirnmasse gelangte man
zu keiner klaren Anschauung. Man huldigte im Allgemeinen der
Hypothese, dass die graue Substanz des Gehirns aus Blutgefässen und
kleinen Follikeln bestehe, von denen weisse Nervenfasern ausgehen.
Die peripherischen Nerven wurden genauer beschrieben und mehrere
Ganglien entdeckt, wie z. B. das Ganglion Gasseri am Nervus trige-
minus. 4
Mit grösserem Erfolge wurde die Anatomie der Sinnesorgane be-
arbeitet. Ruysch entdeckte die nach ihm genannte Membran der
Chorioidea des Auges; Leeuwenhoek schilderte die Zusammensetzung
der Linse aus Fasern, die sich zu Blättern vereinigen; Meibom be-
1 W. Plenkers in den Maria - Laacher Stimmen 1884, VII, H. 25. 26. —
Th. Puschmann in der Wiener Neuen freien Presse 1886, 26. November.
2 R. Vieussens: Neurographia universalis, Lugd. 1685, p. 82. 170.
3 M. Malpighi: De cerebro in Op. omnia a. a. 0. III, 1 u. ff.
4 A. B. R. Hirsch: Paris quinti nervorum encephali disquisitio anatomica,
Vienn. 1765, p. 20.
298 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
schrieb (1666) die in der Substanz des Augenlidknorpels eingelagerten
Drüsen1 und Steno die Thränen-Organe ; Poureotjr du Petit fand
den zwischen den beiden Blättern der Membrana hyaloidea des Glas-
körpers um den Rand der Linsenkapsel verlaufenden Kanal; Zinn
machte auf die Zonida ciliaris aufmerksam; Demours beobachtete die
seinen Namen führende Haut an der hinteren Fläche der Cornea.
Mit der Anatomie des Gehörorgans beschäftigten sich Duverney,
Yieussens, Yalsalva, Cassebohm, Cotuono u. A., während der Bau der
Stimmwerkzeuge, besonders des Kehlkopfes, durch die Untersuchungen
von Drelincourt, Santorini und Wrisberg aufgeklärt wurde.
Die grössten Erfolge feierte die physiologische Forschung. Das
Zeitalter des Experiments, wie man das 1 7. Jahrhundert nennen kann,
führte eine vollständige Umwälzung der bisherigen Anschauungen herbei
und machte die Physiologie zu einer Wissenschaft.
Die Entdeckung des Blutkreislaufs bildete den Grundstein, auf
dem das Lehrgebäude derselben errichtet wurde. Schon Servet und
Realdo Colombo lehrten, dass das Blut aus dem rechten Herzen durch
die Lungen- Arterie und die Lungen-Yenen in das linke Herz gelange;
aber erst Will. Harvey lieferte den Beweis dafür, indem er auf diesem
Wege Wasser von der A. pulmonalis in das linke Herz trieb.
Es lag nahe, dieses Schema auch auf die übrigen Gefässe des
Körpers zu übertragen. Dieser Annahme stand jedoch die damals
herrschende Lehre entgegen, dass die Arterien hauptsächlich Luft, und
nur wenig Blut enthalten, und dass das Blut ebensowohl in den Yenen,
wie in den Arterien in centrifugaler Richtung fliesse.
Harvey beseitigte diese Irrthümer.2 Er öffnete Arterien unter
Wasser und sah, dass keine Luftblasen aufsteigen; er schnitt Arterien
auf und beobachtete, welche Menge von Blut sie enthalten. Er be-
schäftigte sich ferner mit dem Mechanismus der kurz vorher entdeckten
Yenenklappen und machte den Yersuch, von den Stämmen aus Luft
in die mit Klappen versehenen Yenen einzublasen. Dabei fand er, dass
die Klappen so gestellt sind, dass sie den Blutstrom in der Richtung
von den Stämmen zur Peripherie hemmen und erschweren, in der um-
gekehrten, also centripetalen Richtung dagegen erleichtern und fördern.
War diese Thatsache richtig, so tauchte die Frage auf, woher das
in den feinen Yerästelungen der Yenen vorhandene Blut stamme. Da
sich nicht denken liess, dass das Arterienblut in den Organen voll-
ständig verbraucht wird, so ergab sich von selbst die Erklärung, dass
1 H. Meibom: De vasis palpebrarum novis, Lugd. Batav. 1723, p. 185 u. ff.
2 W. Harvey: Works ed. by R. Wri.us, London 1847.
Die mikroskqp. Forschg. in d. Anatomie u. d. Experiment in d. Physiologie. 299
es, wie es beim Lungenkreislauf nachgewiesen worden war, in die Venen
übertritt. Die Art, wie sich dieser Übergang vollzieht, wurde erst von
Malpighi aufgeklärt, welcher die Capillaren entdeckte und zuerst mit
dem Mikroskop den Übertritt des Blutes aus den Venen in die Arterien
beobachtete.
Haevey hielt an der irrigen Ansicht fest, dass die Leber die Be-
reitungsstätte des Blutes bilde. Den richtigen Sachverhalt erkannte
man erst, als Gaspaee Aselli die Chylus-Gefässe, Jean Pecquet den
Ductus thoracicus und 0. Kudbeck und Th. Baktholinus das Lymph-
gefässsystem auffanden und auf deren Bedeutung für die Bereitung des
Blutes hinwiesen.
An die Entdeckung des Blutkreislaufs schlössen sich eine Keihe
von Untersuchungen über das Gefässsystem, das Blut, seine Zusammen-
setzung, Bereitung, Bewegung u. a. m. an. A. Boeelli führte zuerst
den Gedanken aus, dass das Gefässsystem einem hydraulischen Werke
gleiche, und versuchte die Kraft zu berechnen, mit welcher das Blut
durch die Gefässe fiiesst. Er kam dabei freilich zu falschen ^Resultaten,
da die dabei in Betracht kommenden Verhältnisse noch nicht genügend
bekannt waren. So schätzte er z. B. den Widerstand, den die sich
immer mehr verengernden Arterien leisten, ausserordentlich hoch.1
William Cole machte deshalb darauf aufmerksam, dass die Summe
der Querschnitte der Gefässe mit ihrer Entfernung vom Herzen zunimmt
und das Gefässsystem sich als ein Kegel darstellt, dessen Grundfläche
in der Peripherie des Körpers uud dessen Spitze sich am Herzen
befindet. 2
Bellini zeigte, dass das Blut um so langsamer fiiesst, je mehr
sich die Gefässe in Zweige vertheilen. Stephan Hales suchte die
Stärke des Blutdruckes und die Geschwindigkeit der Blutbewegung durch
eine Reihe von Experimenten festzustellen und führte zu diesem Zweck
eine Glasröhre in die durchschnittene Arterie eines lebenden Thieres
ein, um zu beobachten, wie hoch das Blut getrieben wird.3 Molyneux
und Leeuwenhoek beobachteten unter dem Mikroskop die Geschwin-
digkeit der Blutbewegung.4
Der irländische Arzt Allen Moulin machte den ersten Versuch,
die Menge des im Körper enthaltenen Blutes zu bestimmen. Er öffnete
die Herzen lebender Thiere und berechnete aus der Blutmenge, die sie
1 Alf. Borelli: De motu animalium. Lugd. Bat. 1685, I, p. 94 u. ff.
2 Will. Cole: De secretione animali, Genev. 1696, c. 7, p. 26.
3 St. Hales: Haemostatique ou la statique des animaux, Französ. Übers,
mit Bemerkungen von de Sauvage, Geneve 1744.
4 Pliilos. Transactions, London 1685, No. 177, p. 1286.
300 Der medicinisehe Unterricht in der Neuzeit.
fassten, und der Geschwindigkeit der Blutbewegung die Quantität des
im Körper enthaltenen Blutes. Bei dieser ziemlich unvollkommenen
Methode gelangte er zu dem Ergebnisse dass das Gewicht der Blut-
menge ungefähr den zwanzigsten Theil des Körpergewichts ausmache.1
Auf die Zusammensetzung des Blutes warf die Entdeckung der
Blutkörperchen, welche Malpighi zuerst bemerkte , ein aufklärendes
Licht. Sie wurden von Swammerdam als eiförmige Gebilde, von
Malpighi als korallenartige Schnüre, und von Leeuwenhoek, der ihre
Gestalt an verschiedenen Thierklassen studierte, als flach-ovale Kugel-
chen beschrieben. Hewson glaubte, dass sie ein kleines Bläschen ent-
halten, und sprach die Ansicht aus, dass sie hauptsächlich in der Milz
entstehen. Vieussens und Chieac dachten sogar schon an die che-
mische Untersuchung des Blutes. A. Badia und Menghini lieferten
den Nachweis, dass das Blut Eisen enthält; F. Quesnay, der um die
National-Okonomie hochverdiente Begründer des plrysiokratischen Systems,
lehrte, dass das Blut folgende Bestandtheile enthält: 1) Wasser, 2) Ei-
weissartige Stoffe, welche in der Hitze gerinnen und, wenn sie faulen,
eine alkalische Schärfe entwickeln, 3) Fette, welche in der Kälte starr
werden, in der Wärme zerfliessen und eine ranzige Schärfe erzeugen,
4) Gelatinöse Stoffe und 5) Gallige, seifenartige Substanzen.2 Hewson
setzte die Untersuchungen über das physikalische und chemische Ver-
halten des Blutes fort und beschäftigte sich eingehend mit der Gerin-
nung desselben, deren Ursachen er durch verschiedene Experimente zu
erforschen bemüht war.3
Man hatte beim Aderlass oft zu beobachten Gelegenheit gehabt, dass
das Blut sich röther färbt, wenn es mit der Luft in Berührung kommt.
Ebenso war schon den Alten die Thatsache bekannt, dass das arterielle
Blut heller ist, als das venöse. Die Iatrophysiker, wie Malpighi, Pit-
caien u. A. erklärten diese Erscheinung dadurch, dass das Blut durch
die eingeathmete Luft eine feine Zertheilung erfahre, während die Che-
miatriker einen chemischen Einfluss der Luft annahmen. Ihre Versuche,
den Bestandtheil derselben, der diese Wirkung äussert, zu ergründen,
führten natürlich nicht zum Ziele. K. Bathurst und N. Henshaw
sprachen die Ansicht aus, dass es derselbe Stoff sei, welcher auch in
der Salpetersäure eine wichtige Rolle spiele.
Die Art, in welcher die Luft auf das Blut wirkt, wurde von Dom.
1 Philosophical Transactions, London 1687, Decemb., No. 191, p. 433 u. ff.
2 F. Quesnay: Essai physique sur l'economie animale, Paris 1747, II, 342
u. ff., III, 31 u. ff". — Haeser a. a. 0. II, 592.
3 Will. Hewson: Vom Blut, Deutsche Übers., Nürnberg 1780. — E. Brücke:
Vorlesungen über Physiologie, Wien 1885, I, 81 u. ff.
Die mikroskop. For selig, in d. Anatomie u. d. Experiment in d. Physiologie. 301
Mistichelli genauer untersucht, indem er durch Einblasen von Luft
in die Lungen sterbender Thiere nicht blos den Farbenwechsel des
Blutes hervorzurufen, sondern auch die Bewegungen des Herzens gleich-
sam neu zu beleben vermochte.1 Um die gleiche Zeit stellten Peyer
und Härder Experimente mit den Herzen abgestorbener Thiere und
gehenkter Menschen an, welche sie durch Einblasen von Luft wieder
in Bewegung setzten.2
Santokio, welcher sich durch die Erfindung verschiedener physi-
kalischer Instrumente bekannt machte, 3 wollte das Verhältniss zwischen
den Einnahmen und Ausgaben des Körpers bestimmen, unternahm zu
diesem Zweck durch 30 Jahre genaue Wägungen der Nahrung, die er
zu sich nahm, und der Excremente, welche ausgeschieden wurden, ver-
glich die Ergebnisse mit dem Körpergewicht und fand dabei, dass ein
Theil der aufgenommenen Nahrung auf unsichtbare Weise in der Form
von Gasen (Perspiratio insensibilis) den Körper verlässt.4 Denys Dodart
wiederholte diese Versuche und bemerkte dabei, dass bei zunehmendem
Alter die sichtbaren Produkte der Ausscheidung vermehrt werden.
Die Prozesse der Verdauung, Ernährung und Absonderung wurden
von den Iatrophysikern und den Chemiatrikern in verschiedenartiger
Weise beurtheilt. Während die Einen der Ansicht huldigten, dass der
Magen eine zerkleinernde, zerreibende Wirkung auf die Nahrung ausübe,
glaubten die Anderen, dass dieselbe durch die chemischen Kräfte des
Speichels, des Magensaftes, des pankreatischen Saftes und der Galle
zersetzt und in einen Brei verwandelt werde. Die künstlichen Ver-
dauungsversuche, welche Spallanzani und Carminati später anstellten,
zeigten, inwieweit beide Momente in Frage kommen.5
Ähnlich verhielt man sich dem Vorgang der Absonderung und
Ernährung der Organe gegenüber; doch war es keinem Zweifel unter-
worfen, dass die Erklärung der latrophysiker, welche auf den Blut-
druck, die Form, die Verästelungen und Krümmungen der Gefässe,
und die Porosität der Capillaren hinwiesen, sich mehr auf dem Boden
der Thatsachen bewegte, als diejenige der Chemiatriker.
Die Entdeckung des Blutkreislaufs lenkte die Aufmerksamkeit der
Forscher auf die thierische Bewegung überhaupt. Nicol. Steno machte
1 Philosoph, [experiinents aiid observations of Rob. Hooke etc. p. by W. Der-
ham, London 1726, p. 372 u. ff.
2 Peyeri: Parerga anatom. et medica, Genev. 1681, p. 198.
3 K. Sprengel a. a. 0. IV, 422 u. ff.
4 Sanct. Sanctorius: De statica medicina, Venet. 1614, sect. I.
5 Spallanzani: Versuche über das Verdauungsgeschäft des Menschen und
verschiedener Thierarten, Deutsche Übers., Leipzig 1785.
302 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
den ersten Versuch, die Thätigkeit der Muskeln nach den allgemein-
gültigen Lehrsätzen der Mechanik zu erklären. x Bei dieser Gelegenheit
veröffentlichte er seine Beobachtungen über die Veränderungen der
Form und Consistenz, welche der Muskel bei der Zusammenziehung
und Ausdehnung erfährt.
Wenige Jahre später (1680) erschien A. Borelli's berühmtes
Werk de motu animalium, in welchem die complicirten BeAvegimgen in
die Thätigkeitsäusserungen der einzelnen Muskeln aufgelöst wurden.2
Der Verfasser verglich darin die Knochen und die sich daran ansetzenden
Muskeln mit physikalischen Hebel-Apparaten. Um die Kraft eines
Muskels zu bestimmen, hing er an demselben so viele Gewichte an, bis
seine Fasern zerrissen.
Schon Steno machte die Beobachtung, dass die Muskelsubstauz
das vom Einfiuss der Gefässe und Nerven unabhängige Vermögen be-
sitze, zu Bewegungen angeregt zu werden, wie es de Maechettis nur
für das Herz und die Darmmuskeln angenommen hatte. Durch Ex-
perimente an Fröschen und Schildkröten wurde festgestellt, dass die
Bewegungsfähigkeit selbst nach der Entfernung des Gehirns noch vor-
handen ist. Steno wies auf die Rolle hin, welche dabei das Blut spielt;
er unterband die absteigende Aorta des Frosches und zeigte, dass darauf
die Lähmung der Muskeln des Hinterleibes folgt. Auch Baglivi suchte
die Ursache der dem Muskelgewebe innewohnenden Contractilität im
Blute und sah in den Nerven nur die Erreger der Bewegung. Er
machte bei dieser Gelegenheit Andeutungen, welche sich auf die Unter-
scheidung der glatten von den quergestreiften Muskelfasern beziehen
lassen.3 Mayow hob dagegen den Einfiuss der atmosphärischen Luft
auf die Muskelthätigkeit hervor.
Glisson betrachtete die Irritabilität als eine der Materie über-
haupt zukommende Eigenschaft;4 Willis schrieb dieselbe nur den
Muskeln zu. Auf Grund einer grossen Anzahl von Untersuchungen
und Vivisektionen stellte A. Haller später fest, welchen Grad von
Sensibilität und Irritabilität die verschiedenen Gewebe und Organe des
Körpers besitzen. Er kam dabei zu dem Schluss, dass die Sensibilität
an das Vorhandensein von Nerven, die Irritabilität an dasjenige von
Muskelsubstanz gebunden sei.
1 Nie. Stenonis elemcntorum myologiae speeimen scu rnusculi descriptio
geometrica, Flor. 1667. 2 a. a. 0. I, p. 19 u. ff.
3 Gr. Baglivi: De fibra motrice et morbosa in dessen Opera omnia medico-
pract. et anatom., Antwerpen 1719.
4 Glisson: De ventriculo et intestinis, Amstelod. 1677, p. 168 u. ff. nach
G. H. Meyer in Haeser's Archiv, Jena 1843, V, p. 1 u. ff.
Die mikroskop. Forschg. in d. Anatomie u. d. Experiment in d. Physiologie. 303
Die Nerven dachte man sich mit einem Fluidum gefüllt, nnd
Glisson sprach sogar von Strömen, die in den Nerven auf und nieder
gehen. Selbstverständlich haben dieselben mit dem, was man heute
darunter versteht, nur die Ähnlichkeit des Ausdrucks gemein.
In der Erklärung der Nerven-Thätigkeit gingen die Iatrophysiker
und die Chemiatriker auseinander, indem Jene mit Newton Vibrationen,
Spannungen und Erschlaffungen, Diese chemische Umsetzungen des
Nerven-Inhalts annahmen. Diejenigen, welche weder die eine noch die
andere Deutung befriedigte, nahmen ihre Zuflucht zu den hypothetischen
Lebensgeistern, die auf alle Fragen die gewünschte Antwort gaben.
Das Gehirn galt allgemein als das Centrum der geistigen Thätig-
keit. Willis wagte sogar, die verschiedenen Seelen- Vermögen in den
einzelnen Theilen des Gehirns zu lokalisiren; so verlegte er den Sitz
der Empfindung in die Streifenhügel, des Gedächtnisses in die Mark-
substanz, und der animalischen Funktionen in das Kleinhirn.
E. Whytt lieferte durch eine Menge von Vivisektionen den Nach-
weis, dass die Bewegungsfähigkeit noch lange Zeit nach dem Tode er-
halten bleibt, und wies darauf hin, dass sich enthauptete Frösche „plan-
mässig und wie mit Bewusstsein bewegen". Er schloss daraus, dass
das Gehirn nicht das einzige Centrum der geistigen Thätigkeit sein
könne.1 Die physiologischen Funktionen des Rückenmarks suchte
Caldani zu erforschen, der zu diesem Zweck partielle Zerstörungen
desselben vornahm.
Der grosse Astronom Kepler entwarf die Grundzüge einer richtigen
Theorie des Sehens, bemerkte die Verschiedenheit der Kugelabschnitte
an der vorderen und hinteren Fläche der Linse, erklärte, dass dieses
Organ keinesAvegs der Sitz des Sehvermögens sei, wie man damals
glaubte, sondern dazu diene, die einfallenden Lichtstrahlen in ent-
sprechender Weise zu brechen, verfolgte die Schicksale der letzteren,
bis sie die Netzhaut treffen,2 und zeigte, dass Kurzsichtigkeit und Fern-
sichtigkeit auf Anomalien der brechenden Medien beruhen und durch
passende Brillen mit coneaven oder convexen Gläsern ein richtiges Bild
des Sehobjekts hervorgebracht wird. Pater Scheiner in Wien vervoll-
ständigte diese Untersuchungen und bewies durch das nach ihm ge-
nannte Experiment, dass ein Gegenstand nur innerhalb einer bestimmten
Entfernung vom Auge deutlich gesehen wird. Er machte dabei auch
die Beobachtung, dass sich die Pupille bei der Betrachtung naher Gegen-
1 Kob. Whytt: An essay on the vital and involuntary motions of animals,
Edinburgh 1751, p. 344 u. ff., 384 u. ff. — R. Whytt: Physiological essays, Edin-
burgh 1755, p. 107 u. ff, 214 u. ff.
2 Poggendorff a. a. 0. S. 168 u. ff.
304 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
stände verengert. Der Prior des Klosters zu St. Martin, E. Mariotte,
machte die Entdeckung, dass die Eintrittsstelle des Sehnerven für Licht-
strahlen unempfindlich ist.1
Die Physiologie des Gehörs wurde von Cl. Perkault, dem be-
rühmten Arzt und Architekten, dem Erbauer des Louvre in Paris, be-
gründet. Er sah zuerst die auf dem Spiralblatt der Schnecke sich
ausbreitenden Nervenfäden und erklärte sie für das Organ der Gehör-
Empfindung;2 auch erkannte er die Rolle, welche das Labyrinth mit
den halbzirkelförmigen Kanälen bei der Eortleitung des Schalles spielt.
Duverney verfolgte die Verbreitung des Gehörnerven im innern Ohre
genauer und ergänzte die Ergebnisse Perrault's in einzelnen Punkten.
Darauf folgten Valsalva's vortreffliche Arbeiten.
Cl. Perrault versuchte auch die Entstehung der Stimme zu er-
klären, indem er auf den Bau des Kehlkopfes hinwies. Denys Dodart
meinte, dass der Ton durch die in Folge der Schwingungen der Luft
entstehende Zusammenziehung oder Erweiterung der Stimmritze erzeugt
wird; Ant. Eerrein erkannte, dass dabei die Vibrationen der Stimm-
bänder die wichtigste Bedeutung haben.3
P. Camper wollte aus den Verschiedenheiten im Bau der Stimm-
werkzeuge verschiedener Thierklassen die Differenzen ihrer Stimmen
erklären. Mit der Physiologie der Sprache beschäftigten sich Ammann,
W. v. Kempelen und Kratzenstein, welche die ersten Maschinen zur
Nachahmung der menschlichen Sprache construirten.
Als Organe des Geschmacksinns wurden schon von Malpighi und
Bellini die Papillen der Zunge erklärt. In die Papillen der Haut
verlegte Malpighi den Sitz der Tastempfindung. Bohn wies auf die
Verschiedenheit des Tastsinns vom Wärme-Sinn hin, und der Genfer
Philosoph Bonnet warf bereits die Frage auf, ob die Zunge für jede
Art von Geschmacksempfindung besondere Nerven und das Ohr für
jeden Ton eine besondere Chorde besitze.4
Zu den wichtigsten Tagesfragen, welche die Naturforscher des
17. und 18. Jahrhunderts beschäftigten, gehörte die Lehre von der
Erzeugung und Ent Wickelung des thierischen Embryo. Auch hier war
1 Lettres ecrites par Mariotte, Pecquet et Perraui/t sur Je sujet d'une
nouvelle decouverte touehant la veue par Mariotte im Recueil de plusieurs traitez
de mathematique de I'acad. royale des sciences, Paris 1676.
2 Oeuvres diverses de physique et de mechanique, Leyden 1721, Vol. I,
p. 247 u. ff. (du bruit, partie III).
3 Hist. de I'acad. royale des sciences avec les memoires etc., Paris 1700,
p. 244 u. ff., 1706 p. 136 u. ff, 388 u. ff., 1707 p. 66 u. ff, 1741 p. 409 u. ff.
4 Brief Bonnets an Haller nach Haeser a. a. 0. II, 596.
Die mikroskop. Forschg. in d. Anatomie u. d. Experiment in d, Physiologie. 305
es Will. Harvey, welcher den Untersuchungen eine feste Basis gab,
indem er den Satz aussprach: Omne animal ex ovo. Er lehrte, dass
sich die Frucht aus dem von der Mutter stammenden Ei entwickele
und der männliche Samen nur die Anregung zu diesem Vorgänge gebe.
Man huldigte der Meinung, dass sich das Ei während der Be-
gattung vom Ovarium loslöse; aber schon Kerckrino berichtet, dass
ihm weibliche Personen erzählt hätten, es werde bei jeder Menstruation
ein Ei ausgestossen. 1 Die Eiertheorie wurde noch mehr begründet durch
Swammerdam, Malpighi und Redi, welche den HARVEY'schen Satz
in Omne vivum ex ovo erweiterten und sogar auf die Pflanzen an-
wendeten.
Eine mächtige Erschütterung erfuhr diese Lehre durch die Ent-
deckung der Samenthierchen, welche Joh. Ham i. J. 1677 zuerst be-
merkte. Leeuwenhoek, welcher diese Beobachtung bestätigte und die
Spermatozoen als geschwänzte, mit einem runden Kopf versehene, in
fortwährender Bewegung begriffene, ausserordentlich kleine Thierchen
beschrieb, stellte auf Grund dessen die Hypothese auf, dass nicht die
Eier, sondern die Samenthierchen die Keime der Frucht bilden. Hart-
soeker glaubte eine Ähnlichkeit zwischen den Spermatozoen und der
menschlichen Gestalt zu erkennen und betrachtete dieselben als präfor-
mirte Embryonen. Der schöngeistige Leibnitz sprach sogar von der
Unsterblichkeit der Samenthierchen.
Diesen Träumereien machte Antonio Vallisneri ein Ende, indem
er die hohe Bedeutung des Eies für die Entwickelung der menschlichen
Frucht bestätigte; doch beging er den Fehler, dass er die Spermatozoen
für unwesentliche zufällige Bestandteile des Samens hielt und daher
als einflusslos für die Zeugung erklärte. Diese Ansicht wurde auch von
Bufeon, Haller u. A. vertheidigt und erlangte nahezu allgemeine
Geltung; erst Spallanzani beschäftigte sich wieder genauer mit der
Frage, wo die wirkende Ursache der Befruchtung liege, und unternahm
zu diesem Zweck eine Reihe künstlicher Befruchtungs versuche mit
männlichem Samen.2
Über die Entwickelung der Frucht, besonders über die Bildung
des Gefässsystems gab Haller einige werthvolle Aufschlüsse; der fötale
Kreislauf wurde schon von Duverney ausführlich dargestellt.
Die meisten Forscher huldigten der alten theologischen Evolutions-
Theorie, nach welcher die Keime der organischen Wesen von der
1 Th. Kerckring: Anthropogenia ichnographica, Amstelod. 1671, p. 3.
2 Spallanzani: Versuche über die Erzeugung der Thiere und Pflanzen,
Deutsche Übers., Leipzig 1786.
Puschmann, Unterricht. 20
306 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Schöpfung des ersten derselben präformirt seien und gleichsam schachtel-
artig in einander stecken. Sie wurde beseitigt durch die Lehre von
der Epigenesis, in welcher Caspar Friedr. Wolef auf Grund einer
grossen Anzahl sorgfältiger Beobachtungen den Nachweis lieferte, dass
die Organe in ihrer Anlage nicht von Anfang an vorhanden sind,
sondern dass die einzelnen Theile des Körpers in Folge einer Reihe
von Differenzirungen allmälig in die Erscheinung treten.1
Mit grossem Scharfsinn wies er auf die analoge Entwicklung der
Pflanzen und Thiere hin und machte dabei bereits Andeutungen der von
Goethe entwickelten Metamorphosenlehre im Pflanzenreiche, ebenso wie
er auch bemerkte, dass das Nervensystem, der Darmkanal und die Ge-
fässe und Muskeln des thierischen Körpers aus gesonderten Keimlagen
hervorgehen. Für die Grundbestandtheile des Körpers erklärte er kleine
Kügelchen oder Bläschen; vielleicht spricht sich darin bereits eine
Ahnung der Zelle aus? —
Die Fortschritte in den übrigen Theilen der Heilkunde
während des 17. und 18. Jahrhunderts.
Wie in der Physiologie, so machten sich auch in der Pathologie
die Gegensätze zwischen den Iatrophysikern und den Chemiatrikern
geltend. Man versuchte die Krankheiten theils durch mechanische
Störungen, z. B. durch Stockungen des Blutes oder des Nerven-Inhalts,
theils durch chemische Vorgänge, durch Gährungen und Zersetzungen
zu erklären. Hervorragende Denker unter den Ärzten, wie Borellt,
Pitcairn, Helmont, Sylvius, Willis, Boerhaae und Fr. Hoeemann
errichteten auf diesen Theorien kunstvolle Lehrgebäude der Patho-
logie, deren Hinfälligkeit mit dem Fortschritt der Wissenschaft zu
Tage trat.
Die Lücken und Fehler, besonders die Einseitigkeit, welche einige
dieser medicinischen Systeme zeigten, führte dazu, dass man sie mit
dynamischen Hypothesen verschmolz, wie es schon von Paracelsus ver-
sucht und dann von Helmont und Willis wiederholt wurde. Doch
wurde die dynamische Theorie, welche in manchen Beziehungen an die
Lehren der Pneumatiker des Alterthums erinnerte, aber selbstverständ-
1 C. F. Wolff: Theoria generationis , Halle 1759. — C. F. Wolff: Über
die Bildung des Darmkanals im bebrüteten Hühnchen, Berlin 1812, S. 57. 125. 148.
Die Fortschritte in d. übrigen Theilen d. Heilk. ivährend des 17. u. 18. Jahrh. 307
lieh dem christliehen Glauben entsprechend umgeformt worden war,
zunächst nur zur Erklärung der letzten Ursachen des organischen Ge-
schehens benutzt.
Stahl entwickelte dieselbe zu einem Animismus, der die wissen-
schaftliche Erforschung der Medicin als überflüssig betrachtete. Zu
einem ähnlichen Schluss, wenigstens in Bezug auf die theoretischen
Grundlagen der Medicin, gelangten jene Ärzte, welche, wie Sydenham,
unbefriedigt von den Versuchen, die Theorie mit der Praxis zu ver-
söhnen, an der Lösung dieser Aufgabe verzweifelten und die auf der
Erfahrung ruhende Heilkunst für das einzige Ziel ihres Strebens er-
klärten.
Die künstlichen Schulsysteme, welche dem Scharfsinn und der
Phantasie entsprangen, überlebten sich rasch und glichen den schil-
lernden Seifenblasen, welche durch ihren Farbenreichthum einen Augen-
blick blenden, um dann spurlos unterzugehen. Nur was die Erfahrung
in jener Zeit errungen, was die Beobachtung der Wissenschaft erschlossen
hat, das ist geblieben und einer der vielen Bausteine geworden, welche
das Fundament der Heilkunde bilden.
Eine reiche casuistische Literatur förderte die Kenntniss der Krank-
heiten im Einzelnen und lenkte die Aufmerksamkeit der Ärzte auf
Symptomen -Gruppen, welche früher nur wenig oder gar nicht be-
achtet worden waren. Gleichzeitig wurde die Diagnostik der Leiden
mit neuen Hilfsmitteln bereichert und mit der Sammlung der Berichte
über die Veränderungen an den Leichen die wissenschaftliche Bear-
beitung der pathologischen Anatomie vorbereitet. Sylvius beschrieb
die Tuberkelherde der Lungen und leitete von dem eiterigen Zerfalle
derselben die Schwindsucht ab.1 Willis schilderte den Diabetes mellitus
und hob dabei den süssen Geschmack des Urins hervor, den er sich
nicht zu erklären vermochte.2 Werlhoe lieferte die erste Beschreibung
der Blutflecken-Krankheit.3
Aus dem 17. Jahrhundert stammen auch die frühesten Mitthei-
lungen über die Bachitis, deren Erscheinungen schon von B. Reusner
skizzirt, von Whistler, A. de Boot und Glisson ausführlicher dar-
gestellt wurden. In die gleiche Zeit fallen verschiedene Berichte über
das endemische Vorkommen des Kretinismus, welches schon Paracelsus
in einigen Alpengegenden beobachtet hatte, sowie die ältesten Nach-
richten über das epidemische Auftreten der unter dem Namen der
1 Fr. de le Boe Sylvii Opera medica, Traject. ad Rhenum et Amstelod.
1695, p. 692 u. ff.
2 Th. Willis: De urinis in Op. omnia, Amstelod. 1668, p. 338 u. ff.
3 P. G. Werlhof: Opera med. ed. Wichmann, Hannover 1775, II, p. 624. 761.
20*
308 Der medieinische Unterricht in der Neuzeit.
Sibbens in Schottland und unter dem der Rades jge in Skandinavien
bekannten Syphilisformen.
Auch die Diagnostik der Krankheiten erfuhr in dieser Periode
einige bemerkenswerthe Fortschritte, deren volle Bedeutung allerdings
erst später erkannt wurde. Ausser der Untersuchung des Urins und
des Pulses, über welchen Solano de Luques, Th. Bordeu u. A. neben
vielen seltsamen und sogar absurden Angaben auch einzelne neue werth-
volle Mittheilungen machten, begann man noch andere diagnostische
Hilfsmittel anzuwenden.
Santorio benutzte den Thermometer zur Bestimmung der Wärme
des Körpers, und Boerhaave, Cockburn u. A. machten davou in der
ärztlichen Praxis einen ausgedehnten Gebrauch.1 Anton de Haen
stellte auf diese Weise fest, dass die Temperatur des Körpers während
des Fieberfrostes nicht herabgesetzt, wie man damals allgemein annahm,
sondern im Gegentheil erhöht sei, machte zuerst auf die merkwürdige
Erscheinung der postmortalen Wärme aufmerksam und beobachtete,
dass das subjektive Wärmegefühl der wirklichen Temperatur zuweilen
gar nicht entspricht, und dass die Temperatur gelähmter Gliedmassen
niedriger ist als diejenige gesander.2
Grosses Interesse erregten die Erkrankungen des Herzens. Lancisi
brachte die Undulation der Jugularvenen mit der durch die Insufficienz
der Tricuspidalklappe erzeugten Erweiterung des rechten Herzens in
Verbindung.3 Albertini bemerkte sehr treffend, dass die Schwierigkeit
der Diagnose der Herzkrankheiten zum grossen Theile darin ihren
Grund habe, dass bei ihnen Krankheitszustände verschiedener Art zu-
sammentreffen, und gab den Rath, bei der Untersuchung des Herzens
die Hand auf die Herzgegend des Kranken aufzulegen.*
Weitaus die grösste Errungenschaft, welche die Diagnostik dieser
Zeit zu verdanken hat, war die Entdeckung der Percussion durch den
Wiener Arzt Auenbrugger.5 Leider blieb sie fast gänzlich unbeachtet;
erst im 19. Jahrhundert wurde sie zu einer „Fackel, welche, wie
Ch. G. Ludwig in Leipzig i. J. 1763 sagte, Licht brachte in die Fin-
sterniss, die über den Krankheiten der Brusthöhle lagerte".
Auch die pathologische Anatomie that einen mächtigen Schritt
nach vorwärts. Man hörte auf, in den Veränderungen an der Leiche
1 Wunderlich: Das Verhalten der Eigenwärme in Krankheiten, Leipzig 1870.
2 Th. Puschmann: Die Medicin in Wien, 1884, S. 19.
3 Lancisi: De motu cordis et aneurysmatibus, Lugd. Batav. 1740, p. 306,
pars II, cap. 6, prop. 60.
4 Albertini: Opuscula ed. M. H. Romberg, Berol. 1828.
5 Auenbrugger: Inventum novum, Vindob. 1761.
Die Fortschritte in d. übrigen T heilen d. Heilk. während des 17. u. 18. Jahrh. 309
nichts weiter als Curiositäten zu sehen, welche die Schaulust der nach
Seltenheiten haschenden Sammler befriedigten, und begann ihren Zu-
sammenhang mit den Erscheinungen am Kranken zu ahnen und zu
erforschen. Schon W. Harvey erklärte, dass man aus der Sektion eines
Menschen, der an der Schwindsucht oder einer anderen chronischen
Krankheit gestorben sei, mehr lernen könne als aus der Zergliederung
von zehn Gehenkten. Benevieni, Th. Bartholinus, Bonet, Ridley,
Lancisi, Valsalva u. A. legten in ihren Schriften eine Menge werth-
voller Beobachtungen nieder.
Wepfer machte den ersten Versuch, die Lehre von den Erkran-
kungen des Gehirns von dem Wust mystisch -transcendenter Spekula-
tionen zu befreien und durch die pathologisch-anatomischen Verände-
rungen dieses Organs zu begründen. Er beobachtete die Vernarbung
apoplektischer Herde und beschrieb bereits den später nach Fothergill
genannten Gesichtsschmerz. Im 18. Jahrhundert machte Fontana die
wichtige Entdeckung, dass die Drehkrankheit der Schafe durch Hyda-
tiden im Gehirn verursacht wird.
Die Pathologie des Gefässsystems verdankte den Arbeiten von
Vieussens, Lancisi und Senac wesentliche Fortschritte. Vieussens1
beobachtete die Verwachsung des Herzens mit dem Herzbeutel und be-
schrieb den Hydrops pericardii und die Pericarditis. Mit bewunderungs-
würdiger Klarheit schilderte er die gegenseitigen Beziehungen zwischen
den pathologischen Veränderungen an der Leiche und den Erschei-
nungen am Lebenden in einem Falle, in dem er von der Stenose des
linken Ostium venosum die Erweiterung der Pulmonalvenen, das Lungen-
ödem, die Vergrösserung des rechten Herzens, die wassersüchtige An-
schwellung der Füsse und die Kleinheit des Pulses ableitete, sowie bei
einer anderen Gelegenheit, wo er Verknöcherung der Aorta ascendens
und Verknöcherung mit Insufficienz der Semilunarklappen beobachtete
und daraus den theilweisen Rückfluss des Blutes in das linke Herz
und das Herzklopfen erklärte.
Lancisi gab nähere Aufschlüsse über die krankhaften Verände-
rungen, besonders die Verknöcherungen der Klappen und die Erwei-
terung und Vergrösserung des Herzens.2 Senac machte zuerst auf die
durch pathologische Verhältnisse hervorgerufene rechtsseitige Lagerung
des Herzens aufmerksam.8 Bedauerlicher Weise standen der richtigen
Beurtheilung der Tbatsachen häutig die irrigen Ansichten der Ärzte
1 J. Philipp im Janus II, 580—598. III, 316—326.
2 Philipp im Janus III, 318 u. ff.
3 Senac: Traite de la structure du coeur, Paris 1749.
310 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
über die Bedeutung der sogenannten Herzpol jpen entgegen, obwohl
schon Keeckeing dieselben für eine Leichenerscheinung erklärt hatte.1
Ihren Höhepunkt erreichte die pathologische Anatomie jener Periode
in J. B. Moegagni, der im Besitze des gesammten Wissens, wel-
ches sich auf diesem Gebiete angesammelt hatte, die gewonnenen Er-
gebnisse durch zahlreiche eigene Erfahrungen berichtigte und ergänzte
und die Aufgabe dieser Disciplin zum ersten Male klar und deutlich
entwickelte. 2
Er zog bei seinen Untersuchungen auch das Experiment zu Rath.3
Auch Stephan Hales bediente sich desselben und erzeugte mittelst
Einspritzung von Wasser in das Gefässsystem künstlichen Hydrops.
Hallee's Arbeiten über die Sensibilität und Irritabilität stützten
sich hauptsächlich auf Versuche an Thieren und Vivisektionen. Er er-
kannte deren Nutzen und erklärte: „Ein einziges derartiges Experiment
hat oft die aus der Arbeit ganzer Jahre hervorgehenden Täuschungen
beseitigt. Diese Grausamkeit hat der Physiologie mehr genutzt als fast
alle anderen Künste, deren Zusammenwirken unsere Wissenschaft ge-
kräftigt hat."4
Grosses Aufsehen erregten Spallanzani's Versuche über die Wie-
dererzeugung abgefallener Glieder bei niederen Thieren.5
Am meisten trug John Huntee dazu bei, dass die experimentelle
Methode in die Pathologie eingeführt wurde.
Aber nicht blos die ersten Anfänge der experimentellen Patho-
logie, sondern auch diejenigen der Bakteriologie fallen in diese Periode.
Leeuwenhoek beschrieb Bakterien von runder, stäbchenförmiger, faden-
artiger und schraubenförmiger Gestalt, welche er zwischen den Zähnen
der menschlichen Mundhöhle gefunden zu haben behauptete.6 In Folge
dieser Entdeckungen entwickelte sich die Theorie, dass manche Krank-
heiten durch solche „kleine Thiere" verursacht würden. Diese Ansicht
liess sich damals freilich nicht beweisen; aber gleichwohl hielten ein-
zelne hervorragende Naturforscher, wie Linne und Plencicz, am Con-
tayiiim animatum fest.
Werthvolle Vorarbeiten für die Begründung der Hygiene lieferten
Lancisi, welcher sich mit den Ausdünstungen der Sümpfe und der
1 Th. Kerckring: Spicilegium anatomicum, Amstelod. 1670, p. 145.
2 F. Falk: Die pathol. Anatomie des J. B. Morgagni, Berlin 1887.
3 Philipp in der deutschen Klinik, 1853, No. 45.
4 Vergl. Ad. Valentin in der Denkschrift auf A. v. Haller, Bern 1877, S. 78.
5 Spallanzani: Sopra le riproduzioni animali, Modena 1768.
6 F. Löffler: Vorlesungen über die geschichtliche Entwickelung der Lehre
von den Bakterien, Leipzig 1887, Th. I.
Die Fortschritte in d. übrigen Titeilen d. Ileilk. 'während des 1 7. u. 18. Jahrh. 311
Assanirung der römischen Campagna beschäftigte,1 und Pringle, der
sich grosse Verdienste um die Militär-Gesundheitspflege erwarb und
Untersuchungen über septische und antiseptische Substanzen anstellte.
Der Arzneischatz wurde durch mehrere Heilmittel bereichert. Man
erkannte die Wirkung der Chinarinde gegen das Fieber, entdeckte in
der Ipecacuanha- Wurzel ein kräftiges Brechmittel und empfahl den
Gebrauch des Arseniks beim Krebs.
Auch suchte man über die Ursachen, auf denen die Heilwirkungen
der Arzneistoffe beruhen, sowie über die geeignetste Art ihrer Anwen-
dung richtigere Anschauungen zu gewinnen. Schon AVillis forderte
zu Untersuchungen über die Veränderungen auf, welche die Medica-
mente im Magen, im Blut und in den einzelnen Organen hervorrufen.
Dieser Gedanke wurde von Wepeer und in grösserem Massstabe später
von A. Stürck ausgeführt, welche zahlreiche pharmakodynamische Ex-
perimente mit verschiedenen arzneilichen Substanzen anstellten.2
Unter dem Einfluss der Entdeckung des Blutkreislaufs wurden
auch die ersten Versuche unternommen, Arzneistoffe in die Venen zu
injiciren, sowie grosse Blutverluste durch Ueberführung von Blut aus
einem anderen Körper zu ersetzen. 3 Aber- die ungünstigen Erfolge
dieser Operationen, welche zum Theile in der mangelhaften Technik
ihrer Ausführung ihren Grund hatten, brachten die Infusion und Trans-
fusion bald in Miskredit und allmälig in Vergessenheit.
C. Stalpert van der Wiel wendete zur künstlichen Ernährung
bereits eine Art von Schlundsonde an.4
Die specielle Therapie förderten Bennet durch seine Empfehlung
der Inhalationen bei der Schwindsucht,5 Dolaeus, welcher gegen das
Podagra die Milchkur verordnete, sowie Edw. Baynard und J. Floyer,
die bei starkem Fieber den Kranken in kaltes Wasser eintauchen Hessen.
Die beiden Hahn, Brandis und Currie empfahlen die Uebergiessung
mit kaltem AVasser beim Typhus und gaben dadurch die Anregung
zum Aufschwünge der Hydrotherapie, während die Balneotherapie durch
K. Boyle und Fr. Hoeemann auf eine wissenschaftliche Grundlage
gestellt wurde.
Geringere Fortschritte als die übrigen Disciplinen der Heilkunde
1 C. Langer in den Mitth. d. Ver. d. Ärzte in Nieder-Österreich 1875, No. 2.
2 Puschmann a. a. 0. S. 35 u. ff.
3 P. Scheel: Die Transfusion des Blutes und Einspritzung in die Adern,
Kopenhagen 1802. — Dieffenbach in Kust's Handwörterbuch, Berlin 1838.
4 Stalp. v. d. Wiel: Observat. rar. cent. II, 27 und Krül im Weekbl. v.
h. Nederl. Tijdschr. v. Geneesk, 1883, No. 47.
5 Chr. Bennet: Tabidorum theatrum, Lugd. Bat. 1714, cap. 28,
312 Der medicinisehe Unterricht in der Neuzeit.
machte die Chirurgie im 17. Jahrhundert. Es lag dies theils daran,
dass die begabtesten Vertreter der ärztlichen Wissenschaft sich vorzugs-
weise den Erfolg versprechenden chemischen und physikalischen For-
schungen, sowie der Physiologie und mikroskopischen Anatomie zu-
wandten, theils an der sich mehr und mehr erweiternden Kluft zwischen
der inneren Medicin und der Chirurgie, durch welche die studierten
Ärzte von der Beschäftigung mit der Wundarzneikunst abgehalten wur-
den, während die empirisch gebildeten Praktiker vollauf damit zu thun
hatten, den grossartigen Umschwung ihrer Kunst, welchen das voran-
gegangene Jahrhundert in Bezug auf die chirurgischen Operations-
methoden herbeigeführt hatte, zu verstehen und in sich aufzunehmen.
Allerdings fehlte es nicht an einzelnen Verbesserungen in der Technik
der Operationen; aber ein alle Zweige der Chirurgie umfassendes,
reformirendes und in neue Bahnen drängendes Genie, wie Ambroise
Pake, war nicht vorhanden.
Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog sich in
der Chirurgie ein neuer Aufschwung, der sich aber nicht so sehr in
der Entwicklung der Operationskunst, als in der Begründung der
chirurgischen Pathologie äusserte.
Zur Stillung der Blutungen bediente man sich nur selten der
Unterbindung, weil sie mehr anatomische Kenntnisse voraussetzte, als
den meisten Chirurgen zu Gebote standen. Dazu kamen die zahlreichen
Misserfolge derselben, welche zum Theile in der unvollkommenen, rohen
Methode der Ausführung ihren Grund hatten. Man wendete daher
lieber die Compression der Gefässe an, welche durch die Erfindung des
Knebel-Tourniquets von Morel i. J. 1674 bedeutend erleichtert wurde.
Petit ersetzte den Knebel 1718 durch eine Schraube. Auch kam die
Digital-Compression durch Saviard und Louis wieder in Gebrauch.
Die preussischen Chirurgen Theden und Schmucker empfahlen die
Tamponade. Daneben wurden das Glüheisen, die Kälte und verschiedene
styptische Mittel zur Anwendung gebracht.
Die Unterbindung fand bei den Chirurgen erst allgemeinere An-
erkennung, als man den Fehler erkannte, welchen man durch die
Hereinziehung der Nerven, Venen und des umliegenden Zellgewebes
in die Ligatur begangen hatte, und anfing, die Arterie isolirt zu unter-
binden. Man wagte sich nun selbst an die Unterbindung grosser Ge-
fässstämme, wie der A. cruralis und axillaris \ Warner und Else
unternahmen i. J. 1775 sogar die LTnterbindung der Carotis.
Die Amputation wurde hauptsächlich am Fuss, Unterschenkel,
Vorderarm und an der Hand, seltener oberhalb des Ellenbogens und
des Kniees ausgeführt. Die Technik dieser Operation erfuhr durch die
Die Fortschritte in d. übrigen Theilen d. Heilk. währenddes 17. u. 18. Jahrli. 313
Einführung des zweizeitigen und dreizeitigen Zirkelschnitts, des Lappen-
schnitts und Trichterschnitts, durch welche die ausreichende Erhaltung
von Hauttheilen zur Bedeckung des Stumpfes bezweckt wurde, einige
Bereicherungen.
Die Amputation wurde übrigens häufiger ausgeführt, als nothwendig
war. So berichtet Schmucker, dass er i. J. 1738 im Hotel Dieu zu
Paris einen Kranken sah, welchem beide Oberschenkel wegen einfacher
Fraktur derselben amputirt worden waren. Die conservativen Chirurgen
traten diesem unter dem Einfluss der französischen Schule entstandenen
Missbrauch entgegen und suchten die Amputation in vernünftigerweise
einzuschränken.
Die Vermehrung der anatomischen Kenntnisse und die Verbesse-
rungen in der Technik der chirurgischen Operationskunst ermuthigten
auch zu Exartikulationen , welche im Ellenbogen schon von A. Pare,
im Kniegelenk zuerst von Fabry von Hilden und in der Schulter
von Morand und Le Dran ausgeführt wurden. Die nach Chopart
genannte Exartikulationsmethode im Eusswurzelgelenk wurde 1791 ver-
öffentlicht. Die Exartikulation im Hüftgelenk wurde zwar versucht,
aber wegen ihrer ungünstigen Erfolge wieder aufgegeben.
Auch wurde die Besektion einzelner Knochen oder Knochentheile,
z. B. am Oberarm von Ch. White, am Schlüsselbein von Cassebohm
unternommen, während die ersten erfolgreichen Gelenk-Resektionen am
Knie von Filkin (1762) und Park (1781) und 'an der Schulter von
Ch. White (1768) und J. Bent (1771) ausgeführt wurden.
Die Trepanation geschah häutig aus ganz geringfügigen Ursachen;
es ist unglaublich, mit welcher Leichtfertigkeit man sich dazu ent-
schloss. Am Prinzen Phil. Wilhelm von Oranien wurde sie, wie Corn.
Solingen erzählt, 17 mal ausgeführt. Nur vereinzelte Stimmen erhoben
sich gegen diese gefährliche Operationswuth.
In jene Zeit fällt auch die erste operative Eröffnung der Kiefer-
höhle bei Erkrankungen derselben. — Der Katheterismus der Tuba
Eustachii verdankte dem tauben Postmeister Guyot in Versailles,
welcher ihn an sich selbst erprobte, seine Entdeckung.1
Die Tracheotomie wurde nicht blos zur Entfernung von fremden
Körpern und zur Erleichterung der Bespiration, sondern auch bei Croup
und Diphtherie empfohlen und ausgeführt.2
Die Oesophagotomie wurde im 18. Jahrhundert zum ersten Male
unternommen, während die erste Gastrotomie schon im Jahre 1635
1 Machines et inventions, appr. par l'academie royale, Paris 1724, IV, No. 253.
2 B. Schuchardt in Langenbeck's Archiv 1887, Bd. 36, H. 3.
314 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
geschah.1 Über die erste erfolgreiche Exstirpation der Milz berichtete
Giov. Fantoni.2
In der Lehre von den Hernien machte sich das Studium der ana-
tomischen Verhältnisse, welche ihr zu Grunde liegen, geltend. Man
begann neben den Leisten- und Nabelbrüchen auch andere Formen der
Hernien zu unterscheiden, und wurde auf die Schenkelhernie, diejenige der
grossen Schamlippen, die Hernia obturatoria und ischiadica aufmerksam.
Auch suchte man über die Entstehung der Brüche Klarheit zu ge-
winnen; Haller wies auf die Beziehungen der angeborenen Hernien
zur Embryologie hin.
Bei der Behandlung erlangten die Bruchbänder eine grössere An-
erkennung, besonders seitdem Nicol. Lequin 1663 die elastischen
federnden eingeführt hatte. Die Radikal-Operation wurde seltener aus-
geführt und allmälig mehr auf die eingeklemmten Brüche eingeschränkt.
Man war dabei darauf bedacht, den Samenstrang zu erhalten; nur bei
Geistlichen hielten es manche Chirurgen, wie Dionis, für gestattet, die
Castration mit der Operation zu verbinden.
Die Operation der Mastdarmfistel kam dadurch auf die Tages-
ordnung, dass Ludwig XIV. sich derselben unterziehen musste. Diese
Krankheit übte einen grossen Einfluss auf die Politik aus; Michelet
hat die Regierungszeit dieses Monarchen bekanntlich in die Perioden
avant et apres la fistule eingetheilt. 3 Die Debatten über die Ausführung
der Operation führten zur Erfindung verschiedener Fistelmesser, unter
denen dasjenige von Pott mit den Verbesserungen von Savigny die
meiste Beachtung verdiente. Die Colotomie behufs Herstellung eines
künstlichen Afters bei angeborenem Verschluss der natürlichen Öffnung
desselben wurde 1783 zum ersten Male unternommen.
Unter den Methoden des Steinschnitts gewann die Sectio lateralis
die meiste Verbreitung. Cheselden modificirte das Verfahren einiger-
maassen, und Frere Cöme empfahl zur Ausführung das Lithotome cache.
Seltener kam der hohe Steinschnitt über der Schamfuge zur Anwendung.
Die Lithothrypsie wurde von Ciucci beschrieben, welcher dabei eine
dem Civiale'schen Lithotryptor ähnliche, in einer Scheide befindliche
Canülen-Zange mit gezähnten Branchen gebrauchte.
Bei der Behandlung der Harnröhren -Strikturen genossen die von
Daran empfohlenen elastischen Bougies, welche in der Harnröhre auf-
quollen, grosses Ansehen.
Hendrik van Deventer, A. J. Venel u. A. entwarfen die Prin-
1 Hagens in der Berliner klinischen Wochenschr. 1883, No. 7.
2 J. Fantoni: Opusc. med. Genev, 1738. 3 Haeser a. a. 0. II, 432.
Die Fortschritte in d, übrigen Tlieilen d. lleilk. während des 17. u. 18. Jahrh. 315
cipien der Orthopädie. Um dieselbe Zeit machten Hendiuk van Roon-
hüyse und später Tulp die ersten Versuche, mittelst Durchschneidung
des M. sternocleidomastoideus die Heilung des Caput obstipum zu be-
wirken. I. J. 1784 liess M. G. Thilenius die erste Trennung der
Achillessehne beim Klumpfuss ausführen.
Die chirurgische Pathologie erfuhr durch Peecival Pott, welcher
die chronische Gelenkentzündung, den Tumor albus, und die nach ihm
genannte Caries der Wirbel zum Gegenstande sorgfältiger Beobachtungen
machte, wesentliche Bereicherungen, während J. L. Petit auf die nach
Verletzungen auftretende eiterige Osteomyelitis aufmerksam machte.
Petit und John Hunter beschäftigten sich auch mit den feineren
Vorgängen, welche sich bei der Thrombus-Bildung, der Eiterung, Ver-
narbung und Granulation in den Geweben abspielen.
Einen wichtigen Fortschritt machte die Ophthalmologie in jener
Periode, indem der alte Irrthum beseitigt wurde, dass die Cataracta
durch eine extrabulbäre Feuchtigkeit erzeugt werde, die sich in der
Form eines undurchsichtigen Hautchens vor der Linse lagere, und der
Nachweis geliefert wurde, dass sie in einer Erkrankung der Linse selbst
besteht.
Eine glänzende Bestätigung erhielt diese Entdeckung durch die
Extraktions-Methode, nach welcher Da viel i. J. 1746 die erste Staar-
operation ausführte. Die Extraktion behauptete fortan neben der De-
pression des Staares einen ständigen Platz in der operativen Oculistik.
Eine weitere Errungenschaft der letzteren war die künstliche Pu-
pille nbildung, welche von Woolhouse angeregt und von Cheselden
i. J. 1728 zuerst ausgeführt wurde. Das Verfahren bestand in der
Incision der Iris; der ältere Wentzel änderte es dahin ab, dass er
statt dessen ein Stück der Iris ausschnitt, also die Iridectomie vornahm.
Die Geburtshilfe verdankte dieser Zeit die segensreiche Erfindung
der Zange. Längst vorbereitet durch die Instrumente, deren sich die
Geburtshelfer zur Herausbeförderung abgestorbener Früchte bedienten,
trat sie im 17. Jahrhundert ins Leben und nahm Formen an, welche
sie für ihren Zweck geeignet erscheinen Hessen.
Die Chamberlen gebrauchten bei schweren Geburten Vorrichtungen,
welche aus Hebeln oder stählernen, mit Leder überzogenen Blättern
bestanden. Diese Erfindung blieb Geschäftsgeheimniss, bis sie durch
Jean Palfyn, der sie in mehrfacher Hinsicht verbesserte, der Öffent-
lichkeit übergeben wurde.1 Sie wurde dann weiter vervollkommnet
1 J. H. Aveling: The Chamberlens and the midwifery forceps, London
1882. — A. Goffin: Jean Palfyn, Bruxelles 1887.
316 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
von Dusle, welcher die Kreuzung der beiden Löffel einführte, vom
jüngeren Gregoire, der sie fenstern und durch ein Schloss verbinden
liess, und vor Allem von Levret, welcher die gerade Torrn der Löffel
in eine gekrümmte umänderte, ihre Verbindung durch einen beweg-
lichen Stift bewerkstelligte und die Indicationen für den Gebrauch der
Zange feststellte.
Um den Gefahren des Kaiserschnitts, der ziemlich selten ausgeführt
wurde, auszuweichen, wurde die Symphyseotomie empfohlen, durch
welche man irrthümlicher Weise eine Erweiterung des Beckens herbei-
zuführen hoffte; die übelen Folgen dieser Operation zeigten sich bald
und bewirkten, dass sie allgemein verurtheilt wurde.
Dagegen errang sich das von Camerarius und Slevogt zuerst
empfohlene Verfahren, in Fällen, wo, wie beim verengten Becken, auf
natürlichem Wege kein ausgetragenes Kind geboren werden kann, im
7. oder 8. Monat die künstliche Frühgeburt einzuleiten, den Beifall der
Geburtshelfer und erhielt sich in der gynaekologischen Therapie.
Auch die erste wissenschaftliche Bearbeitung der gerichtlichen
Medicin, z.B. die Verwerthung der Lungenprobe zu forensischen Zwecken,1
sowie die ersten Anfänge einer systematischen Medicinalstatistik gehören
dieser Zeit an.2
Wenn man den Gang der Entwickelung der Medicin während des
17. und 18. Jahrhunderts verfolgt, so erkennt man dieselben Phasen,
welche die Gesammt-Cultur jener Periode kennzeichnen. Die erfolg-
reiche Forscherthätigkeit, welche sich in dem rastlosen Ansammeln em-
pirischen Wissens-Materials äusserte, gelangte allmälig zu einem gewissen
Abschluss, und es machte sich das Bedürfniss geltend, die gewonnenen
Ergebnisse zu sichten und in ihren Beziehungen zu einander und zum
geistigen Leben der Menschheit überhaupt zu betrachten. Wie der
Wanderer, wenn er nach anstrengendem Marsche eine Höhe erklommen
hat, mit stolzer Befriedigung auf den Weg zurückblickt, den er zurück-
gelegt hat, so hält auch der Genius der Cultur nach grossen Errungen-
schaften eine kurze Rast, bevor er sich zu neuen Thaten rüstet.
Ein solcher Augenblick war für die Geschichte der Menschheit
im 18. Jahrhundert gekommen, und die Bestrebungen der Encyklopä-
disten gaben dieser Thatsache einen deutlichen Ausdruck. Auch in der
Medicin machte sich diese Richtung der Geister bemerkbar und trat
in einer Reihe von Arbeiten zu Tage, welche hauptsächlich die Ge-
schichte der Heilkunde behandelten.
1 Blumenstock in der Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medicin, 1884, Bd. 38,
S. 252—69. Bd. 39, S. 1—12.
2 J. Geaetzer: Daniel Gohl und Christ. Kundmann, Breslau 1884.
Der Charakter jener Zeit in der Kunst und Philosophie. 317
Die ersten hervorragenden Vertreter der historischen Literatur der
Medicin waren Daniel Leclerc, John Freind und Joh. Heinr.
Schulze. An Boerhaave und namentlich an Haller, welcher sich
durch die Herausgabe medicinischer Schriften des Alterthums und durch
seine bibliographischen Werke unvergängliche Verdienste um die Ge-
schichte der Heilkunde erworben hat, fand sie einflussreiche Freunde
und Förderer. Auch Portal, der eine Geschichte der Anatomie ver-
fasste, Werthof, Hensler und Grüner, deren gediegene Untersuchungen
über die Geschichte der Krankheiten einen dauernden Werth besitzen,
Astruc, Baldinger, Triller, Moehsen, Ackermann, Mezler u. A.
gaben Zeugniss dafür, dass der Sinn für historische Forschungen unter
den Ärzten des 18. Jahrhunderts weit verbreitet war und reiche
Früchte trug.
Der Charakter jener Zeit in der Kunst und
Philosophie.
Das geistige Leben des 18. Jahrhunderts hatte einen anderen
Charakter als sein Vorgänger. Diese Veränderung gab sich entweder
in einem Nachlass der empirischen Forschung kund, wie in den Natur-
wissenschaften, oder führte eine Wandelung der Richtung herbei, in
welcher sich die Thätigkeit bewegte, wie dies am deutlichsten die Lei-
stungen der bildenden Kunst zeigten. Das 17. Jahrhundert sah einen
Guido Reni, Salvator Rosa, die Spanier Velasquez und Murillo,
die französischen Meister Nicolas Poussin und Claude Lorrain und
die grossen Niederländer Rubens und Rembrandt. Das 18. Jahrhun-
dert vermochte diesen Künstlern nur Wenige an die Seite zu stellen,
deren Namen vor dem Glanz, den Jene ausstrahlten, nicht gänzlich
erblassen.
An die Stelle der classischen Schönheit der Formen, welche durch
die grossartige Einfachheit der Linien und durch die richtige Abwägung
der Farbentöne ein Muster für alle Zeiten geworden sind und selbst,
wenn sie wie bei Rubens einen derbsinnlichen Naturalismus zur Schau
tragen, niemals blos die Sinne fesseln, sondern immer zum Herzen
sprechen, trat eine ungesunde Überladung mit barocken Zuthaten,
welche durch die Sucht, originell zu erscheinen, hervorgerufen wurde
und die Kunst auf Abwege brachte.
Ein wahrheitsgetreues Spiegelbild der geistigen Kämpfe und Wan-
delungen jener Periode lieferten die philosophischen Meinungen und
318 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Systeme, welche damals aufgestellt wurden. Der induktive Empirismus
Bacon's, welcher in dem Aufschwünge der Naturwissenschaften und
einer Menge von Entdeckungen und Erfindungen eine alle Erwartungen
hei weitem übersteigende Rechtfertigung erhielt, entwickelte sich unter
dem Einfluss der letzteren auf einer materialistischen Grundlage, wel-
cher der Pantheismus einen idealistischen Zug verlieh. Was der un-
glückliche Giordano Bruno als seine heilige Überzeugung verkündet
hatte, für die er den Tod in den Flammen erlitt, Das suchte sein
späterer Gesinnungsgenosse, der wegen seines religiösen Freisinns aus
dem Judenthum ausgestossene Baeuch Spinoza durch wissenschaftliche
Thatsachen zu begründen und zur allgemeinen Weltanschauung zu
machen. Er lehrte die Gesetzmässigkeit alles Geschehens und die
Einheit der Substanz, die sich, wie er im Anschluss an Cartesius er-
klärte, in zweifacher Form, nämlich als Geist und Materie, äussere.
Einen Schritt weiter ging John Locke. Als Arzt gewohnt, das
Metaphysische aus dem Kreise der Erörterungen zu bannen, stellte er
sich auf den Boden des reinen Empirismus und verkündete, dass es
keine angeborenen Ideen gebe, sondern dass sich alle Erkenntniss auf
die Erfahrung gründet. Die menschliche Seele gleicht, wie er schreibt,
bei der Geburt einem leeren Blatt, auf welchem die Sinn es wahr nehmungen
als Erfahrungen niedergelegt werden, bis sie durch die Reflexion, durch
den Verstand, den Locke den inneren Sinn nennt, zu Vorstellungs-
bildern zusammengestellt werden. Er führte somit die Philosophie
wieder in die Arme der Naturforschung zurück, indem er die Erkennt-
nisstheorie auf die Untersuchung der Dinge mittelst der sinnlichen
Beobachtung anwies.
Der Sensualismus Locke's fand in Frankreich hervorragende Ver-
treter an E. B. de Condillac und Voltaire und regte in England
zum Skepticismus an, wie er von David Hume zum Ausdruck gebracht
wurde, während ihm in Deutschland in Leibnitz ein mächtiger Gegner
entgegentrat.
Der Letztere verband die angeborenen Ideen Platon's mit den
Grundzügen der Demokrit'schen Atomistik, an welche schon G. Bruno
und P. Gassendi angeknüpft hatten, und passte dies den christlichen
Lehren von der WTeisheit des Schöpfers und der Zweckmässigkeit der
Natur an. Er nahm untheilbare und unräumliche, metaphysische
Punkte an, die er Monaden nannte und mit einem Vorstellungs-Inhalt
begabt dachte; ihre gegenseitigen Beziehungen und Verbindung zu der
Einheit des Bewusstseins glaubte er durch die phantastische Hypothese
einer vor Beginn aller Zeiten festgesetzten „praestabilirten" Harmonie
zu erklären.
Der Charakter jener Zeil in der Kunst und Philosophie. 319
Auf die Ent Wickelung der Naturwissenschaften und speciell der
Medicin hat Leibnitz keinen fördernden Einfluss ausgeübt; für die
Philosophie, wie überhaupt für die Literatur, hat er vielleicht grössere
Bedeutung erlangt, als er verdient. Sein System blieb hauptsächlich
auf Deutschland beschränkt, wo Christian Wolff sein eifrigster Apostel
wurde. Er ordnete die Ideen, die Leibnitz in wilder Ungebundenheit
hingeworfen hatte, mit schulmeisterhafter Pedanterie zu einem Schema-
tismus, der dort, wo Jener Lücken zeigte oder eine zu hochfliegende
Phantasie walten liess, sich aus den Lehren anderer Philosophen ergänzte.
Consequenter und einheitlicher im Aufbau, aber rücksichtsloser
und erschreckender in seinen Folgerungen war der Materialismus, wie
er um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich auftrat. Der
radikalste Vertreter desselben, der französische Arzt Lamettrie, machte
in seiner Histoire naturelle de l'äme und seinem Werke „L'homme
machine" den Versuch, sogar die Denkprozesse, die geistigen Fähig-
keiten und sittlichen Gefühle aus dem Wesen der Materie, aus der
körperlichen Organisation abzuleiten. Den transcendenten Charakter
der menschlichen Seele bestritt er, indem er sich dabei unter Anderem
auch auf die Thatsache der auf Veränderungen des Gehirns beruhenden
psychischen Erkrankungen bezog. Die Unsterblichkeit gab er zu, jedoch
nur insoweit, als die Materie, aus welcher die Dinge dieser Welt be-
stehen, nicht untergeht, sondern nur die Form ändert und wieder an
einem anderen Körper Theil nimmt.
Leider predigte Lamettrie gleichzeitig einen Hedonismus, welcher
auf eine schamlose Verherrlichung des Vergnügens, bes. der Wollust
hinauslief. Lediglich in diesem Umstände, keineswegs aber in seinen
philosophischen Theorien liegt der Grund der heftigen Angriffe, die er
erfahren musste. Es mag ja sein, dass er in seinem Leben keineswegs
dem frivolen Cynismus huldigte, welchen er in seinen Schriften zur
Schau trug; aber selbst F. A. Lange, welcher die Ehrenrettung Lamettries
unternahm, vermochte zu dessen Vertheidigung nur anzuführen, dass er
weder seine Kinder ins Findelhaus geschickt, wie Kousseau, noch zwei
Bräute betrogen habe, wie Swift, nicht der Bestechung überführt
worden sei, wie Bacon, und sich auch nicht der Urkundenfälschung
verdächtig gemacht habe, wie Voltaire.1 Jedenfalls hat Lamettrie
durch seine Lehren die Sittlichkeit schwer geschädigt und viele reine
Gemüther vergiftet, und ist vorzugsweise schuld daran, dass die
materialistische Philosophie lange Zeit von unverständigen Menschen mit
der schrankenlosen Befriedigung des Sinnesgenusses identificirt wurde.
1 F. A. Lange: Geschichte des Materialismus, Iserlohn 1876, I, 349.
320 Der medieinische Unterricht in der Neuzeit.
Die übrigen Anhänger des Materialismus, namentlich diejenigen,
welche unter dem Namen der Encyklopädisten bekannt geworden sind,
suchten ihre Aufgaben weniger in der wissenschaftlichen Begründung
ihrer philosophischen Meinungen, als in der Bekämpfung der kirchlichen
und politischen Autoritäten. Der Verfasser des Systeme de la nature
entwickelte den Kreislauf des Lebens und die innigen Wechsel-
beziehungen der drei Naturreiche; aber ungleich grösseren Werth legte
er auf die rationalistische Aufklärung und die Erörterungen über das
Becht der Völker auf Selbstregierung, welche er damit verband.
Diese Theorien trugen ohne Zweifel viel dazu bei, die mächtigen
Umwälzungen vorzubereiten, welche am Schluss des 18. Jahrhunderts
Frankreich und dann ganz Europa erschütterten, und erklären es zum
Theile, dass der Materialismus von Manchen als die Quelle der Irreligio-
sität und als Feind der Monarchie betrachtet wurde.
Die gelehrten Gesellschaften und Universitäten im
17. und 18. Jahrhundert.
Wie im 16. Jahrhundert, so wurde auch im 17. Jahrhundert die
Entwickelung des wissenschaftlichen Geistes wesentlich gefördert durch
die Gründung von gelehrten Gesellschaften und Universitäten. In
Italien stiftete der Fürst Federigo Cesi i. J. 1603 die Accademia dei
Lincei, so genannt, weil deren Mitglieder zu ihren Untersuchungen
gleichsam Luchsaugen bedurften und im Vereins-Wappen einen Luchs
führten; in Florenz entstand unter dem Schutz der Mediceer 1657 die
Accademia del cimento, welche die Pflege des Experiments zu ihrer
Aufgabe erklärte.
Nach diesem Muster bildeten sich auch in andern Ländern gelehrte
Vereinigungen. In Deutschland wurde Schweinfurt der Mittelpunkt
einer Gesellschaft von Ärzten und Naturforschern, welche i. J. 1672
vom Kaiser Leopold zu einer Akademie erhoben wurde. In Paris trat
die Academie des sciences um das Jahr 1666 ins Leben, welche 1793
in das Institut national umgewandelt wurde. Auch die königliche Ge-
sellschaft der Wissenschaften in London, deren Verhandlungen in nahezu
ununterbrochener Reihenfolge bis heut erschienen sind und eines der
wichtigsten und inhaltsreichsten Aktenstücke zur Geschichte der Wissen-
schaften bilden,1 wurde 1666 gegründet. Es folgten darauf die Akademie
1 Ch. E. Weldc History of the royal society, London 1848, 2 Bde.
Die gelehrten Gesellschaften u. Universitäten im 17. u. 18. Jahrhundert. 321
zu Berlin, welche i. J. 1700 auf Leibnitz' Betreiben gestiftet wurde, die
Göttinger gelehrte Gesellschaft i. J. 1733, die Akademie zu Peters-
burg 1725, welche zwar auf russischem Boden entstand, aber haupt-
sächlich eine deutsche Schöpfung war, die Akademie zu Mannheim 1755
und diejenige zu München 1760.
Das wissenschaftliche Leben jener Periode brachte in England und
den Niederlanden die reichsten Früchte hervor. Auch Italien zeitigte
noch einzelne Spätlinge, welche an die besten Zeiten der grossen Ver-
gangenheit dieses Landes erinnerten.
Auf Frankreich warf der glänzende Hof Ludwig XIV. ein weithin
strahlendes Licht, welches neben mancher inneren Hohlheit eine über-
raschende Fülle von Talent und Thatkraft beleuchtete. Während des
18. und bis tief hinein in das 19. Jahrhundert stand das französische
Volk an der Spitze des geistigen Fortschritts; seine Gelehrten und
Forscher wirkten nicht blos in formaler Hinsicht bahnbrechend für die
Wissenschaft, sondern sie erweiterten auch den Umfang der letzteren
und vertieften ihren Inhalt nach verschiedenen Eichtungen.
Deutschland wurde durch den unglückseligen Eeligionskrieg, welcher
es 30 Jahre hindurch verwüstete, in seiner politischen und geistigen
Entwickelung gehemmt und fand erst zwei Jahrhunderte später die
sichere Euhe zur vollen Bethätigung seiner Kraft.
Als das 16. Jahrhundert zu Ende ging, bestanden in den einzelnen
Ländern bereits so viele Hochschulen und Bildungsanstalten, dass den
vorhandenen Bedürfnissen im Allgemeinen Genüge geleistet wurde. In
England bildeten die alten Universitäten zu Oxford und Cambridge den
wichtigsten Mittelpunkt der höheren Studien. Frankreich centralisirte
die Wissenschaften mehr und mehr in Paris. Holland erhielt neue
Hochschulen zu Groningen (1614), Utrecht (1634) und Harderwyk(1648).
In Italien entstanden Universitäten zu Parma, Cagliari, Mantua, Urbino,
Piacenza, Sassari und Mailand, von denen einzelne ihre Entstehung wohl
nur einer kleinlichen Eifersüchtelei dieser Städte und ihrer Beherrscher
verdankten. Im J. 1608 wurde in Pampellona eine Universität errichtet,
die jedoch ebenso unbekannt blieb, als die übrigen Hochschulen Spaniens.
Auch die Anstalten dieser Art, welche im östlichen Europa gegründet
wurden, wie diejenige zu Tyrnau in Ungarn, welche später nach Pest
verlegt wurde, zu Klausenburg in Siebenbürgen und zu Kiew und
Moskau traten nicht sonderlich hervor. Für Finnland wurde 1640 zu
Abo eine Hochschule gestiftet, die 1828 nach Helsingfors kam, und
Schweden erhielt 1668 eine zweite Universität zu Lund.
Unverhältnissmässig gross war die Zahl der Hochschulen, welche
während dieser Periode in Deutschland entstanden. Zum Theil wurden
Puschmann, Unterricht. 21
322 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
sie keineswegs durch das Bedürfniss nach akademischer Bildung, sondern
nur durch die Eitelkeit der kleinen Territorialherren hervorgerufen,
welche in der Gründung einer Hochschule ein nicht zu kostspieliges
Mittel sahen, um ihre Souverainetät zu documentiren und sich in Keden
und Gedichten als Beschützer der Wissenschaften preisen zu lassen.
Als 1652 das Gymnasium zu Herborn in Nassau zur Universität
erhoben wurde, kostete es dem Landesfürsten grosse Mühe, die für die
Ertheilung der kaiserlichen Privilegien erforderliche Taxe von 4100 fl.
zu schaffen. Die Stadt Einteln besass, als sie im J. 1621 zum Sitze
einer Universität gemacht wurde, weder eine Apotheke noch einen Gast-
hof. 1 Die Theilung der hessischen Länder unter verschiedene Linien
der Dynastie führte im J. 1607 zur Errichtung der Hochschule zu
Giessen; doch war sie von 1625 — 1650 wieder mit ihrer benachbarten
Schwester-Anstalt zu Marburg vereinigt.
Die Universität Strassburg ging aus dem dortigen akademischen
Gymnasium hervor, an welchem ausser andern Facultätswissenschaften
auch Medicin gelehrt wurde; sie erhielt 1566 und 1621 die kaiserliche
Bestätigung. Im J. 1602 studierten dort 70 Theologen, 77 Juristen,
11 Medianer und 145 Philosophen.2 Später sank die Frequenz der
Hochschule und betrug im Durchschnitt jährlich nicht viel mehr als
4 Studierende in sämmtlichen Facultäten; erst seit 1718 hob sie sich
wieder, nachdem unter der französischen Herrschaft ruhige politische
Zustände eingetreten waren.3
In ähnlicher Weise entstand im J. 1622 die Universität Altdorf
auf dem Gebiet der freien Reichsstadt Nürnberg. 4 Das Gymnasium zu
Bremen glich ebenfalls einer Hochschule; im J. 1610 wurde dort auch
eine Lehrkanzel der Heilkunde errichtet. Denselben Charakter trugen
die höheren Lehranstalten zu Steinfurt, welche für die Grafschaft Bent-
heim-Tecklenburg, zu Neustadt an der Haardt, die für die Pfalz be-
stimmt war, zu Hanau und zu Lingen. In Duisburg entstand 1655
und in Kiel 1665 eine Universität. Die Hochschule zu Dorpat ver-
dankte ihre Errichtung im J. 1632 dem Könige Gustav Adolf von
Schweden; doch bestand sie nur wenige Jahrzehnte und erwachte erst
1802 wieder zu neuem Leben.
In den katholischen Staaten Deutschlands kam das höhere Unter-
1 A. Tholuck: Das akademische Leben des 17. Jahrhunderts, Halle 1854,
Bd. I, Abth. 2, S. 96. 303.
2 Tholuck a. a. 0. I, 2, 122.
3 F. Wieger: Geschichte der Medicin in Strassburg, 1885, S. 71.
4 G. A. Willis: Geschichte und Beschreibung der Universität Altdorf, Alt-
dorf 1795.
Die gelehrt en Gesellschaften u. Universitäten im 17. u. 18. Jahrhundert. 323
richtswesen allmälig vollständig in die Hände des Jesuiten-Ordens.
Mehrere neue Anstalten, welche auf dessen Betreiben errichtet wurden,
waren, auch wenn sie die Rechte einer Universität erhielten, eigentlich
nur geistliche Seminarien. So entstand zu Molsheini im Elsass ein
Jesuiten- Gymnasium, welches 1617 vom Pabst zur Universität erhoben,
1702 nach Strassburg verlegt und mit der dortigen Hochschule ver-
einigt wurde. Gleichzeitig erhielt die Domschule zu Paderborn den
Charakter einer Universität; ebenso geschah dies mit der Domschule
zu Osnabrück. Die 1647 zu Bamberg errichtete Akademie entwickelte
sich allmälig ebenfalls zu einer vollständigen Universität. Im J. 1734
wurde auch das Jesuiten-Gymnasium zu Fulda zur Universität erhoben,
während die Domschule zu Münster erst 1780 dieses Ziel erreichte.
Dazu kamen eine Anzahl von Hochschulen in den Ländern der
habsburgischen Krone. In Salzburg errichteten gelehrte Benediktiner
eine höhere Unterrichtsanstalt, welche der Pabst im J. 1623 zur Univer-
sität erhob. Die gleiche Ehre widerfuhr 1673 dem Jesuiten-Gymnasium
zu Innsbruck. Auch das Jesuiten-Collegium zu Breslau entwickelte sich
nach und nach zur Universität und wurde 1702 als solche anerkannt.
Die Anstalt zu Brunn erhielt erst 1779 die Privilegien einer Univer-
sität, als die Olmützer Hochschule dorthin verlegt und mit ihr ver-
einigt wurde. Aber schon nach wenigen Jahren verlor sie diesen
Charakter wieder und wurde in ein Lyceum umgewandelt, welches
später mit einer medicinisch-chirurgischen Lehranstalt verbunden wurde
und in Olmütz seinen Sitz erhielt.1
Einen hervorragenden Einfluss auf die Entwickelung des wissen-
schaftlichen Geistes erlangten die Universitäten Halle und Göttingen.
Die erstere wurde 1694 errichtet, nachdem das Erzstift Magdeburg mit
den dazu gehörigen Landestheilen an Brandenburg gefallen war.
Schon der grosse Kurfürst hatte sich mit der Gründung einer Art
von Akademie beschäftigt, welche einen Vereinigungspunkt aller wissens-
werthen Dinge bilden, mit einem chemischen Laboratorium, physikalisch-
technologischen Institut, zoologischen und botanischen Garten, Maschinen-
hause, Museen u. a. m. ausgestattet und allen Lernbegierigen ohne Unter-
schied der Nationalität und des religiösen Bekenntnisses zugänglich sein
sollte.2 Für die Ausführung eines solchen grossartigen, der ratio-
nalistischen Denkweise des 18. Jahrhunderts vorauseilenden Planes war
aber weder die Zeit reif, noch das erforderliche Geld vorhanden.
1 F. J. Richter: Geschichte der Olmützer Universität, Olmütz 1841.
2 Erman u. Reclam: Mem. p. servir a l'histoire des refugies francois, T. III,
p. 293 u. ff, Berlin.
21*
324 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Auch die Universität Halle war in ihren finanziellen Mitteln ziem-
lich beschränkt; ihre Jahresdotation betrug bis 1786 nicht mehr als
7000 Thaler, womit die Besoldungen sämmtlicher Lehrer und überhaupt
alle Ausgaben der Hochschule bestritten werden mussten. Vergeblich
baten die Professoren, dass ihr die Präbenden der ehemaligen Dom-
stifte von Magdeburg und Halberstadt überwiesen würden.1 Der Tüchtig-
keit ihrer Lehrkräfte, unter denen sich die Juristen Stryk und Tho-
masiüs, der Theologe Francke, der Philologe Cellarius und die
Mediciner Stahl und F. Hofemann befanden, war es zu danken, dass
die Universität Halle lange Zeit den ersten Platz unter den deutschen
Hochschulen behauptete.
Sie trat erst zurück, als die hannoversche Eegierung im J. 1734
in Göttingen eine Universität errichtete, für deren Unterhalt die Summe
von 16 000 Thalern jährlich bewilligt wurde. Bei der Besetzung der
Professuren und der Ordnung der Studienverhältnisse waltete ein freier
Geist, welcher den Forderungen der Zeit nach jeder Richtung gerecht
zu werden bemüht war.
Den Naturwissenschaften wurde eine grössere Berücksichtigung zu
Theil als an anderen Hochschulen. Werlhoe, welcher beauftragt wurde,
die Vorschläge für die Einrichtung der medicinischen Facultät zu er-
statten, stellte in seinem Gutachten vom 16. Dezember 1733 den Antrag,
Lehrkanzeln für Anatomie, Botanik, Chemie nebst Arzneimittellehre,
sowie für medicinische Theorie und medicinische Praxis zu gründen,
einen botanischen Garten und ein chemisches Laboratorium anzulegen,
sowie ein Krankenhaus zu erbauen, welches für den LTnterricht der
Studierenden der Medicin benutzt werden sollte.2
Kleinere Universitäten entstanden im 18. Jahrhundert zu Erlangen
(1743), zuBützow in Mecklenburg (1760), zu Stuttgart (1781), die aus
der Karlsschule hervorging, und zu Bonn (1784), welche sich aus einem
Jesuiten-Gymnasium zur Hochschule erhob, aber als solche damals kaum
ein Jahrzehnt bestand.
Deutschland besass somit bei einer Bevölkerung, welche kaum die
Hälfte der heutigen betrug, ungefähr die doppelte Anzahl von Hoch-
schulen, als gegenwärtig bestehen. Schon aus dieser Thatsache ergiebt
sich, dass die damaligen Universitäten von den heutigen in manchen
Beziehungen verschieden waren. Sie dienten nicht so ausschliesslich
der Vorbereitung für einen speciellen Lebensberuf, wie jetzt, sondern
in vielen Fällen nur zur Vervollständigung der Allgemeinbildung; sie
1 J. Ch. Förster: Geschichte der Universität Halle in ihrem ersten Jahr-
;, Halle 1799.
E. F. Rössler: Die Gründung der Universität Göttingen, Göttingen 1855.
hundert, Halle 1799
2
Die gelehrten Gesellschaften u. Universitäten im 17. u. 18. Jahrhundert. 325
begnügten sich ferner mit einer weit niedrigeren Frequenz von Stu-
dierenden,- da die Unterhaltungskosten auch viel geringer waren, als
gegenwärtig.
In Wien studierten i. J. 1723 nur 25 Mediciner, in Göttingen in
der Periode von 1767—78 jährlich 50 bis 80. Jena zählte 1768 17
und 1773 42 Studierende der Medicin; in Altdorf promovirten in der
Zeit von 1623 — 1794 nicht mehr als 386 Mediciner. In Würzburg
lagen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die medicinischen Studien
gänzlich darnieder. Der russische Leibarzt M. A. Weikaed erzählt in
seiner Selbstbiographie (Berlin und Stettin 1784): „Als ich i. J. 1761
mit C. C. Siebold und Seneet in Würzburg Medicin zu studieren
anfing, waren seit mehreren Jahren keine Zuhörer dagewesen, und
hatten folglich auch keine Collegien stattgefunden. Ein Jahr vorher
hatten zwei angefangen, und später mehrte sich die Zahl auf neun.
Die Lehrer, die nur 200 — 300 Gulden Gehalt hatten, betrachteten
natürlich ihr Lehramt als eine Nebensache und waren auch entwöhnt
vom Schulgeschäft, und mussten wir mehrmals beim Kector magnificus
klagen, ehe wir sie sämmtlich dahin brachten, wieder Collegien zu lesen.
Sie mussten durch Ermahnungen und ernstliche Drohungen hierzu ge-
zwungen werden. Dessen ungeachtet ging es damit äusserst sparsam
zu; es war oft Vierteljahre lang Stillstand und doch bei alledem der
Yerlust nicht sonderlich."1
Stärker war der Besuch einiger ausländischer Hochschulen. Alex.
Moneo hatte während seiner 50jährigen Lehrthätigkeit in Edinburg
14 000 Schüler; die Zahl der dortigen Mediciner betrug in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts durchschnittlich 400. In Leiden gab es
i. J. 1709 gegen 300 Studenten. In Padua betrachtete man es als ein
schlechtes Jahr, als 1613 nicht mehr als 1400 Studierende dort im-
matriculirt waren. Pavia hatte 1782 unter 2000 Studenten 200 Me-
diciner. 2
Die deutschen medicinischen Facultäten waren mangelhafter und
dürftiger eingerichtet als diejenigen Hollands, Italiens und Frankreichs.
Aus diesem Grunde begaben sich viele Studierende der Medicin aus
Deutschland dorthin, um ihre fachmännische Ausbildung zu vervoll-
ständigen. Namentlich genossen die Universitäten Leiden, Padua,3
Montpellier und Paris in dieser Hinsicht einen grossen Ruf und wurden
gern besucht.
1 Kölliker a. a. 0. S. 21.
2 G. Fischer: Chirurgie vor 100 Jahren, Leipzig 1876, S. 77.
3 S. das Namensverzeichniss der Studenten, welche dort immatriculirt
waren, in Dell' universita di Padova, Padova 1841.
326 Der medicinisehe Unterricht in der Neuzeit.
Dazu kam, dass sich Frankreich allmälig zum Mittelpunkt der
weltmännischen Bildung entwickelte, welche an den deutschen Univer-
sitäten leider sehr vernachlässigt wurde. Im 16. Jahrhundert hatten
die letzteren wohl ihrer Aufgabe entsprochen und jene Summe von
Wissen geboten, welche damals als Inbegriff einer höheren Allgemein-
bildung galt. Als aber die Vornehmen nicht mehr darnach trachteten,
durch ihre Kenntniss der lateinischen oder griechischen Sprache zu
glänzen, und die Entdeckungen und Fortschritte in den Naturwissen-
schaften einen anderen Ideenkreis in den Vordergrund drängten, ge-
nügte der Studienplan der deutschen Universitäten den Anforderungen
nicht mehr, und man suchte im Auslande Das zu erwerben, was die
Heimath nicht gewährte.1
Auf diese Weise entstand ein Zwiespalt zwischen der gelehrten
und der weltmännischen Bildung, der sich zum Theil bis auf unsere
Tage erhalten hat. Die Universitäten wehrten sich gegen die Aufnahme
von neuen Bildungs-Elementen, und die auf den politischen, militäri-
schen, künstlerischen, technischen und industriellen Gebieten hervor-
ragenden Männer, welche durch den Aufenthalt im Auslande einen
weiteren Gesichtskreis gewonnen hatten, spotteten über die Einseitigkeit
der Stubengelehrten, die durch die Unbeholfenheit ihrer äusseren Er-
scheinung manchmal eine klägliche Rolle spielten.
An den deutschen Universitäten jener Zeit herrschte ein wüstes,
rohes Leben. „Auf unsern deutschen hohen Schulen nimmt man unter
den Studierenden statt der Bücher nichts als Streitigkeiten, statt der
Hefte Dolche, statt der Feder Degen und Federbüsche, statt gelehrter
Unterhaltungen blutige Kämpfe, statt des fleissigen Arbeitens unauf-
hörliches Saufen und Toben, statt der Studierzimmer und Bibliotheken
Wirthshäuser und Hurenhäuser wahr", schreibt der Arzt Lotichius
i. J. 1631.2 Der Pennalismus, d. i. die durch das Herkommen zur fest-
stehenden Einrichtung gewordene Sitte der älteren Studenten, die jün-
geren zu tyrannisiren, führte zu entsetzlichen Ausschreitungen, zu
Grausamkeiten und sogar zu Verbrechen. Auch gegen die Bürgerschaft
erlaubten sich die Studenten manche Unverschämtheiten.3
Der Senat der Universität Leipzig sah sich 1625 veranlasst, den
1 Biedermann (Deutschland im 18. Jahrhundert, Leipzig 1858, II, 1, S. 18)
schreibt: „Die Mehrzahl (der deutschen Universitäten) war zu Tummelplätzen
orthodoxer Beschränktheit, pedantischer Buchstabengelehrsamkeit und schola-
stischer Spitzfindigkeiten ausgeartet."
2 Oratio de fatalibus academiarum in Germania periculis in acad. Eintel,
rec. 1631, p. 67 nach Meiners: Gesch. d. hohen Schulen.
3 Tiioluck a. a. 0. I, 1, 264 u. ff.
Die gelehrten Gesellschaften u. Universitäten im 17. u. 18. Jahrhundert. 327
dortigen Studierenden zu verbieten , „die Hochzeiten zu stören, die
Gäste zu stossen, die Frauen und Jungfrauen durch obseöne Bemer-
kungen zu beleidigen oder ihnen gar ein Bein zu stellen."1 In Jena
lieferten die Studenten i. J. 1660 der Polizei eine wirkliche Schlacht,
bei der mehrere todtgeschossen wurden. Ähnliche Excesse ereigneten
sich auch in Ingolstadt. Aber es war kein Wunder, wenn unter den
Studenten derartige Dinge vorkamen ; denn der Ton, welcher unter den
dortigen Professoren herrschte, war manchmal auch nicht viel besser.
Im J. 1663 wurde ein Professor vom Bector mit Carcer bestraft, weil
er seinen Schwiegervater geprügelt hatte.2 Die Universität Helmstädt
wurde vom Landesherrn ermahnt, bei Neubesetzungen der Lehrkanzeln
keine „versoffenen Professoren" in Vorschlag zu bringen.3 Von der
Universität Herborn berichtet Steubing: „Die ganze hohe Schule war
nicht nur in Parteien getheilt, sondern obendrein ein Professor dem
andern zuwider. Sie stichelten nicht nur, wo sie konnten, in ihren Vor-
lesungen auf einander, sondern befehdeten sich auch vor der Begierung." 4
Derartige Verhältnisse existirten noch ein Jahrhundert später; als sich
i. J. 1760 ein Professor beim Senat der Universität Ingolstadt beklagte,
dass er von der medicinischen Facultät beleidigt worden sei, erklärte
dieselbe, „dass sie den Kläger wegen seiner niederträchtigen Handlungen
allerdings für einen schlechten Kerl halte, sich aber gerade nicht er-
innere, ihn officiell so betitelt zu haben."5
Es war begreiflich, dass sich eine Beaktion gegen diese Verwil-
derung der Sitten und LTmgangsformen geltend machte. Die Universität
Göttingen begann damit, indem sie ihren Studierenden höflichere Ma-
nieren empfahl. Man nahm dabei das französische Wesen zum Muster,
welches überall an den Fürstenhöfen Eingang gefunden hatte. Was
die den Kreisen der Vornehmen an gehörigen Studenten schätzen lern-
ten, fand bald auch bei den übrigen Anklang. So entwickelte sich bei
einem Theile der deutschen Studentenschaft das anerkennenswerthe Be-
streben, das gesellige Leben durch gefällige Formen zu veredeln.
Die urwüchsige Derbheit, welche sich auf vielen, namentlich den
kleineren Hochschulen breit machte, sah darauf mit Verachtung herab
und bezeichnete es als „Petit-Maiterei" und unpatriotische Nachäffung
fremdländischer Sitten. Auch ernste Historiker haben diese Auffassung
getheilt und dabei zu wenig berücksichtigt, dass eine Beform nach
dieser Bichtung nothwendig war. Das deutsche Volk hat dem Um-
1 Gerhardt in Zwiedineck-Südenhorst's Zeitschr. 1887, IV, 955.
2 Prantl a. a. 0. I, 500. 503. 3 Tholuck a. a. 0. I, 1, 142.
4 Tholuck a. a. O. T, 1, 140. 5 Prantl a. a. 0. I, 606.
328 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
stände, dass es stets beflissen war, seine Mängel zu verbessern und von
seinen Freunden wie von seinen Feinden zu lernen, ohne Zweifel sehr
viel zu verdanken.
Im Beginn des 17. Jahrhunderts umfasste die allgemeine Vorbil-
dung der Studenten hauptsächlich die lateinische, griechische und
hebräische Sprache, Eechnen nebst etwas Mathematik, Kirchengeschichte
und die Lektüre alter Autoren, welche zur Mittheilung historischer,
geographischer und naturwissenschaftlicher Bemerkungen Gelegenheit
bot. Allmälig aber wurde den letzteren ein grösserer Spielraum ge-
währt.
Schon am Schluss dieses Jahrhunderts erschienen die französische
und englische, manchmal auch die italienische oder spanische Sprache,
die Geschichte, Geographie, Physik und Naturwissenschaften neben dem
Tanzen, Fechten und Reiten als systemisirte Unterrichtsgegenstände im
Studienplan der für die Söhne der Adeligen bestimmten Gymnasien.
Man nannte diese Wissenschaften und Künste die „galanten", wie man
ja auch in andern Beziehungen diesen Ausdruck für „ritterlich" oder
„den vornehmen Ständen vorbehalten" zu gebrauchen pflegte.
Leibnitz, Seckendorfe, Thomasius und andere vorurteilsfreie
Männer verlangten mit Entschiedenheit, dass die Realien in den Lehr-
plänen eine grössere Berücksichtigung erhielten. Aber noch weit mehr
als diese wurde die Muttersprache an den deutschen Unterrichtsanstalten
vernachlässigt. In Pommern wurde den Lehrern an den Lateinschulen
i. J. 1690 eingeschärft, sie möchten mit ihren Schülern stets lateinisch,
niemals deutsch reden, weil das letztere leichtfertig, ärgerlich und schäd-
lich sei.1 Der Pädagog Francke in Halle klagte i. J. 1709 darüber,
dass es selten einen Studenten gebe, welcher einen deutschen Brief ohne
orthographische Fehler zu schreiben im Stande sei. Auch auf diesem
Gebiet war eine Reform dringend geboten.
Die Modernisirung der gelehrten Schulen begann im 18. Jahr-
hundert und vollzog sich auf Kosten der Studien in den alten Spra-
chen, welche im Lehrplan eine wohlthätige Beschränkung erfuhren.
Einige verrannte Philologen jammerten zwar darüber und prophezeiten
für Deutschland die Wiederkehr „der Barbarei des Mittelalters"; aber
ihre Worte erfüllten sich nicht, wenn man nicht in dem Auftreten von
Lessing und Klopstock einen Rückschritt der Cultur erblicken will,
wie Paulsen witzig bemerkt.2
1 Tholuck a. a. 0. I, 1, 173. — Biedermann a. a. 0. II, 1, 511,
2 Paulsen a. a. 0. S. 378.
Der medicin. Unterricht in den theoret. Fächern, sowie in der Anatomie etc. 329
Der medicinische Unterricht in den theoretischen
Fächern, sowie in der Anatomie, Botanik, Chemie
und Arzneimittellehre.
In der Organisation des Unterrichts nnd im Lehrbetrieb der Uni-
versitäten änderte sich während des 17. Jahrhunderts nur wenig. Selbst
bei den medicinischen Facultäten bildeten die theoretischen Vorlesungen
die Hauptsache, wenn auch die Bedeutung der praktischen Demonstra-
tionen mehr als früher anerkannt wurde.
In einem Lektionskatalog der Universität Würzburg v. J. 1604
werden folgende Vorlesungen von der medicinischen Facultät angekün-
digt: 1) Heem. Birkman liest über die drei prognostischen Schriften
des Hippokrates. 2) Jon. Stengel bespricht die Krankheiten der
Brust und einiger anderer Organe. 3) Georg Leyer trägt über die
Unterschiede und die Ursachen der Krankheiten und ihrer Erschei-
nungen nach Galen vor.1 Die Professoren behandelten ihre Lehr-
aufgaben mehr nach der literargeschichtlichen Methode der Scholastik,
als im Sinne des induktiven Empirismus der Neuzeit.
Eine strenge Scheidung der Lehrkanzeln nach den verschiedenen
Disciplinen kam erst im 18. Jahrhundert allmälig zu Stande. Sie
wurde nothwendig, als die Entwickelung des praktischen Unterrichts
in der Medicin eine Summe von Specialkenntnissen in einzelnen Dis-
ciplinen verlangte. Während vorher die Professoren ohne Schaden für
den Unterricht ihre Lehrkanzeln wechseln durften, da der Zustand der
Wissenschaft eine gleichmäcsige Ausbildung in derselben gestattete,
blieben sie von jetzt ab auf ein bestimmtes Fach beschränkt, damit sie
sich auf diesem Gebiete zum Meister entwickeln konnten. Doch brachte
es die durch die niedrigen wissenschaftlichen Anforderungen ermöglichte
und durch die ärmliche finanzielle Lage der Universitäten gebotene
geringe Anzahl von systemisirten Lehrkanzeln mit sich, dass von dem-
selben Lehrer fast überall mehrere Disciplinen gleichzeitig vertreten
wurden. So war an den meisten Hochschulen das Lehramt der Botanik
und Chemie mit dem der Arzneimittellehre, dasjenige der Anatomie
mit dem der Chirurgie, dasjenige der Physiologie mit dem der Ana-
tomie oder allgemeinen Pathologie vereinigt.
Es kam sogar vor, dass Professoren einer andern Facultät, z. B.
der philosophischen, Vorlesungen über einzelne Theile der Heilkunde
1 F. v. Wegele: Geschichte der Universität Würzburg, Würzburg 1885,
II, 226.
330 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
hielten, wie es sich auch andererseits nicht selten ereignete, dass Medi-
aner ihre Lehrthätigkeit auf Wissenschaften ausdehnten, die ihrem
Berufe fern lagen.
H. Coneing in Helmstädt lehrte nicht blos Medicin, sondern auch
Philosophie und Politik und wurde „der Begründer der deutschen
Rechtsgeschichte", wie 0. Stobbe sagt. Meibom las neben der Medicin
noch über Geschichte und Dichtkunst, und Joh. Heine. Schulze
hatte in Altdorf neben seiner medicinischen Professur den Lehrstuhl
für griechische Sprache und in Halle, wohin er später übersiedelte,
denjenigen der Beredsamkeit und Archäologie inne.
Die damaligen Universitäten waren in dieser Hinsicht unsern
heutigen Gymnasien ähnlich, an denen ja auch bisweilen ein Mathe-
matiker einen Theil der Unterrichtsstunden des Philologen übernimmt
oder umgekehrt. Es wurde in jener Zeit vom akademischen Lehrer
nicht verlangt, dass er die Wissenschaft, welche er vortrug, durch eigene
Arbeiten gefördert habe. Protektionen, Vetterschaften, persönliche Vor-
züge und allerlei Zufälligkeiten waren oft die Ursachen, welche die
Verleihung einer Professur bewirkten.
Übrigens waren die damit verbundenen Besoldungen manchmal so
gering, dass sich kaum Bewerber darum fanden. An kleinen Hoch-
schulen musste man zufrieden sein, wenn einer der dortigen Ärzte sich
bereit erklärte, eine Lehrkanzel der medicinischen Facultät zu über-
nehmen, die er dann vielleicht verliess, wenn sich ihm die Aussicht
auf eine einträgliche Praxis in einer grösseren Stadt darbot.
An den deutschen Universitäten war es üblich, dass der Lehrer
seinen Vorlesungen eine Schrift oder ein Lehrbuch, welches den Gegen-
stand behandelte, zu Grunde legte. An den Inhalt desselben pflegte
er seine eigenen Bemerkungen anzuschliessen.
Die lateinische Sprache, welche dabei gebraucht werden musste,
war nicht geeignet, ein allseitiges tiefes Verständniss der Sache zu er-
möglichen; sie verleitete zu Missverständnissen und gewöhnte an hohle
Redensarten, hinter denen sich die anspruchsvolle Oberflächlichkeit zu
verbergen suchte. Es lässt sich leicht ermessen, dass diese Zustände
für die Ausbildung des Arztes die übelsten Folgen haben mussten.
Freie Vorträge wurden, wenigstens an deutschen Universitäten,
selten gehalten; denn sie setzten voraus, dass der Lehrer sowohl sein
Fach gründlich beherrschte, als auch eine ausserordentliche Gewandt-
heit im Gebrauche der lateinischen Sprache besass.
Erst im 19. Jahrhundert gelang es, diese das Lehren und Lernen
ohne Noth erschwerende Sitte abzuschaffen. Niemals kann die Schuld
für den Schaden, der dadurch den Studierenden und den Kranken, der
Der medicin. Unterricht in den theoret. Fächern, sowie in der Anatomie etc. 331
medicinischen Wissenschaft, wie der deutschen Culturentwickelung zu-
gefügt wurde, gesühnt werden.
Der praktische Unterricht in der Medicin lag, wie erwähnt, An-
fangs ausserhalb des Studienplanes der Universitäten. Er wurde nur
allmälig in denselben aufgenommen; am frühesten geschah dies mit
der Anatomie, am spätesten mit der klinischen Unterweisung am
Krankenbett.
Die Fortschritte, welche der anatomische Unterricht in dieser
Periode machte, bestanden in der Vermehrung des Studien-Materials,
der vollständigeren Ausnutzung desselben, der Gründung anatomischer
Sammlungen, der Errichtung von besonderen Professuren und Instituten
für dieses Fach und in der Theilnahme der Studierenden an den Zer-
gliederungen.
Der Mangel an menschlichen Leichen nöthigte freilich dazu, dass
häufig in der früher üblichen Weise thierische Körper zu anatomischen
Studien verwendet wurden; doch geschah dies jetzt mit grösserem
Nutzen für die anatomische Ausbildung und führte zur Beobachtung
mancher werthvollen zootomischen und vergleichend -anatomischen
Thatsache.
Wenn die Zahl der menschlichen Leichen, welche den anatomischen
Lehranstalten zur Verfügung standen, klein war, so muss man bedenken,
dass auch nicht viele Studierende vorhanden waren, so dass der Ein-
zelne Alles deutlich sehen und beobachten konnte. Doch wurden dem
anatomischen Unterricht durch die Nachlässigkeit, mit welcher die Be-
hörden die Lieferung des erforderlichen Leichenmaterials betrieben, durch
die ermüdenden Weitläufigkeiten und zeitraubenden, von unverständigen
Bureaukraten ersonn enen Schreibereien, die damit verbunden waren,1
und vor Allem durch die unter dem Volke herrschenden Vorurtheile
viele Schwierigkeiten bereitet.
In den Kreisen der Vornehmen Hessen dieselben allerdings nach;
sie machten hier einer wissenschaftlichen Neugier Platz, welcher bis-
weilen eine Haut-göut-artige Sinnlichkeit nicht fehlte. Die Leichen-
Sektionen erschienen als piquante Schauspiele, zu denen sich die Zu-
schauer drängten; den Höhepunkt der dramatischen Situation bezeichnete
die Demonstration der sexuellen Organe, für welche ein erhöhtes Ein-
trittsgeld gefordert wurde. Als der regierende Herzog von Würtem-
berg im J. 1604 den Besuch von drei sächsischen Prinzen empfing,
führte er sie, um ihnen eine Unterhaltung zu verschaffen, nach Tübingen,
wo sie der Zergliederung einer menschlichen Leiche beiwohnten, welche
1 Prantl a. a. 0. T, 490.
332 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
acht Tage dauerte.1 Der Anatom Werner Kolfink in Jena wurde an
den Hof nach Weimar beschieden, wo er in Gegenwart von Fürsten und
vornehmen Herren eine Sektion ausführen musste; sie bildete gleichsam
einen Theil der Vergnügungen, welche der Herzog seinen Gästen bot.2
In Frankreich wurde das wissenschaftliche Interesse Modesache; selbst
hochstehende Damen scheuten sich nicht, Gefallen an anatomischen
Demonstrationen zu finden.
Anders dachte das Volk darüber. Hier erhielt sich der fromme
Aberglaube, welcher in der anatomischen Zergliederung des mensch-
lichen Körpers ein Verbrechen sah, das an ihm ausgeübt wurde. Dazu
kam das aus alten Zeiten stammende Mährchen', dass die Anatomen,
wenn sie keine Leichen zur Verfügung haben, auch lebende Menschen
zu ihren Untersuchungen verwendeten. Die dadurch erzeugte Er-
bitterung wurde noch gesteigert durch die illegale Art, in welcher viele
Leichen in den Besitz der anatomischen Anstalten gelangten.
In Jena erbaten sich Verbrecher, welche zum Tode verurtheilt
waren, bevor sie dem Henker übergeben wurden, die Gnade aus, dass
ihre Körper nicht dem Professor Kolfink überliefert würden, und die
Bauern in der Umgegend von Jena Hessen die Gräber ihrer An-
gehörigen bewachen, damit deren Leichen nicht „gerolfinkt" würden.
J. Becher musste 1661 aus Würzburg fliehen, weil er den Leichnam
eines hingerichteten Wreibes zergliedert hatte.3 In Berlin und Lyon
wurden die anatomischen Anstalten von dem aufgeregten Volk gestürmt
und die Anatomen gemisshandelt;4 aus dem gleichen Grunde wurde
auch die Anatomie zu Edinburg im J. 1725 vom Pöbel zerstört.5 Noch
heut ist dieses Vorurtheil nicht gänzlich verschwunden. Vor wenigen
Jahren richteten die Pfründner der Stadt Wien an den dortigen
Magistrat die Bitte, dass ihre Leichen nicht der Anatomie übergeben
würden.
Glücklicher Weise war man nicht überall so engherzig. Vieussens
hatte in Montpellier Gelegenheit, über 500 Leichen zu zergliedern.
LiEüTAUD konnte sich auf 1200 Sektionsberichte stützen. Haller er-
zählt, dass er während seiner Lehrthätigkeit in Göttingen (1736 — 1753)
ungefähr 350 Sektionen ausgeführt habe; die unter seiner Leitung
1 J. Säxinger: Über die Entwiekelung des medicin. Unterrichts an der
Tübinger Hochschule, 1883.
2 G. W. Wedel: Oratio fimebr. Rolfincio dicta, Jena 1675.
3 Kölliker a. a. 0. S. 11.
4 J. P. Frank: System der medicinischen Polizei, Wien 1817, VI, 2,
S. 60 Anm.
5 A. Grant: The story of the university of Edinburgh, London 1884.
Der rtiedicin. Unterricht in den theoret. Fächern, sowie in der Anatomie etc. 333
stehende dortige Anatomie erhielt jährlich 30 — 40 Leichen.1 Ebenso
günstig stand es in Strassburg; im Winter d. J. 172,5 wurden in der
dortigen Anatomie 30, 1760 sogar 60 Leichen zergliedert.2 In Paris,
Leyden und an einigen italienischen Hochschulen war man so viel als
möglich bemüht, die anatomischen Lehranstalten mit dem nothwendigen
Studien-Material zu versorgen. Albeetini in Bologna erzählte, dass
man ihm selbst in wohlhabenden Familien bereitwillig die Erlaubniss
zur Sektion ertheilt habe, wenn es sich darum handelte, die Ursache
einer Krankheit zu ergründen.
An andern Orten hatte die Vernachlässigung der anatomischen
Demonstrationen nicht so sehr in dem Mangel an Leichen, als in der
Bequemlichkeit und dem Unverstand der Professoren ihren Grund. In
Prag wurden in einem Zeitraum von 22 Jahren (1690 — 1712) nur drei
Zergliederungen vorgenommen.3 In Wien fand während des Jahres 1741
nicht ein einziger Actus anatomicus statt; als der Professor dieses Faches
von der Regierung deshalb getadelt wurde, brachte er unter Anderem
zu seiner Entschuldigung vor, dass er keinen Prosector zur Unter-
stützung gehabt habe.4 Die medicinische Facultät zu Ingolstadt be-
antragte im J. 1753 sogar, die Professur der Anatomie gänzlich auf-
zuheben, da es am besten sei, diese Wissenschaft erst nach der Ab-
solvirung der medicinischen Studien während der ärztlichen Praxis zu
erlernen. 5
Doch traf man im 18. Jahrhundert in den meisten deutschen
Staaten Einrichtungen, um dem beständigen Leichen-Mangel, an welchem
die anatomischen Lehranstalten litten, abzuhelfen. Im J. 1716 verord-
nete die kurfürstlich sächsische Regierung, dass die Leichen aller zum
Tode verurtheilten Verbrecher des Leipziger Kreises auf Verlangen der
dortigen medicinischen Facultät ohne Weiteres der Anatomie übergeben
würden. Desgleichen wurde auch für die Bedürfnisse der Anatomie zu
Wittenberg Sorge getragen. Im J. 1723 wurde bestimmt, dass auch
Leichen von ertrunkenen und todt gefundenen Personen, insofern es
sich nicht um „honoratiores" handelte, sowie von Selbstmördern und
Sträflingen, die in den Gefängnissen starben, zu anatomischen Zwecken
verwendet werden sollten; ferner wurde verfügt, dass die armen Leute,
welche in den Krankenhäusern auf öffentliche Kosten verpflegt wurden,
wenn sie dort starben, und ihre Angehörigen die Begräbnisskosten nicht
erschwingen konnten, den medicinischen Facultäten überliefert wurden,
1 A. Valentin in der Denkschrift über A. v. Haller, Bern 1877, S. 72.
2 Wieger a. a. 0. S. 82.
3 Hyrtl: Geschichte der Anatomie in Prag, 1841, S. 26.
4 Rosas a. a. 0. II, 256. 5 Prantl a. a. 0. I, 607.
334 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
, jedoch nur zur blossen Sektion und Demonstrirung der Viscerum, nicht
aber zur völligen Anatomirung".1
Die preussische Regierung erliess ebenfalls geeignete Verordnungen,
damit das zum anatomischen Studium erforderliche Material nicht fehle.
Die Anatomie zu Göttingen erhielt die Leichen der Prostituirten und
der unehelichen Kinder. In Wien mussten seit 1749 die Hospitäler,
wenn keine Hinrichtungen stattfanden, die Leichen für die anatomischen
Untersuchungen und Demonstrationen liefern.2 M. Stoll erwartete eine
erhebliche Vermehrung des Studien-Materials, wenn auch die Leichen
von Bankerottierern diesem Zweck überwiesen würden. Die Anatomie
zu Abo in Finnland durfte sogar die Leichen aller Derjenigen, welche
eine Unterstützung vom Staat genossen, in Anspruch nehmen.
In dieser Periode begann man auch besondere Gebäude für die
Anatomie zu errichten. Hazon hat eine Beschreibung des anatomischen
Amphitheaters hinterlassen, welches im J. 1 604 zu Paris erbaut wurde.
Die Herstellung desselben geschah binnen 14 Tagen; es war sehr
klein und durchaus nicht solid. Schon nach- kurzer Zeit wurde an
seiner Stelle ein grösseres und zweckmässigem Gebäude errichtet,
welches indessen auch recht schlecht war. Es hatte z. B. keine Fenster,
sondern nur Luftlöcher, wie Hazon erzählt, der darin als Student im
J. 1730 Vorlesungen hörte, und war daher der Kälte und dem Winde
zugänglich.
Auf Winslows Veranlassung und unter seiner Leitung erhielt die
Pariser Anatomie im J. 1744 ein Gebäude aus Quadersteinen, welches
mit Glasfenstern versehen war. Die anatomische Lehranstalt zu Leiden
war mit Skeletten von Menschen und Thieren verschiedener Arten aus-
gestattet und geräumig eingerichtet.3 Die Chirurgen zunft in Edinburg
gründete 1697 ein anatomisches Theater, in welchem Demonstrationen
stattfanden, und schuf 1705 eine Professur der Anatomie.
In Würzburg wurde im J. 1724 ein anatomisches Theater er-
richtet; es war ein Kuppelbau mit Oberlicht, hatte fressendes Wasser
und kostete 10 000 fl. Im Parnassus boicus (München 1725, p. 310) wird
darüber berichtet: „Zur Aufnamb des Studii anatomici und chirurgici
spahret man keine Kosten, und ist ein berühmter Chirurgus auß Paris,
Monsieur Sivert, unter einer starken Besoldung (nämlich 400 Reichs-
thaler) dahin beruften worden, umb die chirurgischen Griff geschickt
zu zeigen und die Anatomie oder Zergliederung deß menschlichen Leibs
1 J. P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 73 u. ff.
2 J. D. John: Lexikon der k. k. Medicinalgesetze, Prag 1798, VI, 712 u. ff.
3 Alb. Kyper: Medicinam rite discendi et exercendi methodus, Lugd. Batav.
1643, p. 112.
Der medioin. Unterricht in den thcoret. Fächern, sowie in der Anatomie etc. 335
zu lehren, worzu ihm aus dem prächtigen Spitall die Körper angeschafft
werden: wie er denn unlängst an einer in Raserey verstorbenen Frauen-
Person ein Probstuck abgelegt." Im J. 1788 wurde die anatomische
Anstalt zu Würzburg erweitert, indem an das Amphitheater zwei Säle,
in denen die anatomische Sammlung untergebracht wurde, ein Saal für
die Präparir-Übungen der Studierenden, ein Zimmer, in welchem der
Professor arbeitete, und eine Küche angebaut wurden.1
Die Universität Breslau wurde 1745, und diejenige zu Königsberg
1738 mit einem anatomischen Theater ausgestattet; das letztere ver-
dankte seine Existenz dem damaligen Professor der Anatomie, der es
auf seine eigenen Kosten erbauen liess.2 Das anatomische Theater zu
Pavia fasste 400 Zuschauer, war sehr hell und mit den Bildnissen der
berühmtesten Anatomen geschmückt. In dem daran stossenden Saale,
welcher mit breiten Steinplatten belegt, mit einem Herde, mit grossen
Kesseln und beständig fliessendem reinen Wasser versehen war, fanden
die Secir-Übungen der Studenten statt.3
Derartige Anstalten wurden auch in Städten, welche keine Uni-
versität besassen, wie in Berlin, Bremen, Frankfurt a. M., Nürnberg u. a. 0.
errichtet und den dortigen Ärzten und Chirurgen zum Gebrauch über-
geben. An manchen Orten wurde ein Schuppen oder ein anderes Lokal,
welches nicht benutzt wurde, für die anatomischen Sektionen und Demon-
strationen verwendet.
Ausser den anatomischen Instituten entstanden auch anatomische
Museen, welche bald als werthvolles Lehrmittel beim medicinischen
Unterricht erkannt wurden. F. Ruysch legte eine Sammlung ana-
tomischer Präparate an, welche er im J. 1717 um den enormen Preis
von 30 000 fl. an Peter den Grossen verkaufte. Binnen zehn Jahren
gelang es ihm, eine neue Sammlung herzustellen, welche zum grössten
Theile vom polnischen Könige Johann Sobieski erworben wurde, der
dafür 20 000 fl. bezahlte.
John Hunters berühmtes Museum enthielt 1 4 000 anatomische
Präparate; es wurde nach seinem Tode von der englischen Regierung
für 15 000 Pfd. Sterling angekauft und dem R. College of Surgeons zum
Geschenk gemacht, wo es sich noch heut befindet. Grossen Ruf ge-
nossen auch J. N. Lieberkühn's Injektions-Präparate, sowie J. G. Waltee's
anatomische Sammlung, die Frucht einer angestrengten Arbeit von
54 Jahren; sie bestand aus 2868 Nummern, wurde im J. 1803 von der
1 Kölliker a. a. 0. S. 25. 75. 78.
2 D. H. Arnoldt a. a. 0. — Frank a. a. 0. VI? 2, S. 88.
3 J. P. Frank a. a. 0. VI, 1, S. 327.
336 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
preussischen Regierung für 100 000 Thaler erworben und bildete den
Grundstock des anatomisch-zoo tomischen Museums der Berliner Hoch-
schule.
Auch wurden von geübten Künstlern Nachbildungen anatomischer
Präparate in Wachs angefertigt, welche zum medicinischen Unterricht
dienten. Einzelne Italiener erreichten in den Modellir-Arbeiten dieser
Art eine bewunderungswürdige Geschicklichkeit. Der Kaiser Josef IL
liess eine berühmte Sammlung von Wachs-Präparaten, welche in Florenz
unter Eontana's Leitung hergestellt worden war, für 30 000 fl. an-
kaufen, nach Wien bringen und als Lehrmittel der militärärztlichen
Akademie übergeben. Übrigens machte schon P. Frank darauf auf-
merksam, dass diese Wachs-Nachbildungen sich nicht so sehr für den
anatomischen Unterricht der Studierenden der Medicin eignen, als sie
zu empfehlen sind, wenn es gilt, Laien, welche einen unüberwindlichen
Abscheu vor Leichen haben, eine allgemeine oberflächliche Kenntniss
des menschlichen Körpers und seiner verschiedenen Theile zu ver-
schaffen.
Ein wichtiges Lehrmittel für den anatomischen Unterricht bildeten
ferner die anatomischen Tafeln und Zeichnungen, welche theils selbst-
ständig erschienen, theils den Lehrbüchern der Anatomie beigegeben
wurden. Joh. Bemmelin nahm die schon früher geübte Methode
wieder auf, durch aufgeklebte und hinwegzuschlagende Bilder die Lage-
rung der Muskelschichten und Eingeweide kenntlich zu machen;1 in
derselben Weise verfuhr Clopton Havers.
Vortreffliche anatomische Tafeln, namentlich über die Vertheilu ng
der Nerven, verdankt man dem Maler Pietro da Cortona; die Titel-
vignette der Ausgabe von 1741 stellt die Blut-Transfusion dar. Gerard
de Lairesse lieferte die Zeichnungen für das anatomische Lehrbuch
des G. Bidloo. Vorzugsweise für Künstler berechnet waren das ana-
tomische Werk von B. Genga mit den Zeichnungen Ch. Errards, die
Anatomia dei pütori des Carlo Cesio, welche auch in deutscher Über-
setzung erschien, ferner das vom spanischen Anatomen und Maler
Martinez entworfene Bild der Muskeln des Körpers, welches sich durch
seine tadellosen Proportionen auszeichnet, die Tafeln von Ercole Lelli
u. a. m. Auch die Kupfer, welche die anatomischen Schriften von
W. Cheselden und Dom. Santorini zierten, ragten durch ihren hohen
künstlerischen Werth hervor; die letzteren wurden von Morgagni für
Musterbilder erklärt.
Ein weiterer Fortschritt bestand in der Einführung colorirter Zeich-
1 Choulant: Geschichte der anat. Abbildung, Leipzig 1852, S. 39. 82 u. ff.
Der medicin. Unterricht in den theoret. Fächern, sowie in der Anatomie etc. 337
nungen für anatomische Darstellungen; dadurch konnten die Arterien,
Venen, Nerven und die einzelnen Organe schärfer unterschieden werden.
Zum ersten Male kam dies in den Holzschnitten zur Anwendung, mit
welchen C. Aselli seine Arbeit über die Chylus-Gefässe ausstattete.
Im Beginn des 18. Jahrhunderts machte der Miniatur-Maler J. Che.
le Blon die ersten Versuche in gefärbter Schabkunst; 1721 veröffent-
lichte er das erste anatomische Blatt, das nach diesem Verfahren her-
gestellt worden war. Aber in weiteren Kreisen bekannt und für die
anatomischen Darstellungen verwerthet wurde die neue Erfindung des
Buntkupferdrucks erst durch Jan Ladmieal, welcher mehrere Ab-
handlungen der Anatomen B. S. Albinus und F. Kuysch mit der-
artigen Abbildungen versah, sowie durch J. F. Gautieb d'Agoty
der dabei hauptsächlich anatomische Präparate Duveeney's als Vorlage
benutzte.
Albinus hinterliess eine ausführliche Beschreibung der Herstellung
anatomischer Zeichnungen und gab dabei beachtenswerthe Kathschläge,
welche Fehler zu vermeiden und welche Regeln zu berücksichtigen
sind. * Er verwendete, wie er selbst erzählt, die Summe von 24 OOO Gul-
den aus seinem eigenen Vermögen auf die Anfertigung anatomischer
Tafeln.2 Als Zeichner stand ihm Jan Wandelaee zur Seite. Auch
Hallee, welcher eine Sammlung anatomischer Abbildungen veranstal-
tete, und W. Hüntee, dem man die beste Darstellung des schwangeren
Uterus verdankte, wurden von tüchtigen Künstlern unterstützt. End-
lich gab Pietee Campee, welcher den Zeichenstift ebenso geschickt zu
führen verstand als das Secirmesser, werthvolle Aufschlüsse über die
mathematische Conformation des Kopfes und machte auf die Bedeutung
des nach ihm genannten Gesichtswinkels für die Beurtheilung der
geistigen Begabung der Menschen aufmerksam.
Über die Art, in welcher der anatomische Unterricht ertheilt
wurde, erhalten wir durch mehrere Bilder der niederländischen Schule,
auf denen hervorragende Ärzte jener Zeit dargestellt werden, wie sie,
umgeben von ihren Schülern oder befreundeten Collegen, über ana-
tomische oder chirurgische Fragen Vorträge halten, eine klare An-
schauung.
Rembeandt's berühmtes Gemälde: „Die anatomische Vorlesung",
welches zu den bedeutendsten Schöpfungen dieses grossen Meisters ge-
hört, zeigt den Amsterdamer Anatomen Nie. Tulp, der damals zugleich
1 B. S. Albinus: Acad. annotat., Lugd. Bat. 1754, lib. I, Praef. p. 7 u. ff.,
lib. VIII, p. 30. 50.
2 Albinus a. a. 0. lib. III, p. 73.
Puschmann, Unterricht. 22
338 Der medieinische Unterricht in der Neuzeit.
die Würde des Bürgermeisters bekleidete, in dem Augenblick, da er
seinen ärztlichen Collegen eine Leiche demonstrirt; das Bild befindet
sich gegenwärtig in der königlichen Gallerie im Haag und ist durch
den Kupferstich sehr bekannt geworden. Auf einem anderen Bilde hat
Rembeandt den Dr. Deymann, den Nachfolger Tulp's im Lehramt,
dargestellt, wie er nach Entfernung des Schädeldaches ein Gehirn
präparirt.
Ähnliche Gemälde werden in Amsterdam und anderen Orten
Hollands aufbewahrt; es befinden sich darunter Werke von Aaet
PlETEESEN, TH. DE KEYSEE, MlCH. MlEEWELL, ADEIAN BaKEE, COEN.
Teoost und T. Regtees. Sie waren grösstentheils für die Chirurgen-
Gilde in Amsterdam bestimmt. l Sie bilden wichtige Documente sowohl
für die Geschichte des medicinischen Unterrichts als für die sociale
Stellung, welche die Ärzte zu jener Zeit in den Niederlanden einnahmen.
Der anatomische Unterricht beschränkte sich nicht mehr, wie in
früheren Zeiten, auf die Demonstration der Organe der grossen Körper-
höhlen, sondern unterzog auch die Muskeln, Gefässe und Nerven einer
eingehenden Betrachtung.
Auch wurden die Studierenden veranlasst, selbst an den anatomi-
schen Arbeiten Theil zu nehmen. Halles hatte als Student in Leyden
Gelegenheit, unter der Leitung seines Lehrers Albinus drei Leichen
zu seciren.2 Am College de St. Cöme zu Paris wurden i. J. 1750 ana-
tomische Secirübungen für die Studierenden eingerichtet.3 In Wien
führte der geistreiche Josef Baeth die Präparir-Übungen für die Stu-
dierenden ein. Stoll und P. Feank entwickelten die Notwendigkeit,
dass sich die künftigen Ärzte an den Zergliederungen selbst bethei-
ligten. 4
An den meisten Universitäten fiel dem Anatomen zugleich die
Aufgabe zu, die pathologischen Veränderungen an der Leiche zu demon-
striren und zu erklären. Weelhof forderte dies ausdrücklich in seinem
Gutachten über die Einrichtung der medicinischen Facultät in Göttingen.
Es geht dies auch aus der Thatsache hervor, dass die bedeutenden
Anatomen jener Periode, wie Lancisi, Valsalva, Moegagni, Lieutaud,
Poetal, Sandifoet, J. Huntee, Hallee u. A. zugleich die Grund-
lagen der pathologischen Anatomie gezeichnet haben.
1 J. B. Tilanus: Beschrijving der Schilderijen afkomstig van het Chirur-
gijnsgild te Amsterdam, Amsterdam 1865. — P. Triaire: Les le^ons d'anatomie
et les peintres Hollandais, Paris 1887.
2 Valentin a. a. 0. S. 68.
3 P. Frank a. a. 0. VI, 2. Abth., S. 331, Anm.
4 Frank a. a. O. VI, 2, S. 87.
Der medicin. Unterricht in den theoret. Fächern, sowie in der Anatomie etc. 339
Man begann auch schon Sammlungen pathologisch -anatomischer
Präparate anzulegen. Bereits im 17. Jahrhundert bewahrte G. Riva in
Rom eine Anzahl derselben auf, die er als Hospitalarzt gewonnen hatte.
Später geschah dies häutiger. Sömmering besass eine reichhaltige
pathologisch-anatomische Sammlung , welche auf Brambilla's Veran-
lassung um den Preis von 400 Dukaten für das Josefinum in Wien
erworben wurde.1
Zum Unterricht in der Heilmittellehre boten die botanischen Gär-
ten, in denen die Arzneipflanzen gezogen wurden, und die Apotheken
Gelegenheit. Der Jardin des plantes zu Paris wurde i. J. 1626 auf
Betreiben des königl. Leibarztes Labrosse angelegt. Gleichzeitig be-
stimmte ein Dekret des Königs Ludwig XIII. , dass „in Anbetracht,
dass an den medicinischen Schulen die pharmaceutischen Operationen
nicht gelehrt werden, drei Doktoren aus der Pariser Facultät ausgewählt
würden, welche den Schülern das Innere der Pflanzen und aller Medi-
camente demonstriren und die Bereitung jeder Art von Arzneien auf
einfachem und chemischem Wege zeigen sollten, und dass in einem
Zimmer Proben sämmtlicher Arzneien und allerlei seltener Naturgegen-
stände aufgestellt würden."2 Für die Erhaltung dieser Anstalt wurde
eine jährliche Summe von 21 000 Livres angewiesen. Naturforscher
wie Touknefort, die beiden Jussieu, Dufay, Daubenton und vor
Allen Buffon, welche hier thätig waren, machten den botanischen
Garten zu Paris zu einer europäischen Berühmtheit.
Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts wurden die meisten
Universitäten mit botanischen Gärten ausgestattet. Durch seinen Reich-
thum an officinellen Pflanzen zeichnete sich besonders derjenige zu
Chelsea (London) aus, welchen Sir Hans Sloane i. J. 1686 der Lon-
doner Apotheker-Genossenschaft schenkte.
Botanische Gärten entstanden ferner zu Amsterdam, Utrecht, Kopen-
hagen und Upsala in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in Oxford
(1632), Edinburg (1680), Cambridge (1702), Härder wyk (1709) und
Petersburg (1725). In Deutschland wurden die Hochschulen zu Giessen
(1609), Altdorf (1626), Jena (1629), Helmstädt (1634), Kiel (1669),
Halle, Tübingen (1675), Würzburg (1695), Wittenberg (1711), Ingol-
stadt (1723), Göttingen (1737), Frankfurt a. 0. (1744), Wien (1749),
Greifswald (1765), Prag (1776), Salzburg, Marburg und Rostock mit
botanischen Gärten verbunden.
1 Rud. Wagner: Soemmerings Leben, Leipzig 1844, II, 89.
2 Esquiros und Weil: Die wissenschaftlichen Institute zu Paris, Stuttgart
1850, I, S. 28.
22*
340 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Auch dienten dem botanischen Unterricht die Sammlungen ge-
trockneter Pflanzen, sowie die botanischen Bilder- Atlanten , von denen
manche durch ihre Naturtreue überraschen. 1 Zu dem gleichen Zweck
unternahmen die Studierenden mit ihrem Lehrer gemeinsame botanische
Ausflüge, welche Herbationen genannt wurden.
Ebenso wie beim botanischen Unterricht wurden auch beim chemi-
schen vorzugsweise die Interessen der Pharmakologie und Pharmacie
berücksichtigt. Es gab in jener Zeit bereits an mehreren Universitäten
Lehrkanzeln der Chemie und chemische Laboratorien, in denen die Her-
stellung pharmaceutischer Präparate erlernt werden konnte. Das Ver-
halten des Senates der Universität zu Innsbruck, welcher i. J. 1740 die
Errichtung von Professuren für Botanik und Chemie ablehnte, bildete
sicherlich eine Ausnahme; er begründete dies damit, dass ein gründlicher
botanischer Unterricht 10 Jahre erfordere, „da bei diesem neugierigen
saeculo immer etwas Neues in vegetabilibus in Vorschein komme", während
eine Lehrkanzel für Chemie zu viel Geld koste.2 Die beste Gelegenheit
zum Unterricht in der Chemie boten die Apotheken, deren innere Ein-
richtungen durch H. Peters, welcher in seinem Buche Bilder der Hof-
apotheke zu Rastadt v. J. 1700, der Sternapotheke zu Nürnberg v. J.
1710 und der Apotheke zu Klattau in Böhmen v. J. 1733 veröffent-
lichte, allgemein bekannt geworden sind.3
Die Ausbildung der Apotheker geschah handwerksmässig. Die
naturwissenschaftlichen Kenntnisse, welche von ihnen verlangt wurden,
waren nicht bedeutend.4 So schrieb Fr. Hoffmann: „Dem Apotheker
soll bekannt sein, dass ein Acidum mit einem Aleali ebullieret; aber
es ist schon genug, wenn er nur den Effekt weiss, obschon er die
Ursache davon nicht sagen kann."
Den Apothekern fiel neben der Bereitung der Arzneien auch die
Aufgabe zu, Klystiere zusammenzusetzen und beizubringen. Diese Be-
schäftigung war sehr einträglich zu einer Zeit, da Ludwig XIII. in
einem einzigen Jahre ausser 215 Purgan tien 212 Klystiere zu sich nahm.
Ein Kanonikus zu Troyes brachte es binnen zwei Jahren sogar zu der
unglaublichen Zahl von 2190, welche dem Andenken der Nachwelt
aufbewahrt worden ist, weil er sich weigerte, das dafür geforderte
Honorar zu bezahlen, und deshalb verklagt wurde. Die Klystiere wur-
den Modesache, und die Pariser Damen raunten sich vertraulich zu,
1 H. Peters a. a. 0. S. 57.
2 J. Probst: Geschichte der Universität zu Innsbruck, Innsbruck 1869.
3 H. Peters a. a. 0. S. 78 u. ff.
4 Fr. Hoffmann: Medicus politicus, Lugd. Batav. 1746, II, 2, c. 16.
Der klinische Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert. 341
dass das Geheimniss der Ninon de l'Enclos, durch welches sie sich ihre
vielbewunderte Schönheit bis ins hohe Alter erhielt, lediglich auf dem
öfteren Gebrauche dieses Mittels beruhte.1
Der klinische Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert.
Die grösste Errungenschaft, welche der medicinische Unterricht
dieser Periode verdankte, bestand darin, dass die klinische Unterweisung
an den meisten Universitäten eingeführt und in den Studienplan der-
selben aufgenommen wurde. Die ersten Versuche, welche damit, wie
erwähnt, im 16. Jahrhundert zu Padua angestellt wurden, hatten keinen
dauernden Erfolg und übten auch keinen sichtbaren Einfluss aus auf
andere Hochschulen.
Der Universität Leyden gebührt das Verdienst, den klinischen
Unterricht zu einer bleibenden Einrichtung gemacht und durch ihre
Schüler auch nach andern Orten verpflanzt zu haben. Die Professoren
Otto van Heurne und Ew. Schrevelius eröffneten denselben um das
Jahr 1630 im Krankenhause zu Leyden.
Dabei wurde die Methode eingeschlagen, dass die Studierenden
zunächst den Kranken über sein Leiden examinirten und untersuchten,
dass hierauf ein Jeder derselben seine Ansicht über das Wesen, die Ur-
sachen, Symptome, Prognosis und Behandlung der Krankheit äusserte,
und der Professor zuletzt die richtige bestätigte, die falsche widerlegte
und die notwendigen Erklärungen dazu abgab. Aber dieses Verfahren
gefiel den Studenten nicht, weil sie dabei Gefahr liefen, durch Fragen,
die sie nicht beantworten konnten, biosgestellt zu werden, und 0. v. Heurne
sah sich daher zu seinem Bedauern veranlasst, dasselbe aufzugeben, statt
dessen selbst die Krankenuntersuchung vorzunehmen und daran seine
Anleitung zur Behandlung zu knüpfen.
Die Patienten, welche im Hospital starben, wurden secirt, um über
die Ursache und den Sitz der Krankheiten Sicherheit zu gewinnen.
Auch gehörte zu diesem Hospital eine Apotheke, in welcher die Studieren-
den die Bereitung der Arzneien sehen und lernen konnten.2
Im J. 1648 übernahm Albert Kyper aus Königsberg in Preussen,
dem wir diese Nachrichten verdanken, die Leitung der Klinik zu Leyden.
1 Philippe a. a. 0. S. 131 u. ff.
2 Alb. Kyper a. a. 0. p. 112 u. ff., 256 n. ff.
342 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Ihm folgte schon nach wenigen Jahren Franz de le Boe (Sylvius),
welchen sein College Lucas Schacht in seiner klinischen Wirksamkeit
geschildert hat.1 „Wenn er mit seinen Schülern zum Kranken kam
und den Unterricht begann, so schien er über die Ursache und Art
seines Leidens, die Krankheitserscheinungen und die Behandlung voll-
ständig im Unklaren zu sein und äusserte sich Anfangs gar nicht über
den Krankheitsfall; er fing nun an, durch Fragen, die er bald an diesen,
bald an jenen der Zuhörer richtete, Alles herauszufischen (expiscabatur),
und vereinigte die auf diese Weise ermittelten Thatsachen zu einem
Krankheitsbilde, so dass die Studierenden den Eindruck empfingen, als
ob sie die Diagnose nicht von ihm erfahren, sondern selbst aufgefunden
hätten." Unter seiner Leitung erlangte die Klinik in Leyden einen
solchen Kuf, dass Studierende und Ärzte aus Ungarn, Russland, Polen,
Deutschland, Dänemark, Schweden, aus der Schweiz, Italien, Frankreich
und England, also fast aus allen Ländern Europas, dorthin kamen, wie
Schacht erzählt.
Die Leydener Klinik behauptete lange Zeit den ersten Rang unter
allen derartigen Anstalten. Boerhaave, welcher bis 1738 an der Spitze
derselben stand, war in der ganzen Welt bekannt und zählte zu seinen
Schülern Haller, G. van Swieten, A. de Haen, Pringle, H. D. Gaub,
Ribeiro Sanchez u. A., welche das 18. Jahrhundert mit ihrem Ruhm
erfüllten.
Auch an andern Hochschulen Hollands, dessen Krankenhäuser von
Augenzeugen sehr gelobt wurden,2 wurde klinischer Unterricht ertheilt.
In Utrecht lehrte Wilh. van der Straten, dessen Methode, die Studieren-
den zur Erkenntniss der Krankheiten anzuleiten, den uneingeschränkten
Beifall Kypers fand.3
Im Hospital von S. Spirito zu Rom wurde auf Lancisi's Veran-
lassung im J. 1 7 1 5 eine klinische Lehranstalt errichtet. Die Universität
zu Edinburg erhielt 1738 ein Spital, welches seit 1746 zum klinischen
Unterricht benutzt wurde.4
In Paris wurde im J. 1644 die poliklinische Unterweisung, welche
dort seit Jahrhunderten bestand, dem Lehrplane der medicinischen
Facultät einverleibt. Den Anlass dazu gab, wie es scheint, Theophraste
Renaudot.
Dieser geistvolle und unternehmende Mann, welcher das erste Leih-
haus und das erste Adressbureau in Paris gründete und die erste Zeitung,
1 Oratio funebris in obitum F. de le Boe Sylvii in Sylvii opera medica,
Amstelod. 1680, p. 931 und Neubert a. a. 0. 1836, II, 162.
2 Vergl. Tholuck a. a. 0. I, 2, S. 205. 3 Kyper a. a. 0. p. 255.
4 A. Grant a. a. 0.
Der klinische Unterrieht im 17. und 18. Jahrhundert. 343
welche in Frankreich erschien, nämlich die Gazette de France, redigirte,
schuf im Verein mit andern ärztlichen Collegen auch ein ambulato-
risches Institut, in welchem arme Kranke unentgeltlich behandelt
wurden Von der medicinischen Facultät, mit der er in bestandiger
Fehde lebte, weil er sich dem Zunftgeist derselben nicht fügen wollte,
erfuhr er deshalb viele Anfeindungen. Als sein Gönner, der machtige
Cardinal Richelieu, gestorben war, setzte sie es sogar durch, dass die
Poliklinik Renaudot's, welche der ärmeren Bevölkerung eine Wohlthat
gewesen war, geschlossen wurde.1
Dafür übernahm die medicinische Facultät nun die Pflicht, selbst
eine derartige Anstalt zu erhalten. Es wurde daher angeordnet, dass
6 Doktoren, und zwar 3 alte und 3 junge, damit beauftragt wurden,
zweimal wöchentlich in der Ecole de medecine unentgeltlich ambulante
Kranke zu untersuchen und ihnen Arzneimittel zu verabreichen. Die
chirurgischen Operationen sollten sie entweder selbst vornehmen oder
durch einen tüchtigen Chirurgen ausführen lassen. In schwierigen
Fällen mussten sie einander zu Rath ziehen; auch wurde dem Dekan
der Facultät befohlen, dabei oft anwesend zu sein.
Arme Kranke, welche wegen ihres Zustandes nicht zur Consul-
tation kommen konnten, wurden in ihren Wohnungen besucht und
unentgeltlich behandelt. Die Baccalaureen, also die älteren Studierenden
der Medicin, wurden verpflichtet, den poliklinischen Consultationen bei-
zuwohnen; sie wurden dabei zugleich beschäftigt, indem sie die Recepte,
welche die Doktoren diktirten, niederschrieben und andere Dienst-
leistungen verrichteten. Ebenso sollten sie an den ärztlichen Besuchen
im Hotel Dien oder einem andern Hospitale Theil nehmen.2 Diese
poliklinischen Studien dauerten zwei Jahre. Erst am Ende des 18. Jahr-
hunderts wurden in Paris stationäre Kliniken eingerichtet.
Auch in Deutschland entstanden die ersten Kliniken nicht vor der
Mitte des vorigen Jahrhunderts. Allerdings beantragte Werlhoe bei
der Gründung der Universität Göttingen die Errichtung einer damit
verbundenen Klinik, aber vergeblich. Ähnlich erging es der medi-
cinischen Facultät zu Wien im J. 1718.
Auch F. Hoefmann in Halle betonte, dass durch den Besuch
medicinischer Vorlesungen allein Niemand zum Arzt ausgebildet werde,
sondern dass dazu die klinische Unterweisung gehöre.3 Die Über-
zeugung, dass die Klinik für den medicinischen Unterricht nothwendig
1 Gilles de la Tourette: Theophraste Renaudot, Paris 1884.
2 Hazon a. a. 0. — Sabatier a. a. 0.
3 F. Hoffmann: Medicus politicus, Halle 1746, I, 1, 6.
344 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
sei, war also allgemein; aber die Ohnmacht der Professoren der Heil-
kunde, die Gleichgültigkeit der Behörden und vor Allem der Mangel
an Geldmitteln trugen Schuld, dass die Verwirklichung der dafür er-
forderlichen Anstalten stets auf spätere Zeiten verschoben wurde.
Wien war die erste deutsche Universität, welche eine Klinik er-
hielt. Auf Gerhaed van Swietens Veranlassung wurde im J. 1753
im sogen. Bürgerspital eine klinische Abtheilung eingerichtet, welche
aus 6 Betten für Männer und 6 Betten für Weiber bestand; doch
wurde dem Vorstande derselben das Hecht eingeräumt, Kranke aus den
übrigen Abtheilungen dieser Anstalt, sowie aus dem Dreifaltigkeits-
Hospitale, wenn es im Interesse des Unterrichts lag, in die Klinik ver-
legen zu lassen.
Zur Leitung derselben wurde der Niederländer A. de Haen be-
rufen, welcher sie vollständig nach dem Vorbilde der Leydener Klinik
organisirte. „Täglich erschien er in früher Morgenstunde im Spital und
untersuchte die Kranken, um sich von den etwaigen Veränderungen
in ihrem Zustande zu unterrichten. Um 8 Uhr begann die Klinik, in
welcher die Kranken unter seiner Leitung von den Studierenden unter-
sucht und behandelt wurden. Er befolgte dabei eine sehr empfehlens-
werthe Lehrmethode; jeder seiner Schüler musste ihm das Resultat
seiner Untersuchung leise ins Ohr flüstern, und de Haen theilte am
Schluss mit lauter Stimme die richtige Diagnosis mit, so dass sich Die-
jenigen, welche sich geirrt hatten, davon überzeugen konnten, ohne dass
sie einer Beschämung ausgesetzt waren.
Nach der Klinik begann die ärztliche Ordination für jene Kranken,
welche nicht im Spital verpflegt wurden. Auch dieser wohnten die
Studierenden bei. Hier sowohl, wie in der Klinik wurde über jeden
Kranken Buch geführt und dessen Leidensgeschichte nebst den ge-
troffenen Verordnungen eingetragen. Wenn Patienten in der Klinik
starben, so wurde von de Haen in Gegenwart der Studierenden die
Sektion gemacht, das Ergebniss derselben mit der während des Ver-
laufs der Krankheit gestellten Diagnose verglichen und der Werth und
Nutzen der eingeschlagenen Behandlung besprochen."1
De Haen begründete den Ruhm der Wiener Klinik. Sein Nach-
folger Maximilian Stoll vermehrte denselben durch seine grossen
Lehrerfolge und zog Studierende und Ärzte aus allen Ländern dorthin.
Unter ihm erreichte sie „eine Stufe der Vollkommenheit, auf der sie
1 Freimüthige Briefe an den Herrn Grafen von V., Frankfurt a/M. und
Leipzig 1774, S. 69 u. ff. — Th. Püschmann: Die Medicin in Wien während der
letzten hundert Jahre, Wien 1884, S. 17.
Der klinische Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert. 345
unbedingt als ein Vorbild aller klinischen Schulen aufgestellt werden
konnte." l
Die Akademie der Wissenschaften zu Paris legte dem Könige
Ludwig XVI. von Frankreich den Plan vor, dort eine Klinik nach dem
Muster der von Stoll geleiteten Lehranstalt zu errichten.2 Für die
Kliniken, welche in den übrigen Provinzen Österreichs, sowie in Deutsch-
land entstanden, war die Einrichtung der Wiener massgebend.
Prag erhielt 1769 eine Klinik, welche unter Plencicz im J. 1778
von 8 auf 50 Betten vermehrt wurde und daneben das unbedingte
Recht besass, Kranke, welche für den Unterricht erwünscht waren, aus
den übrigen Abtheilungen des Krankenhauses zu fordern.3 In Pavia
führte Borsieri 1770 den klinischen Unterricht ein; in Modena nahm
er 1774 seinen Anfang.
In Würzburg wurden die Studierenden der Medicin schon seit
langer Zeit angewiesen, den ärztlichen Besuchen im Julius-Hospitale
beizuwohnen. Auch wurden dort schon 1729 unter Beringers Leitung
klinische Übungen veranstaltet; doch scheinen dieselben später nicht
fortgesetzt worden zu sein oder nur zeitweise stattgefunden zu haben,4
da in der Studienordnung von 1749 wiederum darauf hingewiesen
werden musste, wie nothwendig es zur Vollständigkeit der ärztlichen
Bildung gehöre, dass die Professoren die Studierenden und jungen Ärzte
in die Hospitäler und zu den Kranken ihrer Privatpraxis mitnehmen
und dort mit der Kra.nkenbehandlung bekannt machen.
Ein regelmässiger systematischer klinischer Unterricht wurde in
Würzburg erst 1769 eingeführt. Auch in Strassburg kamen seit 1738
zuweilen klinische Demonstrationen vor; zu den Besuchern derselben
gehörte bekanntlich auch Goethe, als er 1770 dort studierte.5 Aber
ein Recht auf die Benutzung des Lehrmaterials im dortigen Bürger-
spital wurde der Strassburger Klinik erst viel später eingeräumt.6
Göttingen wurde 1764 durch R. A. Vogel mit einem Collegium
clinicum ausgestattet, an dessen Stelle im J. 1781 eine stationäre Klinik
trat. In Halle begann Johann Juncker klinische Übungen abzuhalten;
doch wurde eine zum Universitäts-Unterricht gehörige stationäre Klinik
1 J. F. C. Hecker: Geschichte der neueren Heilkunde, Berlin 1839, S. 506.
2 M. Stoll: Über die Einrichtung der öffentlichen Krankenhäuser, Wien
1788, S. 28.
3 Sebald: Geschichte der medicinisch-praktischen Schule zu Prag, Prag 1796.
4 J. N. Thomann: Annales instituti medico - clinici Wirceb., Vol. I, p. 24,
Würzburg 1799.
5 Aus meinem Leben in Goethe's Werken, Leipzig 1870, IV, 167.
6 F. Wieger a. a. 0. S. 113 u. ff.
346 Der medioinische Unterricht in der Neuzeit.
dort erst 1810 errichtet.1 Erlangen erhielt 1779, Altdorf 1786, Kiel 1788,
Jena 1791, Tübingen 1793, Leipzig 1798 eine Klinik.2
An den meisten übrigen Universitäten beschränkte man sich auf
poliklinische Anstalten oder suchte die Studierenden zum Besuch der
Spitäler anzuregen, damit sie Gelegenheit hatten, Kranke zu beobachten.
Auch in andern Ländern musste man sich mit dieser Lehrmethode be-
gnügen, wenn ein eigentlicher, mit Vorträgen am Krankenbett ver-
bundener klinischer Unterricht fehlte.
Eine wohlthätige Ergänzung erfuhr die praktische Ausbildung in
der Heilkunst durch die sehr verbreitete Sitte, dass ältere Studierende
oder junge Ärzte längere Zeit als Praktikanten in einem Krankenhause
wirkten und dort von den leitenden Ärzten mit den Anforderungen
der Praxis vertraut gemacht wurden. In Frankreich und England, wo
diese Einrichtung noch heut besteht, nahmen viele Hospital-Ärzte Schüler
an, welche für die praktische Unterweisung, die ihnen zu Theil wurde,
ein bestimmtes Lehrgeld entrichteten. Wie J. Hunczovsky berichtet,
bot sich dazu die Gelegenheit im St. Bartholomews-Hospital in London,
im Matrosen-Spital zu Portsmouth, sowie im Hotel Dieu in Paris und
zu Eouen.3
In Italien scheinen ähnliche Verhältnisse bestanden zu haben.
Lancisi trat, nachdem er die medicinischen Studien absolvirt hatte, in
das Hospital S. Spirito in Rom ein, um sich durch mehrere Jahre für
die ärztliche Praxis vorzubereiten.4 Er empfahl den Studierenden der
Heilkunde, viele Kranke zu beobachten und Hospitäler zu besuchen,
und rieth ihnen, mehrere Jahre auf dieses Studium zu verwenden.5
Auch im Dreifaltigkeitsspitale in Wien fanden stets eine Anzahl
von Studierenden der Heilkunde als Praktikanten Aufnahme.6 Im
städtischen Krankenhause zu Bremen gaben die dort angestellten Ärzte
den Studierenden, welche sich an den Visiten betheiligten, ebenfalls
klinischen Unterricht. 7
Es unterliegt keinem Zweifel, dass derartige Einrichtungen an
1 P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 221.
2 G. W. A. Fikentscher: Geschichte der Universität Erlangen, Nürnberg
1806, II, 104.
3 J. Hunczovsky : Medicinisch-chirurgische Beobachtungen auf Reisen durch
England und Frankreich, Wien 1783, S. 7. 62. 84. 162.
4 Eus. Sguarius: Vita Lancisi in der Vorrede zu Lancisii opera vera,
Venet. 1739.
5 Lancisi: De recta medicorum studiorum ratione instituenda, Romae 1715.
6 Nachrichten von dem Kranken-Spital zur allerheil. Dreifaltigkeit, Wien 1742.
7 Kulenkampff: Die Krankenanstalten der Stadt Bremen, ihre Geschichte
und ihr jetziger Zustand, Bremen 1884.
Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde u. Geburtshilfe. 347
vielen Krankenhäusern bestanden. Die Archive mancher Anstalten
dürften darüber wichtige Aufschlüsse enthalten; eine dankenswerthe
Aufgabe wäre es, das in dieser Beziehung, namentlich für Deutschland,
noch sehr unvollständige Material herbeizuschaffen und zu vervollstän-
digen. Aber die angeführten Thatsachen werden genügen, um zu be-
weisen, dass die in den medicinischen Geschichtswerken bis zum Über-
druss wiederholte Ansicht, dass vor der Gründung klinischer Lehranstalten
die jungen Ärzte ihre fachmännischen Kenntnisse lediglich aus Büchern
und durch theoretische Vorlesungen erlangt hätten, in dieser Allgemein-
heit jedenfalls unrichtig ist.
Zu diesem Irrthume dürfte der Umstand beigetragen haben, dass
der praktische Unterricht am Krankenbett im Allgemeinen ausserhalb
des Studienplanes der Universitäten lag und häufig erst nach der Be-
endigung der Studien und der Doktor -Promotion aufgesucht wurde.
Auch mag es wohl bisweilen vorgekommen sein, dass junge Doktoren
der Medicin im Hochgefühl ihrer neuen Würde gewissenlos und ver-
messen genug waren, die Praxis zu beginnen, bevor sie sich die dazu
erforderliche praktische Befähigung erworben hatten; aber die Meisten
erkannten die Notwendigkeit der praktischen Ausbildung und besuchten
die Hospitäler zu diesem Zweck, wie aus zahlreichen Lebensbeschrei-
bungen und Schriften hervorragender Ärzte jener Zeit deutlich hervorgeht.
Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde
und Geburtshilfe.
Nur ein spärlicher Raum wurde der Chirurgie in dem Lehrplane
der Universitäten zugemessen. Man gab den Studierenden der Medicin
eine allgemeine Übersicht dieser Disciplin und zeigte ihnen an der
Leiche die wichtigsten Operationen.
Haller, welcher neben seinen übrigen Obliegenheiten auch eine
Zeitlang die Lehrkanzel der Chirurgie in Göttingen versah, konnte sich,
wie er erzählt, niemals entschliessen, an einem lebenden Menschen zu
operiren, obgleich er sich an Leichen sehr geübt hatte. Da die Ärzte
damals nicht die Aufgabe hatten, chirurgische Operationen auszuführen,
so konnte dieser theoretische Unterricht vielleicht genügen, um ihnen
ein Yerständniss der Bedeutung der Chirurgie für die innere Medicin
zu verschaffen; aber er war in keiner Weise ausreichend, um ihnen ein
Urtheil über chirurgische Fragen zu gestatten. Wenn man den Ärzten
348 Der medicinisehe Unterricht in der Neuzeit.
das Kecht einräumte, die Chirurgen in ihrer Thätigkeit zu beaufsich-
tigen und zu belehren, und den letzteren die Pflicht auferlegte, jene
wegen der Notwendigkeit und der Art der chirurgischen Eingriffe zu
Kath zu ziehen, so musste dies zu Streitigkeiten führen. Der Arzt
wurde dadurch der Gefahr ausgesetzt, sich durch Unwissenheit blos zu
stellen, und der Chirurg' sah mit Kecht in der Zumuthung, sich einem
Manne unterzuordnen, der wenig oder gar nichts von der Sache ver-
stand, eine unverdiente Kränkung.
F. Hoeemann gab den Ärzten im „Politischen Medicus" den ver-
nünftigen Kath, „sie möchten sich mit den Chirurgen gut stellen, sie
in Gegenwart der Kranken nicht scharf anfahren, sondern modeste
ermahnen, auch nicht mit ihnen disputiren, namentlich nicht über
chirurgische Dinge, weil die Chirurgen ihnen darin an Erfahrung über-
legen seien." Aber bei den meisten Doktoren, besonders denen, welchen
die Erfahrung mangelte, war der Hochmuth grösser als die Klugheit,
und sie sahen mit dünkelhafter Verachtung auf die Chirurgen und die
Chirurgie herab. Der Verfasser des Buches: „Des getreuen Eckharts
unwürdiger Doctor (Augsburg und Leipzig 1698)" schildert diese Ver-
hältnisse (S. 428 u. ff.) und erklärt dabei voll Ärger: „Es ist wohl ein
stoltzes Thier umb einen jungen Doctor, be voraus wann das Gehirn
mit allerhand Vanitäten und Phantastereien angefüllt ist und sich gar
auf keine Art will ändern noch regieren lassen. Er meinet, Jedermann
müsse ihm weichen und ihm an der Stirne ansehen, dass er ein
Doctor sei."
Allerdings hatte die gedrückte sociale Stellung der Wundärzte
zum grossen Theile darin ihren Grund, dass ihre Allgemeinbildung
sehr gering war, und die Trennung zwischen ihnen und den Badern
und Barbierern nicht streng durchgeführt wurde. In Paris kam
i. J. 1655 sogar ihre officielle Vereinigung mit denselben zu Stande;
doch dauerte sie glücklicher Weise nur bis 1699.
Das College de St. Cöme verlor unter diesen Verhältnissen an
Bedeutung und Ansehen. Bessere Zustände traten erst wieder ein, als
es i. J. 1724 den Bemühungen der königlichen Leibchirurgen Mak£-
schal und La Peyronie, welche am Hofe grossen Einfluss besassen,
gelang, die Anstellung von fünf Lehrern für Anatomie, theoretische
und praktische Chirurgie, Operationskunst und Geburtshilfe durchzusetzen.
Noch mehr trug zur Hebung des Chirurgenstandes die Gründung
der Academie de Chirurgie zu Paris bei, welche 1743 die königliche
Bestätigung erhielt. Sie bildete fortan den Mittelpunkt aller bedeu-
tenden Vertreter der Chirurgie, und zwar nicht blos in Frankreich,
sondern zählte auch viele hervorragende Wundärzte des Auslandes zu
Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde u. Geburtshilfe. 349
ihren Mitgliedern. Durch Preisaufgaben über chirurgische Fragen,
welche alljährlich gestellt wurden, durch materielle Unterstützungen,
die den Forschern zu Theil wurden, und durch die Herausgabe ihrer
Memoiren, in denen werthvolle Beobachtungen und Erfahrungen ver-
öffentlicht wurden, förderte sie die Entwickelung der Chirurgie und
befestigte die wissenschaftlichen Grundlagen derselben. Sie wurde der
medicinischen Facultät im Range gleichgestellt, von ihr unabhängig
gemacht und erhielt das Recht, den akademischen Grad eines Magisters
der Chirurgie zu verleihen; doch wurde bestimmt, dass Niemand den-
selben erlangen solle, der nicht die Würde eines Magisters der Philo-
sophie besitze. Auch trat die Academie de Chirurgie zum College de
St. Come in Beziehungen, indem mehrere hervorragende Mitglieder der
ersteren als Lehrer am letzteren wirkten.
Im J. 1750 wurde angeordnet, dass der Lehrcursus für die Chi-
rurgen, welche im College de St. Come studierten, drei Jahre dauere;
auch wurden praktische Übungen in der Anatomie und Operationskunst
eingeführt.1 Die medicinische Facultät verlor ihren Einüuss auf die
Erziehung der Chirurgen nahezu vollständig und war nur noch bei
ihrer Promotion zum Magisterium vertreten. Sie bekämpfte zwar die
Emancipation des Chirurgenstandes mit allen Mitteln, suchte durch
historische Auseinandersetzungen und durch Gutachten der medicinischen
Facultäten zu Göttingen und Halle den Beweis zu führen, dass die
Unterordnung desselben unter die Ärzte sowohl zu allen Zeiten bestanden
habe, als nothwendig und in der Natur der Sache begründet sei, und
verstieg sich sogar zu der absurden Behauptung, dass der Besitz einer
grösseren Allgemeinbildung den Wundärzten Schaden bringe; aber Alles
war vergeblich. Die Chirurgen behaupteten die Selbstständigkeit, um
welche sie Jahrhunderte hindurch gerungen hatten, und ihre Leistungen
zeigten, dass sie derselben würdig waren.
An der chirurgischen Hochschule zu Paris empfing nur die Elite
der Wundärzte ihre fachwissenschaftliche Ausbildung; die meisten
lernten die Chirurgie gleich einem Handwerk bei einem Meister und
erwarben sich als Gesellen und chirurgische Praktikanten in den
Krankenhäusern die erforderliche Übung und Gewandtheit. Es wurde
bestimmt, dass kein Meister mehr als einen Lehrling halte, damit er
sich mit dem Unterricht desselben genügend beschäftigen konnte. In
Städten, in denen mehrere Chirurgen ihre Thätigkeit ausübten, bildeten
sie Vereinigungen, versahen abwechselnd den Dienst in den Spitälern
1 P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 331, Anm., ou les eleves feront eux-memes les
dissections et les Operations qui leur auront ete enseignees.
350 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
und unterstützten den Unterricht ihrer Schüler durch Vorträge und
praktische Demonstrationen aus der Anatomie und Chirurgie. Im
Beginn des Jahres schickte jede chirurgische Zunft ein Verzeichniss
sämmtlicher Meister derselben an den königlichen Leibchirurgen, welcher
an der Spitze aller Wundärzte Frankreichs stand.1
In England und Holland lag das höhere chirurgische Unterrichts-
wesen vollständig in den Händen der Chirurgen -Gilden, welche dort
schon sehr früh als geschlossene Corporationen mit bestimmten Rechten
auftraten. Eine Einrichtung von kurzer Dauer war es, als Cromwell
i. J. 1656 das College of Physicians in Edinburg ermächtigte, die Chi-
rurgie auszuüben, weil die letztere ja eigentlich ein Theil der Medicin sei.2
Die Chirurgen -Genossenschaften zu London, Edinburg, Dublin,
Amsterdam, im Haag u. a. 0. richteten Unterrichtscurse für die Stu-
dierenden der Chirurgie ein und sorgten dafür, dass sie sich in der
Anatomie und Chirurgie praktisch ausbilden konnten. John Kay wurde
schon unter Heinrich VIII. nach London berufen, um die Chirurgen
in der Ausführung von Sektionen zu unterrichten.3 Welche Sorgfalt
die holländischen Wundärzte den anatomischen Zergliederungen wid-
meten, zeigen die schon erwähnten Bilder der niederländischen Maler.
In der Privatpraxis ihres Lehrers und im Spitaldienste erhielten die
Schüler Gelegenheit, Kranke zu beobachten und chirurgische Operationen
zu sehen.
Die deutschen Chirurgen befanden sich im Allgemeinen auf dem
Standpunkte des Barbierers; nur Wenige ragten darüber hervor und
waren einer wissenschaftlichen Betrachtung der Wundarzneikunst fähig.
Wer diesen Lebensberuf ergriff,4 lernte zunächst bei einem Meister die
Kunst, zu rasiren und Haare zu schneiden, Pflaster zu streichen, zu
schröpfen und zur Ader zu lassen. Später wurde ihm gezeigt, wie
Wunden und Geschwüre behandelt, Verrenkungen eingerichtet und
Knochenbrüche geheilt werden. An grössere chirurgische Operationen
wagten sich nur solche Chirurgen, welche in der Schule der Erfahrung
gereift waren, oder Specialisten, die sich auf einem streng umgrenzten
Gebiete eine hervorragende Geschicklichkeit erworben hatten.
Dem Stadtwundarzt in Zürich wurde i. J. 1716 befohlen, junge
Chirurgen zu den Operationen, welche er unternahm, beizuziehen, „damit
sie den Anlass haben mögen, in solchen Kuren mehrere Wissenschaft
1 G. Fischer: Chirurgie vor hundert Jahren, Leipzig 1876, S. 254 u. ff.
2 Historical sketsch of the R. College of Physicians of Edinburgh, Edin-
burgh 1882.
8 A. Corradi a. a. 0. ser. II, vol. VI, p. 638.
4 0. Büchner: Aus Giessens Vergangenheit, Giessen 1885, S. 27.
Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde n. Geburtshilfe. 351
zu erlangen." 1 In Würzburg wurde der Oberchirurg am Julius-Hospital
i. J. 1725 beauftragt, Unterricht in seiner Kunst am Krankenbett zu
ertheilen.
In der Schrift: „Des getreuen Eckharts verwegener Chirurgus
(Augsburg 1698)" wurde den Studierenden der Chirurgie empfohlen,
tüchtig Anatomie zu treiben, und zwar, falls es an menschlichen Leichen
fehle, an thierischen Cadavern; denn wenn sich gelehrte Doktoren nicht
scheuen, daran zu studieren, so „würde es einem naseweisen Barbier-
oder Badergesellen an seiner Ehre auch nicht schaden." Ferner wurde
ihnen der Bath ertheilt, nach der Lehrzeit Hospitäler zu besuchen und
den Operationen beizuwohnen, welche berühmte Chirurgen vornahmen.
Auf ihre gesellschaftliche Bildung werfen die übrigen Ermahnungen,
die ihnen ertheilt werden, ein bezeichnendes Licht. So heisst es: „Er
soll nicht auf den Bierbänken von seinen Kuren plaudern, den Kranken
nicht wie die Sau den Bettelsack anfahren und mit ihm tyrannisch und
nach seiner Wuth umspringen. Er soll nicht 12 Thaler fordern, wo
er nur 2 Thaler verdient. Nicht blindlings darf er darauf losschneiden;
denn es ist Menschenfleisch und kein abgeschlachtetes Bindfleisch oder
Schweinefleisch; die Haut wird gar theuer angeschrieben. Auch soll
er in gefährlichen Umständen die Medicos und andere Mit-Meister zu
Bath ziehen."2 Auch M. G. Purmann klagte darüber, dass die Chi-
rurgen, um sich gegenseitig ihre Patienten abzuschwatzen, „Bänke und
falsche Tücke mit der Scheererei" verübten.3
Auf eine höhere Stufe gelangten die Chirurgen in Deutschland,
als man anfing, Lehranstalten zu ihrer Ausbildung zu errichten. Sie
waren zunächst dazu bestimmt, das für das Militär erforderliche Heil-
personal heranzubilden; aber das Bedürfniss nach Ärzten führte bald
dazu, dass auch Zöglinge aus dem Civilstande aufgenommen wurden.
Im J. 1716 wurde eine derartige Anstalt in Hannover gestiftet.
Berlin erhielt 1713 ein Theairum anatomicum, welches den Anfang der
für den Unterricht von Militärärzten und Medico-Chirurgen bestimmten
Lehranstalt bildete, die 1724 eröffnet wurde und mit dem Charite-
Krankenhause, dessen Gründung wenige Jahre später erfolgte, in Ver-
bindung trat. Den Unterricht ertheilten 6 Professoren und ein De-
monstrator der chirurgischen Operationen; er umfasste nicht blos
Anatomie und Chirurgie, sondern auch Pathologie, Arzneimittellehre,
Botanik, Chemie und sogar Mathematik. „Nach dem Beispiele von
1 Meier- Ahrens : Geschichte des Zürcherischen Medicinalwesens, Basel 1840.
2 G. Fischer a. a. 0. S. 33 u. ff.
3 G. Purmann: Lorbeerkranz oder Wimdartzney, Frankfurt u. Leipzig 1722.
352 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Paris, London und Amsterdam sollte in der Charite allen Medicis und
Chirurgis hinlänglich Gelegenheit gegeben werden, sowohl die inner-
lichen als die äusserlichen Kuren zu sehen und zu begreifen."1
In Dresden wurde 1748 eine militärärztliche Schule errichtet. Die
Schüler dieser Anstalten waren befähigte Barbierer, welche bereits län-
gere Zeit als Chirurgen beim Heere Dienste geleistet hatten oder in
Spitälern und in der Privatpraxis thätig gewesen waren, also keineswegs
Anfänger, sondern Leute, welche bereits eine Summe von Erfahrungen
in der Heilkunst besassen. Sie sollten in der chirurgischen Schule eine
wissenschaftliche Fachbildung erhalten, damit sie später hervorragende
Stellungen als Operateure und Lehrer der Chirurgie einnehmen konnten.
Auch die militärärztliche Lehranstalt in Wien, welche 1781 er-
öffnet wurde, hatte Anfangs diese Einrichtung. Diese später nach ihrem
Stifter, dem Kaiser Josef, genannte Schule erhielt 1785 ein neues Lehr-
gebäude, welches mit einem Kostenaufwande von einer Million Gulden
hergestellt wurde; es befanden sich darin die Hörsäle, die Bibliothek,
die wissenschaftlichen Sammlungen und die Wohnungen der Lehrer.
Mit dieser Schule wurde das Militärspital verbunden, welches Kaum
für 1200 Personen bot und auch zwei Krankensäle für schwangere
Soldatenweiber, also eine kleine geburtshilfliche Abtheilung enthielt.2
Ferner wurde in der Nähe der Anstalt ein botanischer Garten angelegt
und ein kleines chemisches Laboratorium eingerichtet.
Der Unterrichtscursus dauerte zwei Jahre; zu demselben wurden
30 der geschicktesten Feldärzte commandirt, welche nach der Beendi-
gung dieser Studien zu Regimentschirurgen befördert wurden. Daneben
wurde die Anstalt von Studierenden besucht, welche sich für den chirur-
gischen Beruf erst vorbereiteten.
Den Lehrkörper bildeten Anfangs 5 Professoren, von denen einer
die Anatomie und Physiologie nebst den zum Verständniss derselben
erforderlichen Elementen der Mathematik und Physik, der zweite die
allgemeine Pathologie und Therapie nebst der Hygiene lehren, der
dritte die Instrumenten- und Bandagenlehre vortragen, die chirurgische
Klinik und die Operations Übungen leiten und Geburtshilfe und gericht-
liche Medicin vertreten, der vierte Vorlesungen über innere Medicin
halten und die Klinik der inneren Krankheiten leiten, und der fünfte
Botanik, Chemie und Arzneimittellehre vortragen und den botanischen
Garten beaufsichtigen sollte; ausserdem wurde ein Prosector angestellt,
1 A. Guttstadt: Die naturwissenschaftlichen und medicinischen Staats-
anstalten Berlins, Berlin 1886, S. 344.
2 deLuca : Wiens gegenwärtiger Zustand unter Josephs Regierung, Wien 1787.
Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde u. Geburtshilfe. 353
welcher die für den Unterricht erforderlichen anatomischen Präparate
anfertigen und die Sektionen der Kranken, welche im Militärspital
starben, vornehmen musste. l Zur Richtschnur beim Unterricht sollten
die Worte des Kaisers dienen: „Meine Absicht geht keineswegs dahin,
da ss den Chirurgen, die hier formirt werden sollen, nur die Oberfläche
von einer jeden der angegebenen Wissenschaften beigebracht und sie
blos mit der Kenntniss der Kunstwörter und einer übereilten und
seichten Lehre von hier abgefertigt werden. Ich will vielmehr, dass
sie ihre Kenntnisse gründlich fassen und mit solchen versehen zu den
Regimentern zurückkehren." 2
Mit der Anstalt wurde eine Akademie verbunden, welche nach dem
Muster der Academie de Chirurgie in Paris organisirt war, Preisauf-
gaben für die Lösung chirurgischer Fragen ausschrieb und die Arbeiten
zur Veröffentlichung brachte.3 Sie erhielt die Rechte und Ehren einer
Universität und durfte die Grade eines Magisters und Doktors der Chi-
rurgie verleihen. Die gebildeten Chirurgen wurden dadurch den Ver-
tretern der inneren Medicin in der socialen Rangordnung gleichgestellt.
Vernünftige, vorurteilslose Ärzte begrüssten diese Einrichtungen
mit Begeisterung als den ersten Schritt zu der ersehnten Wiederver-
einigung der Chirurgie mit der internen Medicin. Prof. Aug. Richtee
in Göttingen gab den Erwartungen, die man daran knüpfte, in den
Worten Ausdruck: „Ganz Deutschland nimmt gewiss Antheil an der
Ehre dieser Akademie, an dem glücklichen Fortgange ihrer Bemühungen,
an der Wahl ihrer Mitglieder; denn diese sind es, von denen nun die
Chirurgie Deutschlands Leitung, Richtung und Aufklärung erwarten
wird; nach dem glücklichen oder unglücklichen Erfolge ihrer Bemühun-
gen wird der Ausländer in der Folge den Werth oder Unwerth der
ganzen deutschen Chirurgie beurtheilen; unter ihnen wird man immer
die angesehensten Wundärzte Deutschlands, in ihren Akten wird man
jedes wichtige deutsche chirurgische Produkt suchen."4 Diese Hoff-
nungen erfüllten sich nur in geringem Maasse. Der frühe Tod des
Kaisers Josef IL, an dem die Akademie einen wohlwollenden und frei-
gebigen Gönner verlor, die politischen Ereignisse und beständigen Kriege,
welche den Militärärzten die Müsse zu wissenschaftlichen Arbeiten nah-
men und vor Allem die geringe Entwickelung und unselbstständige
1 G. Pizzighelli: Accademia medico-chirurgica Giuseppina, Vienna 1837.
2 Allerh. Entschliess. v. 3. April 1781 im Archiv des k. k. Kriegsministeriums.
3 J. A. v. Brambilla: Verfassung und Statuten der Jos. med.-chir. Aka-
demie, Wien 1786. — Th. Püschmann a. a. 0. S. 96 u. ff.
4 A. Gr. Richter: Chirurgische Bibliothek, Göttingen 1788, Bd. IX, St. 2,
S. 191.
Püschmann, Unterricht. 23
354 Der medieimsohe Unterricht in der Neuzeit.
Stellung der deutschen Chirurgie trugen Schuld, dass die hochgesteckten
Ziele nicht erreicht wurden.
Nach dem Vorbilde des Wiener Josefinums entstanden die medi-
cinisch-chirurgischen Schulen zu Petersburg (1783) und Kopenhagen
(1785). In Spanien wurde 1748 zu Cadix eine Schule zur Ausbildung
von Marineärzten gegründet, welche von einem Direktor und 10 Lehrern
geleitet wurde.1
Ausserdem wurden im 18. Jahrhundert eine Menge von Unter-
richtsanstalten errichtet, in welchen Barbierer- und Badergesellen in
einem zweijährigen oder dreijährigen Lehrcursus zu Landärzten und
Chirurgen herangebildet wurden. In Österreich bildeten diese Schulen
theils Abtheilungen der medicinischen Facultäten oder Lyceen, theils
besondere Anstalten, wenn sich an dem gleichen Ort keine Hochschule
befand. In den übrigen deutschen Ländern entstanden solche Anstalten
in Frankfurt a/M., Hamburg, Begensburg, Braunschweig, Bruchsal,
Celle, Kassel, Gotha, Dillingen, Zürich u. a. 0.
Um die gleiche Zeit begann man auch an den Universitäten dem
praktischen Unterricht in der Chirurgie grössere Beachtung zu schenken.
Die Kliniken, welche damals entstanden, beschränkten sich freilich zu-
nächst nur auf die Behandlung der inneren Krankheiten; die chirur-
gischen Verrichtungen, welche dabei vorkamen, wurden gewöhnlich von
einem Wundarzt, der dem Vorstande der Klinik untergeordnet war,
besorgt.
Nur in Holland erhielten die Studierenden der Medicin Gelegen-
heit, in den Spitälern den chirurgischen Operationen beizuwohnen.
J. J. Bau in Leiden veranstaltete chirurgische Operationscurse an der
Leiche, für welche er ein Honorar von 100 holländischen Thalern for-
derte. Viele deutsche Mediciner begaben sich daher, wenn sie prak-
tische Kenntnisse in der Chirurgie erwerben wollten, nach Holland,
wie es ihnen Fried. Hoffmann in seinem „Politischen Medicus" (I, 1 , 6)
empfahl. Desgleichen wurden auch Frankreich und England aus diesem
Grunde aufgesucht.
In Deutschland entstand die erste chirurgische Klinik i. J. 1769
zu Würzburg; Carl Caspar Siebold organisirte dieselbe sehr zweck-
mässig, erläuterte die chirurgischen Vorlesungen durch die Demonstra-
tionen anatomischer Präparate und führte chirurgische Operationsübungen
an der Leiche ein.2 In Wien wurde 1774 eine chirurgische Klinik
eröffnet. Göttingen erhielt ein derartiges Institut i. J. 1781; Deutsch-
1 Morejon a. a. 0. T. VI, 341.
2 F. v. Wegele a. a. 0.
Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde u. Geburtshilfe. 355
lands berühmtester Lehrer der Chirurgie A. G. Kichter ertheilte hier
den klinischen Unterricht.
Auch die Augenheilkunde und die Geburtshilfe, welche zur Zeit
Boerhaave's mit den übrigen Vorlesungen, besonders mit der Chirurgie,
vereinigt gelehrt wurden, fanden allmälig im Studienplan grössere Be-
rücksichtigung.
Frankreich, England und Italien brachten einige tüchtige Augen-
ärzte hervor, denen sich erst am Schluss des 18. Jahrhunderts mehrere
Deutsche ebenbürtig zur Seite stellten. Hervorragende Augen-Operateure
wurden ähnlich, wie es gegenwärtig mit berühmten Tenoren geschieht,
aus weiter Ferne berufen, um Vorstellungen in ihrer Kunst zu geben.
N. J. Palucci kam auf Gr. van Swieten's Veranlassung nach Wien
und führte in Gegenwart der Studierenden der Medicin und Chirurgie
im Dreifaltigkeits- Hospitale Staaroperationen aus. Zu dem gleichen
Zweck kam später der ältere Wentzel dorthin, unter dessen Anleitung
sich Jos. Barth zum Augenarzt ausbildete.
Die Erfolge des letzteren auf diesem Gebiete bewogen den Kaiser
Josef, ihm den Auftrag zu ertheilen, zwei junge Ärzte in der Augen-
heilkunde zu unterrichten. Es wurde ihm dafür ein ausserordentliches
Honorar von 1000 Gulden ausgesetzt, welches ihm jedoch erst aus-
gezahlt werden durfte, nachdem Jene durch sechs glückliche Cataract-
Operationen den Beweis ihrer Befähigung geliefert hatten. Seine ersten
Schüler waren sein Prosector Ehrenritter, der sehr früh starb, und
Adam Schmidt, denen sich später noch G. J. Beer zugesellte, welcher
zuerst von Barth als Zeichner beschäftigt wurde. Sie wurden die
Begründer der Wiener ophthalmologischen Schule, welcher die Welt
eine Reihe tüchtiger Augenärzte verdankt.
Gleichzeitig begann man auch in Göttingen, Jena, Leipzig u. a. 0.
die Augenheilkunde in den Bereich des klinischen Unterrichts zu ziehen.
Die Geburtshilfe wurde noch im 17. Jahrhundert nahezu aus-
schliesslich von Hebammen ausgeübt. Sie erwarben ihre Kenntnisse in
diesem Fach durch die persönliche Unterweisung einer älteren erfahrenen
Kunstgenossin und wurden darin von angesehenen Frauen oder von den
Ärzten der Stadt, in welcher sie sich niederlassen wollten, geprüft. In
Leipzig leitete die Gemahlin des Bürgermeisters die Examina der
Hebammen; aber an den meisten Orten unterzogen sich die Ärzte und
Chirurgen, besonders diejenigen, welche im Communaldienste angestellt
waren, dieser Aufgabe.
In Folge dessen begannen die letzteren auch, den Hebammen
Unterricht zu ertheilen. Dies war freilich sehr nothwendig; denn
Gervais de la Touche berichtet, dass durch die Unwissenheit der
23*
356 Der medicinisclie Unterricht in der Neuzeit.
Hebammen alljährlich eine Anzahl von Frauen und Kindern bei der
Geburt zu Grunde gingen; und Fabry von Hilden erzählt, dass die
Hebammen vom Bau der weiblichen Geschlechtsorgane und von den
Obliegenheiten der Hebamme keine Ahnung hatten.1 Einzelne hoch-
begabte Frauen, wie Louise Bourgeois, welche die Maria von Medicis,
Gemahlin des Königs Heinrich IV., entband und die Geburtshilfe auch
literarisch förderte, machten davon eine Ausnahme.
In Paris erhielten die Hebammen eine s}^stematische Ausbildung.
Im Hotel Dieu befand sich eine Entbindungsanstalt, in welcher die
Hebammen-Schülerinnen von der Ober-Hebamme unterrichtet wurden;
in dieser Stellung wirkte lange Zeit die bekannte Marguerite de la
Marche, deren Lehrbuch für Hebammen zu den besten literarischen
Produkten jener Zeit gehört. Der Lehrcursus währte drei Monate;
während der zweiten Hälfte desselben mussten die Schülerinnen alle
Dienste, die bei Geburten erforderlich sind, selbst verrichten. Nur in
ausserordentlichen Fällen wurde der Chirurg der Abtheilung, welcher
zugleich Geburtshelfer war, zu Eath gezogen.
Im Allgemeinen weigerten sich die schwangeren Frauen, männ-
liche Hilfe anzunehmen. Eine Stütze gewann diese übel angebrachte
Schamhaftigkeit in der Unwissenheit der meisten Ärzte und Chirurgen,
welche keine Gelegenheit gehabt hatten, Erfahrungen in der Geburts-
hilfe zu erwerben. Diese Verhältnisse änderten sich erst, als man die
übertriebene Prüderie aufgab2 und männliche Hilfe bei den Geburten
in Anspruch nahm. Die Herzoginnen de la Valliere und de Mon-
tespan und andere Damen des französischen Hofes machten damit den
Anfang; „ihr Beispiel fand bald Nachahmung, wie P. Dionis schreibt,
und sogar die Frauen aus dem Volke erklärten, dass sie die männlichen
Geburtshelfer den Hebammen vorziehen würden, wenn sie nicht durch
die hohen Honorarforderungen derselben abgehalten würden".3
Im J. 1720 wurde im Hotel Dieu zu Paris eine Lehranstalt für
Geburtshelfer errichtet. Im J. 1743 wurden auch an der chirurgischen
Schule gynaekologische Unterrichts-Curse eröffnet, und 1754 fühlte sich
sogar die medicinische Facultät veranlasst, eine Lehrkanzel für Geburts-
hilfe zu schaffen.
Holland besass schon im 17. Jahrhundert ein geordnetes Hebammen-
wesen. Die Frauen, welche sich diesem Berufe widmeten, wurden von
1 C. J. v. Siebold a. a. 0. II, 132 u. ff.
2 Bei anderen Gelegenheiten war man weit entfernt davon. S. Les con-
sultations de Mad. de Sevigne ed. p. P. Menieee, Paris 1864, p. 21 u. ff.
3 Siebold a. a. 0. II, 189. — Sue d. Jüngere: Versuch einer Geschichte der
Geburtshilfe, Deutsche Übers., Altenburg 1786, S. 99.
Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde u. Geburtshilfe. 357
Chirurgen, die in der Geburtshilfe geübt und erfahren waren, unter-
richtet und geprüft. Zu ihren Lehrern gehörten Männer, wie H. van
liOONHUYSEN, Fr. KUTSCH U. A.
In England entstanden während des 18. Jahrhunderts eine Anzahl
von Entbindungsanstalten, welche zum Theil für den geburtshilflichen
Unterricht der Hebammen und Studierenden benutzt wurden. Das auf
J. Leake's Anregung durch Privatwohlthätigkeit im J. 1765 gegründete
Westminster Lying-in-Hospital zu London bot den jungen Ärzten und
Chirurgen die Gelegenheit, sich in der Geburtshilfe praktisch aus-
zubilden. Ausserdem nahmen mehrere Ärzte, welche Entbindungs-
Institute leiteten, Schüler auf, die sie zu Geburtshelfern heranbildeten.1
An der Universität Edinburg wurde 1726 eine Professur der Geburts-
hilfe gestiftet. In Dublin eröffnete das Collegium der Ärzte und später
auch dasjenige der Wundärzte Lehrcurse in diesem Fache. Die im
J. 1746 dort errichtete Gebär- Anstalt erlangte einen grossen Ruf.
Deutschland hat im 1 7. Jahrhundert keinen einzigen Geburtshelfer
von Bedeutung hervorgebracht; dagegen machten sich einzelne Hebam-
men allgemein bekannt. Die „Chur-Brandenburgische Hoff-Wehe-Mutter
Justine Siegemundin, geb. Dittrichin", die „Mutter Grete", welche
der Herzogin Dorothea Sibylla zu Brieg gleichsam als „wahre Geheim-
räthin" zur Seite stand, wie Siebold (a. a. 0. II, 207) sagt, und die Auf-
sicht über die „Hofjungfern" 'führte, und die Braunschweigische Stadt-
Hebamme A. Elis. Horenburg verschafften ihrer Kunst durch ihre
Leistungen verdientes Ansehen und trugen durch ihre Schriften zur
Verbreitung und Förderung derselben bei.
Die Geburtshelfer wurden selten zu Rath gezogen. Die Auffassung,
welche manche derselben von ihren Aufgaben hatten, musste die Hilfe
suchenden Frauen mit Furcht und Schrecken erfüllen. Lorenz Heister
erzählt, dass sie „in Wendung und Herausziehung sehr schlecht er-
fahren waren; wenn sie was thun sollten, so kamen sie mit Hakens
und zerrissen auf eine erbärmliche und erschreckliche Weise die Kinder
im Mutterleibe in viele Stücken, die sie, wenn sie behörige Wissen-
schaft davon gehabt hätten, noch sehr oft mit den blossen Händen
wohl hätten bekommen können und dadurch verhindern, dass nicht so
oft, wie geschehen, die Gebärmutter der unglücklichen Frauen mit
ihren Haken nebst den Kindern zugleich wären zerrissen und ums
Leben gebracht worden".2
1 C. G-. Baldinger's Medicin. Journal, Göttingen 1787, St. 15.
2 Lor. Heister: Medieinische, chirurgische und anatomische Wahrnehmungen,
Rostock 1753, Vorrede.
358 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Der Dr. Deisch, welcher in Augsburg seinen „Würgungskreis"
hatte, wurde vom Volk der „Kinder- und Weiber-Metzger" genannt;
„er perforirte und zerstückelte die Kinder ohne Unterlass, sie mochten
noch am Leben sein oder nicht, und schnitt ihnen die Hälse durch.
Hatte er die Wendung unternommen, so war er erstaunt, wenn das
Kind lebend zur Welt kam". Im J. 1753 gebrauchte er unter 61 Ge-
burten 29 Mal scharfe Instrumente, wobei 10 Gebärende zu Grunde
gingen. Sein College Mittelhäuser, welcher als Physicus zu Weissen-
fels in Sachsen eine ähnliche Thätigkeit verübte, betrachtete es als
einen besonderen Erfolg, dass ihm von zehn Frauen, die er entband,
nur zwei starben.1
An anderen Orten scheint es zuweilen nicht viel besser gewesen
zu sein; Nichols köstliche Satyre: The petition of the unborn babies
(London 1751), in welcher sich dieselben über die schlechte Behandlung
beklagten, die sie von Seiten der Geburtshelfer erfuhren, sowie die
Figur des Dr. Slop, des mit seinen Instrumenten kampfbereiten Ge-
burtshelfers in L. StEßNE's Tristram Shandy, waren sicherlich mehr
als blosse Phantasien des Dichters.
Es war begreiflich, dass sich der allgemeine Unwille gegen diese
Art von Geburtshilfe erhob. Die Fortschritte, welche diese Wissen-
schaft im 18. Jahrhundert machte, brachten eine richtigere Erkenntniss
des Waltens der Natur beim Gebär-Akt und humanere Anschauungen
über die Rolle, welche dabei der Kunst des Geburtshelfers zufällt, zur
Geltung.
Einen bemerkenswerthen Antheil an diesem wohlthätigen Um-
schwünge hatte die Einführung eines geordneten geburtshilflichen Unter-
richts an den Universitäten und die Vermehrung der Entbindungs-
Anstalten. Neben den theoretischen Vorlesungen über Geburtshilfe,
welche an den meisten Hochschulen in Verbindung mit den chirur-
gischen gehalten wurden, begann man auch mit der praktischen Unter-
weisung der Studierenden.
Strassburg ging darin allen übrigen deutschen Universitäten voran ;
im J. 1728 wurde in der dortigen Entbindungsanstalt, welche schon
seit langer Zeit zum Hebammenunterricht verwendet wurde, eine Schule
für Geburtshelfer eingerichtet.2 Sie stand unter Fried's Leitung und
wurde, wie Osiander sagt, die Mutterschule aller andern Institute
dieser Art in Deutschland. Die Schüler übten die geburtshilflichen
Griffe zuerst am Phantom, untersuchten ferner die Schwangeren und
überwachten die Geburten. Das Honorar, welches sie dem Lehrer für
1 Siebold a. a. 0. II, 420 u. ff. 2 Wieger a. a. 0. S. 100 u. ff.
Der medicin. Unterricht am Schluss des 18. Jahrh. u. der ärztliche Stand. 359
diesen Unterricht zahlen mussten, war ziemlich hoch; es betrug un-
gefähr 100 Thaler.
Aus dieser Schule gingen mehrere der bedeutendsten Geburts-
helfer des vorigen Jahrhunderts hervor, unter ihnen J. Gr. Roederek,
welcher 1751 als Professor der Geburtshilfe und Direktor der neu er-
richteten Entbindungsanstalt nach Göttingen berufen wurde. Gleich-
zeitig wurde in der Berliner Charite eine geburtshilfliche Schule er-
öffnet. Im J. 1 786 gab es im Königreiche Preussen ohne die Provinz
Schlesien bereits 14 Lehrer dieser Disciplin. Ebenso entstanden in den
übrigen deutschen Ländern derartige Anstalten, in welchen Hebammen
und Studierende in der Geburtshilfe Unterricht empfingen, z. B. in
Würzburg(l 739), Kopenhagen (1 760), Kassel (1763), Braunschweig (1 768),
Karlsruhe, Dresden (1774), Jena (1781), Marburg (1792), Detmold, Mann-
heim, Weimar, Bern (1782) u. a. 0. In Wien wurde 1748 der Hebammen-
Unterricht eingeführt und 1754 an der Universität eine Lehrkanzel der
Geburtshilfe gestiftet. Eine besondere Klinik dieses Faches wurde 1789
eingerichtet, nachdem schon seit 1774 geburtshilfliche Lehrcurse in
einem Spital eingerichtet worden waren und Fälle dieser Art auch in
der chirurgischen Klinik Aufnahme gefunden hatten. Aber an manchen
Universitäten blieb der Unterricht in der Geburtshilfe ebenso wie der
ophthalmologische bis tief hinein ins 19. Jahrhundert mit dem chirur-
gischen vereinigt.1
Der medicinische Unterricht am Schluss des 18. Jahr-
hunderts und der ärztliche Stand.
Die Veränderungen, welche der medicinische Unterricht an den
Hochschulen in der Periode vom Beginn des 17. bis zum Ende des
18. Jahrhunderts erfuhr, waren sehr bedeutend. An die Stelle der zwei
oder drei Professoren, deren Lehrthätigkeit sich auf einige theoretische
Vorlesungen beschränkte und die praktische Ausbildung in der Anatomie,
Arzneimittellehre und eigentlichen Heilkunst nur gelegentlich in Betracht
zog, waren, wenigstens an den grösseren Universitäten, Lehrer-Collegien
getreten, deren Mitglieder die verschiedenen Disciplinen der Heilkunde
vertraten und anatomische Lehranstalten, Laboratorien und klinische
Institute zu ihrer Verfügung hatten.
1 A. Gusserow: Zur Geschichte und Methode des klinischen Unterrichts,
Berlin 1879.
360 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
Nach der Studienordnung v.J. 1749 bestanden an der medicinischen
Facultät zu Würzburg 5 ordentliche Lehrkanzeln. Von ihren Inhabern
sollte der erste den Studierenden eine gedrängte Übersicht der Ge-
schichte der Medicin geben, die Institutionen (Physiologie) auf wissenschaft-
lich-physikalischer Grundlage vortragen, die Ursachen und Wirkungen
von Gesundheit und Krankheit (allgemeine Pathologie) mit Berück-
sichtigung der Anatomie erörtern und auf diese Weise den Weg zur
ärztlichen Praxis ebnen, der zweite Botanik lehren und den botanischen
Garten leiten, der dritte Chemie vortragen und in der zum Julius-
Spital gehörigen Apotheke die Zubereitung der Arzneien zeigen, der
vierte Vorlesungen über specielle Pathologie und Therapie der inneren
Krankheiten halten, die Schüler in die Hospitäler führen und mit der
Krankenbehandlung vertraut machen, und der fünfte den Unterricht
in der Anatomie und Chirurgie ertheilen; dem letzteren stand dabei
ein Prosector zur Seite, welcher zugleich als Oberchirurg und Lehrer
der Geburtshilfe thätig war.1 Der medicinische Lehrkörper zu Heidel-
berg hatte 1763 vier ordentliche Professoren, derjenige zu Göttingen
1784 deren sechs und zu Pavia um die gleiche Zeit acht.2 Der Studien-
plan, welchen P. Frank 1785/86 für die medicinische Facultät in Pavia
entwarf, zeigt, welche Anforderungen ein Fachmann damals stellte.3
Die Naturwissenschaften nahmen eine angesehenere Stellung ein,
als früher; es zeigt sich dies deutlich in einem Erlass des regierenden
Fürstbischofs von Würzburg v. J. 1782, in welchem es heisst: „Wenn
man es in vorigen Zeiten für eine ausgemachte Wahrheit hat halten
dürfen, dass die Physik für diejenigen, welche sich der Arzneykunst zu
widmen gedenken, ein nicht nur sehr nützliches, sondern sogar unent-
behrliches Studium sei, so wird man wohl in unseren Tagen, wo die
Physik eine vielverbesserte Gestalt angenommen hat, um so weniger
daran zweifeln; und wenn gleich die Physik für den Theologen und
Juristen von geringerem Nutzen als für den Arzney-Beflissenen sein
mag, so sind auch die Vortheile, welche künftige Theologen und Juristen
von der Mathematik und der sogenannten praktischen Philosophie sich
zu versprechen haben, längstens entschieden".4
Die medicinische Facultät zu Wien besass im J. 1780 bereits
9 systemisirte Lehrkanzeln, welche sich auf Anatomie, Physiologie,
Naturgeschichte, Chemie und Botanik, allgemeine Pathologie und
Therapie nebst Arzneimittellehre, interne Medicin und Klinik, theo-
1 Wegele a. a. 0. — Kölliker a. a. 0. S. 75.
2 P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 46.
3 P. Frank a. a. 0. Suppl.-Band I, S. 176 u. ff.
4 Wegele a. a. 0. II, 428.
Der medicin. Unterricht am Schluss des 18. Jahrh. u. der ärztliche Stand. 361
retische Chirurgie, chirurgische Klinik und Geburtshilfe vertheilten;
ausserdem betheiligten sich an der Lehrthätigkeit noch mehrere Assi-
stenten und ein Prosector, da dem Professor der Anatomie die Pflicht
oblag, „ein Subjectum, welches zu seiner Zeit ihm zu succediren fähig,
auf eigene Unkosten abzurichten". Der Kaiser Josef IL widmete dem
medicinischen Unterrichtswesen eine rege Aufmerksamkeit. In einem
Rescript vom 27. April 1786 gab er den Bedenken gegen die Studien-
pläne der medicinischen Facultäten, welche ihm vorgelegt worden waren,
mit den Worten Ausdruck: „Dass die Lehre der Chirurgie, aller Opera-
tionen und Bandagen in sechs Monaten soll hinlänglich gegeben werden
können, scheint mir nicht leicht möglich, und überhaupt theile ich das
medicinische Studium auf folgende Art ein. Das erste Jahr Anatomie
mit der Physiologie verbunden, dergestalt, dass, wie man z. B. eine
Lunge in der Anatomie vorgezeigt, man auch zugleich deren Noth-
wendigkeit und Wirkung in dem gesunden Körper anführe und so auch
weiter bis auf jeden Muskel im Leibe, wie er zur Bewegung dienet.
Dieses Schuljahr müssten medici und chirurgi absolviren; dem Professor
anatomiae et physiologiae müsste man die nöthigen prosectores und
was er gebraucht, zugeben, um sein Lehramt gut zu verwalten. Zu-
gleich würde im ersten Jahr für die Mediciner Botanik und Chemie,
und für die chirurgos Operazionen, Bandagen und Geburtshilfe gelehrt.
Im zweiten Jahr müssten die Wundärzte die chirurgische und me-
dicinische Praxis und clinicam im Spital erlernen und im Spital auch
die Geburtshilfe praktiziren, und da wären sie fertig; die medici aber
müssten materiam medicam, Pathologie und alles was zum gelehrten
Fach der Medicin gehört, hören, im dritten Jahr aber sich ganz mit
der praxis und clinica, auch Praktizirung im Spital abgeben. Und auf
diese Art würden in zwei Jahren für das Land geschickte chirurgi und
in drei Jahren medici für die Stadt gebildet werden. Nach diesem
Sinne erwarte ich die weitere Ausarbeitung. Josef."1
Die Studienordnung, welche bald darauf erlassen wurde, wich von
diesen Grundsätzen zunächst darin ab, dass für die Studierenden der
Medicin und Chirurgie eine Studienzeit von vier Jahren bestimmt und
ein gemeinsamer Lehrplan festgesetzt wurde, nach welchem der Unter-
richt in den meisten Fächern für beide Kategorien vereinigt war und
sich nur dadurch unterschied, dass Jene mehr Zeit auf die Arznei-
mittellehre, Chemie und innere Medicin verwenden, Diese sich ein-
gehender mit der Chirurgie und den damit verbundenen Lehrgegen-
ständen beschäftigen und dies in den Prüfungen beweisen müssten.
Archiv des k. k. Unterrichtsministeriums zu Wien.
362 Der 7nedicinische Unterricht in der Neuzeit.
Damit wurde endlich auch in Österreich und Deutschland der
Chirurgie eine würdigere Stellung eingeräumt, wie dies in andern
Staaten bereits geschehen war. Die internen Mediciner und Chirurgen
wurden als gleichstehende Klassen von Ärzten anerkannt, welche eine
gleichwerthige Bildung besitzen und sich nur durch die Form ihrer
Thätigkeit unterscheiden.
Daneben entstand eine niedere Art von Ärzten, welche, mit ge-
ringeren Kenntnissen ausgestattet, hauptsächlich für die Landbevölkerung-
bestimmt waren und sowohl die innere als die äussere Praxis ausübten.
Die Gegensätze, welche bisher zwischen den Ärzten und den Chirurgen
bestanden hatten, wurden nun auf die Beziehungen zwischen den höher
gebildeten Ärzten und den weniger unterrichteten Medico- Chirurgen
übertragen. Bei der Beurtheilung der Zustände, welche sich daraus
entwickelten, darf man daher nicht vergessen, dass eine Verschiebung
der in Frage kommenden Faktoren stattgefunden hatte, welche später
Manches rechtfertigte, was vorher unhaltbar und ungerecht erschien.
Es ist ja zweifellos, dass die Chirurgen des 17. Jahrhunderts einen
niedrigen Bildungsstandpunkt einnahmen; aber war es vielleicht mit
den Ärzten jener Zeit anders? — Der todte Wust einer unfruchtbaren
Gelehrsamkeit trübte Vielen den Blick für das frische Leben der Gegen-
wart. „Sie kannten den Galen, aber ihre Kranken gar nicht", wie
Montaigne sagte. Die Figur des Dr. Diafoirus, welche Moliere in
seinem „eingebildeten Kranken" gezeichnet hat, soll der Wirklichkeit
abgelauscht sein.1
Der grosse Haufe der Ärzte suchte dem Publikum durch das hohle
Wrortgetön der griechisch -lateinischen Terminologie zu imponiren; sie
meinten den Kranken einen Dienst erwiesen zu haben, wenn sie, wie
Kant schreibt, ihren Leiden einen Namen gegeben hatten.2 Durch
Pillen und Pflaster, Arzneien, Klystiere und oft wiederholte Blut-
entziehungen bemühten sie sich, die Krankheit zu beseitigen, so dass
zuweilen eine kräftige Constitution dazu gehörte, um diesen, häufig
unzweckmässigen oder verkehrten Massregeln Widerstand zu leisten.
Der Titel eines Doktors der Medicin bot keineswegs die Garantie,
dass der Träger desselben ärztliche Kenntnisse besass. Ausser den
Universitäten nahm auch der Kaiser, der Pabst und seine Bevollmäch-
tigten und die Pfalzgrafen das Recht in Anspruch, diese WTürde zu
verleihen. In Neapel genoss die Familie d'Avellino-Carraciolo noch
1 M. Raynaud: Les medecins au temps de Moliere, Paris 1862.
2 Im. Kant: Versuch über die Krankheiten des Kopfes in der Ausg. sämmtl.
Werke von Rosenkrantz u. Schubert, Leipzig 1838, VII, 16.
Der medicin. Unterricht am Schluss des 18. Jahrh. u. der ärztliche Stand. 363
im vorigen Jahrhundert das Privilegium, Doktoren der Medicin und
des Rechts zu ernennen; sie machte davon reichlichen Gebrauch und
liess es sich entsprechend bezahlen.
Aber auch an einzelnen Hochschulen wurde mit der Doktor-Pro-
motion ein schändlicher Missbrauch getrieben. Manche Professoren
sahen in den Taxen, welche dafür entrichtet wurden, eine erwünschte
Vermehrung ihrer Einnahmen und suchten die Bewerber dadurch an-
zulocken, dass sie möglichst geringe Anforderungen an deren Wissen
stellten. Die Prüfungen wurden entweder erlassen oder sanken zu
einer werthlosen Formalität herab. Die Doktor-Dissertationen konnten
von gelehrten Lieferanten, welche die Anfertigung derartiger Arbeiten
gewerbsmässig betrieben, zu bestimmten Preisen gekauft werden.1 In
Greifswald erwarb i. J. 1788 ein Schuster das medicinische Doktor-
Diplom, und zwar auf Grund einer Dissertation über die Heilwirkungen
des Pechs. Die Universität Erfurt creirte in einem einzigen Jahre
97 Doktoren der Medicin, während sie überhaupt nicht mehr als
30 Studenten in sämmtlichen Facultäten zählte.
An anderen Hochschulen waren die mit der Erlangung der Doktor-
würde verbundenen Unkosten so gross, dass unbemittelte Candidaten
darauf verzichten mussten. Sie holten sich dieselbe in Folge dessen
entweder an Orten, wo man weniger Geld dafür verlangte, oder be-
gnügten sich damit, als Licentiaten der Medicin die ärztliche Praxis
auszuüben. In Wien kostete die medicinische Doktor -Promotion bis
z. J. 1749 ungefähr 1000 Gulden, in Göttingen 1765 etwa 130 Thaler,
in Paris 7000 Livres und in Oxford 100 Pfund Sterling.2 Dabei ge-
währte dieselbe keineswegs überall besondere Vorrechte.
Ausser zahlreichen anderen Heilkünstlern, welche durch die gesetz-
lichen Einrichtungen zur ärztlichen Praxis berechtigt waren, erhielten
auch herumziehende Empiriker, Bruchschneider, Steinoperateure und
Staarstecher an vielen Orten ohne besondere Schwierigkeiten die Er-
laubniss, ihre Kunst auszuüben. In auffallendem Aufzuge, behängt
mit allerlei buntem Flitterstaat und begleitet von einem Harlekin, wie
der im Volksliede verewigte Dr. Eisenbart, zogen sie auf den Jahr-
märkten und Kirchweihen umher und erzählten dem Publikum von
den wunderbaren Kuren, die sie angeblich verrichtet hatten. Mit un-
verschämten Worten priesen sie die Heilkraft ihrer Medicamente gegen
Schwindsucht, Taubheit und alle möglichen unheilbaren Leiden. Manche
erklärten, dass sie im Stande seien, das Sehvermögen, auch wenn es
1 Kais. priv. Eeichsanzeiger, Gotha 1802, No. 169—170.
2 P. Frank a. a. 0. VI, 3, S. 291.
364 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.
seit vielen Jahren verloren worden, sofort wieder herzustellen; Andere
empfahlen Pillen gegen Unfruchtbarkeit, welche nach ihrer Angabe
sogar ohne Coitus die gewünschte Wirkung hervorbrachten.
Die Scharfrichter, die unter den Kurpfuschern eine hervorragende
Stelle behaupteten, verkauften Menschenblut, welches in frischem schäu-
menden Zustande als Heilmittel gegen die Epilepsie betrachtet wurde;
sie hatten dafür einen bestimmten Tarif, je nach dem Menschen, von
dem es stammte; am theuersten war das Blut einer Jungfrau oder
eines Jünglings, am billigsten dasjenige eines Juden.1
Das grössjte Unheil richteten jedoch die herumziehenden Operateure
an. Wenn sie auf öffentlichen Plätzen der staunenden Menge unter
dem Schmettern der Trompeten und Wirbeln der Trommeln, welche
die Schmerzensschreie der beklagenswerthen Patienten übertönen mussten,
Proben ihrer Kunst zeigten, so dachte Niemand an die traurigen Folgen,
welche diese chirurgischen Eingriffe häufig zurückliessen. Aber gilt
denn nicht noch heut das Wort Bacon's, dass jeder Charlatan und
jedes alte Weib als Nebenbuhler des tüchtigsten Arztes angesehen wird
und mit ihm um den Vorzug am Krankenbett ringen darf? —
1 G-. Fischer a. a. 0. S. 49 u. ff. — Des getreuen Eckharts medicinischer
Maulaffe oder der entlarvte Marktschreier, Frankfurt und Leipzig 1719. — The
tatler, London 1723, IV, No. 243. — 0. Buchner a. a. 0. S. 145 u. ff.
IV. Der niedicinische Unterricht in der
neuesten Zeit.
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung des
19. Jahrhunderts.
Mit den gewaltigen Ereignissen der letzten Decennien des 18. Jahr-
hunderts begann die Geschichte der neuesten Zeit. Die politischen und
culturhistorischen Gestaltungen der Gegenwart haben mit der franzö-
sischen Revolution und den geistigen Bewegungen jener Periode ihren
Anfang genommen.
Die französische Revolution war nicht so sehr gegen die Monarchie
als gegen den Feudalismus gerichtet, dessen Vertreter ihre bevorzugte
Stellung in unerhörter Weise gemissbraucht hatten. Zum ersten Male
wurde das schwere Unrecht, welches darin lag, dass ein Theil der Be-
völkerung alle Lasten des öffentlichen Gemeinwesens tragen musste,
während der andere sämmtliche Vorrechte und Vortheile davon genoss,
allgemein anerkannt und der Grundsatz ausgesprochen, dass Diejenigen,
welche den Staat erhalten, auch auf die Verwaltung desselben einen
massgebenden Einfiuss auszuüben berechtigt sind.
Dieser Gedanke bildete gleichsam den festen Rückstand in den
mannigfachen politischen Zersetzungs- und Umwandelungs- Prozessen,
welche damals stattfanden. Er führte zum Parlamentarismus, der im
19. Jahrhundert fast in allen civilisirten Leandern zur gesetzlichen In-
stitution erhoben wurde. Mit der Beseitigung der historischen Privi-
legien und der ständischen Gliederung, mit der Aufhebung der Leib-
eigenschaft, mit der Einführung der bürgerlichen Selbstständigkeit und
Gleichberechtigung der einzelnen Individuen und der Thei Inahme der
breiten Schichten des Volkes an der Regierung vollzog sich eine sociale
Umwälzung von weittragender Bedeutung.
Gleichzeitig mit der politischen Emancipation der bürgerlichen Ge-
sellschaft begann auch der Aufschwung der Tagespresse, die Entwicklung
366 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
des Journalismus und die Popularisirung von Kunst und Wissenschaft.
Das Interesse für die Bestrebungen auf diesen Gebieten drang in Kreise
der Bevölkerung, welche früher gänzlich unberührt davon geblieben
waren.
An der Culturentwickelung betheiligten sich alle gebildeten Na-
tionen, namentlich aber die Franzosen, die Engländer und die Deutschen.
Die letzteren, welche schon im 18. Jahrhundert einen Lessing, Herder,
Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven, Kant und andere erleuchtete
Geister hervorgebracht, und in der Dichtkunst und Literatur, in der
Musik und Philosophie eine Achtung gebietende Stellung errungen
hatten, übernahmen allmälig auch in der Medicin und in den Natur-
wissenschaften die Führung. Während in der Geschichte derselben
Anfangs neben einzelnen Engländern hauptsächlich Franzosen genannt
werden, gewannen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die deutschen
Gelehrten und Forscher einen überwiegenden Einfluss.
Anders gestaltete sich das Yerhältniss in der Philosophie, welche
in Deutschland unter dem Banne der Schulgelehrsamkeit leider den
Zusammenhang mit dem praktischen Leben verlor und erst in neuester
Zeit wieder gefunden hat.
Mit kritischer Schärfe hatte der grosse Denker von Königsberg
die Quellen, den Umfang und die Grenzen des menschlichen Denkens
gezeichnet; aber die auf Kant folgenden Philosophen haben seiner
Erkenntniss-Theorie nur wenig hinzuzufügen vermocht und sich darauf
beschränkt, diese oder jene Kichtung seines Systems weiter zu ent-
wickeln. Indem sie dabei gerade an die Frage nach dem Wesen und
letztem Grunde der Dinge, welche Kant für überflüssig und unlösbar
erklärt hatte, als er die Forschung auf die Welt der Erscheinungen
verwies, anknüpften, verlegten sie die Aufgabe der Philosophie wiederum
in das mystisch-transcendente Gebiet der Spekulation.
Die geistvollen Hypothesen eines Fichte, welcher die Lösung des
Eäthsels des Daseins in dem Ich-Begriff suchte und damit zu einem
unbeschränkten Idealismus gelangte, eines Schelling, der die Identität
von Natur und Geist verkündete und damit die Naturphilosophie be-
gründete, eines Hegel, welcher alles Heil in der absoluten Idee sah,
und eines Schopenhauer, der die Welt als Wille und Vorstellung
erklärte, konnten wohl eine Zeitlang fesseln, keineswegs jedoch dauernd
überzeugen. Keines dieser Systeme hat auf die Naturwissenschaften
grösseren Einfluss ausgeübt, als die Naturphilosophie.
Hervorragende Ärzte und Naturforscher, wie Blumenbach, Oken,
Kielmeyer, J. Döllinger, Oersted, Burdach, Nees v. Esenbeck,
Kieser, K. G. Carus u. A. schlössen sich ihr an, weil sie in ihr be-
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. 367
stimmte Gesichtspunkte zur Beurtheilung der empirisch gesammelten
Thatsachen fanden. Gleich der Romantik, welche damals die Kunst und
Literatur beherrschte, ein echtes Kind dieser nach einem befriedigenden
Abschluss der gegensätzlichen und unfertigen Bestrebungen ringenden
Zeit, verfolgte auch die Naturphilosophie durchaus edle Ziele, indem sie
sich in die Tiefen des Gemüths versenkte, der Medicin ihre erhabenen
ethischen Aufgaben ins Gedächtniss rief und die Einheit der verschie-
denen Naturwissenschaften zum Ausdruck brachte.
Der empirischen Forschung stellte sie sich erst feindlich gegenüber,
als sie, vom religiösen Mysticismus angekränkelt, die Metaplrysik zu
ihrem Tummelplatz wählte und, um mit Hamann's Worten zu reden,
„aus einer allgemeinen Wissenschaft des Möglichen zu einer allgemeinen
Unwissenheit des Wirklichen" wurde. Wenn die Naturphilosophie in
greisenhafter Selbstüberhebung ihre vagen und oft veralteten Begriffs-
bestimmungen der täglich fortschreitenden Naturwissenschaft entgegen-
hielt, so erreichte sie damit nur, dass sich dieselbe gänzlich von ihr
abwandte.
Nicht wenig trug die vorzugsweise durch Hegel in die Philosophie
eingeführte schwerfällige Form der Darstellung, welche sich in einer
selbst fabricirten Sprache abmühte, die einfachsten Dinge möglichst
unverständlich zu machen, zu der Entfremdung bei, welche allmälig
in Deutschland zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie
stattfand.
In andern Ländern war es damit in mancher Beziehung besser
bestellt. Hier behielt die Philosophie enge Fühlung mit den Wissen-
schaften und Künsten des realen Lebens und stellte bei der methodi-
schen Bearbeitung derselben ihre Kräfte in deren Dienst. In Frank-
reich begründete Auguste Comte, welcher gleich Kant, an den er
anknüpfte, mathematisch und naturwissenschaftlich geschult war, den
Positivismus, welcher im Einklang mit dem mächtigen Aufschwung,
den die empirische Forschung in jener Zeit dort erlebte, die Metaphysik
und den Teleologismus ausschloss und alles philosophische Denken,
alle Wissenschaft, auf die durch die Erfahrung festgestellten Thatsachen
gestützt wissen wollte.
Diese Richtung musste den Naturforschern genehm erscheinen und
fand daher unter ihnen viele Anhänger und Vertreter. In Deutschland
verkündeten Fechnee, H. Lotze, H. Czolbe und andere hervorragende
Männer der Naturwissenschaft diese Lehren und trugen das zu ihrer
Begründung nothwendige Material herbei. Die exakte Schule der Gegen-
wart begann wieder mit der Philosophie zu rechnen, und einer der
grössten Naturforscher, Karl Rokitansky, wies auf den Nutzen und
368 Der medicinischc Unterricht in der neuesten Zeit.
die Bedeutung hin, welche dieselbe für die Naturwissenschaften und
die Medicin besitzt. Aber auch die Philosophen erkannten, dass die
positive Kenntniss der wissenschaftlichen Thatsachen die selbstverständ-
liche Voraussetzung ihrer Thätigkeit sein muss, wenn sich dieselbe
fruchtbringend gestalten soll und ernste Beachtung beanspruchen will.
An einzelnen Hochschulen wurden die philosophischen Lehrkanzeln
Naturforschern übertragen, welche den Werth der Beobachtung und
des Experiments erprobt hatten und damit der Bedeutung, welche die
naturwissenschaftliche Weltanschauung für die Culturentwickelung der
Gegenwart gewonnen hat, ein deutlicher Ausdruck gegeben. Dieselbe
erhielt ihre Begründung in der Fülle von neuen Thatsachen, mit
welchen die verschiedenen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert
bereichert wurden, und in der Erkenntniss ihrer gegenseitigen Be-
ziehungen und gemeinsamen Gesetze, welche eine einheitliche Betrach-
tung des Lebens der Natur ermöglichte.
Wenn ich hier einige Thatsachen aus der Geschichte der ver-
schiedenen Naturwissenschaften hervorhebe, so geschieht es nur, um
den Gang ihrer Entwickelung mit wenigen Worten zu kennzeichnen.
Schon im 18. Jahrhundert versuchte man, die Mineralien nach
rationellen Gesichtspunkten zu ordnen. Linne und Wallerius legten
ihrer Eintheilung derselben die äusseren Merkmale und Ähnlichkeiten
zu Grunde. Der Schwede Axel von Cronstedt betrachtete dagegen
die chemischen Bestandtheile als massgebend; der sächsische Bergrath
Abraham Gottlob Werner stellte dann ein Schema auf, welches sich
auf die chemischen und physikalischen Eigenschaften sowohl als auf
die äusseren Erscheinungsformen stützte. Ihm gebührt auch das Ver-
dienst, die Oryktognosie und Geognosie von einander abgegrenzt und
die letztere begründet zu haben.
Die wissenschaftliche Bearbeitung der Krystallographie l begann
mit Kome de l'Isle und Hauy und wurde von Weiss und Mohs in
erfolgreicher Weise fortgesetzt. Andere beschäftigten sich mit den
chemischen, optischen und elektrischen Eigenschaften, mit der Phosphor-
escenz und den Polarisations-Erscheinungen, welche bei einigen Mine-
ralien beobachtet wurden. Die Verwerthung der Chemie für die Mine-
ralogie führte zu einer innigen Verbindung dieser beiden Wissenschaften,
welche nach vielen Richtungen anregend und befruchtend wirkte.
In der Geognosie und Geologie wirkte Leopold von Buch bahn-
brechend. Gleichzeitig wurde auch die Petrefacten-Kunde, auf welche
1 Cuvier: Geschichte der Fortschritte in den Naturwissenschaften seit 1789,
Deutsche Übers., Leipzig 1828, 4 Bde.
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. 369
Scheuchzer zuerst die Aufmerksamkeit gelenkt hatte, fleissig getrieben
und bot die Materialien zur Lösung mancher Fragen der Geologie und
Anthropologie.
In der Botanik wurden verschiedene Versuche unternommen, ein
natürliches System der Pflanzen aufzufinden. Adanson erklärte: „Die
Natur stellt uns überall natürliche Ordnung dar/' und meinte, dass
sich dieselbe sicherlich nicht auf die Ähnlichkeiten oder Unterschiede
eines einzelnen Organs, sondern nur auf die Gesammt- Erscheinung,
auf den Total-Habitus stützen könne. Um dieses System zu entdecken,
verglich er die einzelnen Pflanzen in Bezug auf ihre verschiedenen
Organe und ordnete sie in die Klassen der Nächststehenden, der Nahe-
stehenden u. s. w.. je nachdem sie mehr oder weniger mit einander
übereinstimmten. Diese Eintheilung entbehrte vor Allem der Übersicht-
lichkeit und vermochte sich daher keinen Beifall zu erringen.
Eine richtigere Methode schlugen A. L. de Jussieu, Pykame de
C andolle, Robert Brown u. A. ein, indem sie zunächst auf eine
genaue Feststellung und Begrenzung der Pflanzen-Familien drangen
und eine Reihe werthvoller Vorarbeiten dazu lieferten. Dabei begründete
P. de Candolle, der selbst mehr als hundert Familien sorgfältig be-
schrieb, die Lehre von der Symmetrie der Pflanzengestalt.
Von fundamentaler Bedeutung für die Morphologie waren ferner
die Untersuchungen Jos. Gaertners über die Früchte und Samen der
Pflanzen und Rob. Brown's monographische Arbeiten. Goethe's Metamor-
phosenlehre regte mehr die Naturphilosophen, als die Naturforscher an.
Sie war verschwommen und unbestimmt und erfuhr erst durch Schimper
und Alexander Braun, welche über die Blattstellung und dieEntwickelung
der Pflanzen werth volle Aufschlüsse gaben, eine wissenschaftliche Klärung.1
Die Anatomie der Pflanzen fand fleissige Bearbeiter an Brisseau-
Mirbel, dem jüngeren Moldenhawer, Link, Meyen, Hugo Mohl u. A.,
welche die Ansichten über den Bau der Pflanzen zu einem gewissen
Abschluss brachten. Auch die mikroskopische Struktur derselben wurde
genauer untersucht, und die Entdeckung, dass die Zelle das alleinige
Grundelement derselben ist, wies der morphologischen Forschung eine
neue Richtung. Sie drängte zu einer grösseren Berücksichtigung der
Histogenese. Man begann diese Verhältnisse an den niederen Krypto-
gamen zu studieren, weil man hier mit einfacheren, leichter zu durch-
schauenden Thatsachen rechnen durfte, und ging dann allmälig zu den
höher organisirten Pflanzen über.
1 Wigand: Geschichte und Kritik der Lehre von der Metamorphose der
Pflanzen, Leipzig 1846.
Puschmann, Unterricht. 24
370 Der medicinisehe Unterricht in der neuesten Zeit.
Die dabei gewonnenen Ergebnisse warfen ein merkwürdiges Licht
auf die Entstehung und das Wachsthum der Organe. Mohl beob-
achtete bereits verschiedene Arten der Sporenbildung und beschrieb
1835 einen Fall von vegetativer Zelltheilung. Schleiden stellte 1838
eine Theorie der Zellbildung auf, die aber an so vielen Fehlern litt,
dass sie bald nachher wieder aufgegeben wurde. An ihre Stelle trat
Naegelis Theorie, welche umfassender war, die verschiedenartigen
Fälle ins Auge fasste und das ihnen zu Grunde liegende Gesetz
feststellte.
Im Jahre 1839 sprach Schwann den Satz aus, dass die thierische
Zelle der vegetablischen analog ist, und 1855 machte Ungee auf die
Ähnlichkeit des Protoplasma der Pflanzenzelle mit der Sarcode der
niedersten Thiere aufmerksam, welche durch die Untersuchungen über
die Myxomyceten eine weitere Bestätigung erhielt.
Diese Thatsachen führten zu einer richtigeren Beurtheilung der
räthselhaften Beziehungen zwischen dem Pflanzen- und Thierreich und
trugen ebenfalls dazu bei, die Lehre von der Constanz der Arten,
welche lange Zeit als ein unumstössliches Dogma gegolten hatte, zu
beseitigen.
Die Befruchtung der Pflanzen wurde von Du Hamel studiert,
welcher die Bestäubungseinrichtungen der Blüthen und die Rolle, welche
manche Insekten dabei spielen, beschrieb. Eine gründliche Bearbeitung
erfuhr dieser Gegenstand seit 1830, indem die Prozesse im Innern der
Samenknospen zum Gegenstande sorgfältiger Untersuchungen gemacht
und die Sexualität auch bei den Kryptogamen nachgewiesen wurde.
Auch die Vorgänge der Ernährung, Stoff-Aufnahme und -Abgabe
und des Wachsthums fanden eine ausführliche Darstellung. Die Saft-
bewegung, über welche schon Stephan Hales interessante Experimente
angestellt hatte, wurde hauptsächlich durch Duteochet, der die dios-
motischen Erscheinungen zu ihrer Erklärung heranzog, aufgeklärt.
Ingenhouss fand, dass die grünen Pflanzentheile unter dem Einfluss
des Lichts Kohlensäure aufnehmen, Sauerstoff ausscheiden und auf diese
Weise den Kohlenstoff erhalten, den die Pflanzen in der Form orga-
nischer Verbindungen in sich aufhäufen, und begründete somit die
Lehre von der Athmung und Ernährung der Pflanze. Daran schlössen
sich Senebiees Untersuchungen über den Einfluss des Lichts auf das
Leben der Pflanze an.
Zahlreiche Arbeiten beschäftigten sich dann mit dem Chemismus
der Ernährung und den Bewegungserscheinungen der Pflanzen.1 Auch
1 Sachs a. a. 0. S. 27G u. ff.
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. 371
die Pathologie derselben fand Beachtung und wurde namentlich in
neuester Zeit ausserordentlich gefördert. Endlich trat auch die Pflanzen-
Geographie ins Leben, welche dadurch, dass sie die Abhängigkeit der
Pflanzenwelt vom Klima und Boden nachwies und erklärte, grosse Be-
deutung für die Heilkunde und besonders für die medicinische Geo-
graphie erlangte.
Die Zoologie erfuhr durch die Auffindung neuer Thierarten und
die sorgfältige Erforschung ihres anatomischen Baues nicht nur eine
bedeutende Vermehrung ihres Wissens-Inhalts und gelangte zu einer
besseren Systematik, sondern vermochte mit Hilfe der Entwickelungs-
geschichte, vergleichenden Anatomie uud Palaeontologie zu einer natur-
geschichtlichen Gesammt-Anschauung durchzudringen, welche das ganze
Gebiet des Werdens und Vergehens in der Natur zu umfassen schien.
Buffon1 näherte sich bereits diesem Standpunkt, indem er erklärte,
dass kein wesentlicher Unterschied zwischen Thieren und Pflanzen be-
stehe und die Reihenfolge der organischen Wesen einen einheitlichen
Plan zeige. Seine populäre und geistvolle Darstellungsweise, welche
den Reichthum der Thatsachen mit kühnen Hypothesen zu verweben
verstand, regte die Forscher zu neuen Untersuchungen an und erweckte
und verbreitete beim grossen gebildeten Publikum das Interesse für
naturwissenschaftliche Gegenstände. Buffon ging dabei auch auf die
geographische Verbreitung der Thierwelt ein und hob, wie schon Linne,
die Verschiedenartigkeit derselben in den einzelnen Continenten hervor.
Wenn die arktischen Thierformen von Amerika und Europa überein-
stimmen, so schloss er daraus, dass einst ein Zusammenhang der beiden
Welttheile bestanden habe oder wenigstens Wanderungen der Thiere
von einem zum andern möglich gewesen seien.
Die Bekanntschaft mit der überseeischen Fauna wurde hauptsäch-
lich durch die wissenschaftlichen Expeditionen, denen Naturforscher
beigegeben wurden, herbeigeführt. So beschrieb Sonneeat mehrere
Thiere der südasiatischen Inseln; hauptsächlich aber erwarben sich der
ältere Foestee, Al. von Humboldt und Lichtenstein in dieser Rich-
tung Verdienste.
Ebenso wurde die Verbreitung der Thierwelt in den einzelnen
Ländern Europas genauer studiert. Pallas beschrieb verschiedene
neue Thierformen.
Gleichzeitig wurde die Kenntniss der bekannten Thierarten durch
wichtige Beobachtungen bereichert. Bonnet bemerkte zuerst die un-
geschlechtliche Fortpflanzung der Blattläuse. P. Campee und J. Huntee
1 V. Carus a. a. 0. S. 522 u. ff.
24'
372 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
entdeckten gleichzeitig und unabhängig von einander die Pneumacität
der Vogelknochen und den Zusammenhang ihrer Lufträume mit den
Lungen. Fabeicius und später Lateeille beschäftigten sich vorzugs-
weise mit der Entomologie, während Rudolphi die Helminthologie
bearbeitete und Lamaeck, 0. F. Müllee und Eheenbeeg in der Welt
der Infusorien Umschau hielten.
Die Zootomie gab über den Bau der verschiedenen Thiere werth-
volle Aufschlüsse, und die Vergleichung ihrer Organisation eröffnete
beachtenswerthe Gesichtspunkte für eine einheitliche Beurth eilung der-
selben. Die vergleichende Anatomie und Physiologie erhielt durch
J. Huntee, F. Vicq d'Azye, Blumenbach, Kielmeyee, Geoeeeoy
St. Hilaiee, Cuviee, Tiedemann, C. G. Caeus, J. F. Meckel und
Joh. Müllee eine Fülle wissenschaftlichen Materials zugeführt und
wurde als das eigentliche Ziel der Zootomie betrachtet. Ignaz Döllingee
schrieb 1814: „Die Aufgabe der Zootomie ist, den Bau der Thiere zu
entwickeln und in demselben die Natur des Lebensprozesses nach-
zuweisen. Damit wird das Vergleichen des Zootomen Geschäft; er soll
Thatsachen zusammenstellen und untersuchen, worin sie sich ähnlich
und worin sie sich unähnlich sind; er soll sie mit der Idee des Lebens
zusammenhalten und erforschen^ wie sich ein und dasselbe durch eine
Reihe von Metamorphosen durchbildet*'.1
Geoeeeoy St. Hilaiee stellte leitende Grundsätze auf, welche den
Forsebern als Richtschnur dienen konnten. Cuviee entdeckte das schon
von J. Heemann geahnte Gesetz der Correlation der Theile, nach
welchem jeder Organismus ein geschlossenes Ganze bildet, dessen ein-
zelne Theile nicht abgeändert werden können, ohne dass auch an allen
übrigen Organen Aenderungen stattfinden.
Auf Grund dieser neu erschlossenen Thatsachen durfte man sich
auch an die Systematik wagen. Batsch versuchte zuerst, die Knochen-
thiere von den übrigen zu sondern; aber erst Lamaeck brachte die
Eintheilung in Wirbelthiere und Wirbellose zum deutlichen Ausdruck
und zur allgemeinen Anerkennung.
Den grössten Fortschritt in dieser Hinsicht verdankte man Cuviee,
welcher die Typenlehre begründete. Er erklärte, dass es im Thier-
reiche vier neben einander stehende Hauptzweige oder „allgemeine
Pläne gebe, nach denen die zugehörigen Thiere modellirt zu sein scheinen
und deren einzelne Unterabtheilungen nur leichte, auf die Entwicklung
oder das Hinzutreten einiger Theile gegründete Modifikationen sind,
1 J. Döllinger: Über den Werth und die Bedeutung der vergleichenden
Anatomie, Würzburg 1814, S. 17.
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. 373
in denen aber an der Wesenheit des Planes nichts geändert wird".
K. E. v. Baer bestimmte den Begriff des Typus genauer und berichtigte
die Theorie, namentlich in Bezug auf die Entwicklungsgeschichte,
welche Cuvier gänzlich unberücksichtigt gelassen hatte.
Die wissenschaftliche Bearbeitung der letzteren begann damals
mehr, als bisher, hervorzutreten und auf die verwandten Disciplinen
Einfluss auszuüben. Pander veröffentlichte seine bahnbrechenden Unter-
suchungen über die Entwickelung des Huhns, in welchen er den Nach-
weis lieferte, dass sich der Yogelkörper aus drei Keimblättern bildet.
K. E. v. Baer zog auch die übrigen Klassen der Wirbelthiere in Be-
tracht und wies auf die verschiedenen Sonderlings Vorgänge am Keime
hin. Auch von Anderen wurden die Veränderungen des Eies nach der
Befruchtung beobachtet und die Eurchungsprozesse beschrieben. Ferner
wurde die Entwickelung einzelner Organe, z. B. diejenige des Gehirns,
des Auges, der WoLFF'schen Körper u. a. m. zum Gegenstande besonderer
Untersuchungen gemacht.
Dabei wurde man auf die Ähnlichkeit in der Entwickelung der
Embryonen verschiedener Thierformen aufmerksam. John Hunter,
Kielmeyer und später Oken begründeten die Theorie, dass die Em-
bryonen der höher organisirten Thiere die Entwickelungsstadien der
niederen Klassen durchlaufen. Die entwickelungsgeschichtlichen That-
sachen in Verbindung mit den palaeontologischen Funden, welche die
Verschiedenheiten zwischen den fossilen Pflanzen und Thieren und den
heutigen Bepräsentanten ihrer Art erkennen Hessen, erschütterten auch
in der Zoologie den Glauben an die Unveränderlichkeit der Form und
bereiteten die Descendenztheorie vor.
Schon i. J. 1804 erklärte Lamarck unter Hinweis auf die Bastardirung
und Varietätenbildung, dass der Begriff der Art nur dem an ein kurzes
Zeitmass gewöhnten Urtheil der Menschen unveränderlich erscheine, in der
Wirklichkeit aber wechsele und sich den äusseren Lebensverhältnissen an-
passe. Im J. 1830 veröffentlichte Lyell seine Principles of Geology, in
denen er auseinander setzte, dass es zur Erklärung der Veränderungen der
Erdrinde durchaus nicht immer der Annahme grosser gewaltiger Katastro-
phen bedürfe, sondern dass dazu die langsam, aber stetig wirkenden Kräfte
der Natur ausreichen. Er wies auf die Wirkungen der Flüsse und Meere,
der Mineralquellen und Gletscher hin und verglich die Veränderungen der
unorganischen Welt mit dem Minutenzeiger der Uhr, „dessen Vorrücken
man sieht und hört, während die Fluktuationen der lebenden Schöpfung
kaum sichtbar sind und der Bewegung des Stundenzeigers gleichen".1
1 0. Schmidt: Descendenzlehre und Darwinismus, Leipzig 1873, S. 117.
374 Der medieinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Das Dogma der Constanz der Arten wurde allmälig von den
meisten Naturforschern verlassen. Man sah, dass die Arten sich inner-
halb gewisser morphologischer Grenzen verändern, und wurde dadurch
zu der Vermuthung gedrängt, dass sie sich auf diese Weise zu ihrer
gegenwärtigen Form entwickelt haben. Ch. Dakwin hat das unver-
gängliche Verdienst, diese Hypothese zur wissenschaftlichen Thatsache
erhoben zu haben. Gestützt auf ein reiches Beobachtungs-Material,
unternahm er es, die Ursachen zu ergründen, welche die Entstehung
der Arten erklären, und kam zu dem Eesultat, dass der Kampf ums
Dasein und die natürliche Zuchtwahl zu einer Auslese des Besseren und
Passenderen führen, welche den Untergang des unterliegenden Theiles
und die allmälige Vervollkommnung des siegenden im Gefolge haben.
Diese Theorie, welche von Wallace, Naegeli u. A. in einzelnen Punkten
berichtigt und ergänzt wurde, bildete den Grundstein einer neuen natur-
wissenschaftlichen Weltanschauung.
Als bald darauf der Versuch gemacht wurde, darauf eine natür-
liche Schöpfungsgeschichte aufzubauen, und dabei auch die Stellung
des Menschen gegenüber den übrigen Bewohnern der Erde in den Kreis
der Erörterung gezogen wurde, erregte die neue Lehre den heftigen
Unwillen aller Derjenigen, welche darin einen Angriff auf die Beligion
und die Menschenwürde erblickten. Die Lückenhaftigkeit der That-
sachen, besonders in der Palaeontologie, und die mangelhafte Kennt-
niss mancher physiologischen und entwickelungsgeschichtlichen Vorgänge
gestattete allerdings nicht Schlussfolgerungen von solcher Tragweite,
wie sie bisweilen zu Tage traten; aber dieselben hüllten sich in das
anspruchslose Gewand der Hypothese und forderten nicht bedingungs-
lose Unterwerfung, sondern eine freimüthige Kritik. Die Religion wird
niemals von der Wissenschaft bedroht werden, wenn sie es unterlässt,
die Freiheit der Forschung anzufeinden, und in der ethischen Erziehung
des Menschengeschlechts, in der Veredelung des Gemüthslebens ihre
einzigen Aufgaben erkennt.
Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren.
Während sich die Mineralogie, Botanik und Zoologie aus be-
schreibenden Naturwissenschaften in erklärende umwandelten, gewannen
auch die Physik und Chemie durch die Verbesserungen der Unter-
suchungsmethoden und die Fülle neuer Entdeckungen eine andere
Gestalt.
Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren. 375
In der Chemie wurde diese Periode eingeleitet durch die Ent-
deckung des Sauerstoffs und die Beseitigung der Phlogiston-Theorie und
charakterisirt durch die Methode der quantitativen Untersuchungen.
Im J. 1774 fand Jos. Peiestley den Sauerstoff, indem er rothes Queck-
silberoxyd zum Erhitzen brachte. Zu gleicher Zeit beobachtete er, dass
das dabei gewonnene Gas die Athmu ng und Verbrennung besser unter-
hält, als die gewöhnliche Luft; aber er vermochte nicht, die daraus sich
ergebenden Schlüsse zu ziehen. Er war ein genialer Dilettant, der die
Wissenschaft mehr in der Breite als in der Tiefe erforschte. Er hat
die Chemie mit einer Menge von Entdeckungen bereichert, und, wie
Kopp sagt, für die Kenntniss der Gase mehr geleistet, als die berufs-
mässigen Naturforscher. 1
Erst Lavoisiee erkannte die volle Bedeutung der Entdeckung des
Sauerstoffs. Schon zwei Jahre vor derselben lieferte er den experi-
mentellen Nachweis, dass sowohl bei der Verkalkung der Metalle, als
bei der Verbrennung von Phosphor und Schwefel im Widerspruch mit
der phlogistischen Theorie eine Gewichtszunahme erfolgt, welche auf
der Absorption von Luft beruht; aber er wusste nicht, ob dabei die
Luft im Ganzen oder nur ein Theil derselben wirksam ist. Als er
durch Peiestley den Sauerstoff kennen lernte, kam er auf den Ge-
danken, in ihm die Ursache dieser Erscheinungen zu suchen. Durch
zahlreiche Versuche stellte er fest, dass sich nur ein Fünftel der
atmosphärischen Luft an der Verbrennung betheiligt, und dass die Luft
aus einem Theile Sauerstoff und vier Theilen eines Gases besteht,
welches weder zur Verbrennung noch zur Athmung geeignet ist. Seine
Angaben über die Zusammensetzung der Luft, des Wassers und ver-
schiedener 'Säuren wurden von Cavendish bestätigt und in einzelnen
Punkten ergänzt.2
Mit der Widerlegung der phlogistischen Theorie tauchten ver-
schiedene Fragen auf, welche bis dahin auf Grund derselben oder nach
ihrer Analogie gelöst worden waren. Da Lavoisiee in allen Säuren,
die er untersuchte, Sauerstoff fand, so erklärte er denselben für den
diesen Körpern gemeinsamen Bestandtheil, also für Das, was man früher
als Ursäure bezeichnet hatte; er wies ferner auf die Rolle hin, welche
der Sauerstoff bei der Oxydation oder sogenannten Verkalkung der
Metalle spielt. Von dem Wesen der Kausticität hatte Black schon
früher eine richtige Darstellung gegeben.
1 Kopp a. a. 0. I, 239.
2 Kopp: Beiträge zur Geschichte der Chemie, Braunschweig 1875, III,
254 u. ff.
376 Der medicinischc Unterricht in der neuesten Zeit.
Lavoisier entwickelte ferner die Bedeutung, welche der Sauerstoff
für die Athmung und Blutbereitung besitzt, und gab dadurch die An-
regung zu einer gründlichen Umänderung der physiologischen Lehren
über diese Vorgänge. Aber auch auf die Pathologie und Therapie übte
die Entdeckung des Sauerstoffs einen grossen Einfluss aus. Einzelne
Ärzte sahen in ihm die Lebensluft, auf welcher die Gesundheit beruhe.
Sie glaubten, dass bestimmte Krankheiten in dem Überschuss oder
Mangel von Sauerstoff ihren Grund hätten, und verwendeten ihn daher
in der Therapie.
Lavoisiees Lehren fanden die früheste Aufnahme in seinem Vater-
lande Frankreich. Zu seinen Anhängern gehörten Gutton de Morveau,
der sich um die Einführung einer rationellen chemischen Nomenklatur
verdient machte, Fourcroy, welcher sich mit der medicinischen
Chemie beschäftigte, und Berthollet, der die Zusammensetzung des
Ammoniaks ermittelte, die bleichende Kraft des Chlors zuerst be-
obachtete und deren Bedeutung für das praktische Leben erkannte,
das chlorsaure Kali und das Knallsilber entdeckte, die Blausäure genau
untersuchte und deren Bestandtheile feststellte, den Irrthum Lavoi-
siers berichtigte, dass in allen Säuren Sauerstoff enthalten sei, die
Lehre von der chemischen Verwandtschaft begründete und auf die
Wichtigkeit der quantitativen Verhältnisse, welche dabei in Frage kamen,
hinwies und die technische Chemie, namentlich die Stahl- und Salpeter-
fabrikation förderte.
In Deutschland war Klaproth der Erste, welcher die anti-
phlogistische Theorie vertheidigte. Die Chemie verdankt ihm die Ent-
deckung mehrerer Elemente und die Richtigstellung verschiedener irriger
Angaben, welche von andern Forschern gemacht worden waren. Seine
analytischen Arbeiten zeichneten sich durch ihre Genauigkeit aus und
übertrafen in dieser Beziehung sogar diejenigen Vauquelins, welcher
um die gleiche Zeit die mineralogische Chemie bearbeitete, und
dabei das Chrom und die Beryllerde auffand. Auch der organischen
Chemie widmete er seine Aufmerksamkeit und entdeckte z. B. die
Chinasäure.
Im Beginn unsers Jahrhunderts verkündigte J. L. Proust das
Gesetz, dass die chemischen Verbindungen stets eine bestimmte Constanz
ihrer Zusammensetzung zeigen. Ausserdem lieferte er wichtige Beiträge
zur Chemie einzelner Metalle und entdeckte den Traubenzucker. Der
Engländer Dalton versuchte, die Constanz der chemischen Verbindungen
durch die atomistische Theorie zu erklären, indem er annahm, dass
sich die Atome verschiedener Elemente in einem bestimmten, von ihrem
Gewicht abhängigen Verhältniss vereinigen; dabei fand er das Gesetz
Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren. 377
der multiplen Proportionen.1 Die stöchiometrischen Untersuchungen
Daltons wurden von Wollaston, der die Bezeichnung der Äquivalente
anstatt der Atomgewichte einführte, und Berzelius fortgesetzt und
ergänzt.
Eine Erweiterung erfuhr dieser Gegenstand durch Gay-Lussac,
welcher bei der Untersuchung der chemischen Verbindungen auch die
Volumen -Verhältnisse der Körper, wenn sie sich im gasförmigen Zu-
stande befinden, zu berücksichtigen empfahl. Im J. 1805 fand er in
Gemeinschaft mit Alexander von Humboldt, dass sich das Wasser
aus 1 Volumen Sauerstoff und 2 Volumen Wasserstoff zusammensetzt.
Später untersuchte er noch andere Verbindungen von diesem Gesichts-
punkt aus und stellte dabei fest, dass ihre Bestandtheile, sobald sie im
gasartigen Zustande sind, auch in einem bestimmten Raumverhältniss
zu einander stehen; er legte somit die Grundlage zu der Volumen-
Theorie.
Gay-Lussac veröffentlichte ferner werthvolle Arbeiten über die
Ausdehnung der Gase durch die Wärme, über die Dichtigkeit der
Dämpfe, zu deren Bestimmung er geeignete Untersuchungsmethoden
angab, über das Jod, welches kurz vorher entdeckt worden war, und
seine Verbindungen, sowie über mehrere Chlorverbindungen. Er gab
die erste richtige Darstellung der Zusammensetzung der Blausäure, er-
läuterte das Wesen des Cyans, entdeckte den Jodwasserstoff-Äther und
die Unterschwefelsäure, und vereinfachte die Prüfung verschiedener im
täglichen Leben gebrauchten Stoffe.
Die Erforschung der quantitativen Verhältnisse zwischen den ein-
zelnen Bestandtheilen der chemischen Verbindungen trat in ein neues
Stadium, als die Thatsache bekannt wurde, dass der elektrische Strom
die letzteren zerlegt. Nicholson, Carlisle, Cruikshank, sowie Ber-
zelius und Hisinger machten darüber verschiedene interessante Be-
obachtungen, und Humphry Davy gab ihnen eine theoretische Grund-
lage. Er zeigte, dass mittelst des elektrischen Stromes das Wasser in
Sauerstoff und Wasserstoff und die Salze in Säuren und Basen zerlegt
werden, von denen sich die ersteren am positiven, die letzteren am
negativen Pol der Volta'schen Säule niederschlagen, wies die Zerlegbar-
keit mehrerer zusammengesetzter Körper, z. B. der feuerbeständigen
Alkalien, der alkalischen Erden, des Baryt, des Strontian, der Bittererde,
Kalkerde u. a. m. nach und sprach die Ansicht aus, dass die chemischen
und elektrischen Wirkungen Äusserungen der gleichen Kraft seien; er
1 A. Wurtz: Geschichte der chemischen Theorien, Deutsche Übersetzung,
Berlin 1879, S. 29 u. ff.
378 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
glaubte, dass dieselben bei der Berührung grösserer Massen in der
Form der Elektricität, beim Zusammentreffen kleiner Theilchen als
chemische Verwandtschaft zu Tage treten.
Davy's Arbeiten gaben die Anregung zu einer Reihe von elektro-
chemischen Untersuchungen, welche von Thenaed, dem Entdecker des
Wasserstoffsuperoxyds, und G-ay-Lussac angestellt wurden und die
Kenntniss einzelner Elemente, besonders des Kaliums und Natriums,
ebenso wie die Technik der Forschungsmethoden wesentlich förderten.
Zu gleicher Zeit gaben Schweiggee und Beezelius neue Aufschlüsse
über die Theorie des Elektrochemismus; der letztere ging von der An-
nahme der elektrischen Polarität der Atome der Körper aus und er-
klärte demgemäss die Entstehung chemischer Verbindungen als ein
Aneinanderlagern der entgegengesetzten Pole der Atome verschiedener
Körper.
Im J. 1834 fand Eaeaday die wichtige Thatsache, dass dieselbe
Menge cirkulirender Elektricität auch stets denselben chemischen Effekt
hervorbringt. Damit gewann er ein Maass für die vorhandene Elek-
tricität. Indem er ferner die Wirkungen derselben auf die verschiedenen
Verbindungen studierte, machte er die Beobachtung, dass die Gewichts-
mengen der Stoffe, welche vom elektrischen Strom zerlegt werden, ihrem
chemischen Äquivalentgewicht entsprechen. Auf diese Weise erhielt
die Lehre von der chemischen Verwandtschaft eine Beleuchtung, welche
sich auf das ganze Gebiet des Elektrochemismus erstreckte.
Auch die übrigen Theile der Chemie wurden erfolgreich bearbeitet.
H. Davy berichtigte die irrigen Ansichten über das Chlor und führte
den Begriff' der Wasserstoffsäuren ein; ferner machte er zuerst auf die
berauschende Wirkung des von Peiestley entdeckten Stickoxyds auf-
merksam. Erwähnung verdienen auch seine Untersuchungen über die
Malerfarben an antiken Kunstwerken und über die Mittel, um die in
Pompeji gefundenen Handschriften in einen lesbaren Zustand zu bringen.
Beezelius wirkte nach allen Richtungen der Chemie anregend
und fördernd und schuf eine Schule, aus welcher eine Reihe der her-
vorragendsten Chemiker des 19. Jahrhunderts, wie Che. Gmelin, Mit-
scheelich, die beiden Rose, Wöhlee, Magnus, Aefvedson und Andere
hervorgingen. Er erleichterte die quantitative Analyse, indem er die
Löthrohr- Untersuchungen mehr in Aufnahme brachte, entdeckte und
beschrieb mehrere bis dahin nicht bekannte Elemente und lieferte vor-
treffliche Beiträge zur Zoochemie. Faeaday beschäftigte sich mit der
Flüssigmachung der Gase und mit Verbesserungen der Stahl- und der
Glasfabrikation, während Dumas Untersuchungen über das specifische
Gewicht verschiedener Gase anstellte.
Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren. 379
Mitscherlich unternahm die künstliche Nachbildung anorganischer
Körper und zeigte, dass sie identisch sind mit den in der Natur vor-
kommenden Mineralien, veröffentlichte wichtige Arbeiten über die Ver-
bindung des Natrons mit Jod, sowie über die Oxydationsstufen des
Mangans, und bahnte durch seine Entdeckung des Isomorphismus und
Dimorphismus in der Chemie eine physikalische Richtung an, die auch
für die Mineralogie von Bedeutung war. Die Thatsache, dass Körper
von verschiedener chemischer Zusammensetzung die gleiche Krystall-
gestalt besitzen und ihre Bestandteile durch andere Elemente ersetzt
werden können, ohne dass sich ihre Form ändert, während andere
Körper, wie der Schwefel, bei gleicher chemischer Zusammensetzung,
unter verschiedenen Gestalten erscheinen, übte auf die weitere Ent-
wickelung der Chemie einen grossen Einfiuss aus.
Mit Liebig und Wöhler trat die organische Chemie in den
Vordergrund. Hier eröffnete sich der wissenschaftlichen Forschung ein
Arbeitsfeld, welches bis dahin noch wenig oder gar nicht bebaut worden
war. Die Untersuchung der organischen Verbindungen, ihrer Zusammen-
setzung und Eigenschaften und die Versuche, sie künstlich darzustellen,
boten eine Fülle von Aufgaben, deren Lösung die Chemiker des 19. Jahr-
hunderts vollauf beschäftigte. 1
Dazu kam die Erkenntniss der vielfachen und tiefgreifenden Be-
ziehungen, welche die Chemie zum praktischen Leben hat, und ihre
Verwerthung für die Landwirtschaft, für verschiedene Handwerke und
Gewerbe, die Malerei, die Kriegskunst, die Nahrungsmittellehre, die
Physiologie, Pharmakologie und Pharmaceutik. Die Agricultur-Chemie,
die technologische, physiologische und pharmaceutische Chemie haben
sich allmälig zu besonderen Disciplinen entwickelt, und die Chemie ist
zur Wissenschaft des täglichen Lebens geworden, welche die Bedürfnisse
des Menschen regelt und befriedigt.2
In der Physik wurde diese Periode mit der Entdeckung der merk-
würdigen Erscheinungen des Galvanismus eröffnet, welchen Al. Volta
die richtige Deutung gab. Sie erregte ausserordentliches Aufsehen und
veranlasste eine Reihe von Arbeiten, deren Ergebniss die Verbesserung
der Volta'schen Säule, die Feststellung ihrer Wirkungen und der Be-
dingungen, unter denen sie zu Stande kommen, und die Entdeckung-
anderer wichtiger Thatsachen bildete. Man erkannte die wesentliche
1 A. Ladenburg: Vorträge über die Entwickelungsgeschichte der Chemie
in den letzten hundert Jahren, Braunschweig 1887, S. 117 u. ff. — H. Kopp:
Die Entwickelung der Chemie in der neueren Zeit, München 1873, S. 518 u. ff.
2 Kopp: Geschichte der Chemie, I, 270 u. ff.
380 Der mcdicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Identität des Galvanismus mit der Elektricität und stellte das Verhalten
der verschiedenen Metalle dagegen fest.
Von fundamentaler Bedeutung war Oersted's Beobachtung, dass
die Magnetnadel durch den Strom abgelenkt wird; denn man wurde
dadurch auf den Zusammenhang zwischen Elektricität und Magnetismus
hingewiesen. Akago und Gay-Lussac zeigten bald darauf, dass der
Strom nicht blos ablenkt, sondern auch magnetisirt. Schweigger con-
struirte den ersten Multiplicator, und Ampere entdeckte den gegen-
seitigen Einfluss der elektrischen Ströme, versuchte eine Erklärung des
Wesens des Magnetismus zu geben und entwickelte zuerst die Idee des
elektromagnetischen Telegraphen.
Gleichzeitig beobachtete man die Wechsel- Wirkungen zwischen Wärme
und Elektricität, und Seebeck fand in der sogenannten Thermo-Elektricität
eine neue Quelle der Elektricität. Ohm entdeckte die für die Leitungs-
fähigkeit der Metalldrähte und für das zwischen Strom-Intensität, elek-
tromotorischer Kraft und Widerstand bestehende Verhältniss geltenden
Gesetze und brachte sie in eine leichtfassliche mathematische Formel.
Faraday bemerkte zuerst die elektrischen Induktionsströme und stu-
dierte die Wechsel- Beziehungen zwischen Elektricität und Licht. Die
Verbesserungen in der Technik der Untersuchungsmethoden, die Er-
findung zweckentsprechender Apparate und Instrumente und die darauf
folgenden wissenschaftlichen Ergebnisse bildeten weitere Bereicherungen
der Kenntnisse auf diesem Gebiet.
Für die Physiologie erlangten hauptsächlich zwei physikalische
Entdeckungen eine mächtige Bedeutung, nämlich die Feststellung der
Thatsache, dass im thierischen Körper elektrische Ströme kreisen und
die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung und Umwandlung der
Kraft. Durch das letztere wurde bewiesen, dass Elektricität, Wärme
und mechanische Arbeit oder Bewegung ineinander übergeführt oder zur
Auslösung gebracht werden können und äquivalente Erscheinungsformen
der gleichen Kraft sind. Damit war das einheitliche Band aufgefunden,
welches die wichtigsten Funktionen des organischen Lebens umschlingt.
Die Verwendung der Elektricität zu technischen Zwecken, z. B. zur
Telegraphie, zur Beleuchtung, zum Treiben von Maschinen u. a. m.
gehört ebenfalls der neuesten Zeit an.1
Die enge Verbindung, welche die Physik mit der Mathematik
schloss, die sie als Pfadfinder sowohl wie zur Controlle gebrauchte, und
die gewissenhafte und gründliche Methode des Experiments sicherten
der Forschung auch in den übrigen Bichtungen dieser Wissenschaft
1 E. Hoppe: Geschichte der Elektricität, Leipzig 1884, S. 118 u. ff,
Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren. 381
bedeutende Resultate. Am deutlichsten musste dies in der Mechanik
hervortreten; Laplace, Young, Gauss u. A. unternahmen es, die den
verschiedenen Vorgängen, z. B. der Capillarität, zu Grunde liegenden
Gesetze festzustellen. Auch die Astronomie, die Meteorologie und Kli-
matologie verdankten diesen Bestrebungen manche Anregung und eine
bedeutende Vermehrung des wissenschaftlichen Materials.
Die Entwickelung der Wärmelehre stand ebenfalls unter diesem
Einfluss. Rumford machte die Beobachtung, dass durch Reibung
Wärme erzeugt wird, und schuf dadurch die erste Grundlage zur me-
chanischen Wärmetheorie.1 Die Mittheilungen über die ungleiche
Wärme-Capacität der Körper, die Untersuchungen über den Grad der
Ausdehnung, welche sie durch die Wärme erfahren, über die Spann-
kraft des Wasserdampfes und deren Verwerthung für die Wärme-Öko-
nomie der Dampfmaschine, die calorimetrischen Messungen, besonders
die Versuche in Betreff der Heizkraft der Combustibilien u. a, m. nahmen
die Physiker umsomehr in Anspruch, als sie den Bedürfnissen des prak-
tischen Lebens entsprachen. Das Gesetz der Äquivalenz von Wärme
und Arbeit warf auf viele dieser Fragen ein klärendes Licht und zeigte
den Weg zu ihrer Lösung.
Die Optik wurde durch den Sieg der Undulations- Theorie des
Lichts und durch zahlreiche Entdeckungen gefördert. Young benutzte
das Princip der Interferenz des Lichts zur Erklärung verschiedener
Erscheinungen, und Fresnel studierte die Lichtbeugung. Im J. 1809
entdeckte Malus die Polarisation des Lichts durch Reflexion, und nicht
lange nachher machte Brewster 2 auf die Existenz zweiaxiger Krystalle,
sowie auf die innigen Beziehungen zwischen optischer und krystallini-
scher Struktur aufmerksam. Er construirte später auch das erste diop-
trische Stereoskop.
Ebenso wurden die chemischen Wirkungen des Lichts einer ge-
nauen Untersuchung unterzogen; dieselbe führte zur Erfindung der
Photographie, welche sich an die Namen von Daguerre, Niepce und
Talbot knüpft.
Fraunhofer beobachtete, wie schon Wollaston vor ihm, die
dunkeln Streifen im Sonnen-Spektrum; aber eine Erklärung derselben
wurde erst von Kirchhofe gegeben. Die Entdeckung der Spektral-
Analyse gab Aufschlüsse über die physikalische Natur und die chemi-
sche Zusammensetzung der Weltkörper und eröffnete der Forschung
ein neues Arbeitsfeld.
1 G. Berthold: Rumford u. die mechanische Wärmetheorie, Heidelberg 1875.
2 D. Brewster in den Philos. Transactions, London 1818, p. 199 u. ff.
382 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Die Verbesserungen der optischen Hilfsmittel, namentlich die Er-
findung der achromatischen Fernrohre, sowie diejenige der achromati-
schen Mikroskope, die zuerst von Hermann van Deyl und Fraunhofer
in der Zeit von 1807 — 1811 angefertigt wurden, und die Vervollkomm-
nungen, welche dieselben später durch Plössl, Selligue, Chevalier,
Amici, Oberhäuser, Hartnack u. A. erfuhren, hatten für alle Gebiete
der Naturforschung eine grosse Bedeutung.
Die Akustik wurde durch Chladni, Ohm u. A. mit einigen werth-
vollen Arbeiten bereichert; doch ist die wissenschaftliche Begründung
dieses Theiles der Physik eigentlich erst der jüngsten Zeit gelungen
und hauptsächlich Helmholtz zu verdanken.
Die Physik und Chemie sind die eigentlichen Hilfswissenschaften
der Medicin geworden, welche in der Physiologie wie in der Pathologie,
in der internen Heilkunde wie in der Chirurgie zu Rath gezogen werden.
Die medicinischen Systeme und die Portschritte in
der Anatomie und Physiologie.
Die durch Haller zur allgemeinen Anerkennung gelangte Lehre,
dass Sensibilität und Irritabilität die Grundeigenschaften des animali-
schen Organismus bilden, die darauf folgenden Entdeckungen in der
Chemie und vor Allem der Galvanismus riefen eine Anzahl medicini-
scher Systeme hervor, in denen der Versuch gemacht wurde, mit Hilfe
dieser Thatsachen die Erscheinungen des menschlichen Körpers im ge-
sunden und im kranken Zustande zu erklären und bestimmte Gesichts-
punkte für die Heilung zu gewinnen.
Ein Theil der Ärzte sah gleich den Methodikern des Alter thums
in allen physiologischen und pathologischen Äusserungen Reizungen
oder Erschlaffungen, deren Ursachen bald in das Nervensystem verlegt
wurde, wie es Cullen that, bald in der grösseren oder geringeren
Erregbarkeit gesucht wurde, wie es durch John Brown und seine An-
hänger geschah.
Die Erregungstheorie wurde von Chr. Girtanner, welcher den
Sauerstoff für das wirksame Princip der Erregbarkeit erklärte, von
Röschlaub, der auf den Einfluss der Anlage, der Organisation hinwies,
von Broussais, der an die Stelle der Reizung die Entzündung setzte
und die Theorie durch die pathologische Anatomie stützen wollte, und
von Rasori, welcher die für die kalten torpiden Naturen des Nordens
Die medicin. Systeme u. die Fortschritte in der Anatomie u. Physiologie. 383
berechnete Lehre Browns den Verhältnissen seiner südländischen
Heimath anpasste, erweitert und ausgearbeitet. Sie erlangte eine grosse
Verbreitung, wurde aber ebenso rasch wieder aufgegeben, als ihre Halt-
losigkeit nachgewiesen worden war.
Der wissenschaftlichen Forschung stand sie kalt und gleichgültig
gegenüber, die praktische Heilkunst belastete sie mit einer vielgeschäf-
tigen Polypharmacie, die häufig mehr Schaden als Nutzen stiftete.
Einen tieferen Gehalt hatte der Vitalismus, welcher mit der Er-
regungstheorie um die Herrschaft in der Medicin rang und schliesslich
den Sieg davontrug. Derselbe nahm von Montpellier seinen Ausgang
und erinnerte in manchen Beziehungen an den Animismus Stahl's;
doch unterschied er sich von dem letzteren in vortheilhafter Weise da-
durch, dass er über dem die Ordnung und Harmonie im Organismus
schaffenden allgemeinen Lebensprincip keineswegs das Studium der
einzelnen Verrichtungen und Theile des Körpers vernachlässigte und
nicht, wie jener, die Seele zur Erklärung aller, auch der einfachsten
Lebensvorgänge benutzte, sondern nur dann darauf zurückging, wenn
er die letzten treibenden Ursachen im thierischen Organismus bezeichnen
wollte. Er verlangte nicht, auf dem Gemälde der Medicin die Haupt-
figur zu sein, sondern begnügte sich damit, als Grundton verwendet
zu werden. Seine Vertreter, zu denen in Frankreich Forscher wie
Bordeu, Barthez, Grimaud, Pinel, Bichat, Chaussier u. A., in Eng-
land Erasmus Darwin, in Deutschland Blumenbach, J. C. Reil u. A.
gehörten, standen an der Spitze der wissenschaftlichen Bestrebungen
und lieferten durch ihre Leistungen den Beweis, dass der Vitalismus
den Fortschritt nicht hemmte. Dadurch erklärt es sich zum grossen
Theile, dass er auch fortdauerte, als in Deutschland die Naturphilosophie
und in Frankreich die physiologische Schule die Medicin beherrschte.
Doch hatte er auch einzelne Verirrungen im Gefolge, namentlich
auf dem Felde der Therapie. Der Mesmerismus sowohl wie die Ho-
möopathie behaupteten, dass ihre Behandlungs-Methode unmittelbar auf
die Lebenskraft einwirke. Wenn sie damit Heilerfolge erzielten, so
beruhte dies in dem ersten Falle wohl hauptsächlich auf den Erschei-
nungen des Hypnotismus, der Metallotherapie u. a., welche erst in
neuester Zeit einer sorgfältigen Beobachtung unterzogen wurden, bei
der Homöopathie auf den Wirkungen der im Körper vorhandenen regu-
latorischen Vorrichtungen.
Der Vitalismus verlor den Boden, als es gelang, die complicirten
Lebensprozesse in die einzelnen Faktoren aufzulösen und nach den
allgemeinen Naturgesetzen zu erklären.
Die empirische Forschung, welche alle erleuchteten Geister seit
384 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Aeistoteles als die einzige Quelle der Erkenntniss gepriesen hatten
wurde allmälig die Losung des Tages, und man sah davon ab, medi-
cinische Systeme zu ersinnen, an denen die Thatsachen gewöhnlich nur
geringen, die Hypothesen und Spekulationen den grössten Antheil
hatten. Wenn in der Geschichte der Medicin des 19. Jahrhunderts
zuweilen eine besondere "Richtung der Forschung, z. B. die Physiologie,
die pathologische Anatomie und in jüngster Zeit die Hygiene, in den
Vordergrund trat und die Entwickelung der gesammten Wissenschaft
beeinflusste, so lag dies nicht an einer willkürlichen Systemsucht,
sondern ergab sich aus der Erfahrung, dass die Bearbeitung dieses
einzelnen Feldes die reichsten Früchte für das Ganze trug.
Es ist hier nicht meine Aufgabe, alle Entdeckungen und Fort-
schritte in den einzelnen Disciplinen der Heilkunde, welche in unserem
Jahrhundert stattgefunden haben, aufzuzählen. Ich darf mich darauf
beschränken, die grossen Errungenschaften der Medicin anzuführen, und
muss es mir versagen, jeden der Steine zu beschreiben, welche sich zu
dem Mosaikbilde der Gegenwart zusammensetzen.
Der anatomische Bau des menschlichen Körpers war im Allge-
meinen der Wissenschaft bereits erschlossen, als diese Periode begann;
es handelte sich nur noch darum, die Lücken in der Kenntniss ein-
zelner Gebiete, namentlich in Bezug auf das Gefäss- und Nervensystem
und die Sinnesorgane, zu ergänzen. Ferner galt es, über die feinere
Struktur der Organe, welche nach der Verbesserung der Mikroskope
und der Einführung neuer technischer Hilfsmittel mit grösserer Aus-
sicht auf Erfolg untersucht werden konnte, eine klare Einsicht zu ge-
winnen.
Ausserdem versuchte man, die Anatomie von einem anderen als
dem reinen descriptiven Gesichtspunkt zu betrachten. Die einzelnen
Theile und Organe des Körpers wurden nach den verschiedenen Ge-
genden geordnet, in ihrer gegenseitigen Lagerung studiert und die Be-
deutung dieser Verhältnisse für die Chirurgie erörtert.
Neben der Bearbeitung der topographischen und chirurgischen
Anatomie wurde ferner der Einfluss der Entwickelungsgeschichte auf
die Form und Gestaltung der Theile des Körpers untersucht und auf
diese Weise die eigentlich -morphologische Betrachtung der Anatomie
angebahnt. Während für die vergleichende Anatomie zwischen dem
Menschen und den Thieren bereits ein reiches Wissens-Material vorlag,
welches beständig vermehrt wurde, begann man jetzt auch, den Eigen-
tümlichkeiten und Verschiedenheiten der menschlichen Kassen die
Aufmerksamkeit zuzuwenden und dadurch den Grund zur wissenschaft-
lichen Behandlung der Anthropologie zu legen.
DU mediein. Systeme u. die Fortschritte in der Anatomie u. Physiologie. 385
Zu den hervorragendsten Anatomen, welche am ScMuss des vorigen
Jahrhunderts lebten, gehörte Th. Soemmering. Seine wissenschaftliche
Thätigkeit umfasste die verschiedenen Richtungen, in denen sich damals
die anatomische Forschung bewegte. Schon seine Inaugural-Dissertation
über die Basis des Gehirns war eine Arbeit von bleibendem Werth.
Er hat die Erwartungen, die er darnach erregte, in vollem Maass er-
füllt. Seine vortrefflichen Abbildungen des Auges und der übrigen
Sinnesorgane, seine lichtvolle Darstellung des anatomischen Baues des
menschlichen Körpers, seine Untersuchungen über die körperlichen
Verschiedenheiten des Negers und des Europäers und seine embryolo-
gischen Schriften haben die Wissenschaft in verschiedener Hinsicht ge-
fördert. Er machte auch bereits den Versuch, die Entstehung der
Missbildungen aus der Entwickelungsgeschichte zu erklären.
Die descriptive Anatomie erfuhr im Verlauf der letzten hundert
Jahre werthvolle Bereicherungen des Inhalts und durch ihre Verbindung
mit der Entwickelungsgeschichte und der vergleichenden Anatomie eine
grössere wissenschaftliche Vertiefung.
Die Osteologie war in ihrem makroskopischen Theile zu einem
gewiseen Abschluss gelangt. Soemmering versuchte die Formen eines
idealen weiblichen Skeletts festzustellen, wie es S. Albinus für das
männliche Skelett gethan hatte; er benutzte dazu die Leiche eines
wunderbar schönen Mädchens von 20 Jahren aus Mainz, welche der
anatomischen Anstalt übergeben worden war, und verglich damit die
vollendeten Verhältnisse der Antike, ähnlich wie Albinus die Gestalt
des Apoll von Belvedere seinör Zeichnung zu Grunde gelegt hatte.1
In der Myologie galt es, die Ursprünge und Ansätze der Muskeln, ihre
Lagerung und Betheiligung an dem Bau einzelner Organe und das Vor-
kommen etwaiger Varietäten zu beobachten. Die meisten Ergänzungen
bedurfte die Lehre von den Gewissen und Nerven. Die erstere wurde
von Mascagni, G. Breschet, J. und Ch. Bell, Tiedemann, Berres,
V. Fohmann u. A. in erfolgreicher Weise bearbeitet. Die letztere ver-
dankte ihre bedeutendsten Fortschritte Ant. Scarpa, welcher den
Nervus nasopalatinus zuerst beschrieb und neue Aufschlüsse über den
Verlauf der Gehirnnerven und über die Struktur der Nerven und der
Sinnesorgane gab, Charles Bell, der eine umfassende Darstellung
des Gehirns und Nervensystems lieferte, Emil Huschke und Benedict
Stilling-, deren bewunderungswürdige Arbeiten über die Faserung des
Gehirns und Rückenmarks den Ausgangspunkt der späteren Forschungen
über diesen Gegenstand bildeten.
1 Rud. Wagner: Soemmerings Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen,
Leipzig 1844, II, 59.
Puschmann, Unterricht. 25
386 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Die Untersuchungen über den feineren Bau der einzelnen Theile
des Körpers führten zur Begründung eines neuen Wissenszweiges, der
Gewebelehre, durch Bichat. Schon in seiner Dissertation über die
Membranen, welche vielleicht an die dasselbe Thema behandelnde
Schrift von A. Bonn anknüpfte, hauptsächlich aber in seiner allgemeinen
Anatomie erörterte er, dass der Körper aus verschiedenen Arten von
Geweben zusammengesetzt ist, und schilderte deren Eigentümlichkeiten
und Vertheilung.
Diese Beobachtungen waren nicht blos für die Anatomie, sondern
auch für die Pathologie von grosser Bedeutung; denn sie beleuchteten
die Entstehung und Verbreitung der Krankheiten von einer Seite, an
die man bis dahin noch gar nicht gedacht hatte.
Die Verbesserungen der optischen Hilfsmittel, und besonders die
Herstellung achromatischer Mikroskope, ermöglichten die gründliche
Erforschung der Textur der Gewebe. Die Ergebnisse dieser Unter-
suchungen, denen Schwanns Entdeckung der thierischen Zelle eine
histogenetische Richtung gab, betrafen alle Organe des Körpers und
boten die Grundlagen zu einem vollständigen Lehrgebäude der mikro-
skopischen Anatomie, an dessen Aufrichtung und weiterem Ausbau sich
nach Joh. Müllee, Eheenbeeg, Puekinje, Henle, B. Wagnee, Valentin
und Max Schultze nahezu alle hervorragenden Anatomen dieses Jahr-
hunderts betheiligt haben.
Die Lehre von der Entstehung und Entwicklung des menschlichen
Embryo erhielt in den Thatsachen der allgemeinen Entwicklungs-
geschichte und vergleichenden Anatomie und Zoogenese ein werthvolles
wissenschaftliches Material. Auf die Arbeiten Pandees und Baees.
welche Köllikee „als das Beste bezeichnet, was die embryologische
Literatur aller Zeiten und Völker aufzuweisen hat",1 folgte die Ent-
deckung des Keimbläschens durch Puekinje und des Keimfiecks durch
Bud. Wagnee.
Zahlreiche Beobachtungen hervorragender Forscher, unter denen
hier nur Heine. Rathke, Beicheet, Th. Bischoff und Rob. Kemak
genannt werden sollen, beschäftigten sich dann mit den Vorgängen der
Zeugung und allmäligen Bildung der menschlichen Frucht und brachten
eine befriedigende Lösung der meisten dieser ungemein schwierigen
Fragen.
Eine tieissige und erfolgreiche Bearbeitung erfuhr die vergleichende
Anatomie. J. F. Blumenbach, welcher sich zuerst der Aufgabe unter-
zog, die anatomischen Verschiedenheiten zwischen den einzelnen mensch-
1 A. Kölliker: Grundriss der Entwicklungsgeschichte, Leipzig 1884, p. 3.
Die medicin. Systeme u. die Fortschritte in der Anatomie u. Physiologie. 387
liehen Rassen, besonders den Europäern, Negern und Indianern und
den anthropoiden Affen festzustellen, und dabei auch die Ergebnisse
berücksichtigte, zu denen die Betrachtung der Bildwerke des Alter thums
und die Sektionen mehrerer ägyptischen Mumien führte, sammelte alle
Thatsachen der vergleichenden Anatomie, welche von früheren Forschern
in der Literatur niedergelegt worden waren, und vermehrte sie durch
eine Menge eigener Erfahrungen. So fand er z. B. bei der Zergliederung
eines Seehund-iUiges, dass sich die Axe desselben leicht verlängern
oder verkürzen lässt, damit das Thier in Medien von so verschiedener
Dichtigkeit, wie die Luft und das Wasser, deutlich sehen kann.1
Seine berühmte Sammlung von Schädeln verschiedener Nationen gab
die Anregung zum Studium dieses wichtigen Theiles der Ethnologie.
Die vergleichende Anatomie errang dann eine Reihe bedeutender
Erfolge und bildete bis in die neueste Zeit eine unerschöpfliche Quelle
der Forschung. Die rasch auf einander folgenden Entdeckungen be-
fruchteten die Zoologie, die Anatomie und Entwicklungsgeschichte
und tragen hauptsächlich zur Begründung der tiefen morphologischen
Auffassung des organischen Lebens bei, welche gegenwärtig diese Dis-
ciplinen beherrscht.
Auch die Verwerthung der Anatomie für die bildende Kunst und
die Bearbeitung derselben für die Zwecke der Chirurgie, wie sie von
Malacaene, Feoeiep, Velpeau, Rosenmüllee, T. Boyee u. A. unter-
nommen wurde, erzielte beachtenswerthe Ergebnisse.
Weit mehr in die Augen fallend waren die Fortschritte, welche
die Physiologie in unserm Jahrhundert gemacht hat. Aus einem noch
grösstenteils auf Spekulationen und Hypothesen aufgebauten, von
mystischen, teleologischen und vitalistischen Ideen beherrschten Lehr-
system ist sie eine wirkliche Naturwissenschaft geworden, deren That-
sachen sich auf mathematische und physikalische Gesetze, chemische
Vorgänge und anatomische Beobachtungen stützen und durch das Ex-
periment bewiesen worden sind.
An die Stelle der vieldeutigen Lebenskraft, deren Name einst die
grosse Lücke in der Kenntniss des organischen Lebens verdecken
musste, sind die einzelnen physiologischen Funktionen des mensch-
lichen Körpers getreten, deren Bedeutung für den Lebensprozess durch
die Beobachtung und den Versuch festgestellt und controllirt wurden.
Erreicht wurde dies mit Hilfe der verbesserten Technik der Unter-
suchungsmethoden, welche durch die Erfindung und Anwendung zweck-
1 K. F. H, Marx in den Sitzungsber. d. Gröttinger Soc. d. Wissensch. vom
8. Februar 1840, S. 22.
25*
388 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
entsprechender Apparate ermöglicht und durch die grössere Exaktheit
in der Stellung und Lösung der Fragen und die Berücksichtigung der
scheinbar nebensächlichen Dinge begünstigt wurde.
Das Experiment kam zur vollen Geltung, und Magendie, Flourens,
Cl. Bernard und die grosse Zahl der deutschen Forscher würdigten
vollständig die Bedeutung dieses wichtigen Hilfsmittels der Unter-
suchung.
Die Chemie bot Aufschluss über die chemische Zusammensetzung
des Körpers und seiner einzelnen Bestandteile. Die Untersuchung der
verschiedenen Gewebe und Flüssigkeiten des Körpers, namentlich des
Blutes und Harns, führte zu einer neuen Auffassung des menschlichen
Organismus und seiner Lebensäusserungen. Dabei gewann man einen
Einblick in den Chemismus der Ernährung und lernte die Rolle ver-
stehen, welche die Eiweisskörper, die Kohlehydrate und Fette in der
Ökonomie des menschlichen Körpers spielen.
Die Beziehungen zwischen den Einnahmen und Abgaben des Kör-
pers, der Stoffwechsel, die Blutbereitung, die Bildung der Sekrete und
Exkrete, die Entstehung der Körperwärme u. a, m. erhielten durch die
Arbeiten eines Liebig, Wöhler, Dumas, Gmelin und ihrer Schüler
und Nachfolger eine eigenthümliche Beleuchtung. Die Lehre von der
Verdauung wurde namentlich von Magendie, Gmelin, J. N. Eberle,
Helm, Beaumont, Blondlot, deren Versuche mit Magensaft zu wich-
tigen Ergebnissen führten, Cl. Bernard, welcher die Wirkung des
pankreatischen Saftes auf die Fette untersuchte und die Zuckerbildung
in der Leber entdeckte, und vielen anderen ausgezeichneten Forschern
bearbeitet.
Dutrochet verwendete die vom Abbe Nollet entdeckte Endos-
mose zur Erklärung der Vorgänge der Resorption und Absonderung
und studierte die Diffusionsverhältnisse der verschiedenen thierischen
Gewebe.
Andral und Gavarret, Becquerel, Scherer, Nasse, Lehmann
u. A. beschäftigten sich mit der Physiologie des Blutes. Die Zusammen-
setzung und die Farbstoffe desselben, die Blutkörperchen, die Gerinnung
u. a. m. wurde untersucht und die physikalischen Verhältnisse der Blut-
bewegung in den Gefässen, der Blutdruck, die Mechanik der Herzpumpe
und die ganze Einrichtung des Herzens und die Erscheinungen des
Pulses mit Hilfe zweckmässig construirter Apparate der wissenschaft-
lichen Kenntniss erschlossen.
Neben den Arbeiten von E. H. Weber, Volkmann, Flourens u. A.,
welche sich auf diesem Gebiet hervorragende Verdienste erwarben, muss
hier auch der wichtigen Untersuchungen über den Einfluss des Nerven-
Die medioin. Systeme u. die Fortschritte in der Anatomie u. Physiologie. 389
Systems auf die Herzthätigkeit und das Gefässsystem gedacht werden.
Eduard Weber wies auf die Rolle hin, welche der Vagus bei der
Regulirung der Herzbewegung spielt; später erkannte man, dass es sich
dabei eigentlich um Fasern des Accessorius handelt. Cl. Bernard
entdeckte die vasomotorischen Eigenschaften des Hals-Sympathicus und
gab dadurch vielleicht Veranlassung zu Untersuchungen, welche zur
Auffindung des vasomotorischen Centrums in der Medulla oblongata
führten.
Das Centrum der Respirationsbewegungen, der Point vital, wurde
1837 von Flourens entdeckt, nachdem schon Legallois auf die Be-
deutung des verlängerten Marks für die Athmung aufmerksam gemacht
hatte. Andere Forscher erläuterten den Mechanismus der Respiration
und die Funktionen der dabei betheiligten Muskeln, sowie den Gas-
austausch in den Lungen und die Beziehungen desselben zur Färbung
des Blutes, und suchten die Kraft, welche die Lunge bei der Inspiration
und Exspiration entfaltet, und die Menge von Luft, die dabei verwendet
wird, zu messen. Die Begründung der Spirometrie und der Manometrie
der Lunge, welche manche Anhaltspunkte für die Diagnostik der Er-
krankungen dieses Organs bietet, geschah vorzugsweise durch John
Hutchinson und Waldenburg.
Die Bewegungserscheinungen regten ebenfalls zu eingehenden Stu-
dien an. Die Flimmerbewegung, welche man früher auf niedere Thiere
beschränkt glaubte, wurde von Purkinje auch im menschlichen Körper
beobachtet, während die Vorgänge der Molekularbewegung erst in
neuester Zeit in den Kreis der Betrachtung gezogen wurden.
Die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge erhielt durch die
Brüder Eduard und Wilhelm Weber eine nahezu erschöpfende Dar-
stellung.
Die Entdeckung des Muskelstromes lenkte die Aufmerksamkeit auf
die chemischen und physikalischen Vorgänge, welche im Innern des
Muskels stattfinden. Desgleichen stellte auch die Nerven -Elektricität
eine Menge von Aufgaben, deren Lösung die Denker und Forscher bis
heut in Anspruch nimmt.1 Welche Bedeutung das von Jul. Rob.
Mayer entdeckte Gesetz der Erhaltung und Umwandelung der Kraft
für die Beurtheilung der Leistungen des Organismus hatte, habe ich
schon früher angedeutet.
Im J. 1811 machte Charles Bell die schon von Galen geahnte
anatomische Verschiedenheit der motorischen und sensibeln Nerven zu
1 E. du Bois-Reymond: Untersuchungen über thierische Elektricität Berlin
1848, Bd. I, S. 29 u. ff.
390 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
einer wissenschaftlichen Thatsache, indem er den Nachweis lieferte,.
dass die ersteren aus den vorderen, die letzteren aus den hinteren
Rückenmarks -Wurzeln entspringen. Er kam auf diese für die Nerven-
Plrysiologie ausserordentlich wichtige Entdeckung durch die Vergleichung
mit dem anatomischen und physiologischen Verhalten der Gehirnnervenr
besonders der einzelnen Äste des Trigeminus, deren Analogie mit den
Rückenmarks-Nerven schon von Soemmeeino und Peochaska bemerkt
wurde. Maoendie, namentlich aber Johannes Müller bestätigten
Bell's Gesetz durch überzeugende Versuche.
Daran schloss sich die bereits von Caetesius aufgestellte und von
Peochaska ausgesprochene Lehre von den Reflexbewegungen , welche
Marshall Hall 1833 durch Beobachtungen wissenschaftlich begründete
und Joh. Müllee in einzelnen Punkten berichtigte und in klarer, ver-
ständlicher Weise darstellte.
Die Funktionen der einzelnen Nerven und die Bedeutung der ver-
schiedenen nervösen Gebilde, z. B. der Ganglien, wurden durch Ver-
suche festgestellt. Auch wagte man sich an die Lösung der schwierigen
Probleme, welche die Physiologie des Central -Nervensystems bietet.
F. J. Gall glaubte, bei der Untersuchung und Vergleichung der
Schädel von Personen, welche bestimmte Eigenschaften des Geistes und
Charakters besitzen, die Beobachtung gemacht zu haben, dass gewisse
Stellen stärker hervorragen. Indem er an die alte Theorie der Lokali-
sation der Seelenvermögen anknüpfte, folgerte er, dass die geistigen
Centren im Gehirn lokal begrenzt seien und sich durch grössere Wöl-
bungen des Schädels an einzelnen Stellen seiner Oberfläche erkennen
lassen.
Obwohl er bemüht war, diese Hypothese durch anatomische Unter-
suchungen zu stützen, so behauptete doch die Spekulation dabei einen
überwiegenden Einfluss. Seine Aufstellung und Vertheilung der Seelen-
vermögen war willkürlich, und seine Annahme, dass sich dieselben
durch Merkmale an der Oberfläche des Schädels äussern, gänzlich un-
berechtigt. Trotzdem muss ihm das Verdienst zugestanden werden, die
anatomische LTntersuchung des Gehirns gefördert und zur wissenschaft-
lichen Bearbeitung der Kranioskopie angeregt zu haben, welche dann
von C. G. Caeüs, Huschke u. A. mit vielem Erfolg unternommen wurde.
Erst den verbesserten Untersuchungs- Methoden der neuesten Zeit
ist es gelungen, einiges Licht in das dunkele Gebiet der Physiologie
des Gehirns zu bringen. Mit Hilfe derselben konnte der Verlauf der
Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark genau verfolgt, ihre Bethei-
ligung an den einzelnen Theilen derselben festgestellt und der feinere
Bau der grauen Substanz und die verschiedenartige Form ihrer Zellen
Diagnostik, paiJiolog. Anatomie u. experimentelle Pathologie, Nosologie etc. 391
erkannt werden, während man gleichzeitig durch Versuche an lebenden
Thieren, welche die lokal begrenzte Nekrotisirung und die dadurch er-
zeugte Aufhebung der Lebensäusserungen gewisser Partien des Central-
Nervensystems zum Zweck hatten, deren Funktionen zu erforschen
suchte und mit den Ergebnissen die Beobachtungen am Krankenbett
und die pathologischen Befunde der Sektionen verglich.
Auch die Physiologie der Sinnesorgane wurde fleissig bearbeitet.
Die Entstehung des Sehakts, die Wahrnehmung der Farben, die Be-
deutung der Licht empfindenden Theile des Auges, die Wirkung der
optischen Medien, die Accomodations- Vorrichtungen, die entommatischen
Beobachtungen, das binoculäre Sehen, die Horopterfrage u. a. m. wurden
eingehend untersucht und durch zahlreiche Thatsachen verständlich
gemacht. In der gleichen Weise wurde auch das Gehör, der Geruch,
Geschmack, Tastsinn und das Gemeingefühl in ihren Einzelnheiten
studiert und der wissenschaftlichen Erkenntniss erschlossen.
Die physiologische Forschung hat aber nicht blos die Aufgabe, die
Funktionen und Gesetze des gesunden menschlichen Organismus auf-
zufinden und zu erklären, nahezu vollständig gelöst; sie hat auch eine
Menge von Beobachtungen zu Tage gefördert, welche die Deutung der
Erscheinungen des kranken Körpers vorbereitet und ermöglicht haben.
Diagnostik, pathologische Anatomie und experimentelle
Pathologie, Nosologie und Heilmittellehre.
Die Lehre von der Krankheit, die Pathologie, machte ähnliche
Entwickelungsstadien durch, wie die Physiologie. Nachdem man die
Aussichtslosigkeit der Versuche, das Wesen der Krankheit durch kühne,
aber wenig begründete Hypothesen und philosophische Spekulationen
zu erfassen, erkannt hatte, schlug man auch hier die analytische Me-
thode ein und begann mit der Feststellung und Erforschung der ein-
zelnen Thatsachen, welche das Krankheitsbild zusammensetzen.
Die Vervollkommnung der diagnostischen Hilfsmittel gestattete
ein tieferes und gründlicheres Studium der Krankheitserscheinungen,
und der mächtige Aufschwung der pathologischen Anatomie versprach
Aufschluss über die ihnen zu Grunde liegenden Veränderungen des
Körpers zu geben. Durch die Vergleichung der Beobachtungen am
Kranken mit den Sektionsresultaten gewann man allmälig mehr Klar-
heit über die Entwickeluno- und das Wesen der meisten Krankheiten.
392 Der medicinisohe Unterricht in der neuesten Zeit.
Die technischen Fortschritte in der Diagnostik waren hauptsächlich
der Physik und Chemie zu verdanken. Die Percussion wurde im vo-
rigen Jahrhundert nur von Wenigen, wie z. B. M. Stoll, geübt; sie
gerieth nahezu gänzlich in Vergessenheit und erhielt erst durch Cor-
visart den ihr gebührenden Platz unter den am Krankenbett gebräuch-
lichen diagnostischen Hilfsmitteln. Auf Auenbeugger's verschollene
Schrift aufmerksam gemacht, prüfte er durch 20 Jahre die dort nieder-
gelegten Beobachtungen, berichtigte und ergänzte sie durch seine
eigenen Erfahrungen und veröffentlichte dann sein berühmtes Werk
über die Percussion, in welchem er dem Verdienst des Entdeckers der-
selben volle Gerechtigkeit widerfahren liess.
Die Percussion wurde dann von Piorry, welcher den Plessimeter
einführte, Wintrich, der die Anwendung eines Hammers empfahl,
namentlich aber von Skoda, welcher den verschiedenen Schallerschei-
nungen eine richtige Deutung gab und nach allen Richtungen refor-
mirend und bahnbrechend wirkte, Traube u. A. vielfach verbessert.
Gleichzeitig erfuhr auch die Auscultation eine Umwandelung und
wissenschaftliche Bearbeitung. Während sie früher nur gelegentlich
und durch direktes Anlegen des Ohrs an den Körper ausgeübt worden
war, entwickelte sie sich seit Laennec, der den Gebrauch des Ste-
thoskops und damit die Auscultation mediale einführte, zur systemati-
schen Untersuchung*- Methode, welche bei der Diagnostik der Krank-
heiten sehr häutig zu Bath gezogen wurde.
Für die Erforschung der Erkrankungen der Lungen und des
Herzens wurde sie geradezu unentbehrlich, da sie in diesen Fällen die
wichtigsten, manchmal sogar die einzigen diagnostischen Stützen darbot.
Aber auch andere Gebiete der Heilkunde verdankten ihr werthvolle
Bereicherungen; so entdeckten Lejumeau de Kergaradec und bald
nachher Mayor durch die Auscultation des schwangeren Unterleibes
die fötalen Herztöne und boten damit ein Mittel, um das Leben der
Frucht zu erkennen.
Ausser den physikalischen Untersuchungs-Methoden, zu denen noch
die Mensuration und die in neuester Zeit namentlich von Wunderlich
bearbeitete Thermometrie kam, trugen auch die Chemie und die Mi-
kroskopie zur Förderung der Diagnostik sehr viel bei. Das Vorhanden-
sein mancher Krankheiten, ihre Schwere, Zunahme oder Abnahme
konnte nur durch den chemischen Nachweis sicher gestellt werden,
dass bestimmte Stoffe in einigen Ausscheidungen, z. B. Eiweiss oder
Zucker im Harn, in eiuer gewissen Menge enthalten sind, sich ver-
mehren oder vermindern. Die chemische Analyse der pathologischen
Produkte erlangte für das Studium der Krankheiten, besonders aber
Diagnostik, patholog. Anatomie it. experimentelle Pathologie, Nosologie etc. 393
für die Lehre von den Intoxicationen, eine grosse Bedeutung. Nicht
weniger Beachtung nahm in manchen Fällen die mikroskopische Unter-
suchung in Anspruch, weil dadurch auf die Anwesenheit von histolo-
gischen Form-Elementen, welche zu gewissen, die Art des Leidens be-
treffenden Schlüssen berechtigten, hingewiesen wurde.
Die sorgfältige Beobachtung aller Krankheits- Symptome und die
gewissenhafte Berücksichtigung der dabei in Frage kommenden Ver-
hältnisse war die selbstverständliche Voraussetzung jeder Diagnose.
Auch die Sektions-Ergebnisse und deren Beziehungen zu den Krank-
heitserscheinungen wurden zu diesem Zweck eifrig studiert.
Die pathologische Anatomie erhielt eine ungeahnte Bedeutung für
die Lehre von der Krankheit; sie übernahm gleichsam die Controlle
der Diagnose. Sie entwickelte sich unter dem Einfluss der Arbeiten
Bichat's zunächst in Frankreich; zahlreiche Arbeiten beschäftigten sich
mit den allgemeinen Krankheitszuständen und mit der speciellen Pa-
thologie der Krankheiten, für welche eine beachtenswerthe Summe von
Thatsachen ermittelt wurde. Auch in England, wo J. Hunter's An-
regung fortwirkte, und in Deutschland widmeten hervorragende Anatomen
und Kliniker, wie P. Frank, A. R. Vetter, J. F. Meckel, Lobstein,
Joh. Müller u. A. ihre Aufmerksamkeit der pathologischen Anatomie.
Ihre Glanzperiode begann aber erst mit Rokitansky, welcher das reiche
Leichenmaterial des Wiener allgemeinen Krankenhauses für sie ver-
werthete. Im Besitz einer Erfahrung, wie sie Keinem seiner Zeitgenossen
zu Gebot stand, vermochte er eine Reihe natürlicher, leicht auffindbarer
Typen der anatomischen Veränderungen aufzustellen, welche fast alle
wichtigen Krankheiten umfassen.
Während Rokitansky das Verständniss der pathologischen Ana-
tomie förderte, vermehrte er zugleich deren Inhalt durch eine Menge
von Entdeckungen und vertiefte sie durch die Untersuchung der patho-
genetischen Beziehungen. Er fragte nicht blos nach dem Was, sondern
auch nach dem Wie und Warum der pathologischen Prozesse und ver-
suchte, Einsicht zu gewinnen in ihre Ursachen und Entwicklung; er
war, wie Wunderlich sagt, bestrebt, die pathologische Anatomie zu
einer anatomischen Pathologie zu machen.
Die Cellular-Pathologie, welche Virchow auf der Zellentheorie auf-
baute, drängte dann mehr und mehr zur Untersuchung der feineren
pathologischen Veränderungen, der mikroskopischen Formelemente, und
führte zur Begründung der pathologischen Histologie. Allerdings wurden
später durch die Auffindung mancher neuen Thatsachen einzelne morsch
gewordene Stützen der Cellular-Pathologie beseitigt; aber die Grundlagen
blieben erhalten und tragen das Lehrgebäude der Pathologie noch heut.
394 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Es gewann ausserordentlich an Festigkeit und Sicherheit, als das Ex-
periment in die pathologische Forschung eingeführt wurde. Cl. Bernard
erzeugte durch die Verletzung einer bestimmten Stelle der Medulla
oblongata die Zuckerkrankheit. Durch die Darreichung von Phosphor
erkannte man die merkwürdige Wirkung desselben auf das Knochen-
gewebe und seinen Zusammenhang mit der Phosphor-Nekrose.
Die methodische Anwendung des Experiments war ein grosser
Fortschritt für die Pathologie; sie brachte viele wichtige Fragen
derselben zur Entscheidung und schuf die Physiologie des kranken
Menschen, welche im Verein mit der pathologischen Anatomie die
Biologie der Krankheit begründete und den Beweis lieferte, dass in der
Pathologie dieselben Naturgesetze herrschen wie in der Plrysiologie des
gesunden Organismus.
Die Pathologie hat sich auf Grund dieser Thatsachen zu einer
wirklichen Naturwissenschaft entwickelt. Die allgemeinen Krankheits-
prozesse sowohl wie die Vorgänge, welche bei den besonderen Er-
krankungen der einzelnen Organe stattfinden, wurden sorgfältig unter-
sucht und dem wissenschaftlichen Verständniss nahe gerückt.
Corvisart studierte die pathologischen Veränderungen des Herzens
und der grossen Gefässe: ein Thema, welches dann auch von Hodgson,
Latham, Hope, Stokes, Bouillaud, Skoda, Traube u. A. bearbeitet
wurde. Später wurden auch die Veränderungen des Blutes in den Kreis
der Betrachtungen gezogen und die Chlorosis und Leukaemie als selbst-
ständige Krankheiten erkannt.
G. L. Bayle veröffentlichte Aufsehen erregende Untersuchungen
über die Lungenschwindsucht und ihre Beziehungen zum Auftreten
von Tuberkeln, auf deren Gleichartigkeit in verschiedenen Organen er
hinwies. Andral, Schönlein, Trousseau, welcher eine Schrift über
die Larynx-Phthisis herausgab u. A. beschäftigten sich ebenfalls mit
diesem Gegenstande, welcher indessen erst in neuester Zeit durch die
Entdeckung, dass die Tuberkulose eine Infektionskrankheit ist, einen
gewissen Abschluss erhalten hat.
Bretonneau begründete mit seinem Werk über die Entzündungen
der Schleimhäute die Lehre von der Diphtheritis, deren Verhältniss zum
Katarrh und zum Croup von späteren Forschern erläutert wurde. Die
Erfindung des Kehlkopfspiegels und seine Verwerthung für die ärztliche
Praxis brachte eine vollständige Umwälzung in der laryngologischen
Untersuchung hervor und ermöglichte eine grössere Genauigkeit in der
Beobachtung und Behandlung der Krankheiten des Kehlkopfes. Um
dieselbe Zeit führte die schon früher versuchte Endoskopie auch auf
andern Gebieten zu bemerkenswerthen Ergebnissen.
Diagnostik, patholog. Anatomie, u. experimentelle Pathologie, Nosologie etc. 395
Cruveilhier und Rokitansky gaben Aufschluss über die Ent-
stehung und das Wesen des Ulcus rotundum des Magens; Petit und
Serres, P. A. Louis u. A. begründeten die Diagnostik des Abdominal-
Typhus, und J. Rud. Bischoe beobachtete die typhösen Darmgeschwüre.
Die Pathologie der Leber wurde vorzugsweise von Gr. Budd, Annesley,
Frerichs und Anderen und diejenige der Nieren von P. Rayer, Bright
und Traube gefördert, der auf den Zusammenhang zwischen den Er-
krankungen der Nieren und des Herzens aufmerksam machte. Addison
beschrieb zuerst die Degeneration der Nebennieren, und Basedow schil-
derte den nach ihm genannten Symptomen-Complex.
Die Dermatologie fand durch Alibert, Biett, Willan, Bateman,
C. H. Fuchs, Erasmus Wilson und Ferd. Hebra, die Lehre von den
venerischen Krankheiten durch Baerensprung, K. W. Boeck, Ricord u. A.
eine wissenschaftliche Bearbeitung, während die Pathologie der Nerven-
leiden durch Yalleix, Duchenne, Abercrombie, Romberg, Remak u. A.
wissenschaftlich begründet wurde.
Auch die Psychiatrie, welche sich schon sehr früh zu einer selbst-
ständigen Disciplin entwickelte, wurde allmälig von dem Wust mystischer
Träumereien, die in den Geisteskrankheiten Folgen der Sünde oder
Strafen Gottes, jedenfalls aber lediglich psychische Defekte sahen, be-
freit und gleich der übrigen Pathologie auf eine somatische Grundlage
gestellt. Diese schon von Pinel, Esquirol und Chiarugi vertretene
Richtung wurde dann namentlich von Spurzheim, dem Anhänger Galls,
Reil, Foville, Calmeil, der mit seiner Arbeit über die allgemeine Para-
lyse die Beobachtungen dieses Leidens eröffnete, durch die beiden Falret,
Morel, welcher der Ätiologie der Seelenstörungen seine Aufmerksam-
keit schenkte, Schroeder van der Kolk, Guislain, Jacobi, Chr. F.
Nasse und Griesinger weiter verfolgt und drang zunächst auf Fest-
stellung und strenge Prüfung der Sektionsergebnisse. Gleichwohl brachte
sie es nicht dahin, dass die auf der Symptomatologie beruhenden
Diagnosen durch anatomische ersetzt wurden ; diesen Versuch darf man
erst jetzt wagen, nachdem die Anatomie und Physiologie des Central-
Xervensystems in ein helleres Licht getreten ist.
Auffallender als die Fortschritte in der Pathologie der Geistes-
störungen waren die Verbesserungen in der Behandlung derselben.
Welche wohlthätige Veränderung ist auf diesem Gebiet erfolgt seit der
Zeit, da man in Wien auf Befehl des menschenfreundlichen Kaisers
Josef IL den „Narrenthurm" erbaute und die Kranken dort ebenso wie
im St. Lukas-Hospital zu London dem nach einer Unterhaltung lüsternen
Publikum zeigte oder sie mit Verbrechern zusammen in Gefängnissen
einsperrte und mit der Peitsche oder durch Fasten für ihre „Tollheiten"
396 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
bestrafte! Es war eine der grössten Errungenschaften der Humanität,
als es Pinel bei den Machthabern der französischen Revolution durch-
setzte, dass die unglücklichsten aller Menschen von den Ketten befreit
wurden, welche das religiöse Vorurtheil geschmiedet und der ärztliche
Unverstand befestigt hatte.
Den Irren wurde eine liebevolle Pflege und zweckmässige ärztliche
Behandlung zu Theil; man errichtete besondere Anstalten, in denen sie
Schutz und Aufsicht fanden. John Conolly verkündete das No-restraint-
System, nach welchem die mechanischen Zwangsmittel aus der Be-
handlung der Geisteskranken möglichst verbannt wurden, und die
Gründung von Irren-Kolonien, wo die Kranken ähnlich wie in Gheel
neben einer sorgsamen Aufsicht und Pflege ein gewisses Maass von
Freiheit geniessen und zu einer ihnen zusagenden Beschäftigung an-
gehalten werden, bildete einen weiteren Fortschritt auf diesem Wege.
Auf keinem Gebiet der Pathologie waren die Veränderungen jedoch
grösser als in der Lehre von den Infektionskrankheiten. Man lernte
mehrere neue Krankheitsformen kennen, welche früher nicht beachtet
worden waren, und die dem nosologischen Schema eingereihten Leiden
richtiger und genauer, namentlich in Bezug auf die Ätiologie, unter-
scheiden. Die Natur des Krankheitsgiftes, die Entstehung desselben
innerhalb oder ausserhalb des menschlichen Körpers, seine Entwicklung
in verschiedenen Medien, sein Verhältniss zum Klima, Boden u. a. m.,
seine Dauer und Verschleppbarkeit wurde sorgfältig untersucht.
Die asiatische Cholera überschritt im 19. Jahrhundert die Grenzen
ihrer Heimath und verbreitete sich über den ganzen Erdball. Die
schweren Verluste an Menschenleben, welche sie herbeiführte, forderten
die Ärzte auf, die Ursachen und das Wesen dieser Krankheit zu er-
forschen. Dabei beobachtete man die merkwürdigen Beziehungen, welche
zwischen ihrer Entstehung und Ausbreitung und den Bodenverhältnissen
bestehen. Mit der Entdeckung des Komma-Bacillus, welche vor Kurzem
gemacht wurde, scheint man denn endlich den eigentlichen Krankheits-
erreger gefunden zu haben.
Das Gelbfieber, welches mehrere Male nach Europa verschleppt
wurde, wurde ebenso wie andere exotische Leiden, z. B. Beriberi, ein-
gehend studiert. Das epidemische Auftreten der Cerebrospinal-Meningitis
lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese früher unbekannte
Krankheit. Gleichzeitig machten sich auch geläuterte Anschauungen
über viele andere Krankheiten geltend.
Der Begriff des Typhus, welcher früher eine hauptsächlich sympto-
matologische Bedeutung besass und zu einer den vorwiegenden Krank-
heitserscheinungen entsprechenden Eintheilung in die Formen des
Diagnostik, patholog. Anatomie u. experimentelle Pathologie, Nosologie etc. 397
Unterleibs-Typhus, Gehirn-Typhus, Pneumo-Typhus und Fleck-Typhus
geführt hatte, wurde vollständig umgeändert, als die ätiologischen
Momente in den Vordergrund traten. Man erkannte, dass sich drei
Krankheiten, welche bisher unter dem Namen Typhus zusammengefasst
worden waren, nämlich der exanthematische Typhus, der Abdominal-
Typhus und Recurrens- oder Rückfalls-Typhus, in ihrer Entstehung und
Verbreitung sowohl als auch streng ontologisch abgrenzen, so dass
niemals die eine aus der andern entsteht.
Ebenso kam mehr Klarheit in die Lehre von den fieberhaften
exan thematischen Krankheiten. Die Beziehungen der Masern, Röthein,
Blattern, des Scharlachs u. s. w. zu einander und zu andern Leiden
wurden genau studiert. Die Entdeckung, dass die Kuhpocken vor der
Erkrankung an Variola, wenigstens für längere Zeit, schützen, führte
zu einer der segensreichsten Erfindungen, mit denen die Menschheit
jemals beglückt worden ist. Sie bildet das unvergängliche Verdienst
E. Jenners; ihren Nutzen kann nur Der leugnen, welcher die Ge-
schichte der Pocken nicht kennt.
In ein neues Stadium trat die Pathologie der Infektionskrankheiten,
als man den parasitären Charakter einer Anzahl derselben erkannte.
Die Beobachtungen an einigen Pflanzenkrankheiten, sowie an der
Muscardine, einer durch Pilze verursachten Erkrankung der Seiden-
raupen, die Untersuchungen über die Krätzmilbe, über die dem Favus,
der Pityriasis versicolor, dem Herpes tonsurans und andern Hautleiden
zu Grunde liegenden Pilze, über die verschiedenen Enterozoen des
menschlichen Körpers und die Entdeckung der Trichina spiralis und
der durch sie erzeugten Krankheitszustände gaben die Anregung, dass
den Parasiten und niederen Organismen überhaupt mehr Beachtung
geschenkt und ihre pathogene Bedeutung erforscht wurde. Auch die
Erfahrungen an der Pellagra und ähnlichen durch den Genuss ver-
dorbener Nahrung entstandenen Leiden, sowie die Beobachtungen der
Krankheiten, welche von Thieren auf Menschen übertragen werden,
wirkten in dieser Richtung.
Als man dann beim Milzbrand, Recurrens, bei der Pyaemie, beim
Puerperalfieber, Erysipel, der Osteomyelitis u. a. m. in dem Blut, sowie in
einzelnen Sekreten oder Geweben mikroskopisch kleine Lebewesen, Pilz-
formen verschiedener Art, auffand, lag der Gedanke nahe, in ihnen die
Entstehungsursache des Leidens zu sehen. Aber der wissenschaftliche
Nachweis, dass diese niederen Organismen wirklich in einem ursäch-
lichen Zusammenhange mit bestimmten Krankheiten stehen, war erst
möglich, nachdem es gelungen war, diese Lebewesen durch geeignete
Untersuchungsmethoden zu isoliren, auf gesunde Thiere zu impfen und
398 Der medicinisohe Unterricht in der neuesten Zeit.
dadurch die betreffende Krankheit hervorzurufen. Diese Bedingungen sind
bisher allerdings nur beim Milzbrand, Recurrens, Erysipelas malignum,
bei der Diphtherie und Cholera asiatica, erfüllt worden; doch sprechen
eine Menge von Thatsachen und Wahrscheinlichkeitsgründen dafür, dass
auch bei der Entstehung und Verbreitung der Tuberkulose, Lepra, des
exanthematischen und Abdominal -Typhus, Scharlachs, der septicämischen
Prozesse, derMalaria u.a.m. pathogene Bakterien thätig sind. Die Schwierig-
keiten, welche sich bei diesen Untersuchungen dem Experiment, nament-
lich in Bezug auf die Wahl eines zur Impfung geeigneten, für die Krank-
heit empfänglichen Thieres, entgegenstellen, machen es erklärlich, dass
die Resultate langsam erreicht werden. Die bis jetzt festgestellten
Thatsachen haben der Ätiologie einen tieferen Gehalt gegeben, indem
sie die eigentlichen Krankheitserreger ans Licht zogen und damit auch
der Pathologie und Therapie die Wege vorgezeichnet, welche sie künftig
wandeln sollen.
Die Heilmittellehre hat sich in den letzten Decennien aus einer
pharmaceutischen Waaren künde in die pharmokodynamische Wissen-
schaft umgewandelt, welche im engen Anschluss an die Physiologie und
experimentelle Pathologie sich auf die Erfahrungen am Krankenbett
und die Versuche an lebenden Thieren stützt. Dadurch konnte die
tiefe Kluft zwischen ärztlicher Theorie und Praxis hier und dort über-
brückt werden.
Zu gleicher Zeit wurde der Arzneischatz durch eine grosse Anzahl
von Heilmitteln vermehrt. Die Chemie lehrte die Darstellung der wirk-
samen Extraktivstoffe verschiedener pflanzlichen und thierischen Sub-
stanzen, so dass dieselben für sich allein in der ärztlichen Therapie
angewendet werden können, ohne dass zugleich durch Beimengungen
noch andere, nicht beabsichtigte Wirkungen herbeigeführt werden. So
wurde eine Menge von Alkaloiden, besonders der narkotischen Medica-
mente entdeckt, z. B. das Morphium 1804 von Sertürner und gleich-
zeitig von Seguin, das Cantharidin 1812 von Robiquet, das Strychnin
1818 und das Chinin 1820 von Pelletier und Caventon, das Veratrin
1818 von Meissner, das Coffein 1820 von Runge, das Solanin 1821 von
Deseosses, das Coniin 1830 von Geiger, das Atropin 1831 von Mein,
das Aconitin 1833 von Hesse, das Colchicin von Geiger und Hesse,
das Cocain 1859, das Cumarin, Curarin, Saponin, Santonin, Pilocarpin,
Pepsin, Pancreatin u. a. m. und in die Heilkunst eingeführt.
Mehrere andere Heilmittel, wie das Jod, welches 1811 von Courtois
in der Soda aufgefunden wurde, das Brom, das 1826 von Balard ent-
deckt wurde, das Jodkalium, Bromkalium, das Chloroform, Jodoform,
Chloralhydrat, die Salicylsäure und die Carbolsäure, waren ebenfalls
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Staatsarzneikunde. 399
den Fortschritten der Chemie zu verdanken oder wurden, wie Kamala,
Kusso, Cundurango u. a. m. aus fremden Welttheilen nach Europa ge-
bracht. Man studierte dann ihre arzneilichen Wirkungen auf den ge-
sunden und kranken Organismus und suchte die passendste Art ihrer
Anwendung ausfindig zu machen.
Auch in dieser Beziehung hat die Heilkunst im 19. Jahrhundert
wichtige Fortschritte gemacht; denn die Erfindung der subcutanen In-
jektionen durch Peavaz und Al. Wood, die Einführung der Inhalations-
Kuren und die Pneumotherapie mit ihren vortrefflichen Heilapparaten,
welche den erkrankten Respirationsorganen die Luft in verdichtetem
oder verdünntem Zustande übermitteln, sind wesentliche Bereicherungen
der therapeutischen Technik. Die wissenschaftliche Begründung der
Balneologie, Klimatherapie, Hydrotherapie, Elektrotherapie und der
schwedischen Heilgymnastik sind ebenfalls Errungenschaften unserer Zeit.
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und
Staatsarzneikunde.
Der Aufschwung der pathologischen Anatomie und die Klärung
der pathologischen Theorien übten im Verein mit den Fortschritten in
der Physik und Chemie auch auf die Chirurgie einen mächtigen Ein-
fluss aus.
Die Vorgänge der Eiterung, Geschwürsbildung, Vernarbung, Re-
generation der Gewebe und andere in das Gebiet der chirurgischen
Pathologie fallenden Fragen wurden durch Beobachtungen und Experi-
mente dem Verstand niss erschlossen. Die Entwicklung und Diagnostik
der pathologischen Neubildungen beschäftigte die Chirurgen und die
pathologischen Anatomen im gleichen Grade.
Die operative Chirurgie machte ebenfalls bedeutende Fortschritte.
Dieselben bestanden aber nicht so sehr in der Verbesserung der Ope-
rations-Methoden und in der Erfindung neuer Operationen, als haupt-
sächlich darin, dass man zu der Einsicht gelangte, dass die Aufgabe
des Chirurgen nicht darin liegt, erkrankte Theile zu entfernen, sondern
wenn möglich zu erhalten. Dieser Gedanke bahnte die conservative
Chirurgie unserer Tage an.
Er konnte nur verwirklicht werden mit Hilfe der anästhesirenden
Inhalationen, welche die Schmerzen der Kranken während der Operation
und die dadurch hervorgerufene Reaktion des Organismus beseitigten,
400 Der medicinisehe Unterricht in der nettesten Zeit.
und durch die Erfindung und Einführung der antiseptischen Wund-
behandlung, durch welche die im Gefolge der Operationen auftretenden
Nachkrankheiten verhütet und der Heilerfolg gesichert wurde. Diese
beiden grossen Errungenschaften der Heilkunst des 19. Jahrhunderts
haben den Charakter der Chirurgie vollständig umgestaltet. Sie haben
den Operateur mit Muth und Selbstvertrauen ausgerüstet; denn er
weiss, dass der Erfolg seiner Kunst nicht mehr durch unberechenbare
Zufälligkeiten in Frage gestellt wird — und das Herz des Kranken
mit Hoffnung erfüllt, so dass er den Chirurgen nicht mit banger Furcht
betrachtet, sondern in ihm den Heilung spendenden Arzt erkennt.
Schon im Alterthum und im Mittelalter hatte man zur Linderung
der Schmerzen narkotisirende Getränke und Inhalationen angewendet,
wie ich früher erwähnt habe. Die unvollkommene Wirkung dieses
Verfahrens und vor Allem die üblen Folgen desselben lassen es aber
begreiflich erscheinen, dass man nur selten davon Gebrauch machte.
Als Humphey Davy auf die berauschende Wirkung des Stickstoffoxy-
duls aufmerksam machte, stellte man damit Versuche an, welche später
dazu führten, dass es bei operativen Eingriffen, vorzugsweise in der
Zahnheilkunde, verwendet wurde.
Um die gleiche Zeit wurden die narkotischen Eigenschaften des
Schwefel-Äthers entdeckt, welcher namentlich von Jackson untersucht
und empfohlen wurde. Im J. 1847 stellte Flourens durch Experi-
mente an Thieren fest, dass das von Soubeiran und J. Liebig gleich-
zeitig entdeckte Chloroform ein vorzügliches narkotisches Mittel sei.
Der Gynäkologe Simpson führte es bald darauf in die ärztliche Praxis
ein. Die Vorzüge, welche es vor den übrigen Mitteln dieser Art besitzt,
erklären es, dass es dieselben allmälig vollständig zurückdrängte.1
Man hat noch verschiedene andere Substanzen zu anästhesirenden
Einathmungen benutzt, die Chloroform -Narkose mit der Ätherisation
oder mit Morphium-Injektionen verbunden, um die betäubende Wirkung
zu erhöhen oder zu verlängern, und die lokale Anästhesirung der
Körpertheile, welche operirt werden sollen, durch die Kälte, die Äther-
Douche u. a. m. empfohlen. Auch haben J. Clocquet, J. Braid und
Andere versucht, während des hypnotischen Schlafes chirurgische Ope-
rationen auszuführen.
Die Anwendung der anästhesirenden Inhalationen gestattete dem
Operateur die ungehinderte und vollständige Lösung seiner Aufgabe.
Man durfte sich daher auch an die schwierigen, viele Zeit in Anspruch
1 0. Kappeler in „Deutsche Chirurgie", her. v. Billroth u. Luecke, Stutt-
gart 1880. — Marion Sims: The discoveiy of anaesthesia, Richmond 1877.
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Sfaatsarznei künde. 401
nehmenden und grosse Schmerzen verursachenden Operationen wagen,
welche in früheren Zeiten nicht ausgeführt werden konnten.
Zur Verhütung gefahrdrohender Blutungen bei oder nach Opera-
tionen kam neben der Unterbindung und den anderen früher üblichen
Methoden auch die Torsion wieder in Aufnahme. Simpson empfahl
die Acupressur, während andere Chirurgen der forcirten Beugung der
Glieder, der Anwendung der styptisehen Mittel, wie des Liquor ferri
sesquiehlorati , oder der Kälte oder Glühhitze in verschiedener Form
den Vorzug gaben. Brünninghausen regte den Gedanken an, den
Körpertheil, welcher operirt werden soll, durch eine eng anliegende
Binde vorher blutleer zu machen; doch ist es erst einem genialen Chi-
rurgen der Gegenwart gelungen, ein Verfahren aufzufinden, durch
welches dieser Zweck erreicht wird.
Auch die Galvanokaustik, welche hauptsächlich durch Middeldorpf
begründet wurde,1 und die von Chassaignac erfundene Operations-
Methode des Ecrasement lincaire suchten die Entfernung kranker Theile
auf unblutigem Wege zu bewerkstelligen. Durch die erstere wurde
zugleich ein die Operationswunde bedeckender Schorf erzeugt, unter
dem der Heilungsprozess stattfinden konnte; auch bietet sie den Vor-
theil, dass sie selbst bei sehr gefässreichen Weichgebilden, sowie bei
Organen, welche dem Messer oder dem Glüheisen schwer zugänglich
sind, anwendbar ist. Die Schwierigkeiten, welche sich früher der Ent-
fernung umfangreicher pathologischer Neubildungen entgegenstellten,
wurden dadurch wesentlich verringert.
Die Technik der Amputation machte, wenn man von der Einführung
des Ovalärschnittes durch Scoutetten, des Schrägschnittes durch Bla-
sius, der dem letzteren ähnlichen elliptischen Methode durch Soupart
und den Verbesserungen des Lappenschnittes absieht, nur geringe Fort-
schritte. Doch wurde auf die Nachbehandlung grössere Sorgfalt ver-
wendet, als früher.
In manchen Fällen wurde die Exartikulation der Amputation vor-
gezogen. Die Operation im Hüftgelenk wurde durch Larrey zuerst
unternommen. Die Exartikulation im Kniegelenk erfuhr eine Erweite-
rung durch die von Syme empfohlene Absägung der Cond}7len, womit
Andere die Aufheilung der abgesägten Patella auf dem Ende des
Oberschenkels zu verbinden suchten. Mit besonderem Fleiss wurde
die Exartikulation in den Fusswurzelgelenken und im Fussgelenk
bearbeitet. Neben Chopart's Methode im mittleren Tarsus -Gelenk
wurde die Operation im Mittelfussgelenk von Lisfranc, unter dem
1 A. Th. Middeldorpf: Die Galvanokaustik, Breslau 1854.
Puschmann, Unterricht. 26
402 Der medidnische Unterricht in der neuesten Zeit.
Sprungbein von Textob und im Fussgelenk von Stme und Pirogoff
empfohlen.
Der conservative Charakter der Chirurgie, welcher dem erkrankten
Körper soviel als möglich zu erhalten bestrebt war, äusserte sich auch
in der Zunahme der Resektionen. Sie bezweckten entweder die gänz-
liche oder eine theilweise Fortnahme der Knochen und wurden sowohl
an den Extremitäten, als an der Wirbelsäule durch Entfernung eines
Processus spinosus oder transversus oder des hinteren Umfanges des
Wirbelbogens, an den Kippen, z. B. beim Empyem, am Becken, Schulter-
blatt, besonders an der Scapula, am Schlüsselbein, am Oberkiefer und
Unterkiefer unternommen.
Einen hohen Grad der Vollkommenheit erreichte die Lehre von
den Gelenk-Resektionen. Nach den ersten glücklichen Versuchen, die
man damit im 18. Jahrhundert an der Schulter und am Knie gemacht
hatte, wurden sie auch an anderen Gelenken ausgeführt, z. B. im Ellen-
bogen und am Euss zuerst vom älteren Moreau, und in der Hüfte
von iiNT. White. Die vielen Kriege der letzten Jahrzehnte boten
reiche Gelegenheit, diese Operation zu üben und zu verbessern. Die
Indicationen zu derselben wurden genau bestimmt und in einzelnen
Beziehungen, z. B. zu orthopädischen Zwecken, sogar erweitert. Be-
sondere Modifikationen derselben, wie die Keil-Resektionen beim Klump-
fuss, die sogenannten temporären Resektionen, bei denen keine dauernde
Entfernung der Knochentheile beabsichtigt wird, die subperiostalen Re-
sektionen und die Osteotomien verschiedener Art wurden dem betreffen-
den Fall angepasst.
Die Behandlung der Frakturen und Luxationen erfuhr durch die
Einführung der erhärtenden Verbände, welche das Glied während der
Heilung unbeweglich machen, einen wichtigen Fortschritt. Larrey
verwendete dazu eine aus Eiweiss, Bleiweiss und Kampher-Spiritus be-
stehende Masse, Seutin erfand (1834) den Kleisterverband, und Veiel
empfahl den Leimverband. Die meiste Anerkennung und Verbreitung
erlangte der Gypsverband, welcher schon seit langer Zeit im Orient
bekannt war und im Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa eingeführt
wurde, aber erst seit der Anwendung der von Mathysen erfundenen
Gypsbinden einen grossen Ruf erwarb. Ausserdem wurden auch das
Tripolith-Pulver, die Guttapercha, der plastische Filz und die plastische
Pappe, das Wasserglas, das Paraffin und Stearin zu derartigen Ver-
bänden benutzt.
Auch wusste man geeignete Schwebe-, Extensions- und Lagerungs-
Apparate zu construiren, durch deren Mitwirkung der Heilungsprozess
begünstigt wurde. Bei schlecht geheilten Frakturen trennte man den
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Staatsarzneikunde. 403
— — i
Callus durch Zersägen oder Zerbrechen, damit sich der Heilungsprozess
nochmals vollziehe. Bewegliche Knochen suchte man durch die Knochen-
naht, durch die künstlich hervorgerufene Entzündung der Enden u. a. m.
zu vereinigen.
Die Myotomie und Tenotomic zur Beseitigung von Contracturen,
z. B. beim Caput obstipum und beim Klumpfuss, wurde wie erwähnt,
schon in früheren Zeiten unternommen; aber die subcutane Ausführung
derselben ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Delpech hat diese
Operation in die chirurgische Praxis eingeführt, und die Erfolge, welche
Dupuytren, Diepeenbach, Stromeyer u. A. damit bei verschiedenen
Leiden erzielten, verschafften ihr einen ständigen Platz in der operativen
Chirurgie.
Die Heilung der Aneurysmen wurde durch Compression, durch
die Ligatur, Electropunctur und permanente Flexion versucht.
Die Lehre von den Hernien wurde durch werthvolle Arbeiten über
die anatomischen Verhältnisse derselben, über die Ursachen der Ein-
klemmung u. a. m. gefördert. Bei der Behandlung nach der Taxis
kamen hauptsächlich die Bruchbänder in Betracht, welche ausserordent-
lich vervollkommnet wurden; bei der Radikal-Heilung suchte man die
Bruchpforte durch plastische Operationen, z. B. durch Hereinziehen
der Scrotal-Haut oder durch künstlich erzeugte Verwachsungen, zu ver-
schliessen.
Die Methoden des Steinschnitts wurden durch die von L. J. Sanson
angegebene Operation vom Mastdarm aus und die von J. Clemot em-
pfohlene Sectio vagino-vesicalis vermehrt. Um die Lithotrypsie erwarben
Sich GrUITHUISEN, ClVIALE, LeROY d'EtIOLLES, N. HeURTELOUP U. A.
durch die Erfindung und Verbesserung der Instrumente hervorragende
Verdienste. Die Beseitigung der Harnröhren-Strikturen versuchte man
durch ätzende Bougies, durch allmälige oder gewaltsame Erweiterung
der Harnröhre oder durch die Urethrotomie herbeizuführen.
Die operative Entfernung einer Niere wurde zuerst von 0. Simon
ausgeführt, während die Splenectomie, die schon im 16. Jahrhundert
unternommen wurde, seit Quittenbaum in einer planmässigen , den
Regeln der Kunst entsprechenden Weise vollzogen wurde. x Die längst
bekannte Gastrotomie führte zur Gastrostomie, zur künstlichen Anlegung
einer Magenfistel, welche von Egeberg und Sedillot in die chirur-
gische Therapie eingeführt wurde. An die Resektion des Magens oder
des Oesophagus, sowie an die Exstirpation des Kehlkopfs hat man sich
erst in unseren Tagen gewagt.
1 Adelmann im Archiv f. klin. Chirurgie 1887, Bd. 36, H. 2.
26*
404 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Die Rhinoplastik war im 17. und 18. Jahrhundert völlig in Ver-
gessenheit gerathen. Im J. 1742 erklärte die medicinische Facultät
zu Paris die Mittheilungen, welche Tagliacozzi darüber hinterlassen
hatte, für Phantasiegebilde und das von ihm angewendete Operations-
verfahren für unmöglich. Da brachten i. J. 1794 englische Zeitungen
die Nachricht, dass in Indien von dortigen Eingeborenen die Kunst
ausgeübt werde,1 den Verlust der Nase durch plastische Operationen
zu ersetzen. Die europäischen Ärzte studierten die Operations-Methode,
welche dabei angewendet wurde, ahmten sie nach, prüften dann das
alte italienische Verfahren und verallgemeinerten die Operation, indem
sie auch den Ersatz der Lippen und Augenlider, den Verschluss ab-
normer Öffnungen u. a. m. in Betracht zogen. Durch C. F. Gkaeee,
Delpech, Dieefenbaoh, B. Langenbeck u. A. erlangten die plastischen
Operationen eine hohe Vollendung.
Die Transplantation von Hautstücken zum Ersatz von Substanz-
verlusten, z. B. nach Verbrennungen, von Periost und Knochentheilen,
um eine feste Stütze zu erzeugen, sowie die Einheilungsversuche fremder
Gewebstheile oder Körper gehören der jüngsten Zeit an.
Die Transfusion des Blutes nach grossen Blutverlusten kam am
Schluss des 18. Jahrhunderts wieder in Aufnahme und wurde von
J. Blundell zum Gegenstande sorgfältiger Untersuchungen gemacht.
Prevost, Dumas und andere Physiologen, welche sich mit dieser Frage
beschäftigten, empfahlen zur Transfusion defibrinirtes Blut, Panum gab
den Rath, nur Menschenblut zu verwenden. In ein anderes Licht trat
die Lehre von der Transfusion, als man erkannte, dass die Erfolge
dieser Operation keineswegs auf der Zufuhr von Blut beruhen, sondern
in dem durch die Vermehrung des Gefässinhalts erhöhten intravascu-
lären Druck ihren Grund haben.2
Die günstigen Heilerfolge, welche die operative Chirurgie gegen-
wärtig erzielt, sind grösstenteils der streng-methodischen Anwendung
der Antisepsis zu verdanken, welche in den beiden letzten Decennien
die allgemeine Anerkennung gefunden hat. Mit ihr begann eine neue
Periode für die Geschichte der Chirurgie, deren Tragweite auf die wissen-
schaftliche Gestaltung derselben sich kaum vollständig ermessen lässt.
Einzelne Zweige der Chirurgie erfuhren im 19. Jahrhundert zum
ersten Male eine wissenschaftliche Bearbeitung und entwickelten sich
zu besonderen Unterrichts-Disciplinen. So ging die Zahnheilkunde aus
1 E. Zeis a. a. 0. S. 208 u. tf.
2 E. v. Bergmann: Die Schicksale der Transfusion im letzten Decennium,
Berlin 1883.
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Staatsarzneikunde. 405
den Händen unwissender Barbierer und Empiriker allmälig in die-
jenigen von Ärzten über, welche die Beziehungen der Erkrankungen
der Zähne zu den übrigen Krankheiten des Körpers erforschten und
eine rationelle Behandlung der ersteren begründeten.
Die Diagnostik und Behandlung der Ohrenleiden erhielt in dem
von A. Cleland verbesserten Katheterismus der Tuba Eustachii ein
sehr werthvolles Hilfsmittel. Die künstliche Beleuchtung des Trommel-
fells, die Auscultation des Mittelohrs und die Luft-Douche bildeten
weitere Fortschritte in diesem Theile der Heilkunst, um dessen Aus-
bildung sich Itard, Leon Deleau, W. R. Wilde, Jos. Toynbee,
W. Kramer und mehrere andere deutsche Ohrenärzte hervorragende
Yerdienste erworben haben.
Grosse Triumphe feierte die Ophthalmologie. Man gewann eine
klare Einsicht in die Entstehungs-Ursachen und die anatomischen Ver-
änderungen der meisten Erkrankungen des Auges, erhielt in dem Augen-
spiegel ein diagnostisches Hilfsmittel, welches die schwierigsten Fragen
der Pathologie des Sehorgans zur Lösung brachte, und lernte mehrere
neue Heilmethoden und operative Eingriffe kennen. Schon Adam
Schmidt machte auf die Beziehungen aufmerksam, welche zwischen
manchen Augenleiden und den Krankheitszuständen des übrigen Kör-
pers bestehen und nannte die Augenkrankheiten „die zierlichen Mi-
riaturspiegel der Körperkrankheiten".
Die einzelnen Formen der Conjunctivitis wurden genauer unter-
schieden, dabei das Wesen der durch ihre rasche Verbreitung und
Bösartigkeit die Bevölkerung in Schrecken versetzenden Ophthalmia
aegyptiaoa s. militaris festgestellt, die Iritis und Chorioditis studiert, und
auf die dem Glaukom zu Grunde liegende Steigerung des intraoeularen
Druckes, gegen welchen A. v. Graefe die Iridectomie empfahl, hingewiesen.
Bei Trübungen der Hornhaut machte man den Versuch, an Stelle
der ausgeschnittenen Narbe ein Stück Glas oder einen Theil der Cornea
eines Thieres einheilen zu lassen, um auf diese Weise den Lichtstrahlen
den Durchtritt zu ermöglichen, oder schritt zur Bildung einer künst-
lichen Pupille. Die Nachtheile der von Wentzel angegebenen Methode
der Iridectomie, durch welche häufig Erkrankungen der Linse und ihrer
Kapsel herbeigeführt wurden, wusste Beer zu vermeiden, indem er den
Iris-Lappen nicht mehr innerhalb der vorderen Augenkammer loslöste,
wie bisher, sondern aus der Hornhaut wunde hinausdrängte und ausser-
halb des Auges abschnitt. Dieses Verfahren wurde später verbessert
und erhielt sich bis heut, während andere zu dem gleichen Zweck er-
sonnene Operations-Methoden, wie die Iridodialyse längst aus der Praxis
verschwunden sind.
406 Der mediciniscke Unterricht in der neuesten Zeit.
Zur Beseitigung der Cataract, deren Ätiologie und anatomischer
Sitz genauer untersucht wurden, wendete man neben der Depression
der erkrankten Linse, welche Scaepa mit der Zerstückelung derselben
verband und Buchhoen durch die Hornhaut auszuführen empfahl,
hauptsächlich die Extraction an, die in den meisten Fällen als die beste
und sicherste Operations -Methode erscheint. Die letztere erfuhr eine
werthvolle Verbesserung durch den von F. Jägee empfohlenen, viel-
leicht schon von früheren Augenärzten geübten Hornhautschnitt nach
oben, welcher dann zur linearen Extraction führte.
Diese in einzelnen Fällen, z. B. bei geschrumpften und weichen
Staaren, schon früher ausgeübte Methode wurde von A. v. Geaeee,
der den Schnitt in die obere Grenze der Hornhaut verlegte und gleich-
zeitig die Iridectomie verrichtete, ausgebildet und zum Gemeingut aller
Ärzte gemacht.
Ungemein erleichtert wurde die operative Augenheilkunde, als man
die Mjdriatica anzuwenden begann. Himly machte auf die pupillen-
erweiternden Eigenschaften des Hyoscyamus und der Belladonna auf-
merksam. Später lernte man noch andere derartige Mittel kennen;
doch kamen die narkotischen Alkaloide, besonders das Atroph), am
meisten in Gebrauch.
Die bedeutendste Errungenschaft der Ophthalmologie während des
19. Jahrhunderts war jedoch ohne Zweifel die Erfindung des Augen-
spiegels. Vorbereitet durch die Untersuchungen über den leuchtenden
Hintergrund der mit einem Tapetum versehenen Augen gewisser Thiere,
durch die Beobachtungen der menschlichen Netzhaut beim Mangel der
Iris und durch Puekinje's Experimente trat sie 1851 ins Leben, Wäh-
rend der Erfinder des Augenspiegels, Helmholtz, die Theorie desselben
bearbeitete und nahezu vollständig abschloss, war es hauptsächlich
A. von Geaeee, welcher seine Bedeutung für die ophthalmiatrische
Praxis erkannte und darlegte.
Mit Hilfe des Augenspiegels wurde es möglich, den Zustand der
brechenden Medien und des Augengrundes zu untersuchen. Das Wesen
der Amaurosis, die man früher scherzhafter Weise als eine Krankheit
definirt hatte, „bei welcher weder der Kranke, noch der Arzt etwas
sieht", wurde dem Verständniss erschlossen,1 und man vermochte die ver-
schiedenen Krankheiten der Netzhaut zu unterscheiden. Als die Beziehun-
gen der letzteren zu gewissen Allgemein-Erkrankungen des Körpers, z. B.
zum Morbus Brightii, Diabetes mellitus u.a.m. festgestellt wurden, gewann
der Augenspiegel diagnostische Bedeutung für die gesammte Pathologie.
1 A. Hirsch: Geschichte der Augenheilkunde a. a. 0. S. 474.
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Staatsarzneikunde. 407
Die Geburtshilfe schlug eine naturgemässe Richtung ein und er-
weiterte sich, indem sie alle physiologischen und pathologischen Vor-
gänge im Weibe und deren Behandlung in den Kreis der Betrachtung
zog, zur Gynaekologie. Man gelangte zu der Einsicht, dass Schwanger-
schaft, Geburt und Wochenbett physiologische Zustände sind, deren
Verlauf dem Walten der Natur überlassen werden darf, solange nicht
außergewöhnliche Verhältnisse das Einschreiten des Arztes erheischen.
Lukas Boee, welcher diese Grundsätze vertrat, verwarf die soge-
nannten Vorbereitungskuren, welche in den meisten Fällen schädlich
Avirkten, und lieferte den Nachweis, dass selbst die Gesichts-, Steiss-,
Knie- und Fusslagen nicht immer die Kunst des Arztes erfordern,
sondern durch die Kraft der Natur häufig noch derartig regulirt wer-
den, dass die Geburt von selbst erfolgt. Der schwerfällige complicirte
Instrumenten-Apparat früherer Zeiten wurde vereinfacht und die ope-
rative Geburtshilfe auf diejenigen Fälle eingeschränkt, in denen sie
unumgänglich war.
Man lernte die Verengerungen des Beckens durch methodische
Messungen diagnosticiren und den Einfluss der Lageveränderungen und
Krankheiten der Gebärmutter auf die Schwangerschaft und den Ge-
burtsakt beurtheilen. Auch die Pathologie des Wochenbetts, besonders
das Puerperalfieber, auf dessen Pathogenese die Beobachtungen des un-
glücklichen Semmelweiss ein überraschendes Licht warfen, wurde sorg-
fältig erforscht. Die Erkrankungen der Gebärmutter, der Eierstöcke
und der benachbarten Theile gaben zu operativen Eingriffen Anlass,
deren Methoden erst erfunden werden mussten.
Die Exstirpation des Uterus bei bösartigen Entartungen desselben
wurde bereits von Monteggia, Osiandee u. A. ausgeführt und in
jüngster Zeit in Bezug auf die Technik sehr vervollkommnet. Ähnlich
verhält es sich mit der Ovariotomie, welche von Mac Dowell i. J. 1809
zum ersten Male unternommen wurde und seitdem viele Verbesserungen
erfahren hat. Die operative Behandlung des Prolapsus des Uterus und
der Vagina, sowie die Operation der Blasenscheidenfisteln, welche früher
als unheilbar galten, gehören ebenfalls der neuesten Periode an und
sind hauptsächlich das Verdienst von Jobert de Lamballe, Mabion
Sims, G. Simon und anderen hervorragenden Gynäkologen der Gegenwart.
Der Fortschritt der Medicin im 19. Jahrhundert beschränkte sich
aber nicht blos auf die Bedeutung, welche sie als Heilkunst für das
kranke Individuum besitzt, sondern brachte auch die wichtigen Be-
ziehungen derselben zum Staat zum allgemeinen Bewusstsein.
Es hing dies vielleicht mit der politischen Entwickelung zusammen,
welche die Staatsregierung an ihre Aufgabe mahnte, die Gesellschaft
408 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
zu schützen, und in dem einzelnen Bürger das Gefühl erweckte, daxs
er als Mitglied des Gemeinwesens Pflichten gegen dasselbe zu erfüllen
habe und an seiner Wohlfahrt betheiligt sei. So traten die gerichtliche
Medicin, welche von A. Henke, Mende, Christison, Casper, Orfila,
Tardieü u. A. begründet und bearbeitet wurde, und die medicinische
Polizei, deren Fundamente Peter Frank legte, in die Reihe der me-
dicinischen Disciplinen. Was die erstere für die Justiz wurde, das
sollte die letztere für die Verwaltung sein: der Inbegriff der Kennt-
nisse, deren der ärztliche Sachverständige bedarf, wenn er von den
Behörden zu Bath gezogen wird.
Die Sanitäts- Polizei erweiterte sich zur öffentlichen Gesundheits-
pflege oder Hygiene, als sich der Gedanke Bahn brach, dass nicht blos
der Staat, sondern jeder Einzelne berufen ist, Krankheiten zu verhüten
und die Entwicklung und Erhaltung der Salubrität zu fördern. Die
Identität der Interessen, welche in den Fragen der Hygiene die Be-
völkerung mit der Staatspolitik verbindet, erklärt es sicherlich zum
grossen Theile, dass die wissenschaftliche Lösung derselben in den
letzten Jahrzehnten mit einem bewunderungswürdigen Eifer betrieben
wurde. Der Einfluss der Nahrung, Kleidung, Wohnung, des Bodens,
Klimas, der Temperatur, Luft, der Beschäftigung, des Alters und Ge-
schlechts wurde sorgfältig untersucht; die Erforschung der Ursachen
der Entstehung und Verbreitung der Seuchen, die gesundheitsgemässe
Anlage von Krankenhäusern, Friedhöfen, Fabriken und Bauten aller
Art, die Überwachung der Prostitution u. a. m. bildeten weitere Auf-
gaben der öffentlichen Gesundheitspflege.
Sowohl die Geschichte der Medicin, die über den Verlauf der
grossen Volkskrankheiten, welche in vergangenen Zeiten die Länder
durchzogen und den Erfolg der dagegen getroffenen Massregeln Bericht
erstattete, als die medicinische Geographie, welche darauf hinwies, dass
manche Krankheiten nur oder wenigstens vorzugsweise in gewissen
Gegenden vorkommen, und die Erklärung dieser Thatsache versuchte,
und die Medicinalstatistik, die das beigebrachte Material mit Hilfe der
numerischen Methode zu sichten und zu Schlussfolgerungen zu ver-
werthen bemüht war, lieferten wichtige Beiträge zur Lösung dieser
Fragen. Die Chemie, das Mikroskop und das Experiment boten die
Mittel zu LTntersuchungen, welche ebenfalls zu werthvollen Aufschlüssen
darüber führten, und die Bakteriologie lenkte den Blick auf die letzten
Ursachen der Krankheiten.
Die Erfolge, welche die Hygiene dadurch in den letzten Jahren
errungen hat, und die Erwartungen, die man von ihr für die Zukunft
hegt, haben ihr in kurzer Zeit eine hervorragende Stellung unter den
Der medicinische Unterricht in der Gegenwart. 409
medicinischen Disoiplinen verschafft. Die Aufgabe, die Krankheiten zu
verhüten, erscheint ebenso gross und segensreich, als diejenige sie zu
heilen, und die öffentliche Medicin tritt der privaten ebenbürtig an
die Seite.
Die Staatsregierungen tragen dieser in immer weitere Kreise
dringenden Erkenntniss Rechnung, indem sie die Sanitätsverwaltung
organisiren, Gesundheitsämter errichten und für ärztliche Beaufsichtigung
gewisser Einrichtungen Sorge tragen, und das prophetische Wort des
englischen Staatsmannes Gladstone: „Die Ärzte werden die Führer der
Völker sein", geht seiner Erfüllung entgegen.
Der medicinische Unterricht in der Gegenwart.
Die Umgestaltungen und Verbesserangen, die der medicinische
Unterricht während der letzten hundert Jahre erfahren hat, sind nicht
weniger bedeutend als die Erfolge, welche die wissenschaftliche Be-
arbeitung der Heilkunde errungen hat. Wenn man die mit Lehrmitteln
aller Art reichlich ausgestatteten Institute unserer heutigen medicinischen
Schulen, ihre vortrefflich eingerichteten Lehrgebäude für normale und
pathologische Anatomie und Physiologie mit ihrem Instrumenten-
Apparat, ihre physikalischen, chemischen und hygienischen Labora-
torien, ihre naturwissenschaftlichen Sammlungen und ihre grosse Anzahl
klinischer Anstalten betrachtet und sie mit den dürftigen Anfängen
vergleicht, welche in dieser Hinsicht im vorigen Jahrhundert gemacht
wurden, erkennt man, wie viel seitdem erreicht worden ist. Heut
gelten diese Einrichtungen als unentbehrlich für den Betrieb des ärzt-
lichen Unterrichts, während sie damals an den meisten Hochschulen
gänzlich fehlten oder doch nur zum geringsten Theile vorhanden waren
und in solcher Vollständigkeit kaum jemals erhofft werden konnten.
Die Lehrmethode hat in Folge dessen eine andere Form an-
genommen; die praktischen Demonstrationen gewannen mehr und mehr
das Übergewicht im medicinischen Unterricht und füllten mit den zu
ihnen gehörigen Erklärungen den Inhalt desselben aus, während die
theoretischen Vorträge zurückgedrängt wurden und allmälig fast gänz-
lich verschwanden. Das Verständniss der wissenschaftlichen Thatsachen
und Theorien ist dadurch ausserordentlich erleichtert worden; denn was
man mit den Sinnen erfasst, das prägt sich nicht blos dem Gedächtniss,
sondern auch dem Verstände ein.
410 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Dazu kam, dass die Theilung der Arbeit auch im medicinischen
Unterricht durchgeführt wurde und feststehende Formen gewann, welche
es gestatteten, dass der Lehrer sich ausschliesslich mit der Disciplin,
welche er vertritt, beschäftigen und daher eine virtuose Gewandtheit
und Sicherheit darin erlangen konnte.
Die Vervollständigung des medicinischen Unterrichts durch die
Errichtung neuer Lehrkanzeln, welche die Entwickelung und fort-
schreitende Specialisirung der Heilkunde forderte, und die Einführung
und Verbesserung der Prüfungsordnungen, welche die Gewähr leisten
sollen, dass die jungen Ärzte die für ihren Beruf nothwendigen Kennt-
nisse erworben haben, bildeten weitere Bereicherungen, die das ärztliche
Bildungswesen in diesem Zeitraum erfuhr. Allerdings waren die Fort-
schritte auf diesem Gebiet in den einzelnen Ländern sehr verschieden;
der Zustand der allgemeinen Cultur und besonders der Heilkunde, die
sociale Stellung der Ärzte, die historischen Traditionen und vor Allem
das Verhalten des Staates zum öffentlichen Unterricht übten darauf
einen entscheidenden Einrluss aus.
Bei den rohen Naturvölkern, bei den Kauern, Indianern, den Ein-
geborenen Brasiliens u. A. versuchen die Ärzte und Zauberer noch heut,
die Krankheiten durch Gebete und Beschwörungsformeln zu vertreiben,
und das medicinische Wissen reicht nur selten über die Kenntniss
einiger heilkräftigen Kräuter und Wurzeln hinaus.1
Auch bei den Culturvölkern herrschen in Bezug auf die Heilkunde
sehr verschiedenartige Zustände. Die einheimischen Ärzte in den
Ländern des Islams handeln zum grössten Theile jetzt noch nach den-
selben Grundsätzen, welche die Vertreter der arabischen Medicin im
Mittelalter verkündet haben, und ebenso glauben auch die chinesischen
Ärzte an die gleichen haltlosen Spekulationen, die dort seit Jahrtausenden
Geltung besitzen.2 Doch führte die Berührung mit der europäischen
Heilkunde und die Erkenntniss ihrer Vortheile zu Versuchen, dieselbe
dorthin zu verpflanzen.
In Konstantinopel und Kairo gründete man medicinische Schulen
an denen europäische, vorzugsweise französische und deutsche Ärzte als
Lehrer angestellt wurden. Bei weitem gründlicher und, wie es scheint,
mit grösserem Erfolg wurde dies in Japan ins Werk gesetzt, wo in
den letzten Jahren mehrere ärztliche Lehranstalten entstanden, welche
1 Th. Waitz: Anthropologie der Naturvölker, Leipzig 1859, II, 412. 11J,
225. 419. IV, 473. V, 2. 149. 199. VI, 24 u. ff. 394 u. ff. 557. A. Bastian:
Der Mensch in der Geschichte. Leipzig 1860, II, 116 u. ff.
2 P. Dabby: La medecine chez les Chinois, Paris 1863. — D. J. Macgowan
in den Med. Rep. Shangai 1882, No. 22.
Der mediciniscke Unterricht in der Gegenwart 411
vollständig nach europäischem Muster organisirt und hauptsächlich mit
deutschen Lehrkräften versehen wurden.1 Die niedere Cultur weicht
vor der höheren zurück, welche überall siegreich vordringt und die
Menschheit mit ihren Segnungen beglückt.
In den civilisirten Ländern hat die allgemeine und fachwissen-
schaftliche Bildung der verschiedenen Berufsklassen eine gewisse Gleich-
artigkeit angenommen, welche sich aus der durch die Literatur be-
wirkten leichten und raschen Yermittelung der geistigen Fortschritte
und Errungenschaften erklärt. Auch die Heilkunde zeigt diese Er-
scheinung, und der unterrichtete Arzt in Frankreich bekennt sich zu
denselben Lehren, wie sein College in Deutschland, Osterreich, Italien
und anderen Ländern. Die medicinische Wissenschaft ist überall die-
selbe; aber die Summe des Wissens, welche von den Vertretern der-
selben in den einzelnen Staaten verlangt wird, ist verschieden, und die
äusseren Formen, in denen sie den Studierenden gelehrt wird, sind
mannigfaltig.
An einzelnen Orten, z. B. in Amerika und England, besteht noch
die Einrichtung, dass Ärzte Schüler annehmen und gleich den Hand-
werkern zu Meistern in ihrer Kunst ausbilden; aber im Allgemeinen
werden die" ärztlichen Kenntnisse an Schulen erworben, welche diesen
Zweck zu ihrer besonderen Aufgabe machen und entweder als medi-
cinische Facultäten mit anderen Lehranstalten zu Universitäten ver-
einigt sind, oder ausserhalb derselben eine gesonderte Existenz führen.
Diese Schulen Averden in manchen Ländern vom Staat geleitet
oder wenigstens beaufsichtigt, während sie in anderen eine unabhängige
Stellung einnehmen und sich selbst verwalten oder von Privatpersonen
beeinflusst werden. Diese principiellen Verschiedenheiten in der Organi-
sation des medicinischen Unterrichts waren für die Entwicklung des-
selben von grosser Bedeutung, wie die Betrachtung der betreffenden
Verhältnisse in den verschiedenen Staaten lehrt.
Die ausführlichste Darstellung werden dabei die Zustände bean-
spruchen dürfen, welche sich in dieser Hinsicht bei den Engländern,
Franzosen und Deutschen entwickelt haben, weil sie die Tvpen der
verschiedenen Gestaltungsformen des ärztlichen Bildungswesens dar-
stellen und auf den medicinischen Unterricht der übrigen Nationen
einen massgebenden Einfluss ausgeübt haben.
1 Ardouin: Apercu sur l'histoire de la medecine au Japon, Paris 1884. —
Ad. Hofmeister: Die Universität Tokio, ihre Geschichte und Organisation, Aus-
land, Jahrg. 57, No. 51. — H. Gierke in der Breslauer ärztl. Zeitschr. IV, S. 64 u. ff.
412 Der medizinische Unterrieht in der neuesten Zeit.
England. — Nord -Amerika.
Am längsten haben sich die Einrichtungen des Mittelalters im
medicinischen Unterricht in England erhalten.1 Dort kommt es noch
heut vor, wenn auch bei weitem seltener als früher, dass die Studierenden
der Heilkunde ihre Studien damit heginnen, dass sie sich zu einem
praktischen Arzt in die Lehre begeben; sie bleiben bei ihm ein Jahr
hindurch, um einen allgemeinen Überblick dessen zu gewinnen, was
das Leben einst von ihnen fordern wird.2 Bei dieser Methode hängt
natürlich sehr viel von der Individualität des Schülers und nahezu
Alles von der Persönlichkeit des Lehrers ab. Ist der Schüler fleissig
und begabt, und besitzt der Lehrer Geduld, Kenntnisse und Freude an
seiner Thätigkeit, dann ist dieses Jahr für den ersteren von unschätz-
barem Vortheil für seine späteren Studien; im anderen Falle ist es ver-
lorene Zeit und dient höchstens dazu, ihn mit einer handwerksmässigen
Routine auszustatten, die manchmal nahe an Charlatanerie streift.
Ähnlich verhält es sich, wenn das erste Jahr der medicinischen
Studienzeit in einem Hospital zugebracht wird, wie es auch häufig ge-
schieht. Die Studierenden glauben, dass sie dort Gelegenheit haben,
viele Kranke zu beobachten, und hoffen von den Hausärzten über die
wichtigsten Ereignisse Belehrung zu erhalten. Wenn sie in diesen
Erwartungen nicht getäuscht werden, so können sie sich allerdings
eine gewisse Gewandtheit im Verkehr mit den Kranken aneignen,
welche ihnen in ihrer späteren klinischen und ärztlichen Wirksamkeit
sehr nützlich ist.
Aber in manchen andern Beziehungen muss diese Form der Ein-
führung in die medicinischen Studien grosse Bedenken erregen. Sie
verleitet den Schüler zur Oberflächlichkeit, indem sie ihn gewöhnt,
das Wesen der Dinge nur zu streifen, weil ihm die Kenntnisse und
das Verständniss fehlen, um ihnen auf den Grund zu gehen. Auch
dürften die Ergebnisse, welche auf diese Weise erzielt werden, wohl
kaum den Opfern an Zeit und Mühe entsprechen, die sie den Ärzten,
die dabei die Rolle als Lehrer spielen, verursachen, und noch weniger
die Unbequemlichkeiten rechtfertigen, welche sie für die Kranken-
1 Th. Puschmann: Das medieinisehe Unterrichtswesen in England in der
Beil. d. Allg. Zeitung, München 1886, No. 7—9. Dieser Aufsatz, den ich s. Z.
unter dem frischen Eindruck der eigenen Anschauung geschrieben habe, bildete
eine Vorarbeit des vorliegenden Buches.
2 Ch. Bell Keetley: The Students Guide to the medical profession, London
1878, p. 16 u. ff.
England. — Nord- Amerika. 413
behandlung im Gefolge haben. Jedenfalls ist diesem Herumtasten auf
unbekannten Gebieten der systematische Unterricht an einer medi-
cinischen Schule bei weitem vorzuziehen.
Aus diesem Grunde ist es mehr und mehr üblich geworden, dass
die Studierenden sofort eine medicinische Fachschule oder eine Univer-
sität besuchen. Die medicinischen Schulen Englands haben sich aus
der eben beschriebenen Form des Unterrichts entwickelt; sie lehnen
sich an Hospitäler an und sind dadurch entstanden, dass die Ärzte der-
selben Schüler annahmen und Unterricht in der Heilkunst gaben. Als
die Bedürfnisse des Unterrichts wuchsen, vertheilten sie die Vertretung
der einzelnen Zweige der Heilkunde unter sich und trugen, wenn sie
seihst in einzelnen, z. B. den theoretischen Fächern sich nicht zu
Lehrern befähigt erachteten, dafür Sorge, dass geeignete Lehrkräfte er-
worben und die nothwendigen Lehrmittel und Institute angeschafft
wurden.
Nur ein kleiner Bruchtheil der Studierenden der Medicin bezog
die Universität, da dieselbe bis in die neueste Zeit der für das Studium
der Heilkunde erforderlichen Einrichtungen entbehrte. Die englischen
Hochschulen waren eigentlich nichts weiter als verlängerte Gymnasien,
wie sie J. Döllingee bezeichnete, welche nicht die Aufgabe haben,
Beamte zu bilden und Juristen, Ärzte oder Naturforscher zu liefern,
sondern „durch classische und mathematische Studien nebst Logik und
Moralphilosophie und durch eine Collegienerziehung dem Staat und der
Gesellschaft den gebildeten und unabhängigen Gentleman und daneben
der Staatskirche einen weniger theologisch, als classisch und literarisch
gebildeten Klerus zu liefern".
Einen anderen Charakter zeigten die schottischen Hochschulen,
besonders Edinburg, wo man schon in früher Zeit anfing, die prak-
tische Heilkunde in den Bereich des medicinischen Unterrichts zu ziehen.
Die verschiedenartigen Wege, auf denen die medicinischen Kennt-
nisse erworben wurden, lassen es begreiflich erscheinen, dass unter den
Ärzten grosse Unterschiede in Bezug auf ihr Wissen und ihre Geschick-
lichkeit bestanden. Dazu kam, dass sie nicht genöthigt waren, darüber
ernste Rechenschaft zu geben. Der Staat kümmerte sich nicht darum,
ob und wo der künftige Arzt die Befähigung für seinen Beruf erlangte;
er gestattete Jedem, die ärztliche Praxis auszuüben, und überliess es
dem Publikum, die guten Ärzte zu sondern von den schlechten.
Dabei war natürlich nur der Erfolg entscheidend. Die Heilkünstler,
welche diesem unsicheren Urtheil misstrauten, suchten durch Zeugnisse,
in denen ihre medicinischen Studien und ihre ärztliche Tüchtigkeit
bestätigt wurden, die öffentliche Meinung zu gewinnen. Verschiedene
414 Der medizinische Unterrieht in der neuesten Zeit.
ärztliche Genossenschaften und medicinische Schulen waren dazu gegen
Entrichtung der üblichen Taxen bereit und nahmen Prüfungen ab, die
aber weder einheitlich organisirt, noch von einer Centralstelle über-
wacht wurden, und daher durchaus nicht eine Gewähr für die Bildung
des Arztes boten.
Manche erwarben ein Diplom im Auslande oder suchten sich das-
selbe auf illegale Weise zu verschaffen; auch hatte der Erzbischof von
Canterbury das Recht, Doktoren der Medicin zu ernennen. Zuletzt
kam es soweit, dass es genügte, wenn Jemand von zwei Mitgliedern
einer ärztlichen Genossenschaft der Behörde als Arzt vorgestellt wurde,
damit er als solcher anerkannt wurde.
Derartige Zustände mussten für die Kranken, auf welche diese
Heilkünstler „losgelassen" wurden, schwere Nachtheile im Gefolge haben.
Der unerschütterliche Gleichmuth des englischen Volkes wurde dadurch
endlich aufgerüttelt, und das Parlament veranlasst, Abhilfe dagegen zu
treffen. Das Ergebniss der Berathungen desselben war die Medical Act
v. J. 1858, in welcher genau bestimmt wurde, welche Körperschaften
fortan das Hecht haben, ärztliche Prüfungen abzunehmen und gültige
Zeugnisse darüber auszustellen.
Sie wurden der Aufsicht des General Council of medical education
and registration of the united kingdom unterstellt, welcher darauf
achten soll, dass die Prüfungen ihrem Zweck entsprechen. Ist dies
nicht der Fall, so steht dem General Council die Befugniss zu, eine
Zurechtweisung der Examinatoren zu veranlassen, oder wenn die Übel-
stände nicht beseitigt werden, die Aufhebung des der betreffenden
Corporation ertheilten Prüfungs-Privilegiums zu bewirken.
Die Namen der Personen, welche vor einer zur Abnahme der
Prüfungen legitimirten Körperschaft ihre Befähigung zur Ausübung der
ärztlichen Thätigkeit nachgewiesen haben, werden in ein Verzeichniss
aufgenommen, welches vom General Council geführt und dem Publikum
bekannt gemacht wird; nur solche durch das Gesetz anerkannte Ärzte
können beim Gericht die Klagen auf rückständige Honorar-Forderungen
geltend machen und amtliche Stellungen erlangen.
Der General Council, welchem übrigens noch andere auf das Me-
dicinalwesen bezügliche Aufgaben übertragen wurden , besteht aus
24 Mitgliedern, von denen 17 durch die verschiedenen Prüfungskörper-
schaften gewählt, 6 von der Krone ernannt und 1, nämlich der Prä-
sident, vom General Council selbst bestimmt wird. Mit diesem Gesetz
wurde für die weitere Entwickelung des medicinischen Unterrichts-
wesens in England eine feste Grundlage gegeben, welche wenigstens
die gröbsten Missbräuche verhinderte.
England. — Nord- Am&rika. 415
Die Mängel, welche es zeigte, riefen Verbesserungsvorschläge hervor,
welche aber gar nicht oder doch nur zum Theil ausgeführt wurden.
Im J. 1881 wurde eine Commission von Fachmännern berufen, welche
über die Fragen des medicinischen Unterrichts Berathungen hielt. Bei
dieser Gelegenheit wurde die Notwendigkeit einer allgemeinen wissen-
schaftlichen Vorbildung für den Studenten der Medicin hervorgehoben,
die Einführung von Staatsprüfungen angeregt und verlangt, dass nur
Diplome der Befähigung zur Ausübung der gesammten Heilkunde, nicht
aber einzelner Theile derselben ausgestellt werden. Aber die Mehrheit
verhielt sich ablehnend dagegen und verwarf mit aller Entschiedenheit
die absolute Gleichförmigkeit der ärztlichen Erziehung, indem sie es als
einen besonderen Vorzug des englischen Systems betrachtete, dass es
innerhalb gewisser Grenzen die Freiheit der Bewegung gestattet und
eine bei der Verschiedenheit der Lehranstalten natürliche Mannigfaltig-
keit der Bildung hervorbringt. l
Gegenwärtig erwerben die Studierenden der Heilkunde die läch-
wissenschaftliche Bildung hauptsächlich an den medicinischen Schulen
und den Universitäten. An den ersteren ist kein Mangel; in London
allein existiren zwölf. Sie sind mit Krankenhäusern verbunden und
werden gewöhnlich darnach genannt,
Die älteste Schule ist diejenige des St. Bartholomeus- Hospitals,
dessen ereignissreiche Geschichte mit der Entwk-kclung der Heilkunde
in England eng verknüpft ist, Diese Krankenanstalt besteht seit 1164
und die frühesten Nachrichten, dass dort medicinischer Unterricht or-
theilt wurde, stammen vom Jahre 1662. Zu den Ärzten derselben
gehörten William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, und später
die Chirurgen Percival Pütt und Abernethy.2
Die Gründung des St. Thomas-Hospitals, mit welchem ebenfalls
eine ärztliche Lehranstalt verbunden ist, wird in das 13. Jahrhundert
verlegt; in den Akten dieser Anstalt wird schon 1551 ein ärztlicher
Lehrling erwähnt. Ihre jetzigen Gebäude wurden 1871 der Benutzung
übergeben und erregen durch ihre zweckmässigen Einrichtungen die
Bewunderung der Fachmänner.
1 Report of the royal commissioners appointed to inquire into the medical
acts, presented to both houses of Parliament (Engl. Blaubuch 1882, Vol. 29)
Abs. 37: It would be a mistake to introduce absolute uniformity into medical
education. One great merit of the present System, so far as teaching is concerned,
lies in the elasticity wliich is produced by the variety and the numbers of
educating bodies.
2 N. Moore in St. Bartholomews Hospital Rep., London 1882, XVIII,
p. 333 — 358. — W. A. Delamotte: The royal Hospital of St. Bartholomews,
London 1846.
416 Der medicinisehe Unterricht in der neuesten Zeit.
Auch St. Georges-Hospital, das Middlesex- Hospital, das London-
Hospital, das Westminster-Hospital, das Charing-Cross-Hospital, St. Mary's
Hospital und Guy 's Hospital, werden zum medicinischen Unterricht
benutzt und dienen als ärztliche Schulen.1
Das Kings College und das Universitj College, welches übrigens
keineswegs mit der London University identisch ist, schliessen sich
zwar auch an Krankenhäuser an; aber sie unterscheiden sich von den
übrigen medicinischen Schulen dadurch, dass sie nicht isolirt sind,
sondern in einem organischen Zusammenhange mit juristischen, philo-
sophischen und naturwissenschaftlichen Facultäten, mit technischen In-
stituten u. a. m. stehen. Ausserdem existirt in London eine medicinisehe
Schule für Frauen, welche sich dem ärztlichen Beruf widmen wollen.
In den übrigen Städten Englands bestehen medicinisehe Unter-
richtsanstalten zu Birmingham, Bristol, Leeds, Liverpool, Sheffield,
Dublin, Belfast, Cork, Galway, Edinburg, Glasgow u. a. 0.; auch giebt
es Schulen, welche keine vollständige medicinisehe Ausbildung, sondern
nur L'nterricht in einzelnen Fächern gewähren, wie die West London
hospital preparatory school oder Cookes anatomische Schule. In den
brittischen Colonien, in Canada und in Brittisch-Indien befinden sich
gleichfalls eine Menge von medicinischen Lehranstalten, welche nach
englischem Muster eingerichtet sind; auch zu Valetta auf der Insel
Malta giebt es ein derartiges Institut.2
Die medicinischen Schulen Englands sind ebenso wie die Hospitäler,
zu welchen sie gehören, im Allgemeinen Privat-Unternehmungen. Der
Staat zahlt weder ihre Unterhaltungskosten, noch leistet er einen Zu-
schuss dazu; ebensowenig übt er irgend welchen Einfluss auf ihre
Organisation und Verwaltung oder auf den Unterricht aus, der dort
ertheilt wird. Dafür giebt der Besuch dieser Schulen auch keineswegs
das Recht zur Ausübung der ärztlichen Praxis. Die Lehrkörper der-
selben haben nicht die Befugniss, Prüfungen abzuhalten, welche eine
öffentliche Geltung besitzen, sondern sind genöthigt, zu diesem Zweck
ihre Schüler den ärztlichen Corporationen und Examinationsbehörden
zu überweisen, deren Zeugnisse und Diplome die Licenz zur Praxis ge-
währen.
Der private Charakter der medicinischen Schulen tritt namentlich
1 Benj. Golding: An historical aecount of St. Thomas Hospital, London
1819. — Erasmus Wilson: The history of the Middlesex Hospital, London 1845.
— W. E. Page: St. Georges Hospital, London 1866. — B. Golding: The origin,
plan and Operations of the Charing Cross Hospital, London 1867.
2 H. B. Hardwickk: Medical education and practise in all parts of the
world, London 1880.
England. — Nord- Amerika. 417
in der Einrichtung derselben, in ihrer Ausstattung mit Lehrmitteln,
bei der Auswahl des Lehrerpersonals u. a. m. hervor. Das entscheidende
Wort in diesen Angelegenheiten spricht das Curatorium, welches die
Aufsicht über das Hospital führt; ihm fällt die Aufgabe zu, die Ärzte
desselben und die Lehrer der Schule anzustellen. Da diese Curatorien
nicht oder doch nur zum geringsten Theile aus Fachmännern, sondern
hauptsächlich aus Laien bestehen, so liegt die Gefahr, dass Protektion
und Nepotismus bei der Besetzung der Stellen wirken, nicht gar fern,
umsomehr als dieselbe nicht, wie in Deutschland und Österreich, auf
Grund hervorragender wissenschaftlicher Leistungen, oder wie in an-
deren Ländern, durch Concurs erfolgt.
Die Besoldungen der Lehrer fliessen aus den Erträgnissen, welche
das Schulgeld liefert; nur in besonderen Eällen, wenn dasselbe wegen
Mangels an Schülern zu geringfügig ist oder wenn es gilt, eine be-
rühmte Lehrkraft zu gewinnen, bewilligen die Curatorien ausserordent-
liche Zuschüsse. Die Schulgelder sind in Folge dessen ziemlich be-
trächtlich. So kostet z. B. am St. Bartholomeus Hospital zu London
der Besuch eines Cursus über Physiologie 9 Guineen, über Materia
medica 6x/2 Guineen, über Botanik oder gerichtliche Medicin 4 Gui-
neen, am Thomas -Hospital die Theilnahme an den Sektionsübungen
während drei Monaten 4 Guineen; doch geschieht es nur ausnahms-
weise, dass der Studierende ein einzelnes Colleg belegt. Gewöhnlich
betheiligt er sich an sämmtlichen Vorlesungen und Demonstrationen,
welche der Studienplan der Schule empfiehlt, und zahlt dafür ein be-
stimmtes Pauschale, welches grösser oder geringer ist, je nachdem das
Geld sofort oder in verschiedenen Terminen erlegt wird, aber niemals
weniger als 125 Pfund Sterling, also 2500 Mark, für die gesammte
Studienzeit beträgt. Dazu kommen manchmal noch besondere Aus-
gaben für die Benutzung von Instrumenten, für die Leichen theile,
welche zum Studium dienen, u. a. m.
Die Ausstattung der einzelnen Schulen mit Lehrmitteln ist sehr
verschieden. Manche haben hohe luftige Hörsäle, zweckmässige Räume
für anatomische Secirübungen, gut eingerichtete physiologische und
chemische Laboratorien, naturwissenschaftliche Sammlungen, anatomi-
sche und pathologische Museen, Bibliotheken und klinische Institute
aller Art; Andere leiden daran Mangel und bieten in dieser Hinsicht
weniger, als die kleinste medicinische Facultät in Deutschland.
Der Lehrplan der medicinischen Schulen richtet sich nach den
Prüfungen, welchen sich die Studierenden später unterziehen wollen.
Im Allgemeinen werden die vorbereitenden und propädeutischen Fächer
nicht in dem gleichen Grade berücksichtigt, wie diejenigen Disciplinen,
Puschmann, Unterricht. 27
418 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
welche mit der Praxis unmittelbar zusammenhängen. Der Utilitarismus,
welcher das englische Volk beherrscht, kommt vielleicht nirgends so
unverhüllt zum Ausdruck, als in diesen Anstalten, welche lediglich
das Ziel verfolgen, für die ärztlichen Prüfungen vorzubereiten. Sie
gleichen darin den Instituten, welche in Deutschland für eine möglichst
rasche Ausstattung mit der für die Officiers- Aspiranten geforderten
Allgemeinbildung Sorge tragen und unter dem Namen der Fähnrichs-
pressen bekannt sind.
Dagegen sehen es die englischen Universitäten als ihre vornehmste
Aufgabe an, den Sinn für wissenschaftliche Bestrebungen zu beleben
und zu erhalten. Wer dort die medicinischen Studien treibt, hat die
Absicht, eine gründliche tiefe Ausbildung in den naturwissenschaftlichen
und vorbereitenden Disciplinen zu erwerben und akademische Grade
zu erlangen. Doch ist der Aufenthalt an der Universität kostspieliger
als an den medicinischen Schulen, weil er die Studienzeit verlängert
und durch das Zusammenleben mit reichen Jünglingen und die Theil-
nahme an den gemeinsamen Vergnügungen zu manchen Ausgaben
verleitet, zu denen an den Fachschulen keine Veranlassung ist. Die
Ärzte, welche die Universität besucht und dort promovirt haben, ge-
hören durch ihr Wissen und ihre gesellschaftliche Stellung zu der Elite
ihres Standes.
Die englischen Universitäten sind ebensowenig als die medicini-
schen Schulen Staatsanstalten. Ihre Unterhaltungskosten werden aus
den Schulgeldern, welches die Studierenden zahlen, und aus den Er-
trägnissen ihrer reichen Stiftungen bestritten. Die Verwaltung und
Leitung führen Senate, welche sich aus Männern von hervorragender
Lebensstellung und Professoren der Hochschule zusammensetzen.
Im Gegensatz zu den Universitäten des übrigen Europas sind die
englischen nicht blos Unterrichts-, sondern zugleich Erziehungsanstalten.
Ihrem Verbände gehören eine grosse Anzahl von Colleges und Halls
an, d. s. klosterähnliche Pensionate, in denen die Studierenden zusammen
wohnen und leben, Kost erhalten und in ihren Studien unterstützt
werden. Oxford besitzt 25, Cambridge 17 derartige Institute. Einzelne
von ihnen reichen bis ins Mittelalter zurück. Sie verdanken ihre Ent-
stehung frommen Vermächtnissen und Schenkungen und sind mit Geld-
mitteln reichlich ausgestattet.
Leider werden dieselben nicht immer in zweckmässiger und ge-
rechter Weise verwendet. Anstatt zur Hebung der Wissenschaft und
zur Unterstützung armer Studierender dienen sie hauptsächlich zu ein-
träglichen Sinecuren für den Master und die Fellows, d. h. den Vorstand
und die Beamten der Colleges. So bezieht der Master des Trinity
England. — Nord- Amerika. 419
College zu Cambridge 60 000 Mark und die 60 Fellows zwischen 5400
und 15 000 Mark jährlich, ohne dass sie dafür entsprechende Dienste
leisten. Würden diese Stellen ausnahmslos an solche Personen ver-
liehen, welche ihr Leben der wissenschaftlichen Forschung geweiht und
in dieser Thätigkeit bereits Erfolge errangen haben, so könnte man
dies vielleicht rechtfertigen; aber von den Bewerbern um die Fellow-
ship wird nur verlangt, dass sie einen akademischen Grad besitzen.
Die Protektion giebt bei der Besetzung den Ausschlag; dass dabei die
Geistlichkeit den Löwenantheil davon trägt, liegt in den englischen
Verhältnissen, welche dem Klerus der Hochkirche eine sociale Macht
zugestehen, wie sie die katholische Geistlichkeit in Tyrol vergeblich
anstrebt.
Ein Mitglied des Senats der Universität Cambridge klagte öffent-
lich darüber, dass die Stellen der Vorstände der dortigen Colleges nur
mit Geistlichen besetzt und die Fellowships an Leute vergeben werden,
welche nicht das Geringste für die Wissenschaft, die Universität oder
das College thun. x E. Benan sagt, dass eine kleine deutsche Univer-
sität mit ihren linkischen Professoren und hungernden Privatdocenten
für die Wissenschaft mehr leistet, als alle prunkenden Beichthümer
Oxfords.
Die meisten der Colleges zu Oxford und Cambridge befinden sich
in alterthümlichen, wegen ihrer Architektur und ihrer Kunstdenkmäler
sehenswerthen Gebäuden, welche mit ihren Thürmen und Bogen, ihren
Kapellen, Säulengängen und Befektorien an längst vergangene Zeiten
erinnern; aber auch der Geist, der in diesen Anstalten herrscht, ist
derjenige der Scholastik. Obwohl es ein britischer Mönch war, welcher
im 13. Jahrhundert die ersten mächtigen Angriffe dagegen richtete,
hat sich doch gerade in seiner Heimath jene mittelalterliche Welt-
anschauung bis heut erhalten. Das theologische Dogma beherrscht das
Unterrichtswesen und das gesammte geistige Leben des englischen
Volkes und hat ihm einen pietistischen Zug aufgedrückt, der zu seinem
politischen Freisinn und seinem rastlosen Haschen nach irdischen Be-
sitzthümern nicht recht passt.
Auch in der äusseren Erscheinung der Professoren und Studenten
prägt sich der theologische Charakter aus; wenn sie in ihren langen
schwarzen Talaren und barettähnlichen Kopfbedeckungen einherschreiten,
so glaubt man sich in jene Zeit versetzt, da die Mönche die Erziehung
der Jugend leiteten. Die Studierenden stehen unter einer strengen
Zucht; sie werden nicht wie junge Männer, die für eine gewisse Freiheit
1 A fevv brief rernarks on Cambridge University, London 1870.
27*
420 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
und Selbstständigkeit reif sind, sondern wie Schüler, die einer bestän-
digen Aufsicht bedürfen, behandelt.
Unter den Studenten befinden sich Personen von sehr verschie-
denem Alter; doch gilt im Allgemeinen das 16. Lebensjahr als untere
Altersgrenze. Nicht weniger unterscheiden sie sich in Bezug auf ihre
Kenntnisse; während Manche kaum die Elementarstufen der Allgemein-
bildung überwunden haben, giebt es Andere, welche durch ihre wissen-
schaftlichen Arbeiten bereits die Aufmerksamkeit der fachmännischen
Kreise erregen.
Verhältnissmässig gering ist die Zahl der Professuren, sie beträgt
in Oxford 48, in Cambridge sogar nur 37 in sämmtlichen Facul täten.
Doch giebt es ausserdem noch eine grosse Anzahl von Readers oder
Lecturers und Tutors, welche entweder an der Universität oder an
einem College thätig sind, Vorträge halten, Repetitionen veranstalten
und Privat-Lektionen geben. An manchen Hochschulen liegt, wie Ein-
heimische versichern, der Unterricht hauptsächlich in ihren Händen.
Wahrscheinlich betrifft dies nur die zur Allgemeinbildung gehörigen
Fächer; bei der Medicin und den Naturwissenschaften dürfte es sicher-
lich nicht der Fall sein.
Die Heilkunde findet übrigens an den englischen Universitäten
nur eine theilweise Vertretung. Früher gab es dafür fast überall nur
eine oder zwei Lehrkanzeln; erst in neuester Zeit hat man dieselben
vermehrt. Dabei wurden jedoch vorzugsweise die theoretischen Disci-
plinen, besonders die Anatomie und Physiologie, berücksichtigt.
Die Vervollständigung der ärztlichen Bildung durch den Unter-
richt in der praktischen Heilkunst erfolgt in den medicinischen Schulen,
welche an dem gleichen Ort oder in der Nähe desselben bestehen, und
der Universität einverleibt sind oder wenigstens Beziehungen zu der-
selben haben. In Cambridge bietet Addenbrooke's Hospital -Schule,
in Oxford das dortige Krankenhaus, in Durham die medicinische Schule
zu Newcastle-upon-Tyne Gelegenheit dazu, während in Manchester
Owens College einen Theü der dort i. J. 1880 gegründeten Universität
bildet. Ähnliche Beziehungen unterhalten die seit 1591 bestehende
Universität Dublin (Trinity College) und die Royal University of Ire-
land, welche 1881/83 an die Stelle der aufgelösten Queens University
getreten ist, zu dortigen medicinischen Schulen und Hospitälern.
Enger ist die Verbindung zwischen den medicinischen Facultäten
und Universitäten in Schottland. Die ältesten dortigen Universitäten
zu St. Andrews, Glasgow und Aberdeen entstanden unter dem Einfluss
des katholischen Klerus und wurden von ihm geleitet; ein medicinisches
Studium bestand nur in St. Andrews.
England, — Nord -Amerika. 421
Die Universität Edinburg begann als College und entwickelte sich
als städtische Unterrichtsanstalt nach dem Muster der Genfer Aka-
demie.1 Da die dortige ärztliche Zunft einen botanischen Garten an-
legte und medicinischen Unterricht ertheilte, so lag es nahe, den letz-
teren in den Verband der Hochschule zu ziehen. In Folge dessen
stellte der Stadtrath von Edinburg i. J. 1685 drei Professoren der
Medicin an der Universität an; es waren Ärzte der Stadt, denen man
zwar keine Besoldung gab, wohl aber Lehrsäle zur Verfügung stellte.
Zu den ersten Lehrern, die dort wirkten, gehörte Archibald Pitcaien.
Im J. 1770 bestanden an der dortigen medicinischen Facultät bereits
Lehrkanzeln für Anatomie, Institutionen, medicinische Praxis, Geburts-
hilfe, Chemie, Botanik, Materia medica und Naturgeschichte, sowie eine
anatomische Lehranstalt, ein botanischer Garten, ein chemisches Labo-
ratorium und eine Klinik. Im J. 1802 wurde eine chirurgische und
1825 eine geburtshilfliche Klinik eröffnet. Im J. 1816 schlug der
Stadtrath die Errichtung einer Professur für vergleichende Anatomie
und Veterinärchirurgie vor; aber der akademische Senat sprach sich
dagegen aus. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden diejenigen
Institute geschaffen, welche durch die Bedürfnisse des medicinischen
Unterrichts gefordert wurden. Ebenso war es in Glasgow und den
anderen beiden Hochschulen.
Neben den medicinischen Facultäten giebt es in Edinburg und
Glasgow noch ärztliche Fachschulen, welche unabhängig von der Uni-
versität sind.
Die University of London ist keine Universität, sondern ein In-
stitut, an welchem Prüfungen abgelegt und akademische Grade er-
worben werden.
Die Hochschulen in den überseeischen Ländern, welche unter der
brittischen Herrschaft stehen, sind nach dem Vorbild der englischen
organisirt.
Wer sich dem Studium der Heilkunde widmet, muss sich über
den Besitz einer gewissen Allgemeinbildung ausweisen. Wenn er eine
Universität bezieht, so unterwirft er sich zu diesem Zweck dem Matri-
culations-Examen ; besucht er eine medicinische Schule, so legt er die
Prüfung vor einer der zahlreichen Examinations-Commissionen ab,
welche gültige Zeugnisse darüber ausstellen dürfen. Die wissenschaft-
lichen Anforderungen derselben sind nicht überall die gleichen; doch
liegt ihnen ein allgemeines Schema zu Grunde, das mehr oder weniger
zum Ausdruck gelangt. Über den Grad des Wissens, welcher darin
1 A. Grant: The story of the university of Edinburgh, London 1884.
422 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
verlangt wird, gestatten die Vorschriften der London University ein
Urtheil; sie können als das höchste Maass von Kenntnissen gelten, die
von den Prüflingen vorausgesetzt werden.1
Als Prüfungsgegenstände werden angeführt: 1) Latein, 2) zwei der
folgenden Sprachen je nach der Wahl des Examinanden, nämlich Grie-
chisch, Französisch oder Deutsch oder auch anstatt einer dieser drei
Sprachen Arabisch oder Sanskrit, 3) englische Sprache und Geschichte
und moderne Geographie, 4) Mathematik, 5) Natural Philosoph}7, wie
in England die Physik genannt wird, und 6) Chemie. Im lateinischen
Examen werden Stellen aus Julius Caesar's de hello Gallico, Sallust,
den leichteren Reden Cicero's, aus Livius, Ovid, Virgil und Horaz
ins Englische übersetzt, im griechischen Xenophon, Homer und Eu-
ripides vorgelegt und Fragen aus der Grammatik und alten Geschichte
daran geknüpft. Die betreffenden Autoren und die einzelnen Abschnitte
aus ihren Schriften, welche Gegenstände der jedesmaligen Prüfung
bilden, werden jedoch schon ll/2 Jahre vorher öffentlich bekannt ge-
macht, so dass das „Einpauken" der Schüler darauf ermöglicht wird.
Ähnlich verhält es sich mit der Prüfung aus den übrigen Sprachen.
Das mathematische Examen befasst sich mit den Decimalbrüchen, dem
Ausziehen von Quadratwurzeln und einfachen Gleichungen, und in der
Geometrie mit den ersten Büchern Euklid's und ihrem Inhalt. Auch
die physikalischen Kenntnisse, welche gefordert werden, tragen einen
durchaus elementaren Charakter und beschränken sich auf die einfachen
Gesetze und Thatsachen der Mechanik, Hydrostatik, Pneumatik, Wärme
und Optik nebst den dabei gebräuchlichen Apparaten und Instrumenten.
In der chemischen Prüfung wird verlangt, dass der Candidat über die
wichtigsten chemischen Elemente und ihre Eigenschaften, die bekann-
teren chemischen Prozesse und die Zusammensetzung des Wassers, der
Luft und einzelner häufig vorkommender Körper Bescheid wisse. Dies
ist im Wesentlichen die Summe der Kenntnisse, welche in England
die Grundlage der fach wissenschaftlichen Studien bilden; doch ermässigt
sich dieselbe an manchen Orten insofern, als dort die Prüfung aus
einigen Fächern, z. B. aus den Sprachen, mit Ausnahme der lateinischen
und englischen, sowie aus der Physik und Chemie, nicht obligat, son-
dern dem freien Belieben des Examinanden anheimgestellt ist und
daher grösstentheils wegfällt.
Wenn die Allgemeinbildung der englischen Studierenden zurück-
steht hinter derjenigen der deutschen, so hat die englische Erziehung
doch andererseits den grossen Vorzug vor der deutschen, dass sie die
1 Calendar of the university of London 1883, p. 53 u. ff.
England. — Nord- Amerika. 423
Bedeutung der körperlichen Entwicklung in vollem Maasse würdigt.
Die englischen Schulen sorgen nicht blos für die geistige Ausbildung,
sondern auch für die körperliche Gesundheit und Tüchtigkeit ihrer
Zöglinge. In den Parkanlagen und Gärten, mit denen viele der Colleges
umgeben sind, verbringen sie einen grossen Theil des Tages; körperliche
Bewegungen verschiedener Art, Ballspiele, Kingübungen, Turnen, Reiten,
Schwimmen, Rudern u. a. m. erhalten ihre Gesundheit und stählen ihre
Kräfte. Die englischen Studierenden erscheinen daher im Allgemeinen
frischer, gesunder und kräftiger als die deutschen, welche, nachdem sie
am Gymnasium 32 Stunden in der Woche auf der Schulbank sitzen
mussten und in der übrigen Zeit mit Schulaufgaben und Privatstunden
geplagt wurden, müde und abgearbeitet die Universität beziehen und
häufig über Kurzsichtigkeit, Brustbeschwerden und andere Leiden klagen.
Der medicinische Studienplan, welcher der fachlichen Ausbildung
der meisten englischen Ärzte zu Grunde liegt, zeigt an den einzelnen
Lehranstalten manche Verschiedenheiten, lässt aber überall eine merk-
liche Bevorzugung der sogenannten praktischen Disciplinen erkennen.
Den vorbereitenden und theoretischen Wissenschaften, die zur Heil-
kunde gehören, wird, wenn man von einzelnen Universitäten absieht,
verhältnissmässig wenig Zeit und Arbeit gewidmet. Das umfangreiche
Gebiet der Physiologie, deren Unterricht an den deutschen Universitäten
ein ganzes Jahr hindurch wöchentlich 6 Stunden in Anspruch nimmt,
wird z. B. von den medicinischen Schulen Englands innerhalb 6 Mo-
naten in 3 — 4 Vorlesungen wöchentlich bewältigt; ähnlich ergeht es
den Naturwissenschaften und der Anatomie.
Die praktische Beschäftigung mit der letzteren, die anatomischen
Zergliederungen, finden nur in beschränktem Maasse statt, da die Leichen
zu hohen Preisen gekauft werden müssen. Die Händler, welche die
Lieferung derselben besorgten, griffen früher zuweilen zu dem schon
im Mittelalter beliebten Mittel, die Leichen von den Kirchhöfen zu
stehlen; einzelne dieser Resurrections-men begingen sogar Verbrechen
wenn es an dem erforderlichen Material fehlte, indem sie lebende Men-
schen umbrachten und ihre Leichname an die Anatomie verkauften.
Der Prozess der Mörder Hare und Burke in Edinburg, in welchen der
Anatom Robert Knox verwickelt wurde, enthüllte darüber entsetzliche
Einzelheiten.1 Erst i. J. 1832 wurde in England die Vornahme ana-
tomischer Secirübungen gestattet und gesetzlich festgestellt, unter
welchen Bedingungen sie geschehen dürfen. Neben den praktischen
1 H. Lonsdale: A sketsch of the life and writings of Rob. Knox, the ana-
tomist, London 1870.
424 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Zergliederungen dienen hauptsächlich Spiritus-Präparate und Wachs-
Modelle zum Studium der Anatomie.
Der Unterricht in den theoretischen Wissenschaften beschränkt
sich auf die Grundzüge und wichtigsten Thatsachen derselben, nament-
lich soweit dieselben Bedeutung für die praktische Ausübung der Heil-
kunst haben. Dieser Gesichtspunkt, nämlich die praktische Verwend-
barkeit der erworbenen Kenntnisse, ist der rothe Faden, der das ganze
Unterrichtssystem der medicinischen Schulen durchzieht. Die Lehrer
derselben fügen sich diesem utilitarischen Bedürfniss und heben in
ihren Vorträgen jederzeit die praktischen Beziehungen hervor; dadurch
erreichen sie, dass das Interesse der Schüler geweckt und erhöht wird.
In England wird der Medianer vom ersten Tage seiner Studienzeit
an daran gewöhnt, die Heilkunst als das Ziel zu betrachten, das ihm
gesteckt ist. Häufig betheiligt er sich schon im ersten Semester an
den Krankenbesuchen, welche die Ärzte im Hospital machen. Die
letzten Semester werden vollständig den klinischen Studien gewidmet,
indem die Studierenden in den Kliniken und den verschiedenen Ab-
theilungen des Krankenhauses oder bei der ambulatorischen Behandlung
in den poliklinischen Instituten Dienste leisten, die Diätzettel und Ke-
cepte niederschreiben, die Kranken- Journale führen, chirurgische Ver-
bände anlegen, bei Operationen assistiren u. dgl. m. Wenn sie auf
chirurgischen Abtheilungen beschäftigt werden, heissen sie Dressers,
wenn sie in Abtheilungen für innere Medicin verwendet werden, Clerks.
Wer an dem zur medicinischen Schule gehörigen Hospital keine der-
artige Stelle findet, erhält in den zahlreichen grösseren Krankenhäusern
des Landes Gelegenheit dazu. Die Studierenden sind nur verpflichtet,
21/2 Jahre an der medicinischen Schule zu bleiben; während der
übrigen Studienzeit dürfen sie in der erwähnten Weise an einem Ho-
spital arbeiten.
Zur Abnahme der ärztlichen Prüfungen und Ertheilung der Er-
laubniss zur Praxis sind nach der Medical Act von 1858 im Ganzen
19 Corporationen und Behörden berechtigt. Es sind dies die Genossen-
schaften der Ärzte, Chirurgen und Apotheker in London, Edinburg,
Glasgow und Dublin und die medicinischen Eacultäten der Universitäten.
Die wissenschaftlichen und finanziellen Bedingungen, welche dabei
gestellt werden, sind ebenso verschieden als die Titel und Würden, die
erworben werden. In welcher Weise dies zur Ausführung gebracht
wird, mögen folgende Beispiele erläutern. Die beiden vornehmsten
ärztlichen Vereine Londons, das Royal College of Physicians und das
Royal College of Surgeons, haben sich zu gemeinsamen Prüfungen ver-
einigt, nach deren glücklicher Absolvirung die Approbations- Diplome
England. — Nord- Amerika. 425
beider Corporationen verliehen werden. Um zu dieser Prüfung zuge-
lassen zu werden, muss der Candidat den Nachweis liefern, dass er
Unterricht in der Botanik, Chemie, Arzneimittellehre und Pharmacie
erhalten, im chemischen Laboratorium gearbeitet, zwölf Monate lang
an anatomischen Secirübungen Theil genommen, einen sechsmonatlichen
Cursus über normale Anatomie des Menschen, einen sechsmonatlichen
Cursus über Physiologie und Histologie und einen dreimonatlichen
praktischen Cursus über die beiden letzteren Gegenstände besucht, ferner
sechs Monate Vorlesungen über innere Medicin und über Chirurgie,
drei Monate über Geburtshilfe und Gynäkologie gehört, mindestens
20 Geburten gesehen, sowie eine systematische Anleitung zur Ausübung
der praktischen Heilkunde empfangen, z. B. die verschiedenen diagno-
stischen Methoden, die Untersuchung der erkrankten Gewebe und aus-
geschiedenen Produkte, den Gebrauch der dabei verwendeten Instru-
mente u. ä. m. erlernt, ausserdem einen dreimonatlichen Cursus über
pathologische Anatomie erhalten, während der klinischen Thätigkeit den
klinischen Sektionen beigewohnt, drei Monate hindurch Vorträge über
gerichtliche Medicin gehört, je neun Monate die medicinische und die
chirurgische Klinik, drei Monate die gynäkologische Klinik und über-
haupt 21/2 Jahre das Krankenhaus besucht hat, je sechs Monate als
Clerk und als Dresser thätig gewesen ist und die praktische Befähigung
zur Vornahme der Vaccination erworben hat.
Die Prüfung selbst zerfällt in mehrere Abschnitte, von denen
einige schon während der Studienzeit erledigt werden. Das erste Examen
betrifft die Chemie, Physik, Arzneimittellehre, Pharmacie und medici-
nische Botanik einerseits und die elementare Anatomie und Physiologie
andererseits. Es kann zur Erleichterung der Prüflinge in zwei Theile
geschieden werden, welche in verschiedene Zeiten fallen; doch soll das
ganze Examen, wenn möglich, innerhalb des ersten Studienjahres ab-
solvirt werden. Sechs Monate nachher darf der Candidat das zweite
Examen ablegen, welches nur die Anatomie und Physiologie umfasst,
diese beiden Wissenschaften aber weit eingehender behandelt als in der
ersten Prüfung. Beim dritten und letzten Examen bilden innere Me-
dicin, Therapeutik, pathologische Anatomie und allgemeine Pathologie,
ferner Chirurgie, chirurgische Anatomie und Pathologie, Geburtshilfe
und Gynäkologie die Prüfungsgegenstände; ausserdem sollen einige
Fragen aus der gerichtlichen Medicin und öffentlichen Gesundheits-
pflege damit verbunden werden. Auch dieses Examen kann, wie das
erste, in mehrere Abtheilungen zerlegt und zu verschiedenen Zeiten
absolvirt werden. Es darf jedoch nicht früher begonnen werden, als
zwei Jahre nach dem zweiten Examen. Der Candidat muss mindestens
426 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
21 Jahr alt sein und eine unbescholtene Vergangenheit haben. Die
Prüfungen sind theils mündlich, theils schriftlich, theils praktischer
Natur; zur letzteren Klasse gehören z. B. die Demonstrationen anato-
mischer Präparate, die Untersuchung einzelner Kranken, die Ausführung
chirurgischer Operationen an der Leiche u. a. m.
Der Candidat, welcher diese drei Prüfungen besteht, erhält die
Licenz des E. College of Physicians und das Diplom eines Member of
the E. College of Surgeons. 1 Damit ausgerüstet erscheint er dem
Publikum als ein in jeder Beziehung tüchtiger, in allen Theilen der
Heilkunst gleichmässig unterrichteter Arzt. Übrigens wird auch jede
dieser beiden Qualifikationen von der betreffenden Corporation für sich
verliehen; es erleichtert sich dann die Prüfung insofern, als entweder
auf die Anatomie und die chirurgischen Fächer oder auf Chemie,
Physik, Physiologie und innere Medicin weniger Gewicht gelegt wird.
Nach derselben Methode verfahren noch andere Corporationen,
welche entweder in Gemeinschaft mit anderen Examinations-Commis-
sionen oder für sich allein ärztliche Diplome verleihen; doch begnügen
sich einzelne Prüfungsbehörden mit geringeren Leistungen. So wird
z. B. vom Royal College of Physicians in Edinburg nur verlangt, dass
sich der Candidat 6 Monate an den anatomischen Secirübungen be-
theiligt, 3 Monate Physiologie gehört und 6 Monate die medicinische
und 3 Monate die chirurgische Klinik besucht habe. Das Examen
besteht aus zwei Abtheilungen; in der ersten wird Anatomie, Physio-
logie und Chemie, in der zweiten Arzneimittellehre und Pharmacie,
allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie, innere Medicin,
Chirurgie, Geburtshilfe, gerichtliche Medicin und klinische Medicin
geprüft.
Die Apotheker- Gesellschaften fordern von ihren Prüflingen, dass
sie sich neben dem Studium der Heilkunde noch besonders eingehend
mit den Naturwissenschaften, sowie mit Chemie und Pharmacie be-
schäftigt und in einer Apotheke oder einem pharmaceutischen Labora-
torium gearbeitet haben. Dass die Genossenschaften der Apotheker in
London und Dublin zu den ärztlichen Prüfungsbehörden gehören, er-
klärt sich daraus, dass dieselben in England den gleichen Studiengang
durchmachen, wie die Ärzte, und daher auch die Licenz zur Praxis
besitzen. Es mag sich diese Einrichtung wohl aus der von jeher be-
stehenden Gewohnheit des Volkes, in der Apotheke die erste ärztliche
Hilfe zu suchen, entwickelt haben.
1 Examhring Board in England by the R. College of Phys. of London and
the E. C. of Surg. of England, London 1884.
England. — Nord- Amerika. 427
Die Wahl der Examinationsbehörde steht dem Candidaten frei;
derselbe wird sich wohl vorzugsweise für diejenige entscheiden, welche
seiner Heimath oder dem Ort, an dem er seine medicinischen Studien
absolvirt hat, am nächsten gelegen ist, die bescheidensten Ansprüche
an sein Wissen und seinen Geldbeutel macht und beim Publikum in
gutem Ansehen steht. Der Engländer wird daher in den meisten Fällen
englische Diplome, der Schotte schottische und der Irländer irische zu
erlangen trachten; je mehr er deren erwirbt, desto mehr wächst die
Achtung, die seinen Kenntnissen gezollt wird, und das Vertrauen,
welches ihm die Kranken entgegen bringen.
Noch grössere Bedeutung gewinnt er, wenn er in den Kreis der
Mitglieder einer der privilegirten ärztlichen Corporationen aufgenommen
wird und den Titel eines Member oder Fellow derselben erhält. Diese
Würden werden entweder durch besondere Prüfungen erworben oder
auf Grund einer freien Wahl der Genossenschaften an geeignete Be-
werber verliehen. So muss sich z. B. Derjenige, welcher das Prädicat
eines Member of the R. College of Physicians in London zu erlangen
wünscht, einem Examen unterziehen, welches zwar die gleichen Disci-
plinen umfasst, wie die Prüfung pro licentia, aber tiefer in den Inhalt
derselben eindringt. Aus der Zahl der Members der Gesellschaft
werden die Fellows gewählt, welche die Geschäfte derselben leiten und
sie nach aussen vertreten.
Das R. College of Surgeons in London1 verleiht die Fellowship
theils an solche, welche sich durch eine Prüfung, in der die praktischen
Fächer, besonders die Chirurgie, in den Vordergrund treten, ein Recht
darauf erwerben, theils an diejenigen seiner Members, welche durch
ihre Leistungen und ihren Charakter dieser Auszeichnung würdig er-
scheinen. Die meisten übrigen ärztlichen Corporationen wählen ihre
Mitglieder, ohne daran die Bedingung eines Examens zu knüpfen; doch
bewahren sie sich auf diese Weise immerhin die Möglichkeit, nur
die tüchtigsten und ehrenwerthesten Vertreter ihres Standes an sich
zu ziehen.
Zur Verleihung akademischer Grade sind nur die Universitäten
berechtigt. Die Bedingungen, unter welchen dies geschieht, sind an
den einzelnen Orten verschieden. Doch gilt im Allgemeinen der Grund-
satz, dass die akademischen Prüfungsbehörden der wissenschaftlichen
Vorbildung des Candidaten eine grössere Beachtung schenken, als dies
bei den meisten ärztlichen Corporationen der Fall ist.
Manche Universitäten, wie Oxford und Dublin, verlangen sogar,
1 Calendar of the R. College of Surgeons of England, London 1884.
428 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
dass die Bewerber um medicinische Grade bereits in der philosophischen
Facultät eine akademische Würde erworben haben. Wer in Oxford
Bachelor of medicine (Baccalaureus medicinae) werden will, muss den
Grad des Bachelors of arts besitzen, welcher in England ungefähr
dieselbe Bedeutung hat, wie in Deutschland der Titel des Doktors der
Philosophie. Um diese Würde zu erlangen, ist ein dreijähriges philo-
sophisches Studium erforderlich. Daran schliesst sich dann das medi-
cinische Fachstudium, welches 4 Jahre dauert.
Die Prüfung, welche der Bewerber um den Grad eines Bachelors
of medicine ablegen muss, besteht aus zwei Abtheilungen, von denen
die erste über normale Anatomie des Menschen, vergleichende Anatomie,
Physiologie, Physik, Chemie und Botanik, die zweite über theoretische
und praktische Medicin, die Krankheiten der Weiber und Kinder,
Arzneimittellehre, Chirurgie, Geburtshilfe, gerichtliche Medicin und
Hygiene handelt; damit wird auch die Interpretation einiger Stellen
aus den Schriften der Mediciner des Alterthums, z. B. der Hippokratiker,
des Galen, Abetaeus oder Celsus oder eines dieser Autoren und eines
ärztlichen Schriftstellers der Neuzeit verbunden.
Der Grad des Bachelors of medicine berechtigt zur Ausübung der
ärztlichen Praxis. Auch kann nur Derjenige, welcher diesen Grad be-
sitzt, zum Doktor der Medicin promovirt werden; es geschieht dies
aber erst, nachdem er 3 Jahre die ärztliche Berufsthätigkeit ausgeübt
und eine medicinische Dissertation vorgelegt hat.
Ähnlich ist der Prüfungsmodus an anderen Hochschulen. Die
London University, deren Examina wegen ihrer Gründlichkeit einen
grossen Ruf gemessen, macht den Besitz eines philosophischen Grades
nicht zur Bedingung für die Erlangung medicinischer Würden, sondern
verlangt nur, dass sich der Candidat eine gewisse Summe naturwissen-
schaftlicher Kenntnisse erworben hat. Sie ertheilt das Diplom des
Bachelors of medicine, wenn der Bewerber folgende Prüfungen mit
Erfolg besteht: 1) das Preliminary scientific examen, in welchem aus
der Physik, anorganischen Chemie, Botanik und Zoologie geprüft wird;
2) die Intermediate examination, die ein Jahr nach der vorher erwähnten
Prüfung folgt und Anatomie, Physiologie nebst Histologie, Arzneimittel-
lehre, pharmaceutische und organische Chemie umfasst; 3) das Schluss-
Examen am Ende der Studienzeit, in welchem die allgemeine Patho-
logie und Therapie, Hygiene, Chirurgie, innere Medicin, Geburtshilfe
und gerichtliche Medicin die Prüfungsfächer bilden.
Diese Prüfungen sind ebenso wie diejenigen anderer Examinations-
behörden theils mündlich oder schriftlich, theils mit praktischen De-
monstrationen, Untersuchungen am Krankenbett u. dgl. m. verbunden;
England. — Nord- Amerika. 429
desgleichen wird, wie bei den privilegirten ärztlichen Corporationen,
von den Candidaten die Vorlage von Zeugnissen verlangt, in denen der
Besuch der Vorlesungen und Curse über gewisse Unterrichtsfächer, der
Kliniken und des Hospitals bestätigt wird.
Der Grad des Bachelors of medicine ist die Voraussetzung für die
Erwerbung der übrigen medicinischen Würden. Der Doktor-Titel wird
nach einer mehrjährigen ärztlichen Praxis und einem nochmaligen
Examen aus den verschiedenen Disciplinen der Heilkunde verliehen.
Auch die chirurgischen Grade werden nur solchen Ärzten gegeben,
welche bereits Bachelors der Medicin sind. Der Grad des Bachelors
der Chirurgie wird durch eine Prüfung erworben, die sich hauptsächlich
über chirurgische Anatomie und Pathologie, Instrumentenlehre und
Operationstechnik erstreckt. Zum Master in Surgery wird derjenige
Bachelor der Medicin und Chirurgie promovirt, welcher 2 — 5 Jahre
hindurch in den chirurgischen Kranken-Abtheilungen beschäftigt war
oder selbstständig chirurgische Praxis ausübte und dann abermals eine
Prüfung auf diesen Gebieten ablegt. Desgleichen stellen die meisten
anderen akademischen Examinationsbehörden bei der Ertheilung chirur-
gischer Grade die Bedingung, dass der Candidat bereits die Berechti-
gung zur ärztlichen Praxis überhaupt besitzt.
Nicht an jeder Universität können sämmtliche medicinische Grade
erworben werden. Oxford und Cambridge creiren z. B. nur Bachelors
und Doktoren der Medicin, während die Universität Dublin alle mög-
lichen Titel und Würden zur Auswahl anbietet. An den Hochschulen
zu Durham und St. Andrews besteht die Einrichtung, dass Ärzte, welche
15 Jahre in der Praxis thätig sind und das 40. Lebensjahr überschritten
haben, nach Ablegung eines verhältnissmässig sehr leichten Examens
gegen Zahlung von 50 Guineen zu Doktoren der Medicin promovirt
werden.
Eür die Bedeutung und Thätigkeit der verschiedenen Examinations-
behörden und den Studiengang der grossen Mehrzahl der englischen
Ärzte bietet die Statistik der Prüfungs-Ergebnisse einige Anhaltspunkte.
Darnach erhielten in den Jahren 1876 — 1880 an der Universität Ox-
ford 6, 10, 5, 6, 7 den Grad eines Bachelors der Medicin, und 1, 1,
0, 2, 2 denjenigen eines Doktors der Medicin, in Cambridge 13, 7, 9,
13, 16 den eines Bachelors und 5, 2, 6, 9, 7 eines Doktors der Me-
dicin, in Durham 2, 7, 9, 19, 13 den eines Bachelors und 2, 3, 1,
11, 10 den eines Doktors der Medicin und 0, 0, 2, 7, 4 den eines
Masters in Surgery, an der University of London 23, 22, 25, 34, 39
den eines Bachelors, 11, 8, 6, 12, 18 den eines Doktors der Medicin,
7, 3, 6, 6, 8 den eines Bachelors der Chirurgie, und 1, 1, 0, 0, 1 den
430 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
eines Masters in Surgery, während das K. College of Physicians in
London 90, 97, 68, 108, 79 Candidaten die Licenz zur Ausübung der
Praxis ertheilte, 25, 23, 20, 14, 18 zu Members und 12, 9, 13, 12, 12
zu Fellows wählte, das R. College of Surgeons of England 406, 393,
361, 420, 404 zu Mitgliedern und 29, 36, 21, 18, 30 zu Fellows
machte, und 20, 27, 27, 17, 19 die zahnärztliche Praxis gestattete, und
die Society of apothecaries of London 257, 206, 223, 216, 228 die
Licenz verlieh. An der Universität Edinburg wurden in dieser Zeit
86, 108, 115, 98, 134 zu Bachelors, 20, 34, 30, 33, 29 zu Doktoren
der Medicin und 80, 100, 106, 98, 129 zu Masters in Surgery, an der
Hochschule zu Glasgow 58, 62, 59, 57, 74 zu Bachelors, 23, 20, 11,
12, 16 zu Doktoren der Medicin und 54, 56, 57, 54, 66 zu Masters
der Chirurgie, in Aberdeen 41, 34, 57, 51, 48 zu Bachelors, 32, 46,
30, 25, 35 zu Doktoren der Medicin und 41, 34, 55, 48, 48 zu Masters
der Chirurgie, in St. Andrews 1, 2, 1, 0, 3 zu Bachelors der Medicin
und Masters der Chirurgie und 10, 10, 10, 10, 11 zu Doktoren der
Medicin promovirt. Das K. College of Physicians in Edinburg ertheilte
die Licenz an 114, 99, 114, 145, 137 und in Gemeinschaft mit der
dortigen chirurgischen Gesellschaft an 85, 116, 160, 156, 162 und mit
der ärztlichen Genossenschaft zu Glasgow an 22, 13, 21, 27, 30 und
machte 23, 18, 23, 19, 20 zu Members und 9, 11, 8, 6, 9 zu Fellows,
das R. College of Surgeons in Edinburg wählte 27, 31, 30, 41, 44 zu
Fellows, und die Faculty of Physicians and Surgeons in Glasgow ver-
lieh die Licenz an 63, 34, 55, 71, 73 und die Fellowship an 15, 23,
10, 3, 5. Die Universität Dublin gab die Licenz in der Medicin an
3, 2, 0, 2, 4, in der Chirurgie an 1, 2, 0, 0, 3, schuf 36, 44, 29, 29,
40 Bachelors und 20, 17, 14, 15, 10 Doktoren der Medicin, 20, 18,
23, 23, 28 Bachelors und 8, 5, 3, 3, 1 Masters der Chirurgie. Die
Queens (jetzt Royal) University in Ireland hatte 53, 44, 47, 55, 64
Doktoren der Medicin und 47, 35, 35, 34, 44 Masters der Chirurgie;
das Kings and Queens College of Physicians in Ireland ertheilte die
Licenz in der Geburtshilfe an 99, 89, 79, 76, 78 und in der gesummten
Heilkunde an 108, 86, 78, 88, 105 and wählte zu Fellows 5, 2, 0, 3,
4; das R. College of Surgeons in Ireland gab die Licenz in der Ge-
burtshilfe an 11, 8, 10, 9, 10 und in der Medicin überhaupt an 97,
99, 106, 122, 103 und machte zu Fellows 13, 5, 6, 15, 14; die Apo-
thecaries Hall in Ireland licentiirte 22, 24, 23, 34, 42. Aus dieser Zu-
sammenstellung ergiebt sich, dass das numerische Verhältniss der Ärzte,
welche an den Universitäten die Prüfungen ablegen, zu jenen, die von
den ärztlichen Corporationen die Licenz erwerben, in England ungefähr
1:8, in Schottland 4 : 3 und in Irland 1 : 2 beträgt.
England. — Nord- Amerika. 431
Zur Bezeichnung der verschiedenen ärztlichen Grade und Berech-
tigungen werden abgekürzte Formen gebraucht, wie dies bei Titeln in
England allgemein üblich ist. So bedeutet FßCP Fellow of the
Royal College of Physicians, MBCS Member of the Royal College
of Surgeons, L S A Licensed by the Society of Apothecaries, M B
Bachelor der Medicin, M C Master der Chirurgie, M D Doktor der
Medicin; dazu wird dann gewöhnlich der Name der Universität gesetzt,
von welcher dieser Grad erworben wurde.
Das englische Publikum kennt den Werth und die Bedeutung der
verschiedenen Arten von ärztlichen Diplomen, welche im Lande vor-
kommen, und wird durch die Unterschiede in der Höhe der ärztlichen
Honorare, die das Herkommen bestimmt, daran erinnert.
Wenn England in Bezug auf das medicinische Unterrichtswesen
den Fortschritten, welche dasselbe in anderen Staaten gemacht hat,
nicht immer gefolgt ist, so hat es dafür das grosse Verdienst, die erste
zweckentsprechende Sanitäts -Verwaltung geschaffen zu haben. Durch
die Public Health Act von 1875 wurde das ganze Land in Sanitäts-
distrikte eingetheilt, denen Lokalbehörden vorstehen. Sie haben dafür
zu sorgen, dass die Wasserleitungen, Canalisation, sanitäre Baupolizei,
die öffentlichen und privaten Aborte, die Reinlichkeit der Strassen, das
Trinkwasser und die Lebensmittel, die Kellerwohnungen, Gasthöfe,
Krankenhäuser, Friedhöfe, Fabrik- Anlagen u. a. m. den Grundsätzen
der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechen und wählen Sanitäts-
beamte, welche die Aufsicht darüber führen und die nothwendigen
Vorkehrungen veranlassen.
Wer sich um eine derartige Stelle bewirbt, muss zur Ausübung
der ärztlichen Praxis berechtigt sein und sich einer Prüfung unter-
zogen haben, welche über Klimatologie, Chemie, Geologie, Physik, Ge-
schichte und Geographie der Krankheiten, Medicinal-Statistik, Hygiene
und Sanitätsgesetzgebung handelt. Diese Organisation stützt sich auf
das Princip des Selfgovernment, welches in einem Lande, dessen Be-
völkerung seit Jahrhunderten an die Selbstverwaltung gewöhnt ist,
einen grossen National-Reichthum besitzt und für die Vortheile einer
rationellen Gesundheitspflege Verständniss hat, auf diesem Gebiet sicher-
lich hervorragende Erfolge erzielen wird.
Das medicinische Unterrichtswesen Englands wurde nicht blos in
den überseeischen Ländern, welche seinem Scepter unterworfen sind,
sondern überall, wo die englische Sprache und Cultur herrscht, nach-
geahmt. Auch in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika ist der
432 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
medicinische Unterricht vollständig Privatsache. Mehrere Ärzte an
einem Ort vereinigen sich zu dem Zweck, ärztlichen Unterricht zu er-
theilen, und stellen ihren Schülern Zeugnisse über ihre Kenntnisse aus.
Nach der Qualification der Lehrer und den Erfolgen ihres Unterrichts
fragt Niemand. Der Werth dieser Lehranstalten ist daher ungemein
verschieden.
Nach einer Zusammenstellung v. J. 1882 gab es in den Vereinigten
Staaten 114 medicinische Schulen mit 13 321 Studierenden.
Einzelne medicinische Schulen, wie das Newyork College of Phy-
sicians and Surgeons, welches 1791 gegründet wurde, das University
Medical-College, das seit 1841 besteht, und das Bellevue Hospital Col-
lege in Newyork, sowie das Massuchusetts Med. College in Boston und
Bush Medical College in Chicago geniessen mit Becht einen guten Ruf.
Neben ihnen giebt es aber auch Erscheinungen, welche in wissenschaft-
licher und moralischer Hinsicht eine tiefe Stufe einnehmen.
Bekannt ist der skandalöse Handel, den manche Eacultäten mit
ärztlichen Diplomen treiben. Eine Zeitung in Philadelphia, wo man
die Missbräuche an der Quelle studieren konnte, brachte darüber vor
einigen Jahren unglaubliche Mittheilungen. l Es ist daher kein Wunder,
wenn das amerikanische Doktor-Diplom in Europa mit Misstrauen be-
trachtet und zuweilen mit jenen liebenswürdigen, wenn auch bedeutungs-
losen Auszeichnungen gleichgestellt wird, die man beim Cotillon erhält.
Die Bildung der amerikanischen Ärzte steht im Allgemeinen
unter derjenigen ihrer europäischen Berufsgenossen. Der Präsident
Eliot erklärte in einem Bericht v. J. 1871/72: „Es ist entsetzlich, wenn
man die Unwissenheit und Unfähigkeit der meisten amerikanischen
Ärzte betrachtet, welche von amerikanischen Schulen graduirt sind; sie
vergiften, machen zum Krüppel, tödten auf jede Weise und sind nicht
im Stande, die Gesundheit und das Leben zu erhalten."2
Die tüchtigen Ärzte, welche man in Amerika findet, stammen zum
Theil aus Europa oder haben wenigstens dort ihre Studien gemacht.
Doch werden einzelne Fächer der praktischen Heilkunde, wie die Gy-
näkologie und die Zahnheilkunde, an den medicinischen Schulen Nord-
Amerikas mit grossem Erfolg betrieben. Auch macht sich jetzt überall
das erfreuliche Bestreben geltend, die vorhandenen Übelstände zu be-
seitigen und eine Besserung des medicinischen Unterrichtswesens nach
europäischem Muster herbeizuführen.
1 A Doctor-Factory making full-fledged physicians for seventy five Dollars
in der Philadelphia Record vom 28. Februar 1880.
2 Revue Internat, de l'enseignement, Paris 1882, IV, p. 550.
Frankreich. 433
Prankreich.
Während man in England und Amerika den Grundsatz befolgt,
dass sich der Staat nicht um Dinge kümmern soll, welche auch ohne
ihn gemacht werden können, huldigt man in Frankreich dem entgegen-
gesetzten Princip.
Hier fühlten sich die regierenden Gewalten stets berufen, Alles,
was geschieht, streng zu überwachen. Auch das medicinische Unter-
richtswesen und die ärztliche Praxis wurde von den Behörden durch
minutiöse Verordnungen geregelt und geleitet. Nur in den Tagen der
grossen Kevolution wich man von diesem Grundsatz ab und setzte an
die Stelle einer bisweilen in kleinliche Pedanterie ausartenden Bevor-
mundung eine schrankenlose Freiheit, die zur Anarchie führte.
Die Ärzte nahmen an den mächtigen politischen Bewegungen
jener Zeit lebhaften Antheil. 1 Der constituirenden National -Versamm-
lung gehörten 17 Ärzte an, unter ihnen Guillotin, der Erfinder der
nach ihm genannten Guillotine, übrigens ein Politiker von sehr ge-
mässigten Ansichten, ferner J. G. Gallot, P. Blin, Salles, Beauvais
de Preaux u. A. Im gesetzgebenden Körper von 1791 befanden sich
22 Ärzte, darunter der berühmte Chirurg Tenon; im Convent von 1792
sassen 39 Ärzte, von denen Baraillon, Panvilliers, R. EschassEriaux,
Ant. Fourcroy, M. A. Baudot, der Geburtshelfer Levasseur, E. La-
coste, und Marat am meisten bekannt wurden.
Als die Männer des Schreckens ihre unheimliche Thätigkeit be-
gannen und grauenhafte Orgien der Mordlust feierten, da hatte auch
der ärztliche Stand zahlreiche Opfer zu beklagen; 104 seiner Mitglieder
wurden hingerichtet und 328 Ärzte und 540 Chirurgen aus Frankreich
verbannt. Pierre Desault wurde, während er die Klinik im Hotel
Dieu abhielt, aus der Mitte seiner Schüler herausgeholt und ins Ge-
fängniss geworfen. Doch gelang es den Bemühungen seines Freundes
Fourcroy, welche in der Presse eine wirksame Unterstützung fanden,
Desault bald wieder in Freiheit zu setzen. Nicht so glücklich war
der grosse Chemiker Lavoisier. Er starb auf dem Schaffot, obwohl
Halle mit ergreifenden Worten an seine unvergänglichen Verdienste
um die Wissenschaft erinnert hatte. Noits n'avons pas besoin des sa-
vants, antwortete der Gerichtspräsident und Hess das Todesurtheil voll-
ziehen, welches Frankreich einen seiner grössten Bürger raubte.
Man wollte keine Gelehrten und brauchte die Wissenschaft nicht.
1 C. Saucerotte: Les medecins pendant la revolution, Paris 1887.
Puschmann, Uuterricht. 28
434 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Der politische Fanatismus erstickte die edleren Kegungen der Mensch-
lichkeit und tödtete mit seiner sengenden Gluth alle höheren geistigen
Bestrebungen.
Das medicinische Unterrichts wesen war der Reformen dringend
bedürftig.1 Yon den 18 medicinischen Schulen, welche Frankreich
beim Ausbruch der Revolution besass, war kaum die Hälfte ausserhalb
der Stadt bekannt, wo sie ihren Sitz hatte, und nur diejenigen zu Paris
und Montpellier genossen einen bedeutenden Ruf. Die Einrichtungen
der medicinischen Facul täten Frankreichs standen hinter denjenigen
anderer Länder zurück, und die französischen Hospitäler waren wegen
ihrer schlechten hygienischen Zustände geradezu berüchtigt.
Das Parlament beschäftigte sich mit diesen Fragen. Ein Gesetz-
entwurf, welcher demselben i. J. 1790 vorgelegt wurde, enthielt manche
beachtenswerthe Vorschläge zur Reorganisation des medicinischen Unter-
richts; so wurde der ausschliessliche Gebrauch der französischen Sprache
beim Unterricht und bei den Prüfungen, die Freiheit der Lehre, die
Unentgeltlichkeit der Vorlesungen, die Beseitigung der Fixirung einer
bestimmten Studienzeit, die Besetzung der Professuren durch Concurs
u. a. m. verlangt. Anstatt der 18 medicinischen Schulen sollten nur
4 medicinische Facultäten in Paris, Montpellier, Bordeaux und Strass-
burg bestehen, jede derselben jedoch mit wenigstens 12 Lehrkanzeln
ausgestattet und daneben in jedem Departement eine niedere ärztliche
Schule errichtet werden, die mit einem Hospital verbunden sein musste.2
Leider kamen diese Anträge nicht zur Berathung.
Als der Radikalismus zur Herrschaft gelangte, begnügte man sich
nicht mehr mit der Verbesserung der bestehenden Einrichtungen, son-
dern forderte ihre gänzliche Beseitigung. An die Stelle der Reform-
bewegung war die Revolution getreten, qui vint tont renverser depuis le
tröne du roi de France jusqu'd Vhumble chaire du professeur et la ban-
quette de Vetudiant, wie Sabatier (a. a. 0.) schreibt. Durch das Gesetz
vom 18. August 1792 wurden alle Universitäten, Facultäten und me-
dicinischen Schulen aufgehoben; ein Ersatz dafür wurde zunächst gar
nicht geschaffen.
Wie in der Theologie, Moral und anderen Dingen wollte man auch
in der Heilkunde zum Naturzustande der Menschheit zurückkehren.
Man hoffte dadurch Verhältnisse herbeizuführen, wie zu den Zeiten der
1 L. Liard in der Revue internat. de l'enseignement, Paris 1887, T. XIV,
p. 409 u. ff.
2 Dkeifus-Brisau in der Revue internationale de l'enseignement, Paris 1881,
II, 555 u. ff.
Frankreich. 435
alten griechischen Philosophen; aber man öffnete nur dem Aberglauben
und der schamlosen Charlatanerie die Thore.
Die Fehler und Mängel der wissenschaftlichen Medicin wurden in
unsinniger Weise übertrieben und zu schweren AnMagen gegen ihre
Vertreter benutzt. Im Convent verstieg sich ein Redner zu der Äusse-
rung, dass man mit den Ärzten ebenso verfahren müsse, wie mit den
Geistlichen; denn sie seien sämmtlich nur Gaukler.1
Die Kriege, welche die Republik führte, lehrten aber bald, wie
nothwendig und nützlich die Ärzte sind. Als dem Convent mitgetheilt
wurde, dass die Armee binnen 18 Monaten ungefähr 600 Ärzte ver-
loren habe, und dass die Truppen in den östlichen Pyrenäen der ärzt-
lichen Hilfe fast gänzlich entbehrten, beschloss man die Wiedereröffnung-
einiger medicinischer Schulen. Durch das Gesetz vom 14. Frimaire
d. J. III (4. December 1794) wurden in Paris, Montpellier und Strass-
burg drei medicinische TJnterriehtsan stalten errichtet, die man Ecoles
de sante nannte. Sie waren zunächst nur bestimmt, ä former les offi-
ciers de sante pour le service des höpitaux et specialement des höpitaux
militaires et de marine. Jeder Distrikt des Landes schickte einen Zög-
ling in diese militärärztlichen Schulen, der dort auf Kosten des Staates
3 Jahre hindurch Medicin studierte. Paris erhielt 300, Montpellier
150 und Strassburg 100 Schüler.
Das Bedürfniss nach unterrichteten Heilkünstlern führte aber bald
dahin, dass hier auch Studierende aus dem Civilstande, welche nicht
vom Staat unterstützt wurden, zum Unterricht zugelassen wurden. Im
J. 1796 wurde die medicinische Schule zu Paris neu organisirt und
mit folgenden 12 Lehrkanzeln ausgestattet: 1) für Anatomie und Phy-
siologie, 2) medicinische Chemie und Pharmacie, 3) medicinische Physik
und Hygiene, 4) chirurgische Pathologie, 5) Pathologie der inneren
Krankheiten, 6) medicinische Naturgeschichte, 7) chirurgische Operations-
kunst, 8) chirurgische Klinik, 9) Klinik der inneren Krankheiten,
10) Clinique de perfectionnement, 11) Geburtshilfe, 12) Geschichte der
Medicin und gerichtliche Medicin. Ausserdem hielt der Direktor der
Anstalt Vorlesungen „über die Hippokratische Behandlungsmethode der
akuten Krankheiten" und „über seltene Krankheitsfälle, aus der Ge-
schichte und der Praxis zusammengestellt", während der Bibliothekar
einen bibliographischen Cursus gab und eine kritische Übersicht der
medicinischen Literatur lieferte.2
1 P. Frank a. a. 0. VI, 1. Abth., S. 221.
2 A. de Beauchamp: Recueil des lois et reglements sur l'enseignement su-
perieur, Paris 1880 — 85.
28*
436 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Unter den Lehrern befanden sich Sabatiee, Chopabt, Pinel,
Coevisaet, Baudeloque, Lassus und P. A. 0. Mahon, welcher die
Professur der Geschichte der Medicin bekleidete. Im J. 1799 wurde
die Errichtung zweier neuer Lehrkanzeln beantragt, von denen die eine
für die pathologische Anatomie, die andere für Philosophie medicale
bestimmt war; doch wurden diese Vorschläge nicht verwirklicht.
Mit der Anstalt wurde 1798 eine Ecole pratique verbunden, in
welcher die Schüler Gelegenheit zu Leichen -Zergliederungen erhielten.
Kliniken verschiedener Art sorgten für die praktische Ausbildung am
Krankenbett; für manche Krankheiten, z. B. für die geschlechtlichen
Leiden, wurden besondere klinische Anstalten gegründet.
Der Unterricht war unentgeltlich und nach dem Gesetz vom
22. Ventöse d. J. X Jedem zugänglich; doch musste man den Besuch
der Kliniken aus Gründen der Schicklichkeit auf die Studierenden der
Medicin beschränken. l Die medicinische Schule zu Paris hob sich unter
diesen Umständen rasch und zählte i. J. 1799 bereits 1500 Zöglinge.
Am Schluss der Studien folgten Prüfungen aus den wichtigsten
Unterrichtsgegenständen; doch waren dieselben keineswegs obligat.
Neben den Ärzten, welche an den Schulen zu Paris, Montpellier und
Strassburg eine sj^stematische Ausbildung genossen hatten, gab es eine
grosse Menge von Kurpfuschern. Jeder durfte die ärztliche Praxis
ausüben; Niemand bedurfte dazu einer Erlaubniss oder eines Diploms.
Die Zustände, welche sich daraus entwickelten, hat Foueceoy, der
damals an der Spitze des Unterrichtswesens stand, in seinem Bericht
vom 7. Germinal d. J. XI mit scharfen Worten gegeisselt. „La vie
des citoyens", sagte er, „est entre les mains d'hommes avides autant
qu'ignorants. L'empirismc le plus dangereux, le charlatanisme le plus
dehonte, abusent partout de la credulite et de la bonne foi. Aucune preuve
de savoir et dliabilite n'est exigee. — Les campagnes et les villes sont
egalement infectees de charlatans qui distribuent les poisons et la mort
avee une audace que les anciennes lois ne peuvent plus reprimer. Les
pratiques les plus meurtrieres ont pris la place des principes de Vart des
accouchements. Des rebouteurs et des mcges impudents abusent du titrc
d'officier de sante pour couvrir leur ignorance et leur avidite."'2
Das Gesetz vom 19. Ventöse d. J. XI (10. März 1803) beseitigte
diese Übelstände, indem es die Erlaubniss zur ärztlichen Praxis von
der erfolgreichen Ablegung der Prüfungen, welche zu diesem Zweck
1 E. Beaussire: La liberte d'enseignement et l'universite sous la troisieme
republique, Paris 1884.
2 Kene Eoland: Les medecins et la loi du 19 ventöse an XI, Paris 1888.
Frankreich. 437
eingeführt wurden, abhängig machte. Die letzteren umtässten die
Anatomie und Physiologie, Pathologie und Nosologie, Materia medica,
Pharmacie und Chemie, Hygiene und gerichtliche Medicin, Geburtshilfe,
Chirurgie und innere Medicin. In der Anatomie wurde die Anfertigung
eines Präparats verlangt; die Prüfung in der praktischen Heilkunde
geschah am Krankenbett.
Gleichzeitig wurden zwei Klassen von Ärzten geschaffen, nämlich
Doktoren der Medicin und Chirurgie und Officiers de sante. Wer das
Doktor-Diplom anstrebte, musste das Lycee absolvirt haben, bevor er
sich dem Studium der Medicin widmete, und auf das letztere 4 Jahre
verwenden.
Die Officiers de sante bildeten eine Kategorie von niederen Ärzten;
sie waren nicht verpflichtet, einen Nachweis über ihre Allgemeinbildung
zu bringen, und erhielten die Erlaubniss zur ärztlichen Praxis schon
nach einem dreijährigen Studium an der medicinischen Schule. Doch
wurde ihnen das letztere auch gänzlich erlassen, und es genügte, wenn
sie 5 Jahre in einem Hospital beschäftigt gewesen waren, oder 6 Jahre
bei einem Doktor gedient hatten. Das Examen, welches sie ablegten,
betraf die Anatomie und die Elemente der Medicin, Arzneimittellehre
und Chirurgie und fand ausschliesslich in französischer Sprache statt.
Die Doktoren durften sich überall niederlassen; die Officiers de
sante nur auf dem Lande und in dem Departement, für welches sie
die Licenz erhalten hatten, und wurden genöthigt, in schwierigen Krank-
heitsfällen und bei grösseren Operationen einen Doktor zu Kath zu
ziehen. Das Parlaments -Mitglied Carret vertheidigte die Einführung
dieser Landärzte mit den Worten: „Les habitants des campagnes ayant
des moeurs plus pures que cenx des villes, ont des maladies plus simples
qui exigent par ce motif moins d'instruction et moins d'apprrtsu.
Die Officiers de sante wurden hauptsächlich an den Hospitalschulen
gebildet, welche in verschiedenen Städten Frankreichs entstanden und
unter dem Namen Ecoles secondaires eine feste Organisation erhielten.
Auch die niedere Kategorie der Apotheker empfing hier den notwen-
digen Unterricht, während für die Ausbildung der Pharmaceuten erster
Klasse drei besondere Lehranstalten in Paris, Montpellier und Strass-
burg errichtet wurden, die sich in mancher Hinsicht an die dortigen
medicinischen Schulen anschlössen.
Die letzteren wurden i. J. 1808 wieder zu medicinischen Facul-
täten erhoben und der Universite de France einverleibt. Diese Schöpfung
Napoleons war keine Universität in unserem Sinne, sondern der In-
begriff aller Unterrichts- Anstalten und Unterrichts-Behürden des Landes.
Sie bedeutete ungefähr Das, was man jetzt als Unterrichts-Verwaltung
438 Der medizinische Unterrieht in der neuesten Zeit.
bezeichnet. An der Spitze der Universite de France stand ein Gross-
meister, dessen Würde später in diejenige des Unterrichts -Ministers
überging oder verwandelt wurde. Ihm wurde ein Studienrath als be-
rathende Behörde an die Seite gestellt, während eine grössere Anzahl
von General -Inspektoren die einzelnen Lehranstalten überwachte und
controllirte.
Das ganze Land wurde in 26 Universitäts-Bezirke eingetheilt; jeder
derselben bildete den Sitz einer Akademie (höheren Unterrichtsanstalt)
mit einem Rector, Studienrath und Inspektoren. Diese strenge gleich-
massige Gliederung des Unterrichtswesens hatte den grossen Vortheil,
dass sie eine Ausgleichung der Yerschiedenheiten in dem Bildungsniveau
der einzelnen Theile Frankreichs anstrebte und die Grundsätze der
Ordnung und Gerechtigkeit überall zur Geltung brachte. Sie erhielt
sich auch nach dem Sturz des Kaisertimms und erfuhr im Verlauf
der Zeit nur die durch die Bedürfnisse der Cultur und des Staates ge-
botenen Verbesserungen.
Jede Facultät verlieh fortan drei akademische Würden, nämlich
das Baccalaureat, die Licenz und das Doktorat. Nur die beiden letzten
Grade gaben, wenn sie in der Medicin erworben wurden, das Recht
zur Ausübung der ärztlichen Praxis. Die Hospitalschulen durften nur
den Titel eines Officier de sante verleihen.
Die Lehrkanzeln wurden durch Concurs besetzt; doch wurde i. J.
1810 angeordnet, dass bei Bewerbern von anerkannten literarischen
und wissenschaftlichen Verdiensten davon abgesehen werde, sie der vor-
geschriebenen Prüfung zu unterziehen oder zur Vorlage einer Thesis
zu veranlassen.
Die feindliche Haltung, welche die medicinische Facultät in Paris
später gegen Ludwig XVIII. beobachtete, und die lärmenden Scenen,
zu denen es in Folge dessen kam, führten dazu, dass sie i. J. 1822
geschlossen wurde. Bei ihrer Wiedereröffnung, die im folgenden Jahre
geschah, erhielt sie eine neue Organisation. Ihr Lehrkörper bestand
aus 23 ordentlichen Professoren und 36 Agreges, von denen 24 en
exercise und 12 en stage waren. Im J. 1824 wurde das Unterrichts-
Ministerium errichtet, welchem die medicinischen Facultäten und Schulen
untergeordnet wurden.
Während der nächsten 50 Jahre wurde die Organisation des me-
dicinischen Unterrichts in Frankreich nur wenig verändert. Erst unter
der dritten Republik hat man begonnen, dieselbe weiter auszubauen
und zu vervollständigen.
Gegenwärtig besitzt Frankreich 6 medicinische Facultäten in Paris,
Montpellier, Nancy, welche 1872 errichtet wurde, nachdem die Universität
Frankreich. 439
Strassburg mit dem Elsass an Deutschland abgetreten worden war, in
Lille, Bordeaux und Lyon (seit 1877), wo früher niedere ärztliche
Schulen existirten. Neben ihnen giebt es 18 Ecoles preparatoires der
Medicin, wie die früheren Ecoles secondaires jetzt heissen. Sie befinden
sich in Marseille, Nantes, Toulouse, Amiens, Angers, Arras, Besancon,
Caen, Clermont, Dijon, Grenoble, Limoges, Poitiers, Beims, Bennes,
Bouen, Tours und Alger und sind theils de plein exercise, d. h. sie
bieten Gelegenheit zur vollständigen Absolvirung des medicinischen
Studiums, theils nur eigentliche Vorbereitungsschulen. Sie unterscheiden
sich durch ihre Ausstattung mit Lehrmitteln und Lehrkanzeln. Die
Ecoles de plein exercise haben wenigstens 17, die übrigen 12 ordent-
liche Professuren. Zwischen den ersteren und den medicinischen Fa-
cultäten besteht der einzige Unterschied, dass jene nicht das Becht
haben, das Doktorat der Heilkunde zu verleihen. Ausserdem sind die
Eacultäten Staatsanstalten, während die übrigen medicinischen Schulen
einen municipalen Charakter tragen. —
Die Studierenden der Heilkunde, welche promoviren wollen, be-
suchen die Facultäten oder die Ecoles de plein exercise, dürfen aber
auch einen Theil ihrer Studienzeit an den Ecoles preparatoires zubringen ;
ebenso werden auch die Candidaten für das Officiat de sante sowohl
an den Facultäten als an den übrigen medicinischen Unterrichtsanstalten
zugelassen. Das medicinische Doktor -Diplom kann nur an den Fa-
cultäten, das Officiat de sante dagegen an jeder medicinischen Schule
erworben werden.
Die Ecoles preparatoires werden verhältnissmässig wenig besucht.
Yon den 21 Anstalten dieser Art, welche i. J. 1845 bestanden, hatten
damals 18 weniger als 40 Schüler, 6 nicht einmal 25 und die Schule
zu Beims sogar nur 15 Studierende. Dasselbe Schicksal haben die
medicinischen Facultäten in den Provinzen; denn Paris centralisirt
nahezu das gesammte höhere Unterrichts wesen. Im J. 1877 gab es
in Frankreich 4447 Studenten der Medicin, von denen sich 3835 in
Paris befanden, während die übrigen medicinischen Facultäten zusammen
nicht mehr als 612 Studierende zählten. Durch die Erhebung mehrerer
Vorbereitungsschulen zu medicinischen Facultäten, welche in den letzten
Jahren erfolgte, wurde das Verhältniss einigermassen verändert. Im
J. 1881/82 hatte Paris 2413, Bordeaux 155, Lyon 165, Montpellier 154,
Nancy 83 und Lille 54 Studierende der Medicin. Ausserdem besuchten
756 Candidaten für das Officiat de sante die Vorlesungen der ver-
schiedenen medicinischen Facultäten. An den übrigen 18 medicinischen
Unterrichtsanstalten hatte man im Ganzen 632 Schüler, von denen sich
306 für das Doktorat und 326 für das Officiat de sante vorbereiteten.
440 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Die Gesammtzahl der Studierenden der Heilkunde beider Kategorien
betrug also damals 4412, von denen 3330 das Doktordiplom erringen,
1082 Officiers de sante werden wollten.
Schon 1826 wurde im Parlament die Aufhebung der niederen
Klasse von Ärzten beantragt; aber ohne Erfolg. Im J. 1847 petitio-
nirten die Doktoren der Heilkunde abermals um Beseitigung der Officiers
de sante, während die letzteren eine Erweiterung ihrer Kechte ver-
langten. Wiederum wurde im J. 1864 ein Versuch gemacht, das In-
stitut der Officiers de sante abzuschaffen: doch fand es einen Vertheidiger
an Bonjean, welcher erklärte: ,,A des malades simples et pauvres il
faut un medicin pauvre et simple comme enx qui puisse comprendre le
langage, le besoin de ses modestes clients, qui ne dans une condition peu
f'levee, Habitue des son enfance a la vie sobre des chaumieres, ayant conquis
son grade ä peu de frais, puisse se contenter d'une modique retribution.
Uofficier de sante est dans les meilleures conditions pour remplir cette
mission de modeste devouement; il se fera d'autant plus aisement le con-
fident, le conseiller, le consolateur du pauvre qu.il en est presque le com-
pagnon," Übrigens vermindert sich die Zahl der Officiers de sante in
Frankreich von Jahr zu Jahr. Im J. 1847 gab es deren 7456, im
J. 1872 nur noch 4653, während die Menge der Doktoren in der
gleichen Zeit von 10 643 auf 10 766 gestiegen ist.
Die Aufhebung des Instituts der Officiers de sante erscheint somit
nur als eine Frage der Zeit. An der Spitze aller medicinischen Schulen
steht die medicinische Facultät zu Paris; sie hat die reichhaltigsten
Lehrmittel und die besten Studien-Einrichtungen. Ihr Lehrkörper be-
steht gegenwärtig aus 33 ordentlichen Professoren (Titulaires) und einer
grossen Anzahl von Agreges, welche ungefähr unsern ausserordentlichen
Professoren entsprechen. Von den ordentlichen Professoren vertritt 1 die
Anatomie, 1 die Histologie, 1 die Physiologie, 1 die medicinische Chemie,
1 die medicinische Naturgeschichte, 1 die medicinische Physik, 1 die
Pharmakologie, 1 die allgemeine Pathologie und Therapie, 1 die Arznei-
mittellehre, 1 die interne und 2 die externe Pathologie, 1 die patho-
logische Anatomie, 1 die vergleichende und experimentelle Pathologie,
1 die Geburtshilfe und Gynäkologie, 1 die chirurgische Operationslehre,
1 die Hygiene, 1 die gerichtliche Medicin und 1 die Geschichte der
Medicin, während 4 die chirurgischen, 4 die internen Kliniken, 1 die
gynäkologische Klinik, 1 die Klinik der Kinderkrankheiten, 1 diejenige
für Geschlechtskrankheiten, 1 die ophthalmiatrische, 1 die psychiatrische
Klinik und 1 diejenige für Nervenleiden leitet. Sie beziehen je 15 000 Fr.
jährliche Besoldung und werden auf Vorschlag der Facultät aus der
Zahl der Agreges ernannt.
Frankreich. 441
Die letzteren unterstützen und vertreten die Ordinarien beim Unter-
richt und bei den Prüfungen und erhalten, wenn sie einen Lehrauftrag
haben, 6000 Fr. jährlichen Gehalt. Sie werden in 3 Klassen geschieden,
nämlich in die Agreges stagiaires, en exercise und libres. In den ersten
drei Jahren nach ihrer Ernennung haben sie weder Rechte noch
Pflichten und werden stagiaires genannt. Hierauf rücken sie in die
Reihe der activen Agreges vor, deren Zahl derjenigen der Ordinarien
gleich ist; als Agreges en exercise sind sie zu Vorlesungen verpflichtet,
wirken als Examinatoren und werden besoldet. Nachdem sie in dieser
Eigenschaft 6 Jahre oder auch länger thätig gewesen sind, treten sie
zu den Agreges libres über, welche weder zum Unterricht noch zu
sonstigen Dienstleistungen genöthigt werden, keinen Gehalt beziehen
und nur den Vortheil haben, dass sie gleich den übrigen Agreges zu
Ordinarien vorgeschlagen werden können.
Die Beförderung zu Agreges erfolgt auf Grund eines Concurses
mehrerer Bewerber, der aber nur in Paris stattfindet. Früher war der-
selbe auch bei der Besetzung der Ordinariate üblich; seit 1852 ist er
jedoch auf die Wahl der Agreges und andere derartige Stellen be-
schränkt. Am Concurs darf sich jeder promovirte Arzt betheiligen,
welcher der französischen Nation angehört und das 25. Lebensjahr
zurückgelegt hat. Zu diesem Zweck überreicht er einer aus Professoren
und andern Gelehrten zusammengesetzten Commission seine wissen-
schaftlichen Arbeiten, liefert unter Clausur und ohne Benutzung
literarischer Hilfsmittel eine schriftliche Arbeit über eine Frage, die
ihm vorgelegt wird, und hält einen Vortrag, dessen Thema er drei
Stunden vorher erhält. Die Commission trifft hierauf nach den Leistungen
der Candidaten eine Auswahl unter denselben, sodass die Zahl der Be-
werber um jede freie Stelle nicht mehr als drei beträgt. Dieselben
werden nun nochmals einer Prüfung unterworfen, die aus praktischen
Untersuchungen, aus einer Vorlesung und einer Abhandlung über ein
gegebenes Thema besteht, welches binnen einer bestimmten Zeit fertig
gestellt werden muss.
Die Bewerbung um das Agregat geschieht nicht für ein einzelnes
Fach, sondern für eine bestimmte Summe von Disciplinen. Die Agreges
scheiden sich demgemäss in 4 Abtheilungen; die erste umfasst die
Anatomie und Physiologie, die zweite die Naturwissenschaften, Physik,
Chemie und Pharmakologie, die dritte die Pathologie und Therapie,
interne Medicin und Staatsarzneikunde, und die vierte die chirurgischen
Fächer nebst der Geburtshilfe. Im J. 1884 bestand der Lehrkörper
der medicinischen Facultät zu Paris aus 120, zu Lyon aus 64, zu
Bordeaux aus 50, zu Douai-Lille aus 45, zu Montpellier aus 43 und zu
442 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Nancy aus 41 Professoren. Die Facultät zu Lyon hatte nicht weniger
als 25 Ordinarien.
Es ergiebt sich daraus, dass die medicinischen Schulen Frankreichs
mit Lehrkräften reichlich ausgestattet sind, und dass die Regierung für
diesen Zweck keine Ausgaben scheut. In Paris zahlt man für Be-
soldungen der Professoren der medicinischen Facultät nahezu 700 000 Fr.
jährlich, eine Summe, hinter welcher die Budgets der medicinischen
Facultäten in manchen anderen Ländern weit zurückbleiben. Ebenso
vortrefflich ist für die Lehrmittel der medicinischen Facultäten gesorgt.
Die medicinischen Lehranstalten zu Paris und Lyon, welche ich aus
eigener Anschauung kenne, sind musterhaft eingerichtet.
Der Unterricht in Paris wird theils an der Ecole de medecine,
wo die theoretischen Vorlesungen der Professoren stattfinden, theils in
der Ecole pratique, in welcher die Institute für praktische Arbeiten
vereinigt sind, theils in den verschiedenen Hospitälern, in denen sich
Kliniken befinden, ertheilt. Die grossen luftigen, mit Licht, fliessendem
Wasser und anderen Einrichtungen versehenen, den hygienischen An-
forderungen der heutigen Zeit entsprechenden Secir-Säle enthalten
682 Arbeitsplätze. Neben dem Direktor der Anstalt, welcher zugleich
eine anatomische Professur versieht, wirken hier 8 Prosectoren und
24 Assistenten, welche den Studierenden die Anleitung zu den ana-
tomischen Zergliederungen geben und sie dabei überwachen. Ausser-
dem hält jeder der Prosectoren wöchentlich 3, jeder der Assistenten
wöchentlich eine Vorlesung, deren Thema sich nach einem vom Direk-
tor entworfenen Plane richtet. Diese Vorträge der Prosectoren und
Assistenten schliessen sich an einander an und bieten in ihrem Zu-
sammenhange eine vollständige Übersicht der anatomischen Wissen-
schaft; sie bilden den Schwerpunkt des anatomischen Unterrichts. Die
Stellen der Prosectoren und Assistenten werden durch Concurs besetzt.
Wer sich um das Prosectorat bewirbt, muss promovirter Arzt sein und
sich dann einer schriftlichen und mündlichen Prüfung über Anatomie,
Histologie, Physiologie und operative Chirurgie unterziehen, ein ana-
tomisches und ein histologisches Präparat anfertigen und zwei chirur-
gische Operationen an der Leiche ausführen; die Stellen der Assistenten
werden ebenfalls im Wettbewerb verliehen und zwar an ältere tüchtige
Studenten.
Die Studierenden sind verpflichtet, in den anatomischen Vorlesungen
der Prosectoren und Assistenten und bei den Secir -Übungen, auf
welche täglich drei Stunden verwendet werden, regelmässig zu er-
scheinen, und setzen sich manchen Unannehmlichkeiten aus, wenn sie
es unterlassen.
Frankreich. 443
Die praktische Beschäftigung in der anatomischen Schule nimmt
drei Winter in Anspruch; in den beiden ersten wird die normale
Anatomie des Menschen, im letzten die chirurgische Operationskunst
an der Leiche studiert. Die Studierenden zahlen dafür ein Honorar
von 100 Francs. Das reiche Lehrmaterial , die strenge Controlle des
Besuches und Fleisses der Schüler, die enge Verbindung zwischen
Theorie und Praxis, die Verwerthung der anatomischen Thatsachen für
die praktische Heilkunde, besonders für die Chirurgie, und die fort-
währende persönliche Unterweisung durch den Lehrer führen zu aus-
gezeichneten Resultaten. Die Pariser Studenten der Medicin erwerben
im Allgemeinen recht gute Kenntnisse in der Anatomie, welche für
ihre weitere fachmännische Ausbildung wie für ihre spätere ärztliche
Praxis unschätzbare Vortheile haben.
Für die Professoren, die Hospitalärzte und ihre Assistenten besteht
in Paris noch ein besonderes anatomisches Institut, welches mit der
für Studenten bestimmten Ecole pratique in keiner Verbindung steht,
aber von einem Professor der Anatomie und seinen Assistenten geleitet
und zu Sektionen, chirurgischen Operations-Übungen und wissenschaft-
lichen Untersuchungen benutzt wird.
Pur den Unterricht in der Physiologie, Histologie, Physik, Chemie
und den Naturwissenschaften sind Laboratorien , Sammlungen und
Arbeitsräume vorhanden; auch das Museum d'histoire naturelle und der
botanische Garten dienen diesem Zweck.
Am College de France, sowie an der Ecole normale, einer Bildungs-
anstalt für Candidaten des höheren Lehramts, bestehen ebenfalls Lehr-
kanzeln für die Physiologie und die Naturwissenschaften. Ihre Inhaber
halten Vorlesungen, deren Besuch den Studierenden der medicinischen
Facultät leicht ermöglicht wird.
Die 14 Kliniken, welche unter der Leitung der Ordinarien stehen
und somit dem officiellen Unterricht einverleibt sind, sind nicht in
einem Krankenhause vereinigt, sondern auf das Hotel Dieu, die Charite,
Pitie, die Clinique d'accouchements, das Höpital des enfants malades,
Höpital Necker, Cochin und du Midi und die Salpetriere vertheilt. Jeder
Studierende der Medicin ist verpflichtet, während der beiden letzten
Jahre seiner Studienzeit regelmässig an den ärztlichen Besuchen in
einem Krankenhause Theil zu nehmen und kleine Dienste zu verrichten,
welche ihm dort übertragen werden. Die Leitung der Assistance
publique überweist die Medianer, die sich zu diesem Zweck bei ihr
melden, an die verschiedenen Pariser Hospitäler.
Ähnlich wie in Paris gestalten sich die Verhältnisse an den übrigen
medicinischen Facultäten und Schulen Frankreichs.
444 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Der Studierende der Medicin muss sich beim Beginn seiner fach-
männischen Studien darüber ausweisen, dass er eine genügende all-
gemeine Vorbildung erworben hat. Es wird aus diesem Grunde verlangt,
dass er das Diplom eines Bachelier es lettres besitzt, welches ungefähr
dem Abiturienten -Zeugniss der deutschen Gymnasien entspricht, und
ausserdem das Baccalaureat es sciences in Bezug auf die Mathematik
und die Naturwissenschaften erlangt hat.1
Die Studienzeit der Medianer dauert 4 Jahre; sie zerfällt, nicht
in Semester, sondern in Curse von 2 oder 3 Monaten, welche in einer
vorgeschriebenen Reihenfolge besucht werden. Ebenso sind die prak-
tischen Arbeiten in der Physik, Chemie und den Naturwissenschaften
im ersten Jahre, in der Anatomie, Histologie und Physiologie im zweiten
und dritten Jahre und in der pathologischen Anatomie nebst den
chirurgischen Operationsübungen und dem Besuch der Kliniken und
der Hospitäler (Stage) im vierten Jahre obligat.
Die Prüfungen aus den einzelnen Fächern fanden früher am
Schluss jedes Jahres statt. Im J. 1878 wurde dies jedoch aufgehoben
und dafür die Einrichtung getroffen, dass 5 Examina abgelegt werden,
von denen das erste über Physik, Chemie und Naturgeschichte handelt
und am Schluss des ersten Jahres, das zweite die Anatomie, Histologie
und Physiologie umfasst und theils im Verlauf, theils am Ende des
dritten Jahres erfolgt. Das dritte Examen betrifft die chirurgische
Pathologie, Geburtshilfe und Operationskunst, sowie die allgemeine
Pathologie und die Pathologie der inneren Krankheiten, das vierte die
Hygiene, gerichtliche Medicin, Therapeutik, Materia medica und Pharma-
kologie und das fünfte besteht in der Untersuchung und Behandlung
von Krankheitsfällen in der chirurgischen, internen und geburtshilflichen
Klinik und in der Ausführung einer pathologisch-anatomischen Sektion.
Desgleichen muss der Candidat seine Kenntnisse in der normalen
Anatomie durch die Anfertigung eines Präparats und seine chirurgische
Gewandtheit durch die Ausführung einer Operation an der Leiche be-
weisen. Endlich ist er verpflichtet, eine Dissertation über ein von ihm
gewähltes Thema auszuarbeiten und der Eacultät vorzulegen. Hierauf
wird er zum Doktor der Medicin promovirt.
Wer das Officiat de sante anstrebt, bedarf eine geringere Allgemein-
bildung; es wird verlangt, dass er einen französischen Aufsatz ohne
orthographische Fehler anfertigt und über die wichtigsten Thatsachen
der Naturwissenschaften, Physik und Chemie Auskunft zu geben vermag.
Die Studienzeit für die Officiers de sante beträgt ebenfalls 4 Jahre. Der
1 Programme de Fexamen baccalaureat es sciences, Paris 1885.
Frankreich. 445
Lehrplan ist ungefähr derselbe wie für die künftigen JDoktoren der
Medicin, nur treten die theoretisch-wissenschaftlichen Studien, besonders
in der Histologie, Physiologie und pathologischen Anatomie mehr zurück.
Den gleichen Charakter zeigen auch die Prüfungen, welche sich auf
die Hauptfächer beschränken.1
Die französischen Militärärzte wurden früher in Strassburg aus-
gebildet, wo sie die Vorlesungen an der dortigen medicinischen Facultät
besuchten. Im J. 1872 wurde bestimmt, dass die militärärztlichen Eleven
an 11 medicinische Schulen vertheilt und dort mit den übrigen
Studierenden zusammen unterrichtet würden; aber 1883 hat man statt
dessen für die Militärärzte 2 Ecoles preparatoires du Service de sante
zu Bordeaux und Nancy errichtet; ihre Zöglinge nehmen an dem Unter-
richt der dortigen medicinischen Facultäten Theil, müssen 5 Jahre
studieren und werden von älteren Militärärzten, welche als Repetitoren
für die einzelnen Lehrgegenstände wirken, beaufsichtigt und in ihren
Studien unterstützt. Wenn sie die letzteren absolvirt und den Doktor-
Grad erlangt haben, werden sie zur Vervollständigung ihrer fach wissen-
schaftlichen Bildung der mit dem grossen Militär-Krankenhause zu
Val de Gräce verbundenen Ecole d'application überwiesen, wo sie durch
8 Monate Dienste im Spital leisten und in der praktischen Heilkunst
Erfahrungen sammeln.
Das medicinische Unterrichtswesen Frankreichs hat neben manchen
Vorzügen, unter denen die vortreffliche anatomische und klinische Aus-
bildung der Studierenden hervorgehoben werden muss, auch einige be-
klagenswerthe Mängel. So erscheint es seltsam, dass nach dem Lehrplan
das erste Studienjahr vollständig den Hilfswissenschaften der Medicin
gewidmet und mit dem Besuch der Vorlesungen über Anatomie erst
im zweiten Jahre begonnen wird. Dadurch wird das Studium der Heil-
kunde selbst auf 3 Jahre zusammengedrängt, innerhalb deren die Auf-
nahme des reichen Unterrichtsstoffes nicht möglich erscheint.
Da die zweite Prüfung, welche über Anatomie und Physiologie
handelt, in das Ende des dritten Jahres fällt, und die Vorbereitung
dafür die Studierenden bis dahin hauptsächlich beschäftigt, so bleibt
für die Ausbildung in der praktischen Heilkunde nicht viel mehr als
ein Jahr übrig. Die Verlängerung der gesetzlichen Studienzeit, welche
übrigens auch durch die drei letzten Prüfungen herbeigeführt wird,
ergiebt sich daraus von selbst.
Ein weiterer Übelstand des medicinischen Unterrichtswesens in
1 Indications sommaires des conditions ä remplir pour l'obtention des grades
de docteur en medecine, d'officier de sante etc., Paris 1884.
446 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Frankreich liegt in der Art, wie der Lehrkörper der medicinischen
Schulen ausgewählt und zusammengesetzt wird. Der Concurs, die Wett-
bewerbung, schützt allerdings mehr, als andere Formen der Besetzung
erledigter Stellen vor ungerechten Bevorzugungen, Protektion und Vetter-
schaften; auch ist er in Fällen, wo es sich um das Agregat, das Amt
eines Prosectors oder Assistenten, also um die Zulassung zur akademischen
Lehrthätigkeit handelt, im Allgemeinen gewiss berechtigt und ein vor-
treffliches Mittel, die Fähigkeiten und Kenntnisse der einzelnen Can-
didaten kennen zu lernen und abzuwägen. Aber die Beschränkung der
Auswahl derselben auf eine bestimmte Zahl erscheint unzweckmässig,
da es nicht möglich ist, unter mehreren ziemlich gleichmässig quali-
ficirten Bewerbern eine Entscheidung zu treffen, welche den Forderungen
der Gerechtigkeit und Billigkeit vollkommen entspricht, und der wissen-
schaftliche Gehalt der Candidaten in den einzelnen Jahren bedeutende
Verschiedenheiten aufweist.
Ebenso wenig lässt sich die Eintheilung der Bewerber um das
Agregat in die 4 Gruppen nach den verschiedenen Fächern, wie sie
gegenwärtig besteht, rechtfertigen; denn manche Disciplin, wie z. B.
die Geschichte der Mediän, die Hygiene und die Staatsarzneikunde,
kann mit demselben Recht in die eine wie in die andere Klasse ge-
zogen werden. Durch die jetzige Einrichtung wird vielleicht ein Ge-
lehrter, der auf seinem Specialgebiet Hervorragendes geleistet hat, der
akademischen Lehrthätigkeit ferngehalten.
Geradezu schädlich ist die gesetzliche Anordnung, dass die Con-
curse für die Stellen der Professeurs agreges an sämmtlichen medicinischen
Facultäten und Schulen Frankreichs in Paris stattfinden. Dadurch
werden die Candidaten, welche ein Lehramt in den Provinzen anstreben,
zu längerem Aufenthalt in Paris und unnöthigen Ausgaben genöthigt,
die medicinischen Facultäten und Schulen mit Ausnahme der Pariser
in ihrem Ansehen und ihren Interessen geschädigt, indem die Ent-
scheidung über wichtige Besetzungsfragen Personen übertragen wird,
welche die lokalen Bedürfnisse nicht kennen, und endlich der Pariser
Facultät mit den Concursprüfungen eine grosse Last aufgebürdet, die
um so schwerer wiegt, als sie durch die Prüfungen der Menge von
Studierenden in Paris ohnehin schon allzusehr in Anspruch genommen
wird. Aus diesen Gründen wurde schon vor längerer Zeit verlangt,
dass die Concursprüfungen nicht blos in Paris, sondern an jeder
medicinischen Facultät abgelegt werden, der Lehrkörper jeder me-
dicinischen Schule das Recht erhalte, die Vorschläge für die Besetzung
der Stellen, welche an derselben erledigt sind, zu erstatten, und die
Candidaten, welche im Concurs die Anerkennung der Examinatoren
Frankreich. 447
erringen, nicht blos an einer Facultät, sondern an sämmtlichen me-
dicinischen Schulen zum Lehramt zugelassen werden, ohne dass sie
genöthigt werden, sich in jedem Falle wieder einer neuen Prüfung zu
unterziehen. l
Bei der Besetzung der Ordinariate hat man mit Kecht den Concurs
abgeschafft; denn hier handelt es sich nicht um Leute, deren Tüchtig-
keit als Lehrer und Forscher erst erprobt werden muss, sondern um
Gelehrte, deren wissenschaftliche Leistungen in den Kreisen der Fach-
männer allgemein bekannt sind. Jede medicinische Schule muss dar-
nach trachten, für diese Stellen die besten Kräfte zu gewinnen, welche
sie erlangen kann.
Es ist daher keineswegs zu billigen, dass die Lehrkörper bei den
Vorschlägen, die sie zu diesem Zweck dem Minister unterbreiten, auf
die Professeurs agreges, welche an der betreffenden Facultät angestellt
sind, beschränkt werden. Diese Massregel führt zu einer lokalen Ab-
geschlossenheit der medicinischen Schulen, bei welcher die Gefahr einer
geistigen Erstarrung nahe liegt. Gerade der Austausch der Theorien
und Lehrmethoden, welcher durch den Wechsel der Lehrkräfte hervor-
gerufen und begünstigt wird, erhält das geistige Leben frisch und für
jede fruchtbringende Anregung empfänglich. Dagegen mag es bei der
jetzigen Einrichtung nicht selten vorkommen, dass ein hervorragender
Gelehrter, der an einer kleinen Hochschule in Frankreich thätig ist,
einem grösseren Wirkungskreise entzogen wird, in welchem er für die
Wissenschaft und den Staat viel Gutes schaffen würde. — Es erscheint
daher nothwendig, dass die Facultäten in dieser Beziehung von jeder
Beschränkung befreit werden und bei ihren Vorschlägen für die Besetzung
erledigter Ordinariate die Ordinarien und Agreges sämmtlicher medici-
nischen Facultäten und Schulen ins Auge fassen dürfen. Sollte ein
Mann, der bisher der akademischen Lehrthätigkeit fern stand, in einem
besonderen Falle als der geeignetste Candidat für die Professur erscheinen,
so wird man auch diese Wahl billigen. Ausnahmsweise geschah dies
z. B., als die i. J. 1870 zu Paris gegründete Professur für Geschichte
der Medicin dem ausgezeichneten Kenner der griechischen Heilkunde,
Ch. Daremberg, übertragen wurde. Man sollte in Frankreich die
Verhältnisse und Zustände, welche in dieser Beziehung in Deutschland
und Österreich bestehen, studieren und Das, was an ihnen nachahmungs-
werth erscheint, auch dort einführen.
1 Revue internationale de Fenseignement, Paris 1882, T. III, p. 126. 533.
Dreifus-Brissac: Rev. int.. Paris 1887, T. XIV, p. 469 u. ff.
448 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Osterreich - Ungarn.
Das medicinische Unterrichtswesen in Österreich wurde erst im
18. Jahrhundert von den mittelalterlichen Formen befreit, welche es
in seiner Entwicklung beengt und gehemmt hatten. Dasselbe lag bis
dahin gänzlich in den Händen der ärztlichen Zunft, der Vereinigung
aller promovirten Ärzte, welche als Facultät bezeichnet wurde; von ihr
wurden mehrere Mitglieder zum Lehramt gewählt, die vom Universitäts-
Consistorium die Bestätigung empfingen.
In dem letzteren, welches ungefähr unserem heutigen Universitäts-
Senat entsprach, hatte der klerikale Einfluss das Übergewicht, nachdem
der Jesuiten -Orden in der Sanetio pragmatica v. J. 1623 einen ent-
scheidenden Einfluss auf das gesammte Erziehungswesen erlangt hatte.
Die Professoren der Medicin bezogen karge Besoldungen und waren
daher genöthigt, sich durch die ärztliche Praxis den nothwendigen
Lebensunterhalt zu erwerben. Doch waren auch ihre wissenschaftlichen
Leistungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unbedeutend. In
einem Bericht über die Universität Wien, welcher i. J. 1688 an die
Regierung erstattet wurde, heisst es, „dass in dieser Wienerischen Uni-
versität so viel Jahre hero von denen Professoribus in Jure et Medicin a
gar wenig gehört worden, dass selbige ihre Scienz am Tag gegeben
und in Druck hatten ausgehen lassen, als wann die Wienerische Uni-
versität in Schlaf liegete oder gar kein solches Studium mehr zu Wien
wäre. Da herentgegen kundbar, wie vigilant und embsig die Professores
bei anderen hohen Schulen in Teutschland wären, was für schöne Bücher
selbige beschreibeten und was für nutzbare opera sie in Druck aufsetzen
und publiciren lasseten."1
An den für das Studium der Medicin erforderlichen Lehrmitteln
und Instituten fehlte es gänzlich, und selbst die Vorlesungen wurden
so unregelmässig gehalten, dass die Nachlässigkeit der Lehrer der Me-
dicin 1689 und 1727 von der Regierung eine Rüge erfuhr. Verschiedene
Versuche, welche 1629, 1687 und 1726 zur Beseitigung der vorhan-
denen Übelstände unternommen wurden, blieben erfolglos. Im J. 1718
schlug die medicinische Eacultät zu Wien vor, die praktische Unter-
weisung am Krankenbett, pathologisch-anatomische Sektionen und regel-
mässige Secir-Übungen in den Unterricht aufzunehmen, ein Collegium
chymicum, sowie einen botanischen Garten einzurichten, Assistenten und
Hilfsärzte an den Krankenhäusern anzustellen, die Besoldungen der
1 Kink: Geschichte der Universität zu Wien, Wien 1854, \, 398.
Österreich - Ungarn. 449
Professoren zu erhöhen und hervorragende Lehrkräfte von auswärts zu
berufen. 1
Aber die Scheu, welche die regierenden Kreise vor dem Wechsel
des Systems hegten, und der Mangel an den für die erforderlichen
Einrichtungen nothwendigen Geldmitteln verhinderten die Ausführung
dieser Vorschläge. Die grosse Kaiserin Maria Theresia, die in den
schweren Bedrängnissen und Kriegen, welche ihren Thron erschütterten,
die Ruhe und Kraft des Geistes fand, um an Verbesserungen der Ge-
setzgebung und der Verwaltung zu denken,2 wandte auch diesem Gegen-
stande ihre Aufmerksamkeit zu. Sie beauftragte ihren Leibarzt Geehaed
van Swieten, welcher ihr volles Vertrauen genoss, mit der Unter-
suchung der Gebrechen des medicinischen Unterrichts an der Wiener
Hochschule. In dem Bericht, den derselbe darüber verfasste, wies er
auf die Ursache der Missstände hin, die er in der Abhängigkeit der
Universität von der Kirche und der Zunft fand. Er verlangte vor
Allem, dass der Staat der unumschränkte Gebieter in seinem Hause
sei und das ärztliche Erziehungswesen leite und überwache. Die An-
träge, welche er zu diesem Zweck der Kaiserin unterbreitete, erhielten
ihre Zustimmung, obwohl sie dabei vielleicht Überzeugungen, die ihr
durch Tradition und Erziehung theuer geworden waren, zum Opfer
bringen musste.
In dem Reform-Edikt vom 7. Februar 1749 wurde bestimmt, dass
die Ernennung der Professoren der Medicin fortan nicht mehr vom
Universitäts-Consistorium, sondern von der Kaiserin vollzogen, die Ge-
hälter derselben in angemessener Weise erhöht und aus den landes-
fürstlichen Kassen bezahlt und ihre Dienstleistungen und der gesammte
Unterricht von einem Direktor, der die Regierung vertrat, beaufsichtigt
werden. In Wien übernahm G. van Swieten selbst dieses wichtige Amt;
an anderen Eacultäten wurde es hohen Sanitätsbeamten übertragen.
Sie führten auch den Vorsitz in den Versammlungen der Zunft-Collegien
und bei den Prüfungen der Ärzte, Chirurgen, Apotheker und anderer
Klassen des Heilpersonals.
Gleichzeitig wurden die medicinischen Facultäten mit den erforder-
lichen Lehrmitteln ausgestattet. In Wien wurden ein botanischer Garten
und ein chemisches Laboratorium geschaffen, und die regelmässigen
Secir-Übungen und der klinische Unterricht eingeführt. Die Promotions-
Feierlichkeiten, welche wegen der damit verbundenen kirchlichen Cere-
monien den beträchtlichen Aufwand von 1000 Gulden verursacht und
1 Rosas: Geschichte der Wiener Hochschule, Wien 1843, II, 232.
2 v. Arneth: Maria Theresias erste Regierungsjahre, Wien 1863 — 79, 10 Bde.
Puschmann, Unterricht. 29
450 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
in Folge dessen viele Studierende genöthigt hatten, sich die Doktor-
Würde im Auslande zu erwerben, wurden vereinfacht und auf ausser-
ordentliche Fälle beschränkt, und das ganze Prüfungswesen durch genaue
Vorschriften geregelt.
Nach dem Muster der medicinischen Facultät in Wien wurden
bald darauf auch die übrigen medicinischen Facultäten des Keiches
reorganisirt und mit Lehrkanzeln und Anstalten versehen. Gr. van
Swteten trat an die Spitze des ganzen Medicinalwesens und erlangte
einen Einfluss, der sich auf alle Zweige der Unterrichts -Verwaltung
erstreckte.
Mit der Thronbesteigung des Kaisers Josef II. begann eine Periode
rasch aufeinander folgender und sich manchmal überstürzender Neue-
rungen auf diesem Gebiet. Alle Beschränkungen, welche die Verleihung
akademischer Grade an Nicht-Katholiken erschwert hatten, wurden auf-
gehoben und derselben jeder religiöse Charakter genommen, die Besol-
dungs- und Pensionsverhältnisse der Professoren im Einklang mit den-
jenigen der übrigen Beamten geordnet, die akademische Gerichtsbarkeit
aufgehoben, die Angehörigen der Universität unter das allgemeine Recht
gestellt, und anstatt der Collegien-Honorare, welche abgeschafft wurden,
ein bestimmtes monatliches Schulgeld an den Hochschulen eingeführt.
Alle Universitäten der Monarchie wurden einander im Range
gleichgestellt und ihren Diplomen und Zeugnissen die gleichen Rechte
und Privilegien gewährt; doch erhielt dieses Gesetz schon nach wenigen
Jahren eine Änderung, indem bestimmt wurde, dass in Wien nur
diejenigen Ärzte und Advokaten die Praxis ausüben durften, welche an
der Wiener Hochschule die Prüfungen abgelegt hatten.
Mit grossem Eifer beschäftigte sich der Kaiser mit der Verbesse-
rung des medicinischen Unterrichts und der dafür vorhandenen Lehr-
anstalten. Er beklagte die Vernachlässigung, welche die chirurgischen
Studien von den Ärzten erfuhren, und die ungenügende Fachbildung
der Wundärzte und erkannte den schwerwiegenden Fehler, der in der
Trennung der Chirurgie von der inneren Medicin lag. In der Wieder-
vereinigung dieser beiden Zweige der gemeinsamen Wissenschaft, in der
Verschmelzung der Ärzte mit den Chirurgen sah er das beste Mittel
zur Beseitigung der Gebrechen des medicinischen Unterrichtswesens.
Zu diesem Zweck liess er einen Studienplan für diese beiden Klassen
von Studierenden der Heilkunde ausarbeiten, welcher eine Studienzeit
von 4 Jahren festsetzte und bei geringen Verschiedenheiten von Beiden
die Kenntniss aller Theile der Heilkunde verlangte.
Sehr viel trug die Erhebung der militärärztlichen Schule, des Jo-
sefinums, zu einer chirurgisch-medicini sehen Facultät mit den Rechten
Österreich - Ungarn. 451
und dem Eange einer Universität und ihre Verbindung mit einer chi-
rurgischen Akademie dazu bei, dass der Chirurgenstand in wissenschaft-
licher und socialer Hinsicht gehoben wurde. Daneben entstand eine
Klasse von niederen Landärzten, welche zu einer Studienzeit von zwei
Jahren verpflichtet waren, und mit dem Namen der Chirurgen auch
die gesellschaftliche Stellung erhielten, welche dieselben bis dahin ein-
genommen hatten. Auf diese Weise wurde eine vollständige Umgestal-
tung des medicinischen Unterrichtswesens und der socialen Verhältnisse
des ärztlichen Standes herbeigeführt, die sich in ihren Grundlinien bis
in die neueste Zeit erhalten hat.
Auch mehrere andere Massregeln, wie die xlbschaffung des Bacca-
laureats und die Aufhebung der Inaugural- Dissertationen, an deren
Stelle die praktische Prüfung am Krankenbett trat, bildeten sehr zweck-
mässige Verbesserungen des ärztlichen Bildungswesens.
Die Errichtung des allgemeinen Krankenhauses zu Wien, dessen
reiches Lehrmaterial zum Theil dem klinischen Unterricht gewidmet
wurde, und die Gründung des Militärspitals, das zu dem gleichen
Zweck dem Josefinum übergeben wurde, ermöglichten die grossartigen
Triumphe, welche die Wiener medicinische Schule später feierte. Josef IL
schuf ferner das Taubstummen-Institut, das Findelhaus und die Thier-
arzneischule in Wien, und liess in Prag, Graz und anderen grossen
Städten der Monarchie Krankenhäuser, welche zum Unterricht der
Ärzte verwendet wurden, errichten und in Mailand, Mantua, Prag,
Brunn, Olmütz, Pest, Königgrätz, Lemberg, Hermannstadt und anderen
Orten ständige Militärspitäler erbauen. „Was immer zur Heilung der
erkrankten und verwundeten Mannschaft, zu ihrer Erleichterung und
Erhaltung ersonnen werden konnte, das habe ich nie ausser Acht ge-
lassen, und jeder einzelne Mann ist mir schätzbar gewesen", erklärte
er, als er wenige Tage vor seinem Tode Abschied von der Armee nahm.
Die humanitären Schöpfungen des Kaisers, der, auch wenn er irrte,
stets von dem aufrichtigen Bestreben erfüllt war, sein Volk glücklich
zu machen, geben ihm ein Anrecht auf die Dankbarkeit der Menschen.
Sie haben seine politischen Pläne und Thaten überdauert und erzählen
heut noch von der Güte und Liebe des edlen Fürsten, der seinem
Volk non diu, sed totus lebte, wie es auf dem Denkmal heisst, das ihm
in seiner Kesidenz errichtet worden ist.1
Die Reaktion, welche seine politische Tendenz bekämpfte, wandte
sich gegen seine Massnahmen in der Unterrichtsverwaltung. Es wurde
1 Th. Püschmann : Die Medicin in Wien während der letzten hundert Jahre,
Wien 1884, S. 53 u. ff.
29*
452 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
eine „Studien -Einrichtungs-Commission", wie sie genannt wurde, be-
rufen, welche den Auftrag erhielt, das Erziehungswesen wieder in die
Geleise des alten Herkommens zu leiten.
In der Medicin erhob der Zunftgeist sein Haupt und versuchte,
den Einfluss, den er früher auf den Unterricht der Ärzte besessen hatte,
zurück zu erobern. Man verlangte, dass das frühere Verhältniss zwi-
schen den Ärzten und den Chirurgen wieder hergestellt, die Chirurgen
in eine abhängige untergeordnete Stellung versetzt und die Vereinigung
der Chirurgie und der inneren Medicin, welche durch den Studienplan
v. J. 1786 herbeigeführt worden war, wieder aufgelöst werde, und be-
hauptete, dass diese beiden Gebiete der Heilkunde zu heterogen und
umfangreich seien, als dass ein Einzelner beide in gleicher Weise be-
herrschen könne. Gegen das Josefinum wurde der Vorwurf erhoben,
dass es zu viele Kosten verursache und durchaus nicht den medicini-
schen Facultäten der Universitäten ebenbürtig sei. Doch gelang es nicht,
die Aufhebung desselben durchzusetzen; denn der Staat konnte in den
lange andauernden Kriegen, in welche Österreich damals verwickelt
wurde, die einzige Anstalt, welche für den Bedarf an Militärärzten
sorgte, nicht entbehren. Auch zeigte die tägliche Erfahrung, wie noth-
wendig und wichtig die chirurgischen Kenntnisse waren, und eine
Herabsetzung derselben erschien keineswegs zeitgemäss. Grössere Be-
rechtigung hatten die Anklagen, welche sich gegen das Wiener allge-
meine Krankenhaus richteten; die Verbesserungen, die dadurch hervor-
gerufen wurden, gereichten der Anstalt zum Vortheil.
Am medicinischen Studienplan wurde nichts geändert, obwohl
derselbe in manchen Beziehungen reformbedürftig war.1 Dagegen
wurden den Professoren genaue Instruktionen für ihr Verhalten ertheilt
und die Lehrbücher vorgeschrieben, welche sie ihren Vorlesungen zu
Grunde legen sollten. Die Studien-Direktorate wurden aufgehoben, aber
schon nach wenigen Jahren wieder eingeführt, bildeten, wie vorher, die
Aufsichtsbehörden für die Angelegenheiten der Facultäten und leiteten
das Unterrichtswesen.
Im J. 1804 wurde die Studienzeit für die Studierenden der Me-
dicin und höheren Chirurgie von 4 auf 5 Jahre erhöht und angeordnet,
dass die 3 ersten Jahre der theoretischen xiusbildung, die beiden letzten
J.ahre jedoch hauptsächlich dem Besuch der Kliniken gewidmet würden.
Gleichzeitig wurde daran erinnert, dass Niemand zum Studium der
Heilkunde zugelassen werden sollte, der nicht vorher durch 3 Jahre
1 Freimüthige Betrachtungen über den medicinischen Unterricht an der
hohen Schule zu Wien, 1795.
Österreich - Ungarn. 453
an der Universität philosophische Vorlesungen gehört und sich eine
genügende Allgemeinbildung erworben habe. Jeder Lehrer musste
wöchentlich mindestens eine halbe Stunde darauf verwenden, um sich
durch Fragen zu überzeugen, dass seine Schüler den Inhalt seiner Vor-
träge verstanden und in sich aufgenommen hatten. Am Schluss eines
jeden Semesters fanden öffentliche Prüfungen der Studierenden statt,
von deren Erfolg es abhing, ob es ihnen gestattet wurde, die für das
folgende Semester bestimmten Collegien zu besuchen. Ausserdem wurden
die Vorschriften für die Approbations-Prüfung, welche am Schluss der
Studienzeit abgelegt wurde, verschärft und die Examinatoren ermahnt,
dabei streng und gewissenhaft zu verfahren.
Im J. 1810 wurde ein neuer medicinischer Studienplan vorge-
schrieben, in welchem diejenigen Fächer, welche inzwischen in den
Unterricht aufgenommen worden waren, Berücksichtigung fanden. Dar-
nach sollten die Studierenden der Heilkunde während des ersten Jahres
die Einleitung in das medicinisch-chirurgische Studium, specielle Natur-
geschichte, Botanik und systematische Anatomie, während des zweiten
höhere Anatomie und Physiologie, allgemeine Chemie, Pharmacie und
Thierchemie, während des dritten allgemeine Pathologie und Therapie,
Ätiologie, Semiotik, Materia medica et chirurgica, Diätetik, Keceptirkunst,
Geburtshilfe, allgemeine und specielle Chirurgie, die Lehre von den
chirurgischen Instrumenten und Verbänden und Ophthalmologie hören,
während des vierten und fünften Jahres die Vorlesungen über specielle
Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten und die Kliniken
besuchen und den Vorträgen über Veterinärkunde, gerichtliche Medicin
und Medicinalpolizei beiwohnen. Diejenigen, welche sich zu Landärzten
ausbildeten, wurden angehalten, im ersten Jahre die Einleitung in das
medicinisch-chirurgische Studium, theoretische Chirurgie, Anatomie,
Physiologie, allgemeine Pathologie und Therapie, Materia medica et
chirurgica, Diätetik, Keceptirkunst und Bandagen lehre und im zweiten
Jahre chirurgische Operationslehre, gerichtliche Medicin, Geburtshilfe
und Thierarzneikunde zu hören und die medicinische und chirurgische
Klinik zu besuchen. Die Studienzeit derselben wurde später um ein
Jahr verlängert. Die Theilnahme an der geburtshilflichen Klinik blieb
ebenso wie der Besuch der Vorlesungen über mehrere andere Unter-
richtsgegenstände dem freien Ermessen der Studierenden überlassen.
Über jedes Hauptfach musste an 5 Tagen der Woche jedesmal eine
Stunde vorgetragen werden; dem Unterricht in der medicinischen und
der chirurgischen Klinik wurde die doppelte Zeit gewidmet.
Gleichzeitig wurde dafür gesorgt, dass der Lehrstoff durch prak-
tische Demonstrationen und Arbeiten dem Verständniss näher gebracht
454 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
wurde. Zu diesem Zweck unternahmen die Studierenden unter der
Leitung ihrer Lehrer botanische Exemtionen, arbeiteten im chemischen
Laboratorium, übten sich im Zergliedern der menschlichen Körper,
wohnten den Minischen Sektionen bei und führten chirurgische Opera-
tionen an der Leiche aus. Wo noch keine Secir-Anstalten bestanden,
wurden dieselben errichtet; doch mussten die Kosten, welche die Be-
schaffung des erforderlichen Leichen -Materials verursachte, von den
Schülern getragen werden.
Wer sich um die medicinische Doktor -Würde bewarb, war ver-
pflichtet, zunächst zwei Krankengeschichten vorzulegen, welche Fälle
betrafen, die er selbst in der Klinik behandelt hatte, sieb hierauf einer
Prüfung zu unterziehen, welche sich über die im Studienplan genannten
Unterrichtsgegenstände erstreckte, und endlich eine Dissertation zu ver-
fassen und Thesen zu vertheidigen. Das Examen für das Doktorat der
Chirurgie unterschied sich davon dadurch, dass anstatt der inneren
Meclicin die Chirurgie in den Vordergrund trat, und die Candidaten
zwei chirurgische Operationen an der Leiche ausführen mussten. Wenn
ein Doktor der Medicin auch zum Doktor der Chirurgie promoviren
wollte oder umgekehrt, so brauchte er nur eine Ergänzungsprüfung
abzulegen, welche jene Fächer betraf, die in der früheren zu wenig
beachtet worden waren. Geringere Anforderungen wurden an Diejenigen
gestellt, welche sich mit dem Titel eines Magisters der Chirurgie be-
gnügten. Ähnlich verhielt es sich mit den Landärzten. Ausserdem
wurde das Diplom als Augenarzt verliehen, während die Klasse der
sogenannten Bruchärzte aufgehoben wurde.
Am Josefinum wurde die Studienzeit 1822 ebenfalls für den höheren
Cursus auf 5 Jahre und für den niederen auf 3 Jahre erhöht und
dem Unterricht derselbe Studienplan zu Grunde gelegt, welcher an den
medicinischen Facultäten eingeführt worden war. Die Anstalt erhielt
in Folge dessen das Recht, sämmtliche akademische Grade zu verleihen.
Die Studien-Ordnung v. J. 1833 brachte keine wesentliche Ände-
rung im Unterricht und in den Prüfungen; nur fand die Augenheil-
kunde eine grössere Berücksichtigung als bisher.
Im J. 1845 wurde eine Commission von Sachverständigen berufen,
welche über die Gebrechen des medicinischen Unterrichts Berathungen
hielt und Vorschläge zur Verbesserung desselben machte. Aber bevor
darüber eine endgültige Entscheidung getroffen wurde, kam das Jahr
1848, welches eine vollständige Umwälzung der bestehenden Verhält-
nisse herbeiführte. Der Lehrkörper der Wiener medicinischen Facultät
legte dem neu geschaffenen Unterrichts-Ministerium einen Reformplan
der medicinischen Studien vor. in welchem zunächst auf den Übelstand
Österreich - Ungarn. 455
hingewiesen wurde, dass als medicinische Facultät sowohl das Lehrer-
Collegium als die Vereinigung sämmtlicher Ärzte von Wien bezeichnet
wurde und die Professoren von den wichtigsten akademischen Ämtern, wie
von demjenigen des Rectors, Dekans, ebenso wie von dem des Direktors der
medicinischen Studien ausgeschlossen und im Universitäts-Consistorium
fast gar nicht vertreten waren. Man verlangte, dass die ordentlichen
Professoren, ähnlich wie an den Universitäten Deutschlands, ein Colle-
gium bilden, welches dem Ministerium unmittelbar unterstehe, die
Fragen des Unterrichts und andere Angelegenheiten selbstständig be-
rathe und erledige, die Prüfungen abnehme und akademische Würden
ertheile, dass die Lehrkanzeln nicht durch Concurs, sondern durch Be-
rufung besetzt werden, dass die Anstellung der Professoren eine stabile
sei und ihre Absetzung nur bei ehrenrührigen Vergehen oder fortge-
setzter Pflichtversäumniss erfolgen dürfe, dass die ordentlichen und
ausserordentlichen Professoren, welche einen im Studienplan vorgeschrie-
benen Unterrichtsgegenstand vertreten, vom Staat anständig besoldet
werden, „so dass sie von Nahrungssorgen befreit der Wissenschaft und
namentlich der Förderung ihres Faches obliegen können", dass die
wissenschaftlichen Institute in einer den Bedürfnissen entsprechenden
Weise ausgestattet und dotirt werden, dass Lehr- und Lernfreiheit be^
willigt, die Lehrer weder an bestimmte Lehrbücher gebunden, noch die
Studierenden genöthigt werden, gewisse Vorlesungen zu hören und ihre
fachwissenschaftliche Bildung ausschliesslich an inländischen Hochschulen
zu erwerben, dass die Semestral-Prüfungen aufgehoben und die medi-
cinischen Rigorosen unter dem Vorsitz des Dekans der Facultät, die
Promotionen unter demjenigen des Rectors der Universität stattfinden,
dass der Rector, sowie der Dekan aus der Zahl der ordentlichen Pro-
fessoren und von diesen gewählt, die Verbindung zwischen der Uni-
versität und den Doktoren-Corporationen aufgelöst und der Einfluss der
ärztlichen Zunft auf den medicinischen Unterricht gänzlich beseitigt
werde.
Der Freiherr E. von Feuchtersleben, der Verfasser der bekannten
„Diätetik der Seele", welcher als Docent der Psychiatrie an der Wiener
Hochschule thätig war, wurde aufgefordert, die Leitung des Unterrichts-
Ministeriums zu übernehmen; er lehnte jedoch ab, Minister zu werden,
weil er, wie er in seiner Selbstbiographie schreibt, „von der Überzeugung
geleitet wurde, dass bei dem aus dem Repräsentativ -System hervor-
gehenden Ministerwechsel überhaupt und bei unseren damaligen Zu-
ständen insbesondere für den Minister an keine folgerichtige Thätigkeit
zu denken sei. die gerade in dem Bereich des Unterrichts für das Ge-
lingen und Gedeihen einer im Sinne eines grossen Ganzen gedachten
456 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Keform unerlässliche Bedingung ist", und begnügte sich mit der Stel-
lung als Unterstaatssekretär im Unterrichts-Ministerium, in welcher er
während der kurzen Zeit seiner amtlichen Wirksamkeit eine Menge
wichtiger Reformen ins Leben rief. So führte er den naturwissenschaft-
lichen Unterricht an den Gymnasien ein, verlängerte die Studienzeit
der letzteren um zwei Jahre, indem er die Anordnung traf, dass der
philosophische Cursus, den die Studierenden bis dahin an der Universität
absolviren mussten, mit dem Gymnasium verschmolzen wurde, erwirkte
für die Universitäten Lehr- und Lernfreiheit, schaffte die Besetzung
der Professuren durch Concurs ab und sorgte dafür, dass die Lehrmittel
und Sammlungen des Josefinums, als dasselbe aufgehoben wurde, der
Wiener medicinischen Facultät überlassen wurden.
ImJ. 1849 wurde das Gesetz über die Organisation der akademischen
Behörden1 erlassen, nach welchem die Studienangelegenheiten an den
Universitäten von den Professoren-Collegien der einzelnen Facultäten
geleitet werden. Dieselben setzen sich zusammen aus sämmtlichen
ordentlichen und so vielen ausserordentlichen Professoren, dass die Zahl
der letzteren die Hälfte der ersteren nicht übersteigt, und zwei Ver-
tretern der Privatdocenten, welche aber nur eine berathende Stimme
erhielten. Den Vorsitz in diesen Collegien führt der aus der Reihe
der ordentlichen Professoren gewählte Dekan, welcher in manchen Be-
ziehungen an die Stelle des früheren Studien-Direktors trat, dessen Amt
aufgehoben wurde.
In WTien und Prag wurde den ärztlichen Zünften, den Doktoren-
Corporationen, ein Rest von Einfluss auf das medicinische Unterrichts-
wesen gewahrt, indem sie auch fernerhin als Theile der Universität
betrachtet, als Facultäten bezeichnet wurden und das Recht erhielten,
sich einen Dekan zu wählen, der im Professoren-Collegium Sitz und
Stimme hatte und bei den ärztlichen Prüfungen mitwirkte. Erst 1873
wurde die vollständige Trennung der Doktoren-Corporationen von den
medicinischen Facultäten und der Universität vollzogen.2 Die Doktoren-
Collegien bildeten fortan nur ärztliche Vereine, welche sich mit der
Verwaltung ihres Vermögens, der Verleihung einzelner Stipendien u. a. m.
befassen, aber keine amtlichen Obliegenheiten haben.
Schon in einem Ministerial-Erlass v. J. 1848 wurde die Aufhebung
des niederen Studiums der Landärzte im Princip ausgesprochen.3 Aber
der praktischen Ausführung derselben stellten sich manche Schwierig-
1 G. Thaa: Sammlung der für die österreichischen Universitäten gültigen
Gesetze und Verordnungen, Wien 1871, I, 69 u. ff.
2 Thaa a. a. 0. S. 615 u. ff. 3 Thaa a. a. 0. S. 497.
Österre ich - Ungarn. 457
keiten entgegen. Man musste befürchten, dass durch eine plötzliche
Schliessung der für die Ausbildung der Landärzte und niederen Chirurgen
vorhandenen Lehranstalten ein empfindlicher Mangel an Ärzten herbei-
geführt werden würde, und suchte daher vorher den notwendigen
Ersatz dafür zu schaffen.
Zunächst wurden die Lehr-Ourse, welche bis dahin für die Land-
ärzte an den Universitäten zu Wien und Prag bestanden, aufgelöst,
während die medicinisch- chirurgischen Unterrichtsanstalten zu Graz
und Innsbruck später zu wirklichen medicinischen Facultäten erhoben
wurden, die den dortigen Universitäten einverleibt wurden. Die übrigen
Institute dieser Art, welche in Salzburg, Olmütz, Laibach, Lemberg u. a. 0.
existirten, wurden allmälig geschlossen. Damit hörte die Ausbildung
von Ärzten der niederen Kategorie auf.
Von nun an boten nur noch die Universitäten die Gelegenheit
zum Studium der Heilkunde. Gegenwärtig besitzen die Hochschulen
zu Wien, Prag, Graz und Innsbruck, an welchen die deutsche Unter-
richts-Sprache herrscht, die neu errichtete czechische Universität zu
Prag, die polnische Hochschule zu Krakau und die beiden ungarischen
Universitäten zu Budapest und Klausenburg medicinische Facultäten;
den Hochschulen zu Lemberg, Agram und Czernowitz fehlen dieselben.
Das Josefinum wurde, nachdem es 1848 aufgehoben und 1854
wieder eröffnet worden war, nach 1870 abermals geschlossen, weil man
der Meinung war, dass es nach der Einführung der allgemeinen Wehr-
pflicht nicht an Militärärzten fehlen werde. Diese Voraussetzung er-
füllte sich nicht, und die Wiedererrichtung einer militärärztlichen Schule
wird eines Tages vielleicht ein Gebot der Notwendigkeit sein. Eine
Militärmacht von dem Range des österreichischen Kaiserstaates bedarf
einer Bildungsanstalt für Militärärzte, wie das Beispiel von Frankreich,
Preussen und Bussland lehrt. Ihre Form und Organisation mag von
derjenigen des ehemaligen Josefinums abweichen; aber ihre Existenz
liegt im Interesse des Staates und der Armee.
Die Zahl der vorhandenen medicinischen Facultäten steht zu der
Grösse und Bevölkerung der österreichisch -ungarischen Monarchie in
keinem entsprechenden Verhältniss. Die Frequenz derselben ist in
Folge dessen ausserordentlich gross; in Wien betrug die Zahl der
Studierenden der Medicin in 'den letzten Jahren durchschnittlich weit
über 2000. Die Ursachen dieser Erscheinung liegen theils in dem
günstigen Ruf, den die dortigen Lehrkräfte und Lehrmittel gemessen,
theils in dem Umstände, dass viele arme Studenten in der Grossstadt
finanzielle Unterstützungen oder die Gelegenheit zum Erwerb durch
Ertheilung von Lektionen oder dgl. zu finden glauben. Schon Petee,
458 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Fkank1 beklagte diese namentlich in Wien sehr verbreitete Sitte,
weil die Studierenden der Medicin dadurch ihren eigentlichen Auf-
gaben entzogen und zu einer Thätigkeit gedrängt werden, die für ihre
fachmännische Ausbildung gänzlich werthlos ist. Wenn sie dabei nicht
eine hervorragende Begabung besitzen, so scheitern sie an diesen Hinder-
nissen und erreichen das Ziel ihrer Studien niemals.
Es ist begreiflich, dass die Überfüllung der Hörsäle und Kliniken
für das Studium der Heilkunde keineswegs förderlich ist; denn hier
gilt es, jedes Objekt, jeden Kranken zu sehen und genau zu beobachten,
jedes Experiment mit Verständniss zu verfolgen. Mau hat daher daran
gedacht, wie dem Übelstande, dass die vorhandenen Räumlichkeiten der
Zahl der Studierenden nicht genügen, abzuhelfen sei, und zu diesem
Zweck den Numerus clausus vorgeschlagen;2 aber die Schwierigkeit, bei
der Aufnahme der Studierenden eine Grenze zu finden, welche den
Bedingungen der Gerechtigkeit und Zweckmässigkeit entspricht, und
noch mehr die Scheu vor der gewaltsamen Herabdrückung der Wiener
Hochschule müssen vor einem solchen Experiment warnen. Die me-
dicinische Facultät zu Wien darf nicht mit dem Maassstabe einer Landes-
hochschule gemessen werden. Ihre Geschichte, ihre Einrichtungen, ihr
reiches Lehrmaterial haben ihr einen Weltruf verschafft. Sie bildet
einen der wenigen Vereinigungspunkte, welche die Angehörigen der
verschiedenen Völker der Monarchie zusammenführen, und scheint durch
ihre geographische Lage zu der grossen culturhistorischen Aufgabe be-
rufen zu sein, dem Orient die wissenschaftliche Medicin Europas zu
übermitteln. Die Herabsetzung der Wiener medicinischen Schule wäre
ein Verbrechen gegen den Staat, gegen die Wissenschaft, gegen die
Menschheit,
Wenn es ihr an den erforderlichen Räumlichkeiten für die Lehr-
institute fehlt, so müssen dieselben erweitert, oder durch die Errichtung
neuer Anstalten vermehrt werden. Allerdings werden auch Vorkehrungen
nothwendig sein, um ungeeignete Elemente vom Studium fern zu halten,
damit die fruchtbringende Saat nicht vom Unkraut unterdrückt wird.
Die Erhöhung der Collegien-Honorare, welche in Österreich geringer
sind als in irgend welchem andern Lande, keineswegs aber blos zur
Vermehrung der Einnahmen der Professoren, sondern hauptsächlich zur
Vergrösserung und Verbesserung der Unterrichts-Anstalten verwendet
werden sollten, die Strenge der Prüfungen und andere Mittel werden
diesem Zweck dienen.
1 P. Frank a. a. 0. VI, 1, S. 336.
2 Th. Billroth: Aphorismen, Wien 1886.
Österreich - Ungarn. 459
Daneben ist es sicherlich wünschenswerte, dass zur Entlastung der
überfüllten medicinischen Facultäten einige neue ärztliche Schulen er-
richtet werden, z. B. in Salzburg, wo bereits früher einmal eine Uni-
versität bestanden hat,1 die erforderlichen Gebäude und Lehrmittel zum
Theil noch vorhanden oder wenigstens leicht zu beschaffen sind, und
die entzückende Anmuth und Grossartigkeit der landschaftlichen Um-
gebung die Studierenden aus weiter Ferne, selbst aus dem Auslande,
anziehen würde, ferner in Brunn oder Olmütz, in Lemberg oder
Czernowitz, in Agram und in einem oder zwei Orten Ungarns. Einzelne
dieser Städte besitzen bereits mehrere Facultäten, so dass sie durch die
Hinzufügung einer medicinischen zu einer Universität vervollständigt
werden.
Im J. 1872 wurden neue Prüfungsvorschriften für das Studium
der Medicin gegeben, nach denen die gesonderten Diplome für die ein-
zelnen Zweige der Heilkunde aufhörten. Bis dahin gab es Doktoren
der Medicin, Doktoren und Magister der Chirurgie, Geburtshelfer und
Augenärzte;- doch wurde schon 1843 bestimmt, dass die Diplome in
der Chirurgie, Geburtshilfe und Augenheilkunde nur an solche Be-
werber verliehen werden durften, welche bereits Doktoren der Medicin
waren oder, wenn sie der niederen Kategorie der Ärzte angehörten,
das Magisterium der Chirurgie erworben hatten. Mit der Aufhebung
des Standes der niederen Ärzte wurde beschlossen, künftig nur noch
eine einzige Klasse von Ärzten auszubilden, welche sämmtlich die
gleiche Vorbildung besitzen, denselben Studiengang durchmachen, nach
den gleichen Vorschriften geprüft und hierauf zu Doktoren der ge-
sammten Heilkunde promovirt werden, womit das Recht zur Ausübung
der Praxis aller Theile der Medicin verbunden ist.
Wer zum Studium der Medicin zugelassen werden will, muss das
Gymnasium vollständig absolvirt und das Maturitäts-Examen bestanden
haben. Die Studienzeit an der Universität dauert 5 Jahre. Die Prüfungen
finden theils während, theils nach derselben statt. Sie beginnen mit
den naturhistorischen Prüfungen über Mineralogie, Botanik und Zoologie,
welche bereits im Verlauf des ersten Studienjahres abgelegt werden
können. Nur Derjenige, welcher dieselben mit Erfolg bestanden hat,
darf sich den eigentlichen ärztlichen Prüfungen unterziehen. Die erste
umfasst die Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie und besteht
aus einer theoretischen Gesammtprüfung über diese Fächer und der
Anfertigung oder Demonstration eines anatomischen und eines mikro-
1 J. Mayr: Die ehemalige Universität Salzburg, 1859. — L. Spatzenegger :
Die Salzburger Universität, Salzburg 1872.
460 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
skopischen Präparats, der Ausführung einer chemischen Analyse und
der Erklärung physikalischer und physiologischer Apparate. Dieses
Examen darf nicht früher als nach Ablauf des zweiten Studienjahres
geschehen, während das zweite und dritte Kigorosum erst nach der
Beendigung der Studienzeit absolvirt werden kann.
Der Candidat, welcher sich zu den letzteren meldet, ist verpflichtet,
durch Zeugnisse nachzuweisen, dass er durch je 4 Semester die me-
dicinische und die chirurgische Klinik, und zwar durch je zwei Semester
als Praktikant, sowie mindestens je 1 Semester die geburtshilfliche und
die ophthalmiatrische Klinik als Praktikant besucht und das erste
Kigorosum erfolgreich bestanden hat. Das zweite handelt über all-
gemeine Pathologie und Therapie, pathologische Anatomie und Histologie,.
Pharmakologie und innere Medicin, und besteht aus einer praktischen
Prüfung über pathologische Anatomie (am Präparat und an der Leiche),
der Untersuchung mehrerer Kranken und einer theoretischen Gesammt-
prüfung über alle 4 Disciplinen. Das dritte Kigorosum erstreckt sich
über Chirurgie, Augenheilkunde, Gynäkologie und gerichtliche Medicin,
und zerfällt in praktische Prüfungen am Krankenbett und an der
Leiche, z. B. Untersuchungen der Kranken, Anlegen von Verbände^
Operationen an der Leiche, Übungen am Phantom u. a. m. und in ein
theoretisches Examen über sämmtliche 4 Fächer. An diese Prüfungen
schliesst sich die Doktor-Promotion und die Erlaubniss zur ärztlichen
Praxis an.
Als Examinatoren wirken bei den drei ärztlichen Prüfungen die
Professoren der betreffenden Unterrichtsgegenstände; ein von der
Regierung ernannter Commissar, welcher Doktor der Medicin und ge-
wöhnlich ein höherer Beamter des Sanitätsdienstes ist, hat die Aufgabe,
die Prüfungen im öffentlichen Interesse zu überwachen. Übrigens
wurde das Maass des Wissens, welches dabei verlangt wird, und die
Dauer und Form der Prüfungen durch genaue Instruktionen ausführlich
erläutert. x
Ärzte, welche sich dem öffentlichen Sanitätsdienst widmen wollen,
müssen den Nachweis liefern, dass sie nach der Promotion noch min-
destens zwei Jahre hindurch in einem öffentlichen Krankenhause
angestellt waren, oder durch drei Jahre die Praxis ausgeübt, sich
psychiatrische Kenntnisse erworben und eine gewisse Fertigkeit in der
Ausführung der Vaccination angeeignet haben, und sich dann einer
Prüfung über Hygiene und Sanitätsgesetzkunde, gerichtliche Medicin,
Pharmakognosie und Toxikologie, Chemie und Yeterinärpolizei unter-
1 Thaa a. a. 0. Supplem.-Heft S. 647 u. ff., 690 u. ff.
Österreich - Ungarn. 461
werfen, welche theils schriftlich, theils mündlich, theils praktischer
Natur ist.1
Eine vortreffliche Einrichtung zur Heranbildung tüchtiger chirur-
gischer Operateure besteht an der Wiener Hochschule. Im J. 1807
wurde nämlich die Anordnung getroffen, dass 6 Studierende der Heil-
kunde, welche ihre Studien mit ausgezeichnetem Erfolg absolvirt hatten,
durch zwei Jahre an der chirurgischen Klinik beschäftigt und in der
Ausführung chirurgischer Operationen am todten und am lebenden
Körper unterrichtet wurden. Sie bezogen während dieser Zeit bei freier
Wohnung ein Jahres-Stipendium von 300 Gulden und übernahmen dafür
die Verpflichtung, ihre Kunst im Inlande auszuüben. Die Stände mehrerer
Kronländer gründeten ähnliche Stellen für Studierende, welche aus den-
selben stammten und sich dort niederlassen wollten. Man hoffte da-
durch eine Klasse geschickter und erfahrener Chirurgen heranzubilden,
welche später als akademische Lehrer, als Direktoren und Vorstände
von Hospitälern und chirurgischen Kranken- Abtheilungen, als Sanitäts-
beamte oder in der Privatpraxis in den verschiedenen Theilen der
Monarchie eine segensreiche Wirksamkeit entfalten konnten. Gleich-
zeitig wurde am Josefinum ein solches Institut errichtet, damit auch
das Heer mit geübten Operateuren versehen werde. Als an der Wiener
medicinischen Facultät eine zweite chirurgische Klinik gegründet wurde,
wurden auch dieser eine Anzahl Studierender zur Ausbildung zu
Operateuren zugewiesen. Seit 1870 werden diese Stellen nur auf ein
Jahr verliehen; doch kann eine Verlängerung um ein zweites und
drittes Jahr auf Antrag des Professors der chirurgischen Klinik ge-
währt werden.
Die Bewerber müssen Doktoren der gesammten Heilkunde sein
und in einer Prüfung über Anatomie und Chirurgie ihre Begabung für
den Beruf eines Operateurs darthun. Nur ein Theil derselben bezieht
Stipendien; die übrigen studieren auf eigene Kosten. An keiner der
beiden chirurgischen Kliniken darf ihre Zahl grösser als acht sein.
Ähnliche Einrichtungen wurden 1882 an den geburtshilflichen
Kliniken der Wiener Hochschule getroffen, um die Heranbildung ge-
schickter geburtshilflicher Operateure zu erzielen.
Einige Bedenken, zu welchen das medicinische Unterrichts wesen
Österreichs Veranlassung giebt, wurden in der Presse schon oft er-
örtert. Zunächst nehmen die Vorlesungen und Prüfungen über die für
das Studium der Heilkunde vorbereitenden Wissenschaften mehr Zeit
in Anspruch, als es nach dem Lehrplan der Gymnasien gerechtfertigt
1 Eeichsgesetzblatt 1873, 29. März, Stück 12.
462 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
erscheint; derselbe widmet nämlich den Naturwissenschaften so viele
Unterrichtsstunden, dass man annehmen darf, dass die Studierenden,
wenn sie die Universität beziehen, vom Gymnasium eine allgemeine
naturwissenschaftliche Vorbildung mitbringen, die wenigstens in Bezug
auf die Mineralogie, Botanik und Zoologie so weit reicht, dass es über-
flüssig wird, das erste Studienjahr nahezu vollständig auf diese Dis-
ciplinen zu verwenden, wie es jetzt häufig geschieht. x
Auch die Einrichtung, dass diese Prüfungen ebenso wie auch das
erste Rigorosum in die Studienzeit verlegt werden, hat einige Nach-
theile im Gefolge; denn sie veranlasst manche Studierende, die Zeit für
die Vorbereitung dazu den Collegien, die sie hören sollen, fortzunehmen.
Noch weit schädlicher wirkte in dieser Hinsicht die bisherige Gewohn-
heit der Studierenden, ihrer Militärpflicht während der Studienzeit zu
genügen. Allerdings wurden sie als militärärztliche Eleven den Garnison-
Spitälern zugetheilt, damit sie im Sanitätsdienst verwendet wurden;
aber dazu fehlten ihnen die erforderlichen medicinischen Kenntnisse.
Sie wurden somit dem systematischen Gange ihrer Studien entrissen,
ohne dass sie oder die Armee irgend welchen Nutzen davon hatten.
Nach dem neuen Wehrgesetz sind die Studenten der Medicin ver-
pflichtet, ein halbes Jahr mit der Waffe und ein halbes Jahr als Ärzte
zu dienen. Das erste kann während der Studienzeit und zwar inner-
halb eines Sommersemesters, das letzte selbstverständlich erst nach der
Beendigung der Studien absolvirt werden. Um deren Unterbrechung
durch den Militärdienst mit der Waffe zu vermeiden, ist es wimschens-
werth, dass derselbe entweder vor dem Beginn oder nach der Beendigung
des Universitäts-Studiums abgemacht wird.
Wenn in Wien darüber geklagt wird, dass der Besuch der Collegien
von Seiten der Studierenden unregelmässig ist, so sollte man Vor-
kehrungen treffen, um die Ursachen, welche dieser Erscheinung zu
Grunde liegen, zu beseitigen. Dass an klinischen Instituten, welche
von Hunderten von Schülern besucht werden, die Form der Prakti-
kanten -Thätigkeit, wie sie jetzt üblich ist, für die ärztliche Bildung
nicht genügt, ist begreiflich; hier könnte man an Einrichtungen
denken, ähnlich der Stage an den medicinischen Schulen in Frankreich
und England.2 Ob bei dem Mangel derselben die gegenwärtige Art
der Prüfung in der praktischen Heilkunde, bei welcher von einer
längeren Beobachtung und Behandlung der vorgestellten Kranken
1 Betrachtungen über unser medicinisches Unterrichtswesen, Wien 1886, 8. 14.
2 Schon P. Frank (VI, Abth. 2, S. 266) wünschte, dass alle Primar-Ärzte
des Wiener allgemeinen Krankenhauses klinischen Unterricht ertheilen.
Die deutschen Mittel- u. Kleinstaaten vor d. Gründg. des Deutschen Reiches. 463
abgesehen wird, genügt, um die Befähigung zur Ausübung der ärzt-
lichen Praxis zu erkennen, darf wohl mit Kecht bezweifelt werden. —
Würde nach der Beendigung der Rigorosen noch eine die wich-
tigsten Unterrichtsgegenstände umfassende Schlussprüfung stattfinden,
so würde dadurch nicht blos eine Controlle der einzelnen Prüfungen
herbeigeführt, sondern zugleich die Möglichkeit geschaffen, einen Total-
Eindruck über das Wissen des Candidaten zu gewinnen.
Die österreichische Unterrichts -Verwaltung, welche eifrig bemüht
ist, das ärztliche Bildungswesen zu verbessern und durch die Errichtung
neuer Lehr -Institute und Lehrkanzeln zu vervollständigen, wird diese
Bemerkungen mit wohlwollender Nachsicht aufnehmen und mit dem
Interesse für die Sache, durch welches sie hervorgerufen wurden, ent-
schuldigen.
Die deutschen Mittel- und Kleinstaaten vor der
Gründung des Deutschen Reiches.
Die politische Zerrissenheit des deutschen Reiches und die Auto-
nomie der einzelnen Länder desselben führte zur Gründung zahlreicher
Hochschulen, von denen manche ein kümmerliches Dasein fristeten.
Es mangelte ihnen an Lehrern und an Schülern, und sie besassen
weder Lehrmittel noch gesicherte Einnahmen zur Bestreitung der noth-
wendigen Bedürfnisse. Sie wurden daher auch nicht sehr vermisst, als
sie „theils in Eolge eines langen Siechthums, theils durch gewaltsame,
mitunter als Vereinigung mit einer anderen Hochschule beschönigte
LTnterdrückung" aufhörten zu existiren. 1
Dieses Schicksal hatten die Universitäten zu Bützow, welche 1789
mit der Hochschule zu Rostock vereinigt wurde, zu Stuttgart, die 1794
mit der Tübinger Universität verschmolz, zu Bonn, welche in demselben
Jahre aufgelöst wurde, zu Köln, Trier und Mainz, denen 1798 ein
Ende bereitet wurde, zu Bamberg, welche 1803, und zu Dillingen,
Fulda und Duisburg, die 1804 aufgehoben wurden. Helmstädt, Rinteln
und Altdorf verloren 1809, Frankfurt a/O. 1811, Paderborn 1815,
Erfurt 1816, Wittenberg und Ellwangen 1817 und Herborn und
Münster, wo jedoch eine theologische und philosophische Facultät zurück-
blieb, 1818 ihre Hochschule.
1 J. v. Döllinger: Die Universitäten sonst und jetzt, München 1867.
464 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Die politischen Umwälzungen jener Periode, welche die Landkarte
Deutschlands häufig verändert und manche Landestheile bald diesem,
bald jenem Staat zugewiesen hatten, übten auch auf das medicinische
Unterrichtswesen einen grossen Einfluss aus. Einzelne Universitäten,
wie Salzburg, Innsbruck, Würzburg und Freiburg wurden dadurch
einem beständigen Wechsel in ihren organisatorischen Einrichtungen
unterworfen, der für die Entwickelung des Unterrichts keineswegs för-
derlich war.
Bessere Zustände traten erst ein, nachdem der Friede errungen
worden war und die durch denselben begründeten Staatsgebilde in
Deutschland eine dauernde Form angenommen hatten. Neben den
beiden deutschen Grossmächten Österreich und Preussen bestanden
fortan die Königreiche Bayern mit den Universitäten zu Landshut, welche
bis 1802 in Ingolstadt war und 1826 nach München verlegt wurde,
zu Würzburg und Erlangen, Würtemberg mit der Hochschule zu Tü-
bingen, Sachsen mit derjenigen zu Leipzig und Hannover mit der Uni-
versität Göttingen, die Grossherzogthümer Baden mit den Hochschulen
zu Heidelberg und Freiburg, Mecklenburg mit der Universität Rostock,
Hessen mit derjenigen zu Giessen, das Kurfürstenthum Hessen mit der
Hochschule zu Marburg, und die sächsischen Herzogthümer mit der
Universität Jena, das mit Dänemark vereinigte Herzogthum Schleswig-
Holstein mit der Hochschule zu Kiel, und eine grosse Anzahl von
Staaten, welche keine Universitäten besassen.
Das medicinische Unterrichtswesen gestaltete sich in den verschie-
denen Ländern bei manchen Eigenthümlichkeiten im Allgemeinen ziem-
lich gleichartig. Die Einrichtungen in Österreich und Preussen dienten,
nachdem die Erinnerungen an die Franzosenzeit verklungen waren, den
Meisten als Vorbild, wenn auch bisweilen das Streben nach Originalität
hervortrat und beachtenswerthe Resultate erzielte.
Über die Bildung der Ärzte in Bayern am Schluss des vorigen
Jahrhunderts geben die medicinischen Studienpläne, welche 1774, 1776,
1784 und 1799 für die Hochschule zu Ingolstadt vorgeschrieben wurden,
genaue Aufschlüsse.1 Darnach wurde von den Studierenden, welche
die medicinische Doktor -Würde anstrebten, eine philosophische Vor-
bildung und ein dreijähriges Fachstudium verlangt. Alle drei Monate
wurden sie geprüft; das der Promotion vorausgehende Examen dauerte
5 Stunden. Seit 1788 wurde ausser dem medicinischen Doktorat auch
dasjenige der Chirurgie verliehen. Aber erst i. J. 1807, nachdem Bayern
zu einem Königreich erhoben worden war, wurde angeordnet, dass die
1 Peantl a. a. 0. I, 676 u.
Die deutschen Mittel- u. Kleinstaaten vor d. Gründg. des Deutschen Reiches. 4(55
Promotionen nicht mehr, wie bisher imperiali ei pontificia auctoritate,
sondern regia auctoritate vorgenommen wurden.
Unter dem Ministerium Montgelas wurde den Hochschulen Baj^erns
eine neue Organisation gegeben, welche die Denkweise des Napoleoni-
schen Zeitalters wieder spiegelt. Mit einem Federstrich wurde darin die
alte historische Eintheilung nach den vier Facultäten beseitigt und statt
dessen alle Lehrgegenstände in zwei Klassen geschieden, von denen die
eine diejenigen Wissenschaften umfasste, welche zum Begriff der Allge-
meinbildung gezogen werden können, die andere die für einen bestimmten
Lebensberuf vorbereitenden DiscipJinen enthielt. Jede dieser beiden
Gruppen zerfiel in 4 Abtheilungen. Die erste bildeten 1) die Philo-
sophie mit ihren Nebenzweigen, 2) die Mathematik und die Natur-
wissenschaften, 3) die Geschichte (Culturgeschichte) , 4) die alten und
neuen Sprachen; die zweite Klasse bestand 1) aus den für die Bildung
des religiösen Volkslehrers erforderlichen Kenntnissen (Theologie), 2) der
Rechtskunde, 3) den staatswirthschaftlichen und Cameral-Wissenschaften
und 4) der Heilkunde.
Die Lehrkörper setzten sich zusammen aus ordentlichen und ausser-
ordentlichen Professoren und Privatdocenten, „zur Aushilfe, um sie zu
Lehrern nachzubilden". Jede Abtheilung wählte ein Mitglied in den
Senat, welcher die Angelegenheiten der Universität leitete. Diese Ein-
theilung deckte sich mit der früheren insofern, als die erste Klasse die
von der philosophischen Facultät vertretenen Fächer enthielt, die zweite
aus den übrigen Facultäten gebildet wurde. Sie erhielt sich einige
Jahre und ging dann allmälig wieder in die frühere Form über.
Das ärztliche Bildungswesen wurde durch das organische Edikt
vom 8. September 1808 geregelt. In demselben wurde angeordnet,
„dass nur Derjenige zur ärztlichen Praxis zugelassen werde, der die
Prüfungen über den Theil der Heilkunst, den er ausüben will, bestanden
hat". Gleichzeitig wurde aber bestimmt, „dass die Wundarzneikunst
in Zukunft nur von jenen Individuen ausgeübt werde, welche die Arznei-
wissenschaften erlernt haben", und den Universitäten befohlen, „Nie-
mandem einen akademischen Grad aus der Chirurgie zu ertheilen, der
nicht bereits denselben in der Medicin erworben hat".
Die Studienzeit an der Universität dauerte drei Jahre. Am Schluss
eines jeden Semesters fanden Prüfungen über die im Studienplan vor-
geschriebenen Discipliuen statt. Fielen dieselben ungünstig aus, so
nnissten sie wiederholt werden. Nach der Beendigung der Studien er-
folgte ein Examen, bei welchem mehrere Fragen unter Clausur, wenn
möglich in lateinischer Sprache, beantwortet, ein Kranker in der Klinik
untersucht und behandelt und eine theoretische Gesammtprüfung über
Puschmann. Unterricht. 30
466 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
alle Unterrichtsgegenstände abgelegt wurde. Wenn der Candidat nicht
blos die medicinische, sondern zugleich die chirurgische Doktor -Würde
erlangen wollte, so musste er ausserdem eine chirurgische Operation
an der Leiche ausführen und einen Verband anlegen. Mit der Aus-
arbeitung einer Dissertation und der Vertheidigung der aufgestellten
Thesen waren dann alle wissenschaftlichen Forderungen erfüllt, welche
der Promotion vorausgingen.
Aber damit war keineswegs die Berechtigung zur ärztlichen Praxis
verbunden, sondern der junge Doktor musste sich zu diesem Zweck
noch zwei Jahre in einem Krankenhause oder unter der Anleitung
eines vielbeschäftigten Arztes in der praktischen Heilkunst vervoll-
kommnen und hierauf einer Prüfung unterziehen, welche aus der Probe-
Relation, bei der 10 Fragen aus der internen Medicin, Chirurgie, Ge-
burtshilfe, Thierarzneikunde und gerichtlichen Medicin schriftlich unter
Clausur beantwortet, ein Krankheitsfall behandelt und eine mündliche
Prüfung abgelegt wurde, und der Concurs-Prüfung bestand, welche den
Zweck hatte, die tüchtigsten Candidaten herauszufinden, um sie für den
Staatsdienst in Aussicht zu nehmen, und sich hauptsächlich auf einige
schriftliche Clausur-Arbeiten über Gegenstände der praktischen Medicin
beschränkte. Die praktische Befähigung zur Ausübung der Geburtshilfe
erwarben die Ärzte in einer Entbindungsanstalt.
Neben den Doktoren der Heilkunde gab es noch Landärzte und
Chirurgen, welche in besonderen Lehranstalten unterrichtet wurden.
Eine neue Studien- und Prüfungsordnung für die Studierenden
der Heilkunde wurde am 30. Mai 1843 erlassen. In derselben wurde
bestimmt, dass sie nach einem zweijährigen Studium an der Universität
die Admissions- Prüfung ablegen, welche sich über Zoologie, Botanik,
Mineralogie, Chemie und Physik erstreckte. Hierauf begann das eigent-
liche medicinische Fachstudium, welches nach einer dreijährigen Dauer,
also nach fünfjährigem Universitätsstudium mit einer Prüfung abge-
schlossen wurde, welche in der xinatomie die Eröffnung einer der
grösseren Höhlen des Körpers und die Demonstration der darin befind-
lichen Eingeweide, sowie die Beschreibung eines selbstgefertigten und
einiger anderer osteologischer, angiologischer oder neurologischer Prä-
parate verlangte, in den übrigen Fächern sich jedoch auf die münd-
liche Beantwortung der Fragen, die darüber gestellt wurden, beschränkte.
Darauf folgte das Biennium practicum, welches zur Ausbildung in Spe-
cialfächern benutzt und hauptsächlich an klinischen Lehranstalten und
grossen Krankenhäusern zugebracht werden sollte.
Nach der Beendigung des Biennium practicum geschah die Schluss-
prüfung, die an die Stelle der Probe-Relation und der Concurs-Prüfung
Die deutschen Mittel- u. Kleinstaaten vor d. Gründg. des Deutsehen Reiches. 467
trat, welche aufgehoben wurden. Der Candidat, welcher sich derselben
unterzog, musste durch Zeugnisse nachweisen, dass er in der Klinik
3 interne und 3 chirurgische Fälle behandelt und bei 3 Geburten
assistirt habe, und die darüber verfassten Krankengeschichten vorlegen,
bevor er zu der Prüfung zugelassen wurde. Die letztere bestand aus
a) einem praktischen Theile, nämlich der Ausführung von 3 chirurgi-
schen Operationen an der Leiche, der Anlegung von 3 Verbänden und
der Yornahme von 3 geburtshilflichen Operationen am Phantom,
b) einem mündlichen Examen über 1) Anatomie und Physiologie,
2) Pharmakologie und Pharmacie, 3) Allgemeine Pathologie und The-
rapie, 4) Specielle Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten,
5) Chirurgie, 6) Geburtshilfe, 7) Veterinärkunde und 8) Gerichtliche
Medicin und Sanitätspolizei, und endlich c) aus schriftlichen Clausur-
Arbeiten über Fragen aus denselben 8 Prüfungsgegenständen. Daran
schloss sich die Vorlage einer Dissertation, die Vertheidigung der
Thesen und der Promotions-Akt. Der Studierende war somit genöthigt,
7 Jahre an der Universität zu studieren, bevor er die medicinische
Doktor- AVürde erhielt, mit welcher zugleich die Erlaubniss zur Aus-
übung der ärztlichen Praxis ertheilt wurde. Auch genügte sie für eine
Anstellung im Sanitätsdienst; ein besonderes Examen war dafür nicht
nothwendig. Das Prüfungsgeschäft lag vollständig in den Händen der
Facultäten.
Die Prüfungsordnung vom 22. Juni 1858 führte anstatt der Ad-
missions-Prüfung die naturwissenschaftliche ein, welche schon nach dem
ersten Studienjahre abgelegt wurde und wie jene über Zoologie, Botanik,
Mineralogie, Chemie und Physik handelte. Das zweite Examen, welches
nach einem vierjährigen Fachstudium, also nach einem fünfjährigen
Aufenthalt an der Universität folgte, unterschied sich von dem früheren
dadurch, dass neben der Anatomie auch die innere Medicin, Chirurgie,
Augenheilkunde und Geburtshilfe praktisch geprüft wurde, indem der
Candidat genöthigt wurde, zwei interne, zwei chirurgische und einen
ophthalmiatrischen Krankheitsfall durch 8 Tage zu behandeln, zwei
chirurgische und eine Augen-Operation an der Leiche auszuführen, zwei
Verbände anzulegen, zwei Schwangere zu untersuchen, zwei geburts-
hilfliche Diagnosen und Operationen am Phantom vorzunehmen und
bei zwei Geburten zu assistiren. Im mündlichen Examen bildeten die
Anatomie und Physiologie selbstständige Prüfungsfächer; die patholo-
gische Anatomie wurde mit der allgemeinen Pathologie, die Geschichte
der Medicin mit der allgemeinen Therapie verbunden, während die
Veterinärkunde, gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei wegblieben.
Das Biennium practicum wurde auf ein Jahr eingeschränkt, welches
30*
468 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
zum Besuch der Vorlesungen über gerichtliche Medicin, Medicinal-Polizei,
Psychiatrie und Thierarzneikunde, zur Ausbildung in einzelnen Special-
fächern und zur Ausübung der poliklinischen Praktikanten -Thätigkeit
verwendet wurde. Manche dienten während dieser Zeit zugleich als
Hilfsärzte in einem Hospital oder bei einem Sanitätsbeamten.
Am Schluss des „praktischen Jahres" fand die Staatsprüfung statt,
welche aber nur in München und zwar einmal im Jahre von einer
aus Professoren, Medicinalbeamten und praktischen Ärzten zusammen-
gesetzten und vom Ministerium ernannten Commission abgenommen
wurde, sich über 1) Specielle Pathologie und Therapie, 2) Chirurgie,
3) Geburtshilfe, 4) Psychiatrie, 5) Staatsarzneikunde und 6) Thierheil-
kunde erstreckte und sowohl mündlich als schriftlich geschah. Hierauf
erfolgte die ärztliche Approbation.1
Nach der Gründung des deutschen Reiches wurde in den ver-
schiedenen Staaten, welche dazu gehören, das medicinische Studium
und Prüfungswesen einheitlich geregelt. Sie behielten sich jedoch die
gesetzlichen Bestimmungen über die Ausbildung der Ärzte vor, welche
sich dem öffentlichen Sanitätsdienst widmen. In Bayern wurde zu diesem
Zweck i. J. 1876 eine Verordnung erlassen, nach welcher die Bewerber
um eine ärztliche Stelle im Staatsdienst ihre Kenntnisse in der gericht-
lichen Medicin, öffentlichen Gesundheitspflege, Medicinalpolizei und
Psychiatrie sowohl mündlich als schriftlich und durch praktische Ar-
beiten zeigen müssen.
Im Königreich Würtemberg legten die Studierenden der Medicin
früher die erste Prüfung am Schluss der Studien ab. Sie war mündlich
und schriftlich, fand vor der medicinischen Facultät zu Tübingen statt,
und zerfiel in eine naturwissenschaftliche Abtheilung, welche die Zoologie,
Botanik, Mineralogie, Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie um-
fasste, in einen medicinischen Abschnitt, der über allgemeine und spe-
cielle Pathologie, pathologische Anatomie und Heilmittellehre handelte,
und einen chirurgischen Theil, welcher die specielle chirurgische Patho-
logie, Operationslehre und topographische Anatomie betraf.2
Hierauf folgte ein Jahr der weiteren praktischen Ausbildung, das
zum Hospitaldienst und zu wissenschaftlichen Reisen verwendet wurde,
und dann das Staatsexamen, welches von dem Medicinal-Collegium iu
Stuttgart abgenommen wurde, aus einer medicinischen, chirurgischen
und geburtshilflichen Abtheilung bestand und nicht blos schriftlich
1 Regierungsblatt f. d. Königreich Bayern 1808, S. 2189 n. ti"., 1843, S. 433,
1858, S. 873.
2 V. A. Riecke: Das Medicinalwesen des Königreichs Würtemberg, Stutt-
gart 1856.
Die deutschen Mittel- u. Kleinstaaten vor d. Gründg. des Deutsehen Reiches. 4.69
und mündlich, sondern auch praktischer Natur war, indem Kranke
untersucht und behandelt, Operationen an der Leiche ausgeführt und
Phantom-Übungen veranstaltet wurden.
Auch im Grossherzogthum Baden wurde die Erlaubniss zur ärzt-
lichen Praxis durch die Staatsprüfung erworben, welche grösstentheils
theoretisch war und von einer Commission abgenommen wurde, die
sich vorzugsweise aus Mitgliedern des Medicinal-Collegiums zusammen-
setzte. Die Doktor-Promotion war davon ganz unabhängig, geschah an
den medicinischen Facultäten, bot nichts weiter als einen leeren Titel
und wurde daher von manchen Ärzten gar nicht gesucht.
Im Königreich Sachsen gab es früher ausser den promovirten
Ärzten, welche an der Universität zu Leipzig ihre Ausbildung erhielten,
noch medicinae practici, Wundärzte und Geburtshelfer, die an der me-
dicinisch-chirurgischen Akademie zu Dresden unterrichtet wurden. Die
letztere ging 1815 aus dem Collegium medico-chirurgicum hervor und
bestand bis 1864.
Die medicinae practici waren eine niedere Klasse von Ärzten für
innere Krankheiten und hatten nur ein sehr beschränktes Niederlassungs-
recht. Die Wundärzte durften überall die chirurgische Praxis treiben, die
Geburtshilfe jedoch nur dann, wenn sie sich der dafür vorgeschriebenen
Prüfling unterzogen hatten. Auch konnten sich die medicinae practici
die Legitimation zur Ausübung der chirurgischen und geburtshilflichen
Praxis erwerben, wenn sie sich in diesen Theilen der Heilkunde exa-
miniren Hessen.
Wer das Gymnasium absolvirt hatte und die Universität bezog,
um sich dem Studium der Medicin zu widmen, legte nach dem zweiten
Studienjahre das Baccalaureats-Examen, welches ungefähr dem jetzigen
Tentamen physicum entsprach, und am Schluss der Studien vor der
medicinischen Facultät die mit der Doktor-Promotion verbundene Appro-
bations-Prüfung ab, die sich auf alle wichtigen Unterrichtsgegenstände
erstreckte und ziemlich hohe Anforderungen stellte.
In den sächsischen Herzogtümern bestanden früher Staatsprüfungen,
welche von den Exammations-Commissionen in den Hauptstädten der
einzelnen Länder abgenommen wurden. Erst 1862 trafen Weimar,
Coburg- Gotha und Altenburg ein Übereinkommen, wornach das Prü-
fungsgeschäft der medicinischen Facultät zu Jena übertragen wurde.
Das Examen umfasste die wichtigsten Theile der Heilkunde, war mit
praktischen Arbeiten, klinischen Demonstrationen u. dgl. verbunden und
endete mit der Verleihung des Doktor-Diploms, auf Grund dessen die
verschiedenen Staatsregierungen die ärztliche Approbation ertheilten.
Im Königreich Hannover wurden die Ärzte an der Universität zu
470 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Göttingen, die auf einer niedrigeren Bildungsstufe stehenden Chirurgen
an der Chirurgen-Schule zu Hannover erzogen. Die ersteren machten
nach etwa 7 Semestern die Doktorats -Prüfung, welche sämmtliche
Hauptfächer der Medicin umfasste, aber keineswegs zur ärztlichen Praxis
berechtigte. Die Approbation wurde lediglich durch das Staatsexamen
erworben, welches von der von der Regierung ernannten Examinations-
Commission abgenommen wurde.
Auch in Mecklenburg1 existirten früher neben den Ärzten, die an
der Universität zu Rostock ausgebildet und promovirt wurden, Chirurgen,
welche durch eine Prüfung vor dem Medicinal-Collegium die mehr
oder weniger eingeschränkte Erlaubniss zur Ausübung ihrer Kunst
erlangt hatten. Den Doktoren der Heilkunde wurde auf Grund ihrer
Zeugnisse von der Regierung die ärztliche Approbation ertheilt. Diese
Prüfungsordnung wurde aber noch vor der Einführung der deutschen
Reichsgesetze nach dem Muster der preussischen Prüfungsordnung
umgeändert.
Im Grossherzogthum Hessen gab es nur eine Klasse von Ärzten.
Zum Studium der Medicin wurde nur Derjenige zugelassen, welcher das
Gymnasium absolvirt hatte. Die ärztlichen Prüfungen bestanden aus
folgenden Th eilen: 1) dem naturwissenschaftlichen Examen, welches die
Mineralogie, Botanik, Zoologie, Physik und Chemie umfasste, 2) der
anatomischen Prüfung, welche theoretisch und praktisch und sehr ein-
gehend war, 3) der Schlussprüfung, die sich aus schriftlichen Arbeiten,
dem Examen am Krankenbett und der mündlichen Schlussprüfung zu-
sammensetzte, die mit Ausnahme der Anatomie alle Zweige der Heil-
kunde in Betracht zog. Hierauf folgte die Anfertigung einer Disser-
tation, Vertheidigung der Thesen und Doktor-Promotion, mit welcher
das Recht zur Ausübung der Praxis verbunden war.
In den deutschen Staaten, welche keine medicinischen Lehranstalten
besassen, wie in Oldenburg, Braunschweig, Hamburg, Lübeck u. s. w.
bestanden ebenfalls Prüfungsbehörden, welche sich aus Sanitätsbeamten
und angesehenen Ärzten zusammensetzten und die ärztliche Approbation
ertheilten.
1 Doknblüth: Darstellung der medicinischen Polizeigesetzgebung, Schwerin
1834.
Preussen und das jetzige Deutsche Reich. 471
Preussen und das jetzige Deutsche Reich.
Die brandenburgisch-preussische Monarchie erlangte im 18. Jahr-
hundert eine hervorragende politische und militärische Machtstellung.
Die Idee einer kräftigen Staatsgewalt, welche alle Theile der Verwaltung
beherrscht und zum Wohl der Gesammtheit leitet, brach sich hier bald
Bahn und erfüllte alle Kreise der Bevölkerung. Auch das medicinische
Unterrichtswesen blieb von dieser Tendenz nicht unberührt.
Schon 1725 wurde ein Staatsexamen eingeführt, welches bei der
Leichtfertigkeit, mit der damals an manchen Orten ärztliche Diplome
verliehen wurden, nothwendig sein mochte.1 Es beschränkte sich
übrigens auf die Anatomie und die Beschreibung eines Krankheitsfalles,
den der Candidat beobachtet hatte. Dazu kam später ein mündliches
Examen über die wichtigsten Theile der Heilkunde. Im J. 1798 wurde
bestimmt, dass anstatt der schriftlichen Bearbeitung eines Krankheits-
falles zwei Kranke in Gegenwart des Examinators untersucht und durch
4 Wochen behandelt wurden. Die Studienzeit wurde auf mindestens
3 Jahre festgesetzt.
Eine vollständige Organisation des medicinischen Studien- und
Prüfungswesens erfolgte i. J. 1825. Darnach unterschied man mehrere
Kategorien von Heilkundigen, nämlich promovirte Ärzte, welche nur
zur inneren Praxis oder zugleich auch zur Ausübung der Chirurgie
berechtigt waren, und Wundärzte erster und zweiter Klasse. Dieselben
waren ausserdem zur Ausübung der Geburtshilfe und der Augenheil-
kunde legitimirt, wenn sie die dafür erforderlichen Prüfungen abgelegt
hatten.
Die promovirten Ärzte wurden an den Universitäten ausgebildet.
Sie mussten bei der Immatriculation den Nachweis liefern, dass sie das
Gymnasium absolvirt und das Abiturienten -Examen bestanden hatten,
sich hierauf durch 4 Jahre dem medicinischen Studium widmen und
das letzte derselben zum Besuch der klinischen Lehranstalten benutzen.
Es gab folgende Prüfungen: 1) das Tentamen philosophicum, welches
1826 eingeführt wurde, sich über Logik und Psychologie, Physik,
Chemie, Mineralogie, Botanik und Zoologie erstreckte und von den
Professoren der philosophischen Facultät in Gegenwart des Dekans der
medicinischen Facultät abgenommen wurde, 2) das Tentamen medicum
und Examen rigorosum, welche in einer schriftlichen Clausur- Arbeit
und einem mündlichen Examen bestanden, über alle medicinischen
1 L. v. Rönne und H. Simon: Das Medicinalwesen des Preussischen Staates,
Breslau 1844, I, 344 u. ff.
472 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Unterrichtsgegenstände handelten und zur Promotion berechtigten,
3) die Staatsprüfung, die nur in Berlin stattfand und das Recht zur
ärztlichen Praxis gab.
Während das Ten tarnen medicum vor dem Dekan, und das Rigo-
rosum vor den Professoren der medicinischen Facultät abgelegt wurde,
wirkten bei der Staatsprüfung „theoretisch und praktisch wissenschaft-
lich gebildete Männer aus allen Zweigen des heilkundigen Wissens" als
Examinatoren. Professoren und andere Universitätslehrer sollten vom
Prüflingsgeschäft principiell ausgeschlossen und höchstens nur als Prüfer
über solche Fächer zugelassen werden, welche sie nicht lehren. Kein
Mitglied dieser Examin ations-Commission, welche alljährlich vom Mini-
sterium ernannt wurde, durfte länger als 2 Jahre seine Funktionen
ausüben.
Die Staatsprüfung setzte sich aus mehreren Abschnitten zusammen,
von denen der erste die Anatomie betraf, die Demonstration des Situs
viscerum, die Anfertigung eines anatomischen Präparats und die Er-
klärung anderer Präparate, welche dem Prüfling vorgelegt wurden,
verlangte, der zweite über die innere Medicin handelte und in der
Untersuchung und Behandlung von zwei Kranken durch 2 — 3 Wochen,
an welche sich Fragen über andere Krankheitsfälle anschlössen, und
einer praktischen Prüfung über Receptirkunst bestand, der dritte sich
in ähnlicher Weise mit zwei chirurgischen Krankheitsfällen beschäftigte
und der vierte, die mündliche Schlussprüfling, nochmals sämmtliche
Lehrgegenstände umfasste und gleichsam als Controlle der voran-
gegangenen Prüflingen diente. Hierauf wurde die Berechtigung zur
Behandlung der inneren Krankheiten verliehen. Wer auch chirurgische
Praxis treiben wollte, war verpflichtet, sich noch einer chirurgisch-tech-
nischen Prüfung zu unterziehen, welche zwischen dem zweiten und
dritten Abschnitt eingeschaltet wurde und darin bestand, dass der Can-
didat ein chirurgisches Thema schriftlich bearbeitete, seine Kenntnisse
in der Operationskunst und Instrumentenlehre zeigte, einen Verband
anlegte und zwei Operationen an der Leiche ausführte. Wenn dieses
Examen vorzüglich ausfiel, so erhielt er das Diplom als Operateur, im
anderen Falle dasjenige als praktischer Arzt und Wundarzt. Doch
wurde der Titel „Operateur" 1855 aufgehoben.
Die Wundärzte der ersten Klasse bedurften einer geringeren Allge-
meinbildung und studierten durch 3 Jahre an einer medicinischen Facultät
oder einer medicin isch-chirurgischen Lehranstalt; doch wurde ihnen ein
Jahr der Studienzeit nachgesehen, wenn sie vorher zwei Jahre hindurch
als Chirurgen niederer Kategorie thätig gewesen waren. Sie erhielten
die Erlaubniss zur Ausübung der internen und chirurgischen Praxis,
Preussen und das jetzige Deutsche Reich. 478
nachdem sie die Staatsprüfung bestanden hatten. Dieselbe wurde nach
den gleichen Grundsätzen geregelt wie diejenige für die promovirten
Ärzte und unterschied sich von ihr nur dadurch, dass sie keine natur-
wissenschaftlichen Kenntnisse voraussetzte und geringere Anforderungen
an die ärztliche Bildung stellte. Sie fand in deutscher Sprache statt,
während die Doktoren einen Theil der Prüfung in lateinischer Sprache
ablegten.
Die Wundärzte zweiter Klasse erwarben die für ihren Beruf er-
forderlichen Kenntnisse theils durch die Unterweisung eines Meisters
ihrer Kunst, bei dem sie in die Lehre traten, theils durch den Dienst
in den Militärlazarethen und Krankenhäusern oder durch den Besuch
einzelner Vorlesungen an einer medicinischen Facultät oder chirurgisch-
medicinischen Lehranstalt. In der Prüfung, welche von den Medicinal-
Collegien der Provinzen abgenommen wurde, wurde verlangt, dass der
Candidat drei Fragen über allgemeine Gegenstände der Physiologie,
Materia medica et chirurgica und Keceptirkunde, über Wiederbelebungs-
versuche bei Scheintodten, Hilfeleistungen bei plötzlicher Lebensgefahr,
vorläufige Anordnungen beim Ausbruch von Epidemien u. a. m. unter
Clausur schriftlich beantwortete, den Situs viscerum demonstrirte, ein
anatomisches Präparat anfertigte und andere Präparate, die ihm vor-
gelegt wurden, erklärte, eine kleine Operation an der Leiche ausführte,
einen Verband anlegte und am Kranken häutig vorkommende chirur-
gische Krankheitszustände, wie Entzündungen, Eiterungen, Hernien,
Beinbrüche, Verrenkungen, Brand u. a. m. diagnosticirte.
Die Berechtigung zur Ausübung der Geburtshilfe wurde nur an
promovirte Ärzte und Wundärzte erster und zweiter Klasse, also an
Personen verliehen, welche bereits zur ärztlichen Praxis in gewissen
Beziehungen legitimirt waren. Vor der Prüfung, der sie sich zu diesem
Zweck unterzogen, mussten sie den Nachweis liefern, dass sie einen
vollständigen Cursus der Geburtshilfe absolvirt und zwei Geburten ge-
hoben hatten; hierauf wurden sie veranlasst, drei Fragen aus diesem
Gebiet schriftlich zu beantworten, ihre Fertigkeit im Touchiren am
Phantom und an der Schwangeren zu zeigen, die Wendung und die
Extraktion mit der Zange am Phantom auszuführen und eine münd-
liche Prüfung über Geburtshilfe abzulegen.
Zur Ausübung der Augenheilkunde war jeder Arzt und Wundarzt
berechtigt, welcher die chirurgische Praxis betreiben durfte. Ein be-
sonderes Examen über Augenheilkunde war daher nur für diejenigen
Ärzte vorgeschrieben, denen ein chirurgisches Diplom fehlte. Es bestand
darin, dass 2 oder 3 Fragen über die Anatomie und Physiologie des
Auges schriftlich beantwortet, einige Augenoperationen an der Leiche
474 Der medizinische Unterricht in der neuesten Zeit.
gemacht, die Kenntniss der erforderlichen Instrumente dargelegt und
ein mündliches Examen über Augenheilkunde abgelegt wurde.
Im öffentlichen Sanitätsdienst wurden nur promovirte Ärzte und
Wundärzte erster Klasse angestellt, welche zur Ausübung aller Theile
der ärztlichen Praxis befugt waren. Die ersteren wurden Physici, die
letzteren forensische Wundärzte genannt. Die Bewerber um Stellen
dieser Art mussten 4 Aufgaben aus der gerichtlichen Medicin schriftlich
bearbeiten, wozu ihnen ein Zeitraum von mehreren Monaten gewährt
wurde, eine gerichtsärztliche Obduktion vornehmen, eine Apotheke visi-
tiren, ihre diagnostischen und therapeutischen Kenntnisse in der Thier-
heilkunde praktisch bekunden und eine Prüfung über Staatsarzneikunde
ablegen. Im Jahre 1850 wurde angeordnet, dass nur diejenigen Ärzte,
welche in der Staatsprüfung das Prädicat „vorzüglich" erhalten hatten,
sofort nach der Approbation zum Physikats-Examen zugelassen wurden,
während die übrigen damit einige Jahre warten mussten.
Dieses durch seine verschiedenen Combinationen sehr complicirte
Prüfungssystem hatte manche Übelstände im Gefolge. Es schied die
Ärzte in eine Menge von Gruppen, zwischen denen Competenz-Conflikte
kaum zu vermeiden waren, setzte die Eacultäten herab, kränkte die
Universitätslehrer durch ein ungerechtfertigtes Misstrauen, indem es
dieselben grundsätzlich vom Prüfungsgeschäft beim Staatsexamen aus-
schloss, überbürdete die Examinationsbehörde, welche dabei thätig war,
ernannte Personen zu Prüfern, welche zu diesem Amt nur selten be-
fähigt und geeignet waren, und nöthigte die Prüfungs-Candidaten zu
einem längeren Aufenthalt in Berlin, der mit vielen Unkosten ver-
bunden war.
Diese Gründe in Verbindung mit der fortschreitenden Entwicke-
lung der Medicin führten unter dem Druck des nach Gleichstellung
und Gleichberechtigung ringenden Zeitgeistes zu einer theilweisen Um-
gestaltung des medicinischen Studien- und Prüfungswesens. In den
Jahren 1848 und 1849 wurden die medicinisch- chirurgischen Lehr-
anstalten zu Breslau, Greifswald, Münster und Magdeburg, welche bis
dahin neben den medicinischen Facultäten zur Ausbildung der Wund-
ärzte gedient hatten und erst wenige Jahrzehnte vorher gegründet
worden waren, aufgehoben und beschlossen, dass künftig keine Ärzte
dieser Art mehr erzogen wurden.
Das Gesetz vom 8. Oktober 1852 bestimmte, dass es fortan nur
eine einzige Klasse von Ärzten geben sollte, welche sich allen Prü-
fungen unterziehen mussten und daher auch die Berechtigung zur ärzt-
lichen Praxis in sämmtlichen Zweigen derselben erhielten. Sie wurden
nur an den Universitäten ausgebildet und mussten das Tentamen
Pr eussen und das jetzige Deutsche Reich. 475
philosophicum, das Tentamen medicum und Examen rigorosum und
endlich die Staatsprüfung ablegen. Die letztere setzte sich zusammen
aus den einzelnen Abtheilungen derselben, welche bisher für die pro-
movirten Ärzte und Wundärzte vorgeschrieben waren; doch wurde der
chirurgisch-klinische Abschnitt mit der chirurgisch-technischen Prüfung
verschmolzen, und das geburtshilfliche Examen als besondere Abtheilung
in die Staatsprüfung aufgenommen. Dieselbe bestand also aus dem
anatomischen, medicinischen, chirurgischen und geburtshilflichen Examen
und der Schluss-Prüfung, zu welcher nur Derjenige zugelassen wurde,
der die vorhergehenden mit Erfolg bestanden hatte.
An dieser Prüfungsordnung wurden später einige durch die wissen-
schaftlichen Bedürfnisse geforderte Veränderungen vorgenommen. So
erhielt die anatomische Prüfung i. J. 1856 durch die Aufnahme der
Physiologie eine andere Gestalt und bestand aus einem anatomischen
Theile, nämlich einem osteologischen und einem splanchnologischen
Extemporale (Situs viscerum) und der Anfertigung eines Nervenpräparats,
und einem physiologischen Abschnitt, welcher zugleich die Histologie
umfasste.
Im Jahre 1861 trat an die Stelle des Tentamen philosophicum, wel-
ches aufgehoben wurde, das Tentamen physicum, bei weichem die Ana-
tomie, Physiologie, Physik, Chemie und die beschreibenden Naturwissen-
schaften, also die Mineralogie, Zoologie und Botanik, die 5 Prüfungsfächer
bildeten. Es sollte unter der Leitung des Dekans der medicinischen
Facultät stattfinden und nach dem zweiten Studienjahre abgelegt werden.
Im Jahre 1860 wurde angeordnet, dass jeder Candidat bei der Mel-
dung zum Staatsexamen den Nachweis liefere, dass er die chirurgische
und die medicinische Klinik durch je zwei Semester als Praktikant
besucht hat.
Das Examen rigorosum blieb als Facultäts-Akt neben der Staats-
prüfung in unveränderter Form bestehen.
Von den Universitäten, welche Preussen im Anfang unseres Jahr-
hunderts besass, schienen einige wegen ihres spärlichen Besuches und
der Nähe anderer, günstiger gelegener Hochschulen überflüssig zu sein.
So zählte i. J. 1805 die Universität zu Erfurt bei 41 Lehrern nur
21 Studenten und diejenige zu Duisburg bei 12 Lehrern gleichfalls
21 Studenten; stärker besucht waren die Hochschulen zu Frankfurt a/O.,
welche 1797 bei 21 Lehrern 174 Studierende hatte, Erlangen, wo
40 Lehrer und 202 Studenten waren, Königsberg mit 26 Lehrern und
346 Studenten und Halle mit 48 Lehrern und 762 Studenten.
Nachdem die Universitäten zu Duisburg und Erfurt aufgehoben,
Erlangen an Bayern abgetreten und Wittenberg mit Halle 7 Frank-
476 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
fürt a/0. mit Breslau verschmolzen worden war, blieben von den alten
Hochschulen nur Königsberg, Halle und Breslau übrig, wo aber erst
1811 eine medicinische Facultät errichtet wurde. Dazu kamen die
Universität zu Greifswald, welche mit Schwedisch-Pommern unter die
preussische Herrschaft gelangte, und die zu Berlin und Bonn, welche
neu gegründet wurden.
Die Berliner Hochschule trat i. J. 1810 ins Leben, während der
Staat in Folge der Niederlagen von Jena und Auerstädt um die Hälfte
seines früheren Umfanges verkleinert und zum Theil von feindlichen
Truppen besetzt war. Es war sicherlich eine bewunderungswürdige
Erscheinung, dass man in einer solchen Zeit allgemeiner Niedergeschlagen-
heit daran denken konnte, der Wissenschaft Tempel zu errichten; sie
zeigt, welchen Muth, welche moralische und intellektuelle Kraft man
besass, und wie fest und sicher man auf die Wiedererhebung des
Staates hoffte und baute.1 Die medicinische Facultät der Universität
Berlin entwickelte sich aus dem Collegium medico-chirurgicum, an
welchem i. J. 1806 vor dem Ausbruch des Krieges bereits 18 ordent-
liche und 2 ausserordentliche Professoren lehrten. Sie übernahm einen
Theil ihrer Lehrkräfte und Lehranstalten und sorgte dafür, dass die-
selben durch die Berufung hervorragender Gelehrter, wie Reil, Hufe-
land, Rudolphi u. A. und durch die Vermehrung der wissenschaftlichen
Institute ergänzt und vervollständigt wurden.
Die militärärztliche Bildungsanstalt zu Berlin, welche 1795 auf
Göecke's Veranlassung eine vortreffliche Organisation erhalten hatte,2
wurde mit der Universität in der Weise verbunden, dass ihre Zöglinge
an dem Unterricht, der dort ertheilt wurde, Theil nahmen. Dieselben
schieden sich in solche, welche zu promovirten Ärzten ausgebildet
wurden, und in solche, welche den Lehrcursus für die Wundärzte erster
Klasse absolvirten. Nach der Aufhebung der letzteren Kategorie des
Heilpersonals hörte auch die Ausbildung derselben für die Armee auf.
Die Anstalt besteht heut als Convikt unter militärärztlicher Leitung.
Die Studierenden erhalten vom Staat freie Wohnung, unentgeltlichen
Unterricht und zum Theil sogar finanzielle Unterstützungen während
ihrer Studien und übernehmen dafür die Verpflichtung, später eine ge-
wisse Anzahl von Jahren in der Armee zu dienen. Die Überwachung
der Studierenden wird Militärärzten übertragen, welche sich durch
' Run. Köpke: Die Gründung der Friedrich- Wilhelms-Uni versitat zu Berlin,
Berlin L'860.
8 J. D. E. Preuss: Das K. Preuss. medicinisch-chirurgisehe Friedrich -Wil-
lieluis-Institut zu Berlin, Berlin 1819, S. 28 u. ff.
Preussen und das jetzige Deutsche Reich. 477
Begabung und Geschicklichkeit auszeichnen; sie begleiten die Zöglinge
in die Vorlesungen, wiederholen mit ihnen den Inhalt derselben und
erhalten auf diese Weise die Gelegenheit, ihre eigenen medicinischen
Kenntnisse zu befestigen und zu erweitern. Unsere Wissenschaft ver-
dankt dieser Einrichtung manchen hervorragenden Forscher und Uni-
versitätslehrer.
Die jüngste der preussischen Universitäten ist diejenige zu Bonn,
welche i. J. 1818 gegründet wurde. Sie war ein Bedürmiss für die
westlichen Provinzen , welche von den östlichen räumlich getrennt
waren und ausser der theologisch-philosophischen Lehranstalt zu Münster
keine Hochschule besassen.
Die politischen Ereignisse von 1866 hatten die Vermehrung der
preussischen Universitäten um diejenigen zu Göttingen, Kiel und Mar-
burg zur Folge, welche mit Hannover, Schleswig-Holstein und Kur-
hessen unter die preussische Staatsverwaltung kamen. Als nach den
glorreichen Siegen von 1870 das Elsass wieder mit Deutschland ver-
einigt wurde, wurde die Universität Strassburg nach dem Muster der
deutschen Hochschulen reorganisirt und in die Zahl derselben auf-
genommen. Ihre Ausstattung mit reichen Lehrmitteln und hervor-
ragenden Lehrkräften haben ihr bald einen bevorzugten Platz unter
ihnen verschafft.
Mit der Errichtung des Norddeutschen Bundes, welcher durch den
Eintritt der süddeutschen Staaten i. J. 1871 zum Deutschen Keiche er-
weitert wurde, erfolgte eine einheitliche Organisation des medicinischen
Studien- und Prüfungswesens. Auf Grund des §. 29 der Gewerbeordnung
vom 21. Juni 1869 wurde der Beschluss gefasst, dass fortan nur die
Centralbehörden derjenigen Bundesstaaten, welche eine oder mehrere
Universitäten haben, belügt sind, die Approbation zur Ausübung der
ärztlichen Praxis zu ertheilen, und zwar nur solchen Personen, welche
die ärztliche Staatsprüfung bestanden haben.1
Dieselbe kann an jeder zum Deutschen Reich gehörigen Universität
abgelegt werden. Die Prüfungs-Commissionen werden von dem vor-
gesetzten Ministerium alljährlich ernannt; sie bestehen aus Fachmännern
aller Zweige der Heilkunde, vorzugsweise den Professoren und Docenten
der betreffenden medicinischen Facultäten und einem Vorsitzenden, der
die Verhandlungen leitet und überwacht. Die Medicinal-Collegien und
Examinations-Commissionen, welche bisher in den Hauptstädten der
verschiedenen Bundesstaaten die ärztliche Staatsprüfung abgenommen
hatten, stellten diese Thätigkeit ein, und das medicinisehe Staatsexamen
1 H. Eulenberg: Das Medicinalwesen in Preussen, Berlin 1874, S. 309 u. ff.
478 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
wurde eigentlich in eine von den Staatsbehörden beaufsichtigte Facultäts-
prüfung umgewandelt.
Wer sich derselben unterziehen will, muss den Nachweis führen,
dass er das Gymnasium absolvirt, das Tentamen physicum bestanden,
die klinische Praktikanten-Thätigkeit durchgemacht und bei vier Ge-
burten assistirt hat. Dagegen ist er nicht mehr, wie früher, verpflichtet,
das Examen rigorosum abzulegen und die Doktor- Würde zu erwerben.
Allerdings blieb den Facultäten das Recht, dieselbe nach einer voraus-
gegangenen Prüfung zu verleihen; aber dies kann ebensowohl nach
dem Staatsexamen geschehen als vor demselben und ist nur noch ein
altes Herkommen, nicht mehr eine gesetzlich vorgeschriebene Ein-
richtung.
Die Staatsprüfung wurde in fünf Abschnitte eingetheilt. Der erste
umfasste die Anatomie, Physiologie und pathologische Anatomie und
bestand in der Demonstration eines osteologischen und eines splanchno-
logischen und der Anfertigung eines Nerven-Präparats, in der Lösung
einer histologischen und einer physiologischen Aufgabe und der An-
fertigung und Erklärung eines histologischen Präparats, in der Sektion
einer Leiche mit Angabe der pathologisch-anatomischen Ergebnisse und
der Herstellung eines pathologisch-histologischen Präparats; die zweite
Abtheilung betraf die Chirurgie und Augenheilkunde und verlangte,
dass der Candidat zwei Kranke durch 8 Tage behandelte, die Fälle
schriftlich bearbeitete, eine akiurgische, mit der Ausführung einer
Operation an der Leiche verbundene Aufgabe, sowie eine Aufgabe über
Frakturen und Luxationen löste, einen Verband anlegte und einen
Augenleidenden untersuchte und behandelte; der dritte Abschnitt be-
schäftigte sich in der gleichen Weise mit der inneren Medicin und
forderte neben der Behandlung zweier Krankheitsfälle die Beantwortung
mehrerer Fragen aus der Materia medica, Toxikologie und Receptir-
kunst; der vierte Abschnitt betraf die Geburtshilfe und Gynäkologie
und verlangte die Leitung einer Geburt, die Behandlung der Wöch-
nerin und die Ausführung von geburtshilflichen Operationen am Phantom;
die mündliche Schlussprüfung endlich, welche den fünften Abschnitt
bildete, erstreckte sich über allgemeine und specielle Pathologie, Chirurgie,
Geburtshilfe, Materia medica, Staatsarzneikunde oder Hygiene. Die Auf-
gaben wurden zum Theil durch das Loos bestimmt. Wer die Staats-
prüfung mit Erfolg ablegte, erhielt das Recht, sich Arzt zu nennen,
aber nicht den Doktor-Titel.
Will er den letzteren erlangen, so muss er denselben von irgend
einer medicinischen Facultät erwerben. Die Bedingungen, unter welchen
dies geschieht, sind an den einzelnen Orten verschieden. Die wissen-
Preussen und das jetzige Deutsche Reich. 479
schaftlichen Anforderungen bestehen im Allgemeinen in einer münd-
lichen Prüfung über die wichtigsten Fächer der Heilkunde, in der
Ausarbeitung einer Dissertation in deutscher Sprache anstatt in latei-
nischer, wie dies früher üblich war, und in der Verteidigung der
aufgestellten Thesen.
Mehrere wichtige Änderungen in diesem Prüfungssystem brachten
die Verordnungen vom 2. Juni 1883. Zunächst wurde bestimmt, däss
die Mineralogie als Prüfungsgegenstand aus dem Tentamen physicum
fortgelassen werde, weil alle Regierungen und Facultäten darin überein-
stimmten , „dass die Mineralogie von allen Zweigen der Naturkunde
dem künftigen Arzt am fernsten liegt und derselbe das Wenige, was
er aus dieser Disciplin wissen muss, in den Vorlesungen über Chemie
und Arzneimittellehre erfährt." Auch die Prüfung in der Zoologie und
Botanik wurde eingeschränkt und angeordnet, dass sie zusammen nur
als ein Prüfungsgegenstand betrachtet und nur eine Note über beide
Fächer ertheilt werden soll. Man ging dabei von der Überzeugung
aus, dass der Botanik und Zoologie ein gleiches Gewicht für das
medicinische Studium und eine gleiche Berechtigung für den me-
dicinischen Lehrplan wie der Physik und Chemie, ganz abgesehen von
der Anatomie und Physiologie, in keiner Weise zugestanden werden
könne, dass es ungerechtfertigt erscheint, von einem Studierenden der
Medicin im vierten Semester neben genügenden Kenntnissen in der Ana-
tomie, Physiologie, Physik und Chemie auch noch befriedigende Leistungen
auf den ganz ungemein ausgedehnten Gebieten der Botanik und Zoologie
zu verlangen, und geradezu unmöglich ist, dass derselbe in diesen beiden
Wissenschaften den Anforderungen eines Fachprofessors ohne Vernach-
lässigung der für seine Zukunft viel wichtigeren übrigen Fächer Genüge
leistet. Aus diesen Gründen wurde sogar der Antrag gestellt, die Prüfung
über Zoologie und Botanik den Studierenden der Heilkunde überhaupt
zu erlassen, jedenfalls aber nicht von den Vertretern dieser Fächer,
sondern von einem Mitgliede der medicinischen Facultät vornehmen zu
lassen. Diese Erwägungen führten zu dem Beschluss, dass der Prüfling
in der Zoologie hauptsächlich die Kenntniss der Grundzüge der ver-
gleichenden Anatomie und Physiologie, und in der Botanik eine Über-
sicht über die systematische Pflanzenkunde, namentlich mit Rücksicht
auf die officinellen Pflanzen, und eine Kenntniss der Grundzüge der
Anatomie und Physiologie der Pflanzen besitzen soll.
Selbstverständlich werden Personen, welche an einer deutschen Uni-
versität das Doktor-Diplom in den Natur Wissenschaften erworben haben,
von der Prüfung in diesen Fächern im Tentamen physicum dispensirt.
Dasselbe ist mündlich und mit keinen praktischen Arbeiten verbunden.
480 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Gleichzeitig wurden die Bedingungen für die Zulassung zur Staats-
prüfung verschärft und eine andere Eintheilung derselben eingeführt.
Der Candidat muss gegenwärtig, wenn er sich dazu meldet, nachweisen
dass er mindestens 9 Semester anstatt, wie früher, nur 8 den me-
dicinischen Studien gewidmet und je zwei Semester an der chirurgischen,
medicinischen und geburtshilflichen und ein Semester an der ophthal-
miatrischen Klinik als Praktikant thätig gewesen ist, und dass min-
destens 4 Semester verflossen sind, seitdem er das Tentamen physicum
abgelegt hat. Im Jahre 1887 kam hierzu noch die Forderung, dass er
sich die zur Ausübung der Impfung erforderliche Fertigkeit erwor-
ben habe.
Die Staatsprüfung zerfällt in folgende Theile: 1) Normale Anatomie,
2) Physiologie, 3) Pathologische Anatomie und allgemeine Pathologie,
4) Chirurgie und Augenheilkunde, 5) Innere Medicin und Heilmittellehre,
6) Geburtshilfe und Gynäkologie und 7) Hygiene. In der Anatomie,
Physiologie und pathologischen Anatomie prüft nur ein Examinator,
in den übrigen Fächern dagegen zwei. Der Inhalt der Prüfung er-
scheint nur in einzelnen Abschnitten, z. B. in der Anatomie, Chirurgie
und Geburtshilfe, gegen früher ein wenig vermehrt. Wenn der
Examinand in einem Fach durchfällt, so muss er sich darin nach
einem bestimmten Zeitraum nochmals prüfen lassen; versäumt er dies,
so verlieren auch die übrigen, bereits erfolgreich bestandenen Theile
der Prüfung ihre Geltung.
Einzelne Bestimmungen dieser Prüfungsordnung müssen Bedenken
erregen. Hierher gehört zunächst die Fixirung der Studienzeit auf
9 Semester, während schon vor Jahrzehnten dieser Zeitraum in mehreren
Bundesstaaten auf 10 Semester bemessen war. Die medicinische Wissen-
schaft hat seitdem an Umfang und Tiefe sehr bedeutend gewonnen,
und die Anforderungen, die an das Wissen der Ärzte gestellt werden,
sind daher nicht vermindert, sondern im Gegentheil ausserordentlich
vermehrt worden. Will man überhaupt eine bestimmte Studienzeit
festsetzen, so sind 10 Semester das Mindeste, was gefordert werden kann.
Dazu kommt, dass das Semester, welches gegenwärtig zum Waffen-
dienst verwendet wird, gewöhnlich in die gesetzliche Studienzeit fällt
und in dieselbe eingerechnet wird. Dieses Zugeständnis» ist keineswegs
gerechtfertigt, da die Studierenden während der Erfüllung ihrer Militär-
pflicht durch Aufgaben, welche sie körperlich und geistig vollständig
in Anspruch nehmen, vom Studieren abgehalten werden.
Befremden erregte die Verordnung, dass die medicinischen Studien
lediglich an den Universitäten des Deutschen Reiches absolvirt werden
müssen. Für Juristen, welche später als Staatsbeamte thätig sind,
Preussen und das jetzige Deutsche Reich. 481
würde eine derartige Bestimmung begreiflich erscheinen; den künftigen
Ärzten, deren Beruf einen internationalen Charakter hat, sollte es ge-
stattet werden, auch ausländische Hochschulen zu besuchen, wenn sie
dadurch ihre Bildung vervollständigen und ihren Gesichtskreis er-
weitern.1 Gerade das deutsche Volk hat sich bisher dadurch aus-
gezeichnet, dass es sich gegen die geistigen Bewegungen der übrigen
Völker nicht verschluss, sondern deren Errungenschaften in sich
aufnahm.
Eine eigen thümliche Stellung nimmt das Doktorat zum me-
dicinischen Prüfungssystem in Deutschland ein. Da es weder zur
ärztlichen Praxis berechtigt, noch eine Bedingung für die Zulassung
zur ärztlichen Staatsprüfung ist, so erscheint es eigentlich überflüssig.
Will man mit der Aufrechthaltung des Doktor-Titels den Gewohnheiten
des Volkes entgegenkommen, so muss man denselben Jedem verleihen,
der das ärztliche Staatsexamen bestanden hat. Soll er aber eine Aus-
zeichnung für hervorragende wissenschaftliche Leistungen sein, so ist es
nothwendig, dass die Anforderungen an das Wissen Derjenigen, welche
sich darum bewerben, wesentlich erhöht werden.
Eine ausserordentlich glückliche und zweckmässige Einrichtung ist
es, dass das Prüfungsgeschäft hauptsächlich den Facultäten, deren Mit-
glieder durch ihre Sach- und Personalkenntniss ohne Zweifel dazu am
meisten berufen sind, anvertraut und dabei doch der Staatsbehörde der
berechtigte Einfluss gewahrt wird, den sie im Interesse der Bevölkerung
ausüben kann und soll.
Manche Einzelheiten der Prüfungsordnung könnten vielleicht ver-
bessert werden. So mag es zweifelhaft sein, warum in den Prüfungs-
gegenständen der praktischen Heilkunde zwei Examinatoren erforderlich
sind, während für die übrigen je einer genügt, da dadurch das an
manchen Orten nur spärlich vorhandene klinische Material über Gebühr
in Anspruch genommen wird, zwei gleichwerthige Examinatoren kaum
irgendwo zu finden sind, und die Überwachung oder Controlle des einen
Prüfers durch den andern hier ebenso wenig als in den Disciplinen der
theoretischen Medicin nothwendig erscheint.
Auch die jetzige Form des letzten Abschnitts der Staatsprüfung
befriedigt nicht. Mit dem gleichen Recht, wie die Hygiene, könnten
auch die Psychiatrie, die gerichtliche Medicin, die Thierbeilkunde und
andere Fächer den Anspruch erheben, unter die Prüfungsgegenstände
aufgenommen zu werden.
Gegenüber diesen kleinen Mängeln, deren Richtigkeit übrigens
1 K. Koester: Die Freizügigkeit der Studierenden der Medicin, Bonn 1884.
Pusciimann, Unterricht. 31
482 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
vielleicht noch zu erproben ist, besitzt das medicinische Unterrichts-
wesen Deutschlands so viele Vorzüge, dass es in andern Ländern mit
Recht als musterhaft gilt und nachgeahmt wird.
Italien.
In der Lombardei und Venetien war das medicinische Unterrichts-
wesen früher vollständig nach österreichischem Muster organisirt. Die
medicinischen Facultäten zu Padua und Pavia standen in regem Ver-
kehr mit den Universitäten der übrigen Kronländer des österreichischen
Kaiserstaates und verdankten ihnen manche wissenschaftliche Anregung
und Förderung. Die Fürsten aus dem österreichischen Herrscherhause
richteten, wie Loder1 bemerkt, „ihr Augenmerk auf eine gute Ein-
richtung und Erhaltung der öffentlichen medicinischen Anstalten".
Im Kirchenstaat dauerte das medicinische Studium nach einer
Verordnung des Pabstes Leo XII. v. J. 1824 vier Jahre; hierauf folgte
die Promotion zum Doktor der Medicin. Wer sich mit dem Doktorat
der Chirurgie begnügte, studierte ein Jahr weniger und beschäftigte
sich hauptsächlich mit den für seinen künftigen Beruf erforderlichen
Unter richtsgegenständen. Mit der Promotion war nicht die Berechtigung
zur ärztlichen Praxis verbunden, sondern es wurde dazwischen noch
das Biennium practicum eingeschaltet, welches zum Besuch der Kliniken
und zum Hospitaldienst benutzt wurde.
In Toscana bestand die Einrichtung, dass die Mediciner 4 Jahre
an der Hochschule zu Siena oder Pisa studierten und sich hierauf zur
Fortsetzung ihrer Studien nach Florenz begaben, wo sie in den mit
dem Ospedale di S. Maria nuova verbundenen Instituten Gelegenheit
erhielten, sich in der Heilkunst weiter auszubilden und zu vervoll-
kommnen. Die Collegien, welche an der Universität besucht werden
mussten, waren vorgeschrieben. Prüfungen, welche am Schluss eines
jeden Jahres stattfanden, entschieden darüber, ob der Studierende zu
den Vorlesungen des folgenden Jahrganges zugelassen wurde. Nach
der Beendigung der gesammten Studienzeit legte er in Florenz das
Staatsexamen ab, welches aus einem mündlichen theoretischen und
einem praktischen klinischen Abschnitt bestand. Hierauf folgte die Ans-
1 E. v. Lodku: Über ärztliche Verfassung und Unterricht in Italien i. J.
1811, Leipzig 1812.
Italien. 483
arbeitung und Verteidigung von Thesen, die Doktor-Promotion und
die Erlaubniss zur ärztlichen Praxis.
Ähnlich war es in andern Staaten Italiens. Der Einiiuss Öster-
reichs und Frankreichs, welcher sich auf vielen Gebieten der Verwaltung-
geltend machte, zeigte sich auch in den Einrichtungen des medicinischen
Studienwesens.
Als sich die nationalen Hoffnungen Italiens erfüllten und die
einzelnen Theile desselben zu einem politischen Gemeinwesen vereinigten,
wurde eine einheitliche Organisation der medicinischen Unterrichts-
verwaltung ermöglicht. Dieselbe erfolgte bereits am 16. November 1859
und war der erste Spatenstich einer grossen Cultur- Arbeit, deren Früchte
mehr und mehr an das Tageslicht treten.
Gegenwärtig besitzt Italien 17 vom Staat und 4 von den Städten
oder Landschaften erhaltene Universitäten. Die Staatsuniversitäten
werden in diejenigen erster und zweiter Ordnung geschieden. Zu der
ersten Klasse gehören die Hochschulen zu Rom, Neapel, Turin, Bologna,
Padua, Pavia, Pisa und Palermo, zur zweiten diejenigen zu Genua,
Modena, Parma, Macerata, Siena, Cagliari, Sassari, Catania und Messina.
Die letzteren sind zum Theil unvollständig, d. h. nicht mit sämmtlichen
Facultäten versehen und besitzen weniger Lehrkanzeln und eine ge-
ringere Zahl von Studierenden, als die ersteren. Die sogenannten freien
Universitäten befinden sich zu Perugia, Urbino, Camerino und Ferrara.
Ausserdem kommt noch das Instituto superiore zu Florenz in Betracht,
welches ebenfalls mit klinischen und anderen medicinischen Anstalten
verbunden ist und Gelegenheit zum Studium der Heilkunde bietet.
Überall fehlen die theologischen Facultäten, da die Ausbildung des
Klerus i. J. 1873 den Universitäten genommen und den bischöflichen
Seminarien übertragen wurde. Man unterscheidet vier Facultäten,
nämlich die juristische, medicinische, mathematisch-naturwissenschaft-
liche und linguistisch-historische.
Das Studium der Medicin dauert 6 Jahre. Die Studierenden
müssen sich bei der Immatriculation über ihre Vorbildung ausweisen.
Wenn sie das Gymnasium und das Lyceum, welches etwa den drei
oberen Klassen des deutschen Gymnasiums entspricht, nicht absolvirt
und auch keine gleichwerthige Bildung erworben haben, so werden sie
nur zum Besuch der Vorlesungen, aber nicht zu den Prüfungen und
zur Promotion zugelassen. Den Studierenden wird ein Studienplan
empfohlen, keineswegs jedoch vorgeschrieben. Sie werden nur in den
wichtigsten Fächern der Heilkunde geprüft, und zwar geschieht dies
unmittelbar, nachdem sie den Cursus darüber absolvirt haben. Das
Examen wird von dem Professor, welcher den Gegenstand lehrt, und
31*
484 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
zwei ihm beigeordneten Fachmännern abgenommen. Nachdem sie die
einzelnen Special-Prüfungen über die verschiedenen Unterrichtsfächer,
die sowohl theoretisch, als auch, wie z. B. in der descriptiven und der
pathologischen Anatomie, Chirurgie, internen Medicin und Geburtshilfe,
praktischer Natur sind, im Verlauf ihrer Studienzeit bestanden haben,
erhalten sie das Recht, die ärztliche Praxis auszuüben. Um das Doktorat
zu erlangen, muss der Arzt eine Dissertation verfassen und mehrere
Thesen vertheidigen.
Die Lehrkörper der medicinischen Facultäten bestehen aus ordent-
lichen und ausserordentlichen Professoren, welche sich nur durch die
Höhe der Besoldung, die sie beziehen, unterscheiden, aus Incaricati, die
einen Lehrauftrag für ein bestimmtes Specialgebiet haben, und Privat-
docenten. Die Besetzung der Professuren geschieht gewöhnlich durch
Concurs, der entweder in schriftlichen und mündlichen Prüfungen be-
steht oder sich nur auf die Vorlage der wissenschaftlichen Arbeiten
beschränkt. In Fällen, in denen ein Gelehrter von anerkanntem Ruf
in Frage kommt, sieht man von der Bewerbung gänzlich ab und be-
setzt die Lehrkanzel auf dem Wege der Berufung.1
Spanien und Portugal.
Auch in Spanien hat man aufgehört, die Berechtigung zur Aus-
übung der Praxis für einzelne Theile der Heilkunde zu ertheilen.
Gegenwärtig giebt es dort nur eine Klasse von Ärzteu, die Licenciados
en medicina y chirurgia, neben welchen nur noch ein niederes chirur-
gisches Hilfspersonal existirt, zu welchem die Practicantes (Heildiener)
und die Dentistas gezählt werden.
Wer das Studium der Medicin beginnt, muss sich über eine all-
gemeine wissenschaftliche Vorbildung ausweisen und den akademischen
Grad eines Bachiller en artes besitzen. Die ärztlichen Studien werden
an den Universitäten absolvirt, sind aber nicht obligat. Medicinische
Facultäten bestehen an den Hochschulen zu Madrid, Barcelona, Gra-
nada, Saiamanca, Santjago de Compostela, Sevilla, Cadix, Valencia,
Valladolid und Saragossa. Die Studierenden widmen das erste Jahr
der Studienzeit den Naturwissenschaften, der Physik und Chemie, und
1 Tommasi-Crudeli in der Riv. diu. di Bologna 1876. — Regio decreto
No. 2621, Roma 1884.
Spanien und Portugal. 485
die folgenden 6 Jahre den medicinischen Fächern. Hierauf unterziehen
sie sich einer aus drei Abschnitten bestehenden Prüfung, von denen
der erste theoretisch ist und sich über alle Disciplinen der Heilkunde
erstreckt , die beiden anderen praktischer Natur sind und theils am
Krankenbett, theils an der Leiche stattfinden.
Der Candidat erwirbt damit die Licenz zur ärztlichen Praxis, nicht
aber die Doktor -Würde. Wenn er die letztere anstrebt, so ist er ver-
pflichtet, seine Studien um ein Jahr zu verlängern, welches zur Ver-
vollständigung der ärztlichen Bildung und zum Besuch von Vorlesungen
über Geschichte der Medicin, medicinische Geographie, Hygiene, Bio-
logie u. a. m. verwendet wird, und dann eine Dissertation zu verfassen und
Thesen zu vertheidigen. Der Doktor-Titel wird nur an Ärzte verliehen,
welche ein reges wissenschaftliches Streben zeigen, gewährt jedoch keine
Vorrechte für die Praxis und wird nur von Denjenigen verlangt, welche
sich um die Professuren oder höheren Stellungen im öffentlichen Sa-
nitätsdienst bewerben.
Portugal hat eine medicinische Facultät zu Co'imbra und zwei
medicinisch- chirurgische Lehranstalten zu Lissabon und Porto. Sie
unterscheiden sich darin von einander, dass die erstere mit Lehrmitteln
und Lehrkanzeln reicher ausgestattet ist, als die letzteren, und allein
das Recht besitzt, den Doktor-Titel zu verleihen. Die Schule zu Lis-
sabon geniesst wegen des grossen Hospitals, welches ihr zu Lehrzwecken
eingeräumt ist, den Ruf, dass sie eine vorzügliche Ausbildung in der
praktischen Heilkunst, besonders in der Chirurgie, gewährt.
Es giebt gegenwärtig nur noch eine Klasse von Ärzten, nachdem
die Kategorie der Licenciati minores, welche ein sehr beschränktes
Recht zur Praxis besassen, aufgehoben worden ist.
Zum Studium der Heilkunde wird nur Derjenige zugelassen, welcher
in einer Prüfung gezeigt hat, dass er eine gewisse Allgemeinbildung
besitzt. Der Besuch der Collegien ist obligat. Der Lehrplan nimmt
5 Jahre in Anspruch. Am Schluss eines jeden Jahres finden Prüfungen
statt, von deren Ausfall die Versetzung in die höhere Klasse abhängig
ist. Die Prüfungen sind sowohl theoretisch als praktisch und zum Theil
sehr genau; so wird z. B. verlangt, dass der Candidat 10 Kranke durch
20 Tage selbstständig behandelt. Nach der erfolgreichen Beendigung
derselben wird die Licenz zur ärztlichen Praxis ertheilt.
Der Doktor-Titel ist der Ausdruck einer tieferen wissenschaftlichen
Bildung; er wird z. B. von Denjenigen gefordert, welche an der medi-
486 Der ?nedicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
cinischen Facultät zu Coimbra die Lehrthätigkeit ausüben wollen. Um
denselben zu erlangen, muss der Bewerber noch ein Examen ablegen
und eine Dissertation vorlegen. Als Examinatoren wirken die Professoren.
Die Lehrkanzeln werden durch Concurs besetzt.1
Holland und Belgien.
In Holland wurden früher verschiedene Arten von Ärzten aus-
gebildet, welche theils zur inneren, theils zur chirurgischen Praxis be-
rechtigt waren und sich entweder nur auf dem Lande oder überall
niederlassen durften. Sie erwarben ihre fachmännischen Kenntnisse
sowohl an den Universitäten als an den ärztlichen Fachschulen, welche
mit einigen Hospitälern verbunden waren.
Im Jahre 1865 wurde das Gesetz erlassen, dass die Ärzte fortan nicht
mehr für einzelne Zweige der Heilkunst legitimirt werden, sondern alle
Theile derselben betreiben und ein unbedingtes Niederlassungs- Recht
besitzen.2 Gleichzeitig wurden die Hospitalschulen aufgehoben und
die Erziehung der Ärzte den medicinischen Facultäten übertragen.
Gegenwärtig besitzt Holland neben den drei LTniversitäten zu
Leiden, Utrecht und Groningen, welche vom Staat erhalten werden,
noch die städtische Hochschule zu Amsterdam, die aus dem Athenaeum,
einer höheren Lehranstalt, deren Geschichte bis 1632 zurückreicht,
entstanden und 1877 zu einer Universität erhoben worden ist.3
Wer sich dem Studium der Medicin widmet, muss die höhere
Bürgerschule oder das Gymnasium absolvirt haben oder durch eine
Prüfung den Nachweis liefern, dass er eine genügende Vorbildung be-
sitzt. Die Studienzeit dauert gewöhnlich 6 Jahre.
Die Berechtigung zur ärztlichen Praxis wird nur durch die Staats-
prüfung erworben, welche von Examinations-Commissionen abgenommen
wird, zu deren Mitgliedern die Lehrer der verschiedenen medicini-
schen Facultäten ernannt werden. Dieser Prüfung gehen das erste und
zweite naturwissenschaftliche Examen voraus, von denen sich jenes mit
der Physik, Chemie und Botanik, dieses mit der Anatomie, Physiologie
und Gewebelehre, Pharmakognosie und allgemeinen Pathologie beschäftigt.
1 B. A. Serra de Mirabeau: Memoria historica e eommemorativa da facul-
dade de medicina, Coimbra 1872.
2 Das Medicinalwesen im Königreich der Niederlande, Haag 1870.
3 Revue internat. de l'enseignement, Paris 1881, I, 77 u. ff.
Holland und Belgien. 487
Die Staatsprüfung selbst zerfällt in einen theoretischen Theil, der über
pathologische Anatomie, Pharmakodynamik, specielle Pathologie und
Therapie, Hygiene, theoretische Chirurgie und Geburtshilfe handelt, und
in ein praktisches Examen am Krankenbett, an der Leiche u. s. w.
Vor demselben muss der Candidat den Nachweis liefern, dass er durch
zwei Jahre klinischen Unterricht genossen und mindestens 12 Geburten,
von denen 2 mit Hilfe der ärztlichen Kunst vollzogen worden sind,
beigewohnt hat.1
Unabhängig davon wird das Doktorat der Heilkunde von den me-
dicinischen Facultäten verliehen; von den Bewerbern wird verlangt,
dass sie das humanistische Gymnasium absolvirt haben. Die Doktorats-
Prüfungen berücksichtigen nicht blos die ärztliche Tüchtigkeit, sondern
auch die medicinische Gelehrsamkeit; sie haben eine gründlichere All-
gemeinbildung zur Voraussetzung und gehen sowohl auf die Natur-
wissenschaften als auf die eigentlichen medicinischen Disciplinen tiefer
ein, als dies im Staatsexamen der Fall ist. Das Doktorat der Heil-
kunde gewährt daher ebenfalls das Recht zur Ausübung der ärztlichen
Praxis. 2
Wesentlich verschieden von dem medicinischen Unterrichtswesen
Hollands ist dasjenige Belgiens, welches manche Ähnlichkeiten mit dem
französischen zeigt. Doch giebt es in Belgien keine Officiers de sante,
keine Ärzte niederen Grades, sondern nur eine Klasse von Ärzten, welche
an den Universitäten ausgebildet werden.
Von den vier Hochschulen des Landes werden zwei, nämlich zu
Gent und Lüttich,3 vom Staat erhalten, die anderen beiden jedoch nicht.
Die Universität zu Löwen trägt einen confessionellen Charakter und
wird vom Klerus geleitet und unterstützt; die Hochschule zu Brüssel,
welche i. J. 1834 von der liberalen Partei ins Leben gerufen wurde,
verdankt der Stadt und einigen reichen Gönnern die Mittel zu ihrem
Unterhalt.
Dem ärztlichen Studium geht in den meisten Fällen der Besuch
des Gymnasiums voraus, welches binnen 7 Jahren vollständig absolvirt
wird. Die medicinischen Studien beginnen mit den Naturwissenschaften,
der Physik, Chemie und Philosophie. Der Studienplan wird im All-
gemeinen durch die Prüfungen bestimmt, indem die zu einem Examen
1 Geneeskundige Wetten, Z wolle 1882, Gesetz vom 28. Dez. 1878.
2 Wet van d. 28. April 1876, tot regeling van het hooger onderwijs,
Zwolle 1884.
3 A, le Roy: L'universite de Liege, 1869.
488 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
gehörenden Prüfungsgegenstände zusammen belegt werden. Der Unter-
richt erhält dadurch die Form einer handwerksmässigen Vorbereitung
für die Prüfung, ähnlich wie in den medicinischen Schulen Englands.
Das erste medicinische Examen handelt über descriptive und ver-
gleichende Anatomie, Physiologie, Embryologie, Histologie und Pharma-
kologie, ist mit praktischen Demonstrationen verbunden und wird die
Candidaten-Prüfung genannt. Für das die Berechtigung zur ärztlichen
Praxis gewährende Doktorat der Heilkunde werden drei Prüfungen
verlangt, von denen die erste die allgemeine Pathologie und Therapie,
specielle Pathologie der inneren Krankheiten und pathologische Ana-
tomie, die zweite die chirurgische Pathologie, Geburtshilfe, Hygiene und
gerichtliche Medicin betrifft, und die dritte sich über die Klinik der
internen und chirurgischen Leiden, der Augenkrankheiten, Geschlechts-
organe und Hautleiden, auf die praktische Geburtshilfe und chirurgische
Operationskunst erstreckt und theils theoretisch, theils praktisch ist.
Als Examinatoren wirken jetzt ausschliesslich die Professoren der be-
treffenden Facultät, während früher Prüflings -Commissionen gebildet
wurden, die sich zur Hälfte aus Professoren derselben und zur Hälfte
aus denjenigen einer anderen Facultät zusammensetzten. Man befolgte
dabei den Grundsatz, dass die Lehrer der Staats-Universitäten mit denen
der freien Hochschulen zu Examinationsbehörden verbunden wurden,
um auf diese Weise eine wünschenswerthe Gleichartigkeit der ärztlichen
Bildung zu erzielen.
In Brüssel existirt ausserdem noch eine Central-Prüfungs-Commis-
sion, welcher sich diejenigen Examinanden vorstellen, denen die wissen-
schaftliche Vorbildung mangelt; denn der Zutritt zu den Fachstudien
und zur Universität steht Jedem frei, der lesen und schreiben kann.
Bei der Meldung zu den ärztlichen Prüfungen wird nur der Nachweis
gefordert, dass der Candidat zwei Jahre hindurch die chirurgische und
interne Klinik und ein Jahr die geburtshilfliche Klinik besucht hat.
Die Lehrer-Collegien bestehen aus ordentlichen und ausserordent-
lichen Professoren und Agreges speciaux, welche für drei Jahre ernannt
werden, eine kleine Besoldung erhalten und an die Stelle der früheren
Charges de eours getreten sind.
Schweiz.
Früher hatte jeder Canton seine besonderen gesetzlichen Bestim-
mungen über die Zulassung zur ärztlichen Praxis. Einige Cantone
Schweiz. 489
forderten ein Staatsexamen, welches vor einer aus dortigen Ärzten ge-
bildeten Prüfungs-Commission abgelegt wurde; in anderen genügte das
Zeugniss, dass es bereits in einem anderen Cantone oder Lande be-
standen worden war, oder ein medicinisches Doktor-Diplom; in einzelnen
verzichtete man auch darauf und gestattete Jedem die Praxis, welcher
die Befähigung dazu zu besitzen vorgab. Erst 1867 kam ein vom
Bundesrath genehmigtes Übereinkommen der meisten Cantone zu Stande,
nach welchem die an den Schweizer Universitäten bestandenen ärzt-
lichen Prüfungen überall anerkannt werden und zur Praxis berechtigen.
In keinem Lande existiren im Verhältniss zu seiner Bevölkerung
so viele Hochschulen und höhere Lehranstalten, als in der Schweiz.
Neben den Universitäten zu Basel, Zürich und Bern,1 an welchen in
deutscher Sprache gelehrt wird, bestehen die Hochschule zu Genf und
die Akademien zu Lausanne und Neufchatel, an denen die französische
Unterrichtssprache herrscht.
Medicinische Facultäten haben die vier Universitäten und seit
kurzer Zeit auch die Akademie zu Lausanne. Die Universitäten zu
Zürich, Bern und Genf sind erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts ge-
stiftet worden, und ihre medicinischen Facultäten haben sich aus me-
dicinisch- chirurgischen Lehranstalten entwickelt. In Bezug auf ihre
Lehrkräfte und Lehrmittel stehen sie jetzt ihren deutschen Schwester-
Anstalten ebenbürtig zur Seite.
Die ärztlichen Prüfungen sind nach deutschem Vorbild eingerichtet
und werden in Basel, Bern, Zürich, Genf und Lausanne abgelegt. Die
Prüfungs-Commissionen werden aus Lehrern der medicinischen Facul-
täten und geprüften Praktikern zusammengesetzt und vom Bundesrath
für die Dauer von 4 Jahren ernannt. Die Prüfungen zerfallen in die
naturwissenschaftliche, welche sich über Physik, Chemie, Botanik und
Zoologie nebst vergleichender Anatomie erstreckt, die anatomisch-phy-
siologische, die mindestens ebenso schwierig ist als in Deutschland, und
in die eigentliche ärztliche Fachprüfung, die gleich der vorhergehenden
theils praktisch, theils mündlich oder schriftlich ist und die patholo-
gische Anatomie, innere Medicin, Chirurgie, Geburtshilfe und Gynäko-
logie, Augenheilkunde, gerichtliche Medicin und Hygiene, Arzneimittel-
lehre und Psychiatrie umfasst.2
Bemerkenswerth ist, dass die Bedingungen für die Zulassung zu
den ärztlichen Prüfungen strenger sind als in anderen Ländern, indem
vom Bewerber der Nachweis verlangt wird, dass er Vorlesungen über
1 Ed. Müller: Die Hochschule Bern von 1834—1884, Bern 1884.
2 Verordnung der eidgenöss. Medicinalprüfungen vom 19. März 1888.
490 Der medicinisohe Unterricht in der neuesten Zeit.
die wichtigsten Fächer der Heilkunde gehört, an den praktischen Ar-
beiten Theil genommen und nicht blos je 2 Semester in der medici-
nischen, chirurgischen und geburtshilflichen und 1 Semester in der
ophthalmiatrischen, sondern auch 1 Semester in der psychiatrischen
Klinik und in der Poliklinik als Praktikant gewirkt hat.
Die Doktor-Promotion ist von der ärztlichen Prüfung getrennt und
wird von den medicinischen Facultäten auf Grund eines Examens und
einer Dissertation vollzogen.
Dänemark, Norwegen und Schweden.
In Dänemark ist der medicinische Unterricht ähnlich wie in
Deutschland und Österreich organisirt. Die Studierenden der Heilkunde
müssen, wenn sie die Universität zu Kopenhagen beziehen, das Matu-
ritäts-Zeugniss eines dänischen Gymnasiums vorlegen; sie beschäftigen
sich dann zunächst mit dem Studium der Philosophie, den Naturwissen-
schaften, der Physik und Chemie und werden in diesen Gegenständen
geprüft. Erst darnach beginnen die eigentlichen medicinischen Fach-
studien.
Die Prüfungen, welche das Recht zur Ausübung der ärztlichen
Praxis verleihen, finden vor der medicinischen Facultät im Beisein von
Censoren statt, die von der Regierung ernannt werden und ihr Urtheil
über die Befähigung des Candidaten abgeben. Sie bestehen aus einem
schriftlichen Theil, nämlich drei Clausur- Arbeiten über Gegenstände
der praktischen Heilkunde, einem praktischen Abschnitt, der sich aus
einer anatomischen Arbeit, der Untersuchung und Behandlung mehrerer
Kranken und der Ausführung einer chirurgischen Operation an der
Leiche zusammensetzt, and einer mündlichen Prüfung über die wich-
tigsten Fächer der Heilkunde.
Den Doktor-Titel, welcher nach der Anfertigung einer Dissertation
von wissenschaftlichem Werth verliehen wird, streben im Allgemeinen
nur diejenigen Ärzte an, welche den akademischen Lehrberuf ergreifen
oder in den öffentlichen Sanitätsdienst eintreten wollen. Jeder Doktor
der Medicin darf an der Universität Vorträge halten. Die Professuren
werden durch Concurs besetzt.
Dänemark, Norwegen und Schweden. 491
Nahezu vollständig gleich liegen die Verhältnisse in Norwegen.
Auch hier ist es üblich, dass die Ärzte sich mit der Licenz zur Praxis
begnügen und nur selten um die Doktor -Würde bewerben.
Das Land besitzt eine Universität in Christiania, welche 1811 ge-
gründet und 1815 vervollständigt wurde. Die Immatriculation setzt
die erfolgreiche Absolvirung des Gymnasiums voraus. Das Universitäts-
Studium beginnt für sämmtliche Facultäten mit der Vervollständigung
der allgemeinen wissenschaftlichen Vorbildung; es werden darauf 2 bis
3 Semester verwendet, während welcher der Studierende Zeit hat, sich
für einen bestimmten Beruf zu entscheiden. Die medicinische Studien-
zeit dauert gewöhnlich 7 Jahre und wird durch die Prüfungen in drei
Abschnitte eingetheilt. Der erste umfasst die Zoologie, Botanik, Physik,
Chemie, Anatomie und Physiologie; die zweite Abtheilung betrifft die
Pharmakologie und Toxikologie, allgemeine und specielle Pathologie und
pathologische Anatomie, chirurgische Pathologie, Ophthalmologie und
Dermatologie, und die dritte beschäftigt sich mit der klinischen Praxis,
gerichtlichen Medicin und Hygiene; die Prüfungen sind sowohl münd-
lich und schriftlich, als praktischer Natur.
Wer dieselben mit Erfolg besteht, ist zur ärztlichen Praxis be-
rechtigt. Die Doktor -Würde wird nur für ausserge wohnliche wissen-
schaftliche Leistungen verliehen und ist mit dem Recht, an der
Universität zu lehren, verbunden. Im J. 1888 gab es in Norwegen
nicht mehr als 14 Doktoren der Medicin.
In Schweden wird der medicinische Unterricht an den medicinischen
Facultäten der Universitäten zu Upsala und Lund und am medicinisch-
chirurgischen Carolinischen Institut zu Stockholm ertheilt, welches 1750
gestiftet wurde und jetzt hauptsächlich zur Ausbildung in den klinischen
Fächern dient.
Von den Studierenden wird das Maturitäts-Zeugniss des humanisti-
schen Gymnasiums verlangt, Der Studiengang der Mediciner ist un-
gefähr der gleiche wie an den deutschen Hochschulen; nur wird wegen
der langen Dauer der Ferien mehr Zeit auf die verschiedenen Unter-
richtsgegenstände verwendet. Gewöhnlich vergehen 9 bis 10 Jahre vom
Austritt aus dem Gymnasium bis zum Beginn der ärztlichen Praxis.
Der Studierende beschäftigt sich zunächst durch 3 Semester mit
der Physik, Chemie, Botanik und Zoologie und legt darüber eine Prüfung
ab. Hierauf tritt er aus der philosophischen in die medicinische Facultät
über und widmet ungefähr 4 Jahre dem Studium der Anatomie,
492 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Physiologie, medicinischen Chemie, Histologie, Pharmakologie und all-
gemeinen Pathologie. Zur Theilnahme an den Secir-Übungen, an den
praktischen Arbeiten in den physiologischen, chemischen, histologischen
und pathologischen Laboratorien ist er verpflichtet, während der Besuch
der theoretischen Vorlesungen, welche unentgeltlich stattfinden, seinem
Belieben anheimgestellt wird. Die Prüfung, welche diesen Theil der
Studienzeit zum Abschluss bringt, umfasst die genannten Fächer nebst
der Geschichte der Medicin und ist theils mündlich, theils praktisch.
Die folgenden Semester verwendet der Candidat der Medicin, wie
er fortan genannt wird, zum Besuch der klinischen Institute und über-
haupt zur Ausbildung in der praktischen Heilkunst. Er muss dabei
auch verschiedenen Specialfächern, wie der Psychiatrie, der Pädiatrik
und Syphilidologie seine Aufmerksamkeit zuwenden und den patholo-
gischen und forensischen Sektionen, sowie den hygienischen Übungen
beiwohnen. Das Examen über diese Wissensgegenstände, welches ge-
wöhnlich erst 3 — 4 Jahre nach der Candidaten-Prüfung abgelegt wird,
giebt die Berechtigung zur ärztlichen Praxis.
Die medicinische' Doktor -Würde ist nur für diejenigen Ärzte vorge-
schrieben, welche als akademische Lehrer oder im höheren Sanitätsdienst
thätig sein wollen; sie wird auf Grund einer wissenschaftlichen Ab-
handlung und nach Verteidigung der darin aufgestellten Thesen ver-
liehen, jedoch nur von den beiden Universitäten, nicht vom Carolinischen
Institut. Dagegen ist das letztere befugt, die Candidaten- und Licen-
tiaten-Prüfung abzunehmen und die ärztliche Approbation zu ertheilen.
Russland.
Noch im vorigen Jahrhundert bezog Kussland seine Ärzte haupt-
sächlich aus dem Ausland.1 Allerdings wurde schon unter Peter dem
Grossen i. J. 1706 in Moskau eine Schule zur Ausbildung von Chirurgen
errichtet, welche mit dem dortigen Hospital verbunden wurde und ein
anatomisches Theater und einen botanischen Garten erhielt.
Die erste Universität mit einer medicinischen Facultät entstand
1755 ebenfalls in Moskau. Dagegen verdiente die mit der Akademie
1 W. M. v. Eichter: Geschichte der Medicin in Russland, Moskau 1817,
III, 91 u. ff. — A. Brückner: Die Ärzte in Russland bis z. J. 1800, St. Peters-
burg 1887. — J. Tschistowitsch : Geschichte der ersten medicinischen Schulen
in Russland, St. Petersburg 1883,
Russland, — Griechenland u. die christl. Länder der Balkan-Halbinsel. 493
der Wissenschaften zu St. Petersburg verbundene Universität diesen
Namen nicht, sondern war eigentlich nur ein Gymnasium mit einigen
juristischen Cursen; sie wurde übrigens wenig besucht und zählte unter
der Leitung der Fürstin Daschkow i. J. 1783 nur 2 Studenten.1 Im
19. Jahrhundert wurden die medicinischen Facultäten der Universitäten
zu Kiew, Charkow und Kasan errichtet, an welchen in russischer Sprache
unterrichtet wird; die polnische Universität zu Warschau wurde eben-
falls russificirt. Die jüngste Hochschule wurde im September 1888 zu
Tomsk in Sibirien und zwar zunächst nur als medicinische Facultät
eröffnet. Ausserdem gehören zum russischen Reiche die Universitäten
zu Helsingfors in Finnland, an welcher die schwedische, und diejenige
zu Dorpat, an der die deutsche Unterrichtssprache herrscht,2 Dazu
kommt noch die medicinisch-chirurgische Akademie in Petersburg, an
welcher die Militärärzte erzogen werden.
Jeder, der sich dem ärztlichen Beruf widmet, muss das Gymnasium
absolvirt haben, bevor er zu den Fachstudien zugelassen wird. Die
Studienzeit dauert 5 Jahre. Ausser den Controllprüfungen, welche über
die Vorlesungen, welche besucht werden, handeln, wird ein dem deutschen
Tentamen physicum entsprechendes Examen in der Mitte der Studien-
zeit abgelegt; am Schluss der Studien folgt das ärztliche Approbations-
Examen, das sich über alle wichtigen Fächer der Heilkunde erstreckt
und nicht blos mündlich, sondern auch praktischer Art ist. Höhere
wissenschaftliche Anforderungen werden an diejenigen Ärzte gestellt,
welche nach der Approbation den Doktor-Grad erwerben.3
Griechenland und die christlichen Länder der
Balkan -Halbinsel.
Die Universität zu Athen wurde 1837 unter dem Könige Otto
errichtet und nach deutschem Muster organisirt. Bei der Immatriculation
wird das Maturitäts-Zeugniss eines griechischen Gymnasiums verlangt.
Die medicinischen Studien nehmen gewöhnlich 5 Jahre in Anspruch,
von denen das erste auf die Hilfswissenschaften verwendet wird. Am
1 Graf D. A. Tolstoi in den Beiträgen zur Kenntniss des russ. Reiches,
Petersburg 1886, S. 217.
2 Die deutsche Universität Dorpat, Leipzig 1882.
3 Allgem. Statut der K. russ. Universitäten vom 23. August 1884, Peters-
burg 1884.
494 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.
Schluss desselben findet die Vorprüfung statt, welche sich über Physik,
Chemie und Naturgeschichte erstreckt. Das Doktor-Examen handelt
über normale Anatomie, Physiologie, allgemeine Pathologie, Materia
medica, innere Medicin, Chirurgie, Geburtshilfe, gerichtliche Medicin
und Hygiene, ist aber nicht mit praktischen Demonstrationen verbunden.
Nach der Promotion folgt noch ein Jahr der praktischen Ausbildung
und dann das praktische Examen, welches hauptsächlich in der Be-
handlung von Kranken, in der Ausführung von Operationen an der
Leiche u. a. m. besteht und die Berechtigung zur Ausübung der ärzt-
lichen Praxis verleiht.
In Rumänien bestand früher nur eine militärärztliche Lehranstalt,
deren begabteste Schüler zur Vollendung ihrer Studien an ausländische
Hochschulen geschickt wurden. Gegenwärtig besitzt das Land zwei
Universitäten zu Bukarest und Jassy, von denen jede mit einer me-
dicinischen Facultät ausgestattet ist.1 Mit der ersteren ist eine pharma-
ceutische Lehranstalt verbunden; auch besteht in Bukarest eine Thier-
arzneischule. Von den Studierenden der Medicin wird vorausgesetzt,
dass sie das Gymnasium absolvirt haben. Die Studienzeit an der Uni-
versität dauert 5 Jahre. Die Prüfungen erstrecken sich auf sämmtliche
Fächer, sind sowohl theoretisch als praktisch und werden von den Pro-
fessoren abgenommen. Sie finden ihren Abschluss mit der Verleihung des
Doktorats, welches zur Ausübung aller Theile der ärztlichen Thätigkeit
berechtigt.
Die serbische Hochschule zu Belgrad besitzt bis jetzt noch keine
medicinische Facultät.
1 Revue internat. de renseignement, Paris, IV, p. 251 u. ff.
Schlussbetrachtungen.
Es liegt nahe, auf Grund des reichen Materials von Thatsachen,
welche das medicinische Unterrichtswesen in den verschiedenen Zeiten
und Ländern beleuchten, die Frage aufzuwerfen, wo dasselbe am zweck-
mässigsten eingerichtet ist. Aber beantworten lässt sie sich ebenso
wenig, als diejenige nach der besten Staatsverfassung oder Religion.
Während für das eine Volk die republikanische Form am meisten ge-
eignet erscheint und sich durch Jahrhunderte bewährt hat, bedürfen
andere Nationen der Monarchie, vielleicht sogar der Despotie.
Ähnlich ist es mit den Einrichtungen des medicinischen Studien-
wesens. Die allgemeinen Culturzustände, die historischen Traditionen,
die geographische Lage des Staates, die finanziellen Verhältnisse und
der Charakter seiner Bevölkerung sind dabei von grosser Bedeutung.
Aber es wird gestattet sein, hier einige allgemeine Gesichtspunkte
zu erörtern, welche, wenn auch nicht überall durchführbar, doch jeden-
falls beachtenswerth und anzustreben sind.
Was zunächst die allgemeine wissenschaftliche Vorbildung des
Jüngers der Heilkunst betrifft, so muss unter allen Umständen daran
festgehalten werden, dass sie nicht hinter derjenigen der übrigen ge-
lehrten Stände, der Theologen, Juristen, Philologen u. a. m. zurückstellt.
Der Arzt soll jenes Maass von allgemeinem Wissen besitzen,
welches in dem Lande, in dem er lebt, den höchsten Anforderungen
entspricht. Welcher Art aber dieselben sind und welche Wissenschaften
sie umfassen, richtet sich nach dem Begriff der Allgemeinbildung, der
nach Zeit und Ort verschieden ist.
Da er sich in den meisten heutigen Culturstaaten unter dem Ein-
fluss des Humanismus entwickelt hat, so bilden das Studium des Alter-
thums und der dazu führenden lateinischen und griechischen Sprache
seine wesentliche Grundlage. Allerdings erfuhr dieses Bildungssystem,
welches im 16. Jahrhundert volle Berechtigung hatte, schon im 17. und
18. Jahrhundert wesentliche Einschränkungen. Der. Aufschwung der
Naturwissenschaften und die Ent Wickelung einer nationalen Literatur
drängten andere Bildungs-Elemente in den Vordergrund. Wo dieselben
496 Schlussbetrachtungen.
nicht mit dem bisherigen System verschmolzen wurden, da begann ein
Zwiespalt zwischen dem antiken und dem modernen Bildungs-Ideal, der
im Verlauf der Zeit an Schroffheit zugenommen hat.
Die Anhänger des ersteren erklären, dass der pädagogische Werth
der Literatur des Alterthums hauptsächlich in ihren sprachlichen Formen
zu suchen sei, deren Erlernung den Verstand schärfe und die Denk-
kraft übe. Wenn diese Annahme richtig ist, so muss es doch Bedenken
erregen, dass man darauf 8 oder 9 Jahre des Lebens verwendet. Der
Zweck, der damit angestrebt wird, steht in keinem vernünftigen Ver-
hältniss zu der Zeit, die man ihm widmet. Jedenfalls aber darf man
fragen, ob der mühsame langwierige Weg durch die linguistischen
Klippen der lateinischen und griechischen Literatur der einzige ist, der
zu diesem Ziel führt. Es gab zu allen Zeiten und giebt noch heute
eine Menge von Leuten, die sich durch Klugheit auszeichnen, obwohl
sie niemals die lateinische oder griechische Sprache erlernt haben, und
umgekehrt. Warum sollten nicht auch andere Wissenschaften, beson-
ders die Mathematik, geeignet sein, den Verstand zu entwickeln und
zu schärfen? —
Ein gutes Unterrichtssystem muss trachten, die Zucht des Geistes
zu bewerkstelligen, ohne dass dabei die Bedürfnisse des Lebens voll-
ständig vernachlässigt werden. Dass die humanistischen Gymnasien mit
ihren Studienplänen diese Aufgabe nur zum Theil erfüllen, ist be-
kannt.1 Daraus entspringen die meisten Vorwürfe, welche gegen sie
erhoben werden.
Man verlangt vor Allem eine grössere Berücksichtigung der Kealien
beim Unterricht, weil dies nicht blos im Interesse der künftigen Ärzte
und Naturforscher, sondern auch der Theologen, Juristen und über-
haupt aller Personen liegt, deren Berufstätigkeit dem praktischen Leben
angehört. In den meisten Ländern hat man diesen Forderungen Rech-
nung getragen, indem man entweder die humanistischen Gymnasien
durch die Aufnahme neuer Lehrgegenstände nach dieser Richtung um-
gestaltete oder durch die Hinzufügung von parallel laufenden Real-
klassen zu Unterrichtsanstalten mit gemischtem Charakter erweiterte.
In Deutschland wurden zu diesem Zweck die Realschulen errichtet, von
denen ein Theil durch die Erweiterung ihrer Lehrziele allmälig in Real-
gymnasien umgewandelt worden ist, die sich von ihren humanistischen
Schwester-Anstalten vorzugsweise dadurch unterscheiden, dass in ihnen
1 Bezold und Esmabch in d. Tägl. Rundschau 1885, No. 286, 1886, No. 68.
— Th. Puschmann in der Tägl. Rundschau, Berlin 1886, No. 168. 169. —
E. Haeckel: Realgymnasium und Formalgymnasium hi d. Tägl. Rundschau 1887,
No. 152. — W. Pkeyek: Naturforschung und Schule, Stuttgart 1887.
Söhlussbetrachtungen. 497
der Unterricht in der griechischen Sprache wegfällt und die dadurch
gewonnene Zeit den Naturwissenschaften u. a. m. gewidmet wird.
Es unterliegt keinem Zweifel , dass das deutsche Realgymnasium
in seiner jetzigen Gestalt eine bessere Vorbildung für das Studium der
Medicin gewährt, als das humanistische Gymnasium; gleichwohl blieb
den Schülern des ersteren die Zulassung zu demselben bisher versagt
und ausschliesslich den Abiturienten des humanistischen Gymnasiums
vorbehalten. An Versuchen, auch denjenigen des Real-Gymnasiums die
Zulassung zu den medicinischen Studien zu erwirken, hat es nicht ge-
fehlt. Die preussische Staatsregierung zog in dieser Angelegenheit
sowohl die medicinischen Facultäten als die praktischen Ärzte zu Rath;
aber die Antworten, welche sie von ihnen erhielt, lauteten in ihrer
überwiegenden Mehrzahl für die Realschulen nicht günstig. Von den
9 medicinischen Facultäten Preussens, welche 1869 ihre Gutachten über
die Zulassung der Realschul- Abiturienten zum Studium der Medicin
abgaben, sprachen sich nur 4 (Göttingen, Greifswald, Kiel und Königs-
berg) dafür aus, während 4 (Berlin, Breslau, Halle und Marburg) da-
gegen auftraten und 1 (Bonn) gar keine Meinung äusserte. Von den
163 ärztlichen Vereinen Deutschlands, die 1879 um ihr Urtheil befragt
wurden, erklärten sich nicht mehr als 3 unbedingt und 3 mit gewissen
Beschränkungen dafür, 7 andere gleichfalls, aber nur unter der Be-
dingung, dass den Abiturienten der Realschulen auch der Zutritt zu
den übrigen Facultäten eröffnet wird, während die übrigen 150 dagegen
stimmten, 98 davon allerdings unter der Voraussetzung, dass die
humanistischen Gymnasien einer Reform unterzogen würden.
Die Gründe, welche dabei massgebend waren, lagen aber keines-
wegs darin, dass man der altclassischen Bildung den Vorzug gab, sondern
lediglich in den Rücksichten auf die gesellschaftliche Stellung des ärzt-
lichen Standes. Man durfte mit Recht befürchten, dass dieselbe beein-
trächtigt wird, wenn für die Ärzte eine wissenschaftliche Vorbildung
für ausreichend erklärt wurde, die nach einer sehr verbreiteten Ansicht
einen geringeren Werth besitzt als diejenige, welche für die übrigen
gelehrten Stände für nothwendig befunden wurde. Leider beging man
dabei an einzelnen Orten den Fehler, dass man sich nicht auf die
Anführung dieses einzigen Grundes beschränkte, sondern zu gleicher
Zeit die Realschulen beschuldigte, dass sie kein ideales Streben hätten
und Oberflächlichkeit und Einseitigkeit erzeugten: Anklagen, welche von
betheiligter Seite natürlich eine scharfe Zurückweisung erfuhren.1
1 P. Wossidlo im Pädagogischen Archiv, Stettin 1880, H. 2. — E. Speck:
Die Berechtigung der Kealschul- Abiturienten zum Studium der Medicin im Pä-
dagogischen Archiv 1883, H. 9. 10.
Puschmann, Unterricht. 32
498 Schlussbetrachtungen.
Die Frage der Zulassung der Abiturienten der Realgymnasien zu
den Universitätsstudien kann allerdings nur in der Art gelöst werden,
dass man ihnen alle Facultäten eröffnet und damit ihre Allgemein-
bildung als gleich werthig mit derjenigen der humanistischen Gymnasien
anerkennt. Dies fordert die Gerechtigkeit, da der Lehrplan des Real-
gymnasiums demjenigen des humanistischen ebenbürtig ist; es ist zu-
gleich eine Pflicht gegenüber den Jünglingen, welche nicht zum Studium
der alten Sprachen veranlagt sind. Oder ist es zu rechtfertigen, dass
man Jemandem, der bei einer ausgezeichneten Begabung für die Natur-
wissenschaften vielleicht ein vortrefflicher Arzt werden würde, diesen
Weg versperrt, weil er nicht so viele griechische oder lateinische Sprach-
kenntnisse besitzt, als die Philologen für seinen künftigen Beruf für
erforderlich erachten? —
Die Uniformität der Allgemeinbildung ist allerdings für die schema-
tisirende Schulgelehrsamkeit sehr bequem, indem sie ihr gleichsam als
geistiger Gradmesser dient; aber nothwendig und naturgemäss ist sie
gewiss nicht. Die Verschiedenheit der Neigungen und Anlagen weist
darauf hin, dass es nicht blos eine einzige Art der Geistesbildung giebt.
In mehreren Ländern hat man das Bifurcal-System an den Gym-
nasien eingeführt und den Schülern beider Kategorien den Zutritt zur
Universität gewährt. In Deutschland sträubt man sich noch dagegen,
obwohl man sich in den einsichtigen und unparteiisch urtheilenden
Kreisen der Erkenntniss nicht verschliesst, dass die Einheit der Vor-
schule auf die Dauer unhaltbar ist.
Schon seit langer Zeit hat das humanistische Gymnasium aufgehört,
die einheitliche Vorschule für die gebildeten Kreise überhaupt zu sein;
denn die polytechnischen Hochschulen und einzelne Klassen des höheren
Beamtenthums wurden den Abiturienten der Realschulen zugänglich
gemacht, und die für die Erziehung des Officierstandes bestimmten
Kadetten -Anstalten verzichteten auf die humanistische Bildung und
nahmen den Lehrplan der Realgymnasien an. Die Gleichstellung der
Realgymnasien mit den humanistischen und die Gleichberechtigung
ihrer Abiturienten wird daher nicht zu einer Trennung der Studierenden
führen, wie von mancher Seite behauptet wird, sondern im Gegentheil
die Annäherung aller Gebildeten auf der Grundlage einer wenn auch
nicht gemeinsamen, so doch gleichwerthigen Vorbildung anbahnen.
Es ist klar, dass die günstigen pädagogischen Erfolge, welche die
lateinische Schule und das humanistische Gymnasium ehemals erzielten,
nicht auf dem Inhalt des Lehrstoffes, sondern auf der gründlichen Ver-
arbeitung desselben beruhten. Jemehr ihr Studienplan durch die Auf-
nahme neuer Unterrichtsgegenstände von diesem Grundsatz abweichen
Schlus sbetrachtungen. 499
musste, desto häutiger wurden auch die Klagen über die mangelhafte
und verfehlte Ausbildung der Schüler. Heut erstrecken sie sich auf
sämmtliche Unterrichtsgegenstände, und selbst die alten Sprachen sind
davon nicht ausgenommen. Am deutlichsten tritt dies an den öster-
reichischen Gymnasien hervor, welche, um die Einheit der Vorschule
zu retten, die Lehrziele des humanistischen mit denjenigen des Real-
gymnasiums zu vereinigen suchen und dabei noch mit den aus
der Vielsprachigkeit des Landes entspringenden Schwierigkeiten zu
kämpfen haben.
Die eingehende Beschäftigung mit einem abgegrenzten Wissens-
gebiet erzeugt Gründlichkeit: eine Charakter-Eigenschaft, die der Jugend
anerzogen werden muss. Ob man aber die alten oder die neuen Sprachen,
die Mathematik oder eine andere Wissenschaft zu diesem Zweck benutzt,
dürfte in Bezug auf den Erfolg, welcher angestrebt wird, vielleicht
gleichgültig sein und sollte sich allein nach den Bedürfnissen der Zeit
und nach den Neigungen und Talenten des Individuums richten.
An dieser Stelle mögen noch einige Bemerkungen erwähnt werden,
welche sich ebenso sehr gegen die Real-Gymnasien als gegen die humanisti-
schen Gymnasien richten. Zunächst ist die Überladung ihrer Lehrpläne
mit Unterrichtsstunden vom sanitären Standpunkt durchaus nicht zu
billigen. Wenn Knaben und Jünglinge genöthigt werden, wöchentlich
32 Stunden auf der Schulbank zu sitzen und ausserdem vielleicht noch
mehrere Stunden täglich für die Anfertigung der häuslichen Schul-
aufgaben zu verwenden, so muss dies auf die Entwickelung ihres
Körpers schädlich wirken. Die zunehmende Kurzsichtigkeit der Schüler,
ihre bleichen Wangen und engbrüstigen Gestalten liefern dafür über-
zeugende Beweise. An keiner Klasse des Gymnasiums darf die Zahl
der wöchentlichen Unterrichtsstunden höher als 24 bis 26 sein, wenn
man den Körper gesund und den Geist frisch erhalten will. Dem
Knaben muss die Zeit zu seiner Erholung gewährt und zugleich die
Möglichkeit geboten werden, seine individuellen Anlagen zu entfalten.1
Daran schliesst sich der Wunsch an, dass dem Turnen und über-
haupt den körperlichen Übungen an den Schulen mehr Zeit gewidmet
werden möge, als dies bisher der Fall war. Es muss freilich anerkannt
werden, dass gerade in dieser Hinsicht in den letzten Jahren viel ge-
schehen ist; aber es bleibt noch Manches zu thun übrig, bevor die
Forderungen der Hygiene erfüllt sind.
1 Zeitung f. d. höhere Unterrichtswesen Deutschlands, Leipzig 1883, No. 48.
— Hasemann: Die Überbürdung der Schüler, Strassburg 1884. — Centralbl. f.
allgem. Gesundheitspflege, her. v. Finkelnburg, Jahrg. III, H. 7. 8. — Vergl. a.
P. Frank a. a. 0. VI, Th. 3, S. 260.
32*
500 Schlussbetrachtungen.
Ein grosser Fehler der Gymnasien Deutschlands und vieler anderer
Länder besteht in der Vernachlässigung des Anschauungs-Unterrichts.
Sie füllen das Gedächtniss, üben den Verstand imd entwickeln die
Denkfähigkeit; aber sie unterlassen es, die Beobachtungsgabe zu wecken
und die Sinnesthätigkeit zu schärfen. Sie verzichten damit auf ein
wirksames Mittel der Geistesbildung, welches für manche Berufskreise,
wie für denjenigen des Ingenieurs, des Arztes oder Naturforschers, eine
hohe Bedeutung hat. Es erscheint daher wünschenswerth, dass der
Unterricht in der Geographie, der Mathematik und den Naturwissen-
schaften mit praktischen Demonstrationen verbunden und die vor-
getragenen Thatsachen sinnlich veranschaulicht werden. Auch der
Zeichnen- Unterricht lässt sich dazu verwerthen. Die Lehrmittel-Samm-
lungen müssen durch Abbildungen, Modelle u. dgl. m. vermehrt und auf
jede Weise dafür gesorgt werden, dass neben dem Verstände auch die
Sinne beschäftigt werden.1
In vielen englischen Colleges, ebenso wie in manchen Schulen der
Schweiz und Schwedens findet man Werkstätten für mechanische Hand-
arbeiten, in denen die Schüler die Gelegenheit erhalten, sich im Ge-
brauch der Hände und Werkzeuge zu üben. Wenn diese Einrichtungen
richtig geleitet werden, so bereiten sie den Zöglingen grosses Ver-
gnügen und noch grösseren Nutzen, indem sie ihnen die für das prak-
tische Leben unentbehrliche Geschicklichkeit verschaffen. Welchen
jammervollen Anblick bietet mancher Gelehrte, Richter oder Geistliche,
der kaum im Stande ist, einen Bleistift zu spitzen, ohne dass er sich
in die Finger schneidet! Es ist bemerkenswerth, dass solche Figuren
fast nur in Deutschland und jenen Ländern vorkommen, in denen dieser
Theil der Jugenderziehung gänzlich übersehen wird.
Endlich regt die Organisation der Gymnasien zu der Frage an,
ob es vom pädagogischen Standpunkt richtig und zweckmässig erscheint,
Knaben von 10 Jahren mit Jünglingen von 19 Jahren in derselben
Schule zu vereinigen und sie der gleichen Disciplin, den gleichen Ge-
setzen zu unterwerfen. In Süddeutschland und Österreich wurde der
Gymnasial-Cursus früher in zwei Hälften getheilt und für jede der-
selben eine besondere Schul- Anstalt errichtet; in Italien ist dies noch
jetzt der Fall.2 Die Eintheilung in ein Ober- und Unter-Gymnasium
hat zur Voraussetzung, dass in jeder dieser beiden Anstalten ein ab-
1 V. Hueter im Päd. Arch. 1879, H. 9. — W. Flemming im Päd. Arch.
1883, No. 7. — J. Rosenthal: Die Vorbildung zum Universitätsstudium im Päd.
Arch. 1885, H. 4. — Lunge in der Zeitschr. des Vereins deutscher Ingenieure,
Bd. 29, S. 854 u. ff.
2 Auch der ministerielle Gesetzentwurf, welcher den Verhandlungen über
Schlussbetrachtungen. 501
geschlossenes Lehrziel verfolgt und erreicht wird. Sie bietet den Vor-
theil, dass sie für diejenigen Schüler, welche das Gymnasium verlassen,
bevor sie dasselbe absolvirt haben, einen natürlichen harmonischen
Abschluss schafft; sie werden auf diese Weise davor bewahrt, dass sie
mit einer abgehackten unbefriedigenden Bildung ins Leben treten. Zu
gleicher Zeit wird damit ein vernünftiger Anhaltspunkt für die All-
gemeinbildung Derer gegeben, welche sich dem niederen Beamten-Dienst
widmen, eine Fachschule besuchen wollen u. a. m.
Wenn dem Unter-Gymnasium die Aufgabe ertheilt wird, in einem
fünfjährigen Cursus den Schüler im Gebrauch der Muttersprache zu
üben und auszubilden, wobei das Studium einer zweiten Sprache, z. B. der
lateinischen, unentbehrlich erscheint, mit den Elementen der Mathematik
und den wichtigsten Thatsachen und Lehren der Religion, Geschichte,
Geographie und der beschreibenden Naturwissenschaften bekannt zu
machen und durch den Zeichnen-Unterricht in der sinnlichen Be-
obachtung zu festigen, also mit einer formalen und sachlichen
Allgemeinbildung auszustatten, sollte in dem Ober-Gymnasium der
humanistische oder realistische Charakter der Geistesbildung einen deut-
lichen Ausdruck erhalten.
Dasselbe könnte derartig organisirt werden, dass diese beiden
Eich tun gen in Parallel-Klassen vertreten werden, deren Schüler in den
meisten Lehrgegenständen, z. B. in der Muttersprache, in der Religion,
Geschichte und Geographie, den modernen Sprachen und Zeichnen, ver-
einigt und nur getrennt werden, damit die eine Abtheilung in der
griechischen und lateinischen Sprache, die andere in der Mathematik
und den Naturwissenschaften unterrichtet wird.1 Ähnliche Einrichtungen
bestehen, z. B. an den dänischen, schwedischen und norwegischen
Gymnasien. Doch müssen den Abiturienten dieser beiden Abtheilungen
des Ober-Gymnasiums selbstverständlich die gleichen Rechte gewährt
und der Zutritt zu sämmtlichen Facultäten gestattet werden.
Während in den meisten Culturstaaten durch gesetzliche An-
ordnungen dafür Sorge getragen wird, dass die Ärzte eine allgemeine
wissenschaftliche Vorbildung besitzen, denkt man nirgends daran, wie
wichtig es ist, dass nur gesunde Menschen sich diesem Beruf widmen.
Es erklärt sich dies aus der Vernachlässigung, welche die körperliche
Erziehung in unserem modernen Culturleben überhaupt erfährt.
In der bayerischen Medicinal-Ordnung v. J. 1808 wurde befohlen,
die Reorganisation der höheren Schulen zu Grunde gelegt wurde, welche vom
16. April bis 14. Mai 1849 in Berlin stattfanden, verlangte eine solche Einrichtung.
1 Th. Puschmann in der Deutschen medicinischen Wochenschrift, Berlin
1883, No. 49. — E. Rindfleisch in der Tägl. Rundschau 1887, No. 209.
502 Schlussbetrachtungen.
„zu den medicinischen Studien nur solche Subjekte zuzulassen, welche
ohne Gebrechen des Körpers und der Sinne" sind. Jünglinge, welche
mit chronischen Lungenleiden, Herzfehlern und andern organischen
Erkrankungen behaftet sind, oder über eine unvollkommene oder fehler-
hafte Sinnesthätigkeit klagen, sollten vom Studium der Heilkunde ab-
gehalten werden; denn sie werden bei der Untersuchung und Behandlung
der Kranken und überhaupt in ihrer gesammten ärztlichen Thätigkeit
gehemmt, unterliegen den verschiedenen schädlichen Einflüssen und
sind nicht im Stande, den erhofften Segen zu stiften. Zum Studium
der Mediän und der Thätigkeit des Arztes gehört ein gesunder und
kräftiger Körper. Die Krankheit verbittert das Gemüth und raubt den
Lebensmuth ; wie nothwendig braucht diesen der Arzt für sich und für
Andere! Seine Seelenstimmung spiegelt sich oft in dem Befinden seiner
Kranken wieder.
Der Studiengang der Medianer hat sich durch die Gewohnheit
und die wissenschaftlichen Bedürfnisse in den einzelnen Ländern ziem-
lich gleichartig gestaltet. Er beginnt mit den Naturwissenschaften, den
sogenannten Hilfsfächern und der Anatomie und Physiologie, richtet
sich also zunächst auf den Bau und die Funktionen des Menschen und
seine Stellung in der Natur. Der Studierende sollte aber von der
Vorschule so viele naturwissenschaftliche Kenntnisse mitbringen, dass
er nicht genöthigt wird, an der Universität mit den Elementen der
Mineralogie, Botanik und Zoologie zu beginnen, sondern sich darauf
beschränken darf, diese Wissenschaften in ihren Beziehungen zur Medicin
zu betrachten.
Da die Physik und Chemie am Gymnasium nur oberflächlich be-
rührt werden können, die Kenntnisse auf diesen Gebieten für das Ver-
ständniss der einzelnen Theile der Heilkunde unentbehrlich sind, und
die reichen Lehrmittel der Hochschule die beste Gelegenheit zum
Studium derselben bieten, so muss sich der Studierende der Medicin
damit sehr eingehend beschäftigen.
Die Anatomie und Physiologie sind gleichsam die Grundsäulen
der ärztlichen Bildung. Sie müssen mit erschöpfender Gründlichkeit
behandelt und sowohl durch die mit Demonstrationen und Experimenten
verbundenen Vorträge als durch die Betheiligung an praktischen Ar-
beiten zum dauernden geistigen Eigenthum des Schülers gemacht
werden. Die Betrachtung der anatomischen Verhältnisse vom ver-
gleichenden, topographischen und chirurgischen Standpunkt controllirt
und befestigt das in den Vorlesungen über systematische Anatomie und
durch die Secir-Übungen erworbene Wissen, und die Histologie ver-
vollständigt es in Bezug auf den feineren, nur mit dem bewaffneten
Schlussbetraehtungen. 503
Auge erkennbaren Bau der einzelnen Theile des Körpers. Wenn die
Physiologie im Hinblick auf ihre hohe Bedeutung für die praktische
Heilkunde gelehrt wird, so wird dadurch das Interesse des Studierenden
für die Thatsachen dieser Wissenschaft wesentlich erhöht. Mit der
Embryologie schliesst der erste Theil des medicinischen Studiums , der
sich mit den normalen Verhältnissen und Zuständen des Körpers befasst.
Beim Studium der eigentlichen Heilkunde gilt es zunächst, eine
Einsicht in das Wesen der Krankheiten und Krankheitszustände zu
gewinnen. Die Vorlesungen über allgemeine und specielle Pathologie
geben Aufschluss darüber. Die pathologische Anatomie zeigt die für
die Krankheiten charakteristischen Veränderungen an der Leiche, und
die experimentelle Pathologie lehrt ihre Entstehung und ihre gegen-
seitigen Beziehungen.
Leider ist es an manchen Hochschulen dahin gekommen, dass die
theoretischen Vorlesungen über die inneren Krankheiten, die Chirurgie,
Augenheilkunde, Geburtshilfe und andere Theile der praktischen Heil-
kunde für unnöthig gehalten werden. Allerdings mögen breit aus-
gesponnene, ins Einzelne gehende Vorträge darüber auf Anfänger einen
verwirrenden und ermüdenden Eindruck machen; für sie ist eine kurze
gedrängte Übersicht der wichtigsten Thatsachen ausreichend. Aber
diese ist unerlässlich, bevor der klinische Unterricht beginnt, dem die
weitere Ausführung des Lehrstoffs überlassen wird.
Auch müssen demselben die Collegien über Arzneimittellehre und
Pharmakodynamik, allgemeine Therapie, Diätetik und Balneologie voran-
gehen. Sehr zweckmässig ist es, wenn die Studierenden die Herstellung
der Becepte in einer Apotheke oder einem pharmaceutischen Labora-
torium praktisch erlernen, wie dies in dem Reisingerianum in München
der Fall ist.
Der diagnostische Cursus und die propädeutische Klinik machen
den Studierenden mit den gebräuchlichen Untersuchungs-Methoden be-
kannt und lehren an einfachen, leicht zu durchschauenden Fällen, wie
die Krankheit erkannt und behandelt wird. Die propädeutische Klinik
füllt eine Lücke aus im medicinischen Studienplan, ist aber wohl nur
an grossen ärztlichen Schulen ein unumgängliches Bedürfniss und lässt
sich auch nur dort einrichten, wo man über ein grosses Kranken-
material verfügt und die Menge der Schüler eine Trennung derselben
in mehrere Abtheilungen wünschenswerth macht.
Die chirurgische Klinik setzt ausser Anderem die Kenntniss der
chirurgischen Instrumente und die Fertigkeit in der Anlegung von
Verbänden voraus und verlangt, dass der Studierende die Ausführung
der Operationen an der Leiche lernt und selbst übt. Für die Ophthal-
504 Schlussbetrachtungen.
miatrische Klinik ist die Bekanntschaft mit der Anwendung des Augen-
spiegels und die Betheiligung an einem Operations-Cursus nothwendig.
Die geburtshilflichen Kenntnisse werden in der diesem Zweck gewid-
meten Klinik und durch die Operations-Übungen, welche am Phantom
veranstaltet werden, erworben. Der Besuch der Special -Kliniken für
Psychiatrie und Nervenleiden, Hautkrankheiten und Geschlechtsleiden,
Erkrankungen des Kehlkopfes und des Gehörorgans, für Kinderkrank-
heiten u. a. m. müssen den letzten Semestern der Studienzeit vorbehalten
bleiben.
Die Studierenden der Kliniken scheiden sich in Auscultanten und
Praktikanten, d. i. in Anfänger, welche am Unterricht nur einen recep-
tiven Antheil nehmen, und in Vorgeschrittenere, die bei der Unter-
suchung und Behandlung der Kranken mitwirken. Die letzteren er-
halten Gelegenheit zur fortdauernden Beobachtung der Krankheitsfälle
.und werden dadurch mit den kleinen Verrichtungen bekannt gemacht,
welche zur Krankenpflege gehören.
An den klinischen Unterricht schliesst sich die poliklinische Thätig-
keit an, welche den Übergang zur ärztlichen Praxis bildet. Wo den
poliklinischen Instituten ein Theil der Armenpraxis übertragen ist, lernt
der Praktikant dadurch die Ansprüche kennen, welche an den behandelnden
Arzt gestellt werden, und gewinnt jene Sicherheit in der Beurtheilung
der Sachlage, die für seine selbstständige Wirksamkeit nothwendig ist.
In das Ende der Studienzeit gehören ferner die Vorlesungen über
gerichtliche Medicin, H/ygiene, Sanitätspolizei und Medicinalgesetzgebung,
Medicinalstatistik, Thierheilkunde und vergleichende Medicin, medicini-
sche Geographie und Geschichte der Medicin.
Die beiden letzten Unterrichtsgegenstände werden nur noch an
wenigen Hochschulen gelehrt. Während die Juristen, Theologen, Phi-
lologen, die Architekten, Künstler, Officiere, kurz alle höheren Berufs-
klassen sich eifrig mit der Geschichte ihrer Wissenschaft oder Kunst1
beschäftigen, glauben die Ärzte in ihrer Mehrzahl, dass sie aus der
Geschichte der Heilkunde nichts lernen können. Sie wissen nicht, wie
viele Entdeckungen und Erfindungen nochmals gemacht werden mussten,
weil sie im Verlauf der Zeit vergessen worden waren; die Geschichte
der plastischen Operationen bietet ein drastisches Beispiel dafür.
Aber das Studium der Geschichte der Medicin ist nicht blos für
die ärztliche Forschung nützlich und nothwendig; es hat auch einen
1 Die Thierärzte in Deutschland müssen seit 1883 ihre Kenntnisse in der
Geschichte ihrer Wissenschaft im Examen zeigen ; aber von ihren höher stehenden
Collegen, welche dem Menschen ihre ärztliche Fürsorge widmen, verlangt man
keine derartige historische Bildung.
Schlussbeti 'achtungen . 505
hohen ethischen Werth für die Erziehung des Studierenden, indem es
ihn Achtung und Bewunderung vor den Bestrebungen und Leistungen
unserer Vorfahren lehrt, und es vervollständigt endlich seine Allgemein-
bildung, so dass er die Dinge gleichsam von einer höheren Warte zu
überschauen vermag. Es ist daher eine Pflicht der Unterrichtsbehörden,
diesem Fach eine wohlwollendere Aufmerksamkeit zu widmen, als dies
bisher geschehen ist.
Noch vor wenigen Decennien wurde Geschichte der Medicin an
den Universitäten zu Berlin, Breslau, Halle, Königsberg, Greifswald,
Marburg, Göttingen, Heidelberg, Würzburg, Erlangen, München, Strass-
burg, Bern, Prag und Wien gelehrt, und heut sind es höchstens zwei
oder drei derselben, an denen noch Vorlesungen darüber gehalten oder
vielleicht auch nur angekündigt werden. Obwohl Männer, wie Brücke,
du Bois-Reymond, Charcot, Helmholtz, Hyrtl, Virchow, Wunder-
lich, Ziemssen u. A. auf den Werth und die Bedeutung der Geschichte
der Medicin hinweisen, unterlässt man es doch, die Schüler darauf auf-
merksam zu machen, und erachtet es für überflüssig, Lehrer dafür zu
erziehen und anzustellen. Selbst Billroth, der es einst „für eine
Ehrensache der grösseren medicinischen Facultäten erklärte, dass sie
dafür sorgen, dass Vorlesungen über Geschichte der Medicin in ihren
Katalogen nicht fehlen",1 sieht jetzt darin nur eine überflüssige Deko-
ration und tritt dagegen auf, dass der Lehrer dieses Faches ein voll-
berechtigtes Mitglied des medicinischen Professoren-Collegiums ist, weil
er die Arbeitsleistung desselben nicht für ebenso gross als diejenige
der Vertreter anderer Fächer hält. Aber die Aufgabe des deutschen
Professors besteht nicht allein in der Lehrthätigkeit ; er muss auch als
Forscher an der Erweiterung und Vertiefung seiner Wissenschaft ar-
beiten. Hier erwartet den Historiker der Medicin ein weites, noch
wenig bebautes Feld der Thätigkeit.
Auch die medicinische Geographie, welche als Unterrichtsgegenstand
mit der Geschichte der Medicin verbunden werden kann, stellt dem
Lehrer und Forscher eine Menge von Aufgaben, welche bei dem zu-
nehmenden Verkehr mit fremden Welttheilen zur Lösung drängen.
Es ist schwer, zu bestimmen, in welcher Zeit die ärztliche Fach-
bildung erworben wird. Dies hängt von der Begabung und dem Fleiss
des Studierenden, den Lehrkräften und Lehrmitteln und manchen an-
deren Umständen ab.
Wenn dem Studierenden bei der Auswahl der Collegien kein Zwang
1 Th. Billeoth: Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften,
Wien 1876, S. 80. — Wiener Klinische Wochenschrift, 1888, No. 36, 6. Dec.
506 Schlussbetrachtimgen.
auferlegt und die Freiheit gelassen wird, seine Kenntnisse zu erwerben,
wie und wo er will, so wird dabei vorausgesetzt, dass derselbe als ver-
nünftiger und besonnener Mann den Rathschlägen , die ihm in dieser
Hinsicht von Sachverständigen ertheilt werden, Folge leistet. Wenn er
dies aber aus Unverstand oder Leichtsinn unterlässt, so hindert ihn
nichts daran. Die Folgen zeigen sich in den Lücken seiner Bildung,
zu deren Ausfüllung ihm vielleicht in seiner späteren Studienzeit die
Gelegenheit fehlt. Geschieht es erst in der ärztlichen Praxis, so müssen
die Kranken, welche ihm in die Hände fallen, dafür büssen.
Nirgends wirkt die unumschränkte Lernfreiheit so schädlich, als
in dem Studium der Medicin; denn hier werden dadurch Gesundheit
und Leben der Menschen aufs Spiel gesetzt. In einzelnen Ländern
und zwar gerade in solchen, welche sich freiheitlicher Institutionen
rühmen, hat man deshalb auf die Lernfreiheit verzichtet und den Stu-
dierenden der Medicin einen Studienplan vorgeschrieben, welcher genau
eingehalten wird. Auch in Deutschland und Österreich ist dieselbe
wenigstens soweit eingeschränkt worden, dass von den Studierenden bei
der Meldung zur Prüfung der Nachweis verlangt wird, dass er durch
mehrere Semester die wichtigsten Kliniken besucht hat. Es wäre zweck-
mässig, derartige Bestimmungen auch für andere Theile des medicini-
schen Unterrichts, welche für die ärztliche Bildung unentbehrlich sind,
zu erlassen. Oder ist es denkbar, dass Jemand die Anatomie und
Physiologie auf andere Weise, als durch die persönliche Unterweisung
eines Lehrers, erlernen kann?
Dringend geboten ist es, dass die Studierenden regelmässig und
aufmerksam am Unterricht Theil nehmen und den Lehrstoff in sich
aufnehmen.1 An kleinen Hochschulen, wo Lehrer und Schüler sich
persönlich näher treten, ergiebt sich dies von selbst; die Gefahr, dass
die Studierenden dem Unterricht fern bleiben, ist vorzugsweise nur an
grossen Universitäten vorhanden. Doch ist eine Controlle der Studenten
hier mit solchen Schwierigkeiten verbunden, dass man davon abstehen muss.2
Die Erfolge des Unterrichts werden gesichert, wenn die Studieren-
den durch gelegentliche Fragen zur aktiven Theilnahme daran heran-
gezogen werden, wie dies jetzt in den mit praktischen Demonstrationen
verbundenen Fächern gebräuchlich ist. Noch mehr wird dazu beitragen,
wenn im unmittelbaren Anschluss an die Vorlesungen am Schluss jeder
1 Die Klagen über den unregelmässigen Besuch der Vorlesungen fehlten
früher ebensowenig als heut. Schon Vicq. d'Azyr erklärte: „Die Studenten
schreiben sich iü die Collegien ein, aber sie kommen nicht hinein." S. Grüners
Almanach f. Ärzte, Jena 1791, S. 142.
2 G. Schmoller im Jahrbuch f. Gesetzgebung, Leipzig 1886, H. 2, S. 286 u. ff.
Schlussbetrachtungen. 507
Woche ein Disputatorium veranstaltet wird, bei dem die Studierenden
in Gegenwart ihres Lehrers oder seines Assistenten den Lehrstoff, der
ihnen vorgetragen wurde, besprechen und über Irrthümer und Dinge,
die ihnen unverständlich geblieben sind, aufgeklärt werden. Diese mehr
nach der Schule als nach der Akademie geartete Form des Unterrichts
hat sich an den militärärztlichen Bildungsanstalten bewährt und ist
auch an den Universitäten eingeführt worden, wo sie in den philolo-
gischen, historischen und juristischen Seminarien, in den wissenschaft-
lichen Kränzchen und Vereinigungen geübt wird.
Dem gleichen Zweck wird es auch dienen, wenn es dem Studie-
renden gestattet wird, nach der Beendigung des Lehr-Cursus über jeden
Unterrichtsgegenstand, also unter dem frischen Eindruck desselben, vor
dem Lehrer oder seinem Vertreter eine Prüfung abzulegen. Die Zeug-
nisse, die ihm darüber ausgestellt werden, würden ein werthvoller
Rechenschaftsbericht über seine Studienzeit sein und den Examinatoren,
welche über seine Befähigung zur ärztlichen Praxis entscheiden sollen,
ein vorläufiges Urtheil über seine fachmännische Bildung gestatten.
Die ärztliche Approbations-Prüfung muss sich über alle Theile der
Heilkunde erstrecken und jene Summe von Kenntnissen verlangen,
welche für den Arzt unentbehrlich sind. Wenn nach dem Abschluss
des ersten, die naturwissenschaftliche Vorbildung umfassenden Abschnitts
der medicinischen Studienzeit ein Examen über Naturgeschichte, Physik,
Chemie, Anatomie und Physiologie abgenommen wird, so sollte auch
die Bestimmung getroffen werden, dass Niemand zu den Vorlesungen
über die eigentliche Heilkunst zugelassen wird, bevor er jenes Examen
bestanden hat. Versäumt er dies, so raubt ihm die Vorbereitung dazu
später die Zeit, die er für seine ärztliche Bildung bedarf.
Bei den Prüfungen, welche der ärztlichen Approbation vorausgehen
und nach der Beendigung der Studienzeit stattfinden, wird auf die
praktischen Beweise der Tüchtigkeit mit Recht ein grosses Gewicht
gelegt; denn die Erklärung anatomischer Präparate, die Vornahme von
Leichen-Sektionen, die Untersuchung und Behandlung der Kranken, die
Ausführung chirurgischer und geburtshilflicher Operationen u. a. m.
bieten dem Candidaten Gelegenheit, zu zeigen, dass er von dem ärzt-
lichen Wissen, das er sich erworben hat, den erforderlichen praktischen
Gebrauch zu machen versteht.
Die Fragen, welche dabei gestellt werden, streifen vielleicht auch
die übrigen Kenntnisse des Prüflings; aber sie sind zu sehr von zu-
fälligen Umständen abhängig, als dass sie zu einem sicheren Urtheil
über seine ärztliche Gesammtbildung genügen. Dazu ist ein mündliches
Schluss-Examen nothwendig, welches die Ergebnisse der vorangegangenen
508 Schlussbetrachtungen.
praktischen Prüfungen ergänzt und berichtigt und alle Fächer in Be-
tracht zieht.
Zu Examinatoren in den einzelnen Prüfungsgegenständen sind
ohne Zweifel Personen, welche darin als Lehrer wirken, mehr geeignet,
als solche, die dem betreffenden Wissensgebiet ferner stehen. Nur wer
dasselbe vollständig beherrscht, weiss passende Fragen zu stellen und
den Werth der Antworten richtig zu beurtheilen. * Es ist daher am
besten, den Lehrer-Collegien der medicinischen Facultäten und Schulen
das Prüfungsgeschäft zu überlassen. Doch verlangt es die Autorität
des Staates, dass er als Mandatar der Gesellschaft auch diesen Zweig
der Unterrichtsverwaltung überwacht und dafür Sorge trägt, dass Arzte
gebildet werden, welche den Aufgaben ihres Berufs gewachsen sind.
Damit erledigt sich zugleich die Frage, ob die Ärzte in Bildungs-
anstalten, welche vom Staat geleitet werden, oder in solchen, die von
ihm unabhängig sind, erzogen werden sollen. Dem Staat muss in jedem
Falle der Einfluss auf das Studien- und Prüflings wesen zugestanden
werden, den er im Interesse der Bevölkerung ausüben muss.
Wenn es sich bei der ärztlichen Approbations-Prüfung hauptsächlich
darum handelt, festzustellen, ob der Prüfling die für die ärztliche Praxis
nothwendige Befähigung besitzt, so sollte man bei der Verleihung des
Doktorats höhere wissenschaftliche Anforderungen stellen und verlangen,
dass der Bewerber um diese akademische Würde seine ärztlichen Col-
legen an Kenntnissen überragt. Die Prüfung, in welcher er diesen
Nachweis führt, wird daher in die einzelnen Disciplinen der Heilkunde
tiefer eingehen und auch manche Fächer berühren, welche, wie z. B.
die Geschichte der Medicin und die medicinische Geographie, in der
Approbations-Prüfung nicht berücksichtigt werden, weil sie für die ärzt-
liche Bildung zwar wünschenswerth, aber nicht unentbehrlich sind.
Desgleichen muss darauf gesehen werden, dass als Doktor-Disser-
tationen nur Arbeiten angenommen werden, welche einen wissenschaft-
lichen Werth besitzen. Mit Recht hat man fast überall aufgehört, zu
verlangen, dass sie in lateinischer Sprache geschrieben werden; denn
„in dem ausgetretenen Geleise dieses in seiner modernen Gestalt ver-
armten Idioms verbirgt sich trefflich die eigene Unklarheit der Begriffe
und die Dürftigkeit der Gedanken; Gemeinplätze, die im deutschen
Gewände unerträglich wären, klingen doch etwas vornehmer in der
lateinischen Umhüllung", wie J. v. Döllinger schreibt.2
Wenn der medicinische Doktor-Titel eine Auszeichnung für wissen-
schaftliche Verdienste ist und die geistige Elite des ärztlichen Standes
1 Prunelle: Discours des etudes de medecine, Paris 1816, p. 21.
2 J. v. Döllinger: Die Universitäten sonst und jetzt, München 1867, S. 16.
St -hl ussbetrachtungen, 509
bezeichnet, so darf man verlangen, dass die Erwerbung desselben eine
unerlässliche Vorbedingung für Jeden ist, der eine hervorragende
Stellung im öffentlichen Sanitätsdienst, im militärärztlichen Corps oder
in der Leitung eines Krankenhauses anstrebt oder die Lehrthätigkeit
an einer medicinischen Facultät oder Schule ausüben will.
Im Übrigen sollte die letztere Jedem freistehen, der auf irgend
einem Wissensgebiet verdienstvolle Leistungen aufweisen kann und
dadurch sowohl wie durch seinen Charakter die Gewähr bietet, dass
er der Anstalt, an welcher er wirken will, zum Nutzen und zur Ehre
gereichen wird. Wenn durch die Anstellung und Besoldung der Lehr-
kräfte, welche die Vollständigkeit der ärztlichen Bildung erheischt, für
die nothwendigen Bedürfnisse einer medicinischen Schule gesorgt worden
ist, kann es ihr nur wTünschenswerth und vortheilhaft sein, dass der
Unterricht durch Gelehrte, welche sich freiwillig und ohne Anspruch
auf Entgelt der Lehrthätigkeit widmen, bereichert wird. Der Privat-
Docent erhält nur das Recht, zu lehren, darf aber nicht dazu verpflichtet
werden, so lange er nicht einen bestimmten Lehr- Auftrag hat und
damit eine Lücke im Lehrplan ausfüllt. Seine Thätigkeit bildet die
Vorbereitung für das Lehramt, zu welchem er, wenn er sich als Lehrer
und Forscher auszeichnet, später berufen wird. Aber dieses Ziel wird
nur von Einzelnen erreicht; denn dazu gehört Geist, Geduld und Geld.
Wer über diese drei Dinge nicht verfügt, sollte darauf verzichten, einen
Beruf zu ergreifen, der ihm nur trügerische Hoffnungen vorgaukelt,
deren Erfüllung er vergeblich erwartet.
Mit Recht werden bei der Besetzung der erledigten Professuren
vorzugsweise die Privat-Docenten berücksichtigt; denn dadurch sichert
man sich vor der Gefahr, dass Derjenige, welchem das Lehramt über-
tragen wird, dazu nicht geeignet und befähigt ist. Es ist ein W^agniss,
Jemanden damit zu betrauen, der in der Lehrthätigkeit noch keine
Übung und Erfahrung besitzt.
Geringe Berechtigung hat die Scheidung der Professoren in ordent-
liche und ausserordentliche, wie sie an den Hochschulen Deutschlands
und anderer Länder üblich ist. Die ausserordentlichen Professoren
stehen den ordentlichen im Range und in der Besoldung nach und
haben ausser dem Titel oft kaum irgend welche Vorrechte vor den
Privat-Docenten. In diese Kategorie werden die Vertreter der sogenannten
Nebenfächer, ferner einzelne Lehrkräfte, welchen die Ergänzung und
Vervollständigung eines Hauptfaches obliegt, und jene Privat-Docenten
eingereiht, die den Professor-Titel als Belohnung für ihre Verdienste
erhalten haben.
Ohne Zweifel liegt eine LFngerechtigkeit darin, dass man einen
510 SchlussbeU 'achtungen.
Lehrer dafür bestraft, dass er seine Kräfte einem Unterrichtsgegenstande
widmet, welcher nicht zu dem täglichen Brot des Berufs gehört. Wenn
es sich dabei um Männer handelt, die zu den Zierden der Wissenschaft
zählen, so ist es nicht blos hart, sondern auch unvernünftig. Man
sollte ihre selbstlosen Bestrebungen anerkennen und fördern, nicht aber
durch ungerechte Kränkungen herabsetzen und lähmen.
Gegen die Gleichstellung der Vertreter der Nebenfächer mit den-
jenigen der Hauptfächer wird geltend gemacht, dass ihre Lehrthätigkeit
nicht in demselben Grade in Anspruch genommen wird; aber dieselbe
kann doch nicht gleich der Arbeitsleistung eines Tagelöhners nach der
Zahl der darauf verwendeten Stunden abgeschätzt werden. —
Vor Allem ist es sehr schwer, zu bestimmen, welche Disciplinen
der Heilkunde als Nebenfächer im medicinischen Unterrichtsplan zu
betrachten sind. Früher wurde sogar die Geburtshilfe, die Augenheil-
kunde und die pathologische Anatomie dahin gerechnet. Die Meinungen
sind getheilt, ob manche Zweige der Medicin, wie z. B. die Histologie,
die gerichtliche Medicin, die Dermatologie, die Laryngologie u. a. m.
als Haupt- oder Nebenfächer gelten müssen. Es wird dabei auch auf
die Verhältnisse der Schule ankommen; denn es ist selbstverständlich,
dass medicinische Facultäten, wie diejenigen zu Paris, Wien oder Berlin,
nicht mit dem gleichen Maass gemessen werden dürfen, als kleine
ärztliche Schulen. Hier muss auf manche Einrichtung, auf manche
Lehrkanzel verzichtet werden, die dort nothwendig und unentbehr-
lich ist.
Schon der Frankfurter Congress und der Jenaer Reformverein
verwarfen die Eintheilung der Professoren in Ordinarien und Extra-
ordinarien und erklärten, dass es vernunftgemäss nur zwei Klassen der
akademischen Lehrer geben soll, nämlich Professoren und Privat-
Docenten. Die ersteren üben die Lehrthätigkeit im Auftrage der Schule
aus und werden dafür besoldet; die letzteren betheiligen sich daran
aus freiem Willen und erhalten für ihre Dienstleistungen keine Ent-
schädigung. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass einzelnen Privat-
Docenten als Anerkennung ihrer Leistungen der Professor-Titel verliehen
wird; doch dürfen sie dabei nur dem Namen nach, nicht aber im
Range und in den Rechten zu Professoren vorrücken.
Die Professoren bilden das Lehrer-Collegium, welches die An-
gelegenheiten der Facultät oder Schule leitet und besorgt. Jedes Mit-
glied desselben hat bei den Berathungen und Abstimmungen die gleichen
Rechte, mag es der Vertreter eines sogenannten Hauptfaches oder
einer engbegrenzten Specialität sein; denn über allgemeine Unterrichts-
Angelegenheiten kann sich Jeder von ihnen ein Urtheil bilden, und
ScMussbetrachtungm. 511
in Fragen, welche ein einzelnes Fach angehen, wird die Meinung des
Sachverständigen den gebührenden Einfluss ausüben.
Durchaus unbegründet ist die Befürchtung, dass durch die grosse
Zahl der Mitglieder des Lehrer-Collegiums „das Interesse an dem Ge-
sammtwohl der Facultät abgestumpft wird". Die Verhandlungen der
Parlamente, in denen Hunderte von Volksvertretern aus allen Theilen
des Landes zusammenwirken, zeigen, dass dies möglich ist, ohne dass
dadurch „die Einheit des Handelns aufgelöst wird". Viel näher liegt
die Gefahr, dass bei einer kleinen Mitgliederzahl des Lehrer-Collegiums
die Verhandlungen einen familiären Charakter annehmen, und persön-
liche Rücksichten mehr, als es dem Interesse der Gesammtheit ent-
spricht, ins Gewicht fallen.
Die Überlegenheit des Geistes, die Eigenschaften des Charakters und
die wissenschaftlichen Leistungen rufen zwischen den Mitgliedern eines
Collegiums Unterschiede hervor, welche eine wohlthätige Wirkung äussern.
Ebenso natürlich und berechtigt sind die Verschiedenheiten in der
Besoldung der Lehrer; die Verdienste um die Wissenschaft, die Erfolge
und die Dauer der Lehrthätigkeit kommen dabei in Betracht. Dagegen
sind die übermässigen Ungleichheiten im Einkommen der Professoren,
welche durch die Collegien-Gelder geschaffen werden, nicht zu ver-
theidigen; denn die Zahl der Hörer hängt hauptsächlich davon ab, ob
der Unterrichtsgegenstand für die Prüfung gebraucht wird, und ist
nur selten das Verdienst des Lehrers. Trägt er eine Wissenschaft vor,
welche geringe Verbreitung findet, so wird er, selbst wenn er eine
glänzende Rednergabe, eine machtvolle Persönlichkeit und einen Welt-
ruf besitzt, nur einen kleinen Kreis von Schülern um sich sammeln.
Die Studenten sind genöthigt, in erster Linie diejenigen Studien zu
treiben, von denen sie die Begründung ihrer Lebens-Existenz erwarten.
Sie deshalb eines verflachenden Materialismus anzuklagen, ist thöricht;
denn sie erfüllen damit eine Pflicht gegen sich selbst und gegen ihre
Familie. Aber nicht weniger sinnlos ist es, wenn man die Lehrer,
welche auf diese Verhältnisse keinen Einfluss besitzen, dafür belohnt
oder bestraft, indem man ihnen grössere oder geringere Collegien-
Honorare zuweist.
Diese Ungleichheiten lassen sich auch kaum durch eine etwaige
Vermehrung der Arbeitsleistung rechtfertigen, wie C. Hasse gezeigt
hat;1 denn sie verändert sich nicht wesentlich, ob 2 oder 200 Zuhörer
anwesend sind.
Die Einrichtung, die Collegien-Gelder den Lehrern zu überweisen,
1 C. Hasse: Die Mängel deutscher Universitätseinrichtungen und ihre Besse-
rung, Jena 1887, S. 28 u. ff.
512 Schlussbetrachtungen.
ist auch vom ethischen Standpunkt verwerflich. Der ideale Beruf des
Lehrers wird herabgesetzt, wenn die geschäftliche Seite desselben der-
artig in den Vordergrund tritt. „Man spiegelt sie uns zwar als die-
jenige Belohnung vor, auf die das glückliche Talent des thätigen
Mannes überall in der Gesellschaft einen unbestrittenen Anspruch hat
Allein es ist dies keine würdige, sondern eine herabwürdigende Be-
lohnung des Lehrers."1
Der Staat hat die Pflicht, diesen Zuständen ein Ende zu machen.
Er darf verlangen, dass die Schulgelder, welche die Besucher der von ihm
unterhaltenen Unterrichtsanstalten zahlen, zum Besten derselben ver-
wendet werden. Wieviel könnte zur Vermehrung der Lehrmittel, zur
Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten, zur Erhöhung der Be-
soldungen und überhaupt zur Heilung des grossen Fehlers geschehen,
an welchem, wie Walter Peery im englischen Unterhause erklärte,
die deutschen Universitäten leiden, nämlich des Mangels an Geld, wenn
die Einnahmen aus den Collegien-Geldern zu solchen Zwecken ver-
wendet würden? —
Eine weise Unterrichtspolitik wird die Lösung dieser Frage an-
bahnen, mit Schonung der erworbenen Rechte des Einzelnen durch-
führen und sich dadurch den Dank des deutschen Volkes verdienen,
welches seine Universitäten liebt und jeden Schatten, der ihr reines
Bild trübt, schmerzlich empfindet.
Keine menschliche Einrichtung ist frei von Mängeln. Im Ringen
nach Verbesserung und Vervollkommnung des Bestehenden liegen die
xiufgaben des Lebens. Auf welchem Gebiet ist dieses Streben aber
mehr berechtigt und geboten, als dort, wo es sich um die Erziehung
der Ärzte handelt, von deren Wissen und Können die Gesundheit und
das Leben der Menschen abhängt?
„Das kostbarste Kapital der Staaten und der Gesellschaft ist der
Mensch. Jedes einzelne Leben repräsentirt einen bestimmten Werth.
Diesen zu erhalten und bis an die unabänderliche Grenze möglichst
intact zu bewahren, dies ist nicht blos ein Gebot der Humanität; es
ist auch in ihrem eigensten Interesse die Aufgabe aller Gemeinwesen."
Mit diesen Worten verkündete der früh verstorbene, unglückliche Kron-
prinz Rudolf von Österreich eine Staatspolitik, die wie das Evangelium
der Zukunft klingt.
1 H. J. v. Wessenberg: Die Reform der deutschen Universitäten, 2. Aufl.,
Würzburg 1866, S. 39. — Auch P. Frank (a. a. 0. VI, Th. 1, S. 290 u. ff.) sprach
sich gegen die Collegien-Honorare aus. Die Gründe, welche der Minister Jos.
Unger in der Sitzung des österr. Abgeordn.-Hauses vom 28. Jänner 1876 dafür vor-
brachte, konnten mich von der Zweckmässigkeit dieser Einrichtung nicht überzeugen.
Register.
Abano, Pietro v., 179.237.
Abdana Saracenus 168.
Abdel-Letif 137. 147.
Abderrhaman 135.
Abella 169.
Abercrombie 395.
Abernethy 415.
Abulfarag 131. 137.
Abulkasem 138. 139. 140.
141.
Achilleus 31.
Achillini 247.
Ackermann 317.
Adalberon 167.
Adala 168.
Adalbert v. Mainz 179.
Adanson 369.
Addison 395.
Adelmus 171.
Adhad ed Daula 146.
Aegidius v. Corbeil 170.
177. 180.
Aeneas Sylvius 242.
Aeschrion 79. 84.
Aetius 128.
Afflacius 172. 177.
Agathias 133.
Agenio, 0. 206.
Agrate, M. 271.
Agricola, Georg 246.
Agricola, Kud. 213.
Ahron 133.
Aichholtz 275.
Aigel, Joh. 210.
Alberti 249. 271.
Albertini 308. 333.
Albertus Magnus 237.
Albinus 79. ,
Albinus, B. S. 337. 338.
385.
Albrecht V. von Bayern
261.
Alcuin 161. 163. 164.
Puschmann, Unterricht.
Alexander von Macedo-
nien 15. 61. 62.
Alexander (von Damas-
kus) 80.
Alexander Severus 83. 110.
111.
Alexander Trallianus 128.
Alexander III., Pabst 235.
Alexander VI., Pabst 189.
Alexippos 58.
Alfons VIII. v. Spanien
194.
Algizar 143.
Alhazen 136.
Ali Abbas 138. 151.
Ali Ben Issa 146.
Alibert 395.
Alkibiades 43.
Alkinani 132.
Alkmaeon 38.
Alkon 106.
Alphanus 167. 177.
Alpini, P. 254.
Amici 382.
Ammann 304.
Ammianus 63. 96.
Ammonios 68. 96. 98.
Amontons 293.
Ampere 380.
Anaxagoras 39.
Andral 388. 394.
Andreas von Karystus 67.
Andromachus 89. 111.
Anglicus, Cardinal 187.
Anjou, Carl v. 219.
Annesley 395.
Anseimus von Havelberg
179.
Anthimus 156.
Antoninus Pius 95. 109.
Antyllus 97. 99.
Apollon 29. 73.
Apollonius 96.
Apulejus 128.
Aquapendente, Fabrizio
ab 249.
Arago 291. 380.
Aranzio 249. 258.
Archagathos 75. 110.
Archelaos 43.
Archimatthaeus 171. 177.
Arculanus 201.
Ardern, J. 226. 229.
Aretaeus 93. 94. 128. 428.
Arfvedson 378.
Argelata, Peter v. 210.225.
Aristophanes 33. 43.
Aristoteles 39. 44. 45. 48.
49. 61. 65. 88. 133. 134.
245. 280. 381.
Arktinos 30.
Aselli, G-. 299. 337.
Asklepiades 75—77. 88.
Asklepios 29—37. 42. 44.
73.
Asoka 14.
Astruc 214. 317.
Athenaeus 78.
Attalus III. 69.
Auenbrugger 308. 392.
Augustis, Quiricus de 212.
Augustus 109.
Austrigildis 160.
d'Avellino-Caracciolo 362.
Avempace 151.
Avenzoar 138. 140. 153.
Averroes 138. 151. 152.
Avicenna 138. 140. 151.
152. 201. 279.
Bacchios von Tanagra 67.
Bachtischua 134. 145. 153.
Bacon, Roger 237.
Bacon von Verulam 284.
318. 319. 364.
Badia 300.
33
514
Register.
Baer, K. E. v. 373. 386.
Baerensprung 395.
Baglivi 302.
Baillou 260.
Baker, A. 338.
Baiard 398.
Baidinger 317.
Balthasar de Tuscia 197.
Baraillon 433.
Barbaras 80.
Barth, Jos. 338. 355.
Barthez 383.
Bartholirms 285. 299. 309.
Bartholomaeus 177.
Bartholomaeus Anglicus
237.
Basedow 395.
Basilius 124. 125.
Bateman 395.
Bathurst 300.
Batsch 372.
Baudeloque 436.
Baudot 433.
Bauhin 257. 275.
Baverius 238.
Bayle 394.
Baynard 311.
Beaumont 388.
Beauvais, Vincenz v. 237.
Beauvais de Preaux 433.
Becher 288.
Becher, J. 332.
Becquerel 388.
Beda 129.
Beer, G. J. 355. 405.
Beethoven 366.
Ibn el-Beithar 138. 154.
Abu Bekr 130.
Bell 385. 389. 390.
Bellini 296. 299. 304.
Belon 246.
Bencio, H. 237.
Benedetti, A. 230. 254.
261. 272.
Benedictus Crispus 165.
Benedikt 119. 162.
Benesch deWaitmuel 196.
Benevieni 309.
Bennet 311.
Bent 313.
Berengar von Carpi 206.
247. 271.
Bergmann 288-
Beringer 345.
Bernard 88.
Bernard, Cl. 388. 389. 394.
Bernhard, hl. 180.
Berres 385.
Bertapaglia, L. 225.
Bertharius 162. 165.
Berthollet 376.
Berti 289.
Bertin 296.
Bertuccio 206.
Berzelius 377. 378.
Bessarion 241.
Bichat 383. 386.
Bidloo 336.
Biett 395.
Billroth 505.
Birkman 329.
Bischof, J. R. 395.
Bischoff, Th. 386.
Black 375.
Blasius 401.
Blin 433.
Blondlot 388.
Blumenbach 87. 366. 372.
383. 386.
Blundell 404.
Bodenstein, Ad. v. 283.
Boeck, K. W. 395.
Boer, L. 407.
Boerhaave 306. 308. 317.
342. 355.
Boethus 80. 105.
Bohemund 167.
Bohn 304.
Bonacciuoli, L. 257.
Bonjean 440.
Bonifaz VIII., Pabst 206.
Bonet 309.
Bonn 386.
Bonnet 304. 371.
de Boot 307.
Bordeu 308. 383.
Borelli, Alf. 293. 295. 299.
302. 306.
Borgia, Lucrezia 256.
Borgognoni 224. 227.
Borsieri 345.
Böse 292.
Botallo 252.
Bottoni, A. 278.
Bouillaud 394. ,
Bourgois, L. 356.
Boyer 387.
Boyle, Rob. 285. 287. 288.
290. 311.
Braid 400.
Brambilla 339.
Branca 229. 255.
Brandis 311.
Braun, A. 369.
Breschet 385.
Bretonneau 394.
Brewster 381.
Bright 395.
Brisseau-Mirbel 369.
Brissot, P. 258.
Broussais 382.
Brown, J. 382. 383.
Brown, R. 369.
Brücke 505.
Brünninghausen 401.
Brunhilde 157.
Brunner 296.
Bruno, Gr. 318.
Bruno v. Longoburgo 224.
Brunschwyg, Hieron. 282.
Buch, L. v. 368.
Buchhorn 406.
Budd 395.
Buddha 14.
Budhadaso 15.
Bulaeus 160.
Buffon 305. 339. 371.
Burdach 366.
Burke 423.
Burzweih 121.
Buschius 242.
Caelius Aurelianus 93.
128.
Caelius Aurelius 162.
Caesar 109. 422.
Caesarius v. Heisterbach
180.
Calcar, J. 271.
Caldani 303.
Calenda, Costanza 169.
Calmeil 395.
Calvin 264.
Camerarius 286. 316.
Camper, P. 304. 337. 371.
Canamusali 141.
Canani 247. 271.
de Candolle 369.
Cantimpre, Thomas von
230.
Canton, J. 293.
Cardanus, Hieron. 246.
Carl IV., Kaiser 188. 190.
196.
Carl V, Kaiser 259.
Carl IX. von Frankreich
184. 278.
Carlisle 377.
Carminati 301.
Carret 437.
Carus, K. Gr. 366. 372. 390.
Cascellius 103.
Casper 408.
Cassebohm 298. 313.
Casserio 249. 271.
Cassiodor 119. 161.
Cassius Felix 128.
Register.
515
Cato 71. 72. 74. 75. 83.
123. 157.
Cavendish 283. 375.
Caventon 398.
Cellini, Benvenuto 271.
Celsus 68. 78. 85. 96. 98.
100. 103. 173. 229. 253.
428.
Celtes, Conr. 243.
Cesalpini 246. 269.
Cesi, Federigo 320;
Cesio, C. 336.
Chabas 16.
Chalid Ben Jazid 132.
Chamberlen 315.
Chanak 135.
Charaka 6—13. 135.
Charcot 505.
Charmis 105.
Charondas 56.
Chassaignac 401.
Chauliac, Guy v. 203. 206.
210. 224. 228. 229. 230.
231. 238.
Chaussier 383.
Cheiron 29. 31.
Cheselden 314. 315. 336.
Chevalier 382.
Chiarugi 395.
Childebert 125.
Chirac 300.
Chladni 382.
Chopart 313. 401. 436.
Christison 408.
Chiysippos 64. &L-
Chrysolaras 241.
Chrysostomus 123.
Cicero 1. 75. 240. 422.
Ciucci 314.
Civiale 314. 403.
Claudius 112. 123.
Cleland 405.
Clemens V., Pabst 183.
Clemens VI., Pabst 216.
Clemot 403.
Clocquet 400.
Cockburn 308.
Cole, W. 299.
Colombo, K. 250. 270. 274.
298.
Frere Come 314.
Commodus 81.
Comte, A. 367.
de Condillac 318.
Conolly, J. 396.
Conrad von Schiverstadt
198.
Coming 330.
Constantin 83.
Constantin Africanus 166.
177.
Copho 170. 177.
Corra 146. 153.
Corradi, A. 207.
Cortona, Pietro da 336.
Cornarus Diom. 283.
Cortesi 256.
Corvi, G. 237.
Corvisart 392. 394. 436.
Cotugno 298.
Cowper, W. 297.
Crassus 75.
Cranach, Lucas 243.
Crato von Crafftheim 283.
Cronstedt, A. v. 368.
Cruikshank 377.
Cruveilhier 395.
Cullen 382.
Cumano, M. 225.
Curio 279.
Currie 311.
Cusanus, Nicol. 246.
Cuvier 372. 373.
Cyrus 16.
Czolbe 367.
Daguerre 381.
Dalton 376. 377.
Damokrates 89.
Dante 237.
Daran 314.
Daremberg 244. 447.
Darius 16. 38. 56.
Darwin, E. 383.
Darwin, Ch. 374.
Daschkow 493.
Daubenton 339.
Daviel 315.
Davy, H. 377. 378. 400.
Deisch 358.
Deleau, L. 405.
Delpech 403. 404.
Demetrius 111.
Demetrius \ on Apamea 67.
Demetrius Pepagomenus
129.
Demokedes 38. 56.
Demokrit 40. 76. 318.
Demosthenes 100.
Demours 298.
Deroldus 167.
Desault 433.
Descartes 291. 318. 390.
Desfosses 398.
Desiderius 167.
Despars, J. 237.
Deventer, H. v. 314.
van Deyl, 382.
Deymann 338.
Dhanvantari 11.
Diaulus 106.
Dieffenbach 403. 404.
Diogenes 39.
Diokles von Karystus 66.
Dionis 314. 356.
Dionysios 43.
Dioskorides 90. 128. 161.
269.
Dodonaeus 261.
Dodart, D. 301. 304.
Döllinger 366. 372.
Döllinger, J. v. 413. 508.
Dolaeus 311.
de Dondi 237.
Donatus 160.
Dorothea Sibylla v. Brieg
357.
Douglas, J. 296.
Drakon 43.
Drebbel 289.
Drelincourt 298.
Ibn Dscholdschol 141.
du Bois-Reymond 505.
Duchenne 395.
Dürer, Albrecht 243. 271.
Dufay 292. 339.
Dumas 378. 388. 404.
Dupuytren 403.
Durand 98.
Düse 316.
Dutrochet 370. 388.
Dutthagamini 14.
Duverney 298. 304. 305.
337.
Eberle 388.
Ebers 17. 18. 21.
Echter, Jul. v. Würzburg
263.
Egeberg 403.
Ehrenberg 372. 386.
Ehrenritter 355.
Eir 157.
Elinus 168.
Eliot 432.
Elisa 25.
Elolathes 38.
Else 312.
Empedokles 39.
Ennana 16.
Enricus de Padua 168.
Epikur 88.
Epimarch 38.
Epione 30.
Epiphanius 63.
Erasistratos 64—67. 78.
Erasmus v. Rotterdam 243 .
33*
510
Register.
Erastus 279.
Ermerins 46.
Eros 103.
Errards, Ch. 336.
Eschasseriaux 433.
Esquirol 395.
Estienne, Ch. 271.
d'Estouteville , Cardinal
236.
Eudemos 67.
Eudemus (der Philosoph)
80.
Euelpistus 96.
Euenor 58.
Euklid 134. 422.
Euler, Leonh. 291.
Eunapios 70.
Euripides 43. 44. 422.
Euryphon 42.
Eustachio 248. 250. 271.
Fabiola 124. 125.
Fabricius 372.
Fabry v. Hilden 313. 356.
Fahrenheit 293.
Falcucci, Nie. 237.
Faloppio 248. 274.
Falret 395.
Fannius 103.
Fantoni 314.
Faraday 378. 380.
Fechner 367.
Ferdinand III. v. Spanien
194.
Ferdinand , der Katho-
lische 207.
Ferdinand II. von Mediei
293.
Ferrein 304.
Feuchtersleben, v. 455.
Fichte 366.
Filkin 313.
Flourens 388. 389. 400.
Floyer 311.
Fludd 289.
Fohmann 385.
Folz 238.
Fontana 309. 336.
Fontano 273.
Forat Ben Schannatha 132.
Forster 371.
Fothergill 309.
Fourcroy 376. 433. 436.
Foville 395.
Fracastorio 260.
Francke 324. 328.
Franco, P. 253. 254. 257.
Frank, Peter 336. 338.
360. 393. 408. 458.
Franklin 293.
Franz I. von Frankreich
262. 277. 280.
Fraunhofer 381. 382.
Freidank 268.
Fremd 128. 160. 317.
Frerichs 395.
Fresnel 291. 381.
Fried 358.
Friedrich L, Kaiser 185.
205.
Friedrich IL, Kaiser 174.
176. 182. 185. 200. 204.
219. 224. 256.
Friedrich, der Weise, von
Sachsen 262.
Froriep 387.
Fuchs, C. H. 395.
Graertner 369.
Galen 18. 25. 45. 65. 66.
69. 79—99. 103. 104.
105. 111. 112. 121. 122.
128. 132. 137. 161. 163.
170. 174. 201. 203. 204.
210. 247. 250. 253. 279.
329. 362. 389. 428.
Galilei 289. 293.
Gall 390. 395.
Gallici, Joh. 198.
Gallot 433.
Garbo, Dino di 188. 201.
237.
Gariopontus 168. 177.
Gassendi 290. 318.
Gasser 297.
Gaub 342.
Gauss 381.
Gautier d'Agoty 337.
Gavarret 388.
Gay-Lussac 377. 378. 380.
Gaza, Th. 241.
Geber 137.
Geiger 398.
Gellius 63. 107.
Genga 336.
Georgios von Trapezunt
241.
Gerbert d'Aurillac 163.
179.
v. Gersdorf 252. 282.
Gessner, Conr. 246.
Gevicka, Nicolaus de 197.
Gibbon 124.
Giliani, Aless. 206.
El Mansur Gilavun 148.
Gilbertus, Anglicus 237.
Girard 31.
Girtanner 382.
Gisulf 166.
Givaka Komarabhakka
14.
Gladstone 409.
Glauber 287.
Glaucon 161.
Glaukias 58. 68.
Glisson 296. 302. 303. 307.
Gmelin 378. 388.
Gölnitz 191.
Gönguhrolf 157.
Görcke 476.
Goethe 130. 345. 366. 369.
Gordon 237.
Gorgias 96.
Graaf, R. de 297.
de Gradibus 210. 237.
Graefe, C. F. 404.
Graefe, A. v. 405. 406.
Grapheus , Benvenutus
230. 237.
Gray, St. 292.
Gregoire 316.
Gregor v. Nazianz 124.
Gregor v. Tours 126.
Gregory, J. 291.
Grew 285.
Griesinger 395.
Griffon 256.
Grimaldi 291.
Grimaud 383.
Gruithuisen 403.
Grüner 317.
Guaineri, A. 237.
Guarna, Rebecca 169.
Guericke, O. v., 289. 292.
Guglielmini 285.
Guglielmus de Bononia
168.
Guglielmus de Ravegna
168.
Guidi 271.
Guillemeau, J. 257. 271.
Guillotin 433.
Guinter v. Andernach 272.
Guiscard 167.
Guislain 395.
Guizot 157.
Guntram 160.
Gustav Adolf von Schwe-
den 322.
Guttenberg 244.
Guyot 313.
Hadrian 109.
Haen, A. de 308. 342 344.
Haeser 129.
Hahn 311.
Hadji Khalfa 134. 151.
Register.
517
Hakim 136.
Hakim Bümrillah 144.
Haies, St. 299. 310. 370.
Halevy, Juda 178.
More Hall 291.
Halle 433.
Haller 166. 295. 302. 305.
310. 314. 317. 332. 337.
338. 342. 347. 382.
Harn 305.
Hamann 367.
du Hamel 288. 295. 370.
Hammer-Purgstall 143.
Härder 301.
Hare 423.
Harting 290.
Hartmann v. d. Aue 167.
180.
Hartnack 382.
Hartsoeker 305.
Harun al Raschid 134.
Harvey 298. 299. 305. 309.
415.
Hasse, C. 511.
Hauy 368.
Havers, Cl. 295. 336.
Hazon 334.
Hebra, F. 395.
Hedschadsch 132.
Hegel 366. 367.
Heinrich I. 163.
Heinrich VI., Kaiser 227.
Heinrich IV. von Frank-
reich 184.
Heinrich VIII. von Eng-
land 350.
Heister, Lor. 357.
Heliodor 97. 98. 99.
Helios 29.
Helm 388.
Helmholtz 382. 406. 505.
Helmont 287. 306.
Henke, A. 408.
Henle 386.
Henshaw 300.
Hensler 317.
Heraklides 68. 76.
Heraklit 39.
Herder 366.
Heribrand 163.
Hermann, J. 372.
Hermanus Contractus 179.
Hermann v. Treysa 198.
Hermes 103.
Hero 96.
Herodikos 54.
Herodot 29.
Herophilos 64. 65. 66. 68.
Hesiod 29.
Hesse 398.
Heurne, O. v. 341.
Heurteloup 403.
Hewson 300.
Hieronymus 124.
Highmore 295.
Hikesios 67.
St. Hilaire, G. 372.
Hildegard, hl. 165.
Hildegard, Kaiserin 160.
Himly 406.
Hippokrates 1. 29. 37. 39.
40—61. 96. 128. 133.
134. 161. 162. 163. 174.
201. 203. 222. 279. 329.
428.
Hisinger 377.
Hodgson 394.
Hoffmann F., 288. 306.
311. 324. 340. 343. 348.
354.
Holbein, Hans 243.
Homberg, W. 288.
Homer 29. 58. 71. 422.
Honein 135. 153.
Honestis, Christoph de
212.
Honorius III., Pabst 235.
Hooke, Rob. 286. 291.
292. 295. 296.
Hope 394.
Horaz 72. 422.
Horekowicz, Dudith von
258.
Horenburg, E. 357.
Hrabanus Maurus 164.
165.
HrafnSweinbiörnsson 158.
Hufeland 476.
Hugo 189.
Humboldt, Alex. v. 371.
377.
Hume, D. 318.
Hunczovsky 346.
Hundt, Magnus 210.
Hunter, J. 310. 315. 335.
371. 372. 373. 393.
Hunter, W. 297. 337. 338.
Huschke 385. 390.
Hutschinson, J. 389.
Hütten, Ulrich von 242.
259.
Huygens 285. 291. 292.
Hygieia 30. 36, 73.
Hyginus 103.
Hyrtl 274. 505.
Jackson 400.
Jacobi 395.
Jacobus Evang. 126.
Jacobus Foroliviensis 201.
Jäger, F. 406.
Janssen 290.
Jaso 30.
Jenner 397.
Jesensky 275.
Ikkos 54.
Ingenhouss 370.
Ingigerd 158.
Ingvar 158.
Innocenz III., Pabst 191.
217.
Johann 163.
Johannes Actuarius 129.
279.
Johann v. Böhmen 184.
Joh. Friedrich v. Sachsen
263.
Jon 43.
Josef II., Kaiser 336. 352.
353. 355. 361. 395. 450.
451.
Josef 166.
Josua 166.
Isa ben Ali 140.
Isidor v. Sevilla 129.
de Tlsle, R, 368.
Ismael ben Elisa 25.
Israeli 154.
Itard 405.
Julian 125. 128.
Julius III., Pabst 265.
Julius von Braunschweig
263.
Juncker, Joh. 345.
Jussieu 339. 369.
Justinian 119.
Kafur 148.
Kallisthenes 58.
Kant 362. 366. 367.
Karl der Grosse 134. 160.
161. 163.
Karlstadt 283.
Karneades 67.
Kasimir von Polen 198.
Kay, J. 350.
Kempelen 304.
Kepler 245. 246. 303.
Kergaradec, Lejumeau de
392.
Kerckring 295. 296. 305.
310.
KesraNuschirvan 120. 133.
Ketham 211.
de Keyser 338.
Kielmeyer 366. 372. 373.
Kieser 366.
518
Register.
Kirchhoff 381.
Klaproth 376.
Klein, J. Th. 286.
Kleist 293.
Klinkosch 295.
Klopstock 328.
Knox 423.
Köhler 32.
Kölliker 386.
Konr 157.
Konrad, König 177.
Konrad, Cardinal 180.181.
Kopernikus 245.
Kopp 375.
Koyter 249. 271.
Kramer, W. 405.
Kratevas 68.
Kratzenstein 304.
Krinas 106.
Ktesias 42.
Kühle wein 46.
Kunkel 288.
Kyper, A. 341. 342.
Labrosse 339.
Lacoste 433.
Lactantius 245.
Ladmiral, J. 337.
Laennec 392.
Laguna 255.
Lairesse, Gerard de 336.
Lamarek 372. 373.
Lainballe, Jobert de 407.
Lamettrie 319.
Lancisi 297. 308. 309. 310.
338. 342. 346.
Lanfranchi 224. 225. 228.
Lange, F. A. 319.
Langenbeck 404.
Laplace 290. 381.
Larrey 401. 402.
Laskaris, K. 241.
Lassus 436.
Latham 394.
Latini, Br. 237.
Latreille 372.
Lavoisier 289. 375. 376.433.
Leake 357.
Le Blon 337.
Leclerc, Dan. 317.
Leclerc, L. 149.
Le Dran 313.
Leeuwenhoek 286. 295.
296. 297. 299. 300. 305.
310.
Legallois 389.
Lehmann 388.
Leibnitz 305. 318. 319.
321. 328.
Lelli, E. 336.
Lemnius 278.
Leo XII., Pabst 482.
Leo Africanus 134. 150.
Leopold, Kaiser, 320.
Leopold V. v. Österreich
227.
Lepsius 17.
Lequin, Nie. 314.
Leroy d'Etiolles 403.
Lessing 328. 366.
Leukippos 40.
Levasseur 433.
Levret 316.
Leyer, G. 329.
Leyser, A. 280.
Libanius 117.
Libavius 287.
Lichtenstein 371.
Lieberkühn 335.
Liebig 379. 388. 400.
Lieutaud 332. 338.
Link 369.
Linne 286. 310. 368. 371.
Lionardo da Vinci 242.
246. 270. 271. 293.
Lisfranc 401.
Littre 46.
Livius Eutychus 111.
Lobstein 393.
Locke, J. 318.
Longinus 128.
Lonicerus, Adam 235.
Lorrain, Claude 317.
Lotichius 326.
Lotze 367.
Louis 312.
Louis, P. A. 395.
Lower 296.
Lucian 98.
Lucius 80.
Lucrez 76. 107.
Luder, P. 242.
Ludwig, Ch. G. 308.
Ludwig der Fromme 160.
Ludwig der Einfältige
167.
Ludwig IX. v. Frankreich
205.
Ludwig XI. v. Frankreich
268.
Ludwig XII. V.Frankreich
277.
Ludwig XIII. v. Frank-
reich 339. 340.
Ludwig XIV. v. Frank-
reich 182. 314. 321.
Ludwig XVI. v. Frank-
reich 345.
Ludwig XVIII. v. Frank-
reich 438.
Lurcz, H. 198. 236.
Luther 239. 267. 283.
Lyell 373.
Lykurg 58.
Lykus 84.
Mac Dowell 407.
Macer Floridus 165.
Machaon 30. 31.
Macrizi 145. 147. 148. 150.
Maggi 252.
Magendie 388. 390.
Magnus 111.
Magnus 378.
Mahan 134.
Mahon, P. A. O. 436.
Maimonides 138. 140. 151.
152. 178.
Malacarne 387.
Malpighi 285. 286. 295.
296. 297. 299. 300. 304.
305.
Malus 381.
AI Mamun 134. 135.
Manfred 177.
Mankah 135.
Manlius Cornutus 105.
AI Mansur 133.
Mantias 67.
Marat 433.
Marbod 165.
Marcellus Empiricus 128.
Marche, Marg. de la 356.
Marchettis 302.
Marcus Marci v. Kronland
291.
Marcus Antonius 75.
Marcus Aurelius 80.
Mareschal 348.
Marggraf 288.
Maria Theresia, Kaiserin
449.
Marianus 132.
Marileif 160.
Marinus 84.
Mariotte 289. 290. 304.
Maristania, Ibn el 147.
Marshall Hall 390.
Martial 95. 103. 106.
Martianus 205.
Martin V., Pabst 195.
Martin v. Wallsee 198.
Martinez 336.
Mascagni 385.
Masona 124.
Matthysen. 402.
Maundeville, Joh. v. 216.
Register.
519
Maurus 177.
Maximilian L, Kaiser 262.
Mayer, J. R. 389.
Mayor 392.
Mayow 302.
Mazza 168. 170.
Meckel 372. 393.
Medici, Cosimo v. 274.
Medici, Lorenzo de 190.
Medici, Maria v. 356.
Megenberg, Kimrat v. 237.
Meges 96.
Meghavana 15.
Meibom 297. 330.
Mein 398.
Meissner 398.
Melanchthon 239. 263. 283.
Melanchthon, Siegm. 279.
283.
Meletius 129.
Mende 408.
Mendelssohn 152.
Menekrates 89.
Menghini 300.
Menokritos 59.
Mercuriade 169.
Merida, Paulus v. 231.
Mersenne 290.
Mesue 134. 146.
Metrodoros 38. 59. 65.
Meyen 369.<
Meyer, E. 90. 143. 153.
160. 165. 166.
Mezler 317.
Michelangelo 242. 270.
Michelet 314.
Middeldorpf 401.
Mirevelt, Mich. 338.
Mistichelli 301.
Mithridates 68. 69.
Mitscherlich 378. 379.
Mittelhäuser 358.
Moehsen 317.
Mohammed 130. 152.
Mohammed Ben Ali Ben
Farak 151.
Mohl, H. 369. 370.
Mohs 368.
Moldenhawer 369.
Moliere 362.
Molyneux 299.
Mommsen 102.
Mondeville, Henri de 203.
224. 238.
Mondino 206. 210. 247.
Le Monnier 293.
Monro 325.
Montagna, Ben. 211.
Montaigne 362..
Monte, G. da 278.
Monteggia 407.
de Montespan 356.
Montgelas 465.
Morand 313.
Moreau 402.
Morel 312. 395.
Moreland 292.
Morgagni 310. 336. 338.
Morley, David 179.
Morveau , Guyton de
376.
Moses 22.
Mottawakl 146.
Moulin, A. 299.
Mozart 366.
Muawija 132.
Müller, O. F. 372.
Müller, Joh. 372. 386. 390.
393.
Mulder 141.
Munk 152.
Murillo 317.
Musa 109. 112.
Musandinus 177.
Muscio 88.
Musculus 267.
Musschenbroek 293.
Myrepsus, Nicolaus 129.
212.
Nachmanides 178.
Naegeli 370.
Napoleon I. 437.
Nasse, Chr. F. 395.
Nebsecht 21.
Nees v. Esenbeck 366.
Neckam, Alexander 165.
Nero 111.
Newton 290. 291. 293. 303.
Nicephorus 134.
Nichol 358.
Nicholson 377.
Nicolaus 160.
Nicolaus Praepositus 177.
212. 230.
Nicolaus IV., Pabst 182.
Nicolaus V., Pabst 242.
Niepce 381.
Nikander 68.
Niketas 129.
Nikon 79.
Ninon de TEnclos 341.
Nollet 388.
Nufer, J. 257.
Numa 72. 101.
Numesianus 80.
Nureddin 147.
Oberhäuser 382.
Oddo, M. 278.
Odhin 157.
Oersted 366. 380.
Ohm 380. 382.
Oken 366. 373.
Olympios 98.
Omar 131.
Onasilos 58.
Orfila 408.
Oribasius 128. 156.
Origines 120.
Orlandus 188.
Orosius 118.
Ortolf v. Bayerland 238.
Oseibia, Ibn Abu 134.
138. 141. 146. 148.
Osiander 358. 407.
Othman 130.
Othmar 126.
Otto v. Griechenland 493.
Ovid 281. 422.
Paaw, P. 249.
Palfyn 315.
Pallas 371.
Pallavicini 205.
Palucci 355.
Panakeia 30. 36.
Pander 373. 386.
Pandukabhayo 14.
Panum 404.
Panvilliers 433.
Papin 292.
Paracelsus 258. 259. 283.
286. 306. 307.
Pare,A. 251.252. 253. 254.
255. 257. 281. 312. 313.
Park 313.
Parrhasios 270.
Pascal 289.
Passarotti, B. 271.
Patroklos 31.
Paula 124.
Paulsen 328.
Paulus Aegineta 129. 173.
253.
Pecquet 289. 299.
Pelletier 398.
Pelops 79. 84.
Perikles 43. 242.
Perrault 304.
Perry, W. 512.
Peter der Grosse 335. 492.
Peters, H. 340.
Petit 312. 315.
Petrarca 178. 240. 281.
Petroncellus 177.
Petrus 160. 166.
520
Register.
Petrus Lemonensis 193.
Peucer, C. 283.
Peyer 296. 301.
La Peyronie 348.
Pfolspeundt, H. 227. 230.
Phaenarete 54.
Phidias 43.
Philinos 68.
Philipp (v. Akarnanien) 58.
Philipp der Schöne von
Frankreich 203. 225.
Philipp August v. Frank-
reich 170.
Philipp der Kühne 205.
Philipp Wilhelm v. Ora-
nien 313.
Philiskus 95.
Philolaos 38.
Philon 89.
Philostratos 54. 95.
Philoxenos 67. 96.
Photius 129. 134.
Piedimonte, Franc, de 237.
Pindar 29.
Pinel 383. 395. 396. 436.
Piorry 392.
Pirchpach, C. 283.
Pirkheimer, W. 243.
Pirogoff 402.
Pitcairn 300. 306. 421.
Placilla Augusta 125.
Platearius 177.
Piaton 43. 45. 46. 52. 54.
59. 60. 61. 88. 318.
Platter 211.218. 261. 267.
271. 273. 274. 275. 280.
Plencicz 310. 345.
Plinius 67. 72. 78. 82. 99.
101. 104. 106. 128.
Plössl 382.
Plutarch 72. 103. 107.
Podalirios 30. 31.
Poggendorff 289.
Pois, Jean de 236.
Polybos 43. 44.
Polykleitos 44.
Polykrates 57.
Pontus 168.
Porta, G. 246.
Portal 317. 338.
Pott 314. 315. 415.
Pourfour du Petit 298.
Poussin, Nicol. 317.
Pravaz 399.
Praxagoras 64.
Prevost 404.
Priestley 375. 378.
Pringle 311. 342.
Prochaska 390.
Profatius 181.
Proust 376.
Prudentius 118.
Psellus 129.
Puccinotti 166.
Purkinje 295. 386. 389. 406.
Purmann, M. G. 351.
Pyrrhon 67.
Pythagoras 38. 245.
{juatremere 143.
Quesnay 300.
Quintus 79. 84.
Quittenbaum 403.
Rachid Eddin Ibn Aszuri
151.
Rafael Sanzio 242. 270.
Ragenifrid 166.
Ramus, P. 278.
Ranuccius 188.
di Rapallo, B. 253.
Rasori 382.
Rathke 386.
Rau, J. J. 354.
Ray, J. 286.
Rayer 395.
Redi, F. 286. 305.
Regters, T. 338.
Reichert 386.
Reiff, W. 256.
Reil, J. C. 383. 395. 476.
Reinak 386. 395.
Rembrandt 317. 337. 338.
Remelin, Joh. 336.
Renan, E. 419.
Renaudot, Th. 343.
Reni, G. 269. 317.
Renzi, S. de 166. 168. 169.
219.
Reoval 160.
Reuchlin 243.
Reussner 307.
Rhazes 99. 138. 140. 146.
154. 201. 268.
Richardus 207.
Richelieu 343.
Richer 163. 167.
Richter, A. G. 353. 355.
Ricord 395.
Ridley, H. 297. 309.
Ristorio d'Arezzo 237.
Riva, G. 339.
Rivinus, Q. 296.
Robiquet 398.
Rochlitz, Dedo v. 227.
Rodolfus 167.
Roederer 359.
Röschlaub 382.
Röslin, E. 256.
Roger 174.
Rokitansky 367. 393. 395.
Rolando 173.
Rolfink, W. 332.
Romberg 395.
Rondelet 246. 273.
Roonhuvse, H. von 315.
357.
Rosa, Salvator 317.
Rose 378.
Rosenmüller 387.
Rossi de 271.
Rousseau 319.
Rousset 254.
Rubens 317.
Rudbeck 299.
Rudolf, Kronprinz von
Oesterreich 512.
Rudolphi 372. 47&
Rueff, J. 256.
Rufus 42. 84. 86. 93. 170.
Ruggiero 173.
Rumford 381.
Runge 398.
Ruysch, F. 295. 296. 297.
335. 337. 357.
Sabatier 434. 436.
Sabinus 263.
Sabur Ben Sahl 146.
Saladin v. Asculo 212.
Saleh ben Baleh 135.
Saliceto, Wilhelm v. 205.
224.
Salimbeni 205.
Salisbury, Joh. de 180.
191. 203.
Salles 433.
Salomon 24.
Salomonus Ebraeus 168.
Salvianus 118.
Samachschari 142.
Sanchez, R. 342.
Sanctorius 289. 301. 308.
Sandifort 338.
Sanson 403.
Santo, Mariano 253.
Santorini 297. 298. 336.
Sarto, Andrea del 271.
Satyrus 79. 84.
Savary 292.
Saviard 312.
Savigny 314.
Savonarola 237.
Scarpa 385. 406.
Schacht, L. 342.
Schaprout, Chasdai 178.
Scheele 288.
Register.
521
Scheiner 303.
Schelling 366.
Scherer 388.
Scheuchzer 369.
Schiller 366.
Schimper 369.
Schieiden 370.
Schmid, K. 165.
Schmidt, Ad. 355. 405.
Schmucker 312. 313.
Schneider, C. V. 295.
Schönlein 394.
Schopenhauer 366.
Schrevelius, E. 341.
Schröder v. d. Kolk 395.
Schultze, M. 386.
Schulze, J. H. 317. 330.
Schwann 370. 386.
Schweigger 378. 380.
Scipio Africanus 101.
Scottus, Michael 168.
Scoutetten 401.
Scribonius Largus 89.
Seckendorff 328.
le Secq, Eob. 282.
Sedillot 403.
Seebeck 380.
Seguin 398.
Seleucus 95.
Seleukos, Nikator 65.
Selligue 382.
Semmelweiss 407.
Senac 296. 309.
Senebier 370.
Seneca 71. 107.
Senfft 325.
Serapion 68.
Serenus Samonicus Qu.
128.
Sergius 80. 133.
Serres 395.
Sertürner 398.
Servet 248. 250. 258. 264.
281. 298.
Servin 282.
Seth, Simon 129.
Seutin 402.
Severus 80.
Sextius Niger 89.
Sextus Placitus Papyren-
sis 128.
Siebold 357.
Siebold C. C. 325. 354.
Siegemund, Justine 357.
Siegmund, Kaiser 234.
Sigrdrifa 157.
Sigurdr 157.
Simon v. Genua 100. 237.
Simon, Gr. 407.
Simon, O. 403.
Simpson 400. 401.
Sims, Marion 407.
Sinclair 289.
Sivert 334.
Sixtus IV., Pabst 208.
Skoda 392. 394.
Slevogt 316.
Sloane, H. 339.
Snell 291.
Snorri Sturluson 158.
Sobieski, Joh. 335.
Sobki 153.
Sömmering 339. 385. 390.
Sofia, S. di 209. 237.
Sokrates 43. 54. 61.
Solano de Luques 308.
Solingen, Com. 313.
Sonnerat 371.
Sophokles 43.
Soranus 44. 100. 101. 118.
128. 163.
Sostratus 96.
Soubeyran 400.
Soupart 401.
Spallanzani 301. 305. 310.
v. d. Spigel 249. 271.
Spinoza 152. 318.
Sprengel 32. 166.
Spurzheim 395.
Stahl 288. 307. 324. 383.
Stainpeis, M. 201. 202.
211. 214.
Stalpert v. d. Wiel 311.
Stengel 329.
Steno, N. 285. 295. 296.
297. 298. 301. 302.
Stephanus 132.
Sterne, L. 358.
Stertinius 106. 111. 112.
Steubing 327.
Stevinus 289.
Stilling, B. 385.
Stobaeus 65.
Stobbe 330.
Störck, A. 311.
Stokes 394.
Stoll, M. 334. 338. 344.
345. 392.
Strabo 110.
Straten, W. v. d. 342.
Stratokies 95.
Stratonicus 79.
Stromeyer 403.
Stryk 328.
Suidas 81.
Susruta 7—12.
Swammerdam 286. 296.
300. 305.
Swieten, G. van 342. 344.
355. 449. 450.
Swift 319.
Sydenham 307.
Sylvaticus, Matth. 211.
237.
Sylvius 248. 281.
Sylvius (de le Boe) 306.
307. 342.
Syme 401. 402.
Symmachus 95.
Symmachus, Pabst 217.
Tacitus 156.
Tagliacozzi 255. 256. 404.
Talbot 381.
Taranta 237.
Tardieu 408.
Tartaglia 246.
Tenon 433.
Tertullian 76.
Teta 21.
Tetulus Graecus 168.
Textor 402.
Thaddaeus , Florentinus
185. 237. 268.
Thaün, Philipp von 165.
Theden 312.
Themison 77.
Thenard 378.
Theodocus 132.
Theodorich 120.
Theodorich II. 160.
Theodorus Priscianus 102.
103. 128.
Theokrit 64.
Theophanes 98.
Theophanes Nonnus 129.
Theophilus Protospatha-
rius 170.
Theophrastos 90.
Theopompos 41.
Thessalos 43. 58. 84. 104.
Thibault 281.
Thilenius 315.
Thomasius 324. 328.
Thrita 28.
Thukydides 43.
Tiedemann 372. 385.
Timon 69.
Tizian 271.
Touche, G. de la 355.
Tournefort 339.
Tornamira 237.
della Torre 237. 27,0.
Torricelli 289.
Torrigiano 237.
Toth 17.
Toynbee 405.
522
Register.
Traube 392. 394. 395.
Tribimus 121.
Triller 317.
Trithemius 243.
Trost, Corn. 338.
Trotula 169. 174.
Trousseau 394.
Truchsess, 0. v. 263.
Trusianus 201.
Tiyphon 96.
Tudela, Benjamin von
170. 179.
Tulp 315. 337. 338.
Ibn Tulun 147.
Turquet de Mayerne 287.
Uarda 21.
Ulrich von Würtemberff
275. 6
Unger 370.
Valens 111.
Valentin 386.
Valentinian 111. 117. 126.
Valleix 395.
Valleriola 261.
de la Valliere 356.
Vallisneri 305.
Valsalva 298. 304. 309
338.
Valverde deHamusco271.
Varignana, B. 237.
Varolio 249. 271.
Varro Terentius 78.
Vasco de Gama 260.
Vauquelin 376.
Veiel 402.
Velasquez 317.
Velpeau 387.
Venel 314.
Vesalius 247. 248. 249.
250. 259. 271. 272. 273.
274. 275. 278. 281.
Vespasian 109.
Vetter 393.
Vicq d'Azyr 372.
Vieussens 296. 297. 298.
300. 309. 332.
Villanova, Arnald v. 179.
230. 235. 237.
Vindicianus 128.
Virchow 122. 215. 217.
393. 505.
Visconti, G. 189.
Vitalis Ordericus 167.
Vitolf 158.
Vogel, E. A. 345.
Volkmann 388.
Volta 377. 379.
Voltaire 318. 319.
Wagner, R. 386.
Waimar 166.
Walafridus Strabo 163
165.
Waidenburg 389.
Wall 292.
Wallace 374.
Wallerius 368.
Walter, J. G. 335.
Walter 211.
Walther 197.
Wandelaer, J. 337.
Warner 312.
Weber, Ed. 389.
Weber, E. H. 388.
Weber, W. 389.
Weikard 325.
Weiss 368.
Weitbrecht 295.
Welcker 87.
El Welid Ben Abd-el-
Malik 145.
Wentzel 315. 355. 405.
Wepfer, J. J. 297. 309.
311.
Werlhof 307. 324. 338
343.
Werner, A. G. 368.
Wescher 59.
Wharton 296.
Whistler 307.
White 313. 402.
Whytt 303.
| Wilhelm von Bayern 266.
Wilhelm d. Eroberer 167.
Wilhelm von Montpellier
179.
Winkler, J. H. 292.
Wilde, W. R. 405.
Willan 395.
Willis 297. 302. 303. 306.
307. 311.
Wilson, E. 395.
Winslow 296. 334.
Wintarus 160.
Wintrk-h 392.
Wirsung 296.
Wöhler 378. 379. 388.
Wolff, C. F. 306.
Wolff, Christian 319.
Wollaston 377. 381.
Wood, A. 399.
Woolhouse 315.
Worcester 292.
Worm, O. 295.
Wrisberg 298.
Wunderlich 392. 393. 505.
Würtz, F. 282.
Wüstenfeld 143. 144. 153.
Xenokrates 92.
Xenophon 58. 422.
Young 381.
Yperman, J. 226. 229.
Zerbi, G. 247.
Zeuxis 67.
Ziemssen 505.
Zinn 298.
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