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Full text of "Geschichte meines Lebens"

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OLNOHOL 40 ALISH3AINN 


‚0 19/1, € 


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05 


Alfred Meihner. 


I. Band. 


Dritte, unveränderte Auflage. 


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N 


Wien und Tejchen, 1884. 
Berlag der E. £E Hofbudhhandlung 
Karl Brochasfa. 


Alle Rechte vorbehalten. 


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KEN. BE 2 ee x 


Seel 


Erjtes Buch. 


Eeite 
I. Meine Vaterjtadt. — Tiedge und Elife von 
der Rede. — Teume’s Grab. — Rolnifche 
Entigranten. — Der „Nürnberger Gorre: 
Monde 3 1, 2 a 3 
II. Die Alliinten. — Der Operncompofiteur 
Balve. 2... : 102 
‚III, Dresden. — Mein One. — ‚Eine ar 
lefung bei Ludwig Tick. . . "15 


IV. Die Cholera in Teplig. — Unfreimill ige Abreife - 19 

V. Karlsbad und Schladenwerth. — Der Regens ’ 
Chori md feine Yyamilie MADER : 29 

VI. Ehriftnacht daheim. —- m alten Darf. — 
DasrStimunm. ION a ee 


NT Anhalt, 


Eeite 
VII. Herr Helfenteufel und die jchöne Bictoria . 42 
VIII. Das Altitädter Oymnalium. — Wrofejjor 
Dittrich. — Wanderungen durch Vrag . 46 
IX, Morig Hartmanı und Friedrich Bach. — 
Profefior Erner. — Yandera, der Furcht: 
Date =: 8. 5 ee 5 
X, Mori Hartmann im Wien. — Friedrich 
Bads.eriter Batient® „2 2 Ar en 67 
XI. Die Anatomie. -— Brofeffor ofer Hurtl . 77 
XII. Brofeffor Nedtenbacher. — Das verjchlojiene 
immer: nr a 
XIII. Boelie der Ferien. - Sr. Chopin. — 
Gelee a... . 2 94 
XIV. Sm allgemeinen Aranfenbaufe —. Dppol- 
zer. — Mrofeflorengeihihten . . . '. 105 
XV. Herz und Welt. — Zerriffenheit . . . 112 
XVI. Wien. — Venedig. — Schidjale eines 
Stoffers N ET EN 
XVII, Aufnahme neuer gläne. — Der Garten 
beim Spitale „a 2:7 7EnR ee 
XVII. Gordigtani und jeme Oper. — Mlarietta 
= Albon. — Meine Promotion. . . 22 alan 
XIX. Sn Karlsbad. —- Auszugsgedanfn . . 148 
XX,. Die Bolen von dazumal. — Nachrichten von 
Baletee et en. 9 
XXI, Leipzig. — Herloßfohn, Kuwanda und 
Andere, — Selbitvermehrung meiner Ge: 


Dichten. 220040020 a ee 


Anhalt, 


XXIII. Dresden. — Bei meinem Onkel. — B. Auer: 
bad. — N. Wagner und fen „Tann 
bäufer“ Alar: Ka REN 

XXI. Die Premiere der Rarlsfchifer, — NR. Wagner’s 
Laubefeier ee ch > 

XXIV. Die Premiere des Mriel Acofta. — Nach 
Berlin. -— Mar Stirner. —- jähe Abreife 
von Dresden. 

weites Bud). 
I. Wintertag in Brüffel. — Jakob Kaufmann. 
Der rothbe „Wolf. — General 
Sfrzynecki Ba t : 
Il. Eriter Eindrud von Baris. — Gelette ng 
BEFINDET NET ee ee 
11I. Heinrich Heine daheim und im Cercle Valois. 
— Deutiche Bublicijten N 
! IV. Heine’s Häuslichfeit. — Frau Mathilde. 
\ V. Alfred de Muffet. — Heime über Den: 
5 jelben EP ee 
4 VI. Entdedungsreifen in Baris. — „$. Michelet. — 
i Adam Michewicz - er: 
b VI. Maitage. — In Montmorency . 
4 VIII. Venedey bei feiner Arbeit. — VBeranger in 
Baliy 


vu 


Seite 


Inhalt. 


\ahıı 


IX. Literarifche Spiree. — Alerander Dumas — 
Monte Ehriito . m: 

X. Le Havre und die Auswanderer. — Befannt- 
ichaft auf der Gifenbahn . 


XI. Heidelberg. — Schweizer Freifchärler, — 


Autodafe von Manuferipten . 


 Erjtes Bud), 


+ 
# 


Meine Daterjtadt. — Tiedge und Elife von der Rede. — Seume’s Grab. 
Polnijche Emigranten. Der „Nürnberger Correjpondent”. 


X und Fabrifitadt herangeblüht it, war vor einem 
halben Jahrhundert mir eim mäßig bejuchter Curort, dejjen 
jährliches Sremdencontingent wenig über taujend Ber- 
onen betrug. Das heute mit Teplis zujammengetvachjene 
Schönau jtand damals noch ziemlich weit abjeits und 
hatte, die Badeanftalten abgerechnet, noch einen rein dörf 
fichen Charakter. Die Stadt und Dorf verbindende Mühe 
jtraße bejtand aus einer ganz lücenhaften Reihe einzelner 
zerftreuter Wohnungen, die fich an eine ganz fahle, fteinige 
Bergiwvand lehnten und den Ausblid auf Felder umd einen 
weiten Wiejengrund hatten. Dort lief ein Bach zwischen 
uralten Weiden Hin, dort weideten Kühe, und eine primi- 
tive Mühle, die jogenannte Burlvermühle, tummelte dort 


©) DB > ’ . 
Seit, das jegt zu eimer ganz bedeutenden Bade- 


ihre Räder. Diejer einfamen Mühle gegenüber hatte fich 


mein Vater nach bewegten Wanderjahren — einen Ab- 


u Ze a WE 


4 Geihichte meines Lebens, 


ichnitt jeines Lebens, den in Rom 1810 und 1811, habe 
ich in meinem Buche „Norbert Norfon“ geichildert — 
als Badearzt niedergelaffen und jich ein nur einjtöciges, 
aber nettes und twohnliches Haus gebaut. Won den beiden 
hüttenähnlichen Wohnungen in unjerer Nachbarichaft gehörte 
die eine einem VBogelhändler, die andere dem „Dresdner 
Boten”, Kuhmann. Dies Haus, das wir allein beivohn- 
ten — 08 war geichloffen und wer bei uns evjcheinen 
tollte, mußte den jtets blanfen meijingenen Glodenzug 
benugen, was für Tepliger Gewohnheiten neu war — 
bildet mit jeinem Garten »den bejcheivenen Hintergrumd 
meiner Erinnerungen aus der Stnabenzeit. Der Vater 
hatte denjelben dem Geröll der nadten Klingjteinvand 
abgetvonnen, indem er Terrafjen aufführen und frucht- 
bare Gartenerde hinaufichaffen ließ, was den Kojtenvor- 
anjchlag jeines Baues jehr jtark modificirte. Ju der Zeit, 
da ich ihn in meiner Erinnerung vorfinde, it „ver Berg“ 
ichon mrit jchattenden Bäumen bewachien. Die Heden jind 
dicht, die Gebüsche Hoch, Singvögel jind in fie eingezogen. 
Man kann von Abjag zu Abjas theils auf Treppen, theils 
auf bequem gewundenen Wegen bis zur Höhe des „‚suden= 
bergs“ — jegt Ktönigshöhe genannt — heranjteigen, 100 
mitten auf dem fahlen Plateau ein baroder Bau, eine 
Nejtauration jtand, die wegen der an ihr angebrachten 
Bierrathen aus Schladen geformt, die „Schladenburg“ 
hieß. Auf jeder Terrafje ift eine Yaube oder ein Sommter- 
häuschen, mit Stletterrofen, Epheu und Nachtichatten um 
ranft, angebracht, die Birken aber mit der jilberwveißen 


ST 


Erjtes Bud. 


Rinde, die auf eimem janfteren Abhang stehen, bilden 
bereits ein Wäldchen. Da steht ein grünangeftrichener 
Tisch, welcher an jchönen warmen Abenden zum Nacht- 
mahl gedeft wird; man hat von der Banf aus eine 
prachtvolle Ausjicht einerjeits auf die Stadt in der Ferne 
mit dem von Gärten umgebenen Clavy’schen Schlofie, vor 
dem Der Thurm der Dechantfirche zierlich emporragt, 
anderjeits auf Dorf Schönau mit dem daran grenzenden 
Turner-Barf. Die lachende, fruchtbare Ebene ziijchen 
dent Erzgebirge und dem böhmischen Mittelgebirge ijt von 
umausiprechlichem Neize. 

Die erjte Sprache, die ich erlernte, war die englüche. 
Meine Mutter, eine Schottin von der njel Bute, war 
damals des Deutjchen noch gar wenig mächtig und alles 
Gejpräh im elterlichen Haufe wurde englüch geführt. 
Schottijche Lieder find die erjten Dichtungen geivejen, die 
ich vernahm, noch in jpäten Jahren jind mir viele Frag- 
mente davon im Gedächtnifie geblieben und üben einen 
eigenthümlichen Neiz auf mich. Ebenfo war Wercy’s 
Sammlung altengliicher und jchottischer Balladen eines 
der eriten Bücher, das ich in die Hand befant. 

Meine Kindheit Hatte wenig Gejpielen. Sch war 
das einzige, das zulegt übriggebliebene Kind, nachden zwei 
Schwejterchen vor mir geitorben und hatte, da ich den 
Unterricht im Haufe genoß, nicht einmal Schulfameraden. 

Sm Sommer jahen die Eltern viel Bejuch bei jich, 
zwei Figuren bfieben bejonders im Gedächtniß des Sinaben 
haften, weil jie auf die Phantajie wirkten.. Es war dies 


2 2 ur A I 


« 
Er 


4) Sud ihn 


6 Geichichte meines Lebens, 


eine alte Gräfin Stollberg, die mit ihrem Strücenitode 
mir noch heute wie eine Figur aus Theodor Amodeus 
Hoffmann ericheint, md der Freund, meiner Eltern, ein 
uralter polnischer General Stlici, der aus der Gejchichte 
der napoleonischen Striege her einen Namen hatte. UL 
jährlich fam er mit feinem Neitpferd umd jeinem Hund 
Fi0o nach Teplit. Wenn er feinen Miorgenritt machte, 
pflegte er den Sinaben abzuholen, feste ihn vor jich auf's 
Pferd umd nahm ihn im Trab durch die nahen Wiejen, 
Dörfer und Felder mit fih. Kein Wunder, daß ich mit 
zärtlicher Liebe an dem alten Herrn hing. 

Altzährlich bejuchten uns zwei PBerjönlichfeiten, die 
ihre warme Freundichaft für meinen 1807 verjtorbenen 
Großvater auf meinen WBater übertragen hatten: Frau 
Elije von der Nede und deren Freund Tiedge. Es waren 
zwei Liebesleute, von denen eines in den Siebziger ahren, 
das andere am Nand der Sechzig Itand. Sie blicten auf 
eine Bekanntjchaft von einigen vierzig Jahren zuriicd, hatten 
mehrjährige Neifen miteinander gemacht, verharrten aber 
einander gegenüber in einem jonderbaren Ton, der aus 
Ueberjpannung und Nejerve gemijcht war. Tiedge hatte 
die Haltung eines ritterlichen Toggenburg, Elife die einer 
edlen Burgfvau einem Troubadour gegenüber beibehalten. 
Beide waren im Belige bedeutender Mittel, reijten mit 
Kammerdiener und Kammerjungfer, nahmen jedoch ihr 
Abjteigequartier regelmäßig bei uns, wo dann jtreng darauf 
gejehen werden mußte, daß Alles nach ihren Gewohnheiten 
hergerichtet werde, twas ohne Umftändlichkeiten nicht möglich 


Erited Bud. 7 


war. Bor allem Anderen durfte feine alzugroge Nach- 
barjchaft der Schlafzimmer Naum zu Mifdentungen geben. 
Es waren zwei herzensgute, vortreffliche Menichen ab- 
jonderlicher Art, die den Berfehr mit abgejchiedenen Geijtern 
für möglich hielten und herzlich erjehnten, und in einer - 
Gedanfenmwelt lebten, die fie jelber erbaut. 

Wenn ich von Teplig nah Schönau ging, mußte 
ic) an dem — nunmehr verichivundenen — Kirchhof vor- 
über, v0 das Grabmal des rufftischen Generals Mtillefimo, 
das des Fürjten Anhalt-Kleß und mehrere Kreuze bei 
Kulm gefallener Krieger zu jehen waren. Am öftejten 
hielt ich da vor einem liegenden Grabjtein betrachtend till. 
War’s, daß ich damals meinte, auf jedem Grabe müfje 
ein Kreuz jtehen und ich Hier nur einen breiten, flachen 
Stein jah, den junge Eichen bejchatteten, war’s, daß ich 
zu Haufe öfter von dem Grabjtein jprechen hörte — ich 
betrachtete denjelben immer mit einer gewviffen scheuen 
Ehrfurdht. Kamen num Elife von der Nede und ihr alter 
Gejellichafter zu uns, jo wurde ein gemeinjamer Gang 
zum Grabjtein gemacht, denn dieje zwei hatten ihn legen 
lafjen und die Eichen davor gepflanzt, weil der, der 
darunter lag, fich im Leben als treuer und charaftervoller 
Deuticher bewährt habe. Num erfuhr ich erit, daß Das 
Grab einen Dichter, Gottfried Seume, berge, der die aller- 
größte Unbill des Schieffals erfahren, indent er von jeinent 
Landesvater an die Engländer verkauft worden jet, damit 
er in Canada gegen die Vertheidiger der Freiheit fünpfe. 
Seume’s Gedichte jtanden im Schranke meines Vaters, 


3 Gejhichte meines Lebend. 


ich las fie, juchte das Weitere über den Soldatenhandel 
deutjcher Fürften im vorigen Jahrhunderte und Senme’s 
Schiejal insbefondere zu erfahren und fann wohl jagen, 
dag dadurch ganz abjonderliche Gedanfenfeime in meine - 
Seele famen. 

Das Ende des. Jahres 1830 hatte die mächtigen 
Kämpfe in Polen gebracht. Die Theilmahme aller frei- 
\innigen Zeitgenofjen begleitete diefe Ereignifje und auch 
bei uns im Haufe wurden die Kämpfe um Warjchau mit 
athemlojer Spannung verfolgt. 

Eine Wiederherjtellung Polens auf Ktojten Rußland 
erichten nicht nur als Met der Gerechtigkeit, jondern als 
Act politischer Klugheit, injofern damit ein Sturmbod 
gegen ajtatiiche Barbarei gejchaffen werden jollte. Polen 
hatte ja Jahrhunderte lang als jelbjtändiges Reich bejtan- 
den, hatte jeine Waffen nie zur Eroberung außerhalb 
feiner Landesgrenzen getragen, jondern jein Schwert zur 
Bertheidigung der Chrijtenheit gegen den Jelam gezogen. 
Man vergaß, wie die jelbjtfüchtige Willtür des polnischen 
Adels den Bauer durch unmenschliche Leibeigenjchaft ge- 
drückt. Die enthujiajtiiche Sympathie aller Liberalen be- 
gleitete die polnische Sache. Wilhelm Müller, Mofen, 
Graf PBlaten jchrieben Bolenliever. Aber Polens Unter- 
gang war nicht aufzuhalten, Warjchau fiel, und es ward 
jtille an den Ufern der Weichjel. 

Taujende von Bolen wanderten mun aus md 
zogen nac) Frankreich. Tepliß lag auf einem Uebergangs- 
paß nach Deutjchland. Flüchtlinge trafen mit Empfeh- 


Erited Bud, 9) 


lungen Befannter bei uns ein, nächtigten bei uns, wurden 
mit Geldmitteln verjehen und weiter gejchafft. Bejonders 
unfer alter Freund, General Kit, war unermüdlich, uns 
zerzaufte Männer in verjchnürten Nöcen und mit vier- 
eigen Mügen zuzujenden, denen danı der Dresdener 
Bote Kuhmann, unjfer Nachbar, den Weg über die Grenze 
wies. Die Behörden drücten, wenn die Perjünlichkeiten 
nicht Rußland gegenüber bejonders gravirt waren, ein 
Auge zu. ch gewöhnte mich daran, in diefen Männern, 
die für die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes mit dem 
Säbel in der Faujt eingejtanden, und mın arm nnd ent- 
bliögt im’s Exil hinauszogen, romantische Gejtalten, vie 
eigentlichen Helden der Zeit zu jehen. 
Um diejfe Zeit, da die Bolitif alle Gemiüther in 
Anfpruch nahm, wurde ich Augenzeuge eines Fleinen Ereig- 
niljes, das meinem Gedächtnifje fir immer eingeprägt 
bleiben jollte. Es war im erjten Frühjahr, um Die 
Mittagzeit, die Mutter jtand in der Slüche, ich neben ihr. 
Sn der Bratvöhre jchmorte ein mächtiger Kalbsbraten 
und wurde unter der Mutter Anleitung von der Köchin 
fleißig mit Fleischbrühe begojjen. Da jtürmt Jemand die 
Treppen hinauf; es it der Vater, der furz zuvor aus- 
gegangen war. Einige Minuten darauf jchießt er, jehr 
aufgeregt, den Arm mit Macırlatur beladen, in die Küche 
und jtößt in größter Halt das bedrucdte Papier in den 
Küchenherd, da die Flammen hoch auflodern. Gfeich- 
“zeitig erjcheint von der Hoffeite her ein jogenannter „Örenz- 
jäger” mit Militärfappe und Geivehr und jpringt auf 


10 Gejhhichte meines Lebens, 


den Ofen los, um die Hineingerworfenen Bapierjtöße hevvor- 
zuziehen. 

Das will ihm der Bater wehren und es gibt 
einen twoilden Auftritt. Den Orenzjäger verleitet jeine 
Aufregung zur größten Unvorfichtigfeit, ev greift mitten 
hinein in die Flammen, zieht aber beide Hände fchrecklich 
verbrannt zuric. Der wilde Angreifer mwoindet jich jegt 
vor Schmerz und jammert ganz erbärmlich. Den Vater 
hat auch der Zorn verlafen, er deert eine Flajche 
Dlivenöl auf einem Teller und beginnt dem Manne die 
verbrannten Hände zu jalben, die Mutter tjt hinaus- 
gelaufen und bringt aus dem Nähzimmer Watte herbei. 
Das alles jteht der erjchrodene Sinabe durch den Qualn, 
den die brennenden, auf den Steinfliegen vauchenden 
Bapierjtöße erzeugen.  Gnpdlich läuft der Grenzjäger 
mit den verbrannten, eingewidelten Händen jammternd 
Davon. 

Was bedeutete dies Alles? Mein Vater war ein 
Abonnent des — natürlich verbotenen — „Nürnberger 
Correipondenten“. Allwöchentlich brachte Kuhmann die 
Nummern; von diefem holte jie mein Vater, um jie auf 
einjamen Spazierwege zu lejen. Aber längjt war er 
iehon Diejer Gejegesitbertretung verdächtig. 

Der Grenzjäger lauerte ihm auf, war ihm nach- 
gelaufen, um das corpus delieti und wohl auch die da= 
heim aufgehäuften Beweije längeren verbotenen Zeitungs- 
bezuges zu fajfen. Der Water hatte noch eben das Haus 
erreicht umd die Äußere Thüre verriegelt, da war der 


| 
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Erjtes Buch, el 


Grenzjäger durch den Garten und die Hinterthüre ein- 
gedrungen. 

„ber Bater,“ fragte ich, „warum dürfen wir denn 
feine ausländiichen Zeitungen Lejen ?“ 

„Beil wir feine anderen Meinungen haben jollen, 
als die, welche Fürit Metternich gutheißt.“ 

„Und warum das?“ 

„Beil Sich unmifjende Völker beijer, mindejtens be= 
.quemer, als aufgeflärte regieren laffen,“ war die Antwort, 
die mir lange zu denken gab. 

„Slaubjt Du,“ fragte meine Mutter, „daß die Sache 
num vorüber und abgethan 1jt?“ 

„Offen gejagt, das glaube ich nicht,“ ermwiderte der 
Vater. „Die Sache hat im Gegentheil eine jehr üble 
Wendung genommen. Der Mann, der fich durch jeinen 
tollen Griff in das Feuer die Hände verbrannt hat, wird 
die Anzeige des VBorfalls machen. Er wird als ein in 
der Ausübung jeines Dienjtes Werwundeter betrachtet 
werden. Sch ahne nichts Gutes und auch für unfern 
braven Nachbar, den Boten, fann die Sade jchlimm 
ausfallen.“ 

In erniter Stimmung gingen wir zu Tiiche, und — 
ach, wie jehr hatte mein Vater mit feinen jchlimmen 
Ahnungen Recht! Es folgten Hausjuchungen, Vorladungen, 
Berhöre. Schlieglih wurde mein Vater wegen „heimz= 
lichen Bezugs ausländijcher mit dent non admittitur be= 
zeichneter Zeitungen“ in eine namhafte Strafjumme vers 
urtheilt. Ein ganzer Actenjtoß über dieje Angelegenheit 


1 Gejchichte meines Lebens 


war nach Prag, an’s „Gubernium”, gegangen und 309 
meinem Water dort namentlich beim Landeschef, Grafen 
Chotef, eine böje Note zu. Das alles hatte der arge 
„Nürnberger Correjpondent“ verjchuldet. 


A De 


Il. 


Die Alliirten. — Der Operncompojiteur Wolfranı. 


Bon der Höhe des Schloßbergs hatte eimjt, im 
Augujt 1813, Die ganze Bevölkerung von Tepliß dem 
Donner des groben Gejchüges gelaufcht umd der ewig 
denfwirdigen Schlacht zwilchen Culm und Nollendorf 
zugejehen, in welther Dfjtermann das Corps Bandanıme’s 
gefangen nahm. Cs gab noch Leute, die jede PBofition, 
jedes Manöver der alliirten Armeen und der Napoleons 
beigreiben und erklären konnten. 

Bald darauf Hatte der Tepliger Congreß jtatt- 
gefunden, Io ztvei Kaifer und ein König fich im der 
ihnen neuen Nolle des Siegers befanden ; gefrönte Häupter 
von allen Nangjtufen, zwanzig Generäle, den Fängen des 
napoleonischen Molers entgangen, hatten Ddemjelben bei 
gewohnt. Da hatten die tapfern und treuen Deutjchen 
Fürjten mit ihren frommen Miniftern das nee deutjche 
Neich aufzurichten bejchlojfen. Und Lojung ward, das 
ipieder zu erlangen, was für die Machthaber, für die 
Throne und ihre Stüßen, die bevorrechtigten Stände 


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i 
| 


Erites Buch. 13 


an Berechtigungen verloren gegangen war. Ss fan 
das Deutjchland der Karlsbader Bejchlüffe und ver 
Mainzer Eentral-Unterjuchungscommijfion. Die Batrioten- 
partei wurde vernichtet und wanderte ins Gefängniß, der 
ichauderhafteite Byzantinismus fam an die Tagesordnung. 
Abjipanmung und Ermüdung hatten die Welt überfommen 
und jchienen der Charakter der Zeit bleiben zu wollen. 

ss Folge der noch frischen Waffenbrüderjchaft waren 
die Beziehungen Preußens und Dejterreichs jehr intim. 
Biele Jahre nacheinander fan Friedrich Wilhelm III. nach 
Tepliß, wo er auch ein Militärbadehaus für preußifche, 
der Dortigen Bäder bedürftige Sirieger gegründet hatte. 
Da gab es denn Ausfahrten in jechsjpänniger Caroffe, 
Eoncerte im Fürjtlih Clary’ichen Schloßgarten, bei 
anbrechender Nacht Feueriverf. im paarnal im Sommer 
twimmelte eS von den buntejten Uniformen: Die Gedenk- 
tage von Kulm umd Arbejau wirrden von öjterreichiicher 
wie von preugiicher Seite gemeinfam mit feierlichen 
Glodengeläut und unter dem Donner von Kanonen 
begangen. Much die Friedrich Wilhelm III. it mor- 
ganatischer Ehe angetraute Gräfin Harrach, jest Fürjtin 
von Liegnis, traf jeden Sommer in Teplig zur Bades 
eur et. 

Vielen im Orte fchien die Sonne der füniglichen 
Gnade, aber Niemand empfand die Gunft des preußiichen 
Monarchen Lebhafter, als der Tepliger Bürgermeifter. 
Er bie oje Wolfram, war ein Deutjchböhme umd 
Dperncompofiteur. Schon als Kleiner Beamter, Magijtrats- 


14 Gejchichte meines Lebens, 


vath in Graupen, hatte er eifrigjt componirt. ES gelang 
ihm endlich, eine Dper „Die bezauberte Noje“, vom 
Dresdener Schriftiteller Eduard Gehe nach Schulze’3 
Gedicht zugerichtet, in Dresden zur Aufführung zu bringen. 
Nun, von Graupen nach Tepliß verjegt, brachte ihn jein 
Amt in Berührung mit dem König. Er gewamt dejjen 
Wohlwollen durch Gejchmeidigfeit md gute Manieren 
und fortan ging jedes Nahr eine Oper von Wolfram 
auf der Berliner Hofbühne in Scene. Denn Wolfram 
jvar jehr productiw. ES war für ihn das Leichtejte in 
der Welt, ziwiichen der Ausfertigung zweier magiftratlichen 
Uetenjtüde ein großes Duett oder Terzett zu PBapier zu 
bringen. Der „bezauberten NRoje” folgten „Die Nor- 
mannen in Sicilien“, „Brinz Lieschen“, der „Berg- 
mönch“, das „Schloß Candra”. Auf allerhöchiten Wink 
öffnete jich Diefen Werfen eine Bühne, die jelbjt einem 
Karl Maria von Weber jo lange verjchloffen und während 
Spontint vegierte, jo unfreumdlich gewvejen war. Der 
„Bergmönch“, das „Schloß Gandra“ wurden glänzend 
ausgejtattet und wiederholt gegeben, worauf dann dem 
Berliner Hoftheater manch andere Bühnen folgten. Er- 
jtaunt vernahmen wir, welches Genie unter uns wohne 
und fonnten diefe Erfolge faum begreifen. Endlos habe 
ich als Siuabe vom „Schloß Candra“ reden hören, bis 
e8 dor meiner Bhantafie architektonisch zur Höchjten Höhe 
emporwuchs, denn Bürgermeilter Wolfranı pflegte uns 
im Winter ganze Mete daraus am Klavier vorzutragen. 
Daß jich feine Werfe über das Niveau der Mittelmäßig- 


Erite8 Bud. 15 


feit erhoben, möchte ich jehr bezweifeln; der Mann aber 
it ein denfwiürdiges Erempel dafür, was, namentlich bei 
einem DOperneompojiteur, die Gunst zufälliger Berhältniffe, 
zumal die Gunjt eines Königs vermag. Auf dem Theater 
it Schein und Blendiverf zu Haufe. Als fein Gönner 
nicht mehr war, gab es auch feinen Wolfram mehr. 
Seine Bartituven fielen ihrem VBerhängniß anheim. Selbit 
aus den mufifaliichen Lerifons, in denen er jeiner Zeit 
einen breiten. Naum eingenommen, ijt jein Name ver- 
ichwunden. 


En DwG DB DB. BE. DEZE TETETSESTIITEET 


IM 


Dresden. — Mein Onkel. — Eine Dorlefung bei Ludwig Tied. 


Ein großer Vorzug von Teplig war in den Yugen 
meines Baters die Nähe jeiner VBaterjtadt Dresden. Dort 
lebte die einzige Schweiter, die ihm erhalten geblieben 
war; jahrelange Abiwvejenbeiten hatten an den herzlichen 
Beziehungen der beiden Gejchtifter nichts geändert. NL 
jährlich pflegte Tante Bianca uns mit ihrer Familie zu 
bejuchen; e8 war für uns Alle ein Zeit. 

Sp war denn auch die erjte FJußreije, Die ich mit 
meinem Vater unternahm, nach Dresven gerichtet. Wir 
wanderten über die Nollendorfer Höhe nad) Tetjchen, 
zogen durch das herrliche Elbethal und langten am dritten 
Tage durch den DOdewabder Grund in Dittersbah an. 


16 Gefchichte meine Lebens. 


Mein Vater war ein leidenjchaftlicher Fußgänger. Als 
junger Arzt war er in Nachahmung Seume’s zu Fuß 
von Baris quer Durch die Schweiz nach Mailand gegangen; 
er hatte dazu ziweiumddreißig Tage gebraucht. 
Dittersbach und Ejchdorf waren zwei Güter meines 
Onfels, beide am Eingang der Jächjiichen Schweiz gelegen. 
Sie hatten jchon den romantijchen Charafter derjelben. 
Sm Schlößchen war es schön umd wohnlich. In meinen 
beiden Bettern Guftav und Erwin hatte ich liebe Klame- 
vaden. u nächhter Nähe gab es herrlichen Wald und 
eine von wilden Wafjer durchraufchte Schlucht; man 
fonnte jich ftundenlang drin ergehen und die jchönften 
Näuberjpiele aufführen. in veizender Weg, einerjeits 
von Felfen und Tannen, andererjeits vom wildraujchenden 
Bache begrenzt, lief zu einer Kleinen auf dem Feljen 
jtehenden Einfiedelei, eine Brücde über dem Wildwaffer 
führte dahin. Weiterhin bot ein Schweizerhaus mit freiem 
Altane eine Ausficht auf Dresden und dejjen Umgegend. 
Sp gelangte man zur Schönhöhe, dem eigentlichen Ylus- 
fichtspunft des Gutes. Von dort fonnte man die jchtwarzen 
Balaltiänlen von Stolpe mit freiem Blid erfennen, von der 
anderen Seite boten fich die Sandfteinfegel der Jächjischen 
Schweiz dar, von der Elbe durchzogen, von Wäldern um- 
geben. Dort, auf der Schönhöhe hatte mein Onfel ein Bel- 
vedere bauen lafjen, das ev mit Fresken jchmücden ließ: die 
Darftellungen waren aus Goethes Balladenkreis gewählt. 
Kaum minder gut gefiel es mir in Dresden. Mein 
Dnfel, 3. G. von Quandt, als Kunftfenner und Kumjt- 


Erftes Bud). rl 


jchriftjteller in großem Anjehen stehend, hatte fich fein 
Haus auf der Neuftadt mit prachtvoller Ausficht auf die 
Elbufer nach Art eines italienischen Palazzo eingerichtet 
und eine Enfilade von nem Himmern im erjten Stod- 
werk ganz mit Gemälden angefüllt. CS waren theils 
Werfe alter Meister, die der erfahrene Bilderfreund in 
italienischen Klöftern und Villen aufgejtöbert, theils moderne 
Bilder, die er bei noch lebenden Malern bejtellt hatte. 
Neben jeltenen Fiejole’s, Filippo Lippi’s und Francesco 
Srancta’s jah man prachtvolle Hiitorische Landjchaften von 


-den Deutjch-Nömern Koch, Nohden, Schi, Bonaventura 


Genelli. "Alle Zimmer der Belletage waren mit grünem 
Damajt tapezirt oder mit Stuck bekleidet, aber völlig 
unbewohnt. Nur die nach Dresden fommenden Fremden 
durchzogen jie mit der Lorgnette in der Hand. Hinten, 
in einem ımermeßlichen Bibliothefzimmer, jeinem Sanctuar, 
haufte mein Onkel unter Taufenden von Büchern. Man 
fan, wenn man zu ihm wollte, an einer auf hohem 
Bofjtamente ragenden Büjte Goethe’S vorüber, fie war 
von Chritian Rauch, Original, und aus carrarischem 
Marmor, ein Meifterwerf. Site hatte hier eine jymboltische 
Bedeutung. Mein Onkel war ein Gpetheaner, wie e3 
jelten einen gab. Er bejaß alle älteren Ausgaben Goethe’- 
icher Schriften, jowie alle Bücher über denjelben. Goethe 
war ihm der Mittelpunkt einer Welt. Ein philofophijcher 
Lebenskünftler und Epikuräer, im höchiten Grade gelehrt, 
geijtreich, wißig, liebte er es auch wie Goethe jeden 
unangenehmen Eimdrud von fich fern zu Halten. Aller 


Meihner, Gefchichte meines Lelend. I. 8. 2 


13 Gesichichte meines Lebeng. 


dings hatte er bereits mit dem Unglük Befanntjchaft 


gemacht — jo hatte er, der leidenjchaftliche Baumeiter, 
bei einem Sturze von einem Gerüjte beide Beine gebrochen 
und hinfte an einem Stode — das focht aber jeinen 


philojophiichen Optimismus nicht an. Allerdings Half 
ihm der Bei von Wagen und Pferden jeine Lahmbeit 
feichter zu tragen, al® Taujend Andere. Er ahnte noch 
nicht, daß ihm die furchtbarjten Heimfuchungen des Schick 
jals für die legten Lebensjahre aufgejpart jeien. 

Bei diejfem meinem erjiten Aufenthalt in Drespen 
jollte ich auch einen der berühmten literarischen Abende 
bei Ludwig Tief erleben. Tied, der, wenn er nad 
Teplig fam, meinen Vater zu conjultiven pflegte, war 
mir jchon längit befannt, ein Eleiner, gedrungener Manı, 
dejjen wunderbar tiefbraumne, geradezu lichtiprühende Augen 
in meimer Erinnerung unvergänglich leben. 

Er wohnte auf dem Altmarkt, in einem jchivarzen 
Haufe, einem Kaufmann gehörig, eine Treppe hoch. 

Wir betraten einen Salon, der gut beleuchtet und 
mit vielen Bildern geziert war. Längs der Wände jtanden 
Ganapees und Divans. ine zahlreiche Gejellichaft, aus 
Herren und Damen bejtehend, war amvejend. Am 
Theetiiche präftdirte eine alte Dame mit einem grünen 
Augenjichirme, vornehm, in ariftofratischer Gemejjenheit: 
e3 war dies des Vichters Freundin, die Gräfin Finkenjten. 
Zwei ältere Fränleins unterjtügten fie in ihrer Ihätigfeit: 
die eine Derjelben war Dorothea Tied, die Tochter des 
Dichters. Nachdem uns eine Taffe Thee gereicht worden, 


Erjted Buch. . 19 


jegte jich Tief an ein Tijchlein, auf dem ein niederer 
Armleuchter Itand, ergriff eim dort Liegendes Buch und 


Sn egann mit einer wunderbar wohllautenden Aimme die 


Vorlefung eines Iheaterjtüces. 

Bergeblich juchte ich mich in Ddiefem zurechtzufinden, 
denn jiehe da, jchon das Perjonenverzeichnig war von 
einer verblüffenden Seltiamfeit. Da war ein Herr von 
Fuchs, der einen Hausfreund Namens Fliege hatte, dann 
ein Herr Geier, ein Herr Nabe und ein Herr von Krähfeld; 
ich wurde nicht Flug daraus, ob ich eS mit einer menjch- 
fichen Gejellichaft oder mit redenden Thieren zu thumn 
habe. Sm Grübeln darüber jchlummterte ich ein. Wie 
fange ich gejchlafen, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß 
mein Vater mich aus eimem tiefen, tiefen Schlafe auf- 
rüttelte und freundlich jagte: 

„Kommt, armer Junge, es ijt jehr ipät. Wir gehen...“ 

Biele Jahre jpäter erfuhr ich, daß das Stiid, welches 
Ludwig Tied uns vorgetragen, Ben Jonjfons Bolpone 
geivejen jet. 


mn Zw DwnGDDGDGD DT DREESESEETETEITZEES 


Die Cholera in Tepliz. — Unfreiwillige Abreije. 


Durch die Kriegsereignijfe von 1831 war die Cholera 
aus Ajten nach Europa verjchleppt worden und nahm 
von Polen aus den Gang nach Weiten. Die jchredliche 


DEs 


20 Gejchichte meines Lebens. 


Seuche trat, ganze Streden überjpringend, auf den ver- 
ichiedensten Punkten auf, von der jporadiichen Form zur 
wirklich aftatischen ich jteigernd. Die Welt wurde beim 
eriten Erjcheinen der Epidemie von emem ungeheuven 
Entjegen erfaßt. Man zog Militärcordons, man errichtete 
Darantänen. Aber das Contagium jpottete aller Ib- 
iperrungsmaßregeln. ES verbreitete fich immer weiter. 
E3 folgten die großen Epivemien von Paris, Berlun, 
London, die Taujende und aber Taufende von Opfern 
forderten. 

Koch gehörte das nördliche Böhmen zu dei ver- 
ichonten Streden, als aber in Prag und in Brünn zahl 
reiche Fälle mit tödtlichem Ausgang vorgefommen waren, 
wurde auch das Eurpublicum von Teplig jehr beunruhigt. 
Man jprach von nichts Anderem, als von dent jchreclichen 
altatischen Gajte. Feder Brief, der, dirrchräuchert und 
von Nadeln durcchitochen, die Zeichen der Quarantäne an 
ih trug, war ein Gegenftand des Grauens. 

Noch nie war die Fremdenfrequenz eine jo geringe 
gewejen umd doch jtand die Satfon auf ihrem Höhepunkte. 
Am zweiten uni hatte in der Tepliger Schloßcapelle 
die Trauung des Fürjten Wilhelm Nadziwil mit Der 
Gräfin Mathilde Clary jtattgefunden, bei diejer Gelegen- 
heit wurde ein Bolfsfeit auf einer Wieje bei Teplig 
abgehalten, bei welchem viel gejchmauft und getrunfen 
wurde. Dies Volksfeit wirkte verderblih. Bon den Land- 
leuten, die den ganzen Tag getanzt hatten, erfvanften 
viele unter Symptomen der Cholera und jtarben plößlic). 


Erjte3 Bud. 21 


Der fürjtlihen Familie blieb Dies nicht verhohlen, fie 
unterjagte einen Bürgerball, der amt nächjten Sonntag 
ftattfinden follte. Dennoch fuhr der Magiftrat fort, das 
Dajein der Krankheit zu leugnen und ergriff feine Maf- 
vegelit gegen viejelbe. Salt täglich hörte man von neuen 
Todesfällen; man juchte fie zu vertujchen, die Todten 
wurden in der allereriten Morgenfrühe, fajt noch in der 
Nacht, in aller Stille bejtattet. ES war fein Zweifel 
mehr übrig, daß die Cholera im Orte immer mehr um 
ih griff. Dieje Ihatjache war auch jenjeits der Grenze 
befannt und ficheren Nachrichten zufolge jtand es in Aus- 
fiht, daß von fächjischer Seite denmäcdhjt ein Militär: 
cordon aufgejtellt werden follte. 

Nie vergejfe ich den Nachmittag, an welchem mein 
Bater, der zu einem Sranfen in der Judengalje ab- 
gerufen worden twar, bei feiner Nickfehr jchnurjtrats auf 
jein Zimmer ging und diejes hinter fich abjichloß. ES 
war gejchehen, um die Kleider zu wechjeln und die Hände 
mit Chlorwafjer zu reinigen. Der Bater war nämlich 
bei einem Sranfen gewvejen, bei dem die Diagnoje nicht 
ichwer fiel: das umftillbare Erbrechen, der Abgang reis- 
wahjerähnlicher Flüffigfeiten, die bläuliche Hautfarbe, Die 
furchtbaren Krämpfe, durch welche die Gliedmaßen bald 
iteif geitreekt, bald wild umbergeworfen wirrden, jprachen 
deutlich genug. Mir fiel an Diefem Tage der Ernit 
meiner Eltern bei ihrem gewohnten Abendjpaziergang 
nah Turn auf. Sch horchte auf jedes Wort, das fie 
miteinander Sprachen. Mein Bater erzählte, daß er zum 


N nn 


2) Gejcjichte meines Lebens, ‘ DAB N 


Bürgermeifter gegangen jet und die Anzeige des von ihm 
eonjtatirten. Cholerafalles erjtattet habe. Er habe darauf 
gedrungen, daß der Krane gehörig tolirt werde, md 
daß für Desinfterrung der ganzen, Außerjt jchmußigen 
und verwahrlojten Gaffe, in der der Strankheitsfall wor= 
gekommen, Anjtalten getroffen würden. Zum mindejten 
müfje das Haus abgejperrt und der Zutritt in dasjelbe 
— 3 war ein Staufladen Darin — verhindert werden. 


Wolfram hatte geantwortet: „Wo denken Sie Hin. Das a 


wirde die Stadt, die ohnehin von Bejorgniß erfüllt ift, 
ganz in Alların bringen. Polizei vor’s Hans stellen, 
vielleicht gar eine jchtwarze Tafel aufhängen, das wäre 
was Schönes! Schon haben viele Fremde Teplig ver- 
lajjen und Teplig lebt von feinen Fremden. Schweigen 
Sie, es geichieht im Interefje des Curortes. Wir wollen 
noch immer hoffen, daß bei uns nur jporadiiche Fälle 
der Cholera nostras vorgefommen. Die echte afiatische 
Cholera ijt das noch lange nicht. ES wird bei verein- 
zelten Fällen bleiben.“ 

Mitten in feiner Erzählung wurde mein Water von 
einer Frau, die ihm nachgeeilt war, eingeholt. Er mußte 
wieder zu jeinem Stranfen in der Judengafje, der nicht 
zu retten war, md gegen Morgen, in Gegentvart feines 
Arztes, jtarb. 

Einige Stunden jpäter bejuchte mein Water” die 
fürftliche Familie Radziwil, deren Arzt er war. Die Nede 
fan jofort auf die. jchtwebende Tagesfrage und die Fürftun 


jagte: man spricht jchon wieder von plößlichen Todes- 2 


& ällen. Diesmal jchreibt man fie einer Vergiftung dırcch 
 Ächlecht verzinntes Sochgejchier zu. Was jagen Sie? E3 


Mein Bater eriviverte: 
„Dies Wort fann ich leider nicht geben. Sch bin 
nämlich jelbjt in die Lage gekommen, einen Cholerafall 
mit tödtlichem Ausgang zu conftatiren. .. . Gerathen Sie 
darum nicht in Umvuhe. Der Mann Iebte in einem 
g Eleinen feuchten Haufe, in einer jchmußigen ©afje, und 
umter den umgefumdeiten Verhältniffen. Noch immer fan 
man nur don einzelnen jporadiichen Füllen jprechen. Bon 
 Diefen zu einer Epidemie ift noch weit hin.“ 
iR An diejem Tage jpeilte mein Vater noch beim Fürften 
in großer Gejellichaft. Man war beim Diner heiter und 
guter Dinge. Sude hatte das von ihm geiprochene 


* 


3 von Teplig abzureiien. 

= Dies konnte bei einer Familie, die einen ganzen 
2 Ei Fit! um Sich Hatte, nicht ohne Anfjehen gejchehen. 
- Das Publicum wide allarmirt. 

Der Entjchluß, die Badecur abzubrechen, konnte 
e nach der Meinung der Leute dem Fürjten nur duch 
feinen Arzt eingegeben worden fein — aljo war mein 
Vater der Beranlajfer des Allarınıs. Alle Unzufriedenheit 
mit der Lage fehrte jich plöglich gegen ihn. Er war, 
fo jchien es, bejorgter um das Wohl jeiner Patienten, 
als um on der Stadt. Die Saijon jei jest ruinirt. 


se jt doch fein Anlaß zu ernftlichen Befürchtungen da? 
Geben Sie uns hr Wort, dab nichts zu bejorgen iftl 


Wort gewirkt. Die Familie fagte plößlich den Entichluß, 


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Gefchichte meines Rebens. ' e . 


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Eine wilde Gährung bemächtigte fich der ohnehin auf > 
geregten Gemüther und hielt, noch ohne fich zu äußern, 
mehrere Tage an. 


Wir hatten bei unferem geringen Berfehr mit den 


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E - Bürgern feine Ahnung davon. 

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7 Am Abend des 5. Juli hatten wir mehrere Berjonen 
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zum Thee bei uns gehabt und gingen evjt jpät in umjerem 


großen Dachzimmer zu Bette. Da wedte uns plöglih 
ein wildes Gejchrei von der Straße her und das Zufam- | 
: menflivven aller Fenjter des erjten Stochverfs aus dem 


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—  Schlafe. Wir hörten noch immer die Scheiben Flivren — 
amd die Steine zu Boden fallen, erhoben ums mehr todt 
——al8 Tebendig md wußten nicht, twie wir ums den Angriff 


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auf unfer Hans erklären jollten? Nun ftieg, da fich das 
Toben einigermaßen beruhigt hatte, der Bater die Treppe 
herab, um den Schaden zu bejehen. Die Mutter folgte 
ihm, ich blieb allein, Taujchte zitternd jedem Geräufche — 
und vernahm, wie die Zimmerthire aufging und der 
 Bater in das Mittelzimmer des erjten Stoctwerfs trat. 
Da durchjchlug wieder em Stein eine übriggebliebene 
Scheibe und follerte zu Boden. Man hatte das Licht 
im Zimmer gejehen und meinen Vater darin vermuthet; 
das mochte ein Steinwurf aus perjönlicher Nache jein. 
Darauf ward Alles till, wir aber brachten die Nacht 
finnend und voll teiiber Ahnungen zu. 
Am nächiten Morgen jtanden wir feiih auf, noh 
ganz betäubt vom gejtrigen Schreden und traten in die 
Bisher gemiedenen Räume. Ich, wie jah es da aus! 


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Erjted Buch. 29 


Welche Zerjtörung jtarrte mich da an! Der Fußboden, 
die Tiiche, das Klavier waren mit Steinen, Ziegelticen, 
Slasiplittern bedekt. Ein hoher Trümeaufpiegel war 
gerade in der Mitte von einem Steinvurf getroffen 
torden umd in Hundert Stüce zertrümmert. Alle Fenster 
waren eingejchlagen. Wir verloren uns in Muthmaßun- 
gen, den Grund des Gejchehenen zu erfahren und Die 
ferneren Abfichten, der uns übelwollenden Menjchen zu 
erforjchen. Um Neun ging der Vater aufs Rathhaus 
die Anzeige zu machen; Wolfram war jehr entrüftet und 
verjprach jofort eine Commifjion zu jenden, die den 
Schaden in Augenjchein zu nehmen habe. Aber Stunde 
um Stunde verging, Niemand erjchten. uztoiichen er- 
hielten wir Bejuch von zahlreichen Fremden und ver- 
nahmen exit durch Ddiefe die richtige Deutung. 

Aber noch immer wollte mein Vater nicht glauben, 
daß der Sache eine größere Bedeutung zuzumeljen jet, 
oder gar, daß die Notte von gejtern in Sold und Auf- 
trag eines größeren Theiles der Bevölferung gehandelt 
habe. Der Commandant des Meilitärbadehaujes, Major 
von Schwaiger, fam zu uns und erbot jih, Wachen vor 
unjer Haus zu stellen. Mein Bater dankte, er hielt die 
Sorge für unmnüg und Baron Schwaiger ging. Abends 
blieben ein Herr von Symanowsfy und Baron Korff 
bis gegen Zehn bei uns, Legterer jagte als er fortging, 
jcherzend, er wolle bis Mitternacht vor unjerem Haufe 
patrouilliven und irgendwelche Hallınfen, die jtch zeigen 
würden, mit jeiner Srüce vertreiben. Gegen Elf wollte 


ak >> 2 1. 


SA Geichichte meines Leben. 2 2% Bi ur 


fi) mein Vater wie gewöhnlich in die Dachitube begeben, 
da ihn aber die Mutter bat, im erjten Stodwerf zu 
bleiben, two die bejonders fejten Fenjterladen beiten Schuß 
gewährten, ließen wir Matragen herunterbringen und 
legten uns in unjern Kleidern nieder. Wir jchliefen ein. 
Da twedte uns abermals wilder Lärm, Schreien und 


PVochen an der Thüre. Nach langem Fragen hatte die 


Magd geöffnet, der Bürgermeilter Wolfram und Baron 
Schwaiger traten ein. Die Sache, jagten fie, habe größere, 


ungeahnte Dimenfionen angenommen. Es jet eine große 


Zujammenvottung von Gejindel auf der Straße. Manche 
darumter jeien mit Haden, Mijtgabeln, fogar mit alten 
Gemwehren bewaffnet. Sie drohten Fenjter und Ihüren 
einzubrechen und das Haus zu demoliren. Sie verlangten, 
dag mein Vater Teplig verlaffe. Die Schugmannjchaft 
jei unzureichend, den Pöbel auseinander zu jagen. 

Bei diejen Worten Wolfram’3 waren wir wie vom 
Schlage gerührt. ES war fajt unverjtändlich, twie eine 
Bevölkerung, die ji) uns gegenüber immer freundlich 
verhalten hatte, uns nun auf eimmal mit feindjeligen 
Abfichten gegenüber jtehe? Wir hatten Niemand gefränft, 
Kiemand gejchädigt, wir hatten die, die für uns arbeiteten, 
immer gut bezahlt. Meine Eltern pflegten dem Niedrig- 
jten freundlich zu begegnen. Welcher Geijt war plößlich 
in dieje Leute gefahren? Doch was half da Grübeln und 
Nachdenken? Das Lärmen, Toben, Pfeifen, ein Treiben, 
wie von bejoffenen eofejen, hörte nicht auf, dauerte 
ungemäßigt fort. 


Erjtes Buch. 2 


„um gut, jo will ich von Teplig fortgehen!” brach 
mein Vater jein langes Schweigen. 

Wolfram umd Baron Schwaiger entfernten fich. 
Der Leßtere findigte num dem Böbel die Abjicht meines 
Baters an und ermahnte die Leute heimzugehen. Der 
Morgen begann jchon zu grauen, die Haufen entfernten 
ih und wir fingen jofort mit Einpaden an. 

Der einzige Schuß, der uns wurde, war der, daß 
Baron Schwaiger unfere Koffer und Möbel durch Militär 
im’s Badehaus jchaffen ließ umd uns dort eine Wohnung 
einräumte, in der wir, nach zwei jchlaflos zugebrachten 
Nächten, Doch in Sicherheit jchlafen konnten. 

Kun gab’S zu paden, unausgejebt zu paden. Wir 
brachten unjere ganze Habe in Kijten umter, auch die 
Bücher meines Vaters. Als der Abend Heranfam, waren 
wir jo ziemlich mit allem fertig. Baron Schwaiger hatte 
indeß eine halbe Schtvadron Wlanen aus Therejienitadt 
fommen lajjen, welche die Nacht hindurch vor umfjerem 
Haufe Wache hielt. Eine noch größere Anzahl Jäger 
wurde theils im Hofe, theils auf dem Berge pojtirt. 

Um 9. Juni blieben meine Eltern zwei Stunden 
auf dem Nathhaufe, um ihre Ausjagen zu Protofoll zu 
bringen; man veriprach eine umfajjende Unterfuchung und 
Itrenge Bejtrafung der Ercedenten. Sodann jpeijten wir 
bei Baron Schwaiger. Um Fünf nahmen wir von unjerem 
lieben Haufe Abjchied, nachtmahlten früh bei Schtwaiger’s 
und gingen dann zu Bette, um mit dent Morgengrauen 
ipieder auf zu jein. 


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Doch, wie Hätten twir jehlafen können nach jolher 


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gedeckt, umjere Mauern umgetvorfen, unjer Hab und Gut 
zerjtrent und vernichtet. Und was war die Schuld meines 


er, um die Wahrheit gefragt, die Wahrheit geiprochen 
hatte. 


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Nach vor Vier, bei faım granendem Morgen, jtiegen 
wir in den Wagen; ein Nath Nechodom gab uns bis 
Brüy das Geleit, zwei Ulanen, die um3 zur Bededung 
mitgegeben worden waren, folgten dem Wagen in einiger 
Entfernung. Lange blieben unjere Blife unjerem Haufe, 
unferem Garten zugefehrt, bis Alles in der dunftigen 
Ferne verjchivand. Unweit Brüx verließen uns die beiden 
Ulanen, in Saaz wurden wir von mehreren Freunden 
begrüßt. 

Am anderen Tag, Mittwoch, den elften, langten wir 
in Karlsbad an. Nach längerem Suchen fanden wir eine 
nette, paffende Wohnung im „Englifchen Haufe“, welche 
 mebjt dem Vorzug eimer geringen Entfernung von den 
Dtellen auch den einer jchönen freien Ausficht — etwas Pr 


 — jehr Seltenes in Karlsbad — hatte. Sie war auf der 
| Höhe des „Schloßbergs” gelegen. 
Er Bir haben diejelbe alle Sommer bis zum Herbite 


1861 inne gehabt, io wir Slarlsbad für immer verließen. 
Unmittelbar nach der Katajtvophe, die uns betroffen, 
trat die Epidemie in Tepliß jo jtark hevopr, daß ihr“ 
- Borhandenjein nicht mehr geleugnet werden konnte. Ganz 


Erjte8 Buch. 29 


Böhmen wurde un Ddiefem Jahre von der Cholera über- 
zogen. Nach einer Anfangs 1833 erichienenen amtlichen 
Burblication gejtalteten ic) die VBerhältniffe folgender- 
maßen: Auf eime Bevölkerung von 3.875.657 Seelen 
erkrankten im Ganzen 63.112 Supdividuen. 40.098 
genajen, dDreimdziwanzig Taujend umd vierzehn jtarben, 
eine enorme Zahl! 

Bon allen jechzehn Streifen Böhmens blieb num 
der Elbogner mit Karlsbad völlig verichont. Karlsbad 
hat diefe Smmunität auch im allen jpäteren Cholera- 
epidemien aufrecht erhalten. 


LS 


V. 


Karlsbad und Schladenwerth. — Der Regens Chori und feine Samilie. 


Suzwiichen hatte ich das Alter erreicht, in dem der 
Suabe gewöhnlich in die Lateinjchule eintritt. Die Eltern 
wählten von den Gymmafien das nächjtgelegene, kaum 
zwei Wegitunden von Karlsbad entfernte Schladenwerth. 

E53 war dies ein elendes trauriges Städtchen, das 
ji) von einer Feuersbrunit, die es vor Jahren heim 
gejucht, noch nicht Hatte erholen fünnen. Damit der Ort 
doch von eimer Seite her einen Kleinen Verdienit habe, 
hatte die Negierung dort ein Gymmaltım, aus vier Clafjen 
bejtehend, unter der Leitung von Biariftenordensprieftern 


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weiter vegetiven lafjen. Doch mit jedem Jahre Ichmoßz 


Geichichte man Rebens. er. ns 


die Anzahl der Schüler, wuchs die Verarmung der Bürger 


jchaft. Dede Gafen, ein Marktplab von grauen, alten, 


baufälligen Häufern eingefaßt, wo die Höckerin mit ihrent 


Opitkorb die längite Zeit hindurch das einzige anwejende 
lebende Wejen war, eine niedrige Kirche mit daranjtogen- 
dem Schulgebäude und draußen vor der Stadt, N 
eines Fleinen Flüßchens, ein großes Stlojtergebäude im 
nüchternften aller Style — jo war Schladenwertd im 
Sahre 1832. 


Es war im October, als mich der Vater an diefen 
Ort meiner Bejtimmumg brachte und durch die öden Gasen 


dem Stlojter zuführte, in welchem ich fürderhin meinen 


Unterricht erhalten jollte. Eine eigenthümliche Schen 


ergriff mich, als ich die falten hallenden Gänge durch- 
wanderte, die zu der Helle des Nectors und des Elajjen- 
Lehrers en mich ihnen vorzujtellen. in farbiojes 
Licht fiel durch Halberblindete Fenjter, fein Wejen var 
in den Corridors fichtbar, biS wir auf die ärmlichen 


Geftalten zweier Schüler ftichen, die, eine blaue Schürze 


vorgebunden, in einer tiefen Fenfterniiche die hohen 
Kanonenftiefel der Herren Profefjoren twichjten. 

sch Hatte in meinen Büchern viel von Klojterzellen 
gelejen und hatte mir hohe nacdte Wände, einen Kajten 
mit Büchern in Schweinsledereinband, dabei ein Kruzifix 
umd den traditionellen Schädel gedacht — he fand jedoch 


| nie Ab; re Pater Nikolaus, mein finftiger 


 zehrer, ein höherer Fünfziger im jchtwarzen al erhob 


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Erfteg Buch. al 


fi) vom Sopha und empfing uns freundlich. CS war 
ein ernfter, trauriger Mann. Das gelbbraume Geficht, 
das jpärliche graue Haar, das unter dem schwarzen Käpp- 
chen hervorjah, die müden grauen Augen, der zujanmen- 
gezogene Mund erzählten von einer leidenvollen Bergan- 
genheit. Er veriprach, mich unter feine befondere Obhut 
‚zu nehmen; ich follte mit jeinem Neffen, der auch eben 
ins Gymnafium trat, Wohnung und Kojt theilen beim 
Cantor und Schullehrer Herrn Hefjentenfel. 

Herr Hefjenteufel, Negens Chori an der Stadtfirche 
und Lehrer an der „ZIrivialfchule“, war troß jeines 
deutjchen Namens czechischer Abkunft, ein Eleiner, unter 
jeßter, jchtwarzhaariger, vlivengrimer, galliger Mann in 
den Vierzigern, der dem Yähzorn in bedauerlicher Weife 
unterworfen war umd in Momenten des Affects Alle, die 
er jchlagen durfte, Weib, Kinder, Schulkinder mit dem 
eriten beiten nftrumente, das ihm in die Hand fa, 
 jei es num Lineal, Bakel, Ehlöffel oder Fidelbogen über 
den Kopf zur hauen pflegte. Seine Gattin, eine Frau 
im den Preißigern, jtammte aus dem Muftfantendorf 
Gottesgab. Sie war vor Jahren umhbergezogen, die 
Herzen der Menjchen durch Gejang und Saitenjpiel zu 
erfreuen md hatte in den Stirmen des Lebens ein Arge 
eingebüßt. Seitdem jie Frau Helienteufel war, hatte jte 
feine Lieder mehr, die Harfe war bei Seite geftellt. 
Niemand hätte ihr mehr eine mufifalische Seele zugetraut. 
In ihrer Che bewährte fie eine jeltene Fruchtbarkeit. 
Noch Hatte der Säugling faum mit dem mütterlichen 


TEILEN 


an [ 


32 Gejchichte meines Lebens. 


Bujen recht Belanntichaft gejchloffen, als der Schoß jchon 
tpieder an die bildende Arbeit ging. So war e3 von 
Fahr zu Jahr. Dieje leivenjchaftliche Wroductivität ent- 
jeßte den Gatten und war wohl der hauptiächlichite Grund 
feiner wilden choleriichen Ausbrüche. Seine Bejoldung 
mit allen Ntebeneinfünften betrug zwilchen dreis und vier- 
hundert Gulden. Damit war jchwer zu leben. Herren 
Hejjenteufel’S Neizbarkeit jteigerte fih im mathematischen 
Berhältnifie zum Zuwachs jeiner Jamılie. 

Wohnung und Haushalt, alles trug den Stempel 
größter Dürftigfeit. Unjer Mittagsmahl war elend über 
jeden Begriff und wechjelte Tag für Tag zwischen Klößen 
und Kartoffeln, jelten fam ein Stücd gefochtes Nindfleijch 
auf den Tijch. Nicht beifer war es um unjere Schlaf 
jtätte beitellt. Eine Kammer, in die tagüber fein Sormen- 
ftrahl drang umd von deren Wänden die Näfje trof, war 
alles, was mir Herr Heljenteufel nach diefer Richtung 
anbieten fonnte. Da wurde mein Bett neben dem jeini- 
gen und dem des Profefjorsneffen aufgeitellt. 

Sch hatte mich Hejjenteufels beiden ältejten Stinaben 
angejchlofien, ihre Thätigkeit interefjirte mich. Met ihnen 
stieg ich auf den Kirchthiem, die Gloden zu läuten, mit 
ihnen trat ich die Balken, wenn die Orgel unter den 
Händen ihres Waters erbraufte. 

Der ältejte, etwa jieben Jahre alt, miniftrirte täglich 
in der Kicche und verdiente damit einige Kreuzer, Die 
den Einkünften der Schulfehrerfamilie jehr zu Statten 
famen. Auch der ztweitältejte hatte Schon minijtrirt, hatte 


Erites Bud). 33 


jedoch feine Leijtungen eimftellen miüfjen. Die Stirche 
fordert nämlich mit Recht vom Miniftrantenfnaben nebit 
mehreren moralischen Eigenjchaften auch ein Baar ganze 
Stiefeln, damit die beim Sinieen auf den Altarjtufen der 
Gemeinde zugefehrten Schuhjonlen fein Uergerniß erregen. 
Diejes Aergernig hatte ftattgefunden umd war vorerit 
wicht zu bejeitigen gewwejen. So war der junge Mann 
einjtiweilen bei Seite gejchoben worden. 

Die Ihätigfeit des Erjtgeborenen am Altare impo- 
nirte mir nicht wenig, ich jah ihn gern im jeiner FJunc- 
tion. &3 fam die Adventzeit, die Zeit der „Norate“, 
der Frühmefje, nach Rorate ceoeli, einem Bersanfang 
aus Yeremias, jo benannt. "Da hieß es zeitig aufitehen 
umd durch den hohen Novemberjchnee in die Stadtkirche 
eilen. Der jchmale, halbdunfle Raum, die jpärlichen 
Lichter, die ärmlichen Bejucher, das zujammen machte 
einen eigenthümlichen Eindrud. Oben modulirte Vater 
Hefjenteufel auf der Orgel. Wie falt e3 war! Mich 
fror in meinen Faujthandichuhen, die jchlecht befleideten 
Schullehrerfnaben flapperten vor Kälte. Allerdings hatten 
fie e8 zu einer Fleinen Abhilfe gebracht. m irgend eimer 
Numpelfammer hatten jie ein großes jteinernes Ei gefun- 
den, das wurde vor dem Gange in die Slirche heiß ge- 
macht und mitgenommen. HZuerjt wurde es in den Kelch 
gelegt, damit diejer fich etivas erwärme, danır heraus- 
genommen und der ältejte behielt es bei jich. Der Jün- 
gere, der immer ärger fror, rüdte immer mehr und mehr 
heran, gab wohl auch im Schuße des herrichenden Dun- 


Meikner, Gedichte meines Lebens. I: B. B 


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3 >. 
34 Gefcjichte meines Leben. da: E: 

fels dem Andern einen Buff umd raunte: „Das Ei gib 
her!” — „Du fannjt jchon warten!“ brummte der 


Andere. Der Briefter am Altar wendete fih um und 
fagte: „pax vobiscum!* dam sotto voce: „Berflizte 
Buben, was habt ihr wieder da untereinander?! — 
„Et eum spiritu tuo!* erwiderte der Neinijtrant. „Der E 
Tenzel will mir das Gi nicht geben!“ rief der Mihwer- 
gnügte herüber, inden er fich grollend entfernte. z 


Du ww DwG ZOG ZGTEREZ ee 


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Ehriftnacht daheim. — Im alten Parf. — Das Signum. 


Zu Weihnachten durfte ich meine Eftern endlich — 
wieder bejuchen. ch machte mich mit einem Kameraden 
zu Zug auf. Da ich erjt gegen Vier aufbrechen konnte, 3 
der Weg fajt drei Stumden umd die Jahreszeit jo vor= 
gerückt war, Fam ich evjt bei völliger Dunkelheit an der 3 
Egerbrüde an. Es gab einen ftarfen Froft, der Wind 
blies jchneidend falt, dichter Nebel, Durch Die Dämpfe 

Sprudels vermehrt, bededte das Thal. Sch ging 
am Steinbergjaal vorbei und jah endlich das Haus, in 
dem die Eltern wohnten, mit beleuchteten Fenjtern, gleich — 
einem Leuchttfpurm in einem Meere von Dünften auf 
der Höhe des Berges. Wie jchlug mir das Herz! Ih 
jtieg den Fußweg beim Spitale Hinan und jah bald 
darauf meine gute Mutter twieder. Ach, ihr Ausjehen 


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Erites Buch. 35 


war beängjtigend. uch mein Vater war jehr ernft, wie 
in einem Zuftand difterer Erjtarrung. Beide Eltern 
hatten, mehr als jie anfänglich glaubten, an Teplig ge- 
bangen, an ihrem Haufe, am Garten, den jte jelbjt ge= 
Ichaffen. Das alles war aufgegeben. Das Haus joilte 
eben verkauft werden — natürlich tief unter jeinem 
Werthe. Eine bedeutende ärztliche Praxis war aufgege- 
ben jporden und es ivar zweifelhaft, ob es meinen Vater 
gelingen werde, in Karlsbad eine annähernd ähnliche zu 
erringen. Die Eltern blieten in eine ungewilje Zukunft. 
Traurig und jchiveigiam jeßten wir ums zu Tische, am 
Abend, den wir jonjt immer gejellig in emen Cirkel 
von Freunden verlebt hatten. 

Dennoch jollte auch diesmal die Bejcheerung nicht 
ausbleiben. Man führte mich zu einem ferzenbeleuchteten 
Tiiche, auf dem ein großes Buch, prachtvoll in Leder 
gebunden, lag. ES waren Schillers Werfe in einem 
Bande, die Eotta’sche Ausgabe von 1830 mit dem jchönen 
Titel-Stahlitih, Schiller nah Dannefers Marmorbild. 
Lange jah ich den Kopf an mit den langen, auf ven 
Vaden herabmwallenden Loden, danır las ich die Verje, Die 
mir der Bater aufs erite Blatt gejchrieben: Sie lauteten: 

Sn dem Haus, wo Du geboren, 
Deiner Eltern Troft und Glüd, 
stehrt’ für immer nun verloren, 
Weihnachtsfeier nie zurüd. 
Nichts ift mehr, wie eS gewejen, 
Nichts, wie Du gewohnt es bift, 
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36 Gejhichte meines Lebens. en. 


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Und Gejchenfe, auserleien, 
Bringt nicht mehr der heil’ge Ehrift. 


Nur ein Buch ift’s, was dem Kinde 
Yiebevoll der Vater reicht; 
Nimmt es hin zum Angebinde, 
Jıinm, was heute nur vielleicht 
Dich um jeiner äußern Hülle 
Reizt, die nur dem Aug gefällt, 
Yabe jpät Dich an der Fülle 
Lebens, die dies Buch enihält! 

24. December 1832. 


Mit thränenfeuchten Augen nahm ich das Buch in E 
Befig. Der Winter ging um. Der widrige Eimdrud, den 
Schladenwertd und die Schullehrerwohnung anfänglich 
auf mich gemacht, milderte jich, alS der Beginn der # 
ichönen Jahreszeit uns ing Freie umd befonders in den - 
großen Schloßgarten lockte. Schladenwerth, das elende 
herabgefonmene Städtchen, war nicht immer jo traurig 
gewejen, als es heute erjchien. Es bejak ein Schloß, 
das chedem eim Lieblingsaufenthalt der Herzoge von 
Sachjen-Lauenburg war, und einen weitläufigen Park, 
der von einem Poeten mit Namen Schmußer in latei 
niichen Dijtichen als das „achte Wunder“ der Welt ge 
priejen worden war. Seitdem nun eim Brand das alte 
Schloß zerjtört hatte umd ein neuer nüchterner Bau an 
jeine Stelle getreten, war der Garten der Verwilderung 
anheimgefallen, bot aber noch immer den Knaben an 


Erft3 Bud. 3 


Spiele. Ein großer Nocoeotempel im Schatten uralter 
Bäume, dabei eine Gartenanlage, das „Labyrinth“ ge 
nannt, mit fumftvoll gevundenen Hecken erjchienen mir 
merfvirdig und einzig in ihrer Art. Auch ein „Schneden- 
berg“ war da, dejjen Heden in Schraubenlinien jo Eunjtvoll 
übereinander enworjtiegen, daß Jemand, der aufwärts jtieg, 
den gleichzeitig abwärts Steigenden nicht gevahr wurde. 
Eine Zeit lang trieben wir auf den Wiejenplägen mit 
Leidenschaft die Jagd auf Maulwürfe. Die Stellen, vo 
fie eben arbeiten, erfennt man an den friichen Erdauf- 
würfen, die aber in der Sonne nicht lange frisch bleiben. 
Die Maulwürfe arbeiten aber auch nur — was freilich 
die Herren Naturforjcher nicht willen werden — in den 
ungeraden Stunden, um 9, 11, 1 umd 3 Uhr. Um Ein 
Uhr find fie am jicheriten zu treffen, da gilt’s vajch unter 
die Erdhaufen einjtechen und den jchwarzen Gejellen ab- 
fangen, der schließlich feines Belzleins entfleidet wird. 
Leider dauerten dieje Fagdfreuden nicht lange. Als einige 
Blumenbeete zertreten und ein paar Nejte von den Bäu- 
men abgebrochen wurden, ward den Schülern der Eintritt 
in den Schloßgarten unterjagt. 

Sn feinen vuhigeren Momenten, den furzen Wind- 
jtillen, welche zwischen den Stürmen feines Gemüths 
zuweilen einfielen, las Herr Heflenteufel gern in einem 
der drei Bücher, aus welchem die Bibliothek bejtand: 
einem  vereinzelten Bande der „Meiliade”, Wielands 
„euem Amadis“ und Schillers „Jungfrau von Orleans“. 
_ Dieje drei Bücher lernte ich auch bei ihm fennen umd 


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Geihichte meines Lebens, 


(as jie wiederholt. mdeß war es ung jtreng unterfagt, 
andere Bücher als umjve Schuleompendien zu lejen, alle 
übrigen wurden — und nicht nur in der Schule — con= 
fiseirt. Von Zeit zu Zeit pflegte der Herr PBräfeet zu 
ungewohnter Stunde in den Wohnungen einzufallen, um 
nach ımerlaubter Leetüre zu Forichen. Solche Gänge 


athmete aber, da man fat immer etwas gejchwärzte 
Waare im Haufe hatte, exit dann auf, wenn man ver 
fichert war, daß der Herr Präfeet den Heimweg ange 

treten. Bei jolch einer Bifitation, die in unjrem Haufe 
in Heren Hefjenteufels Abwejenheit jtattfand, wurde nebjt 
einem Bande Hermann und Dorothea, der mir gehörte, E 
auch der „Neue Amadis“ mitgenommen. Nur der Band 
der Mefjinde und die Jungfrau von Orleans blieben — 
zurüc, nach diefen war der Herr Bräfeet nicht Lüftern 
gewvejen. Exit nach umftändlichen Reclamationen erhielt 


zurid. 

Bon Zeit zu Zeit hing Herr Hefjentenfel mit uns 
philojophiichen Gedanken über das nad, „was den 
Menjchen zieret”. „Sehen Sie”, jagte er, und ent 
wicelte damit einen jeiner Lieblingsgedanfen, „es gibt — 


Erjte3 Bud. 39 


Ruf gediegener Bildung zu gelangen. Man muß Jich 
der Umpchreibung bedienen. Der gewöhnliche Mtenjch 
jagt 3. B.: Ih war in Karlsbad. Nun, jagen Sie 
jelbit — das jieht nach gar nichts aus! Drückt fich aber 
einer jo aus: ich habe- das benachbarte Weltbad bejucht 
— D, das wect gleich ein günmftiges Borurtheil, man 
wird als gebildeter Mann erfannt. Sage ich: ich bin 
auf dem Heimiveg von dort mit der Meinigen eingefehrt, 
jo ijt das gar nichts, jage ich aber: ich habe auf meinem 
Heintvege von dem benachbarten Weltbade eine Zeit lang 
mit meinem theuren Chegejponjt an Fühler Bierquelle 
gerajtet — da verjichere ich Sie, daß die Leute den Kopf 
nach Einem ummenden und, wenn man fortgegangen, 
fragen, wer man ijt! Solche Umfchreibungen, jehen Sie, 
gleichen ungemein leicht zu löjenden NRäthjeln. Daß jich 
ein seder ein Flein wenig anftrengen muß, fie zu Löfen, 
das ruft Neipect hervor. Mterfen Sie drum, meine 
jungen Freunde, wie ich die Umschreibung anwende — 
es wird Shen zu Statten kommen.“ 

Auch jeine Gedanfen über deutiche Sprache ent- 
widelte ev vor jeinen jugendlichen Zuhörern. „sch bin 
weit herumgefommen,“ jagte er, „habe Deutiche aus aller 
Herren Länder reden gehört, habe aber die Ueberzeugung 
gewonnen, daß nur der Böhme gut und richtig deutjch 
Ipricht. Mein Gott, was befümmt man in Sachen und 
in Schlejten für ein Deutjch zu hören! Es zerreißt Unfer- 
einem die Ohren! Aber einen Fehler hat auch dev Böhme 
mit allen Dejterreichern, Sachjen und Schlejiern gemein: 


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genug, um im der Hofentafche eines „Knaben Plat zu 
- finden. Es wurde vom Brofefjor zuvörderjt einem Knaben 


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40 Gefchichte meined Leben. 0494. Ban, 


Nach diefer Nichtung Hin habe ich mich ftreng überwacht 
und ich jchmeichle mir, Ddiefe Doppellaute, welche der B 
deutjchen "Sprache ihren eigentlichen Wohllaut verleihen, 
wie jelten Jemand auszujprechen.“ 

Wenn er drauf zu sprechen fam, »pflegte Herr 
Hefjenteufel die breiten twoulitigen Lippen jo zuzujpißen, 
als ob er fie an ein unfichtbares Fagott jeßte. Es war Re 
auch Leicht zu bemerfen, daß er mit Vorliebe ungewöhn- 
liche Conjunctive in Anwendung brachte, um jein jchönes Bi 
Ö oder üt brilfiven zu laffen. „Wenn Du es in Erwägung 
zögejt — wenn man mir eine Sirone böte — wenn ic) 
dies je erführe — daß doch der Bäder bald befieres 
Brod büfe — wenn Du mir eine Wurjt brätejt“ — in 
folchen umd ähnlichen Säben feierte Herr  Heljenteufel 
wahre Triumphe. . 

Eine eigenthümfiche Jnjtitution diefes Gymmaliums, 
die Schon in der zweiten Clafje ins Leben trat, war das 
jogenannte Signum. Die erlangte Kenntnig des Latei- 
nischen jollte nämlich dazu verwendet werden, daß wir 
Schüler auch untereinander und außer der Clafje lateinisch 

 jprächen und dasjelbe jo zur Geläufigfeit ausbildeten. — 
Um diefe Monftruojität lateinischer Unterhaltung aufrecht 
zu erhalten, dazu war das Signum da. 

Das Signum war ein winziges Büchlein, eben groß 


übergeben, der fich feines bejonderen Vertrauens erfreute, 


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amd diefer mußte mun wandern md mit dem Büchlen 
ausziehen, bis er einen das Sprachverbot Übertretenden 

Fand. Beim erjten Ddeutjchen Wort, das in der Nede 

 vorfam, wurde dem libertreter das Signum zugeworfen. 

 Diejer mußte es bei jchiverer Strafe annehmen, Namen 

md Tag des Empfanges darin notiven und zujehen, tie 
Br er e8 wieder (08 wurde. Für jeden Tag, an dem man 
das Signum behielt, wırde man mit einer. jchriftlichen 
Ausarbeitung gejtraft, die jeder öftere Empfang des gefähr- 
 — Lichen Büchleins empfindlich jteigerte. Es gab Jungen, 
die fich des Signums bald wieder zu entledigen wußten, 
amd gab andere, die es wochenlang bei fi) trugen. Daß 
Die wohlgemeinte Eimrichtung demoralijivend wirkte, liegt 

auf der Hand. Der mit dem Signum Behaftete mußte 

_ auf die Lauer gehen, hinter Heden laufchen, an Fenftern 
amd Thüren horchen. Mancher faljche Eid, da man 
AR das Signum nicht bei fich trage, wurde gejchtvoren: im 
Moment darauf flog das ichnöde Buch aus der Tajche. 
- & wurde fein Mittel gejchent, 8 an Mann zu 
Bringen. 

- Das Signum hatte übrigens den Nuten, daß wir 
Knaben geläufig, wenn auch jchlecht genug, Latein reden 
lernten, und dies Latein war faft der einzige Geroinn 
Diejer drei Jahre. Dem Griechifchen wurden wöchentlich - 
IR nur ein paar Stunden gewidmet und feiner fan über 
die erjte Comjugation hinaus. Auch der Unterricht in 
Mathematik, Geographie, Gejchichte war äugerjt dürftig. 
Das Griechische habe ich jpäter unter der Anleitung 


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 Bod ein ‚Jäger mit wallendem. Federbufch neben dem — 


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 Gefchichte meines Leben. [535 


meines Vaters nachgeholt, der ein perfecter Grieche a 
in der Mathematik aber bin ich zeitlebens nicht vorwärts 
Eruimmten, ja ein Jgnorant geblieben. 


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VL. 


Herr Heffenteufel und die jchöne Pictoria. 


Der Sommer fam und eine abermalige Rückkehr 
Frau Hefjenteufels zu intereffanten Umjtänden hatte die By 
Aufnahme einer Magd nöthig gemacht. Diefe war ein 
ungemein jchönes Mädchen von höchjtens neunzehn Jahren 


mit Schwarzen Haaren und dunklen Augen, gewwachjen wie 


eine Königin. Sie war eine Weile, hie; Victoria und 
hatte ein jehr gutes Herz. Cinmal, als ich mit ihr nah 
Joachimsthal wanderte, wo wir eine befreundete Müllerin 
heimjuchen wotlten und die Stiefel mich drücdten, 309 die 
ihöne Victoria ihre Schuhe aus, lieh fie mir und ging 
barfuß nebenher. Jeden Nachmittag pflegte fie mit den 
fleinen Schullehrerfindern in den Schloßgarten zu gehen, 
wo es etwas zu jehen gab, wenn Curgäjte aus Karlsbad 
angefahren kamen. 

Eines Nachmittags kam die jchöne Victoria aufgeregt 
mit hoch gerötheten Wangen heim. Sie rief Heren und 
Frau Heijenteufel herbei und begann in abgerifjenen 4 
Süßen zu erzählen. Ein prachtvoller Wagen, auf dejjen 


Ir a he 


Erite3 Bud. 45 


Kutjcher jaß, war vorangefahren, eine Reihe von Caui- 
pagen hinterdrein. Ein hochgewachjener Herr, vor twelchem 
die Diener mit abgezogenen Hüten stehen blieben, jchien 
der Mittelpunkt der Gejellichaft zu jein. Bein mittleren 
Pavillon war eine Tafel prächtig zum Nachmittagfaffee 
gedeckt. Die Herrichaften waren auf und ab promenirt, 
da jeien einige Herren an der Bank vorübergefommeen, 
auf der fie, die Victoria, mit den Kindern gejejfen. Einer 
derjelben, eben der hochgewachjene, vor dent alle jich 
verneigten, jei freundlich auf fie zugetreten und habe gar 
leutjelig allerlei Fragen an jte gejtellt: Bei wem je im 
Dienjt jtehe? Ob ihre Eltern noch leben? Ob fie nicht 
ihr Los zu verbejjern winfche und derlei mehr. Bald 
nachdem fich der Herr entfernt, jei ei zweiter gefommen 
und habe ihr gejagt, fie möge ihren jegigen Dienjtheren 
erjuchen, jte jofort zu entlaffen, da der vegierende Herzog 
von... ., vom ihrem freundlichen Wejen eingenommten, 
Willens jei, jie bei einer der Hofdamen unterzubringen. 
Schon während der Erzählung des - Mädchens war 
der gute Schullehrer mächtig aufgebrauft. „Diele Sprache 
müßte man nicht fennen!“ fuhr er auf. Der Berjucher 
lafje ich janft und jüß an und veripreche jchöne Dinge; 
in Wahrheit wolle er Leibliches Verderben und den Tod 
der Seele. Der genannte Herr jtehe im Nufe, allen 
Srauenzimmern nachzuftellen, ev werde twohl daheim ein 
Serail wie ein Türfe haben. Möge doch die Ihörin, 
die das alles umbefangen erzähle, einjehen, daß es Jich 
nicht um ihr Glüd, jondern um ihre VBerderben handle. 


Be I A 


Gedichte 


Er entlajje jte nicht, eher rufe er die Bolizer um Beiltand 


an. Er fajje die Stellung eines Dienjtheren nicht bog 


äußerlich, jondern auch im moralischen Sinne als die 
eines VBormundes an. Träte der gefrönte Mädchenräuber 
in diefe Stube, er folle die ihm gebührende Strafpredigt 
Horeit..r... 

So wild geberdete fich Herr Heljenteufel, jo laut pero- 
rirte er, daß er das Stlopfen an der Thüre ganz über | 
hörte. Da trat ein Kammerherr ein und begehrte höflich, 
mit dem Herrn Schulfehrer unter vier Augen zu jprechen. 

Die beiden Männer gingen in das Nebenzimmer, 

Die Berhandlungen dauerten wohl eine Viertelftunde. 
Wir laufchten, vor Neugier und Unruhe verzehrt. Da 


entfernte jich der Kammerherr und Herr Heflenteufel trat £ 


tpieder in den Kreis der Seinigen. 

„Es gibt Momente,“ wendete er jich mit großer 
Seierlichfeit an uns Alle, indem er jich den Schweiß von 
der dumfelwoth gewordenen Stivn trodnete, „es gibt 
Momente, die ber ein ganzes Leben entjcheidven! Ein 
folcher ijt dagewejen. Bictoria verläßt uns. Die Welt- 
geichichte lehrt, daß junge Mäpdchen bisweilen ein großes 
Glüf an Höfen gemacht haben. Jch will Niemandes 
Glüf im Wege jtehen. BZiehe denn hin, Victoria, da 
Du es wiünjchejt und vergiß nie, daß Du es bei uns 


gut gehabt haft... . .“ 


Am folgenden Tage hatte uns die jchöne Victoria 


 amter Thränen verlaffen, um fich in Karlsbad dem Gefolge 
- Sereniffimi anzuschließen und bald nachher abzureifen. 


Erite3 Buch. 45 


Am nächjten Sonntage hatten wir Schweinebraten. 
Das war ein gar ungewwohntes Ejjen auf dem Tijche der 
armen Schulmeijterfamilie, die nur von Kartoffeln, Nudeln 
und Klöjen zu leben pflegte. Als der Braten aufgegejen 
war, twoiichte jich Herr Hellenteufel den fettglänzenden 
Mund ud jagte: 

„Einen jo jaftigen Braten habe ich lange nicht 
gegejjen. Er hat mir gejchmect — jehr gejchmect, muß 


ich jagen — und doch —“ er hielt eine Weile jtill, 
indeß er jich pathetiich erhob — „träte der Verfucher 


noc) einmal über dieje Schwelle —“ er jpigte die Lippen, 
pie wenn er diejelben an das umfichtbare Fagott jeßte 

„böte er mir noch einmal von jenen Mammoı, ich 
wirde ihm jagen: Satanas! Hebe dich fort von mir. 
ES war doch ein Sindengeld, ja ein Siündengeld. Aber 
reden wir nicht mehr davon. D, daß es dem Menjchen 
jo jelten vergönnt ist, in Ddiejer Welt feine Pflicht zu 
thun und edel zu handeln, ohne dabei auf den Schwweine- 
braten verzichten zu miljen!“ .... 

Kachdenklich jagen wir um den Tiich und weiheten 
der Entlafjenen eine jtille Erinnerung. 

Dft umd oft, ich darf wohl jagen, immer, weni 
der Name Serenilfimi im Laufe der Zeiten genannt 
wurde, dachte ich an die schöne Victoria, die mir auf 
dem Gange nach Kocchimsthal ihre Schuhe geliehen, und 
barfuß neben mir hergegangen, und die num eine große 
Dame geworden war. Der Zufall fügte es, daß ich 
zweiumdziwanzig Jahre jpäter in die Refivenz fan, im die 


Pr KRSy, br ne 


46 Gefigte meineß Lebend. Be; X 


fie entführt worden war. Wie jich mein Wiederfehen 
mit ihr gejtaltete, werde ich in einem der fommenden 
Gapitel erzählen. 


WEwEDwBGRGDG DC TG RERETETETE Den 


VE: 


Das Altjtädter Symnafium. — Profefjor Dittrich. — Wanderungen durch Prag. 


Sp waren mir drei Jahre vergangen, drei Jahre, 
von denen ich zehn Monate in Schladenwerth im Haufe 


des Schulfehrers Hefientenfel in der Schulzucht dr 


Biarijten, zwei Monate in Karlsbad bei meinen Eltern 
zubrachte. Mit Schaudern dachte ich daran, daß ich auch 
noch ein viertes Jahr dort werde hingehen müfjen. Da, 
gegen den Herbit 1835, faßten meine Eftern den Ent- 
ihluß, fortan die Wintermonate in Prag zuzubringen, 
two ich danı auf dem dortigen Altjtädter Gymnafium 
tweiter jtudiven fünne. Und jo jah ich mich denn im 
Detober 1835 in die böhmische Hauptitadt verjeßt. 

Sn Prag entiicelte jich num mein Leben unter 
freiern Verhältniffen, nachdem ich unter den Biarijten 
die größte Bejchränfung hatte ertragen müfjen. ch befand 
mich plöglich unter zahlreichen Genojjen, unter denen ich 
manchen Freund fand md für die Zukunft fejthielt. ch 
tar der jteten Auflicht ziemlich ledig. Statt des elenden 


—— Schulmeiiterguartiers hatte ich die freundliche Wohnung 


meiner Cltern in der Neuftadt PBrags, der „breiten 


Erfted Bud. 47 


Gafje“, um mich waltete wieder liebende Sorgfalt. Ich 
jah das erjte Theater, ich las die erjten Bücher neben 
meinen Schulcompendien. Mein Schöner Schiller in Leder- 
einband, den mir vor Jahren mein Vater unter Thranen 
gejchenft, war bis heute ungelejen geblieben; mu, dich 
das Theater entzündet, (aS ich darin mit größter Begier 
und Höchjtem ntzücden. Ich lernte zeichnen md hatte 
‚ Elavierunterricht bei einem guten Lehrer. u der Schule 
waltete ein vernünftiges und Humaneres Syitem. Ein 
günjtiger Wechjel machte jich nach allen Seiten Hin fühlbar. 
Und noch bejjer wurde es im den ziver legten 
Gymnafialjahren, damals Humanitätsclafen genannt. 
Profejfor Dittrich, der ung durch diefe beiden Jahrgänge 
führte, war ein waderer Mann. Cr war Prämon- 
jtratenjer, aber aufgeklärt, den Meinungen feines Lehrers 
Bolzano zugethan. Er hatte, ich weiß nicht mehr wo,- 
Goethe fennen gelernt und jprach mit Berehrung von 
diefem, eine grenzenlofe Bewunderung aber zollte er 
Tiedge'n. Die „Urania“, aus der er viele Stellen zu 
eitiren wußte, wurde uns als das erite aller Bücher, 
als die glänzendfte Blüthe deutjcher Dichtung an’s Herz 
gelegt. Bom Tage an, wo er zufällig erfahren hatte, 
daß Tiedge unjerem Haufe befreundet gewvejen, hatte ich 
beim Brofefjor einen großen Stein im Brette. Much 
Goethe — natürlich mit Auswahl — zu lejen war ung 
erlaubt. Er war ein jonderbarer Slloftermanı, der vie 
Boeten begünjtigte und es gern jah, wenn Der oder 
‚sener ein aufgegebenes Thema metriich bearbeitete. 


48 Geichichte meine Lebens. 


Um dieje Zeit las ich zum erjtenmal die Slias in 
der VBoß’ichen Ueberjegung. Stein Buch hat einen tieferen 
Eindruck auf mich hervorgebracht, eS war ein Ereigniß 
in meinem Leben und es ift mir von diefen Tagen eine 
unauslöjchliche Erinnerung geblieben. Mit hoher Neugier 
(as ich Gelang um Gelang, wunderbar und immer jtärfer 
gefefjelt, je weiter ich vordrang und als ich zu Ende 
Itand, ergriff mich zum evjtenmale die geiftige Gewalt 
einer Dichtung, die wie feine andere dem in ung nieder- 
gelegten Triebe nach Fünjtleriicher Schönheit entgegen- 
fommt. Die beiwundernswürdige Weisheit der Anord- 


mung, die herrliche, jo einfache und doch verichlungene 


Führung dev Helden zu ihrem Gejchicke trafen mich wie 
eine Offenbarung. Die janftejten Negungen des Mitleids 
wechjelten in miv mit dem Hochgefühl, das die Darjtellung 
fraftooller Männlichkeit in der Bruft eines $tıraben hervor- 
ruft. Nachdem ich zuerjt die Griechen gehaßt hatte, Die 
mit jo unfäglicher Beharrlichfeit Priams heilige Fejte in 
Schutt zu legen bemüht waren, nachdem Hector mein 
Liebling gewwejen, gewann Achilles mein ganzes Herz und 
troß aller Graujamkfeit wagte ich doch nicht, ihn eimen 
Srevler zu nennen, wenn ich jeine Liebe zur fernen 
Mutter und die Hingabe eines ganzen Lebens an jeinen 
verjtorbenen Freund in Betracht zog. Achill und Patroclos 
find Urbilde der Freundichaft, vom Dichter gezeichnet, tie 
e3 hinterhin feinem Zweiten gelang. Wo ift der Jüng- 
fing, dejjen Herz bei diefer Schilderung nicht in Beive- 
gung geräth md jchhwört, feinem Achill, dem er noch) 


Erites Bud. 49 


begegnen wird, ein Patroclos zu jein! So hob mich die 
Sslias durch alle Entzückungen, und da ich im legten 
Gejange an die Schilderung fam. wie der greife Priam 
in Achilles’ Zelt den Leichnam jeines Sohnes erbittet und 
dem Gewaltigen die Hände füht, „ach, die- entjeglichen 
Wiürger, die viel der Söhn’ ihm gemordet,“ da hielt ich 
die Thränen nicht mehr zurück umd ließ fie fließen, ohne 
mich ihrer zu jchämen. Lange, fange tt die \Jlias meine 
Begleiterin geblieben. So oft ich mich zu ihr flüchtete, 
öffnete ji) mir der Blik auf eine jtarfe, einfache, lichte 
Welt, deren Luft mir Erguidung war. Wohl Hatte ich 
inziwilchen gehört, daß Homer nie gelebt Habe umd eine 
ganze Schaar von Homeriden an diejen Gejängen gedichtet 
haben jol. Aber in Ddiefe Anjchauumng Habe ich mich nie 
finden fünnen: dazu war mir die in der Slias herr- 
ichende Einheit und Harmonie doch zu jtark. 

Eine Bartitur, an der, jtatt eines großen Genius 
viele Mirikanten componiren, it mir. unbegreiflich. Vder 
ich) müßte mir den Mann, der die zerjtreuten Theile, die 
dichterischen Productionen eines ganzen Zeitraums in ein 
Legtes und Ganzes umgejchmolzen, als einen Dichter denken, 
der dem urjprünglichen Homer Faum nachjteht. 

Man Hat Brag oft ein jteinernes Gejchichtsbuch 
genannt, es ijt dies feine Nedensart. rag ijt wirklich 
eine jteinerne Chronik und zwar eine mit den jchönjten 
sluftrationen und den twirnderbarjten Ornamenten ge 
ichmücte. Das fabelhafte Bad der Libufja auf dem ein- 
jamen, trümmerreichen Wijchehrad, die einfache Kapelle, 

Meitner, Gejhichte meines Leben?. I. B. 4 


50 Geihichte meines Lebens, 


in der Huf gepredigt, der majejtätische Theyn, der grab- 
jteinbejäete Judenfirchhof, jenjeitS der Briücde der PBalaft 
des Friedländers mit jeinen ausgedehnten Gärten, tie für 
einen Monarchen mit einem Heer von Dienern gejchaffen, 
das Goldichmiedgäßchen, in dem die Alchymijten des ziveiten 
Nudolf wohnten, der in der Einjamfeit feinen Träumen 
nachhing, während er eine Provinz nach der andern ver- 
for, das Ferdinandeische Luftichloß, wo Tyho de Brahe’s 
Dbjervatorium jtand, der Wladislatw’sche Tract des Hrad- 
Ichins, aus deijen breitem Fenjter zwei fönigliche Statt- 
halter und ihr Seeretär in den achtundzwanzig Zuß tiefen 
Wallgraben flogen — alle diefe und noch Hundert andere 
denfwürdige Numen, Gräber, Häufer, PBaläjte jah ich 
tpieder md toieder an, bis die Vergangenheit, die Gejchichte, 
die jih an jie fnüpfte, vor meinem Blide lebendig ward. 
Dabei las ich alles, was ich an Ehronifen, Gejchichts- 
büchern, Monographien auftreiben konnte, jo fleißig, daß 
ich mich frühe Schon zu einem guten Cicevone durch Brag’s 
Gafjen ausbildete. Dabei jagte ich mir immer, daß von 
den Schäßen, die allenthalben lagerten, nur wenige gehoben 
jeien. Die poetische Ausbeute, wie jie von Brentano’s 
„Srindung Brags* bis auf Grillparzer’s „Ottofar” und 
wieder bis auf Nellitabs und Herloßjohns Romane vorlag, 
erichten mir jehr dürftig. JnSbejondere die reiche Rudolfi- 
nische Zeit, die einen Walter Scott verdiente, jchien mir 
ihres Poeten zu harren. 

Um dieje Zeit, da ich alles las, was in’s Gebiet 
vaterländijcher Literatur einschlug, griff ich auch zur 


Erites Bud). Sl 


„Wlafta” von Egon Ebert, der für die erjte poetische 
Kraft Böhmens galt und mir als jolche gezeigt worden 
war. Aber 68 erging mir eigenthünlich mit jenem Buche. 
SH war damit an einem jchönen Sommernachmittage auf 
die FFärberinjel (die jpätere Sophieninfel) geivandert, lagerte 
mich auf den Nafen im Schatten des dichten twirren Weiden- 
gejtrüpps und begamı zu lefen. Nach wenigen Minuten 
‚lag ich jchon in tiefem Schlafe. Das jchüchterte mich nicht 
ein, vajtlos erneuerte ich meine VBerjuche, bin aber nie 
über die erjten Gejänge hinausgefommen; immer entfiel 
das Buch meiner Hand. m Ipäteren Jahren habe ich, 
diejes Phänomens eingedent, Bekannten, die über hart- 
nädige Schlaflofigfeit flagten, die Leetüre von Egon Eberts 
Wlajta empfohlen. Sch habe mit derjelben jelbjt in Fällen, 
wo das Chloral und das ejligjaure Morphium verjagt 
hatten, jchöne Erfolge erzielt. 


CL >= 


IX. 


Mori Hartmann und Friedrich Bach. — Profefjor Erner. -- Jandera, 
der Surchtbare. 


Wenn ich auf die Studentenjahre 1837 bis 1839 
zurüchehe, tritt auch der Genpjje vor meine Erinnerung, 
der mir am nächjten jtand: Morig Hartmanı. 

Es wächit jegt — zwölf Jahre nach feinem Tode — 
Ichon etwas Moos über diefen Namen. Wir leben in 
einer vajch und viel produeivenden Zeit; jo viele neue 

4* 


52 Geichichte meines Lebens. 


Namen find auf die Tagesbühne getreten umd haben die 
Aufmerkjamteit an jich gerifjen; früher als jonft jtellt jich 
jegt für die Dahingegangenen das Dämmerlicht des halben 
Bergejieniverdens ein. Die erit nach) Hartmann’s Tode 
erichienene Sammlung jeiner Schriften ijt nicht gehörig 
berückjichtigt worden. ndeß, er tit eigentlich früh geichieden ; 
die Generation, Die ihn fannte umd durch jeine fräftige 
Berjönlichkeit gefejfelt worden war, ift größtentheils noc) 
am Leben. Sie findet jeine Lieder noch in den Antho- 
logien, greift dann und wann, um jich das Jahr 1848 
zu dvergegenmoärtigen, zu jeinem „Bfaffen Mauritius“ ; jie 
erfreut jich noch an einer der jchönen Erzählungen, wie 
„Der Krieg um den Wald“, „Won Frühling zu Früh: 
fing“. Wie weit auch Hartmann hinter den Zielen zurüd- 
geblieben, die er ich geiteckt, und hinter den Hoffnungen, 
die man von jeinem QIalente gehegt, im reife der djter- 
reichiichen Dichter nach 1848 wird er doch jeinen laß 
behalten. Wie es nach der gleichen Anzahl Jahre nad) 
dem Todestage mit den Tagesgrößen von heute ausjehen 
wird, it ja auch jehr fraglich. 

Wir lebten anderthalb Fahre zulammen im alten, 
ichwarzen Prag und jaßen ein Jahr lang, wenn nicht 
auf verjelben Schulbank, doch - im jelben Lehrjaale, den 
großen, ebenerdigen Saale des Elementinums, wo wir im 
jogenannten „erjten philojophiichen Jahrgange”, jegt etwa 
dem Obergymnafium entiprechend, eine Schaar von Vier- 
bis Fünfhundert zufammen waren. ES 309 uns Beide 
zur Literatur, zur Dichtung, und wir waren unzertrennlich. 


ne Fu 


Erites Bud). 53 


Wir lajen außerordentlich viel, Altes und Neues, gewiß 
täglich) einen Band: Dies md jenes von Goethe, alles 
von Schiller, Uhland, Heine, Grabbe, Jmmermann, Byron, 
Shelley. Das waren jo umnjere Leute. Bon allen Lebenden 
jtellten wir Lenau obenan, und das Erjcheinen eines 
neuen Buches von diejem hatte für uns die Bedeutung 
eines neuentdeckten Welttheils. 

Der Jugendfreund it eine gar wichtige Berjon. Das 
Mädchen verliebt jih und folgt einem ihr bisher fremden 
Manne in’s Haus; der junge Menjch wählt jich einen 
Freund infolge einer. gewifjen Anziehungskraft, und Diejer 
gewinnt den größten Einfluß über jein Denken, Ihun 
und jeine ganze Zukunft. Dem Freunde vertraut er, was 
er jogar den Eltern nicht jagen würde. Wer von ums 
bei unjerem Bunde den größeren Einfluß auf den Anderen 
übte, weiß ich noch heute nicht zu jagen. 

Hartmann war eine glücklich organifirte und wirflic) 
urjprünglich liebenswürdige Natur. Er hatte ein jchönes, 
offenes Geficht, auf dejjen Zügen ein gewwijfer Enthufias- 
mus fejtgehalten ivar, und war von großer Eörperlicher 
Anmuth. Er war voll feurigen Lebensmuthes und jah 
alle Dinge in einem gewiffen romantischen Lichte. Das 
Dorf, in dem er geboren var, der Eiienhammer jeines 
Vaters, die Wälder um Duschnif mit ihren Sagen, alles 
erjchten ihm jelbjt jo eigenartig und bedeutjam. ES flogen 
ihm Lieder und Balladen zu wie einem Mufifer Mlelo- 
dien; er firirte fie rajch und recitirte jie gern. Er hatte 
etwas Selbitbewußtes; man jah, daß er eine Freude an 


54 Gejchichte meines Lebens, 


jich jelbjt hatte. mmer etwas romantijch herausgepußt, 
jer’s auch nur mit einem farbigen Halstuch oder Sactuch, 
das er hervorjehen lieg — er mußte jcehon beim erften 
Erjcheinen Jeden auffallen, und das wußte er auch). 

Er Hatte die Abjicht nach Beendigung der beiden 
„philojophiichen Jahrgänge“ Mediein zu jtudiren und Arzt 
zu iverden. 

E35 gab damals in Dejterreich noch feine Studenten- 
verbindungen, fein Corpswejen, feine Burjchenjchaft. Sch 
glaube, wir haben dadurch viel Kopfichmerz und viel Zeit 
eripart. Den Bierhumpen find wir fern geblieben, und 
noch bis heute habe ich feinen Sinn für eine Nichtung 
der Poejie, die das Zecherleben der Jugend feiert. Sch 
verjtehe Ddieje Poejie einfach nicht. 

Hartmann war der Sohn eines nicht unbegüterten 
Baters, der aber für -mehrere Töchter zu jorgen Hatte. 
Er jcheint dem Grundjaß gehuldigt zu haben, die Söhne 
müßten, wenn jie das fiebzehnte oder achtzehnte Jahr 
erreicht, Sich jelbjt Durchzubringen lernen. Sonach war 
Hartmann als Hauslehrer bei einer FJamilie eingetreten 
und bezog nichts von Haufe, als den Sparpfennig, den 
ihm jeine gute Mutter jedesmal beim Abjchiede in Die 
Hand drücte. Dieje Mutter war auch jein guter Genius. 

Wir träumten alle politischen Jdeale unferer Zeit: 
freie Staatsformen, YWusgleih der Klafjenunterichiede, 
Toleranz und Friede auf politischem und nationalem 
Gebiete. Wir waren des Glaubens, daß die Kriege eine 
Barbarei, die im nicht allzu ferner Zeit zwischen Cultur- 


Erited Bud. 
völfern abgeichafft werden mülje. Wir hatten da jchon 
ganz bejtimmte Neberzeugumgen und hielten jie feit. Drei 
Ständen gingen wir aus dent Wege: den Theologen, den 
Adeligen (die in umferer Clafje die vorderjten Bünfe zu= 
gewiejen hatten) und den Militärs; wir wußten, daß es 
ziwiichen ihren Ueberzeugumgen und den umjrigen feine 
Brücde gebe. 

Zum weiblichen Gejchlechte hatten wir noch gar feine 
Beziehungen. Das Thema von der Liebe wurde vorerjt 
nur ganz aus der Ferne geftreift. Wir jahen jte auf dem 
Theater dargejtellt, wir lajen von ihr in Büchern, wir 
bielten es auch dann und wann fiir pafjend, ums verliebt 
zu stellen, aber das war eitel Spiel und Selbjtbetrug. 

Unjere Sehnjucht, unjfer Denken ging ausjchließlich 
über die nördliche Grenze nach Deutjchland. Der Ahein 
mit jeinen Hiftoriichen Städten, Ihüringen mit feinen 
Wäldern, der Nedar und der Schwarzwald, das waren 
die romantischen Lande für unfere Vhantafie. Nur in 
Deutichland gab -es eine größere Literatur, eine edlere 
Sournaliftit, ein Schreiben ohne Cenjurzwang. Ein Bud) 
fonnte auch nirgend anderswo als in Deutjchland erjcheinen. 
Das Lebtere it eigentlich noch immer jo. 

Es war eine Zeit, die den Schriftiteller jehr Hoch 
jtellte, höher jedenfalls, als die unferige ihn stellt. Un 
Gelderiverb wurde dabei weit weniger gedacht, als heute. 
Das gelungene Gedicht, die gelungene Erzählung wurden 
‚als ein Gemeingut betrachtet, und man freute ich, fie 
fleißig nachgedrudt zu jehen. Für VBerje Honorar ein- 


f a? n 
ee rd a 92 


56 Gefchichte meines Lebens, 


jtreichen zu wollen, daran dachte Niemand. Wahrlich, 
die Mufen haben ihr Geficht jehr verändert. Cinjt lebte 
man fiir Ste, jebt will man von ihnen leben! 

Hartmann war Nude, aber die vielen Schmerzen, 
welche die Juden von heute plagen, hat er meines Wifjens 
nicht durchgemacht. Kränkungen jeiner Abjtanınmmg wegen 
hat er nie erfahren. Damals, in einer Veriode des Hut 
manismus, hatte man den Juden gegenüber das Gefühl, 
fie Jahrhunderte lang in ein Ghetto gejperrt und fie 
darin nicht jelten mißhandelt zu haben, und empfand ein 
Bedürfnis, das Unrecht durch Schonung gut zu machen. 
Man ignorirte in Gegemvart eines Juden dejjen Juden 
thum ud das Judenthum überhaupt; fam Doch die Rede 
darauf, jprac) man von den „sraeliten” als abwejenden 
Leuten. Der gebildete Jude dagegen hatte fich in diefer 
geit des Liberalismus von jenen Traditionen abgefehrt 
und hatte das Lebhaftejte Bejtreben, durch) Erziehung, 
Bıldıng, Sitten den Ehriften gleich zu werden umd Durch 
nichts von ihnen abzujtechen. Hartmanı war fein Ber- 
ehrer altyüdischer Traditionen, aber das alte Judenthum, 
ivie man es in Prag vollauf zu jehen bekam, hatte für 
uns Beide den Neiz eines Curiojums. Die Prager Juden- 
jtadt ijt für mich ein Studienfeld getvejen, von welchem 
ich in jpäteren Fahren Vieles für meme Bücher („Die 
Sanjara”, „Lemberger md Sohn“, „Sacro Catino“) 
verwendet habe. Nie verjäumten wir, dem Yurim bei= 
zumohnen umd die grotesten Ceremmonien des langen Tages 
zu jtudiven. 


Erjtes Bud. HT 


Zu dem jtudentischen Boetenkreife, der ich bereits 
gebildet hatte, gehörte ein Mledieiner, Finf oder jechs 
Sahre älter als wir, Friedrih Bach. Er hatte ein 
ichönes Talent und schrieb Iyrische Gedichte, die, dirrch- 
twegs finmig umd tief gefühlt, von großer Schönheit waren. 
Er nannte jie „Senfitiven”. Bach war ein jchtweigjamer 
Träumer von vorgebeugter Haltung und mondjcheinhafter 
‚Gefichtsfarbe; aber hinter dem blaffen, immer jchläfrigen 
Träumer steckte ein boshafter jatirischer Schalf, der mit 
den jcheinbar gejchlofjenen Augen alle Schwächen des 
lieben Nächiten belaufchte. Er entjtanımte einer Beamten- 
familie, war ein guter Dejterreicher und perfiflivte ums 
unbarmberzig mit ımjeren politifchen und vevolutionären 
Tendenzen. Jedes umjerer pathetiichen Gedichte wußte ex 
zu travejtiven, inden er demjelben einen jatirischen Schtweif 
anding. Wir haben 85 ihm lange nicht übel genommen. 

Bach Hatte nicht wie wir den Drang, die Welt- 
fiteratuv fennen zu lernen, ihm gemügten wenig Bücher. 
Er verjenfte fich defto mehr in jich jelbjt und verbrachte 
ganze Stunden in ftiller Selbjtbefchauung, bis dann aus 
der Tiefe jeines Wejens einfache aber tiefempfundene 
Klänge auftauchten. Noch immer klingt ein Gedicht von 
ihm, „Dunkle Fragen“ genannt, in meiner Erinnerung 
auf, das ungefähr jo lautet: 


Wenn ich doch wüßte, 

Was die Mauern jprechen, 
Wenn fie, morich vor Alter, 
Sufammenbreden ? — 


58 Gefchichte meines Leben. 


Wenn ich Doch mwühte, 
Was die Wellen jagen, 
Wenn fie um die Häupter 
Ertrinfender jchlagen? — 


Wenn id doch wüßte, 

Was die Sterbenden lallen, 
Wenn jchlaff jchon die Arne 
Herunterfallen. — 


Sind’S Jubellieder — 

Was tit dann alles Yeben? 
Sind’S Klagelieder — 

Was it dann alles Streben ? 


Seine Verhältniffe waren Außerjt bejchränft. Eines 
Tages, nachdem er fich wochenlang vor uns Allen ver- 
borgen gehalten, trat er zu uns und überrajchte uns mit 
einer Eröffnung, die uns geradezu entjegte. Er jei, jagte 
er, mit fich zu Nathe gegangen; er fünne nicht länger 
gegen die Verhältniffe anfämpfen. Sebt, nach fait been- 
digten Studien, jet es ihm unmöglich, fich weiter zu 
frijten und die Gelder für die Nigorojen aufzutretben. 
Er Habe fich entjchlojfen, in den Orden der Barnberzigen 
Brüder einzutreten. Da brauche man Leute mit medi- 
einischen SKtenntniffen, er werde willfommen jein. 

Urmer Fri! Wir wußten, daß er eine heimliche 
Liebe im Herzen trage und an’s Heiraten gedacht habe. 
Wie oft hatten wir, jegt iwonifch, jet ernit, zwei Bere 
aus jeinen „Senjitiven” citirt, die alfo lauteten: 


Nach Liebe jtrebt’ ich nur — ich gab ihr Alles hin, 
Weil ich ein Ratriot im Neich’ der Liebe bin. 
Re Und der Patriot im Neiche der Liebe wollte Sich 
mm aus diejem schönen Lande jelbjt verbannen, wollte 
mm den Talar der Entjagung anlegen, ih mit einem 
|  federnent Niemen gürten und das jchredliche Cötlibat 
beichiwören! Wir waren tief erichüttert, wir warfen ums 
1 am jeinen Hals umd weinten mit ihm... 


'# 
5 


€ umjere jorgengejtörten oder ganz jchlaflofen Nächte. Jm 
jogenannten „eriten philofophiichen Zahrgange“ drehte 
ich alles um den -Profefjor der Mathematik, Ladislaus 
+ andern. Niemand fonnte im Voraus willen, ob er 
ee jucchtbaren Eiferer genügen werde, md genügte 
man ihm nicht, jo war man verloren; denn mit einer 
ichlechten Cenjur aus dev Mathematit Yonale man nicht 

E auffteigen. Uns Beiden — Hartmann und mir — hatte, 
scheint 3, die Natur alle Anlagen auf Diefem Gebiete 
E verjagt. Wir fühlten, daß wir zuvücblieben; aber jtatt 
_ auf Diejen Felde unjere Anjtrengungen zu verdoppeln, 
= 
Ie® 
% 


Liegen wir nach md waren voll böfer Ahmungen betveffs . 


des ichließlichen Ergebnifjes. 
Der furchtbare Ladislaus Jandera war ein ganz 


F- kleines De Männchen, eine Gejtalt, wie einem Märchen 
= 


E von E. T. U. Hoffmann entnommen, Er war Brämopn- 
En trug jedoch fein Mönchskleid, jondern bei hohen 
Be Kanonenjtiefeln einen bürgerlichen Nod, und zwar, weil 
er fo viel mit der Kreide hantierte, einen bfau-weißen 


Sudeß hatten auch wir unjer jpecielles Herzeleid, 


re 


60 Geichichte meined Leben?. 


Nod, wie ein Meüller. Auf jeinem Gejichte, dem harten, 
ecfigen Geftchte eines erbojten Gnomen, war ein jurcht- 
barer Eifer für die Heilige Wiljenjchaft gleichlam eritarrt. 
Wenn er das Katheder erklettert hatte, was meijt unter 
einem Sturme des Aupditoriums gejchah, hatte er Die 
Gewohnheit, die Arme A la Napoleon über die Brust zu 
freuzen umd die Zuhdrerichaft mit wilden Blicen zu 
beherrichen, bis Alles till wurde. Bor fich auf dem 
Tiiche das jogenannte „Mlesmo-risa-te”, in der Hand die 
Kreide, unter dem Arme einen furzen, weißen Stocd, mit 
dem er zu demonjtriven umd oft wie bejejfen auf Die 
Tafel loszuhämmern pflegte, begann er mit eier gellen- 
ven, ditcch jeden Sturm gehenden Stimme, jedes Wort 
in jeine einzelnen Silben zerlegend, jeinen Vortrag. „Stlar- 
heit!” war jeine Lojung, und „Das mu jebt jede 
Kö-chin besgreisfen!“ jein leßtes Wort nach jeder längeren 
Auseinanderjeßung, » womit er ich jelbjt das, jener 
Meinung nach, größte Lob zollte. Leider muß ich geitehen, 
daß ich jehr oft das, was jede Köchin begreifen jollte, 
nicht begriff. 

Als ums einmal eine Sammlımng alter Kupferjtiche 
aus der Zeit der franzöfiichen Revolution in die Hand 
fiel, machten wir Beide gleichzeitig die Entdefung, daß 
Profefjor Yadislaus Yandera die größte Aehnlichkeit mit 
Robespierre hatte. ES war ganz derjelbe Kopf, num weit 
älter, diejelbe Stirne, derjelbe Mund. ch fann aber 
auch den Mann mit feinem Anderen und feinem Gerin- 
geren vergleichen, als mit dem tugendhaften Abgeordneten 


v 


du: re 
0 Erf Buch. 


2 ae En 


Yrros. Auch yandera war die perjonificirte Tugend, 


 viduren vor jeinen Augen nichts waren. Wer vor ihm 
amd feinem „Memoriale* nicht bejtand, der hatte eben 
„leiene Unebrauch-barsfeit für den  wiljensjchaft-lischen 
Beruf dar-ge-than“. Taufende von jungen Leuten hatten 
r E“ ihre Laufbahn ändern miljen, weil fie jeinen For- 
 derumgen nicht genügten. hm ftörte das nicht den Schlaf. 
E Auch die perjönliche Verwendung aller übrigen Brofej- 


| mehr abgebradtt. 
| Eines jchönen jonnigen Vormittags jtand Profeifor 
_ Ladislaus Sandera vor jeiner Tafel und erklärte uns 
: den Sab aus der Lehre vom der Ellipje, dab, wenn man 
Durch die Achje KO, eines Stegels eine Ebene KLM jent- 
recht gegen die Ebene RS Lege, die Ebene der Cimve 
_AQMQ jenfrecht auf dem Dreief KLM jtehen und jeder 
beliebige Schnitt, der parallel mit der Grimdfläche LBMD 


& 
3 gelegt wirde, unbedingt jeirten Mittelpunkt in der Achie 


| KC Haben müfje. 

en; Sideß jaß Hartmann jtill beglüct im jeiner Bank 

j und las ein Buch, das ich mir gejtern verichafft und ihm 
heute zugejtedt hatte, Grabbe’s „Fauft und Don Juan“. 

| E _ Grabbe zählte zu unjeren Lieblingsdichtern. Schon der 

 erjte Monolog, in welchem Fauft vom Aventin aus Nom 

E _ anvedet, war entzlcend: 


. die 1e Gerehtigfeit und Unbejtechlichkeit jelbit, aber furchtbar, . 
weil er nichts als jein Prineip gelten ließ und die Indi- 


'® ‚joren hätte ihn von einem ausgejprochenen „Nein“ nimmer 


62 Gejchichte meines Lebenz. 


Hoch über dem eiszadigen Gebirg 

Tirols erhebt der Adler ji zur Sonne, 

Als wär: da jein heimatlicher Dorit . . . 
Wer war’5, der Nom, der diefen Käfig brad), 
An dem die Völker römisch erjt und dann 
Bapiitiich fiegen lernten? Ha, hier war e8, 
Wo Alarich’s, des gothiichen, wo Karls, 
Des fränf’ihen Yandsmanns, wo der Hohenjtaufen 
Siegraujchende Baniere flatterten, 

GSeltebfoft von der heiten Luft, die einit 

Die Kön’ge tödtete — 


Ein wie ein Hahnenruf in die Luft gejchmettertes 
„Quod erat de-mon-stran-dum!“ jvedte den Lejer aus 
feinen. Träumen. Das furchtbare Nußfnadergejicht da 
oben war mit jeiner Beweisführung fertig geivorden. 

„And jest,“ fuhr der Schredliche in Scheinbar milden 
Tone fort — jeim jcharfes Auge mochte jchon die längjte 
Zeit den Unachtiamen verfolgt haben — „und nun (lang- 
jam im Sataloge blätternd, bis er ihn gefunden), mein 
fieber Hartmann Moris, fommen Sie zu mir herauf und 
zeigen Sie es Ihren Collegen, daß Sie mich capirt haben. 
Hartmann Mori, herauf!“ 

War das ein Schreden, bei dem auch mir, dem 
Freunde, Sehen und Hören verging! Dem Aufrufe mußte 
unbedingt Folge geleiftet werden. nt der geivaltigen 
Schüleranzahl regte jich jchon der Sturm der Erivartung. 
E35 gab indeg mr einen ganz furzen Auftritt. Hartmann 
war hinaufgeitiegen, hatte einige Linien auf die Tafel 
gezogen und einige Worte gemurmelt. Dann hatte er 


Erjtes Bud). 


die Flucht ergriffen und war mit einem fererrothen Sefichte 
in das Meer von Köpfen twieder umntergetaucht, während 
auf der Höhe der bösartige Kobold, jammernd über jo 
viel Umijienheit, die Hände zufammenschlug. 

Nun war aber auch das Los über ihn geworfen. 
Man durfte nicht ohne Furcht dem Kommenden entgegen- 
jeben. 

Den jchärfiten, aber auch den liebenswiürdigiten 
Gegeniak zu dem furchtbaren SJandera bildete Exner, 
damals noch ein junger Mann, der uns philojophifche 
Bropädeutif, Gejchichte der Philojophie, Piychologie nad 
Herbart u. |. ip. vortrug. Er war eine vornehme Er- 
jcheinung, und jein edles Denferantlit bleibt mir umver- 
geglih. Er pflegte nie in ein Heft zu jehen und jpanır, 
was er vortrug, jozuwjagen aus jich jelbjt heraus. Die 
Hand im vollen brammen Haare, in der Haltung umd 
theiliweije in der Sprache eines halbiwachen Träumers, 
pflegte er zu umterjuchen, ob der Wirklichkeit irgend eine 
Realität zugejchrieben werden fünne, und joviel ich mich 
erinnere, gelangte er daber zu feinem für die Wirklich- 
feit günjtigen Nejultate. Ob dem Seienden, als jolchem, 
räumliche und zeitliche Bejtimmungen zufommen fünnen, 
ivie Denn das Ding zu jeinen Merkmalen komme, tie 
e8 fich mit dem Ding an fich verhalte, u. dgl. m. wurde 
weitläufig erörtert. Die Lieblinge Erner’s, auf die er 
immer wieder zur jprechen fam, waren die als Vorläufer 
Kant’s erklärten Eleaten und ganz befonders der ehr- 
twiürdige Zeno, welcher über das „Tich jelbjt gleiche Sein“ 


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1 Sale ah cn Kal a ee 2 


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jo viele Spigfindigfeiten erjonnen hat. Daß der „flie- \ 


Herren,“ vedete uns der Profefjor der Weltgejchichte an, 


md Berge von Explications-Heften waren zu verdauen, 


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we Li, Aueh 
u) Bin 


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Gejchichte meines Lebens, 


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4 


gende Pfeil“ in dev That ruhe, weil er in jedem Punkte — 
jeinev Bahn jeine bejtimmte fixirbare Lage habe und fi) 
hierdurch in fich jelbit gleich erhalte, daß der schnell 
füßige Achillens die langjame Schildfröte nimmermehr 
einholen könne, weil dieje, während er den Vorjprung, — 
den jie vor ihm voraus hat, zuriclegt, einen neuen ge 
wonnen haben mu — dieje und noch viele andere jpaß- 
hafte Sophismen, die ums von den alten Eleaten auf 
beivahrt jind, twirrden mit einer, wie mir jcheint, jehr um 
gerechtfertigten Griümpdlichkeit dDurchkritifirt und evivogen. 
Uch, was muß nicht die Jugend Alles über fich ergehen 
lafjen! ... Snveß habe ich Exner eine aufrichtige Ver- 
ehrung bewahrt. Seine Kritik der Willensfreiheit, jeine 
Berjuche, die Ethif aus äfthetiichen Brineipien abzuleiten, 
haben jich meiner Erinnerung dauernd eingeprägt und 

auf meine jpäteren Ueberzeugungen Einfluß gewonnen. 


m 
, 


Sndeß war der Juli hevangefommen. „Meine 


„die Prüfungen jtehen vor der Thür! Wir jind leider 
erjt bei dem zweiten pumijchen Kriege angelangt. Esift 
unwahrjcheinlich, daß es uns gelingt, in den zwei Wochen, 
die wir noch vor uns haben, die gejammte weitere Ger 
ichichte bis in die neuere Zeit hinein zu bewältigen. IH 
bemerfe Jhnen aber, dat ich die ganze Weltgejchichte in 
den Kreis meiner Fragen ziehen werde.“ Und nun bes 
gann eine Arbeit, die uns fait aufrieb. ı Diele Bücher 


Erites Bud). 


Bhilojophie. Mathematif, Natur- und Weltgejchichte. 
Man jaß achtzehn Stunden des Tages Dabei, tranf 
Nachts jchtvarzen Kaffee, um wachzubleiben, und ging exit 
ichlafen, wenn die rojenfingrige Eos am Himmel erjchien. 

Ach, man hätte jich schließlich mit Allen abgefunden! 
Mit allen Helden und Heerführern von Sejojtris bis 
Napoleon, mit allen Ihiergattungen, wie fie die Arche 
Noah’s beherbergte, auch mit Anarimenes und Anari= 
mander und jämmtlichen Cleaten — aber da war Ladis- 
laus SJandera — das war eine entjegliche Nealtät, die 
alle Eleaten zufammen nicht hätten leugnen fünnen. Die 
ichtveren Tage famen. Fünf Fragezettel mußten gezogen 
werden, ımd man jeßte fich, fie auszuarbeiten, auf die 
jogenannte Schwigbanf. rnit umd feierlich jaß der 
Nobespierre der Mathematik im bläulich-weigen Node 
vor jeinem Tijche und jprach heute fein Wort. Einer 
nach dem Anderen hatte an die Tafel zu treten. Es 
fam einigermaßen anders, als wir gedacht. Hartmann 
fiel durch) — wie ich Durchgefommen, begreife ich heute 
jelbjt nicht. Sch weiß nur noch, daß mein Erfolg mic 
nicht freute, da der Freund unterlegen tar. 

Mit dem Mediein-Studiren war es nun für Hart- 
mann vorüber. Die Bahn muRte aufgegeben werben. 
Zwar — vielleicht war die Erlaubniß einer Neparatur- 
Prüfung zu erwirfen. Dieje konnte aber Ausjicht auf 
Erfolg nur vor einem anderen Forum "haben. — Yart- 
mann bejchloß, nach Wien zu gehen. Worerjt jchied uns 
die Ferienzeit, ev jollte in jeine Heimat zurüd. 

Meiiner, Gejchichte meines Lebens. I. B. 


or. 


TERN 


66 N Gejchichte meines Ben 


Ge, 


Die Trennung fiel uns Beiden jchwer. Ein jchwer- 


Weit“ veröffentlichte, gab jeinen Empfindungen beim 


Scheiden von dem Freunde und von einen lieben Mäd- 
chen Ausprucd; auch ich Ichrieb ein „Gedicht: „An den - 


 Hugendfveund“ und ließ es druden; es it noch heute 


in meiner Sammlung zu finden. So viel Bathetif mußte 
unbedingt die Satire Friedrich Bach’s herausfordern. 
Auch er brachte jest ein Abichiedspoem, welches Ächein- 
bar ganz ernjt war, aber dadurch Hochfomijch wurde, 


dag es mit lauter Falichen Betonungen gelejen werden 


mußte, um für geveimt zu gelten. Es begamn: 


Blaue Tage, froh und herrlicd) 
Lebten wir im jhwarzen Prag, 
Und nun zieht ihr, o Fürchtertic, 
Bon mir fort am nädjiten Tag! 
An des Bruftforbs jtarre Wände 
Schlägt das Herz in wilden Weh, 
Weil ic) Freunde, treu Fiebende 
Set zum letten Male jeh'! 
Hartmann, du, im Liede Sieger, 
Reich’ zum Abjchied mir die Hand, 
Ewig hält ein gewaltiger 

Eindrucd mich an Dich gebannt... . 


Sp ging es durch viele Strophen fort, pudelnärriich, — 
aber — die Komik verlehte ms. 5 
sndeß — Bad) fonnte jest übermüthig fein! Er 
hatte den lange gejuchten Verleger für feine „Senfitiven“ 


u3 ORT EFUN® - 
Gries Buch. 


lic in Leipzig gefunden. Dort lebten dazumal zwei 

Verlagsbuchhändfer, welche fich für die riichen Broduc- 
I tionen noch unbefannter Dichter, worern fie nur fein 
Honorar verlangten, nicht allzu jpröde zeigten. Der eine 
 derjelben hieß Kummer, der andere Hunger. Trojtlos 
omindfe Namen — aber was war zu thun? Man hatte, 
nachdem das Manujeript des Defteren zuricgefommen, 
mm noch zwijchen diefen Zweien zu wählen. Wir viethen 
zu Kummer, da Kummer noch immer beijer als Hunger: 

flinge. Das Heft ging ab, Kummer acceptirte, umd Die 
 „Senfitiven“ traten ans Licht. Aber die Ausitattung 
e“ auch Fiimmerfich 


> > SE = >> >55 zZ A. ze — E EZ a? — == ze 


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7 
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Mori Hartmann in Wien. — Sriedrich Bachs erjter Patient. 


Sch fühlte mich indejjen, jeit Hartmann fort war, 

- jehr vereinjamt in Prag; oft war mir, als fei im Gang- | 
_ werf meines Lebens etwas zerbrochen. Ein freudiges 
 Ereigniß war e&$ immer, wenn ein Brief anfam, umd 
P Hartmann jchrieb nie weniger als vier Quartjeiten voll. 
Er Hatte rajch in Wien zahlreiche Befanntjchaften gemacht, 
 fomnte lich aber an das dortige Leben lange nicht ge- 
En Allerdings waren ihm viele Bergnügungen 
einer großen Stadt bei der Stuappheit jeiner Caffe um- 
 supänglic, Stundenlang gebt er in den Bilderjälen des 


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a 2" ME Y: 
Sefchiite meines Lebens, 


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- Belvedere herum; manchmal it es auch ihm Be von 
der leßten Galerie des Burgtheaters ein neues Drama 
von Halmı zu jehen. Er pflegt freumdlichen Umgang mit 
Nordmann, Alexander Schindler, mit 2. U. Franfl, a - 
ihm gerne die Spalten feines „Sonntagsblattes“ öffnet. 
Bor Allem, und das war das große Greiguiß, it er 
von Nikolaus Lenau, den er jofort bejucht hatte, freund» 
lich aufgenommen worden. Noch denkt er daran, jich der 
Mediein zuzumvenden, Lena väth ihm dazu, und Hart 
mann will demnächit Schritte thun, die Erlaubniß einer 
Reparatıur-Prüfung zu eriwirken, aber die Mathematik, 
die ihm den Eintritt in die Univerfitätsjtudien verwehrt, 
erjcheint ihm am Ende als eine unbejiegbare Sphing, r 
und schließlich gibt er den Gedanken auf, ihre Rate 
(öfen zu wollen. e 

Man erlaube mir, einige Proben aus Hartmann’s 
Briefen mitzutheilen. Nachdem er eine Anzahl Wiener 
PBoeten (Vogl, Levitichnigg u. j. ww.) charakterifivt hat, fährt 
er fort: 3 

„&s iit merhviwdig: einige diejer Leute kommen 
Einem in der Entfernung Elein, oft gemein vor (4. B 
Stelzhanmer), in der Nähe bejehen, jind fie echte, aber 
zu Grunde gegangene Dichternaturen. Entweder haben 
fie die vielen Journale an fich gezogen und zu Hand- 
werfern gemacht oder es drückt umd erichlafft fie nach 
und nach der furchtbare Mtaterialismus, dev dumpf und 
ichwil wie eine die, heige Sommerwolfe über dem un 
jeligen Wien fiegt. Ich verfichere Dich, die jo weit 


[2 


K- 


u 5 = = I IA? . > .. 
Erjtes Bud. 


berühmte Wiener Heiterkeit wird einem unheimlich mit 
der Zeit. D, die Wiener find nicht die unjchuldigen, 
 heiteren Phäafen, jondern größtentheil dem moralischen 
 Untergange zutanzende, jardanapalifche Eimuchen. Es 
E- ann hier unmöglich ein großer Dichter werden und leben. 
_ Nur weil Grillparzer unter den Bajaderen als ein ganz 
md gar einjamer, alle Berührung jcheuender Klofter- 
| E bruder wandelt, und weil Lenau, dev jingende Zugvogel, 
£ im Winter hier in jeiner Hypochondrie evjtarrt und im 
Sommer in jein geliebtes Schwaben flieht, haben fich 
5  dieje Beiden ut ita dieam, conjervirt und find Dichter 
geblieben .... Gejtern hat mir Umlauft  Grillparzer 
En. Mer: unter der ungeheuren Menjchenmenge, in 
die er ih auc, einmal — am 1. Mai — herausgewagt, 
ging er jo allein, von Seinem vielleicht, alS von mir, 
mit einem verehrenden Blif gefolgt. Er jchien mir jo 
_ amendlich einfam. Sein graue Haar, feine fehr die 
3  Epuven des Alters tragende ee die zufällige 
Be eiteit einer Höchit einfachen Kleidung mit der des 
- Dulders Kaufmann machten mich fo traurig. Gott im 
Himmel, ift das der Lohn, daß er jegt Deutichlands größter 
 Poet it — denn dafür halte ihn. Sch hätte Fluchen, 
aber auch weinen können . 
3 Den enthufiajtischen Freumöfchaftägefühfen blieb Hart- 
_ mann treu: er mußte immer etwas jehr lieben. Seine 
- Zumeigung toirft jih num auf einen um ein paar Jahre 
älteren Mediciner, der, in gleich beichränften Berhältnifjen 
se ‚eieigft er 


aber wahrhaftig nicht jo wie ih. Wir haben vor un 


denn das Größte, Schönjte jchwebt leuchtend durch die 


Se 


ae meines. ehe end. 


Er jchreibt: 
„Mich macht der Umgang mit Kuh jest jehr gli - 
(ich. Von ihm ließe fich jagen, das ift ein echter Menjch, 
und wir alle jollten uns bejtreben, jo zu jein. Sch 
brauche Dir nicht erit alle Schönheit feines Herzens, alle 
Lichter feines Geiftes herzuzählen, Du fennjt ihn ja aud, 


gefähr einem Bierteljahre in Mißverjtändnifien gelebt, 
aber das hat ich aufgelöft, und ich hoffe, er ift fo freu 
dig in mir, wie ich in ihm. So wie ich mit Div Nen- 
dezvous im Saffeehauje hatte, habe ich jie mit ihm auf 
dem Zimmer. Entweder ich jchlafe auf feinem Sopha 
oder er auf dem meinigen, und da wird die halbe Nacht 
durchgepfaudert, nein, ich wil’s nicht plaudern nennen, 


Nacht über uns. So neulich erit — er fam Abends zu 
mir, wir legten uns, begannen zu jprechen und Iprachen, 
bis es mir einftel, zu jehen, wie jpät es jein möge. Sch 
mache Licht und jehe, es ift Zünf. Durch die Vorhänge ä 
guckt der Tag freundlich herein. Wir gingen Be 
von einander und Steiner war jchläfrig. . 

Niemand wird. in Abrede stellen fönnen, dar die 
Natur, die jich jo ausjpricht, eine Liebenswürdige.. Man 
hat, wenn man in dieje Blätter blickt, Alles vor fi) — - 
die Poetenjtube im vierten Stode eines alten Haufjes auf 
dem Salzgries, in welcher ein Bett, ein altes hartes 
Ganapee, ein Tijch, zwei Stühle das ganze Mobiliar 
bitden und in der die Kaffeemajchine den einzigen Eunien 


s 
x; 2. 


I Ef Bu 


| Ehenftanb darjtellt. Ein einziger Anzug, womöglich ein 
 ummtro, immer woohlgebürjtet, die nothivendigiten 
= Bücher, beim Antiquar erjtanden, das ift die ganze Habe 
x des Moeten, der doch voll guten Muthes it umd eine 
Belt von Gedanfen und Plänen im Bufen hegt. Koh 
E 3 immer trägt er fih mit Auswanderungsgedanfen nah 
 Deutjchland, es fragt ih für ihn nur, wie er die Mittel 
 dazır erlangen soll. 
EB: „Eben“ — chreiß er im Herbite 1840 — „fomme 
5: ich verdrieglich und gefränft aus Neuner’s Kaffeehaufe. 
—— Bauernfeld, Lenau u. j. tw. jagen an einem Eleinen Tifche 
beifammen, und ich mußte von einem Winfel aus die 
:  Goldförner Lenau’s verjtohlen auffangen und mich damit 
begnügen, wenn er mir unter dem Reden zulächelte und 
= feine Worte an mich richtete, worauf mich die Leute an- 
 gafften. Gott, warn wird die Zeit fommen, da ich mich 
an den Tijch der Dichter werde jegen dürfen und mit A 
Sprechen können im Rathe der Weifen — oder wid fe 
nie fommen, dieje Zeit, und werde ich mich mit allen 
- Blänen und allen Gedanfen immer im Winfel verjteden 
—  müjfen? . . . Lenau mußte mit der Gejellichaft plöslih 
aufbrechen, und ich habe doch jeit drei Wochen feine 
zwanzig Worte mit ihm gejprochen .. .“ 
—. Hartmann’s Verhältnifje beffern fich mit einem Male, 
als er — im Detober 1840 — in’s Haus eines Ban- 
 fiers als Erzieher zweier Knaben eintritt. Mit gar 
leichtem Gepäd zieht er ein, frei, umbefangen, und fühlt 
Sich gleich zu Haufe. Er äußert eine naive Freude über 


= Sn Wi G di 
j a Me Er > BEE "BER 
 Gefchichte meines Lebend. 


hr 
den guten Tisch, an dem er fich gehörig jatteffen fan, 
und das vortreffliche Bett; er fühlt jich wie neugeboren. 
„neunte,“ schreibt er am 4. Detober 1840, „war 
ich bei Lenau. Sch fand ihn im Schlafrode, „„in den | 
Händen die Fidel“, die er befanntlich meifterhaft ftreicht, 
wie ein Zigeuner. ch verfichere Dich, Freund, Lenau 
bat Augen, daß Einen eine wehmüthige Schnjucht ergreift, 
wenn man hineimjchaut. 2 
Sch mache mir ordentlich Vorwürfe, daß ich jet 

zwei Tagen ein herrliches, wohleingerichtetes Zimmer 
bewohne, während Lenau in einem halb jo großen, fahlen, 
düsteren Zimmer bauft. Zwar thut er es nicht aus 
Defonomie; aus Neigung wohnt er bei feinem Freunde 3 
Mar Löwenthal. Diejer, ein reicher Mann, bewohnt 
fürjtlich eingerichtete Zimmer, während Lenau in einem 
vier Ellen breiten, vier Ellen langen Zimmer jtect, wo Bett, 
Tisch, Kaften, Bücherjchranf, Alles aufeimandergeftapelt ift. 
Er jchreibt jet an einem Ulrich von Hutten . . . $ 
Doch jchon Lange habe ich eine Frage auf der Zunge. 
Warum höre ich nichts vom Senfitivus? Jit er wirklich 
u’s Slojter der barmherzigen Brüder eingezogen? Man 
möchte glauben, jogar in das der Trappiiten, weil er gar 
nichts mehr von fich hören läßt. . .“ | 
Mit Friedrich Bach war es inzwijchen nicht, wie 
twir fürchteten, zum Aenperjten gefommen; er hatte das 
Doctorat gemacht und war in eine deutjch-böhmijche 
Gegend gezogen. Die Gejchichte von jeinen erjten Batien- 
tem ift ziemlich paßhaft. 


“ 


Erftes Buch. 73 


Mitten in der Nacht — eS war in den allererjten 
Tagen — war an jeiner Thür geflopft worden. Er 
jpringt auf, läuft am’s Fenfter umd fieht mehrere Bauern 
vor jeiner Hausthür. „Kommt jchnell, Herr Doctor, der 
Bummel it frank! Schnell, jchnell!” 

„Bummel?“ denkt Friß Bach, im deutjch-böhmtjchen 
Dialecte wenig bewandert. „Das muß bier ein vielbedeut- 
tender Mann jein, da feine Erkrankung jolche Aufregung 
Ihaftt ... . Gewiß ein Großbauer, Gemeindevoritand, 
“ DOxtsrichter.“ „Sch komme gleich!” vuft er hinunter, indeß 
er in jeine Kleider fährt, und denft bei fich: „Welch’ 
glücklicher Zufall, daß ich hier gleich bei einer allbefam- 
ten Berjönlichfeit zeigen fann, was ich gelernt habe . . .“ 
Bald jteht er mitten unter den Bauern und trabt durch) 
Nacht und Nebel ihnen nad). 

„as fehlt dem Patienten eigentlich?“ fragt er. — 
„Es ijt ihm halt vecht jchlecht.” — „Sind jchon Haus- 
mittel angewendet worden?“ —- „Ein Gelafe haben tvir 
ihm gemacht.“ 

„Ein Gelafe, was das nur wieder ijt!“ denkt Bach. 
Die Gruppe hält indeß vor eimem Hofe, eine Laterne 
leuchtet voran, ein ftarfer Stalldunjt macht jich bemerf- 
bar, em finjteres, niedriges Gelaß wird aufgethan — 
der Patient, vor dem Bach jest fteht und der ihn breit- 
jtirnig mit funfenden Augen anfieht, war — der Ge- 
meindeitier! 

Welche Berlegenheit! Bach hat wohl feinen Curjus 
der Veterinärfunde durchgemacht, hat aber die Thierarznei 


AT bat 
” ee N ar 


er, Prg ri un E Be Rt a 
 Gefchichte meines Lebens. 853... 


 allzujehr als Nebenjache betrachtet... . Met ichiefgefent- 
tem Stopfe, wie dies feine Art, umfreift er den Patienten, = 
bis deijen furchtbares Gebrill und ein Schlag des geho- = 
x benen Schweifes ihn in eine Ede jcheucht. B 
NEB Umfjonjt befragt er fein Gedächtniß, von welchen 
» Gebrejten ein Gemeindejtier plöglich heimgefucht werden 5 
 fönme, md welche Dojen man ihm verjchreibt. Sein 


h 

0 Gedächtnik, ift wie vernagelt . 

er „Sch denke,“ jagt er endlich, „es wird das Beite 
2 jein, wenn ihr mit dem Gelafe fortfahrt. Aber Dan Bi; 
2 Portionen! Dem muß man jcharf beiftommen!“ Er 
k E Man gab die doppelten Portionen, aber Herr Bummel 
- verjchied Schon am andern Tage. E; 


Doch ich fehre zu Hartmann zurück. Jm April 1841 9 
jchreibt er: E x 

„Heute habe ich von Lean Abjchied genommen, 
nachdem ich mit ihm gegeffen und getrunfen. Freund, 
= der Menjch in ihm teht unendlich höher als der Dichter 
amd jpricht jchönere Gedanken, als fein jchönfter Vers. 
Ein herrlicher, göttlichen Menfch und mein Freund! 
m apenm ich in hr Geficht jehe, Lieber Hartmann,“ jagt 
er, „„üt es mir, al3 ob ich ein Liebes Buch läje, Liebe 
umd Ruhe Leje ich daraus. Sie werden ein herrlicher 
Menjch, Lieber Hartmann, und ich freue mich auf Ihre 
Zukunft. Gefallen Sie den Weibern? Sch jollte meinen !**... 
Dergleichen Dinge freuen mich ehr, ich jtaune aber, 
wenn ich ihm in einer aufgewedten Stunde zuböre, die 
wunderbare PBhantafie, diefer jcharfe Geift! Was aber 


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u Er 2 


Grjtes8 Buch. 


7 
OT 


jonderbarer, oft diejer ımübertreffliche, edle Humor! Heute 
zum Beifpiel, da ich vor feiner Abreife zum legten Male 
mit ihm zu Tifche- war, da hat er gejprupdelt über die 
ganze Welt, über Defterreich, Preußen, Metternich, Bhilo- 
jophie, Amerika, Vhyfiognomif, Weiber u. |. tw., kurz, 
während anderthalb Stunden die größten Wahrheiten, 
bald im Hohenprieftergewand, bald in der Harlefins- 
fügen...“ 

Die Zeiten der Sorge und des Darbens waren 
nun für Hartmann glücdlich vorbei. Er faßt bald mehr 
und mehr FZuß in der Gejellfchaft umd bringt ich und 
jein Talent zur Geltung. Ex tritt in angenehme Ktreife 
und macht zahlreiche Literarische Belanntichaften; der 
geiftvolle Landsmann (Hieronymus Lorn), Betty 
Baoli, der Landsfnecht Friedrich von Schwarzenberg 
treten ihm näher. Der Sommer findet ihn  behaglich 
auf Schloß Gutenbrumm bei Baden  inftallirt. Ein 
neuer Abjchnitt jeines Lebens hat begonnen, jein Porträt 
befonmt Züge, die an die des brillanten Hofmeijters 
aus den „Problematischen Naturen“, Dswald Stein, 
erinnern. 

&s erübrigt jet nur noch, zweier Perjönlichkeiten, 
die ich hier angeführt, Furze Erwähnung zu thun. Der 
Schredensmann Sandera it zu Anfang der Finfziger 
Jahre gejtorben. 

Sa, er tt geftorben, aber für mich umd ver- 
muthlich für manchen anderen Zeitgenofjen lebt ev noch. 
Ss gehört heute. noch) — To ftark graben ich jchred- 


Bin I 


Geiäläte meines Shen, 


MMocnı 


liche Erimmerimgen der Menjchenjeele ein — zu mei 
nen Träumen, daß ich wieder Student bin umd im 
großen PBarterrefaale des Prager Clementinums fie, ih 
weiß nicht, in welche Gedanken verfunfen, bis mich eine 
gellende Stimme: Meiner Alfred, herauf! auffcheucht. 
Sch Schaue empor und erblide den einzigen Menjchen, 
vor dem ich mich im Leben wirklich gefürchtet habe, den 
Nobespierre mit der Streide, Ladislaus Jandera, leibhaftig 
vor jeiner Tafel, eine fomische Schredgeitalt . . . Sch 
joll ihm den pythagoräiichen Lehrjag demonjtriren. ch 


E 
a 
Re; 
Br 


a 


3 ergreife die Kreide, zeichne ein großes Biere — die 
u Streide zerbricht unter meinen Fingern, was immer für 
= ein böjes Omen angejehen wurde. ch ziehe einige neue 
ee Linien — umd habe jchon mit der allererjten meine 
——— Ummifjfenheit vor vierhundert bis fünfhundert Zuhörern 
2 doeumentirt. Mit Angjtichweiß auf der Stirne er- 
 jwache ich. 

RB 


Friedrich Bach hatte nach jeiner verunglücten Behand- 
fung des Herin Bummel im deutjch-böhmifchen Grenz- 
bezirfe feinen Boden faljen fünnen. Er beivarb jich um 
die erledigte Stelle eines Bergwerksarztes in Draviga im 
Banate. Dort heiratete er und hatte auch die Freude, 
eine zweite vermehrte Auflage jener „Senfitiven“ bei 
I 8. Weber in Leipzig anbringen zu fünnen. Sie ent- 
halten Goldförner echter Boefie. Er war indeß von 
Dravisa fortgezogen. Seinen ehemaligen Freunden ent- 
_  fremdet, verbittert und einjfam ijt Friedrich Bach 1865 


PIE! 


Erftes Buch. 1 


Arzt thätig war, gejtorben. Seinen Grabhügel fennt 
man nicht mehr, weil das Holzfreuz jchon feit Jahren 
verjchtvunden ilt. 


Die Anatomie. — Profefjor Jofef Hryrtl. 


sm Haag, in der königlichen Bildergalerie, Hängt 
im breiten Schwarzen Nahmen ein gewaltiges Bild des 
großen Nembrandt, das jorwohl durch jeinen Gegenjtand, 
wie durch die Macht der Behandlung die Aufmerkjamfeit 
des Bejuchers ummiderjtehlich fejlelt. Es wird „Die 
Anetomie” genannt und stellt den PBrofejjor Nikolaus 
Tulp vor, der jeinen Zuhörern, Schon gereiften Männern, 
die Jumetionen der Flexoren der menjchlichen Hand erklärt. 
Er ift in ruhiger Darlegung begriffen. Bor ihm auf 
dem Tifche, quer verfürzt, liegt der Cadaver. Tulp hat 
die Hautdeden abgelöft, die Muskeln des VBorderarmes 
bloßgelegt und zeigt nun feinen Zuhörern, iwie die ein- 
zelnen Sehnenbündel der Musfeln eine wunderbare Me- 
chanif erzeugen. Das ijt der Mittelpunft der Darjtel- 
(ung; dabei aber hat der gewaltige Rembrandt noch ein 
Uebriges gethan, und jedem Gejichte der fieben antvejen- 
den Zuhörer einen anderen Ausdrud zu geben verjtanden. 
Der Eine hat, was Tulp demonftrirt, jchon im Voraus 
begriffen umd comjtatirt Lediglich mit dem DBlide, was er 


Gejchichte meines Lebens. 


ichon weiß; ein Zweiter ift ganz verwundert über das, 
was er ohne Demonjtration des Lehrers nie gefunden 
hätte. Einer it aufmerfiam, vermag aber der Darlegung 
nicht zu folgen. Drei im Hintergrunde Stehende find. 
zerjtreut- umd geiftig abwejend. Man jteht das Schicjal 
eines Jeden flar voraus, falls die Herren noch eine 
Prüfung bei Tulp zu bejtehen haben jollten. Zwei werden 
ein glänzendes Eramen machen, zwei vermuthlich ein 
Genügend davontragen, minder gut dürfte es den Webri- 
gen ergehen, das leuchtet jofort jedem Bejchauer ein. 
Ein alter Kupferjtich nach diefem Bilde hing in breitem 
Ichivarzen Nahmen im Studierzimmer meines Vaters. ch 
hatte dasjelbe jchon als Knabe unzählige Mal angejehen: 
e3 wirkte mit unheimlicher Anziehung auf mich. Und nun 
war alles, wie es auf dem Bilde zu jehen war. Cine 


große Lampe mit tiefherabreichendem Schirm beleuchtete 


eine fupferne Tijchplatte, auf der Tijchplatte lag ein Cada- 
ver. Wir jtanden um ihn herum, der Brojector demonitrirte. 

Sch jehe noch immer fein blafjes Gejicht mit den 
hellblauen Augen, die jo jtarr hervorlugten hinter einer 
großen jchiveren, in Horn gefaßten Brille, die immer von 
jeinem Nafenrücen heruntergleiten wollte und die er 
iwieder, und zivar mit dem Handrücen zurücjchob, damit 
er die Gläfer mit feinen blutigen Fingern nicht bejchmuße. 
Seine Erjcheinung hatte etwas Gejpenjtiges, Grabentitie- 
genes. Seine Stimme, von öfterem Hujten unterbrochen, 
flang jo heijer. ES hieß, daß jeine ungejunde IThätigfeit 
ihn zu Grunde richte. Und dejjenungeachtet fleißig und 


[4 


Erite Buch. 19 


thätig zu allen Stunden! Welcher Eifer im jelbjtändi- 
gen Forjchen! Welche Plage mit den jungen Leuten, und 
wie er ji Mühe gab, uns alle zu tüchtigen Scolaren 
beranzubilden! Sch glaube, nur der ärztliche Stand bildet 
fo edle, enthufiaftiich aufopferumngsvolle Ausnahmsnaturen... 

Und dennoch gab es nur Einzelne unter den Zus 
hörern, die ihm mit aufrichtiger Aufmerkiamfeit folgten. 
Zu denen, die Alles jchon im Voraus begriffen, gehörte 
mein Freund Mar Schlefinger, der jpäter die publicijtijche 
Laufbahn ergriff, und mein Freund Bernhard Brühl, der 
heute in Wien eine Brofefjur für vergleichende Zootomie 
beffeivet. Dagegen war für Biele der Secirjaal eine Art 
Cafino, da jie fein Geld hatten ins Kaffeehaus zu gehen, 
im Winter eine Wärmejtube. Unberührt vom furchtbaren 
Ernjte der Umgebung, war ihnen die Bejchäftigung mit 
den Todten eine todte Bejchäftigung. Wie oberflächlich 
it Doch die Mehrzahl der Menjchen! Bon allen Gedanfen, 
die Hamlet Durch den Kopf gehen, wenn er den Schädel 
des armen Yorif in die Hand nimmt, Gedanken iiber die 
Bergänglichfeit und das Elend des Lebens, fan ihnen 
fein einziger in den Sinn! 

Auch ich, ich fürchte es, gehörte zu denen, die fich 
auf Nembrandts Bild etivas im Hintergrunde halten. 
Kann man es ihnen eigentlich jo jehr verdenfen? Es gibt 
Menjchen, die vor dem Todten und Berwejenden zurüc- 
beben, und, ich merkte jchon, ich zählte zu Diejen. 
Und doch Hatte ich mir die Medicin als Lebensberuf 
gewählt. Aber ich dachte: die Mediein ijt eim ganzer 


BB ri Ze Fan Brad ran 


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4 ha in ya 


großer Organismus, theils von fie begriindenden, theig 


von Hilfswifjenschaften. Manche davon find abjtofend 


und fordern eine große Selbjtüberwindung, manche find 


Ihön. Daß ich mir die Chirurgie oder die pathologiiche 


Anatomie zum Lebensberuf nicht wählen werde, wußte 


ich jchon; wie aber, wenn ich mich untertvegs auf einen 


der erfrenlicheren Felder anfiedelte? Was fann inter- 


ejjanter jein, als Arbeit auf phyliologiichem Gebiete? 


Der auf dem der Chemie? Der glüclichite aller Menfchen 
erichten mir ein Brofejjor der Botanik mit feinem Mifro- 
jfop und jeinem Häuschen inmitten eines großen bota- 
nischen Gartens. . . . 

Sollte ich mich jchlieglich doch der praftifchen Mediein 
zutvenden, jo jchien es mir nicht jo übelgerathen, dem 


Beiipiel meines Vaters zur folgen und Badearzt an einem 
h ö 


großen Gurort zu werden. Es ijt eine internationale 
Thätigkeit. Jeder Sommer bringt uns mit interejlanten 
Berjönlichkeiten in Berührung. Und nach vier Monaten 
Braris hat man acht Monate Ferien, jich feinen indivi- 
duellen Studien oder Liebhabereien zu widmen. . . . 
Es war eine oberflächliche und dilettantiiche Auf- 
fafjung einer schweren, gewwichtigen Angelegenheit. . . . 
Bom großen Carolingebäude, ziwiichen der Eifen- 


gaffe md dem Dbjtmarkft gelegen, gehörte der ganze 


rüchwärtige, auf zwei Höfe gehende Tract ung Medieinern. 
Dort war das chemifche Laboratorium, der Lehrjaal der 
Chemie, wo Brofejfor Nedtenbacher, ein Schüler Juftus 
Liebig’S, waltete, dort die Anatomie, das anatomische 


Erites Buch. sl 


Cabinet, und im zweiten Stode die PBrivatwohnung des 
Anatomie-PBrofejjors. 

Alles hatte hier jeine eigenthümliche Phyitognomie, 
die zur Umgebung jtimmte, alles, bis auf die dienenden 
Berjönlichfeiten. Da war der „Leichendiener“ Andres 
(Andreas) ein jtarfer, breitjchultriger Mann mit einem 
Stierfopfe, immer polternd, immer mürrich, und nur 
durch Geldjtücde zähmbar.. Er war jehr gejchiet im 
Sfeletifiven und trieb eimen, wie es hieß, jehr einträg- 
fichen Handel mit Schädeln und ganzen Sfeleten. Trat 
man in jeine ebenerdige Wohnung, traf man ihn meijt 
mit einem Schädel zwilchen den Sinteen, bejchäftigt, das 
Hirn mit Bincetten, Drähten und umgebogenen Lörfeln 
herauszubefördern und die noch anhaftenden Sehnen mit 
Icharfen Mejjern sorgfältig abzupugen. Vor ihm auf 
einent niederen Tijche jtanden allerhand Gläschen, welche 
Säuren zum Entfetten enthielten und Töpfe mit weißer 
Peifenerde. Im dunklen Winkeln jah man größere und 
fleinere, mit Waller gefüllte Bottiche, in welchen Kör- 
pertheile und ganze Leichen macerirt wurden. 

Das zu diefer Arbeit verwendete Material be= 
‚309g Herr Andres aus dem Strafhauje, und Diejer 
Umstand gab Einem von uns, der jchon damals ein 
eifriger böhmijcher Patriot war, der erjte, der mir bisher 
vorgefommen war, häufig Anlaß zu bitteren Stlagen. 
„Da jehe nur Einer,“ pflegte er zu jagen, „was diejer 
Kerl uns armen Gzechen für Unheil bereitet! Stein 
Deutjcher Fünnte mörderijcher an unferer Ehre handeln! 

Meißner, Gejhichte meines Lebens. I. 2. 6 


82 Geichichte meines Lebens, 


Die Köpfe, die ev präparirt, gehen jammt und jonders 
in die anthropologischen Cabinete nach England, Schott 
fand, Nordamerifa, wo, dem Himmel jer’s geklagt, die 
Phrenologie im Schwunge it, jie werden in öffentlichen 
und Brivatiammlungen aufgeftellt. Die Leute dort beriick- 
fichtigen nicht, woher Andres die Köpfe hat, jte betajten 
fie al types of the chech race und finden allerlei 
abjcheuliche Budel, Organe des Diebsfinnes und der 
Mordluft. Die Folge davon it, daß fie Ddenfen, wir 
Höhmen trügen alle jolhe Budel herum. Welch” Ver- 
hängniß liegt doch auf uns armen Slaven! Ein Menjch, 
jelbjt ein Gzeche, ein Sterl, der jelbjt nur gebrochen 
deutjich Ipricht, bringt uns in Weißeredit, jchlägt ung Die 
ärgiten Wunden! Cinmal habe ich ihm zu Gewifjen 
iprechen und von jeinem verderblichen Handeln abbringen 
wollen. Aber dabei bin ich jchön weggefonmen!“ 

Die Leichen zu reinigen, jie die Treppe hinauf 
zutvagen, die Ueberrejte zu entfernen, und die Tijche 
abzuvajchen, das alles jtand natürlich unter Herrn Andres’ 
Wirde. Da mußte ihm eine arme Arnverwandte, die er 
zu Sich genommen, aushelfen. Gin erniteres Mädchen 
it mir nie im Leben begegnet. Man durfte jich mit 
ihr feinen Scherz erlauben, faum hatte jie für heitere 
Anveden ein flüchtiges bitteres Lächeln. Ob fie wohl 
einen Liebhaber hatte? Schön war fie und jung genug, 
um gefallen zu können, aber todtenblaß wie ihre Leichen 
umd tvie getjtesabiejend. Sie war, troß ihres Lieblichen 
Gejichts, das traurigite Gejchöpf in diefen Näumen. 


Erite3 Bud. 83 


Was num unjern Brofejjor betraf, einen Gelehrten 
von mehr als europätichem Rufe, dejjen Name für alle 
Zeiten mit dem jeiner Wiljenjchaft verbunden bleiben 
wird, jo war er damals ein Mann von ettva vierzig 
Sahren, dem volles braunes Haar die edelgeformte Stirn 
bejchattete. Er gehörte, wie Franz Liszt, jeiner Abjtam- 
mung nach zu jenem Gejchlecht in alter Zeit aus der 
Gegend von Negensburg ins wejtliche Ungarn eingewan- 
derter Coloniften, die in Ungarn „Heinzen“ heißen, fich 
jelbjt jo nennen und ihr Deutjchthum nach Kräften bis 
heute bewahrt haben. Ein rveizbarer Hypochonder, voll 
Eigenheiten, Launen und Schrullen, die Zuchtruthe des 
jedesmaligen Projectors, fejjelte er jeine Schüler durch 
einen eigentlich jchwer Definirbaren Zauber; die Wer- 
ehrung, die wir ihm entgegentrugen, ging bis zur Liebe. 
War es jein gefeierter Name, der ums jo imponirte ? 
War e3 die merfwirdige Berjönlichkeit, die er jo wirfungs- 
voll im Scene zu jegen wußte? Hatte das blafje Geficht 
mit den jcharfgejchnittenen Zügen, welche unvderänderlich 
den Ausdruck herber Schwermuth feithielten, jolche Magie 
in jich? War’s die Flangvolle Stimme, die uns jo an’s 
Herz griff? Wir jahen ihn eigentlich nur in der VBor- 
(efungsitunde. m Secirfaal erjchien er nur flüchtig; 
Abends, im Winter, wenn es viel „Einläufe”“ gab, trat 
er manchmal zu uns, immer mürrijch, wortfarg, veizbar, 
mujterte ein Präparat, murmelte ein paar halb unver- 
ftändliche Worte und war wieder in fein nebenanliegendes 


Arbeitszimmer verichwunden. 
- 6* 


by eere re u pr a 


Sa Gefchichte meines Lebeng. ET RTEN FR 


War unjer PBrofeffor wirklich ein jolches Original 
von einem Milanthropen, oder war auch das Streben 
dabei, dafiir zu gelten? Darüber habe ich nie zu einer 
jejten Meinung fonmen fünnen.  Fveilich, jolche Bejchäf- 
tigung it nicht dazu angethan, Lebensfreude und gleich- 


mäßige Stimmung auffonmen zu lajjen. Bor Allem 


war er ein Feind jedes, auch des Fleinjten Geräufches, 


insbejondere eines jolchen, welches durch Näujpern oder 


Schnenzen entjtebt. 
Ein jolches Geräufch, nach feinem Ausdruck das 
unanjtändigjte und widrigite aller Geräufche, und doch 


in jeder größeren VBerfammlung beinahe unvermeidlich, 


fonnte ihn bis an die außerjte Grenze des Unwillens 
führen. 

Sein Eintritt in die Vorlefung ging jedesmal mit 
großer Feierlichkeit vor jich, wie um ums vecht zu 


Gemüthe zu führen, daß jedes Wort, das wir zu hören 


befommen twiürden, Gold jei. Nachdem die Glode die 
Stunde angezeigt hatte, pflegte Andres als Vorläufer zu 


ericheinen umd auf eimer jchwarzen latte die für den 


Tag erforderlichen Präparate, zierlich ausgelegt, nebjt 


Mejjfern und Pincetten zu bringen. Cinige Minuten 
tiefjter Stille und gleichjam inmerlicher Sammlung ver | 
gingen. Nım trat der Crwartete ein, eviwiderte das 


Aufitehen der Zuhörer ftumm mit raschen, leichtem Kopf- 
nicen, stellte fich) vor den Tifch, die Arme vechts umd 
links aufgejtemmt umd jah zuerjt, ohne fich zu vegen, Die 


Präparate aus der Ferne an. Wohl fünf Minuten ver 


Erfted Buch. 85 


gingen. Damm nahm er Ddiejes oder jenes Object in die 
Hand umd betrachtete es mit eindringlicher Aufmerkfantfeit, 
pie Jemand ettvas anjieht, was ihm völlig neu ift. Die 
fautlofe Stille konnte nicht noch jtiller werden. Wieder 
vergingen einige Minuten. Der feterlichite Ernit lagerte 
auf dem Gefichte des Gelehrten. CS lag etwas tragisch 
Wirdevolles, unausiprechlich Feierliches in diefem lang- 
jamen Borgeben, in diejen berechneten Bomp eimleitender 
Eeremonien. So jprach jich das volle Berwußtjein eines 
Hohepriejters der Wifjenichaft aus. ES machte einen 
unbejchreiblichen Emdrud. Wir fonnten e3 gar nicht 
erivarten, bis die Lippen, auf welche ler YUugen 
gebannt waren, jich endlich zum Worte öffneten... . 
Schließlich öffneten fie jich doch. Hyrtl beganır, 
mit wunderbarer Klarheit und PBrägnanz den Gegenjtand 
der heutigen Demonstration vorzulegen. Höchjte Aırichau- 
fichfeit und Deutlichfeit fein Ziel. Allmälig belebte jich 
der Bortrag und wußte den jcheinbar trodenjten Gegen- 
ftand Leben abzugewinnen. Hyrtl hatte ja alle Aıutori- 
täten twie lebendig um fich. Bald wiürzte er die Nede 
mit wörtlich angezogenen Gitaten aus alten Autoren. 
Bald wirkte er poetiich, indem er ein glückliches Bild 
brachte, bald humoriftiich, wen ev einen grotesfen Jrr- 
thum der guten Alten anführte. So laujchten wir denn 
in tiefiter Stille — doch jelten erlebte eine WBorlefung 
ihr natürliches Ende. Geftel e3 einem  jchadenfrohen 
Gnomen die Naje oder die Luftröhre eines Zuhörers 
mit einem umfichtbaren Orashalm zu fißeln umd der 


“ N b Bi, ar, 
ud $ ou 3 
. 4 


N 


Gefghichte meines 2eb 


Unglückliche niefte oder hüftelte — jo war alles aus, 


Der Profeffjor warf Stalpell und Präparat bei Seite 
und wäre, wenn die Borlefung noch faum erjt eine 
Viertelftunde gedauert, um feinen Preis zu bewegen 
- gewejen, den abgerifjenen Faden feines Vortrages wieder 


anzufnüpfen. Er ging davon. Der herbe, vorwurfs- 


volle, an allem Menjchlichen verzweifeinde Bi, mit dem 


er den Hörjaal verließ, fuhr durch jedes Herz. 


Wir hätten den Collegen, der das Verbrechen zu 
niefen oder zu huften begangen, gleich zu Boden jchlagen 


mögen! 


al 


Dennoch gab es im Laufe des Jahres Tage, an welchen 


° fich der Eenft md die Wirrde des Vortrags noch höher 


iteigerte. ES waren die Tage, an denen der Profejjor 
bei den großen Centren des Lebens, den großen Gegen- 


ftänden feiner Wiffenfchaft, anlangte. Es ift geradezu 
unbejchreiblich, wie er umd im welchem Tone, nachdem | 


er uns das Wiljenwerthejte über das Gefägiyiten voraus- 


gejchickt, endlich eines Tages fagte: „Das Herz! Cor!“ 


Sp wurde jede Vorlefung als Weiheitunde aufgefaßt. 


Dder, nachdem. ev mit den peripheriichen Nerven fertig | 


getvorden, vor jich auf dev Platte eine ovale von Win- 


dungen durcchzogene Mafje betrachtend, endlich jagte: „Das 
Gehirn! Cerebrum, Encephalon !“ ; 

Die Anatomie, die unjer Profeffor bei jtets ver- 
ichlofjenen Ihren trieb, jtand natürlich Himmelhoch über 


die, die er den Schülern tradirte. Jhn interejjirte jegt 


nur noch die vergleichende Zootomie und zwar die von 


Erjtes Bud). 87 


Gejchöpfen, die uns völlig unbefannt waren und deren 
hochromantische Namen, wenn ich ihrer gevdenle, heute noch 
merkivürdig auf meine PBhantafie wirken. Lepidosiren 
paradoxa, eryptobranchus japonicus, Gymnarchus und 
Mormirys hießen die winderlichen Gejellen, die ihn der- 
maßen bejchäftigten, daß er ihre abnorme Structur jpäter 
un elegant gejchriedenen Monographien vor einer exelu- 
jiven Gelehrtenwelt erläuterte. 

Eine andere Lieblingsbejchäftigung Hyrtl’S war die 
Herjtellung zierlichev Gehörapparate, wunderbarer ana- 
tomischer Filigranarbeiten, fajt nur mit der Loupe zu 
würdigen, und die Herjtellung von njeetionen verjchie- 
dener, mit den feinten Bapillarnegen ausgejtatteten Organe. 
Er hatte die verjchiedenten farbigen Flüfligfeiten auf- 
gefunden, die in die engjten Verziveigungen drangen und 
dort allmälig erjtarrend, die teten Gapillaren zeigten. 
Sp erwarb er ich Berdienjte um die feinere Anatomie 
und um den technijchen Theil einer Wifjenjchaft, in der 
bereits alles entdeckt zu fein Scheint. Wollte er ung ein- 
mal bejonders wohl, jo fündigte ev uns nicht ohne Form 
lichkeit au, daß er uns „zu bejonderer Augentveide” ei 
‚Präparat zeigen wolle, twie jelbes noch fein anatomisches 
Cabinet der Welt aufzuweien habe. Er pflegte damı 
von den grotesfejten a Objecten zu behaupten, 
daß jie „den Bondoirtiich jeder Dame jchmiücen würden 
und einen Bla auf demjelben verdienten“. „Dieje Ob- 
jeete,“ fügte ev dann schwunghaft Hinzu, „haben ja auch 
den Werth von Jurvelen !“ 


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35 3 ; Gefchichte meines Lebend. 


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Der „Mann der Leichen und der Bücher“, wie Na 
fich jchon damals nannte, war immer unnahbar, terre 
und ernjt, aber er hatte zumweilen Humoriftiiche Anwand- 
Yungen, die bei feiner jonjtigen Weife um jo frappanter 
wirkten. Nur ein Beispiel davon. srael war unter ung 
ftarf vertreten und wir hatten neben den in Prag jtarf 
verbreiteten Bebeles, Fledeles, neipeles und Jeiteles auch 5 
einen Collegen Jernialem. Als num diejer in der Semeftra® 
prüfung Unglüd gehabt hatte, trat der Brofejlor Tags 
darauf mit geotesfer Trauermiene in den Saal, jhlug 
nach der gervohnten langen Bauje die Hände zujammen und 
rief Elagend: „Weine, Jsrael, weine. Zerreiße deine Kleider, 
bejtreue dein Haupt mit Ajche. Ferufalem it gefallen! 

sa, der Mann, der mit Timon von Athen jagen 
fonnte: „mein Name ift Mifanthropos“, war auch humo- 
riftischen Anvandlungen zugänglich. Wir aber waren der ® 
Ansicht, daß SJerufalem haben fallen müffen, um dem e 
Brofejjor Anlaß zu diefen Wiße zu geben. e 


- Lauten rt. 0 ee ILL I DAT EAT I LTL rn. EI 
Se u nn non on ne zer 


XII. 


Profeffor Redtenbacher. 2 Das verjchloffene Simmer. 


Im zweiten Jahrgang der Mediein hatten uns Chemie 
und Phyliologie ganz in Anspruch genommen. 

Brofefjor Nedtenbacher, unlängit als Profejjor der ” 
Chemie nach Prag berufen. evjchten mir als ein Phäno- 


Erftes Buch. 39 


men. Eine ähnliche Beherrichung des jchwierigiten Stoffes, 
wie fie ihm zu eigen war, it mir nie wieder vorgefom- 
men. Er erichten, ein Weltmann durch und durch, im 
modernjten Anzug und wußte-jpielend, in einer Art Ueber- 
muth der Genialität die complicirtejten Nechnungen auf 
die Tafeln zu zaubern, leider auch mit einer Schnellig- 
feit, der zu folgen jehr jchiwer war. Seine Experimente 
wurden mit einer umirrbaren Birtuojität vorgeführt: er 
hantirte mit den hundert Fläjchchen auf dem Tijche, tie 
etwa Thalberg vor jeiner Claviatur. E3 war etivas Kal- 
tes, aber auch etwas unendlich Ueberlegenes in der Art 
und Weije diejes.noch ganz jungen Mannes, eines Lieb- 
fingsichilers Jultus Liebigs. Er it der Willenjchaft 
vorfrüh entriffen worden. 

Die Phyiiologie lag in Hyrtl’s Händen. Handbucd) 
war uns Johannes Müller. Doch die alte Tradition 
verlangte damals noch lateinischen Bortrag der Phyfio- 
logie. Hürtl fügte jich diefer objoleten Anordnung, Doch 
nur jcheinbar, indem er zwiichendurch Prolegomena latei- 
nisch vortrug. Er liebte es, ein Cicero medieus, mit 
jeinem clafjiichen, an Antonio Scarpa und Andreas Bejal 
genährten Latein zu prumnfen. 

Sch wüßte gerne, wie jich der große Hyrtl jeitdem 
zu Darwins Descendenz- ıumd insbejondere Selectiong- 
theorie gejtellt hat. Damals jtand er fejt auf teleologiichem 
Grunde. Die Frage: zu welchem Ziwede it dies? wurde 
immer gejtellt. Sch habe von diejer früh aufgenommenen 
Anschauung nie (osfommen fünnen. ch kann den Be 


der he A Ya u ER a a et 


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Gefchichte meines Lebens. en 


griff des Zivedes, eines mir unentbehrlichen Fundamental 


begriffs, nicht entjagen, mag ihn die neuere Wiffenschaft 


immerhin als veraltete Hineimdichtung verdammen. Wie, 
von Himdert anderen Crjcheinungen nicht zu veden, auf 
dem Wege der bloßen Anpafjung ein augenlojes Gejchöpf 
lich im ein mit Wugen verjehenes verwandelt, oder tvie 
durch zufälliges Saugen eine einfache Hauttalgdrüfe fich 
in eine jolche umbildet, die dent Neugeborenen feine zweck 
mäßige Nahrung jpendet, dies und Humnderterlei anderes 
it mir bis heute umauffindbar geblieben . 


Inzwijchen war umfer Profector, jonft der offenite, 


treuherzigite Menjch auf Gottes Erde allmälig eine väthjel- 
hafte Berjönlichfeit geworden. Es nahm feinen Anfang 
damit, daß von den beiden Zimmern, die er bewohnte, 


eines jebt jtets dverjchloffen blieb und der Hausherr jenen | 


Befuchern gegenüber behauptete, ven Schlüfjel verloren zu 
haben. Aus dem Zimmer heraus roch eS aber jo jelt- 
jam .... Es waren feine anatomijchen Gerüche, vie- 
mehr, jeltjam genug, der Duft von Harz und Weihrauch. 
Um diejelbe Zeit ereignete e8 fich, daß ein Fremd, 
Dr. Lindblatt, als er den Tabafsbeutel fuchte, zufällig 
des Brojectors Commode-Schublade öffnete umd darin 
ziwei Frauenschuhe von carmoisinfarbigen Sammıt, mit 
Gold gejtickt, fand. Der Schnitt derjelben war wunder- 
lich, Ichiev wie aus der erjten Zeit des deutjchen Mittel- | 
alters. Das Näthiel verwidelte fich. „Was it das?“ 
fragte der Freund. „Du beherbergit doch nicht etwa im 
verjchlojjenen Zimmer eine aftatiiche Prinzeffin ?“ 


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Erjtes Bud. 91 


„Dummes Zeug!” eviwiederte der PBrojector Leicht 
erröthend. „Sieht Du denm nicht, daß diefe Schuhe, 
 trogden fie wie neu ausjehen, uralt jind?“ 

Es war wirklich jo. 

„Bit Du etiva Antiquar geworden ?* 

„And warum nicht? Du jammeljt alte Bilder umd 
hängit jie mit berühmten Namen darunter in Deinem 
Zimmer auf. Warum joll ich mich nicht für altes Eojtüm 
interefliren ?* „Sieh,“ jagte er, mdem er die Schublade 
twpieder öffnete md einen jorgfältig vervahrten Gegenfland 
herausmahm, „da habe ich auch ein jchönes, weit atlaß- 
nes ücchen.“ 

- „Wahrlich, es jteht wie das „Kirjit“ einer deutjichen 
Edelfrau zu Gottfried von Straßburgs Zeit aus,“ jagte 
Lindblatt. „Doch es kann ja auch ein Stück aus einer 
Theater-Garderobe fein. — Du wirft doch nicht em 
Dänhen auf den Masfenball Führen wollen ?* 

Der Anaton jchüttelte den Kopf auffällig und brachte 
das Gejpräch auf andere Dinge. 

Bald nachher jah eimer von ıms, der zufällig in 
eine Kirche getreten war, zu feiner größten Weberrajchung 
mern Freund im Gejpräch mit dem Pfarrer des Spren- 
gels. Was war das! Wollte der Gelehrte heiraten ? 

Doch Wohl nicht gar die abenteuerliche Berjönlichkeit, der 
die altdeutichen Schuhe und die Atlasjade gehörten ? 
Wieder ein anderer traf den PBrofector in einem Slojter- 
hofe in eifriger Unterredung mit mehreren tweißberodten 
geistlichen Herren. Unbegreiflich! Neigte er, jüngjt noch 


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vr a de ’ 


92 Gefhichte meines Lebens. 


ein entjchievener Naterialift, zum PBietismus? Nım erhielt 
er Einladungen zu diefer und jener Kloftertafel. Man 
Itußte, man zerbrach fich den Kopf. 

Wochen vergingen. Warum war jegt zu jeiner 
Wohnung der Zutritt jo schwer zu erlangen? Warum 
meldete er fich exit, nachdem man lange geklopft und er 
ih nach dem Namen des Befuchers erkundigt? Was 
iparen das für Männer, denen em Freund jpät Abends 
auf jeiner Treppe begegnete ? Sie trugen einen mit einem 
großen Tuch bedeeften Gegenjtand und jchafften ihn mit 
großer Vorficht hinauf. ES jah aus wie ein Sarg, aber 
dabei Flirete eS wie von vielen Fenftern. Der Projector 
fam mit dem Lichte in der Hand aus der halbgeöffneten 
Thür hervor und jagte wiederholt: „Schon da? Nr 
jachte — und Acht geben — Acht geben!” Darauf ver- 
ichivand das Ding, das einem Sarge glich und unter 
dem bededenden Tuche twie lauter Fenjter Elirrte, in des 
Brofectors Zimmer; er jelbjt aber antwortete dem Be- 
fucher, der auf der Treppe ftehen geblieben war und ihn 
fragte, was man ihm da bringe? „Nichts, was der Mühe 
lohnt, daß man davon spricht! Gute Nacht! Kommen 
Sie gut herunter.“ Und damit war er verjchwunden. 

Kein, hiev handelte es fich augenjcheinlich um große 
Seheimnilfe. Fedoch, wie mit der Zeit jo Bieles an den 
Tag fommt, jo auch hier. Unfer Freund Hatte jich auf 
einen Ziveig der DOjfteologie getvorfen, welche man viel- 
leicht — wenn der Ausdruck nicht allzugewagt ericheinen 
jollte — religiöje DOfteologie nennen fünnte. Die Sadıe 


Erftes Buch. 93 


verhielt ji jo: von einem Durchreifenden berühmten 
Urzte, der mit einer Gejellfchaft die Domficche und die 
auf dem Hradjchin gelegenen Kirchen bejichtigte, jollte 
bei einem Neliqguienjchrein die Bemerkung gemacht worden 
jein, der darin veriwahrte Heilige habe zivei rechte Schenfel- 
beine. Diejfe Bemerkung war höheren Berfüönlichkeiten 
und Schließlich dem Cardinal-Erzbifchof zu Ohren gefont- 
men. Daß mit Reliquien nicht alles jo bejtellt ijt, wie 
es jein jollte, it eine nicht zu leugnende Thatjache. Nicht 
nur, daß gewilje heiliggejprochene Berjonen, welche um 
zweifelhaft nur einmal gelebt Haben, im Neliquienzujtande 
mehrmals vorkommen; es weifen auch Heilige, die fich 
im Leben blos der normalen Anzahl von Gliedmaßen 
erfreuten, im Neliquienzuftande einen Weberfchuß von 
Gliedmaßen auf. Es ijt damit fajt twie mit den Nägeln vom 
Kreuze Ehrifti, von welchen die Kirchen des Morgen- 
und Abendlandes wohl an Hundert Stück bejisen. So 
fommen 3. B. drei Arme der heiligen Anna, drei Arme 
der Mutter Maria vor — in Köln, Nürnberg und Rom 
— und Arme des heiligen VBitus find in Siena umd im 
Dom zu Bamberg verwahrt, ohne daß darum, wie man 
vermuthen möchte, dem Leibe Ddiejes Märtyrers, Den die 
Prager Domkirche in ihrem Schooße verwahrt, irgend ein 
Arm mangele. Es ijt aber auch motorisch, daß in der 
Anordnung und Aufjtellung beiliger Ueberrejte manches 
jeltjam und problematisch erjcheinen muß, jo daß Ana- 
tomen von Fach darüber den Kopf jchüttehn. Genug, 
die Bemerkung des durchreifenden Arztes hatte jtarfe 


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einen Fachmann und theilweife Reparatur für nöthig 


 fiches Arbeiten, die VBorfindung der jeltjamen Schuhe, 


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Sejchichte meines Leben. 0075 


Bedenken wachgerufen, jo daß man eine Nevifion des 
gefammten Heiligenmaterials, eine fritiiche Prüfung durd) 


gehalten hatte. Nimm erklärten jich des Herrn Profectors 
Kirchenbejuche, die Einladung zu Klojtertafein, jein heim- — 


die alterthümfichen Gewänder in dev Schublade und der 
geheimmißvoll Heraufgeichaffte Kajten, der wie ein Sarg 
ausjah und wie ein Fenfter flirrte. .... 

Der Mann von Kraft und Stoff reparirte eine An- £ 
zahl Heilige. Es läßt fich nicht anders annehmen, als 
daß er die heiflige Aufgabe mit gewohnter Gejchieklichteit 
und der Sachkunde des Gelehrten Löjte. 


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RE, 


> Poefie der Serien. -— Sr. Chopin. — Celejite. 


Koch nie hatten mir die Ferien in Karlsbad jo 
wohl gemundet. „Yon morgen an,“ jagte mein Vater 
zu mir, als er vom Brunnen heimfam, „wirt du Tanz- 
jtunde haben. Ich habe eben mit Madame B....&fa 
gejprochen. ES ijt ein franzöfiicher Tanzmeijter in Karls= Pr: 
bad eingetroffen umd gibt der Fleinen Celejte und noch | 
einem paar ihrer Freundinnen Unterricht. Du jolit 
daran theilnehmen, e8 wird dir zu jtatten fommen. Du 
bijt jchreeklich ungelent und unbeholfen.“ ch hätte bei 


P} 


Erjtes Buch. 95 


diefer Nachricht gleich vor Freude tanzen mögen. Wer 
war glücklicher als ich! Ih fannte jchon längit die zier- 
fiche Gejtalt vom zartejten Bau, mit den goldglänzenden 
Haaren, den tiefbraunen Augen, dem Lieblichen Munde, in 
der Iinfen Wange ein Grübchen, das fich bildete, wenn ein 
Lächeln über ihr Gejicht flog. Mit zwanzig Jahren weiß 
ein Student Schon recht gut, wenn Mädchen hübjch find. 
Cefejte jchien mir das reizendite Kind, das ich je gejehen. 

Als ih am andern Morgen mich zu Madame 
B....sfa begab, fand ich neben Gefejte noch drei 
andere junge Damen, gleichfalls PBolinnen. Da war 
Fräulein Wanda, eim bildjchönes Kind von  jechzehn 
Fahren mit rabenjchvarzem Haar und gleichen Yugen, 
Fräulein Ja, eine jtille, Kiebenswürdige Blondine, die 
Anmuth und Bejcheidenheit jelbit, endlich eine drollige 
Kleine, deren Namen ich vergejien habe. 
| Und der Profejfor der Tanzfumft stellte fich vor, 
ein Fleines, uraltes, verwittertes Männchen, in feinjten, 
Ihwarzen Anzuge, mit grauem Haar, pedantijch troden, 
der echte Franzöfiiche Tanzmeister. Nach einem feierlichen 
Schweigen, das als Vorbereitung gelten follte, erhob er 
ih langjam auf jeine Fußipigen und eröffnete uns jeine 
Abficht, uns in das Geheimniß eleganter Bertvegungen ein- 
zuweihen. Wir mußten uns in zwei Neihen aufjtellen, 
er zeigte uns die Bofitionen und forderte uns auf, ihm 
allerlei Pliez nachzumachen. 

Monfienr Gaillard hatte auch eine ganz Fleine Geige 
bei jich, eine Tajchengeige, die längit verichollene Bochette, 


96 Befchichte meines Lebens. 


der er mit dem Fiedelbogen dinne, grelle, häßliche Töne 
entlodte. Er jpielte uns die erjten Tacte einer Gavotte 
vor. Bis diefe aber getanzt wurde, dazu war es noch 
weit hin. ES galt, die Kumnjt in ihren Principien zu 
erfaffen. Eine Erklärung der Außftellungen, langjamere 
und elegantere Kriebeugungen, Verjuche feierlicher Come 
plimente füllten eine ganze Neihe von Stunden aus. 
Sp mancher Jüngling hat fich bei Tanzjtunden jein 
Herz verbrannt; jo ging e8 auch mir. Gelejte war, als 
die Felleln der erjten Befangenheit gelöft waren, mir mit 
einer Dffenheit und Liebenswirvdigfeit entgegengeflogen, 
als jeien wir jeit Jahren gute Bekannte. Weniger Adels- 
jtolz als fie fonnte man nicht haben. Sie war ganz 
findliche Dffenheit, ganz Schelmerei, ganz argloje Unbes 
fangenheit. Sie fonnte Kreuz und Uuerfragen stellen, 
ichwagen, tändeln, lachen und fie hatte ein Gefichtchen, 
eine Art, einen Ton, Alles zu jagen — ich hätte gleich 
am erften Tage im Uebermaß der Hingerifjenheit vor ihr 
niederjtürzen und ihr jagen mögen, daß ich jte liebe... 
Nur allzubald gejtanden tiefe Seufer, glühende 
Blicke, vertohlene Händedrücde und dergleichen Zeichen der 
(autlojen Liebesiprache eine Glut, die int gepreßten Herzen 
nicht mehr zu bewältigen war. Es wurde mir ermuthte 
gende Antwort zu Theil, aber eine jchiweigende nach 
Mädchenweife. Seitdem ich ein gewiljes Band, eine 
gewviffe Haartracht gelobt, erichien Celejte immer mit der= 
jelben. Das ift der Selam der jungen Meäpchen, die 
damit bedeutungsvoll jagen: Ya, ich will div gefallen! 


: Erjtes Buch, 


Er Meiter Gaillard trieb noch immer jeine Kinjte mit au 
3 uns. Die vier jungen Damen mußten vor ihm auf und £ 
Re niederichtweben gleich den Horen, den Homer’ichen Luft- Rn 
B und Windgöttinnen, den Pförtnerinnen des Hinmels, 
„bon denen alle Reize des Frühlings kommen“ ; ich aber 
war deren umngelenfer, unmythologiicher Begleiter. Den 
erjten Theil der Stunde füllte noch immer die Webung 2 
£ = der fundamentalen Berwegungen aus: „Allons mes- ? 
demoiselles!“ md er hob ich auf ven Spißen jeiner Zehen, BE 
während er einen freifchenden Strich auf feiner Geige 5 
machte. Und mn galt es, fich vorwärts, feitwärts und 
in der Diagonale in gejchleiften Schritten zu beivegen. 
Dft hatten wir lange Zeit in den jonderbariten 
— Mofitionen auszuharren. Meifter Gaillard hielt Nevue. r 
Die jungen Damen hatten ihre Nöcde hoch aufzufchüirzen, 3 
daß die netten Eleinen Füßchen bis über die Knöchel 
fichtbar wurden. Nım jchritt dev Meifter hinter die Front. 
Wenn ihm die Haltung einer nicht gefiel, legte er die 
fleine Geige bei Seite und drüdte der Huldin die Schulter- 
blätter jo aneinander, daß die vordrängende Brujt das ; 
Kleid faft fprengte. Daritber verfiel ich nicht felten mn 
zeritreutes Nachdenken, jo daß ich auf einem Flecde jtehen = 
blieb und meine Pas zu machen vergaß. „Nım Muth, 
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= Muth! Nicht verzagen!” vief Meifter Gaillard.  „VBor- 
| wärts! E3 wird jchon gehen. . . Wir werden auch aus 
= Sshnen allmälig einen Menjchen machen! Fortgejeßte 
Ae vermag jelbjt einen Kos in einen Seraph um- 


zufchaffen !“ 


Meifner, Gejgichte meines Lebens. I. B. 7 


Geichichte meines Lebens, 


sm zweiten Theile der Stunde wurde dann der 


Uebergang zum Menuett gemacht, wir rückten in demjelben, 
pie wenn es einen jchweren clafjiichen Autor gälte, in 
jeder Lection um ein paar Tacte vor. 

Doch was waren mir jegt diefe Stunden ! Erjt wenn jte 
vorüber, ging für mich das Leben an. ch war num in die 
Zahl der guten Bekannten getreten und durfte nach jeder 
Section eine Zeit lang bei Celejte und ihrer Weutter verweilen. 

Madame BD... . Ska, jeit Jahren Witwe, war 
eine noch wohlerhaltene Frau in der Mitte der BVBierzig. 
Sie war zweimal verheiratet gewejen; Gelejte war ihr 
Kind aus erjter Ehe: ir beiden Ehen, hieß es, habe 
fie traurige Erfahrungen gemacht; ihr erjter Gatte, Graf 
.. ... fi, war ein Spieler, der zweite ein Trunfen- 
bold gewejen. Sie hatte ein urjprünglich großes Ver- 
mögen allmälig eingebüßt, ihre Güter waren ihr abhanden 
gefommen, dejjenungeachtet war fie noch voll Lebenstuft 
und fonnte ohne Gejelligfeit nicht bejtehen. 

Bei Gelejte’s Erziehung war, wie ich es jeßt einjehe, 
von Unterricht nie viel die Nede gewejen. Wifjenjchaften, 


Sprachen, Künjte — über die hatte fie ich) wohl nie den ; 


Kopf zerbrochen. Sie Hatte nie etwas fyftematifch gelernt. 
Sranzöfiich jprechen, etwas weibliche Arbeiten, eim Elein 
wenig Piano und Zeichnen — das war alles. Und doch 
bejaß Tie Talente — Talente, deren jte jich allerdings 
faum bewußt war. 

Sie hatte ein ausgejprochenes fünjtlerisches Element 
in jich, das ein gejteigerter Schönheitsjinn war. Wie 


 Erfied Bud. 


wußte fie in den beiden Zimmern alles malerifch und 


 poetifch zu ordnen und zu gruppiren, daß es darin gar 


ä nicht wie in einer Miethswohnung ausjah! Mit den 
Epheuranfen umd Schilfrohren, mit den Feldblumen und 


Pe 


wußte fie die bizarriten Decorationen zujanmenzuitellen. 
Ueberall waren Blumen angebracht. Und unter Diejen 
Blumen bewegte jie lich langiam, wie ein etivas müde 


2 


E Gräjern, die fie von ihren Spaziergängen heimbrachte, 


Falter. 
Sie war eine Träumerin und hatte eine eigenthims 
Küche Trägheit in ihrem Wejen, die twie phyfiiche Ermüdung 


.:  ausjah. Stundenlang lag jte auf ihrer Camjeuje mit einem 


Be 


E Und was fie für eine Langichläferin war! Täglich ver 


% 
” 


Buche in der Hand und träumte jo hin mit großen, weit- 


E geöffneten Augen. Märchen, Sindermärchen, die von 


- Bringen und Feen erzählten, waren ihre Lieblingslectüre. 


 Äprach fie, an andern Morgen vecht früh aufzuftehen umd 


A 
Ei 
Er 


an den Brunnen zu fommen, immer wieder hatte fie ver- 


ichlafen. 
„Ach, ichlafen ijt jo jüß,“ sagte jte, wenn ich ihr 


E Vorwürfe über ihr Nichtericheinen machte. „sch habe 


E: jo wunderjchöne Träume, bejonders gegen Morgen. Da 


4 


a  jehe ich alles, wovon ich tagüber in meinen Märchen- 
büchern leje. BZanft mich nur nicht aus; es ijt jtärfer 
Bals mein Wille”... ... 


Die Mutter jtellte jih mun, als ob fie jchmolle, 
brachte e$ aber nicht zu Wege. Celejte war ein ver- 


_ wöhntes Kind und konnte thun, was fie mm mochte. 


3 
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100 „ Gejchichte meines Lebens. 


Einmal war bei Madame B... . Ska große Soiree. 


Frederic Chopin war in Karlsbad angekommen und twurde 
von feiner Landsmannschaft jehr gefeiert. Er hatte zu= 
gejagt, zu ericheinen. Er fam in der That umd ich hörte 
ihn jpielen, was zu meinen interejjantejten Erinnerungen 
aus jener Zeit gehört. Chopin’s Vortrag war eigenthiim- 
(ich zart und wie mir schien, traumhaft und regellos. 
&3 war, als fehre er fi an gar feinen Tact und an 
fein Tempo, bald jtürmte er vorwärts, bald hielt er 
zuric — jein Spiel machte den Eindrud einer Flamme 
unter einem Luftzuge, Die jest Hoc) aulanımıl, jebt zu 
verlöjchen jcheint. 

Später wurden Die Sk in eimen großen Kreis 
gerückt, eine Dame jeßte fih an’s Elavier, das der Meifter 
verlajjen hatte, die Flügelthiren winden aufgethan md 
herein schwebten, jporenflirvend, zwei Strafujen. Sm 
Tänzer erkannte ich jofort Celejte. Site trug einen blauen 
polnischen Nod, der bis an die Site Hinabreichte, weite 
baufchige Beinkleider umd niedlige rothe Stiefel. Auf 
ihrem goldblonden Haare, das gekräufelt und aufgewicelt 
war, daß es dem Gelode eines Knaben glich, Faß jchier- 
aufgejegt eine blaue Miüge mit vieredfigem Dedel. Ein 
mondjichelförnig gejchweifter Säbel hing von ihrem veichen 
jeidenen Gürtel herab. So jchwebte fie herein bei deit 
Mlängen der Mazurka, ihre Bartnerin, die dımkellodige 


Wanda, an den Fingerjpigen haltend und fie mit Den E 


Biden firirend. ° Sebt führte fie ihre Erwählte im Sreife 
herum — im Ausdrude des Gefichtes ein zartes Schmollen 


Erites Buch. 


über die Zaghaftigkeit der Kleinen, die in ihrer zobel- 
- bejegten Kazawvaifa, ihren niedlichen vothen Stiefelchen, 
ihrer Sammetmüge auch gar lieblich ausjah. est war 
dieje ihr entjchlüpft und Celejte verfolgte fie, mit Den 
glühenden Augen fie feinen Moment freilaffend. Sebt 
endlich Hatte fie die zFlüchtige erreicht, faßte fie und 
Ichwenkte fie um und um in efitatiicherv Luft, während 
die Sporen der Fleinen Füße laut in diefem Jubel mit- 
fangen. D, welcher Tanz! ES war alles da — em 
Muthiville, eine Sicherheit, ein Tragen des zierlichen 
Körpers, ein Werben, ein Liebesdprang — Boejie in jeder 
Bewegung. 

Mir war Sehen und Hören vergangen. Stumm, 
geiftesabwvejend, unfähig ein Wort hervorzubringen, ganz 
Auge geworden, jtand ich da. Erit Meifter Gaillard 
weckte mich aus meiner Verzücdung. „Nett, nett, aber 
eigentlich fein Tanz!” äußerte er. Verächtlich wendete 
ich dem Diefhäuter den Nücden. 

Kur zu bald war alles vorüber. Das polnifche 
Tänzerpaar war verjchtwunden, Alles rücte an Eleinen 
Tischen zum Nachtefjen zujammen. elejte, zum Fräulein 
zurichmetamorphofirt, erjchien wieder. Sie jegte ich mir 
gegenüber, machte an unferem Tiiche die Hausfrau, unfere 
Gläjer Elangen zujammen. Unfer Eimverjtändni konnte 
für die, die neben uns jagen, fajt fein Geheimnis mehr fein. 

An diefem Tage ging ich jelig nach Haufe. Noch 
beim Sortgehen hatte ich den vielfagenden Drucf einer 
Heinen Hand veripürt. Tanz, Wein, Celefte's Liebreiz — 


Händen und meinte, fie müffe zerfpringen. So führe Woher - 


gerüche hatte der Gartenplan noch nie geipendet, jo Lieblich 
hatte ich die Sterne noch nie funfeln jehen. .. ‚Nein, jagte 
ich zu mir, das ift fein Mädchen, das ift ein Engel! 


Aber ach, das Scheiden jtand vor der Thür. Noch 


zwei Tage, dann hieß es: Auseinander! Wer nennt Doch 
die Schwere des eifernen Wortes: Scheiden! Nur eine 
Spanne Zeit gehörte uns noch, und eigentlich auch die 
nicht mehr ! 


sch jah Eelejte ein legtes Mal allen und ergriff 


ihre Hand. ch nannte fie mein Liebjtes auf der Welt, 
ich befannte, daß ich es als das größte Unglück fühle, 
ihr Wohlwollen, ihre Freundichaft, ihre —- nein, ich jagte 
ihr das eigentliche Wort nicht — zu verlieren. Shre 
Augen leuchteten mir entgegen und Be! in Thränen: 
„Wir jehen uns wieder,“ jagte fie. „Nächjtes Jahr, 
gewiß, nächjtes Jahr! Jh Ihwöre —“. 

„Schwoöre wicht,“ jagte ich. „ch will nichts, das 
— Dich bindet. Nichts bejchränfe die Freiheit Deines 
Herzens. Vergiß mich, wenn Du fkannjt. Sch werde es 
für das Härtefte halten, das mich treffen fan, aber Dir 
Nichts suchen. ae" 

„een, feinen Andern,” jagte fie ımd flog an mein 
Herz. Noch bildeten wir eine Gruppe a la Byramus 
und Thisbe, als durch die offen gebliebene Thür Jemand 
eintrat. Es war die Mutter. Sie blieb jtehen und jagte 
im Tone der VBerwunderung, aber doch jehr ruhig: 


Erftes Bud. 


„Sp jteht es zwilhen Euch? . . So? . . . Kinder, 
Kinder, es it gut, daß hr bald auseinander fommt !“ 

Am andern Morgen in aller Frühe war Madame 
BB... . Ska mit ihrer Tochter abgereift. 


ED DwBGDuwGnzDnG GG DB EERETESEISST 


XIV 
Im allgemeinen Kranfenhauje. — Oppolzer. — Profe fforengeichichten. 


Ein paar Monate jpäter befand ich mich auf einem 
ganz anderen Schauplag. ch war die längite Zeit des 
Tages eingquartiert und angeftedelt im allgemeinen Stranfen- 
hauje. Noch oft verjeßt mich ein Traum im das ungeheure 
Haus mit den weiten Sälen, in denen die Strankenbetten 
Durch) Schirme gejchieden, nebeneinander stehen. Sch 
wandle in den hallenden Gängen. Und jeßt aus diejer, 
jeßt aus jener Ihür treten Männer im Gefolge ihrer 
Schüler — fait jeder mit einer charakteriftischen Phy- 
fiognomme — ich erfenne die Züge Derer, auf deren 
Antlig men Blid emfjt mit Berehrung, Achtung, ja 
Andacht geweilt hat. | 

Wohl eine andere Zeit als die heutige! Wer möchte 
behaupten, daß Prag heute noch in der medieinifchent 
Welt gar viel bedeute? Damals aber war es, als habe 
aller wiljenschaftliche Geijt Defterreichs jich in den meDdi- 
einischen Studien concentrirt. Eines großen NRufs vor 
allem genoß die medicinische Hochjchule Prags. Sie 


aan 


Geichichte meine3 Lebens, re 


zählte Männer in ihren Neihen, die in der Wiljenjchaft = B 
tonangebend waren und aus allen deutichen Ländern, aus 
Nupland und der Schweiz famen Schüler herbei, ihren 
Vorträgen zu laufchen. Dieje bildeten, alljährlich fih 
erneuernd, eine Fremdencolonie, die viel jtudirte, viel 
braunes Bier trank und gelegentlich auch viel Lärm 
machte in den melanchofischen Gegenden in der oberen 
Neuftadt, zwiichen dem „Steinernen Tifch“ und dem 
„Windberg“. Die Männer, die damals zugleich oder 
doch rajch hintereinander im diefen Räumen wirkten — 

jei e8 als Profefforen oder Afistenten — werden in der 
Gejchichte dev Mediein ihren Plag behalten. ch nenne nur 

die Namen $. Oppoßer — Pitha — Arlt — Hammernjf 

— Bochdalet — Scanzoni — Sofef Hasner..... 

Die bisher übliche Mediein hatte durcch diefe Männer 
eine vollitändige Umgejtaltung erfahren. Miide des 
Wechjel3 von Syitemen, von denen das eine das andere 
widerlegen will, wollte man Lediglich auf der jicheren 
Balıs der reinen Erfahrung bleiben. Jede aprioriftiiche 
und philojophiiche Speculation war verbannt, man hielt 
fich Lediglich an das, was die fünf Sinne an die Hand 
gaben, drang aber auf die grimpdlichite und alljeitigjte 
Kranfenunterfuchung. CS wurde jehr jcharf beobachtet, 
fait durchwegs mit Zugrundelegung der von Skoda und 
Kofitansty gewonnenen Nejultate. Allerdings, in Bezug 
auf Therapie interner Krankheiten waltete bei ung eine 
arge Skepfis. Man ließ die Sranfheitsprocejje ihren 
Berlauf nehmen und bejchränkte jich darauf, ihre Vers 


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 Heerungen möglichjt einzudämmen. Es gab auch einen 
 erafjen Wideripruch zwijchen der Mafje der Heilmittel, 
die man in der Pharmofologie aufzählen gelernt hatte, 
amd der Zahl derer, die man wirklich anwendet. Mean 
fan mit gar wenig aus, umd die Gegner konnten mit 
Recht jagen, daß die damalige Prager Schule fich bejcheide, 
die Kranken zu beobachten, anjtatt es zu verfuchen, fie 
zu heilen. 

Wir hatten ausgezeichnete Männer an unfjerer Yn= 
ftalt, unjer Elinifcher Lehrer, Profejjor Oppolzer, damals 
+ noch in den Dreigiger Jahren jtehend, überragte jte alle 
an Geift und Berjönlichkeit. Er genoß jchon eines aus- 
 gebreiteten Nuhmes. Seine Lehrgabe war groß umd 
 jelten; jeine Klarheit in der Entwidelung des Lehritoffes, 
fein großer, ja unfehlbarer Blif am Stranfenbette, jene 
=; Pa Würde umd Sicherheit machten ihn zum Vorbild 
eines Arztes. 

B: Er war ganz jeiner Pflicht hingegeben und lebte 
einzig jeinen SKranfen und der Wifferichaft. Zu allen 
jeinen großen Eigenjchaften trat aber als jchönjte Die 
|  Hımanität. Er war den Bedirftigen md Armen wie 
ein brüderlicher Freund und empfand es fait als ein 
e Zugejtändnig und als eine VBerfürzung jeiner eigentlichen 
3 Gemeinde, wenn er an das Bett der Begüterten und 
E — Bornehmen trat. Er jchränfte darımı jeine äußere Praris 
BR jo viel al möglich ein. 

Se Er hatte einen jchönen Fohanneskopf, auf dem ein 
 ernftfeeumdliches Lächeln twie fejtgehalten jtand, ein bart- 


t2 . 
9 nn 


. 


Geihichte meines Lebens. 


(ojes Geficht von blühenden Roth, und trug das dunkel 
blonde Haar fast bis auf die Schultern fallend. Yon jeiner 
Berjönlichfeit ging ein Zauber aus, den Alle enipfanden. a’ 
Sseder Stranfe richtete jich auf, jedes müde Auge begann 
zu leuchten, wenn er in die Nähe fan. 

Er war geradezu bezaubernd im jeinem Umgang 
mit Stranfen, immer gut, ein freundlicher Tröfter, immer 20 
geduldig; fein bariches Wort fam von jeinen Lippen. 5 
srgendwelche Scheu fannte er nicht. Auch der jtärfite 
Grad der Anftekungsfähigfeit einer Krankheit fonnte ih 
von Der genauejten Unterfuchung nicht abhalten. ES 
war graufig und bewundernswürdig zugleich, wie er, als 
ob er gefeit wäre, jein Ohr der Bruft eines am Flle 


typhus Erkrankten auffegte, ruhig die Herzenstöne belau= Ei 


ichend, als ob da feine Gefahr jei. Aber, gut wie er war, 
zwang er feinen jeiner Schüler, es ihm darin nachzuthun. 


Geld Ichien Für ihn feinen Werth zu haben. Jeden 


Nachmittag, bis jpät in die Dunkelheit, empfing er in 
jeiner Wohnung Leute, die bei ihm Hilfe juchten, umd 


nahm von ihnen fein Entgelt für feinen Nath entgegen. 


Waren die häuslichen Conjultationen vorüber, erjchien er 
iwieder zum Abendbejuch auf der Klinif. Sp verging 
ihm Tag um Tag, er fannte feinen Spaziergang, juchte 
feine Zerjtrenung. Cinem Fond für die Pflege erfrankter 


Studenten pflegte er alljährlich jchlicht und einfach eine 


Banfnote von Eintaujend Gulden zuzumenden. 
Den jchärfiten Gegenjaß zu Oppober, den Edlen — 
und Meilden, nicht jowohl was die twifjenjchaftliche Ueber- 


A ? Sch 
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-  Hamernjf, der der Klinik für interne Krankheiten auf 
der twundärztlichen Abtheilung vorjtand. Er war ein 
 geborener Gzeche und merkwürdig unbeholfen in der 
Handhabung der deutjchen Sprache. Als Arzt ftellte er 
jozujagen die äußerjte Linfe in der damaligen Mediein 
dar, als Menjch war er die Jncarnation des Fauftiich 
Icharfen Berjtandes ohne jede auffindbare Gemiüthsjeite. 
Seiner Ueberzeugung zufolge, da nur die Natur felbit 
unter Beihilfe pajjender Diät die Krankheitsproceije heile, 
war er ein abgejagter Feind aller Arzneimittel, die jeiner 
—— Anficht nach der alten alchymiftifchen Epoche der Mediein 
entjtammen. Seinen gejammten Arzneijchaß bildete Wafjer 
— natürlich mur jolches, das nicht von „Chemicalien 
verumreimigt“ war, etivas Chinin, etwas Yodkali, etivas 
Morphium. Und jeine jonjtigen Ueberzeugungen! Welche 
FSortichritte auch jeitdem die materialiftiihe und pejii- 
mijtiiche Anfchauung gemacht haben mag, Jchärferen 
Ausdruf in einem SKopfe hat fie wohl jchiwerlich ge- 
Funden! 

Hamernjf büßte bald jeine Stellung ein und zivar 
aus Urjachen, die mit der Wifjenjchaft nichts zu thun 
hatten: er war jeit langer Zeit jchon die Zieljcheibe 
elericaler Denumciationen. Er hatte Conflicte mit dem 
Spitalgeiftlichen gehabt. Hamernjt, der unverbefjerlich 
 Ungläubige, dachte gering von den Tröjtungen, Die der 
— — Briejter an’s Sterbebett bringt und jah in dejjen legten 
- Bejuchen nur schädliche, ja verderbliche Beunruhigungen 


Griies Bud. OT 


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Neihe komme. Und die Folge davon im ganzen Stranfen- 


Sejggiggte Ace arg 


der Sterbenden jowohl, tie der umliegenden Sranfen. 
Wenn der Spitalgeistliche dahergefommen war im vollen 
Drnate, die Monitranz in Händen, da pflegten alle = 
Kranken im Saale unter ihre Dede zu jcehlüpfen, demm- 
es war Volfsglaube, daß der, den der Priejter mit dem 
Blicke oder dem Stleide jtreife, demmächit jelbjt an Die 


zimmer waren bejchleunigte Burlje, erhöhte Temperaturen, 
ichlafloje oder unrubhige Nächte. Der Geiftliche Dagegen, 
verpflichtet, die Sterbenden mit den Gnadenmitteln der 
Kirche zu verjehen, wenn diefen nicht umermeßlicher 
Schaden an ihrer Seele zugefügt werden jollte, hatte e 
jeinen Standpunkt zu „vertheidigen. So gab e8 Com 
fliete und endlich Berichte an die oberen geijtlichen Be- 
bhörden. 

Die Sache wırde ärger, als Hamernjt nun — er 
jagte, eS wäre der Wanzen wegen — die Eleinen bunten 
Heiligenbilder hatte wegreigen Lafjen, welche gläubige 
Wärterinnen an die Tapetenivände ziwilchen den Betten 
aufzufleben pflegten, ein andermal den Kranken die Gebet- 
bücher weggenommen und verächtlich bei Seite geworfen 
hatte. Angeberei und Denumeiatton gelegentlicher extra= 
daganter "Vengerungen trieben die Sache auf die Spibe. 
Hamernjf fam um jeine Stelle. Er ward vom Mini 
fterium umter möglichjt ichonender Form feiner Profeffur | 
enthoben. 

E3 läßt fich von ihm jagen, daß er als Diagnojtifer 
jeines Gleichen fuchte und dah es jich unzählige Male 


c 


Erftes Bud. 109 


am Sectionstifch erwies, daß der menjchliche Organismus 
mit jeinen geheimjten Complicationen für ihn  gleich- 
fam durchjichtig war. AUnderjeits ijt ein Stliniker, der 
alle Pharmakopve Leugnet, eine fajt unmögliche Exri- 
Hens:.. . 

Noch mancher andere Name, der jebt der Gejchichte 
der Mediein angehört, wäre bier zu nennen, denn, wie: 
gejagt, die Prager Facıltät vereinigte damals die aus- 
gezeichnetiten Forjcher wie in einem Siranze. Aber es üt 
hier nicht der Ort, ihrer zu gedenken. Natürlich fehlte 
e3 auch bei mis nicht an bizarren Figuren; fie waren 
gleichjam die Folien und Gegenfäge jener Erjteren. Denn 
two der Eifer, Großes zu leiften, Alles durcchdringt, umd 
das Streben, ic) Hevvorzuthun, an der Tagesordnung 
it, wird immer zugleich auch das Kıomiiche geboren, weil 
der mittelmäßige Kopf fich den Herven gleichzuftellen 
lucht. 

Ver es aus jeinen Grinmerungen heraus noch zu 
jchildern vermöchte, dies Profefjoren- und Studentenleben 
mit jeinen leidenjchaftlichen Epijovden, die nie fehlen, wo 
iharf ausgeprägte Charaktere nebeneinander wirken, das 
Alte feinen Plab behaupten will und junges Verdienst 
nach Anerkennung vingt! Wer fie noch zeichnen Fönnte, 
diefe Charakterköpfe, twie fie fich aus dem eigenthümlichen 
Rembrandt’schen Halbduntel hervorheben, das in einent 
Spital waltet! Wenn uns der Griffel eines Callot oder 
die Feder eines Didens, Bilder, Porträts aus diefer 
Zeit malte! 


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a aha RE KETER 


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Bigise meines "Lebens. 


Leider wird alles ungejchildert in die Vergefjenheit 
zurücjinfen. Sei mir vergönnt, nur eine heitere Epifode 
zu zeichnen, wie fe mix bei einer flüchtigen eb 
jener Tage entgegenblikt. z 

Es war eben ein Buch erjchienen voll Semeinpläte, | 
„Reifen durch die Bäder Böhmens“ genannt, in er 
jedoch ein auffälliger und anjtögiger Sag frappirend her- 
vortrat. Derjelbe lautete: : ? 

„Nie Dresden die Stadt der Budligen, jo it Bug 
die Stadt der Einäugigen zu nennen.“ I 

Auf Niemand wirkte diefer Sat aufregender, ale 
auf den guten alten PBrofeffor Fiicher, den Boritand der 
opthalmologijchen Abtheilung. Sah er doch darin einen 
Vorwurf, jeiner Behandlungsmethode ins Geficht ge- 
ichleudert, eine perjönliche Beleidigung, da er fich doch 
jeit Menfchengedenfen als den erjten Augenarzt Prags 
und den Begrimder der Opthalmologie auf der dortigen 
Hochichule anjah. ’ % 

Hornentbrannt begab fich der alte Hitfopf zum 
„Protomedicus“ Nahderny. 

„naben Sie fchon das jchändliche Büchlein von Dr, 
löß gelejen ?* vief er beim Eintreten in das Bureau Re 
des Gewaltigen umd jchivang die Brojchüre in der drohend n 
erhobenen Hand. „Da jteht es und ich habe die Stelle 


roth angefteichen: „Wie Dresden die Stadt der Bud 


figen, fo ift Prag die Stadt der Einängigen.“ Als Beleg 
dafür gibt er an, er jei noch. nie in einer Stadt gewejen, 
in welcher jo viele Leute eine schwarze Binde über einem 


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GErftes Buch, 


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Auge tragen. Abjcheuliche, niederträchtige VBerleumdung ! 
Hit Prag vielleicht ein anderes Cairo, eine Stadt der 
 Eyflopen? Die ganze Facultät PBrags it durch Ddiejen 
E eis beleidigt, und muß wie ein Mann gegen die 
 Aıfflage diejes Dummfopfes Protejt erheben.“ 
„Sie meinen?“ fragte der Gubernialrath. 
„Kann da ein Zweifel obwalten?“ rief der Alte. 
„Bedeutet es nicht jo viel, als daß wir in der Aırgen- 
Be heilfunde hier zu Lande Hinter anderen Staaten zuviücd 
- find? Die Behauptung ift die eines ungerechten, bös- 
= toilligen Jgnoranten, ich aber bin gejonnen, ganz gehörig 
2 Basen diejelbe aufzutreten. ch werde eine Entgeguung 
Ein Form einer Brochure jchreiben und an der Hand 
der Statiftif den Nachweis liefern, daß es nirgendwo 
in Europa jo wenig Cinäugige, wie gerade in Prag 
Fregibt." 
& „Und Sie glauben, dies mit einiger Wahrjcheinlich- 
feit dartdun zu können ?“ 
2 „llerdings. SH erwarte für diefe Schrift auch 
Ihre Bekräftigung, Herr Gubernialrath. Es muß id) 
aus den Negiftern nachweilen Llaffen, da“ — 


= Der Gubernialvath hüjtelte leife und zucte mit den 
ra  Adhjeln. 
E 3E Dann antivortete er in jenem flagenden Unfentone, 


in den er gewohnheitsmäßig zu verfallen pflegte: 

„sh Ddächte, lieber Herr Wrofeffor, wir hielten 
_ mit diefer Erklärung zurüd. it es Ihnen denn nicht 
2 eingefallen, daß wir beide am twenigjten dazu angethan 


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‚712 Geihichte meines Shen Be 3 


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Ze” 
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find, jie zu erlaffen? Wir haben ja beide zujammen nu 
zwei Mugen !“ m 

Und jo war es in der That. Beide, Profejfor 
Sicher und der Gubernialvath waren eimäugig. hr 


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xV. R. 


Herz und Welt. — Zeriffenheit. 


Ich fühle nur allzujehr das Unzulängliche der Dar 
jtellungsweije in den vorhergehenden Capiteln. Mit eine 
zelnen Strichen und Streiflichtern ijt fein Bild zu malen. 
Und doch habe ich feine anderen Farben zur Verfügung. Nur 
jolche Eleine Funken, wie fie aus einem düsteren Hinter- 
grumde aufbligen, Leuchten in meine Erinnerung hinein. 

Es tit umbejtreitbar, daß über Prag eine Atmo- 
iphäre der Melancholie lagert. Jeder Fremde, der längere 
Zeit innerhalb Brag’s Mauern lebt, empfindet fie und 
fühlt fich davon bedrüdt. Was aber muß der empfinden, B 
den jein Beruf fat den ganzen Tag im Sranfenhaufe — 
fejthält und der, wenn er es verläßt, feinem feifchen 
Luftzug begegnet, feine Aufheiterung findet? Das Düftere | 
der Umgebung begann mehr und mehr auf mich einzu 
wirken; e3 war ein gar zu graufiger Aufenthalt für ein k 
von Haufe aus allzu zart bejaitetes Gemüth. 

Si Ddiefem Gemüthe jah es jeltfam aus. Der ganze 
innere Menjch befand fich in einem gährenden Ent 


- 
hr 


Erites Buch, 3 


twicelungsproceß. Die Bhantafie jchiweifte mit leiden- 
 schaftlicher Vorliebe in einer dichterifchen Welt, der Kopf 
grübelte und machte jich mit den Grumdfragen der Phi- 
-Sofophie unendlich viel zu jchaffen, an das Herz trat das 
Leid der Welt in allen Formen und erjchredend nahe 
heran. Berließ ich das Haus, wo Siranfheit und tiefjtes 
Elend gewiljermaßen angehäuft und vegijtrirt beijanmen 
lagen, jo war es, um im eim anderes bimüberzugehen, 
to umnachteter Geiit wild tobte oder jtumpfjinnig vegetirte, 
und in eim drittes, das durch das Martyrium freifender 
Weiber und alles, was jich daran fnüpft, noch entjeßlicher 
als die beiden anderen ivar. 

Si diefen Kreis eingejchloffen, fühlte ich mich 
unglüclich über das Leid der Welt. Hang zu einjamer 
Träumerei, Hypochondrie, Schwermuth überfamen mich 
mehr und mehr. 

Sch hatte Hegel jo gut twie mancher andere jtudirt, 
aber das Rejultat, zu welchem er jcheinbar gelangt, das: 
„Bas vernünftig tft, das ijt wirklich, 

Was wirklich tft, das ift vernünftig,‘ 
wollte mir gar nicht in den Kopf. Diejer Spruch erichien 
mir eigentlich nur als die modernifirte Faljung des alten: 
„Was tit, tit von Gott. 
Was Gott thut, das ift wohlgethan.“ 

Sc Fonnte mich über die Zuftände der Welt nicht 
beruhigen und meine Weberzeugungen waren die revolu- 
tionärjten. ch Tab, wohin ich blickte, eine graufame 

Meißner, Gejchichte meines Lebens. I. B. 8 


DEINER 


ENG 


RR 


harte Nothwendigkeit, in die ich mich nicht ergeben, mi 


% "Kr, 5% 
In 1. 
[+ 


Seite meines Be 


der ich mich noch weniger einverjtanden erffären Fonnte. 
Der Zufali der Geburt, der den einen von Kindheit ai = 
trägt und begünftigt, dem Anderen jedes Mittel des 
Emporfommens entzieht, der Fluch der Armuth, welche 
die Entartung der Familie im Gefolge hat, schien mir 
die Weltordiung laut anzuffagen. Dazu eine, auf die 
Lehre vom Sindenfall, der Erbjünde umd einem fühnen 
den Opfertod bafirte Religion. Das Ganze erjchien mir 
als ein jchnöder, nur bei jyitematischer Jrreführung Der 4 
Mafjen möglicher Betrug — wer fich nicht dagegen eroag 
mußte ein Feigling fein. 

Auf politischen Gebiete verlangte mein Berk 
einen Bolfsjtaat, ein Gemeintejen, in welchem die lege 
des Gemeinmwohls erjter und leßter Ziwed ift. m Gegen 
fat zu diefer Forderung jah ich im exiftirenden Staate 
den baaren Abjolutismus, die Herrjchaft eines mit der 
Geiftlichfeit verbindeten, übermüthigen und ungebildeten 
Adels; dagegen die zahlreichjte und intelligentejte Clafje 
von jeder Betheiligung amt politischen Leben ausgejchloffen. 
Der ewige Stillftand war deeretirt worden, jede freie 
Henferung des Gedanfens wurde innerhalb der hinefi= 
ichen Mauer, die die vegierenden Kräfte erbaut hatten, 
ausgejchlofjen. Ein argusäugiges, Wort und Thun con-- 
trofivendes Polizeiiyitem wachte Tag und Nacht. 

Defterreich führte damals im Auslande das Epithe- 
ton „das glücliche”, zog man aber das Denfen und 
Fühlen der unendlichen Mehrzahl in Betracht, fonnte 


sh 


| ee Erjtes Bud. 115 


man es ebenmjogut „das unzufriedene“ nennen. Seine 


Eultur lag troß aller Begünftigung der. Natur tief dar- 
nieder. Der Adel war im Erbbejiß aller höheren amt- 
lichen und militärischen Stellungen. Die Klöfter waren 
im Zunehmen begriffen umd die Unterrichtsverhältnifie jo 
eng mit der Kirche verknüpft, daß nicht num die Bolfg- 
und Mittelichule, jondern auch die höheren Unterrichts- 
anjtalten von Geijtlichen, jogar von Mönchen, geleitet 
wurden. Die bäuerlichen Unterthanenverhältnifje bejtan- 
den noch in mittelalterlicher Zorm fort mit Robot und 


- Zehnten. Bom Staatshaushalte war gar nichts befannt, 


jede Controle durch eine Volfsvertretung fehlte, fein amt- 
licher Bericht gelangte zur- öffentlichen Kenntniß. 

Alle Berührungen mit dem Yuslande wurden ver- 
mieden, Bälle waren jchwer zu erlangen, eine strenge 
Genjur hielt alles unter VBormundjchaft. ever Berve- 
gung von unten herauf wurde entgegengearbeitet, jede, 
wo jte ich nur im Bereiche der öjterreichiichen Macht 
iphäre zeigte, Fräftig durch Waffengewalt niedergeziwungen. 

Der deutjche Stamm Dejterreichs, berufen, der hijto- 
riihe und politiiche Mittelpunkt des Staates zu jein, 
machte feine fichtbaren Anjtalten, jein Dafein zu bethä- 
tigen. Wien jchien jih nur um jemen Prater umd 
Lanner’s Geige zu kümmern. Sa, alles wünschte Aen- 
derungen umd zeitgemäße Umgejtaltungen, aber in ver- 


Ichtviegener Bruft. mnerhalb der jchwarzgelben Schran- 
- fen durfte Niemand jolch Hochverrätheriiche Wünjche zur 
Sprache bringen. Es gab, ein paar- wortfarge Negie- 


116 Geichichte meines Lebens. 


vungsblätter ausgenommen, feine politiichen Zeitungen, 
in den literarischen Sournalen wurden Anjpielungen auf 
Bolitif nicht geduldet. Das Unbehagen war allgemein, 
aber Niemand wußte, wie es anders werden fünne. 

Leute, die jich draußen umgejehen hatten, wollten 
Dejterreich den Bildungsverhältniffen Dentichlands ge= 
nähert, Die Unterthanenverhältnifie umgemodelt, die 
Selutiten zurücgedrängt, das Lehr und Bildungswejen von 
der Kirche emaneipirt jehen, aber wie jollte das gejchehen ? 
Es gab feine Tribüne für das geiprochene Wort; dagegen 
herrichte Die Verpflichtung, jede Zeile, die im Druck er- 
Icheinen jollte, dev Cenjur zu umterbreiten. 

Kein, für diefen Staat. fonnte man feine Liebe 
empfinden. ch war ein Dejterreicher, hatte aber nicht 
nur Über die NRegierungsform Dejterreichs, die ich Für 
den hHöchjten Ausdruck des Abjolutismus und Ultra- 
montanismus hielt, jondern auch über den Staat an jich 
die fegerischiten Ansichten. 

&3 ijt jeitvem oft gejagt worden, indem man die 
befannten Ausjpriche Boltaive’s über die Nothivenvdigkeit 
ms vartirte: Dejterreich müfje erfunden werden, 
wenn es nicht bereits exijtirte. Sch höre dies geflügelte 
Worte noch immer, zum Theil von jehr geicheidten Leuten 
iwiederholen. Abgejehen davon jagen ste, daß die in 
Deiterreich jo Häufige Nacenfreuzung von großem Vortheile 
für die Welt ei, jo gehe aus der großen Annäherung 
und theilweilen Verjchmelzung im Gegenjag zu einander 
jtehender Nationalitäten jehr viel Gutes hervor. dem 


) 


des Dei 


a 


ar deu 


Erjte3 Bud). 117 


ferner die Steuerkraft der imduftriell vorgejchrittenen 
deutjchen Provinzen fortwährend dazu verivendet iverde, 
um zahlreichen anderen materiell zurücgebliebenen umd 
in Mißwirthichaft verlotterten Ländern zu Hilfe zu 
fommen und deren Ausfälle zu decken, werde gerade im 
diejen Ländern eine rvegere PVitalität, eine lebendigere 
Ihätigfeit hervorgerufen. Wenn auch das Princip der 
Verlegung deutjcher Beamten umd Soldaten in fremde, 
mitunter halbwilde, fajt immer feindjelig gefinnte Länder 
für die Betreffenden anfangs jehr unangenehm werden 
fünne, jo gehe doch schließlich Für te jelbjt umd ihre 
Familien ein Zuwachs an Kenntniß fremder Sitten, Ge- 
bräuche und — mitunter Höchjt abjonderlicher — Spra- 
chen hervor. Auch übernähmen dafür wieder Berjönlich- 
feiten aus den für alles, was mit Bolizeidienjt zufammen- 
hängt, bejonders talentirten jlaviichen Stämmen die 
Ueberwachung des bürgerlichen und politischen Lebens in 
deutjchen Provinzen. Das Alles ijt als jehr heilfam 
und zwecmäßig erkannt worden. Darauf beruht die 
Lehre vom „echten“ Dejterreicherthum und fie wird von 
Allen vertheidigt, die „das politische Princip über das 
nationale jtellen“. Im der Zeit, von welcher ich vede, 
war mın der Kreis -diefer großen öfterreichiichen Cultur- 
aufgabe noch viel weiter gezogen, als heutzutage: ev 
reichte bis nach) Mainz, Frankfurt, Naftadt, er reichte 
bis an den Bo und den Tiein, ja er dehnte fich nicht 
jelten bis über die Marken am adriatiichen Meere und 
über die päpitlichen Staaten hinaus. Bald vücten die 


118 Gefchichte meine3 Leben?, 


weißen Node im Neapolitanischen, bald in ein’ oder dem 
anderen italienischen Fürjtenthum ein. Der Territorial- 
beitand der Monarchie hatte jeit dem Wiener Congreife 
feine Alteration erfahren und geheiligte Verträge gaben 
ihr das Necht, bald da, bald dort eine Kleine Execution 
auszuführen. 

Wir mm, umd eine ganz Kleine Anzahl junger Leute, 
fonnten uns damals mit den regierenden Anfchauumngen 
Durrchaus nicht befreunden. Wir hielten das Zujammen- 
(eben mit jo vielen fremdipracdplichen Elementen in einem 
Staatsverbande, die Gemeinschaft der Deutichen Dejter- 
veichs mit jo vielen andern, in ihrem Natuvell entgegen- 
gejegten Stämmen, für eine unglücliche Thatjache, die uns 
dem übrigen deutjchen Thun entfvenmde, für eine Sette, 
ein Hemmmiß jedes wirklichen nationalen Fortichrittes. 
Wir teäumten von eimer nicht mehr allzufernliegenden 
Bereinigung aller deutjchen Länder in ein Deutjchland, 
das heift in eine compacte Nation von vierzig Millionen, 
die eine Sprache Iprechen, vereinigt in einem National 
heer, befähigt, Ttch allenthalben niederzulaflen, daheim von 
denjelben Staatsmännern regiert, im Auslande von denz= 
jelben Gejandten vertreten. u diejem Bunde wollten 
toir nicht fehlen. Aber wie jollte es dazu fommen? Uns 
umgaben lauter Leute ohne jedes nationale Bewußtiein, 
die fich Lediglich als Untertdanen und beherrichte Maife 
fühlten. Dieje unmnationalen Zivitter, die weder falt noc) 
warm, weder Filch noch Vogel, waren uns bejonders 
twiderwwärtig. Noch eher, jo ichien es, fünnte man fich 


Erjte8 Buch). 


mit Judividualitäten fremder Nationalitäten verjtändigen, 
die dasjelbe twollten, wie wir: die Trennung md Aus- 
einanderlegung einer unharmontjchen Verbindung. Man 
geht eben in der Jugend jehr weit, Tträubt ich gegen gewilfe 
Nothivendigkeiten und it allen Compromijjen abgeneigt. 

Kurz, im diefer Welt jchten mir getrennt, was 
zufammengehörig und zujanmengejchntiedet, was innerlic) 
unvereinbar. Geijtesbildung und Soldatentdum waren 
Gegenfäße geworden, das Soldatenthum nur der ver 
längerte beivaffnete Arm des abjoluten Monarchen, der 
blos durch den anderen Arm des beivaffneten Wolfes 
parirt werden Fünne. Oft fühlte fich das Gemüth gleich- 
jam von allem Jammer der Welt zugleich angefaßt. Sehn- 
juchtsvoll blickte der junge Menjch nach Abhilfe her, hoffte 
auf andere Zeiten. ıumd meinte, nur aus eimem vollitän- 
digen Zufanmenbruch. des alten Syjtems fünne eine 
bejfere Welt hervorgehen. 


Bw DuwBiDwG EG EG CD DB RR SEE TESESETEN 


xXVl. 


Wien. — Denedig. — Schidjale eines Koffers. 


su den Ferien 1843 fan ich zum erjtenmale nach 
Wien und wohnte dort auf dem „Salzgries“. Die Stadt 
erfüllte meine Erwartungen nicht. Die eigentliche Stadt, 
die ein Fußgänger bequem in eimer Stunde umgehen 
fonnte, schien mir, in ihren Wallgürtel, in das Corjet 


120 Gejchichte meines Lebens. 


ihrer Bajteien eingejchnürt, eine große und Dittere Klatjer- 
und Adelsburg zu bilden, die vierunddreißig weiten Bor- 
jtädte aber waren von trojtlofer Monotonie. Die Herr- 
lichkeit der Stephansficche war mit Baugerüjt umitellt, 
am Thurme wurde geflidt und gequacjalbert, ev war 
wie ein Stranfer, von Bandagen ummwidelt. Nur die 
beiden Pläße des Neumarftes und des Grabens mit ihren 
verzierten Brummen machten einen heiteren Cimdrud auf 
mich. Nein, Alt-Wien war nicht Schön! Das „’S gibt 
nur a Staiferjtoadt, ’S gibt nur a Wean“ war mir ein 
Ausbruch des aufs Höchjte foreirten Localpatriotismus. 

Da es ein Sonntag war, wanderte ich Nachmittags 
dem Prater zu. Eine umnabjehbare Neihe von Wagen 
bewegte jich langjamen Schrittes die YJägerzeile entlang. 
Sn der bis an die Donau führenden Hauptallee gab es 
ein Durcheinander von berrichaftlichen Wagen, Cabriolets 
und Fiafern, nicht wenige Neiter, zu beiden Seiten eine 
twogende Menjchenmenge. Mädchen und Frauen: theils 
niedliche Birppchen mit bligenden Augen, theils üppige 
Matronen, wwandelten in den auffallendjten Trachten. Der 
Wurjtelprater bot das Bild eines Jahrmarkts mit buntem 
Gewiühl. Schaubuden und Ningelipiele luden von allen 
Seiten ein. Mir aber jchien die rechte Seiterfeit, die 
Stimmumg echten Wolfstebens zu fehlen. Allerdings war 
die Hite drücend, der Staub jehr arg und ich wanderte 
einjam in dev Menge. 

Das „Bapua der Geijter” hatte fir mich feine jon- 
derliche Anziehung. Am anderen Morgen holte mich Morig 


Erftes Bud. 1a 


Hartmann nach Baden ab und ich ließ mich gern ent- 
führen. Er hatte dort bei einer reichen Bankiersfamilie 
als Erzieher zweier Kıaben eine angenehme Stellung. 
Sch wurde freimdlich aufgenommen. Syn Baden traf ich 
meinen älteren Freund Mar Schlefinger und jchloß gute 
Freundjchaft mit Karl Bed, der, nachdem er fich draußen 
im Neich mit „Oepanzerten Liedern“ Nuhm  erjungen, 
nach längerer Abwejenheit in jein DBaterland zurücd- 
gefehrt war. 

Wir theilten einander umjere Arbeiten, unjere Pläne 
mit. Nachmittags pflegten wir Pferde in einer dortigen 
Neitichule jatten zu laffen umd jagten, twierwohl wir 
fämmtlich mangelhafte Reiter waren, durch’s Helenenthal 
und im die Brühl, wobei es nicht ohne Fährlichteiten 
abging. 

Eines Tages, als ich zu furzem Bejuch nach Wien 
zurücgefehrt war, machte mich Hartmann auf einen ält- 
lichen Herrn aufmerffam, der, verdrießlich vor jich Hin- 
redend, daherjchritt: es war Franz Grillparzer. Sch Jah 
ihn mit jeltfamen Gefühlen an. Wir betrachteten Die 
Eenjur als ein geijtiges Inquifitions-Tribunal und Hatten 
fie nie vejpeetirt. So ließen wir denn umjere Gedichte 
und jonjtigen poetiichen Erzeugnijje über die Grenze 
wandern umd da fie in Blättern erjchtenen, die in Dejter- 
reich nicht gelefen wurden, blieben wir unbeläftigt. Sch 
glaube, wir jungen, unzufviedenen Köpfe hielten damals 
diejenigen für gar,feine eigentlichen und rechten Boeten, 
die jich einer unjerer Meinung nach umvürdigen Juititu- 


et Fa Ve ur e 
> ET REN nt 
122 Gefchichte meines Lebens. } 


tion fügten oder wir blicten auf fie, iwie etiva toilde 


ungezähmte Eflephanten auf jolche blicken, welche den 


Balanfın der Fürjten tragen. Mit Kopfichüttelt hörten 


wir, daß ein Friedrich Halm, ein Grillparzer, von allen 


Anderen nicht zu reden, fich folchem Soche fügten. Da 
wurde uns gar gejagt, daß Grillparzer das mititut der 
Eenjur jogar prineipiell billige, rechtfertige, qutheige. 


Das war doch zu viel. ch jah mir den jonjt verehrten E 


Mann mit Empfindungen an, wie jte fic) etwa in Der 
Bruft eines Niederländers regte, wenn ihm ein Spanier 
begegnete, von dem es hieß, daß er die Jnquifition billige 
und zeitweije jelbit im San Benito erjcheine. s 
Ssdeß z09 es mich nach dem Sipden. Ueber Graz 
und Laibach veifte ich nach Triejt und nad) finzem Au 
enthalte von dort nach Venedig. Nach einer ftinrmischen 
Seefahrt Jah ich am Frühmorgen des 18. YAugujt 1845 


die winnderbare Meerjtadt, nach der ich mich jeit Jahren Ti 


fteberhaft gejehnt hatte, vor mir aufteigen. 

Mein Eintritt in Benedig jollte aber unter ımer= 
hörten Aufregungen jtattfinden. Aufregungen, die mir noch 
heute jo gegenwärtig jind, als habe ich fie unlängjt er- 
lebt. ch war mit meinem Koffer in eine Barfe gejtie- 


gen umd hatte mich in das Jmere der Stadt fahren 


(aflen, two ich mir ein bejcheivenes, meinen Mätteln ent 


Iprechendes Wirthshaus ausjuchen wollte: es war mir un 


Wien eine ganze Lifte Eleiner Gajthäufer genannt worden. 


um hatte aber, wie jchon die allenthalben wehenden | 


Fahnenwimpel bezeugten, in Venedig irgend ein großes 


Erites Buch. 125 


Seit jtattgefunden, die Eleineren Locanden waren alle über- 
fült. VBom VBapore abgewiejen, wandte ich mich zur 
aquila d’oro, von dort fortgejchieft zur stella, zur biseia 
umd jo weiter umd weiter, bis mir der Kopf zu twirbeht 
anfing. Das Hin und Her in einem Labyrinth von Ca- 
nälen macht mich ganz wirr. mdlich finde ich Blab im 
Faleone. Sch laufe die Treppe hinauf, ein HZinmerchen 
wird mir aufgejchlojfen, ich nehme mir nur eben Zeit, 
- mich zu wajchen, den polizeilichen Meldezettel auszufüllen, 
dann eile ich hinaus, meinen Weg nad) dem Marcusplaß 
zu erfragen. 

Den ganzen Tag treibe ich mich dort herum, wie 
in einem Naufche, glücklich, überglüclich, jo viel Schönes 
zu Schauen, evit als es dänmert, fehre ich in den Fal- 
cone zurück. Dort toill mich nun Niemand kennen; alle 
Nänme jind bejeßt. ch Frage nach meinem Koffer, man 
weiß von feinem. Mein Gott, denke ich, jollte jich im 
Drang, in der Hite, beim Herumfahren in jo viel Kanälen, 
eine Confufion im meinem Stopfe erzeugt haben? Sollte 
ich, „von einem böjen Geift im Kreis herumgeführt“, 
doch anderswo abgeitiegen Sein, als im Falcone? Diefe 
Spelunfen jehen jich eigentlich alle ähnlich. Sch gebe 
fort und jage nun zurück von Locanda zu Locanda. Das: 
Non qui! (Nicht hier), das mir allerorten entgegen gerufen 
wird, macht mich ganz toll. Endlich bleibt mir nichts 
übrig, als auf das Fremdenbureau zu gehen. Es ift zum 
Glic noch offen. Ein finfterer Polizeicommiffär Hört 
mich ernjthaft an. Nein, mein Meldezettel ift noch nicht 


TEWTEN. SEAT WE LTR A 


124 Gejchichte meines Lebens, 


abgegeben worden. Der Bolizeicommifjär bejtellt mic) 
auf den anderen Tag. Jh muß für heute mein Nacht- 
quartier in einem vornehmen Hotel auf der Riva juchen. 

Dort verbringe ich eime chlafloje Nacht. Sollte ich 
meinen Koffer verlieren? Er enthält Dinge, die für mic) 
von umnjchäßbarem Werthe find. Jch darf aber auch nicht 
wiünjchen, daß Die Polizei mit meinem offer zu thun 
befomme und jeinen Inhalt genau präfe. 

Als ich am anderen Morgen wieder auf das Bolizei- 
bureau fonme, jagt mir der Beamte: „Sie find in der 
That im Falcone eingefehrt. Wir haben zwar noch immer 
nicht von dort Ihren Meldezettel erhalten, aber der Bar- 
carole it ausfindig gemacht, der Sie gefahren hat umd ift 
joeben vernommen worden.“ 

Sch fliege wieder in den Faleone. Was, jagt ein 
Ichmierig glänzendes Gammergeficht, Sie fommen jchon 
wieder? Sie wohnen nicht in unjerem Haufe. Was wollen 
Sie eigentlich hier ? 

„Meinen Koffer.“ 

„U baule? Wir wiljen von feinem!“ 

Streit beginnt. ch fomme zu Fury mit meinem 
Stalienifch. Doch da wird mir umerwarteter Succurs. 
Ein Jndividuum, das ich beveits Hinter mir bemerft habe, 
hat bejcheiden vor der Hausthüre gewartet und ergreift 
jegt jehr umerjchroden meine Partei. Man jcheint im 
Haufe den Mann jehr wohl zu fennen. Er it offenbar 
ein geheimer Bolizijt, ein Detectiv. Sch höre nur immer 
das Wort: il baule! il baule! Das muß wohl Koffer 


Erjtes Buch. 125 


bedeuten; der brave Mann verlangt, daß mir der baule 
ausgeliefert werde. Die Scene wird immer heftiger, ich 
itehe als jtummer Zujchauer dabei. Der ganze Corridor 
füllt jich mit zweifelhaften Gejtalten. Wlößlich läuft, wie es 
scheint auf einen Winf des Wirthes ein Kerl davon, die 
Männer jtreiten noch weiter. Eine Minute jpäter wird ein 
jchiwerer Gegenjtand über die jäh aniteigende Treppe hinab- 
geivorfen und fliegt uns vor die Füße. ES ijt mein Koffer. 
Sch prüfe jofort, ob das Schloß unverjehrt, e8 ijt es. Der 
Wirth wirft dem Koffer einen tiefverächtlichen Bed nach, 
murmelt ein paar zFlüche und trollt fic) davon. Der 
Bolizijt Hilft miv meine Habe forttragen und ruft einen 
Gondolier. ch jchenfe dem Biedern einen Silbergulden, 
er steckt ihn haftig ein und jagt: era forse un sbaglio! 
(E3 wird ein Mißverjtändniß, ein Verjehen gewejen fein.) 

Sa, jo bijt Du, Stalien, find deine Söhne! ch habe 
in jpäteren Jahren noch Hundertmal derlei erlebt. 

Sch Hatte die Luft für mwohlfeile Locanden verloren 
und fehrte in’S Hotel auf der Riva zurüd. 

Die häßlihe Scene war bald vergejien. Venedig 
war ja jo schön! ch ichivelgte förmlich im Anblick des 
Mareusplages und des jonnigen Meeres zwischen den 
snjeln. ch durchtwanderte den Dogenpalajt, jtieg in Die 
Bozzi hinab, und in die Biombi hinauf, bejuchte die Aca- 
demie delle Arte, zahlreiche Kirchen, die Paläjte Vendra- 
min, Manfrini, jah Murano mit jenen Glasbläfereien, 
den öden Lido umd die liebliche njel der Armenter. 
Abends war es gar angenehm den Kaffee zu trinfen auf 


2», 


126 Gefhichte meines Leben?. - ? E . 


den weißen Marmortifchchen in den Fleinen, eleganten, B-. 


ipiegelgezierten Localen oder draußen, unter den Procu- 
vazien, bei den Klängen der öfterreichiichen Militärmufif. 
Sm Cafe militare, wo die „Augsburger Allgemeine Zei- 


tung“ gehalten wurde, hörte man fait nur Deutjch iprechen. Me 
go gel ) ) Ipred) 


Sch wurde dort mit zwei jungen deutichen Landjchaftg- 
malern, Finf md Förifien, befannt und verdankte ihnen 
manche archäologische Belehrung. 

Venedig it jtetig bergab gegangen. Es ijt heute 
Öder und ärmer, als e$ vor vierzig Jahren tvar und wird 
in vierzig jahren herabgefommener ausjehen, als heute. 
Damals gab es noch echtes Volfsleben auf der Riva dei 
Schiavont. Dieje war ein heiteres umd bizarres Volfs- 
theater, dem die Volfstracht noch Charakter verlieh. Kaffee 
buden und Weinfneipen waren voll von Gäjten von Mtor- 
gens früh bis Mitternacht. Gruppen von Facchinis und 
Schiffern umftanden noch hier einen Tajchenjpieler, dort 
einen Comödianten, der mit allerlei funjtvollen Stim- 
men ein ganzes Luftipiel zu improvijiren verjtand. 

E35 fehlte in diefem Bolfstreiben nicht an Sängern. 
Ein Tiebliches Mädchen in füdjlaviicher Tracht, das in 
Begleitung eines alten Geigers, vielleicht ihres Waters, 
bald jang, bald das Tambourin schlug, während fie einen 
melancholischen Solotanz aufführte, jteht noch lebendig in 
meiner Erinnerung. Sie war höchjtens jechzehn Jahre, 


ichlanf, fein und biegiam wie eine Piyche und trug 


goldene Münzen im rothblonden Haar. Die weißen 


Hermel ihres Hemdes waren mit Blumenjtiderei geztert, 


i Be Erites Bud). 3 1A] 


vom Gürtel, der ihre Schmale Taille umfchloß, und mit 
großen vothen Achaten geziert war, Hing- eine jchmale 
bunte Dede herab. Ar den Füßen waren rohe Sohlen 
mit ledernen Schnüren befejtigt. So jehe ich fie noch 
heute vor mir. Sie begann jedesmal mit den anmıthig- 
jten Armbewegungen und einem Wiegen des Oberförpers 
in den Hüften, worauf ein vhythmiiches Stampfen der 
Füße folgte, ohne daß jie dabei von der, Stelle rückte. 
Das war ihr Tanz. ch wuhte fie bald zu finden md 
jtellte mich jedesmal ein, wo JTambourin oder Lied er- 
fang. Die Worte desjelben habe ich nicht verjtanden, 
aber die Noten der Melodie klingen noch heute im mir 
nah. Sie fannte mich bald und grüßte mich jedesmal 
mit einem furzen, traurigen Kopfnieen. Gejprochen habe 
ih fie nie — im welcher Sprache hätten wir reden 
fünnen? — wohl aber habe ich ihr Verje geweiht. 

Den Eindrud aber, den Benedig auf mich gemacht, 
babe ich damals in eimem Gedicht „Venezia“ wiederzu- 
geben verjucht. ch Ichrieb dasjelbe auf den Betjtühlen 
des Doms von Sanct Mare, in deifen Kühle ich mich 
vor der Gluth des Auguft zu flüchten pflegte. 

Doh das ging nur jo nebenher. Seit Monaten 
jchon schrieb. ich an einem epiichen Gedichte „Zadok“, 
Das auf einen großen Umfang berechnet war, mehrere 
hundert zwölfzeiliger Strophen waren auch jchon fertig. 
Sch führte das Manufeript immer mit mir herum; 
fein Tag verging, ohne daß e3 einen Zuwachs erhalten 
hätte. 


ET EN EEE EN EEE 
e ER 


128 Gejchichte meines Leben?. 


Der Stoff meines Gedichtes war natürlich wieder 
ein nach damaligen Begriffen vevolutionärer. Bendin, ein 
junger Lievländer von geheimnißvoller Herkunft, gehört 
einer geheimen Studentenverbindung am und wird ver- 
haftet. Man will ihm Gejtändniffe erpreiien, ev bleibt 
ein Jahr in Unterfuchungshaft. Er it erit achtzehn 
Sabre alt. Die jchönfte Zeit, die Zeit der Jugend, ver- 
bringt er in Fejtungsfajfematten, ohne Beichäftigung, er jieht 
nicht Vater, Mutter, Berwandte. Er jieht fein menjch- 
(iches Geficht -außer dem des Wächters, der ihm die Speife 
bringt. Doch nein, die Einförntigkeit jeines Lebens wird 
zuweilen durch einen vusliichen Soldaten unterbrochen, der 
ab und zu in jeine Zelle blikt: „Lebit du noch? Hait Du 
Div noch nicht ein Leid angethan?“ Site wird unters 
brochen durch das Nafjeln der Schlöffer, durch das An- 
ichlagen der Gewehre der jich ablöjenden Scildwachen, 
durch die Schläge der Uhr drüben auf dem TIhurme. Er 
it allem Menschlichen entrüct. Nichts lebt in ihm, nur 
das Mitgefühl, daß rechts und Linfs Genofjen leben, die - 
ebenfo die Tage verbringen, wie er. Jeder politischer 
Verbrecher tit ihm ein Freund. 

Eines Tages, da der Polizeihauptmann im feine 
Zelle kommt, ift er jtörrifch. Der Polizeihauptmann geht 
fort, unmittelbar darauf kommen Soldaten mit einem 
Bindel Nuthen. Bendin wird gepeiticht. est erjt üt 
er ganz elend, das Leben it ihm zur Lat. Man hat 
ihm feine Menjchenwinde genommen. Thiere  peitjcht 
man, nicht Menjchen! 


Grites Buch. 129 


Man jteckt Bendin unter die Soldaten und führt ihn 
gegen die für ihre Freiheit fämpfenden Polen. Er wird 
verwundet und fünmt mit vielen Andern in’s Lazareth. 

Hier entichließt er Tich, für die Welt zu verjchtoinden. 
Ein Cholerafranker, der neben ihm liegt, jtirbt, . Bendin 
jtecft dejjen Bapiere zu ich, jchiebt ihm dafür die jeinigen 
unter das Kiffen, der Arzt wird getäufcht. Bendin gilt 
für verjtorben. Bendin kommt in die Todtenlifte ; indejjen 
genejt er und es gelingt ihm jogar, zu entkommen. 

Aber er heißt jeßt Zadof ıumd tft — ei Jude. 
Einen inzwischen an HZadofs Adrejfe angefommtenen Geld- 
brief mit einer großen Summe, die der alte Zadorf ab- 
gejchieft Hat, Daß fich der Sohn vom Militär Iosfaufe, 
muß er annehmen, wenn er jich nicht verrathen will. 
Bendin, in der Kinechtichaft zum glühenden Republikaner 
geworden, geht nach Amerika, das für ihn das Land der 
Sreiheit ift. VBon dort kann er ja das Geld dem übel- 
berüchtigten Juden zurücderjtatten. 

Er fommt aber in die Siüdjtaaten und findet Die 
armen Farbigen dort in einer Sclaverei, gegen die ge- 
halten die Lage rufjischer Leibeigenen Freiheit ift. Sein 
Serechtigteitsgefühl vevoltirt fih. Bendin wird in eine 
abolitioniftiiche Berjchtwörung hineingezogen, die ihn in 
neue Conflicte jtürzt. 

Auf diefem Bırkfte angelangt, hatte ich etwa ein 
Fünftheil meines Gedichtes fertig. 

Das war der Schaß, den ich in meinem Koffer 
verahrte und um den ich jo jehr in Sorge gewejen 


Meipner, Gejchichte meines Lebens. I. B. 0) 


war. In Folge feines eigenthümlichen Charakters hatte 
ich aber auch unmöglich wünschen fünnen, daß die Po- 
(izei jemals in die Lage fomme, den uhalt meines 
Koffers näher zu bejehen. 

Smpdeifen hatte ich mich in Padua zwei jungen 
deutichen Landsleuten angejchloffen. Wir wollten die Reife 
His an den Gardajee gemeinjan machen und mietheten 
ung jodann einen VBetturin. HYum Yufbruch von Padua | 
wurde die Nacht gewählt; die Hige war tagsüber allzu 
fäftig. 

Ein gar enger Wagen nahm uns auf. Meine Ge- 
führten, die mr Handtajchen bei fich führten, brachten 
diefe im Sitraum unter, mein Koffer wurde hinten mit 


einem Strike feftgebimden umd durch eine dicke Nohrdede 


gejchüßt. ine Kette wäre bejfer gewejen, doch Stride 
thaten es auch. 

Beim  schönjten Mondenfcheine Durch die Ebene 
fahrend, vertrieben wir ms zuerjt die Zeit mit der Er- 
zählung unjerer gegenfeitigen NReifeerlebniffe. Die beiven 
jungen Leute famen aus dem Süden, Neapel und Rom. 
Sie erzählten Räubergejchichten. Hier im Benetianifchen, 
unter öjterreichischen Regiment, waren feine Weberfälle zu 
fürchten, dennoch wurde verabredet, daß Jeder von ms 
eine Stunde wachen umd nach allen Seiten jcharf aus- 
fugen jolle. 

Sndeß, wie das geht, wir lagen bald alle im tiefen 
Schlafe. Plößlich wurden wir durch das Stillitehen des. 
Wagens wach, ich blicke um mich. Weber der weiten, 


Erites Buch. 


weiten Ebene liegt eine jilbergrane, durchlichtige Nacht, 
der Mond tjt untergegangen, aber die Sterne blinken. 
sn den jumpfigen Gräben quafen die Fröjche. 

löslich jteht der Vetturino, der abgejtiegen und 
nach der Hinterjeite des Wagens gegangen var, vor dem 
Wagenichlag.  - 

OÖ Signori, il baule! il baule! 

„Ras, wieder der baule im Gefahr?” Jh Ipringe 
aus dent Wagen. 

Der baule ijt nicht mehr da. 

„sit er heruntergeruticht? Sind die Stricte [o3- 
gegangen ?“ 

Als Antivort zeigt mir der Mann die zerjchnittenen 
Enden derjelben. 

Kein lebendes Wejen war nahe oder fern zu erbliden. 
Wir hatten nichts gejehen, nichts gehört. Und doch war 
das Schlimme nur allzu wahr. Sch hatte Kleider, 
Wähe und den gemünzten Theil meiner Baarjchaft 
eingebüßt, das Schmerzlichite aber war der Berluft meines 
Zadof. 

Wahrlich, es lag ein Fluch auf dent baule! 

Wir fuhren in Bicenza em, ich eilte auf die Polizei 
umd machte die Anzeige, ohne jede Hoffnung, daß fie 
etivas fruchten werde. 

Pit meiner Neifeluft war es plößlich vorbei. Statt, 
wie ich es im Sinne gehabt, bis Genua vorzudringen, 
wandte ich mich unmmthig gegen Norden und kehrte iiber 
Bozen umd Junsbrudf nach Haufe zurüc. 

9* 


: ASEERRT 
, Ser RR 


Gefchichte meines Lebens, 


% - 
; "FR 
> Bier Wochen jpäter wurde ich mittelft gedruckten 
ä Borladungsicheins, in welchem mr mein Name mit der Er 
Feder ausgefüllt war, auf das Prager Criminalgeriht 
eitiet. Sch betrat das unheimliche Edhaus auf dem 
Starlsplage. Ein finjterblicender alter Beamter empfing 
mich in feinem Bureau. Das Protokoll über meinen 
Berluft, das ich dem Polizeibeamten in Bicenza dietirt 
hatte, lag auf dem Pulte. Der Beamte forderte mich Be 
auf, Die gemachten Angaben zu wiederholen, jodann 
tichtete er an mich eine Ermahnung über die Bedeutung Be 
des Eides dor Gericht, zindete zwei Wachsferzen vor. 
einem Crucifiy, das auf feinem Bureautisch jtand, u 
und ich hatte mit erhobenen Fingern meine Ausjage zu 
bejchivören. Als dies gejchehen war, athmete ich freudig 
auf. Sp viel aufgewandte zzeierlichleit jchien miv ein 
gutes Omen. „ch erhalte meinen Koffer wieder!“ riet 
es in mir. „Er ift offenbar dem Diebe auf der Flucht 
abgenommen oder in dejjen Haufe gefunden worden. ch 
twerde meinen Zadof wiedersehen und vielleicht ift deijen 
Ssuhalt gar nicht näher geprüft worden.“ Be - 
Währenddem hatte mein finfterblicender Beamter 
einen Untergebenen einen Wink zugeworfen. Diejer ver- 4 
ichtvand ımd erichten jofort twieder, in der’Yand einen feeren, 
offenen, zerjchnittenen und faum noch fenntlichen Sad. 


E. „Hier it Shr Neifekoffer,“ jagte der Beamte. „Man 
hat ihn, wie Sie m da jehen, in einen Neisader unfern 
VBicenza gefunden. Bon feinem Inhalte ift nichts vorge 


funden worden.“ 


€ jte8 Buch. 


Der zerfegte Leichnam meines baule war, wierwohl 
er feinen halben Gulden mehr werth var, vrdmumgs- 
mäßig von Venezien nach Böhmen gejchafft worden. ch 
hatte dafür nichts zu zahlen. Sch durfte gehen, und der 
Hausmeijter des Criminalgebäudes hatte die Freundlichkeit, 
das Object als Gejchent von mir anzunehmen. 

Sch Habe meinen „Zadof“ mie twiederherzuftellen 
verjucht. Er war zu rajch entitanden, als daß ich Die 
Berje hätte im Gedächtuiß behalten fünnen. Er hatte 
eine Erfindung, tomplieirt wie die eines Romans; ich 
glaube, es wäre ein jchöneres, an Abwechjelung veicheres, 
an Empfindung volljtinnmigeres Gedicht getvorden, als mein 
Zisfa, an dejjen Bearbeitung ich bald darauf ging um 
mich einigermaßen über den Berluft des „Zadof“ zu tröften. 


. 
in Du Zw Du u Zw DO Em EEE EEE 


XVII, 


Aufnahme neuer Pläne. — Der Garten beim Spitale. 


Nie, wenn ich die Gejchichte Böhmens, zumal - die 
jeiner Neligionskriege, las, hatte ich mich eines tiefen 
Mütgefühls erwehren fünnen. Es war doch ein arger 
Srevel an Diefen Bolfe begangen worden, es hatte ein 
ichrefliches Schiefjal erfahren! Aus jenem Schooße waren 
die erjten veformatorischen Bejtrebungen auf den Gebiete 
der Kirche hervorgegangen. Aber jein großer Neformator 
jtarb elendiglih auf dem Scheiterhaufen. Das Bolf 


A 


rächte feinen Tod in einem furchtbaren Aufjtand, au 
dejjen Niederwerfung ganz Europa herbeieilte. Darauf 
war dasjelbe Volk unter Georg von PBodiebrad zu großer 
Bedeutung und Blüthe gelangt, zum Beweis, daß ein 
tüchtiger Kern darin war. Böhmen befand fich auf einer 
Hoh zu nennenden Stufe intellectueller Bildung und 
wehrte fich jeiner Freiheit. Dem Allen machte die von 
den Jejuiten in Scene gejeßte Gegenreformation ein Ende, 
und tie das geichah, bleibt ewig ein Schandflek in der 
Gejchichte. Die protejtantiiche Religion, zu der fich mehr 
als drei Viertheile der Eintohner befannten, wınde ge 
waltiam ausgerottet, der Adel des Landes nach der ver | 
(orenen Schlacht am Weißen Berge theils hingerichtet, 
theils verbannt umd feiner Güter verkuftig erklärt. Mehr 
denn dreißig Taujend Familien wanderten aus. Nım wurde 
dem Volke eine ihm fremde Sprache aufgedrängt und 
fein ganzes Geiftesfeben damit zerjtört. War denn das 
alles nicht unleugbar wahr und war das nicht trag ?- 
Das Alles wirkte auf mich und ich beichloß, ein 
hiftoriiches Gedicht in drei Theilen zu jchreiben. Der erite 
Theil der Trias follte den Huflitenkrieg jchildern. Der 
zweite das große Zeitalter Böhmens unter dem edlen und 
tapfern Georg von Podiebrad, der ja nahe daran tar, 
deutjcher Kaijer zu werden. Das. dritte Gedicht jollte 
mit der Wahl Friedrichs von der Pfalz beginnen, den 
Kanıpf gegen Ferdinand den Zweiten, die Schlaht am 
Weißen Berge und die Greuel der Gegenvefornation malen, — 
in welcher Böhmen an Körper und Geift erlag. 


Gifts Bud). 135 


Damit glaubte ich in eine reiche Fundgrube Ddichte- 
riicher Motive zu greifen. 

Sch begann mit dem Huffitenfriege. Da fonnte ich 
twenigjtens nach einer Seite hin Die volle Seele ent- 
laden. Der Kampf eines ganzen VBolfes um Nechte der 
Glaubens- und Gewiljensfreiheit, tragisch auslaufend in 
der Bernichtung einer ganzen Generation — dem VBor- 
 wurf schien eg mir nicht an Großartigfeit zu fehlen. 
Und welche Gelegenheit bot mir Diejer Theil, in 
Huffitenpredigten gegen Rom und das Bapfttdum (oszu- 
jtürmen ! 

Das Bedenfen, daß der Stamıpf der Böhmen dazu- 

mal ein Strieg gegen das deutiche Neich gewejen, jchien 
mir ımerbeblih, da es fih um eme jo ferne Wer- 
gangenheit handelte und jtets die allgemeinen freiheitlichen 
Sspeen im VBordergrunde des Gedichtes jtanden. Hatte 
doch auch Fr. Lejjing einen „Hub vor dem Concil“ und 
jeine „Huflitenschlacht” gemalt und damit ein geijtiges 
Erwachen der Malerei zu neuen Stoffen fundgegeben. 
Warum jollte die Dichtung nicht wagen, was die Malerei 
bereit3 gethan? Es jollte aber auch mein Gedicht ein 
Mahnruf an Deutjchland fein, welches, meiner Anficht 
nach, die begonnene Führung der proteftantifchen Soee, 
die mit der deutjchen identisch, des Lieben Friedens wegen 
eingejtellt und dadurch eine Nückbildung in der ganzen 
mittel-eutvopäifchen Welt verichufdet hatte. 

Es war furz vor meinem legten Nigorofum, im 
Sommer 1846, daß mir der Gedanke, den Zisfa zu 


NE 


Bao ori meineBsXebeng, 


ichreiben, geformmen war. Sch ging ogleich an u 
Arbeit. Sr unmittelbarer Nähe des Prager Stranfen- 
haufes steht ein großes altes Gebäude, vom Fünfzehnten 
Sahrhundert her als ein den Herzögen von Troppau 
gehöriger Balajt bezeichnet. Man nennt es das „Fau- 
jtiiche Haus“ umd die Sage behauptet, der Alchymift und 
Buchdruder Dr. Johannes Faust habe hier Jahre lang 
geivohnt und im den 1mteren Stellerräumen ımbeimliche 
Fünfte getrieben. Ein Lleiner, ich jelbjt überlafjener, 
von eimem  jteinernen Geländer umfaßter Garten liegt 
Daneben, von welchem man emen Blik in die Tiefe 
hinter dem Klofter Emaus md weiter hinaus auf die 
fahlen Höhen des Wijehrades und dejjen jagenberühmte 
Mauern hat. Diejevr Garten war mir bejonders Lieb. 
Hier, auf dem Boden eimer romantischen Vorzeit, alte 
Mauern neben mir und vor mir, jaß ich, von einem 
leltjamen Reize angezogen, viele Stunden, während mir 
das alte Steingeländer als Schreibtisch diente. 


I ww DO DO ER EEE TEE 
XVII. 3 
Gordigiani und feine Oper. — Mlarietta Alboni. — Meine Promotion. 


Am lebten Tage des Jahres 1845 hatte ich mein 
erites Nigovofum abgelegt aus den Fächern der Anatomie, 
Vhyjiofogie, Botanif, Mineralogie und allgemeinen Pa- 
thologie. Nm jollte die fortgejeßte und angejtrengte 


Erftes Bug, 


Nepetition der weiteren Studiengegenftände folgen, damit 
auch das große Examen aus der Chemie, fpeciellen PBa- 
thologie, Pharmakologie, der gerichtlichen Mlediein umd 
der Geburtshilfe mit Ehren vor fich gebe. 

Boll Eifer Hatte ich mich auf meine Studien ge- 
torfen, ftecte über Hals und Ohren in meinen Büchern 
und Heften und lieg mir faum Zeit zum Schlafen. Ulle 
Gedanken a meinen „Zisfa” waren verbannt und eine 
Zeitlang ging Alles gut. ch arbeitete umverdrofen. 
Aber es war mir vorausbeitimmt, daß ich neue große 
Störungen erleben jollte. Diesmal famen fie nicht von 
meinen Kopfe, jondern von meinem Herzen. 

sch war jeit Jahren einer ausgezeichneten Prager 
Samilie befreundet umd in ihrem Streife wie ein Sohn 
aufgenomment. 

Sshr gehörte ein herrlicher Beiis, die jchöne, mitten 
in der Stadt gelegene Färberinfel, in deren Saal- 
gebäude alle Bälle und Concerte abgehalten wurden. 
Bier in gleicher Weile für Mufif begeisterte Schwejtern 
theilten jich in das Negiment des edlen, gaftfreien Hauses, 
in dem alle in Prag twohnenden und alle nach Brag 
fommenden Künstler Aufnahme fanden. Zu den eriteren 
gehörte W. Ambros von Haufe Yurift und Beamter, 
dabei Meufitichriftiteller, Alexander Dreyichod, Tjodann 
Fr. Kittel, unlängst Director des Prager Conjervato- 
vimms geworden, ein großes QTalent; er componirte 
eben an einer Oper „Die Franzojen vor Nizza”, zu der 
ihm Richard Wagner den Text überlafjen Hatte. 


al ah | 


Gejichte Arieinke geteng.. 


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FR: 


syn diefem Haufe hatte ich Hector Berlioz fenner 
gelernt, der im Be 1846 nach Prag gefommen- 
war umd uns in großen jtarfbejuchten Concerten jeine 
Symphonie ee jeinen Romeo umd 'ulie, 
die großen Duvertüren Harold, Lear und den Car- 
neval romain vorgeführt hatte, Wroductionen, von 
denen ich einen gewaltigen, unverlöfchlichen Eindrud 
empfangen. 

Sn Ddiefer Familie jaß als Hausgeilt, als spiritus 
familiaris, ein alter Staliener, eim Mufifer, Namens 
Giovanni Gordigiani. Er war Dpernjänger geivejen, 
hatte auf allen größern Bühnen Staliens gejpielt ro R 
gejungen umd hatte, als feine Stimme nachließ, eine 
Stelle als Gejangsicehrer am Prager Conjervatorium 3 
übernommen. Ex war ein janfter und freundlicher alter 
Mann, dejjen Kopf noch die auffallenden Spuren cher 
maligerv Schönheit zeigte umd der durch abjonderliche 
Tracht, bis auf die Schultern fallendes Haar und langen 
ihwarzen Bart eine Stadtfigur geworden war. Er 
glich in feiner Ericheinung dem Harfner aus Wilhelm 
Meiter. 2 

Diejer alte Künftler Hatte eine Oper, Conjuelo — 
nach George Sands Roman — gedichtet- und in Mufik“ 
gefegt. Sie jollte am Schluffe des Sommercurjes von 
den beiten Schülern und Schülerinnen des Conjervatos 
viums aufgeführt werden. Dazu war ihm die Benugung 
des Stadttheaters zugejtanden worden, ‚auch der Opern 
chor jollte mitwirken. 


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0 Erfte® Bud. - 139 


Fa Der Alte wollte nicht aus der Welt gehen, ohne 
gezeigt zu haben, was er vermöge. 
Eines Tages traf ich in der befreundeten Familie 
ein wunderbares Gejchöpf, das mir wie ein jchöner tnabe 
im Frauenfleidern vorfam. Dies Gejchöpf hatte einen 
herrlichen Kopf, umflattert vom üppigiten, sach Siuaben- 
art furzgefchnittenem Haar, jchtwarz wie Ebenhoß. Die 
Wangen waren voll und Eimdlich zart, wie die einer 
rojig angehauchten Camelie und auf einer diefer Wangen 
aß ein fleines jchwarzes Mal, das einem Schönpfläfterchen 
glich. Dies Zwitterwejen zwifchen Knabe und Mädchen 
hatte jchwellend rothe Lippen, dınfelbraune, feurige Augen x E 
amd welche Büfte! Welche Arme! Dabei eine Stimme, Be 
fat wie die eines Mannes. 7 
Be „Dieje jchöne Dame,“ jagte Gordigiani, indem er 
mich an der Hand nahm und mich vorführte, „ilt Die Er 
Y. große Sängerin Marietta Alboni. Schon mit jechzehn e 
er Jahren it fie in Bologna aufgetreten wie ein Phänomen. 
b Alles ift fehlerfos an ihrem Gejang, alles virtuos, md 
Doch alles Gabe der Natur, nicht des Studiums. Auch 
Er eine ausgezeichnete Darjtellerin ijt jie, die Alles aus dem 
E Leben herauszugreifen weiß. Nun kommt fie von Wien, 
mo Merelli jie engagivt hat, und wird hiev in mehreren 
Rollen auftreten. Aber aus Freundjchaft für den alten 
 Gordigiani, ihren Landsmann, hat fie ihm foeben ihre 
Mitwirkung in jeiner Oper zugejagt. Sie wird den 
 Barcarolenfnaben PBiervotto fingen.“ Br 
Meine Freude über dies Anerbieten war groß. 


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140 Gefchichte meines Lchend. un 


Das Piano war aufgethan, Gordigiani jete die 
Singer auf die Taften und Marietta jang die große Arie 
aus Händel’ Ninaldo: B 

Lascia, ch’ io pianga la dura sorte. 

Nein, etwas Mächtigeres md Herzenbeztvingenberes 
als diefen Alt Hatte ich nie im Leben gehört! Mein 
Herz gerieth in große Unruhe und diefe wuchs, als ih 
Marietta als Arjace in Nofjini’S Semiramis und al 
Maffio Orfini in Donizetti's Lurerezia gehört. Wenn 
ich fortan über meinen Büchern jaß, wie tauchte ihre 
GSejtalt vor mir auf! Zudem gab es nur zu-viel Vers Er 
(oeungen, jie da und dorthin in die Stadt zu begleiten. B 
Abende wurden ihr geopfert, die bejjer angewendet hätten 
jein fünnen. Die Aufführung der „Confuelo“ rückte “ \ 
immer näher; die Theaterwelt war mit der Macht einer 
Suvajion bei mir eingebrochen. Sch ließ mich verleiten, e 
größeren und Fleineren Proben beizumohnen, das nah S 
viel Zeit fort. Die Gattin des Compojiteurs hatte je 
an einer Ueberjegung des Librettos verjucht; als man ee 
es in Drud geben wollte, zeigte jich, daß viele Verje 
nichts taugten und eine Umarbeitung dringend nöthig jei, 
Da jollte ich Helfen und half nad) Kräften. So wurden 
Berje gejchrieben in einer Zeit, da ich ungetheilt über 
meinen Büchern hätte figen jollen. F 

Sc Liebte und machte alle Qualen der Giferjucht 
durch. Mlarietta reijte nicht nur mit einer alten Duenna, 
fie hatte auch einen Begleiter zum Seite, der als ihr 
Secretär bezeichnet war. Signor Barlo ivar ein Fleines 


u 


a: eites Buch, ; 


bedeutendes, bejcheidenes Männchen, ganz jung, in 
arietta’S Fahren, nahm fich aber vieles jeiner Herrin 
gegenüber heraus. Das konnte zu denfen geben. Zudem 
wohnten jie eben einander, Zimmer an Zimmer, mr 
dich eine Thür getrennt. Carlo folgte jeiner Herrin 
wie deren Schatten. Und wenn man ihn irgendwo hin- 
Ichickte, z0g ev e8 vor, die Commiltion einem Lohndiener 
zu übergeben und fofort wieder zur Stelle zu jein. Ein 
jeltjamer Seeretär! Außer dem Stalienifchen verfügte er 
nur über einige Broden Franzöfiich, führte aber auch im 
- Stalienifchen die Feder höchjt umgelenf. Hatte er ven 
ne einfachiten Brief an eine ITheaterdirection zur jchreiben, 
Io  verfaßte er mehrere Entwürfe, die er uns zur Begut- 
ie:  achtung vorzulegen pflegte. Defjenungeachtet iprach er 
von jeiner gewaltigen Correipondenz. Aber eines Tages 
ale er in jeine Brufttafche griff, um uns den Artikel - 
einer Mailänder Mufitzeitung vorzulejen, z0g er zugleich 
einen langen, jchmalen, mit Linien. und Sternchen be- 
Briten Lederitreifen heraus. Was das jet, darüber fonnte 
’ Niemand im Zweifel jein, der einmal ein Schneidermaß 
 geiehen. 
Hocherröthend jtecte er es haftig wieder ein. 
Eines Tages war ich, da die Sängerin noch nicht 
ı fprechen war, in Signor Carlo’3 Zimmer getreten. 
| jaß — auf einem Tijche, und zwar noch in Hembd- 
irmeln. Bor ihm lag ein halbfertiges Wamms von 
br Nafch räumte er alles weg, iprang 
Aber eine Scheere umd ein 


en u Ed. 2 =3 


der! Beide ftammen aus eimem Dorfe unfern Cejena in 


5 4 ; 

h DI? WEN r . Klar # Pe GE Dh up 
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+ 


142 Geidjichte meines Lebens. 


Endchen Wachslicht, welches noch die Spur gewichfter 
Fäden trug, war auf dent Tijche liegen geblieben. = 
„Wer it Signor Garlo?” fragte ih an diefem x 
Tage den alten Maejtvo. IR 
Er evividerte mit einem Seufzer: Ri. 
„Sarlo it Marietta’s Jugendgeltebter, ein Schnei- 


dev Nomagna. Er hat ihr aber- und abermal eme 
wahre Humndetrene beiwiefen — das hat fie gerührt, denn 
jte ijt die bejte Seele. Nam Führt fie ihn als ihren _ 
Seeretär mit fich. Er nmäht ihr die Männerfleiver, 
auch Pierrotto’s Wamms und Beinkleid geht aus feiner 2 
funjtfertigen Hand hervor. um wirt Du vieles vers Br 
itehen . . .“ = 

„Sid je am Ende verheiratet?” fragte ich. Be 

„DO nein. Für einen jo dummen Streich it Marietta 
zu gejcheidt. Ste hat jehr viel Ehrgeiz. Carlo toird # 
fich nicht lange mehr bei ihr halten. Doch noch ijt fie 
den armen Teufel der böje Augenblic nicht gefommen ... 

Sc war von Diefen Cröffnungen ganz nieders- 
gejchmettert. Was, die hinntlische Marietta, dieje aroße . Hi 
Sängerin liebte eine erbärmliche Schneiderjeele? Wenn : ii 
irgend etwas, hätte mich das von einer übertriebenen 
Begeijterung heilen jollen. Aber ich jtand bereits in 
jenem Stadiunt, wo fein Heilmittel mehr anjchlägt. 4 

Der Tag der Comjuelo-Aufführung fam. Der alte = 
Maejtro hatte eine Oper im Stile Mozarts ımd Cima- | 
roja’s gejchrieben. Conmfnelo hatte mehrere inmige, ergrei | | 


2 


Erfte3 Buch. 143 


fende Momente, Borpora — Govdigiant jelbjt gab den 
PBorpora — fonnte mit feiner gealterten Stimme nicht 


Durechgreifen, nur Mlarietta als Sinabe Bierrotto war ım- 
übertrefflich. ES gab einen Ychtungserfolg. Die Oper 
twar melodiös, hatte aber einen Haarbeutel mit auf die 
Welt gebracht; die Jujtrumentation war in Findlichen, 
längjt überivundenen Formen gehalten. 

Einige Tage jpäter legte ich mein zweites medieini- 
jches Nigorojum ab. ch bejtand mit Ehren, aber es 
wäre alles noch weit bejjer gegangen, wenn nicht Marietta 
Albont mim schon jeit sechs Wochen in Prag gewejen 
wäre. 

Sseßt wurde, abermals unter großen Störungen, eine 
bereits früher ausgearbeitete Differtation, „De Helmin- 
thiasi* in Druck gegeben. Demnächit jollte die Promotion 
jtattfinden. 

Diefer Act ging damals unter Formen vor Jich, 
die einer längst vergangenen Zeit angehörten. 

Zur Feier einer Doctorpromotion twırde der jchöne, 
hohe, mit den Bildern aller Nectoren gejchmücte Saal 
des Barolinums weit aufgethan, das eingeladene PBubli- 
cum aufzunehmen. Nicht nur Männer, auch. Frauen, 
‚die bejte Gejellichaft pflegte diejen Feierlichkeiten beizu- 
wohnen. Der Doctorand empfing die hevanfomımenden 
Säfte, die verwandten ımd ihm befreimdeten Familien 
fchon an der Treppe und geleitete fie grumppemweife zu 
ihren Sigen. Das weibliche Gejchlecht, das jonft nie die 
geheiligten Näume der alma mater betrat, drängte fich 


Ve A 


Gejchichte meine Lebens. 


mit Borliebe zu diefer Feier. ES fehlten nie die ihönen 
Mädchen, mit denen man auf den Bällen getanzt; fie 
erjchienen an der Seite ihrer Mütter in den elegantejten 2 e 
Promenadetoiletten, denn ein gemachter . Doctor darf je 
denmächit an’s Heiraten denken. Die, welche den Vor 
gang nie gejehen hatten, waren jehr neugierig, die Docto=- 
randen aber befanden ih immer im Zuftand grober Erre- — 
gung. Beim Eintreten lächelten wohl die Schönen über 
die jeltjame Tracht, in der fie ihre jungen Freunde trafen. E 
Borgejchrieben war ein jchiwarzer, vundgejchnittener Frad, 
dazu Kniehofen, Seidenftriimpfe und Schnallenichuhe, ein 
mit Straußfedern bejegter Dreijpiß unter dem Arm, ein 
Galanterievegen an der Seite. = 

Snzwijchen jchlug die feierliche Stunde, das Pro- 
fejloren = Collegium verjammelte ih auf dem erhöhten B: 
Podium. Der Rector magnifieus, der spectabilis Decanus, 
alle präfivivenden Männer erjchienen in Amtstracht, der == 
Dberpedell in jcharlachrothem Mantel, jtand im SHinter- Er 
grumde, in der Hand das Abzeichen jeiner Wirrde. Nınt E 
hatte der Doctorand in wohlgefügter lateinischer Nede 
feinen Lebenslauf zu erzählen und feine Studien gehörig 
herauszuftreichen; schließlich richtete er an den Herum 
an die Bitte um Verleihung der erjehnten Doctor- 
tpirde. er Promotor erwiderte, twieder fateiniich und 
un einen eiceronianischen Formen, daß der Har 
Candidat diefer Auszeichnung twirdig befunden jei. Der 
Rector magnifieus trat vor, und nachdem auch ev ich in 
breiter Gegenrede ergangen, entjchloß er ich zum feier- 


Erftes Buch. 145 


lichen Ucte. Er hing, vom herbeigetretenen ‘Bedell bedient, 
dem Doctoranden eine jchivere güldene Kette um den Hals 
und steckte ihm an den zweiten Finger der rechten Hand 
einen anjehnlichen Ning, zum HBeichen, daß der junge 
Doctor auf Lebenszeit mit der alma mater vermählt jei. 
Während mın von der Höhe Trompetengejchmetter und 
Baufenwirbel exicholl, wurde die Scene mit feierlichen 
Umarmungen bejchlojfen. est war der Glückliche aller 
academischen Ehren theilhaftig. 

Ganz nach diefem Nitual bin ich am 2. Juli 1846 
um elf Uhr Bormittags im großen Carolinfaale zum 
Doctor der Mediein promovirt worden. E83 war gebräuch- 
lich, gleichzeitig zivei. bis drei Kandidaten zu promoviren; 
ic) erlangte die Doctorwürde gleichzeitig mit meinem 
lieben Freunde Fohannes Spielmann, der jpäter eine 
Autorität auf dem Gebiete der Geiftesfranfheiten getvorden 
it. Wir hatten beide viel Befanntichaften. So war denn 
die Berfammlung eine glänzende. Man war zu Fuß und 
zu Wagen herangefommen. Auch jchöne Töchter fehlten 
nicht, der Saal war bis zum Drüden voll. Ich war 
bei dem ete jehr gerührt. Dankbarkeit gegen meine 
Lehrer erfüllte meine Seele. Wiederholt blickte ich zum 
Bilde meines Großvaters empor, der mich von der Wand 
ernjt umd nachdenklich anjfah. Thränen traten mir in die 
Mugen, als Brofefjor Oppolger, den ich twie ein höheres 
Wejen verehrte, mich in jeine Arme jchlog. Und mn 
war alles vorbei, die Trompeter auf der Eitrade bliejen 
ihre uralte, traditionelle Fanfare. 

Meikner, Gejchichte meines Lebenz. I. B. 10 


146 Geichichte meines Lebens. % i 


Sch hie fortan Doctor. Der Name hat doch einen 
eigenen Stlang in deutjchen Ohren, im Lande, wo man 
von Doetor Fauft und Doctor Martin Luther zu jprechen 
gewohnt tft! { 

Als ich unmittelbar darauf auf meinem Zimmer 
Nocveofrad, SKiehojen, Seidenjtrümpfe und Schnallen 
Ichuhe abjtreifte umd den federbejegten Dreijpig wegiwvarf, 
hatte ich doch das Gefühl, dag mir etwas für alle Zeit 
von diefent MAete geblieben fei. 

Dann flog ich in den „blauen Stern“, um mit 
Mearietta, die dort wohnte, zu fpeifen. Sie war bei der 
Feitlichfeit zwar nicht ammwejend gewvejen, doch hatte fie 
mir bei diefer Erhebung zum Doctor einen kleinen Beiltand 
geleiftet. Ste hatte mir nämlich, als meine jchwarzen 
Seiwenjtrümpfe beim Anziehen gerifjen waren, mit einem 
Baar ihrer Theaterjtrümpfe ausgeholfen. Sch verwahre 
fie noch heute al3 eine Erinnerung an die große Sängerin, 
die ich jpäter mit ihrem Carlo in Paris wiedertraf, aber 
feitvenm fie Gräfin Bepoli wurde, nie mehr geiprochen habe. 

Sp war ich denn Doctor der Medtein, aber jchon 
während meines Studiums hatte ich einjehen gelernt, daß 
mir zum praftiichen Urzte die rechte Befähigung abgehe. 
Wenigjtens zum praftijchen Arzte von ernjter, ich möchte 
jagen, heroischer Nichtung. Das Mefjer in ruhiger Hand 
zu führen, war mir veriagt. Dazu fehlten mir die 
nöthigen Stahlnerven. Nie würde ich, das fühlte ich, 
ven tragischen Theil des ärztlichen Berufes, der aber den 
Arzt erit zum Arzte macht, erfüllen fünnen. Ein ernjtes R 


Erite3 Bud), AN 


Duell mit dem Tode zu führen, dem weinenden Gatten 
die freudige Kunde der Nettung zu geben, der Liebenden 
Mutter den Neugeborenen zum Kufjfe zu veichen und 
dabei die Halbgebrochenen Augenjterne wieder aufleben zu 
jehen — das Alles und vieles andere, den edeljten Theil, 
den Triumph des Mediceinerlebens, würde ich nie erfüllen 
fünnen. Selbit im Laufe der Jahre war es mir nicht 
gelungen, mich gegen die furchtbaren Eindrüde nach diejer 
Seite hin abzuhärten. Jh bewahrte ein Grauen vor 
Dperationen, der Schmerzensichrei des Patienten lähmte 
mich. Selbjt vor ftark widrigen Gerüchen habe ich eine 
franthafte Scheu nicht überwinden fünnen. 

Sc habe die Erinnerungen an mein Medicinerleben 
viele Jahre jpäter in einem in Prag jpielenden Roman 
niedergelegt. Wer zwijchen den Zeilen zu lejen verjteht, 
wird aus dem düjtern Colorit der bezüglichen Bartien das 
geheime Graufen herausfinden, das alle dieje Dinge in 
meiner Erinnerung umgab. Und in der That, es hatten 
die Gegenden der oberen Neujtadt Brags, in denen das 
„allgemeine Stranfenhaus”, die Frauenklinif, die Frren- 
anjtalt jtehen, noch in jpäteren Jahren für mich ihre 
Schauer behalten. Wohl find die bezüglichen Scenen 
meines Buches mit den Scherzen des Studentenlebens 
durchflochten, aber der düjtere Hintergrumd blickt jtarr und 
dräuend durch. Als Typus des finjteri, ganz in jeinen 
Beruf verjenften Gelehrten findet der Lejer eine Figur 
hingejtellt, die theils Züge meines verehrten Lehrers, Pro- 

jeetor Gruber, jest PBrofefjor der Anatomie in Peters- 
10% 


® RE i 
| n RATTE TEN 


Gejchichte meines a a, a 


burg, teils Züge meines verjtorbenen Freundes Kine 
Treiz, jpäteren Brofefjors der pathologischen Anti 
in Prag, an sich trägt. 


7 


I 


XIX. 
In Karlsbad. — Nuszjugsgedanfen. 


Ungeduldig erwarteten indejfen meine Eltern im 

Karlsbad den jungen Doctor. Wohl begab ich 0 e 

hin, — die Satjon ftand auf ihrer Höhe — doch jtatt 

B mich als Praftifus in die Badeliften eimriten zu laffen, | 
| ging ich allem gejelligen Xeben aus dem Wege und Ichlog 
mich ein, um an meinen „Zisfa“ weiter zu arbeiten. 2 

Sm meinem Eleinen Dachzimmer im „Englifchen E 

Haufe“, den Blid aufs Egerthal und das Erzgebirge, E: 
entitand ein Gejang um den anderen; c3 gab feinen 

Tag, der nicht mindejtens feine fünfzig DVerje ein 3 
gebracht hätte. . 

Und doch zeigte es fich bei jedem Schritte Elarer, 

daß das Werk nicht mur den Verfaffer in arge Confliete 

mit der Staatsgewvalt bringen mühe, jondern auch ins 

’ Allen, was feinen Beruf umd feine Stellung zu den 
f Eltern betraf, eine gewaltige Aenderung herbeiführen - 
p werde. B:: 
Vor Allen ift zu jagen, daß dazumal für den Dejter- — 
reicher, der ein Buch oder auch nr ein Blatt daheim 


I za a ern 


Erites Buch. 149 


oder draußen im Meiche in Druck geben wollte, die Ver- 
pflichtung bejtand, es der einheimischen Cenjur als Manu 
feript zur Begutachtung vorzulegen. Crbielt e3 das be- 
bördliche Admittitur, jo durfte eS gedruckt werden; war 
es mit einem Dammatır zuricgefommen und erichien es 
trogdem, jo wurde gegen den Autor eine gerichtliche Ber- 
folgung eingeleitet. um aber twiderjprach eS meinen 
Grundjägen, mich diejen Anordnungen zu fügen: Die 
öjterreichiiche Cenjur war mir wie Geßler’s Hut, den 
nicht zu grüßen ich für eine Ehrenjache hielt. 

Sc hatte bis jet bei meinen poetischen Arbeiten 
feine namhafte Behelligung erfahren. Erjt meine bei 
Philipp Neclam erjchienenen „Gedichte“ hatten mich in 
Conflict mit der Polizei gebracht, der jedoch noch jo 
ztemlich till verlief — ich wide zu einer Geldftrafe ver- 
urtheilt. 

Anders jtand es jegt. ch Fonnte nicht erwarten, 
daß mein „Zisfa“ unbeachtet bleibe und brachte ich den 
in ihm liegenden politischen und vreligiöfen Inhalt zu 
lebensvollem Ausdrud, fonnte e3 nicht ohne Fährlichkeiten 
gejchehen. Sollte ich auswandern, mich auf Jahre aus 
meiner Heimat entfernen ? Auch das hatte feine Schwierig- 
feiten. Man bedurfte, um fich in den deutschen Städten 
zu halten, eines von der Heimatsbehörde ausgejtellten 
Bafjes. Berweigerte die Behörde die Verlängerung des- 
jelben, war man gezwungen von Ort zu Ort umbherzu- 
wandern umd den Wunft zu juchen, wo man geduldet 
wurde. 


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ef -—- > , FW 
150 Gejchichte meines Lebens, RT 


Sp hatten erjt nach längerer Jrrtahrt Eduard Duller 
in Darımjtadt, Drärler-Manfred in Wiesbaden, Hormadyer 
in Bremen, Fallmerayer in München, Schujelfa in Hans 
burg ruhige Stätten gefunden. Ohne Drangjal ging e8 
nicht ab. Wie glüdlih jtand es um Nikolaus Lena, 
Karl Bed, Anajtafius Grün, die allerdings auch bei ihren 
Publicationen die öfterreichischen Cenjuredicte nicht achteten! 
Die erjten beiden waren Ungarn, jomit einer anderen Gejeß- 
gebung imterworfen, der leßtere war ein Graf, einer der 
erjten und ältejten Adelsfamilien des Landes angehörig. 
Shn anzutaften unterlieg man. Man ließ jein Pjeudo- 
uym gelten und ignorirte jein Wirken. 

Naftlos wanderte ich auf den Waldivegen um Klarls= 
bad umher und erivog, was ich zu thun habe? Wenn 
ich mein der Beendigung entgegenreifendes Buch druden 
lafjen wollte, blieb mir nichts übrig, als, wie furz zuvor 
Mori Hartmann gethan, aus Dejterreich auf unbejtinmte 
Zeit auszumandern. Aber Hartmann hatte feine Stellung 
aufzugeben. Für mic) dagegen hieß Auswandern jo viel, 
als der Berufswiljenichaft, für die ich mich an der Unis 
verjität gemüht und der durch den Doctorsgrad errungenen 
Stellung wieder entlageıt. 

Heute, ruhiger und gerechter als ich es eheden war, 
begreife, entjchuldige, vechtfertige ich alles, was mich 
damals jo jchwer traf: den Zorn des Vaters, Der den 
Sohn nicht die kaum eingejchlagene Laufbahn aufgeben 
jehen wollte und dejjen Vorgehen Thorheit, Troß und 
Berblendung jchalt, ich verzeihe ihm die Härte der Drohung, 


Erfte3 Bud. 


für immer feine Hand von mir abzuziehen. Cs war der 


legte Verjuh, mich zum Einlenfen zu zwingen. 

Aber dämme Einer den überjchtwänglichen Weberzeu- 
gungseifer eines jungen Menfchen, der mit jeinen bald 
fertigen Büchlein jein Theil zur Befreiung der Geijter 
beitragen zu müfjen glaubt! Keine Einjchüchterung ver- 
fing. Sch hatte bei mir bejchloffen, den „Zisfa” erjcheinen 
zu lafjen und demnächjt die dazu nöthigen Schritte zu thın. 


Du Du ww Zw DL LEEREN 


XX. 


Die Polen von dazumal. — Nachrichten von Celeite. 


Sndeß war die Erinnerung an meine Jugendliebe 
in meinem Herzen noch immer nicht evfaltet, ja der Auf- 
enthalt in Karlsbad fachte fie nur um jo lebhafter ar. 

Drei Jahre waren verflojfen, und die Hoffnung 
Cefejte wiederzujehen, war umerfüllt geblieben — wir 
hörten nichts von ihr. Und doch gab mir eines Hoffnung, 
daß ich fie endlich wiederjehen würde: die Mutter hatte 
bei dem Hauswirthe einen großen jchiveren Koffer mit 
Effeeten zurücgelaffen, der noch immer bei ihm jtand 
und nicht zurücgefordert worden tar. 

Sch dachte fortwährend an Celejte. Nie ging ich 
am Haufe, in welchem fie gewohnt hatte, vorüber, ohne 
ihr Bild vor mir zu jehen. a, ihr Bild jtand heller 
als je vor meiner Seele. Sch hatte jeitdenm manch reizen- 


0 


152 Geihichte meines Lebens. 

des Kind gejehen, aber fein jchöneres oder feines, das 
mir jchöner erjchtenen wäre. Shre Kindesliebe, ihre 
Herzensgüte, ihr fröhliches Lachen, ihr Eindlich unbefan- 
genes Weien — ach, die Entfernung idealifirt den geliebten 
Gegenjtand, hebt ihn höher ıumd höher empor. Alle 
Mängel und Schwächen ftreifen fich ab, das geliebte Wefen 
iteht als das Urbild aller Bollfommenbheiten da. Und 
noch immer war Hoffnung, ie wiederzufehen: der Koffer 
war ja noch da! 

Nur ein einzigesmal im langen Laufe der Jahre 
hatte ich etwas von Madame DB... . Ska umd ihrer 
Tochter gehört; aber es war nichts Gutes und VBortheil- 
haftes. ine Landsmännin derjelben erzählte gelegentlich 
bei einem Bejuche in umjerem Haufe, daß jte die Beiden 
in Baris gejehen. 

„&elejte wird jchon in die Welt getreten fein?“ — 
meinte meine Mutter. „Mein Gott, in die Welt!” war 
die Antwort. „Es jind harte Zeiten über die arme Frau 
B....Sfa gekommen, jehr harte Zeiten. Sie ift mit 
ihrem Vermögen glücklich fertig geworden. Sie hatte von 
jeher einen unglüclichen Hang, zu glänzen und über ihre 


Mittel hinaus zu gehen — mun behilft jte fich, wie fie 
eben fanıı. Esiit eine Thorheit, va Madame B..... Ska 


immer mr in Brüffel oder Baris leben will. Sie thäte 
bejjer, in ihre Heimat zurüczufehren. Aber wen nicht 
zu rathen, dem it nicht zu helfen. . . .“ 

„Und die fleine Celejte dürfte jomit noch lange 
unverheiratet bleiben ?“ 


a Br ae Dr ri 


Erfte3 Bud). 153 


„Natürlich; der reihe Mann, den die Mutter jo 
lange für ihre Tochter gejucht hat, wird Sich jchwerlich 
finden. Nie!“ 

Das war Alles, was ich hörte, es beivegte mich 
jehr und ich dachte viel darüber nad). 

Die Polen jtanden damals im "den Badeorten, ivie- 
wohl jie zumeift mit Grafentitehn auftraten, in einer 
jeltiamen Mifachtung. Mean hielt jie fir gutherzig und 
leutjelig, aber nicht für vertrauenswiürdig, jchon weil fie 
immer in Finanznotd. Den praftieivenden Yerzten war 
e3 befannt, daß fie eS Tliebten, sans cong& abzureijen 
und das ärztliche Honorar jchuldig zu bleiben. Auch die 
Kaufleute folgten nicht gern ihre Waaren den „polnifchen 
Grafen“ ohne Baarbezahlung aus. ine charakteriftiiche 
YHeugerung diejes Mihtrauens it mie noch immer im 
Erinnerung. Eines Nachmittags waren alle Tijche vor 
dem großen Kaffeehaujfe auf der „Ilten Wieje“ mit 
Menjchen bejeßt, als ein Platregen eintrat und alles 
jählings in die Flucht trieb. Sch, der ich in umnmittel- 
barer Nähe des Haujes im Schuge des VBordachs figen 
geblieben war, wendete mich an die Wirthin, Die gerade 
vor mir ftand umd umnbeweglich, faltblütig dem all- 
gemeinen Aufbruch zuichaute. „Bei jolchen Borfällen,* 
jagte ich, „müfjen. Sie wohl großen Schaden haben; ven 
es läßt jich kaum annehmen, daß alle wiederfommen und 
ihre Zeche berichtigen?” „NUlle kommen wieder!“ ent- 
gegnete die Frau, „gar feinen Schaden werden wir haben. 
Denn — wir find noch im Juli.” — „Was hat ver 


ehr Din End ae ia / EIGEN 30ık 


154 Gejchichte meineg Lebens, 


Juli damit zu thun?” fragte ich weiter. — „Sa, jehen 
Sie, da jind noch wenig Polen da; die pflegen evit im 
Herbit nach Karlsbad zu fommen.” — „Wie?” fragte ich, 
„ind die Bolen jo unjolide ?” — „Allerdings find jie das,“ 
erividerte die Frau. „Ber polnischen Gäften muß man 
immer auf der Hut jein. ES müfjen dann auch immer 
die Brote abgezählt werden, die man in die Körbe legt, 
denm jede polnische Jamilie gibt weniger an, al3 jie ver- 
zehrt hat.“ 

Damit entfernte fich die Frau, mir hatte jie Anlaß 
gegeben, iiber die Charafterichwächen der heroiichen Nation 
nachzudenfen. ! 

Abermals jchien der Sommer vorübergehen zu wollen, 
ohne mir von Gelejte, an die ich noch immer dachte, eine 
Nachricht zu bringen, da jprach mich eines Tages, als ich 
am Haufe, in dem jte gewohnt Hatte, vorüberging, der 
Hausbejiger aıt. 

„Sie erinnern fich gewiß noch der guten Madame 
B....3a?" sagte er. „Denken Sie dodh. Die gute 
Dame ijt todt. Gejtern habe ich die Nachricht Durch die 
fleine Comtejje erhalten.“ Er holte auf meine Bitte den 
Brief und zeigte mir ihn. Er war deutich mit Tatei- 
nifchen Lettern gejchrieben, jehr unorthographiich und 
lautete folgendermaßen: 

„xieber Herr Scherer, ich bin jehr unglücklich. Sch 
habe verloren meine gute Mutter, die gelitten hat viel 
Kummer in den legten Jahren. Vor zwei Wochen haben 
wir die Gute, die Sie auch gefannt haben, gelegt ins 


Erites Buch. 1 2575% 


Grab mit vielen Ihränen. Lieber Herr Scherer, jeien 
Sie jo gut zu jenden uns den Stoffer, den twir bei shnen 
haben gelafjen vor drei Jahren, im Glauben, daß wir 
twiederfommen nach Karlsbad, was nicht it gegangen in 
Erfüllung. Er wird noch ruhig ftehen bei Ihnen. ch 
weiß nicht, ob jich lohnen wird die großen Ktojten von 
der Sendung hierher, aber ich hab mich doch entjchlofjen 
dazu, die Adrejje von Shrem Frachtbrief ift: Madame 
Alibert, Paris, Rue de Provence 16, pour Made- 
moiselle Celeste, aber die Comtejje bitte lajfen fie weg, 
denn das tit eine Dummheit, wenn man nicht mehr 
reich it. 
Mit vielen Grüßen Ihre 
Geleite B... . 3fa.” 

„sa ja!“ jagte ich, den Brief zurücjtellend, „das 
hat jie gejchrieben mit ihrer Lieben, weißen Hand, md 
ein trauriger Brief it es! Unglük und fnappe Lage 
bliefen allenthalben durch. Rue de Provence Nr. 16. —- 
Der Himmel fegne die brave Frau, die fi) der armen 
Waife angenommen! Er lafje fie in ihrem alten polnijchen 
Koffer Schäge finden aus alter Zeit, Bernjteinfchnüre 
und türkische Sharols, Juwelen — was weiß ich! Sie 
haben ihn doch jchon abgejchiet, Herr Scherer ?“ 

„Heute habe ich ihn aufgegeben,“ war die Antivort. 

„An mich hat fie nicht gedacht, ein Gruß an mic) 
it nicht im Briefe!“ Dachte ich weiter vor mich hin. 
„Doch ich preife den Zufall, der mir diefen Brief in Die 
Hand geipielt. Wenn mich mein Schidjal, was ja möglich 


156 Geichichte meines Lebens. 


it, jemals nach) Paris führt, weiß ich doch, wo ich 
Gelejte nachfragen fann. Rue de Provence' 16, bei 
Madame Alibert.” 


= 


XXI. 


Zeipzig. — Berloßjohn, Kuranda und Andere. — Selbjtvermehrung 
meiner Gedichte. 


Leipzig, das jet einen falten und vornehmen Cin- 
druck auf mich macht, erjchten mir, als ich im September 
1846 dort eintraf, äußerit intereffant, jogar romantisch. 
Der Charakter Leipzigs war damals noch der einer alten 
deutjchen Stadt. Die herannahende Meichaelimejie hatte 
eine Bretterjtadt innerhalb der großen Pläße hervor= 
gezaubert, e3 wogte von Menjchen in den Gafjen. An 
allen Schaubuden wurde geblajen und getrommelt. Man 
fand fich. in diefem Wirrjal kaum zurecht. Nm hatte 
ich auch Morik Hartmann lange nicht mehr gejehen und 
wenn zivei Freunde einander wieder begegien, die Jich 
lange nicht getroffen, was gibt e$ da nicht alles zu er- 
zählen! Es war eine Zeit, wo man der oee lebte und 
derjelben eine weltbetwegende Kraft zutraute. Jeder dachte : 
es mu bald anders werden, und hielt es für jeine 
Pflicht, dazu zu thun, daß es aljo werde. 

Sch hatte den Kopf voll Lectüre umd wollte alle 
historischen Gebäude jehen. Zuerjt das Haus in Gohlis, 


Grfted Buch. . 157 


in welchem Schiller 1785 jein Lied „an die Freude” 
gedichtet: tiefbewegt befichtigte ich die jänmmerlichen Räume, 
in denen ein hochgetvachjener Mann wie Schiller nur 
barhaupt einhergehen fonnte. Nım wollte ich wifjen, wo 
Gottiched und jeine Gattin. Adelgunde, die Ahnfrau aller 
ichreibenden Frauen, und wo der Studiojus Wolfgang 
Goethe Logirte. Sogar das Wohnhaus des Frommen 
Ehriftian Fürchtegott Gellert und der Duandt’sche Hof, 
den mein Onfel entjtammte, durch Zacharias Renommiiten 
unter dem Namen des Zotiichen Hofes befannt, war mir 
nicht gleichgiltig. 

Wir gingen in’3 Nojenthal; die Bäume dort waren 
noch nicht vom Herbite gejtreift, das Wetter noch außer- 
ordentlich jchön; ich wünschte zu erfahren, wo der Drt 
fei, an welchem Schrepfer von den Geijtern geholt worden 
war? Aber Niemand wußte davon. 

Sch machte viele Befanntichaften. Sch lernte Heinrich 
Laube fennen, der unlängst unter die Dramatiker gegangen 
war; er hatte die zreundlichkeit, uns beiden jungen Leuten 
jeine eben beendeten Karlsjchüiler vorzulejen. ch jah Ger- 
jtäder, den jchon damals vielgereiften, der in feinem 
Ziunmer in einer Hängematte zu liegen pflegte, den janften 
und boshaften Maria Dettinger, der damals für den 
deutichen Paul de Kock galt, aber dabei gar jentimentale, 
thränenfeuchte Lieder Ddichtete; ich lernte den biederen 
Ernjt Willfomm, den vornehmen Gujtav Kühne und den 
längjten aller deutjchen Schriftiteller, Friedrich Saß, fennen, 
dem es, wenn er in’S Theater ging, wiederholt pajflirte, 


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158 Gefhichte meined Lebens. 


dab ihm zugerufen wurde, er möge jich doch jegen, während R 


er längit jaß. Sch machte auch die Befanntjchaft Herlof- 


johns, des talentvollen Romanfchriftjtellers md vortreff- 
lichen Menjchen, dem man jchon nac Fünf Minuten 


herzlich gut fein mußte, des Mannes, den der Wein, den 


er fo Liebte, immer trauriger jtimmte, bis er endlich 
ganz in Wehmuth zerfloß, und der, wenn die Stunde, 
nach Haufe zu gehen, endlich heranrückte, gar jo jchwer 
in feine Galofchen hinein fam. Endlich wäre noc) 
Dr. Haltaus zu nennen, der VBerfafjer einer Weltgejchichte, 
die im Stile der nach Fferniger und gedrängter Stürze 
itrebenden Nömer gejchrieben war. &s wurden damals 
aus derjelben im Kreie der Freunde viel fomijche Stellen 
eitirt. Eine derjelben ift mir noch im Gedächtniß, es 
it die, wo er vom Sturze des Tarquinius berichtet: 
„Sie ftritten im Lager über die Vorzüge ihrer Frauen. 
Bei dem nächtlichen NRitte trug Lueretia den Sieg davon.“ 

Ic wohnte in einem Fleinen Gafthauje, zur „Stadt 
Wien” genannt, faft am Ende der Hainjtraße. Der 
wwadere Yohannes Nordmann, der Dichter und zFeuilles 
tonift, war mir ein lieber Zimmernachbar. Jch hatte ein 
ichönes, helles Erferzimmer inne, von welchen man die 
Straße und die Leute, die fich unten tummelten, nad) 
beiden Seiten überjehen fonnte. Da jtand ich jtunden- 
lang am Feniter. 

Nach des Tages literariichen Mühen juchte man 
das unteriwdiiche Leben auf und traf ich bei Aedferlein 
oder in Auerbachs Keller. Der Ort der wahren Emfehr 


Erjte3 Bud. 159 


it immer ein unteriwdischer. Mean fuchte damals feine 
großen, eleganten Locale, man liebte das trauliche, enge, 
nachgedunfelte Stübchen. Dort, in der vauchgejchtwänger- 
ten Atmojphäre, mundete der Wein und das „Zöpfchen“ 
Bairijch am beiten. Da war auch der „Nobisfrug“, in 
einem gar engen Gäßchen, zu dejlen Auffindung man 
die Führung eines wohlbeivanderten Freundes nöthig hatte. - 
Schon der Name wirkte anlodend, wenn man erit unlängjt 
Friedrich Daumers „Seheimmnifjfe des chriftlichen AUlter- 
thums“ gelejen und daraus erfahren hatte, daß das 
geheimmigvolle Wort „Nobisfrug“ Feineswegs von nobis 
abzuleiten jet (locus, ubi potus nobis concessus), jondern 
jedenfalls von abis, abyssus, gleichbedeutend mit Abgrund, 
Krhpte, Ort des Greuels, Teufelswirthichaft, ein Drt, 
to ehedem Finjtere Miyjterien vollzogen worden jeien. 
Kuranda, der Herausgeber einer Wochenschrift, die 
bejonders in Dejterreich viel gelefen wurde und alle Kräfte 
der dortigen liberalen Oppofition in fich zu jammeln ver- 
ftanden hatte, war ein geiftreicher Mann und liebens- 
twirdiger Nedacteur. Er war mehr der Capellmeijter der 
„Srenzboten“, der das Zustandekommen eines Programms 
von schöner Abwechshung, das gute Enjemble und die 
tadelloje Aufführung überwachte, weniger ein ereeutivender 
Stünftler ; jelten griff er felbit zum Geige. Seine Artikel 
ichrieb er mit großer Sorgfalt, und fie waren fo elegant 
twie jeine Erjcheinung. Er redigirte eigentlich auf Neijen, 
bald von da, bald von dort aus umd wohnte auch jebt 
im Hotel de Baviere, two der König aller Wirthe, der 


160 Gedichte meines Lebens. 


treffliche Nedslob, waltete. Kuranda’s Auge wachte über 
jeder Nummer mit zärtlicher Sorgfalt, und er jprach am 
tiebjten davon, was das lebte Heft enthalten habe oder 
das nächjte bringen werde. Er war mit ganzer Seele 
bei der Sache. Man konnte es ihm auf dreißig Schritte 
anjehen, wenn twieder einmal eine Feder erjten Ranges 
ihm ein Manufeript eingefandt. Dann trug er jein Haupt 
mit bejonderem Schwunge, die Hand führte noch fecfer 
als jonjt das zierliche Stödchen, die Augen jtrahlten von 
fiegreichem Feuer. Er hatte damals etivas von einem 
kleinen provencalijchen Troubadour, und das war er 
auch in der That. Auf feinem Zimmer, ganz allein, 
pflegte er die Guitarre zu spielen, ev bejaß auch eime 
angenehme Tenorjtinme. 

Schon in den erjten Tagen meines Aufenthaltes in 
der großen Buchhändleritadt jollte ich darüber orientirt 
terden, was es mit den Buchhändlern auf jich habe. 

Sch hatte meinen neuen Verleger geneigt gefunden, 
zu meinem „Zista“ die „Gedichte“ zu erwerben, Die vor 
anderthalb Jahren als dünnes Löjchpapiersdeft erjchtenen 
waren. Sch follte mich erkundigen, wie viel Exemplare 
davon noch auf Lager jeien, dan fünne man e3 vielleicht 
mit einer neuen vermehrten Auflage verjuchen. 

Sch eilte zu meinem früheren DBerleger und trug 
ihm mein Anliegen vor. Er gab fofort einem jener 
Leute den Auftrag, die Nejte abzuzählen. 

Während dies gejchah, hielt mir der Buchhändler 
einen Vortrag, daß „Siebenhundert und fünfzig rem 


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s > E a mr! > 3 
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. Be eben die richtige Zahl für das Buch eines jungen 
 Yutors jei. Sechs Frei-Exemplare fielen dem Berfaffer 
zu, mit vierzig Exemplaren feien die Nedactionen zu beden- 
fen, jo blieben ungefähr fiebenhumdert Exemplare übrig, 


gedeckt jei. sch fand dies wenig, aber: es war num einmal 
nicht anders im deutichen WVaterlande, jelbjt bei Büchern, 
die Auffehen gemacht hatten. 

e Da fam der Gehilfe zuriick und meldete, daß noch 
achthundert Exemplare vorräthig feien. 

„Das ijt entjeglich!” vief ich. „Nicht nur fein a 


Der Buchhändler wurde verlegen. Cr jprac) von 
_ einem serthum,: den ev perjönlich aufklären miüfje. Uebri- 
Bene möge jich mein neuer Berleger zu ihm verfügen, 
da werde man fich über die Sache leicht einigen. 

Und jie eimigten jich in der That. Schriftiteller 
wird jchiwer mit Kaufmann fertig; Kaufmann mit Kauf- 
mann jchon weit leichter. 


ug >> > Sn > >> x = = et = = = ze 


RR. 


Dresden. — Bei meinem Ünfel. — B. Auerbach. — BR. Wagner und 
jein „Tannhäufer”. 


Als ich mit meinem Berleger in Bezug auf meine 


um dort in größerer Stille und Zirrückgezogenheit mein 
Meißner, Gejcichte meines Lebens. I. 2. 11 


3 TE. ; Erftes Bud). 161 i 


E it welchen der Bedarf der Lejenden Welt genügend 


beiden Bücher ins Neine gekommen, eilte ich nach Dresden, 


Eee Pe 2 2 r - x 
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Be e - = une >» , v 


E02 Gejchichte meine? Leben. 5 


Gedicht zu beendigen und Lücen darin auszufüllen. Es hatte: 
deren genug, beinahe das ganze leßte Buch war zu jchreiben. 
| Dresden war damals ungewöhnlich interejjont. i 
- ift von jeher der Fall gewejen, dat eine Stadt zeitweiie 
3 ‚die geiftige Führerichaft in Deutjchland übernahm. Einft 
war Weimar ein Hauptpuuft der Entwicklung gewejen, 
dann Berlin, jet war es Dresden mehr als Berlin. Es 
war entichieden ein geijtiger Vorort. Bedeutende Männer 
ber Stumft ımd der Literatur twaren beifammen md bedeut- 
jame Schöpfungen tauchten fajt gleichzeitig auf. Gubkom, = 


b- Anerbah — Richard Wagner, Robert Schumann — 
4 Nietfchel, Semper — waren diefe Namen nicht glänzend 
E genug, um den Blief auf diefe Stadt, zu lenken ? Ei 
jr Es war eine literarische Stadt. Alles las dort, 
“ 


vor Allen die Frauen, allerdings mit dem Stricjtrumpf 
zwijchen den Fingern. Es lajen jelbjt die fanariengelben 
Portchaifenträger in der Schloßgaffe und die Soldaten 
auf der Hauptwache, wenn jie nicht gerade das Gewehr 
auf der Schulter hatten. Auch ein literarischer Brinz und 
Thronfolger war da; aber damit der Schiller’iche Ber 
von des Medicäers Güte nicht Lügen gejtraft werde, Em 
E merte er fi) gar nicht um feine fiterarifchen Coflegen. 
Philalethes überjegte den Dante md alle Danteforicher find 
furchtbar ernite Gejichöpfe. Das Theater bejuchte ex mu, 
wenn eim Stücd jeiner Anverwandten, der Brinzeffin 5 SS 
Amalie gegeben wurde. 

Mir war im Haufe meiner Tante ein bejcheibenes“ 
Quartier angewiejen worden. ES beftand aus zwei Stuben 


BR j. a E 
E Gifte Bud. 
Br 


2“ im dritten Stocwerfe, aus deren Fenjtern ich eine pracht- 
volle Ausficht auf die Elbufer, die Brücde, die Altitadt 
Dresden hatte. Hier wachte ich noch lange in die Nacht 
hinein, wenn jchon alles schlief. Ju einer umbejchreiblichen 
— Aufregung, in welcher ich gleichlam aus mir jelbjt her- 
 austrat, schrieb ich den „Winzerzug“, die „Adamiten“ 


amd ma war das Buch fertig. 

Allwöchentlich einmal jah mein Onfel die Maler, 
x - Architekten und Bildhauer Dresdens bei ih, im großen 
—— Bibliothefzimmer, das mit Cartons von Dverbed, Thor- 
_ waldjen und Carjtens, mit Gypsabgüfjen von Antifen 
amd römischen Marmorrejten veich geihmücdt war. Es 
wurde in diefen Neumionen, die früh Nachmittags be- 
 ganmen und jehr jpät endigten, jehr viel guter Bordeaur 


= als bejcheivene Erijtenz diefen Sympojien beitvohnen. Da 

 fernte ich die Mater Julius Hübner und Julius Schnorr, 
Die Bildhauer Rietjchel und Jul. Hähnel, den Architekten 
Semper fennen. Leßterer, der Erbauer des Dresdener 
Theaters, Brofejjor der Baufunjt an der Dresdener Afa- 
demie, war eben epochemachend aufgetreten. Er hatte 
bereits jeine Schrift iiber die Polychromie dev Alten ver- 

- öffentlicht. Durch ihn entichied jich, dal; weder die Wieder- 
aufnahme des griechischen Stils noch die Wiederaufnahme 

ber Gothif möglich jei, jondern die Bauformen der Re- 
BY.  naiffance unjern Culturformen entiprachen. Er hatte zu- 
et beim Baue der Dresdener Synagoge coloriftijche 
Ki. 11* 


und den vielbeiprochenen Schlußgejang meiner Dichtung - 


getrunfen umd viel feine Havanna’s geraucht. ch durfte 


Dr u 


164 Gejjichte meines And. 00703030. 


Wirkungen angewendet und hatte durch den Theaterbau 
gezeigt, was er vermöge. Nım war ihm der Bau des 
Mijenms übertragen worden, zunächit um die Schäbe 
der alten Bildergallerie aufzunehmen. Es war bejtimmt, 
03 dem Ziwingerpalafte vorzulegen und jo beide Flügel 
desjelben zu einem Ganzen zu verbinden. Die Debatte N 
über diefen Bau md was damit zujanmenhing, füllte 
den gamyen Abend aus. sch hörte von nichts als von 
Einfehlungen und Liljenen, von jelbjtändig und organich 

gegliederten Bogen; von Friefen, Pilajtern, Füllungen 
und Surtbändern, bis miv der Kopf zu wirbeln anfing. 
sm Stillen bejchloß ich, von der Erlaubniß, diefen Situn- 
gen beizutvohnen, nım den mäßigiten Gebrauch zu machen. — 
Doch bewahre ich eine danfbare Erinnerung an Profeffor 
Nietjchel, der freundlich und liebenstwirdig an mich herr 
anfam md das Geipräch auf mir näher liegende Dinge 3 
(enfte. B- 
“ Da war es doch unterhaltender bei Ferdinand Hiller! 
— Diefer, ein feiner, weltlluger, behaglicher Mann, ein ausge- 
— zeichneter Bianift, als Mufifer im Mendelsfohn’schen Geifte 
in allen FSormen thätig, hatte jich jeit ein paar Jahren in 
Dresden angefiedelt und jah jeden Mittwoch Alles, was 
B. Kunft betrieb oder jonft einen Namen hatte, in jeinem 
Salon. Dort eingeführt zu fein, war eine Auszeichnung und — 
bot Gelegenheit Alles fennen zu fernen, was Dresden an 
einheimischen und durchreifenden Notabilitäten auftvies. An 
manchen Abenden twaren alle Räume gedrängt voll und fait 


% 


jeder der Anwejenden hatte auf irgend einem Felde einen | 


res Bud. 


en er ee 


 befannten Namen. Es war fein ausschließlich deuticher 
Salon, man hörte auch viel franzöfiich veden ; die Hausfrau, 
eine ausgezeichnete Sängerin, die unlängjt ei um ihrem 
Gatten zu folgen, der Bühne Lebewwohl gejagt hatte, war 
= eine Bolin, Schön, jung, von Halbjlaviichem Reize. Sie hatte 
& F die wunderbariten Augen. Drei oder vier glänzende Schön- 
heiten geuppicten fich um fie, Verwandte, die längere 
2 oder fürzere Zeit in Dresden zubrachten. Seit Mazarin 
hat vielleicht Niemand jo jhöne Nichten gehabt wie Jer- 
2 dinand Hiller. Sie find auch alle durch ihre Schönheit 
: Be Heiraten in ungewöhnlichen Sphären gelangt: Die eine 
ne winde eine Gräfin Kolowrat, die andere die Frau des 
 franzöfijchen Schriftitellers Exrnjt Feydeau u. j. w. 
in Be Bei Hiller als Gaft wohnte Berthold Auerbadh. Er 
nr: hatte eben, nachdem jeine früheren Romane fajt unbe- 
E achtet borübergegangen, mit der erjten Sammlung feiner 
— Schwarzwälder Dorfgeichichten einen großen Erfolg erlebt. 
Man verdankte ihm die Mahnung, daß in der einfachen 
B 74 - Heimatswelt, in dem anjpruehlojen Meenjchenthume eine 
fittlich erhebende Kraft ruhe. Nun Hatte ev jeine Novellen 
„die Sträflinge“ umd „die rau Profefjorin“ gejchrieben, 
md arbeitete damals an einer Schrift „Schrift und Volk“, 
Seine Compofitionsweife war eine auffallend mufivifche. 
Auf den weiten Spaziergängen, die toir in die Umgebung 
Dresdens unternahmen, trug er bejtändig ein Büchlein 
mit fich, in welchen er fofort jeden fich ihm aus der 
Debatte ergebenden Gedanfen firirte. Aus feinen und 
_  empfumdenen Bemerfungen wırde jo allmälig ein Bud). 


Br 


+ 
* 


-fefforin“ vorlefen. So lernten wir das Lorle fenen, 
mente Schöpfung, lebendig, wahr in allen Zügen, rührend, 


tragischer Größe. Nicht zu jenem Bortheile hat Berthold 


‚ihm, der doch auch jo glänzend zur Schreiben verjtand, der 


hergebrachte Ausdrucd nicht genügte. Im Diller’s Salon, 


NPIPIIR 7 2 


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me ee Se ) 


Eines Tages wurden in Hiller’s Salon einige vierzig 
oder fünfzig Stühle aufgeftellt, Einladungen waren nach) 
allen Seiten ergangen, Yırerbach jollte feine „Frau Pros 


das vollendetite Vorträt, das er je gemalt, feine volltom- 


bezaubernd, theilweife — 3. B. im Abjchied Lorle's — von 
Anerbach jpäter jeine Form zu erweitern gejucht. Seine — 
Stärke lag nicht in. der Compofition, jondern in der 
rührend einfachen, jchlichten umd väterlichen Weile zu er R 
zählen. Er beeinträchtigte jelbjt jene edeljten Eigen] ichaf- 
ten, wenn er ausgebildeter Technik nachtrachtete. Seine 
Mufe jelbit war jenes Lorle, welches in der Stadt En 
Neiz einbüßte. A 

Wieder einmal hieß 8, Nobert Schumann jet aus 
Seipzig zu Befuch in Dresden angefommen. „Nım, das 
it Schön, daß Dur da bift,“ Hatte Hiller beim Wiederjehen — 
lachend zu ihm gejagt. „Da-werden wir ums tüchtig aus — 
ichtweigen fünnen.“ Mir, der jeit den Knabenjahren die ; 
tieffte Bewunderung ımd Berehrung für Schumann im 
Herzen trug, jchten der Scherz pietätlos. ndeß. lernte ich 
bald das merkwürdige fichgelchrtiein des Meifters fennen. 
Er war der größte Schweiger, jer’s, daß der Gegenjtand 
der meijten Neden ihm zu unbedeutend schien, oder daß 


im Schwarme der Bejuchenden, veriteckte er jich wohl einen 


ht 
n% 


Erjtes Bud). 


ganzen Abend ohne zehn Worte zu prechen. Sch erinnere 

mich auch einer Kahnfahrt auf der Elbe, bei der die 

Frauen Lieder von ihm jangen, ev aber jchweigend, dann 

und wann mit zugeipigten Lippen vor jich Hinjunmend, 

Stumm am Steuer jaß und in das Abendroth hHinausitarrte. 

Er lebte nur in fi) umd in. der wunderbar tönenden 

Welt, die er in jich trug. 

.J Auch Gubforw war eine ganz meditative, im fich ge 
fehrte Natur, aber twie verjchieden geartet, wie ganz an. 
ders als Schumann! Sein Schweigen barg ein umunter- 

 brochenes Berarbeiten der Eimdrüde, die ihm von außen 

zufamen. Und alle Fragen der Zeit gingen ihm nahe. 

Wie er mit gewohnheitsmäßig Halbgeschlojfenen Yugen 

alles aufnahm, alles bemerkte, jo beichäftigten ihn alle 

Probleme, wofern jte jein Jahrhundert in Anipruch nab- 

men. Mlles wurde zum Stoffe, aus dem er feine Fäpen 

jpann: während feines ganzen literarischen Wirfens waren 
ihm jeine Stoffe durch Ereignifje dietirt worden. Sein 

Berfallen in Selbjtverjenfung alternivte mit plößlichen 

Erwachen, in welchem er das Wort jcharf wie eine Stahl- 

£linge führte und die Dinge twie mit einem fremdartigen 

elektrischen Lichte zu beleuchten verjtand. Eine große Weich- 
heit des Gemüths war in ihm mit dDurchdringender Schärfe 
des Berjtandes beifammen. 

sn Ddiefe Kreife trat der junge Menjch und war 
vorerjt jchon glücklich, in ihnen gedufdet zu werden. Alle 
diefe Männer jtanden noch in der Fülle ihrer Kraft, hatten 
ihr Bejtes gegeben, nach den jie beurtheilt werden konn- 


- Theater war ihm zu gering. Troß allem laut procla- 


= ee meines Bee 


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- Mi 


ten, und traten Aoettoähnen mit neuen Werfen her- 
vor. Der junge Menjch toinjchte nichts dringender, 
als fi die Achtung Ddiefer Männer zu erwerben, der 
Beifall ausgezeichneter Menfchen war ihm das Höchfte. 
Und diejer Beifall wide ihm zu Theil, als fein Buch 
endlich gedruckt vorlag. Da begannen für ihn glückliche 
ander. .. > 

Sußfor war jeit 1845 als Dramaturg der Dress 
vener Bühne angejtellt, ev war mit Leib und Seele dabei 
und glaubte an eine Wiederbelebung der deutichen Dra- 
matif. Es ließ fich aber nicht erjehen, daß feine Ober- 
leitung viel geändert habe. Das war begreiflich, dem 
Emil Devrient war der heimliche oberjte Leiter der Bühne. 
An allen bedeutenden Männern die es bejaß, hatte Dress 
den zu mäfehr, einzig Emils Größe jtand unbefteitten 
da. Er war der Abgott der Frauen, der „göttliche Emil“. n 
Er galt fie den erjten deutjchen Schaufpieler. Ein Helden — 
jpieler war er gewiß jchon damals nicht mehr, jchon da- 
rum, weil meilt Schon im dritten Nete Kraft und Stimme - 
zu Ende waren. Dan foreirte er mr noch md steh 
die Worte zwijchen den halbgejchlojjenen Zähnen hervor. H 
Seine Affectation und Effeethajcherei waren ohne Gren- ” 
zen. Hatte er fich wieder einmal den Dresdnern in einer 
neuen Rolle gezeigt, jo ging ev auf Gajtrollen aus, fein 


.. 

—. 
Fi 
er 


mirten Cultus des Jdeals jpielte er am Liebjten in Stüden 
der Frau Birch- Pfeiffer, Holter’s und Naupachs, die ihm 
vergönnten, in Baraderollen beliebig aus dem dramatischen 


Erfte3 Buch. 


Nahmen herauszutreten. Unendlich viel hat Gußkomw von 
der Eitelkeit diefes Mimen zu leiden gehabt, die umer- 
jättlich war umd mac) immer neuem Lob in den Yeitun- 
gen verlangte. : 

Schon im den erjten Wochen meines Dresdener Auf 
enthalts hatte ich Nichard Wagner fennen gelernt, ich 
hatte mit ihm und zahlreicher Gejellichaft, zu der auch 
Gußfomw gehörte, einen Spaziergang nach) dem Wald- 
ichlößchen gemacht. 

Faft unter Mittelgröße, cher Klein, mit ftechenden 
Augen, zujammengefniffenen Lippen und jcharf gebogener 
Vaje, auffallend breiter, jtarf ausgearbeiteter Stirn und 
vorjtehendem Stimm, Hatte er viel von einem Brofejlor 
an fich, twie er denn auch in einer Zeit der Bärte lich 
ganz rafirt zeigte. Aber frühe Kämpfe hatten ihm jchon 
eine ungewöhnliche Neizbarfeit gegeben, er hatte bereits 
etwas ewig Aufgeregtes, Gereiztes, Giftfochendes in ich. 
„Zzannhäunfer“ Hatte umlängjt das Licht: der Bretter 
gejehen. Man hatte das Textbuch gelobt — die Aus- 
Itattung war eine ungewöhnlich brillante getwefen — den 
musikalischen Theil fand man „ungenügend“. Man ver- 
mißte eigentliche Charakteriftit und geniale Naturkraft, 
man meinte, das Ganze jei mehr künstlich zuvechtgelegt 
und leide an Langweiligkeit. 

Auf diefem erjten Spaziergange hatten wir viel mit 
einander geiprochen, doch ausschließlich über Bolitik. Nichard 
Wagner hielt die politiichen Zuftände für veif zur grümnd- 
lichjten Aenvderung und jah einer in nächiter Zeit jtattzu- 


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gegen. Die Umwandlung werde leicht und mit wenig Schläs 


amd zu folgen, den Mangel an Charakter in der unend- 


2 Rn, '% 17 0 We Ze Gejchid e meine 3 2 n3. 


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habenden Ummälzung als etwas Unausbfeiblichem ent- 


gen vor ich gehen, dem die jtaatlichen und geiellichaft- 
lichen Formen hielten nur noch ganz äußerlich Feit. RE 
erinmere mich noch genau der Worte: eine Revolution jet 
bereits. in allen Köpfen vollzogen, das neue Deutjchland 
jei fertig wie ein Erzguß, e$ bedirfe nur eines Hammer 
ichlags auf die thönerne Hülle, daß es hervortrete. me 
zwoiichen hatte jich Gubfow uns genähert, er opponirte, 
betonte die Kraft der Trägheit, die Macht des Alten und 
Furcht vor Neuem, die Gewohnheit der Maffen zu dienen 


lichen Mehrzahl. Er äußerte in jeiner vorfichtigen Weile 
er Bedenfen. 
Wagner verlor die Selbjtbeherrichung und ra 

die Debatte mit jtarken, unmuthig BeIPLODEHER Wor 
ten ab. G 
em hat die Zulunft Necht gegeben? Bald genug 

fam das Jahr Achtumndvierzig! Wohl fielen jchon in 
nächjtev HZeit die geweisjagten Schläge, aber fie änderten 
faum etwas an der Gejtalt der Welt. Amt allerwenige — 
jten trat ein neues Deutjchland in Erzguß zu Tage. 
Der freifende Berg “gebar eine — rothe Maus 
und bald war wieder alles wie vorher. Deutichland 
fegte jich nach der ungewohnten Aufregung bald twieder E 
aufs Ohr, um wieder jechzehn Jahre zu jchlafen. 
Am 6. Detober fam ich endlich dazu, den Tann 
häufer zu hören: es war die dritte Aufführung. Bei der 


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EEE N Di RE EEE TEE 
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3 zweiten. war e3 nicht glatt abgegangen, das Rubfienm war 


b in eine gereizte Stimmung geraten, e3 war viel gezischt 
 Woorden, nun hatte jich Tichatjchek frank gemeldet und die 
Wiederholung war neun Tage ausgejegt worden. 
Diesmal war der Erfolg ein jolcher, daß der Com 
 ponift — damals gab es noch feinen Meifter! — zus 
Frieden jein konnte. Das Haus war anjtändig gefüllt 
i und die Stimmung eine jo gute, daß Wagner und jene 
Sänger nach jedem Ucte gerufen wurden. 
Ru) geftehe offen, daß ich diefer Mufif nie die welt- 
& aufregende Wirkung zugetraut hätte, die fie denn doch ge= 
habt bat. Nur das Lied zum Lobe der Frau Venus, 
ins Finale des erjten Aetes, im welchem die Wartburg- 
 genofjen den twiedergefundenen Freund - begrüßen, ver 
 Einzugsmarjch und das Lied an den Abendtern riffen 
mich aus der Ermüdung heraus, die mich bald über- 
y fallen hätte. 
| e: Für das Verjchwimmende, Träumerifche, das bloße 
er Auf und Nieder der Tonwellen hatte ich feinen Sinn; die 
_ Pilgerlieder erichienen mir eintönig, der Sängertriey in 
welchem ich die frappantejten Melodien erivartet hatte, 
i mißlungen. 
Mein für derlei Hören noch ungejchultes Ohr glaubte 
it den zuv Liebe locenden Dämonengejängen des Benus- 
- berges eine gelinde Kaßenmufif und in den ichneidenden 
 BVtolinfiguren, welche das Pilgerlied mit den Venusbergs- 
Hängen durcchjegen, ein unorganisches Tohmvobohu zu 
E  bernehmen. 


172 Geihichte meines Lebens, 


Dagegen hatte das Tertbuch, das feef genug die Ge- 
Italt Heinrichs von Dfterdingen im Tamnhäufer aufgehen 
(äßt und die Hörjelbergjagen mit den Sängerfriege auf 
der Wartburg verjchmilzt, mich jehr interejlirt. Der Stoff 
behandelte gewilje Punkte, die man noch nicht auf der 
Bühne behandelt gejehen: das Berfinfen eines genialen 
Smdividuums in die Sinnlichkeit und jein Sichherausreißen 
aus den Sinnestaumel. Das war neu und einer Wir 
fung Sicher. 

Und doch war wieder die Durchführung Diejes 
Problems eine jolche, die man auf feine Werje mit Dem 
sreidenfer und Nevolutionär, den ich unlängit hatte Iprechen 
hören, vereinigen fonnte. 

Kenn man mit einem etivas modernen Geijte an 
den Stoff herantritt, Ddenft man fic) doch den Tanne 
bäufer als eimen Mann, der ich von mittelalterlic) 
chriftlicher Anfchanung emaneipiven wollte. um war aber 
alles ganz im Sinne eines Mönchsthums gefaßt, das fich 
die alten Götter als ein herabgefommenes Getjtergejindel 
vorjtellt und in dem Schwärmer für die antife Welt nur 
einen Gejellen von Liederlichen Sitten fieht. 

Und nichts anderes it Tannhäufer in der Oper. 

Darım erfaßt ihn auch bald Mifbehagen und Efel 
vor jolchem Heidenthum umd vor Sich jelbit, und Durc) 
den Ruf: „Mein Heil ruht in Maria!” sieht er Jich 
jchon toreder in die Oberwelt verjeßt; Denn vor dem 
heiligen Namen der Gottesmutter ijt aller heidnijcher 
Spuf verichwunden. Auf der Wartburg geräth er nun 


u Eu 


Erites Bud. 


wieder in eine VBerjammlung von Meinnefängern md 
Nittern, welche, Höchjt abjurd, mur eine Liebe feiern, 
die von bloßen Anjchauen Lebt. Liebe joll abjolute 
Enthaltjamfeit jein; man meint, QTannhäufer jet unter 
lauter Mönche gevathen. Saum wagt er eine Nechtfer- 
tigung und tritt Schon jchuldbewußt, em gar jonderbarer 
Held, die Bupfahrt nach Nom an. Er erhält dort feine 
Abjolution, Fehrt, ein gebrochener Mann, in die Heimat 
zuriick und ruft wieder Frau Venus an, ihm den Lujt- 
garten aller Freuden zu öffnen. Doch wir erleben twieder 
Wunder, ja Wunder über Wunder. Auf bloße Nennung 
des nunmehr heiligen Yamens Elifabeth jchtwindet aller 
heidnische Spuk; Tannhäufer jinft todt zur Erde — 
die Fürbitte einer Heiligen hat ihn erlöft... . . Sein 
Stab grünt. - 

Wenn das nicht der bare mittelalterliche Katholi- 
eismus it, verjtehe ich das ganze Stüd nicht. Yeden- 
falls muß man zu jolcher Dichtung bedenklich den Stopf 
ichütteln. 

Lange noch nach der Aufführung jaß ich, alles dies 
bejprechend, mit Hähnel im Wirthshaufe zufammen. „Und 
doch irren Sie,“ jagte diejer, der zu den bejonderen 
Freunden Wagner’s zählte, „wen Sie wegen alledem 
Wagner für einen SKryptofatholiten halten... . Er au 
beitet nur mit Vorliebe mit den Mitteln der alten No- 


 mantifer Tief, Arnim, Brentano. Er ift jehr flug und 


weiß recht wohl, welche Macht dieje Romantik noch über 
die Geijter ausübt... . Was tollen Sie? Meyerbeer 


174 Gefchichte meined Lebens. 


it wohl auch ein schlechter Chrijft und arbeitet in den 
Hugenotten mit protejtantischen Tendenzen? ... Schließ- 
fich,“ fügte Hähnel lächelnd Hinzu, „it Eines zu beden- 
fen, wenn wir die Oper im Licht der Tagesfragen an= 
jehen: Tannhäufer müßte ja ein Deutjchfatholif jein, weil 
er fich vom Bapjte losjagt“ 

An einem der folgenden Tage jah ich Ferdinand 
Hiller eine Nolle in der Hand halten. „Da hat Richard 
Wagner,” jagte er, „einen neuen Operntert gejchrieben umd 
mir ihn zu lejen gegeben. Er heißt „Lohengrin“ umd 
behandelt die Sage vom Schwanenritter. Ein ganz bor= 
treffliches, höchit effectvolles Libretto! Wie jchade, daß 
Wagner jelbjt eS componiren will! Seine mujftlalische 
Begabung reicht dazu nicht hin! In aitderer Hand würde 
das eine ganz andere Wirkung haben!“ 

Sp urtheilte man zu jener Zeit. Richard Wagner 
Itrafte allerdings dies Urtheil Lügen und gab in jeinem 
Lohengrin jein bejtes Werk, meiner Anficht nach, dasjenige, 
das von feinen Werien am längjten leben wird. Mit der 
„Unzulänglichkeit“, die damals jo allgemein betont wurde, 
hatte eS aber doch feine gute VBerwandtni. Man ver- 
Itand darıımter den Mangel an wirklicher Dramtatif, das 
geringe Maß von Melodienzauber, das jtete VBoriviegen 
pathetiichen Ernjtes, den Mangel an twoirflicher lebendiger 
Eharakterijtil. Allerdings, alle diefe Unzulänglichkeiten jind 
jeitdenm als der Anfang einer neuen Kunftforn gepriejen 
toorden. Darauf gehe ein, wer alle Moden und Thor- 
heiten jeiner Zeit mitmachen zu miüfjen glaubt! Biel 


 Erfles Bud. 
eicht muß man, um das Stumjtiwerf der Zukunft vecht zu 
fien umd zu würdigen, jchon heute mit den Ohren der 
BE aheseneration ausgejtattet jein. 


I 


XXI. 


Die Premiere der Karlsjchüler. — R. Wagner’s Saubefeier. 


e: Bor ein paar Jahren hatte man von Leipzig us 
einen jchüchternen Anfang gemacht, Schiller’s Geburts- E\ 
tag als gejchichtlichen Feittag zu feiern. Nım hatte Heinrich 
Laube es verjucht, unjern nationaljten Dichter zum Hel- 
den eines Theaterjtüces. zu machen und trug jich mit der 
& - Hoffnung, dasjelbe werde am Schillertage gleichzeitig auf 
allen Hauptbühnen gegeben werden. Dieje Hoffnung war 
% zu janguinisch gewejen, aber drei Theater fanden ich, die 
an Schillers Geburtstage mit den „Karlsichiilern“ bervor- 
 fommen | wollten: Mannheim, München und Dresden. 
Alles blickte der Aufführung mit Spannung entgegen, 
Bi Alles war begierig zu jehen, tvie der verwegene Mann 
F ht feine Aufgabe gelöjt habe. Er kam herüber, der Jnfcene- 
- jegung beizumohnen. Emil Devrient jpielte den Schiller, 
E Fräufein Bayer, jpätere Frau Bürf, die Gräfin von 
enbengeim, Sr. Berg die Generalin, Fräulein Lebrun 
die „zaura*. Der Erfolg war ein bedeutender und dırcch- 
geeifender. Der Autor wurde nach dem zweiten ete 
om im vierten Aete, Fräulein Bayer fogar bei offener 


Bis, 


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176 


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ep, VW eechl Pal ern ee : 
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> SER RO E 
Gefchichte meines Lebend, I 


Scene gerufen, was in Dresden nicht wenig jagen wollte. < 
Am Schluffe des Stückes mußte der Dichter no 
vor dem Publieum  erjcheinen umd man ging mit den 
Eindruf fort, daß dem deutjchen Theater ein nike 
fames und intereifantes Stüc gewonnen fei. R 

Nach dem „Theater verjanmelten wir uns, eva 
zivölf Werjonen, bei Nichard Wagner. Der geiftreiche 
Friedrich PBecht, der unlängit mit einem Bilde „die Bes 
fränzung Goethe's durch Corona Schröter im Parf von 
Tieffurt“ Auffehen machend hevvorgetreten war, der No-- 
vellift Robert Heller, der mit Laube aus Leipzig herüber- 
gekommen, ferner ein Nedactenr NR. Schmieder befanden 
fich unter den Eingeladenen, die den gedeeften Tijch in 
einer beicheidenen Wohnung umstanden. Nım erjchien der 
zu Feiernde, jtramm und in bejter Laune. Man nahm 
lab, die Unterhaltung war zuerit ichr munter. Man 
war der Anficht, während die erjten latten umhergin- 
gen, Laube habe da fein bejtes Werf geliefert. Der vierte 
ect befonders jei eine poetische Production in echt deunte 
ichem Sinne. 8 

Nihard Wagner Hatte jich jchon lange auf Kein £ 
Stuhle hin» und hergewiegt. Nun begann er die Frage 
aufzumverfen, ob man denn nicht, um überhaupt einen 
Schiller zu schreiben, etwas von Schillers Genius haben 
müffe? Diefe Frage war häflich, man vermittelte, man 
tpideriprach, num aber jchritt Wagner immer entjehieener 
zum Angriff vor. ES fjei doch nur ein wohlcomponirtes 
Intriguenstüick in Seribe’schem Geifte, in welchen einige 


Erjties Bud. RT: 


jehr pifante Scenen — namentlich jene, wo Schiller die 
Fürjtengruft in Gegenwart des Fürjten vorlejfen muß — 
herumjchwimmen. Es Löje feineswegs die Aufgabe, wie 
twir jie bei einem Drama vorausjegen, dejien Held der 
ichtwungvollite und populärjte Dichter des deutichen Vol- 
fes jet. 

Dies war vielleicht in der That wahr, eS war aber 
außerordentlich widrig, jolche Kritif aus dem Mumde des 
Gajtgebers in einem Sreife zu vernehmen, der ja den 
heutigen Abend hatte feiern wollen. Mit jolher Schärfe 
zu urtheilen, wo ein ganzes PBublicum fich zufrieden 
erflärt hatte — das var eine jeltiame Dvation ! Aber 
Nihard Wagner ließ Tich nicht ftören. Er behauptete 
weiterhin, daß der Fürjt im Stüce jeine Grumdjäge mit 
Gründen rechtfertige, die erjt eine abjolutijtiich gefinnte 
Gejchichts-Bhilofophie von heute zufammengeflügelt, md 
ihlieglih, daß Laube dem theatraliichen Effect zu Liebe 
über alle Wahrjcheinlichfeit hinaus gegangen ei. 
Solche Nichtachtung alles gefellfchaftlichen Brauches 
machte jich Allen fühlbar, nur der „Feitgeber” empfand 
jte nicht oder jeßte fich über fie hinweg. Jmmer umnbe- 
baglicher wurde das Beifammenjein. Zudem jchien etwas 
in der Auffahrt des Mahles nicht zu Klappen. Wagner 
warf unruhige Blicke nach allen Seiten und wurde immer 
ummiricher. Seine Frau hatte jich ihm genähert. „Nun, 
liebes Weibehen?” fragte er mit einem grimacirten 
Läheln. Und während die eine, der Gejellichaft zugefehrte 
Gefichtshälfte noch Lieblih lächelte, veränderte fich Die 


Meikner, Gejchichte meines Lebens. I. B. 12 


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Geichichte meines Lebens. 


andere, und aus der andern Mumdede pfiff es mit unter 
drüdter Wut: „na, wo bleibt denn der verfluchte Cham- 
pagner?” Dabei war er ihr ganz nahe gerückt, m 
Finger Fniffen ihren Arm. ;2 

Der erjehnte Eisfübel fam. Nun wurde wieder 
eingefenft, ein beglüchwinschender Toait jollte Alles wieder 
gut machen, aber nichts wollte mehr verfangen, man 
(eerte die Gläfer und ging verjtimmt auseinander. Jh 
> war mit Laube fortgegangen und irrte mit dem ganz 
E unmuthig Gewordenen noch lange in den jtillen, jchwar- 
x zen Gafjen am Flujje umber. En 


3 Am andern Tage kam die Nachricht, daß die „Naris 5 
E Ichüler“ am jelben Tage in Mannheim und in München R 
h= gegeben tworden jeten umd auch dort einen vollen Erfolg 
3 gehabt hätten. 


XXIV. 


Die Premiere des Uriel Acofta. — Nach Berlin. Mar Stirner. 
Jähe Abreije von Dresden. 


hi 


> 

Seit einiger Zeit jah man Gubfomw noch) nachdent- 
licher als jonjt md noch gejenfteren Kopfes im blauen, 
fragenbejegten Mantel vom Dippoldiswalder Plab, tvu 
er jein Dutartiev genommen, den Weg zum Schaufpielhaufe 
wandeln. Uriel Acofta war beendigt, wurde einjtudirt 
und jollte demmächit mit Emil Devrient in der Haupt 


2 Erited3 Bud. 


rolle in Scene gehen. Man wußte im Voraus, daß man 
es mit einem Werfe zu thun habe, das für Die peen 
der Toleranz umd reinen Aufklärung mit Entjchiedenheit 
eintrete und jah der eriten Aufführung, die am 13. De- 
cember jtattfinden jollte, mit großer Spannung entgegen, 
mit um jo größerer, al3 man wußte, daß der BVerfaffer 
des „Werner“ und des „Urbild des Tartüffe“ hier den 
eriten Schritt in die hohe Tragödie gethan habe und man 
in Folge jeiner Stellung zur Dresdener Hofbühne bejondere 
Anforderungen an dies Debüt machen zu dürfen glaubte. 
Der langeriwartete Abend fam. Man war angenehm 
erjtaunt, wohlflingende Verje von einem Yutor zu ver- 
nehmen, der bisher nur in Proja zum WBublicum ge 
-jprochen; nun jah man, daß ein wwejentlich politijcher 
Stoff in poetiichen Formen vorgeführt werde. Das Con- 
fejlionelle war nach jeinen verjchiedenen Richtungen, der 
blinden Drthodorie, dem verjöhnlichen Justemilieu der 
fortjchreitenden Aufklärung außerordentlich treffend hin- 
gejtellt und Jedem lag es nahe, jich diefe Typen jüdischen 
Lebens im’s Chrijtliche zu überjegen. Emil Devrient, 
der den Mriel, einen jchredlich Fofetten Uriel, in mwunder- 
baren Gewändern jpielte, war leider dem Leidenschaftlichen 
Theile der Rolle, zumal im dritten Aete gar nicht ge= 
wachjen umd brachte diefe mit feinen allzu draftiich ange- 
wandten bengalifchen Feuerkünjten in bedeutende Gefahr. 
Da aber fam Ben Afiba, dejjen „Alles ichon dagewejen!“ 
das erite Mal hier gejprochen wurde, und Lenfte wieder 
alles zum Guten. Er wurde trefflich geipielt; der Greis 


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Gejhichte meines Lebeus. 


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mit weißem Haar und Bart, in deijen Worten fich Tier 
finn mit Blödfinn jo jeltiam mijcht, Hatte den jtärfjten 
Applaus des Abends hervorgerufen. Der fünfte Yet ließ, 
gar jehr jtarfe Kürzungen wünfchen, jchmälerte aber im 
Ganzen und Großen den Erfolg nicht wejentlich. Das 
Stüc hatte einen großen Succeß erlebt, der Autor wurde 
nach dem Schlufje enthuftajtiich gerufen. 

Sn der That hatte Gußfow fein bisher beites Wert 5 
gejchrieben, weil er einfacher, weniger vaffinirt, weniger 
auf der Suche piychologiicher Seltjamfeiten, weniger pie 
findig an’s Werk gegangen und einen immer bedeutjamen 
Stoff: den Conflict des Glaubens mit den Banden der 
Familie, Herzlich und ergreifend behandelt hatte. Natür- 
ih gab es ihm zu Ehren in Hiller’s. Haufe einen Uriel- 
Acojta-Abend, es war am dritten Tage nach der Auf 
führung. Emil Devrient war da, die jchöne Marie R 


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SUR, EEE ER, OR ER N 


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be Bayer, welche die Judith gefpielt hatte, ja; viefummor- 
= ben in prachtvoller Toilette auf dem niederen Divan, den E 
E ihr Stleid ganz bevedfte und biicte fortwährend im der 
E - Nichtung der Thüre, um dem Helden des Tages entgegen 


ä zu fliegen, jobald ev eintvete. Endlich fam er, langjamen 
Schrittes fich vorwärts beiwvegend, verjtimmt und mal 
content, mit gejenftem Haupte twie Hamlet. Kein Autor, 
dejjen Stüf einen Durchfall erlebt, hätte müder und 
trüber bliden und dem Lobe ängitlicher ausweichen 
fünnen. Be 
Ki So bfieb er auch bei Tijche. Kaum Fichtete fich feine 
Stimmung, als der feurige Uffo Horn, mit Gußkorw von 


Grftes Bü. 


Hamburg her befreundet, eine begeijterte Improvifation 
fostieß. Und Gubfow’s PVerjtimmung war nicht ohne 
Grumd. ES verlautete jchon, daß wenig Hoffnung vor- 
handen jei, in Dresden ven Acojta wieder zu erleben. 
Er jollte, flüjterte man, hohen Ortes bedeutendes Mip- 
fallen erregt haben. Man erzählte jich bejorgt, daß eine 
hohe Frau während der Borjtellung zu mehreren Malen 
umwillig den Fautenil gerüdt. Man wußte nicht, ob 
das gemüge, in einem conititutionellen Staate das Stüd 
verbieten zu lajien ? 

Die Uriel-Acojta- Aufführung war das lebte litera- 
riihe Ereigniß, dem ich in Dresden beitwohnte. ch war 
auf eine furze Zeit nach Berlin gereit. 

Diejfe Stadt, die jich in neuerer Zeit äußerlich völlig 
umgejtaltet und zugleich einen neuen Charafter, jo zu 
jagen eine neue Bolfsjeele erhalten hat, machte damals 
auf mich den Eindruck falten Ernjtes. Das rauhe No- 
vember-Wetter, das der mächtigen Doppelallee der Linden 
das lebte Laub entführt hatte, die weiße Schneedede auf 
den Plägen — Eis und Schnee blieben auf den Straßen 
tiegen — waren nicht angethan, diefen Eindrud zu mil- 
dern. Unendlich großartig erichien mir das fünigliche 
Schloß, das architektonische Enjemble in römijchem und 
griechischen Styl gedachter Strukturen, die fich in weiter 
Berjpective bis zum Brandenburger Thor erjtredten, aber 
die übrige Stadt mit ihren endlojen Straßenquadraten 
nüchternften Styls Hatte für mich nichts AUnlodendes. 
Nirgendsg war auch nur der Schein eines öffentlichen 


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182 Gefihicte meines Lebens. EEE 
Lebens zu erblien. Eine in Europa einzige Polizei- 
maßregel war eingeführt, das Straßen-Nauchverbot; «8 
war ein Berbrechen, im Freien eine Cigarre anzuzünden. 
Die Genüffe, die dem Fremden geboten wurden, waren 
äußerit dürftig. m Schaufpielhaufe bildeten Snvaliden 
die Mehrzahl, an Luftipielen fehlte es völlig, da die 
jatyrifche Benugung der Gegenwart, die Seele des Luft 
ipiels, nicht erlaubt war, die Opernfänger chienen mir 
unter dem Maß der Mittelmäßigfeit zu ftehen, jelbit das 
gerühmte Corps de Ballet, aus Hopfenitangenfiguren be 
ftehend, enttäufchte mich völlig. So brachte ich dem 
meine Bormittage im Marenm, meine Abende in yulins! 
Zeitungshalle zu. Aber auch die Berliner Zeitungen, in 
welchen Nötjcher, Gubi und Rellitab ihre bodfteifen 
Kritiken jchrieben, waren jchon äußerlich abjtogend Sa 
Format und Druekpapier. 
Bivei Zeilen in einem damals vielverbreiteten Saffen- 
bauer lauteten: 


Unter den Linden bei Kranzler wär’s fein, 
Stredt’ nicht der Yieutenant jo weit vor jein Bein. 


Dies Bein des — allzeit hoffähigen — Lieutenants 
war in der That oft läjtig weit vorgejtredt, daß man 
darüber Aue und in läftige Händel verwidelt werden 
fonnte. Die Anmaßung privilegirter Kaften trat allent- 
halben sehr prononeirt hervor. 

Sr diefer großen Stadt, die ich zum  erjten Male 
jah, intereffirte mich ein Philofoph, deifen Buch mich 


De! 


e 


Eriteg Bud. 


furrz zuvor gewwaltig, wierwohl im gegenjäßlichen, gegire- 
rischen Sinne aufgeregt hatte. Es war Mar Stirner, 
Berfafjer des Werks der „Einzige und fein Eigenthum“, 
in welchem, twie bei Helvetius, das Jutereffe als Princip 
der moralischen Welt angenommen tvurde. Der Ver- 
fafjer gehörte mit den Gebrüdern Brumo umd Edgar 
Bauer, mit Buhl, Eduard Meyen u. U. zur Soterie 
der jogenannten „egreien“. 

Sc machte jeine Bekanntichaft umb er wurde Der 
allererite Lefer meines „HZisfa“ in feiner vollftändigen 
Ausführung. ch war außerordentlich geipannt auf jein 
Urtheil. Als Stiener mir das Buch zurücbrachte, 
jagte er: 

„Sie hätten den „Zisfa“ zu einem fomifchen Helden- 
gedicht gejtalten jollen. Zu einer Art Batrachonyomachie ! 
Die Mythen der chriftlichen Kirche md dem Schicjal 
verfallen, wie die Heidnischen. Die Gegenjäge vom Bapit- 
thum und Protejtantismus haben fich jo total überlebt, 
daß ein Gedicht mit diefem Inhalte nur etiva Theologen 
noch intereffiven könnte. Feindichaft gegen die Kirche 
jollte es nicht mehr geben. Sie it uns völlig gleich- 
giltig geworden; gegen überwundene Standpunkte fampft 
man nicht mehr. Sa, ich fühle es Klar: ein Fomifches 
Heldengedicht hätte das werden follen.” 

Dies war das erjte Urtheil, das ich über mein Buch 
vernahm. ES beluftigte mich ungemein. „Ja wenn man 
„der Einzige” ift, Fan man nicht wie andere Leute urthei- 
fen!“ eriwiederte ich, und damit war die Sache erledigt. 


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Sa ringe EM 


Befeiäe n ne Lebens. E ET RR 


su Leben hatte Mar Stiener fein Spitem des. 
weitgehenden Egoismus nicht eben mit befonderem Gtücke 
durchgeführt. Er, der als Fortieger Macchiavell’sS, den 
Begriffen des Nechts, der Pflicht und der Treue den 
Krieg erklärt, hatte jveben in der „Bojftichen Zeitung“ 
einen Hilferuf veröffentlicht, ihm Fünfgundert Thaler zu 
leihen, die er treu umd ehrlich zurüczahlen wolle. Bald 
darauf gründete ev eim Milchgefchäft. Sp viel ich weiß, $ 


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5 


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Re 


K' it ev homo unius libri geblieben. 
i Die Kritif hatte fih indeR vajch meines’ „Bisfa" 
ai bemächtigt. Sch habe heute noch die Genugthuung, dah ‚® 
F die erjten lobenden Pecenfionen, was nicht häufig dere = 
Ä Fall ift, nicht von meinen jpeciellen Freunden, jondern 
= von mir ganz unbekannten Federn ausgingen. Meinen B- 
e Freunden hatte ich gejagt: „hr dürft nicht über mi 
——— fehreiben. hr jeid wie ein Stüd von mir. Lob von 
7 Euch wäre eigentlich eaninn “ Mn ste hielten fich En 
R darnach. | 

er Trogdem brachten — 8 war eine Literarische Zeit 
E — alle Literatinzeitungen tweitläufige Beiprechungen. 
5 . Der Abjat des Buches war ein auferordentlicher, schon 
F in der erjten Woche nach dem Erjcheinen ftellte ich eine 
Ei zweite Auflage als nöthig heraus; die Wirkung des Ge 


dichts in der Heimat und anderswo ging über alle Er 
twartung. r- 
Nie viel Branditoff mußte damals vorhanden fein, x 
daß Verje, — jet das Iehte, wovon man fpricht — 
jolche Wirkung haben fonnten ! Br: 


Erftes Buch. 185 


Sch war bei meiner Nückehr von Berlin nach Dres- 
den nicht mehr bei meinem Intel Quandt eingezogen, 
welcher, jobald er von jenem Landgut in die Stadt ge- 
zogen war, nicht das Eleinfte jeiner Zimmer für den 
Neffen entbehren fonnte, weil alle Gemächer jeines Hau- 
jes mit Bildern altitalienifcher und altdeutjcher Mleijter 
angefüllt waren. ch war mit meiner Habe in eim 
Eleines Privatquartier gezogen. Welche Habe, in welcher 
das Hauptwerthobject eine Kaffeemaschine war, welche die 
Lebensgeifter bis in die Nacht hinein wach zu halten hatte! 

Da wurde »eines Morgens ein Louvert an meine 
Adreffe abgegeben, in welchem ein fithographirtes Blatt 
lag. Srgend ein ungenannter Freund schickte mir das 
folgende „Streisjchreiben“ zur: 

„Ein Wert unter dem Titel Ziska ift von der 
£. £. Genjurhofitelle bei der darob gepflogenen VBerhand- 
fung mit damnatur belegt worden.  HZufolge eines herab- 
gelangten hohen Bräfivialjchreibens vom 16. December 
vorigen Jahres werden die Herren Amtsvorjteher ange 
tiefen, die Verfügung zu treffen, daß gegen die Ein- 
Ihmuggelung und Berbreitung des gedachten Buches in 
Böhmen, wojelbjt dev Verleger ohne Ziveifel einen aus- 
gtebigen Markt fiir dasjelbe zu finden hofft, die eingrei- 
jendjten Mafregeln in Wirkjamteit gejegt, und gegen 
jene, welchen desfalls ein Berjchulden zur Lait fällt, die 
jtrengite Strafamtshandlung eingeleitet werde. Bon jeder 
fih ergebenden Wahrnehmung haben die Herren Ants- 
vorjteher das Kreisamt jogleich im Kenntmiß zu jeßen.“ 


na 


Be 186 0 Gefchiehte meines Lebend. 


Am Abend des Tages, an welchem ich diefes Blatt 
erhalten hatte, war ich mit Richard Wagner, Friedrich 
Vecht umd Bildhauer Hähnel in eimer Neftauratio I 
unfern von der Brücde beifammen gewejen. um ging ich 
heim. &s war um die Zeit, wo die bereits üde getvor- 
denen Straßen jich durch den Heimgang der Theater 
befucher wieder flüchtig beleben. Ein dichter Januar 
Nebel füllte den Neuftädter Plab, daß er die gegenüber 
liegende Häuferreihe dem Yurge zugleich entzog, geifterhaft 
tauchte aus dem Nebelmeer das metallene, hoch Tich Ba 
mende Noß des jächjiichen Kurfürjten auf. Sc ihenkte 
ihm noch einen Blik. Eben jchritt ich eilig über da3 
Glatteis des Trottoirs, auf das die Schneefloden langjam 
herabjtäubten, als ich — fajt im Angefichte des Haufes, 
dem ich zueilte, von einem Unbekannten angeredet wurde. 

„ch, mein gutes Herrchen, jchön, daß ih Sie 
treffe!” Elangen die Worte einer freundlichen gedämpften 
Männerjtimme im beiten Sächjiih. „Sch Habe wohl 
ichtwerlich die Ehre, von Jhnen gefannt zu fein, weil ich 
nämlich immer in meinem Laden ftece, ich aber fenne 
Sie, weil Sie täglich an meinem Fenjter vorübergehen. 
Sch bin nämlich Frifeur, dort ift mein Laden“ — er 
wies in die Nichtung eines matt heriiberglänzenden Fenfters 
— amd ich wohne im jelben Haufe rücwärts. In Ans 
betracht nun, daß wir Hausgenofjen find, erlaube ich mir, } 
Ihnen eine freundliche Mittheilung zukommen zu lafjen. 
Nur jo einen Wink, eine Warnung. Nämlich: vor eimer 
Stunde, während Sie fort waren, find zwei Herren 


Erite3 Buch. 187 


Bolizeicommifjäre in eimer Drojchfe vorgefahren. Die 
haben fih Ihr Zimmer aufjperren lafjen und erwarten 
jeßt auf demjelben Ihre Wiederkehr. Es ijt auch ein 
Mensch nachgefommen, der mir ein Schloffer zu jein jcheint. 
Sedenfalls haben die Herren jet vollauf Zeit gehabt, 
Shre Bapiere umd jonftige Correjpondenzen zu durch- 
ihnüffen. Bon diefem Vorgang habe ich Ste auf alle 
Fälle in Kenntniß jegen wollen —* 

„Und Sie warten wohl jchon längere Zeit bei 
diejem schlechten Wetter auf mih? Wie joll ich Jhnen 
danken ?* 

„ech, Lieber Herr,“ entgegnete der Fleine Man, 
„es it nur Ehriftenpflicht, einem bedrängten Mitmenschen 
beizuftehen! Nämlich: ich fan mir Sie durchaus nicht 
als Mifjethäter denken! Uebrigens habe ich jchon gehört, 
da Sie Schriftiteller find. Solche Herren, das weiß 
ich vecht gut, fommen im umjerem Zeitalter gar oft in 
unfiebjame Beziehungen zu den hohen Regierungen. Aber 
jet muß ich fort, ich eile, denn mein Gehilfe ijt nicht 
bon den routinirteften! Alfo: ich überlafje es jegt ganz 
Shrem werthen Ermefjen, meinen freundlichen Wink zu 
benugen, oder nicht. ch weiß nicht, was mein Gehilfe 
in meiner Abtvejenheit für Dummtheiten macht, alfo leben 
Sie wohl! Sehen Sie dort die Drojchfe? Die jteht nım 
jchon über eine Stunde da. ES ift die bewußte!”.... 

Sch blickte in die angegebene Richtung, betrachtete 
das mir freundlich zugedachte Vehikel, war aber ent- 
ichlofjen, dasjelbe nicht zu benußen. 


können, zur Ihatjache geworden. Alle Stellen meines 


TEE --. b Sefsiäte meines Lebend. 


„Danke, danfe taujendmal!” tief ich, noch die Sans 1d 
des Unbekannten jehüttelnd. 
Da war nun, was ich längit hätte vorausjehen 


Gedichts, aus welchen man Anklagen formuliven konnte, 
jtanden plößlich vor meinem Gedächtniffe und wiejen wie 
mit Fingern auf die verjchiedenen Baragraphen des Straf | 
gejeßes hin. Gewiß, ohne den freundlichen Unbefannten 
war mir, tie jegt die Sache itand, eine lange Haft gewiß. 

Sc trat in das nächjtgelegene Wirthshaus, verlangte 
Tinte und Feder, jchrieb ein paar auf Ordnung meiner 
Schuldausjtände md die Nachjendung meiner Effecten 
bezügliche Briefe und eilte jodann dem Bahnhofe zu. _ 
2 Ohne weiter in mein Stübchen eingefehrt zu fein, fagte 
ich in der Nacht dem Defterreich folgjamen, austieferungs- 
tujtigen Königreiche Sachen Leberwohl. Erit, als ich auf 
preußiichem Boden jtand, fühlte ich mich wieder ficher. 

Meine Wanderjahre begannen. F 


Pr 


wertes Buch. 


8 


Wintertag in Brüffel. — Jafob Kaufmann. — Der „rothe Wolf“. 


General Sfrzynecki. 


CT einesmwegs aus freien Stüden hatte ich, im Januar 
O0 1847 von Dresden aus, meines „Zisfa“ wegen 
von der Öjterreichtichen Negierung verfolgt, meine Wander 
Ichaft angetreten. ch jah mich aus Arbeiten und Studien 
herausgerifjen. Ohne Stimmung, tief verdrofjen, mehr 
gejchoben als vorwärts getrieben, z0g ich dahin. 

In Köln machte ich zuerit Halt. Aber — wie jehr 
überträgt fich unjere Stimmung auf die Dinge — pas 
ich um mich jah, drückte mich nieder. Die engen Gafjen, 
die Giebel der alterthümlichen Häufer, die alten Stirchen 
machten den diüjterjten Eindruck auf mich. Gegen Abend 
Itand ich im Dome, die große Fenfterroje, von einem Blick 
der Januarjonne beleuchtet, warf ein Dämmeriges Licht 
hinein — ich verweilte muır furz umd ging weiter, ohne 
etivas von der Erhebung zu Jpiüren, von welcher an Ddiejem 


192 Geichichte meines Lebens. 


Orte jich alle Schilderer ergriffen geben. Der Dom hatte 
nich tie ein unheimliches Näthiel angemuthet. 

Ein mächtiger Siodweit ging über das Land. Die 
Luft war beinahe jchtoiit und das Mojeleis trieb den 
Nhein hinab. Sch wohnte in Deus. Nafch padte ich 
meine wenigen Kffecten zujammen, um noch bei freier 
Baflage hinüberzufommen. Cs dunfelte und e8 gab eine 
der Lebendigjten Scenen, die ich je gejehen. Wohl an 
fünfzig Menjchen waren in ein großes Flo gejtiegen, 
das von acht Männern vorwärts gelenkt wurde, während 
andere volauf zu thun hatten, die herantanzenden Eis- 
ichollen vom Fahrzeug abzuhalten. Das Durcheinander 
von Menichen, ihre Rufe, das Braufen des mächtigen, 
gewaltigen Stromes jtimmte jeltfam zujammen. Die 
Macht des Eijes war eine jo große, daß tpir weit vom 
gewöhnlichen Zielpunft famen md eine ganze Strede 
hinabtrieben. Endlich langten wir weit außerhalb des 
Bereichs der Häufer an und ich fonnte mie durch die 
Dimnfelheit den Weg zum Bahnhof Tuchen. 

Weiter ging’s durch das twinterlich todte Aachen nach 
Lüttich. Die Fahrt vor und Hinter VBerviers hat wohl 
noch jeden in Erjtaunen gejeßt. mmter wieder fteigen 
jenfrechte Felswände im Angeficht der Bahnlinie auf, es 
it, als wolle fic) der Zug am Fels zerjchmettern, da hat 
ichon ein Tımmel den Bahnzug aufgenommen und mit 
höllifchem Donnergepolter geht es durch den Berg weiter, 
bis endlich wieder ein Thal im Licht der Sterne daliegt. 
Sm Thale aber drängt ich Fabrik an Fabrik, jede ein 


Zweites Bud). \ 198 


Balajt von vielen Stochverfen, Majchinenwerkftätten glühen 
in generhelle und aus den Schloten wirbehn feurige Dämpfe. 
Die erjte Nachtfahrt direch dieje Gegend bleibt wohl Jedem 
unvergeßlich. 

Nun war ich in Brüfjel, meine Stimmung wurde 
gelafjener. Stundenlang jaß ich auf dem Steingeländer 
der oberen Stadt und jchaute hinab auf das Meer grauer 
Dächer, das im Winterfonnenjchein umabjehbar vor mir 
ausgebreitet dalag. Dann erjt ftieg ich herunter. Bor 
wejen Geift werden, wenn man Brüffel betritt, nicht 
taujend alte Erinnerungsbilder lebendig? Man jteht ja 
auf dem Boden, auf welchen den Stıaben bereits Egmont 
und Schiller’s Geichichte des Abfall3 der Niederlande 
geführt! Leider eriftirt das alte Brüfjel faum mehr. Nur 
der Plab mit dem in feiner Art einzigen Stadthaufe und 
ein paar benachbarte Gebäude erinnern an die alte Bracht 
und find intact geblieben, während man jonjt unermidlic) 
thätig gewwejen ijt, alles Vebrige in eine Stadt ohne Ge- 
Ichichte und ohne Hiftorische Denkjteine zu verwandeln. 


. 


Das ijt das Brüfjel Egmont’s, Hoorn’s, Artevelde’s nicht 
mehr! Alles it nenfranzöftich geworden, Bauftyl und 
Menjchen. Auch ein Klärchen würde man bier heute 
vergeblich fuchen. Aber jchöne Läden mit Spiben, Sam- 
met und Seidenjtoffen gibt es da, wie wohl faunt aı- 
Dersivn. 

Hier endlich wußte ich mir eimen Freund. Ssakob 
Kaufmann, ein Name, der umvergefjen jein joll, wenn 
man von  Ddeutichen Schriftitellern fpricht, die aus 

Meiner, Gefhichte meines Lebens, I. 3. 13 


194 Gefhichte meines Lebens. 


Böhmen hervorgegangen, lebte hier. Er ertheilte Unter- 
richt in der englischen Sprache an einer Brüfjeler Privat- 
ichule. 

Er war ein Menjch, der immer unendlich größer 
als jeine Stellung, fein Name, jeine Anerkennung var. 
Aus engen Verhältniffen hervorgegangen, von Gitjchin 
gebürtig, hatte er e$ umter dem Alpdrud der Metter- 
nich’schen Zeit daheim nicht aushalten fünnen und war 
nach Veipzig gezogen, das ja eine Zeit lang das Koblenz 
der öjterreichifchen Emigration war. Er hatte viel jchöne 
Gedichte gejchrieben, die ev jedoch jchämig verbarg und 
nur in guter Stunde feinen vertrautejten Freunden zeigte. 
Zu einem Buche brachte er es vorerjt nicht, nicht einmal 
zu einem Büchlein; dazu war fein Geift zu aphoriitiich, 
zu epigrammatijch: er wollte alles jo fur; al3 möglid) 
jagen. Aber üt jeiner Filigran-Arbeit, in Keinen Bildern, 
fleinen Sativen literarijcher und politiicher Gattung, geift- 
reich md graziös gefaßt, war er ein Meeiiter. 

Der jüdiiche Stamm, jo eifrig auf Erwerb bedacht, 
hat andererjeits auch Naturen aufzuweijen, welche ven 
Erwerb ganz verichmähen und fajt jelbjtlos jcheinen. So 
war gewiß Baruch Spinoza, jo Mojes Mendelsjohn, jo 
war auc Jacob Kaufmann. Hatte er jein warmes 
Stübchen, Feder und Papier, jo wußte er, ein Stoifer 
edeljter Art, jeine bejcheidenen Bedürfniffe zu deden und 
war glüclich auf jeine Weife. Sanft, gut, anjpruchstos, 
war er der DBerather aller Defterreicher, die nach Leipzig 
famen, wofern jie feines Antheils würdig waren. Weich 


Zweites Buch. 195 


und- freundlich Klang jeine Nede und fait immer fpielte 
ein wohlwollendes Lächeln um jeine Lippen. 

Er Hatte feinen Literariichen Ehrgeiz. Die Arbeit 
jelbjt war jein Lohn. Selbjt jeine gelungenjten Artikel 
unterzeichnete er nicht, ihm jelbjt jchienen fie zu unbedeu- 
tend, während jeine Freunde einen Getjt darin erfannten, 
der dem Ludwig Börne’s verwandt war. 

sm Leben war er ein Humoriftifcher Philofoph oder 
philojophiicher HSumorijt, an Einfällen unerihöpflih. Saß 
man in der Englifh Tavern oder jonjtivo bei Porter und 
Ale und Jakob Kaufmann am herein, hajtig nach allen 
Seiten grüßend und z0g er den alten Hyazinthfarbenen 
Ueberrof aus, da wußte man auch: mun wird bald 
gelacht werden, nun wird man viel gejcheidte und viel 
pudelnärriiche Dinge zu hören befommen. Cr war ein 
Gaujeur jeltenjter Art und man wurde förmlich eingeladen, 
ihn jprechen zu hören. Bald horchte Alles an den benach- 
barten Tijchen zu ihm herüber. Die Heimat, die Hinter 
ihm lag und die er faum je wiederzujehen gedachte, ex- 
Achten ihm nicht jelten im rührend-grotesfejten Lichte; ex 
wußte von magyarischer Einfalt und jlavijcher Schlauheit 
die wunderjamsten Anefdoten, die dann wieder als Themata 
für philojophiiche umd culturhiftorische Betrachtungen 
dienten. Nie hat Jemand Dejterreich beijer gekannt als 
Safod Kaufmann; jeine Urtheile über den Kaijerjtaat 
haben leider noch heute Giltigkeit. 

Das Land feiner Vorliebe war England, er wurde 
nicht müde, engliihe Inftitutionen zu loben. Mit jedem 

13* 


Je: Ka = kb N a 


Pr u si 
SEAN en 


Geßicte meines Kb. 
Glaje wurde er wärmer und mehr Engländer; da wollte 
er Schließlich mur englifch Tprechen. Unzählige Stellen 
englischer Dichter wırden ihm gegenwärtig, das Lied vom 
fine old english gentleman vor ich herfingend, trat er 
den Heimweg at. 
= Täglich, fobald es Abend wurde, verließ ich men 
Summer, wo ich von der Kälte auf dem abjcheulichen | 
2 vothen Bacjtein-Ejtrih nicht wenig zu leiden hatte md 2 
4 eilte aus der Vorjtadt troß Wind, Negen ımd Dunter 
2 heit in das Cafe du Boulevard, two allabendlich an einem — 


ie 


bejtimmten Nagel der Hyazinthfarbige Ueberrod hing. 


ee Unmveit davon jaß der freumdliche Philojoph, nie allein, R 
S immer don einem Kreis von Bekannten umgeben. Sie 
R waren alle feine Säfte, die ev mit feinen Einfällen ber 


y wirtbete. i 

Brüffel winmelte dazumal von Flüchtlingen und 
Emigranten aller Art; wir lernten manche derjelben an 
unjerem Tijche fennen. An problematischen Eriftenzen, er 
die der Bolizei Louis PBhilipp’S aus den Wege gegangen, j 


$ war fein Mangel. Ein Baar Hatten ihrer Ausjage nach 
wichtige militärische Posten im polnischen Nevolutionsfriege 


eingenommen und liegen merken, daß ihnen im General- 2 
| jtabe der fommenden Revolution noc größere Pojten 
anvertraut werden mwirden — fie find jpäter wirklich im 
f. badischen Aufjtande flüchtig aufgetaucht. Da war Einer, 
den twir den „püftern Wahrjager“ nannten — Zug für 
Zug der Apemantus Shafejpeare’s in die Wirklichkeit von 
damals übertragen. Er war ein umerveichtes Meufter 


7 - 


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Kan en rec 
# 2 a F L 


Zweite Bud). ; 197 


pejjimijtiicher Darjtellung. Täglich brachte er Kumde von 
einem neuen Greuel, „der unjere Zeit den finjteriten 
Tagen des Mittelalters gleichitelle”, oder von einer neuen 
Schandthat der Könige, „die das Blut der Ruhigiten zum 
Sieden bringen müfje“. Der Ausgangspunkt aller Bolitif 
datirte für ihn von der von Nobespierre formulirten 
Erklärung der Menjchenrechte, doch war er der Meinung, 
daß man bei der nächjten Erhebung die Prineipien Babeuf’s 
zu vealifiven haben werde. Darüber duldete er feinen 
Widerjprud. Dem, der ihn wagte, wurde bedeutet, er 
jei zivar ein ganz guter Gejelle; dennoch wirde Die 
Volkspartei nicht umhin können, ihn bei jo perverjen 
Gejinnungen „ein wenig zu verkürzen“. Er jah jich jchon 
im Geijte auf dem Berge eines europäiichen Convents 
figen, ein neuer Marat oder Anacharjis Cloots. Met 
feinen Anfichten harmonirte die ganze Erjcheinung — ver 
verwitterte Kopf mit den fanatischen Augen, der jtruppig 
rothe Bart, ja auch die Kleidung, Hut, Rod und Hojen, 
welche jämmtlich den Zerfall mit der Zeit zum Ausdrud 
brachten . 

Es war eine merhvürdige Zeit umd der „rothe 


Wolf” — denn dies war jein Name und ich habe 
ihn twie er war in meinen Noman „Zwoijchen Fürjt und 
Bolf“ Hinübergenommen — eines ihrer merhviwdigjten 


Driginale. Die Epoche der Barifer Commune hat gezeigt, 
daß jolhe Typen noch heute eriftiren, aber je bleiben 
jet in den Tiefen ihrer Conventifel, fie tauchen nicht 
mehr an die Oberfläche. Man würde fie aber auch nicht 


198 Geitichte meined Lebens 


mehr wie damals befuftigt anhören und fie lediglich fir 
Driginale und jeltiame Träumer halten . 

Vährend ich jo im Brüfjel dahinlebte, Morgens 
Gemäldegallerien, Mireen, Sehenswürdigfeiten aller Art 
durchmufternd, Abends in einer Gejellichaft, in der mid) 
das Durcheinander der Meinungen imtereflirte, machte 
ich mir Vorwürfe, dab ich eine Famitie nicht bejuche, 
die Jahre Hindurch meinen Eltern jehr befreundet ge 
twejen. 

Und doch blieb ich aus gutem Grunde fort. 

General Sfrzynecki, der Oberfeldherr der Polen im 
Sreiheitsfampfe von 1831, hatte, jeitdem er mit jeinen 
Truppenrejten nach Galizien übergetreten war, in Prag 
gelebt und war mit den Seinigen viel in unjer Haus 
gekommen. Sch war jeit meinen Snabenjahren gewohnt, 
mit jchener Verehrung zu ihm Hinaufzufehen und wohl 
mußte diefe Hohe ftattliche, vom Nimbus des Unglüds 
umgebene Gejtalt, der jchöne Kopf von trüben melan- 
chotischen Ernte mit den ruhigen jchwernrüthigen Augen 
und dem feingezogenen Munde auch auf folche, die die 
Berdienjte des Mannes nicht im Entferntejten zu vers 
jtehen md überfchauen im Stande waren, einen imponi- 
renden Eindruck machen. Der General hatte aus einer 
großen Stellung nichts gerettet und war beinahe arın. 
So lebte er Jahr um Fahr unter polizeilicher Aufficht, 
durfte den Umkreis der Prager Mauern nicht verlafjen 
und mußte jelbjt um eine Bapdereife nad) Karlsbad 
„bittlich einfommen“. Mit der Unruhe eines Schiff 


nn ah u a Kr 


Zweites Bud) 199 


brüchigen, der immer auslugt und immer geneigt ift, den 
weißen lefen am Horizonte für das Segel eines vor- 
überziehenden Schiffes zu halten, hatte er hingelebt — 
jein Leben ein jtetes Erwarten. Da wurde einmal ein 
Brierchen bei uns abgegeben, darin jtand ein Lebervohrl. 
Der General hatte Prag und Defterreich heimlich ver- 
lafjen. Welche Bewegung verurfachte bei uns, die ihm 
anhingen, diefer Schritt! „Das jteht mit Ereignifjen, die 
bald hervortreten werden, im Zufammenhange!“ jagte 
mein Vater mit erhobenem Finger. Wir verlebten auc) 
mehrere Tage in ängjtlicher Sorge, daß er auf feiner 
Flucht aufgegriffen werden fünne. Doch nein, die öjter- 
reichiiche Polizei erfuhr jeine Flucht exit aus befgischen 
und franzöjiichen Blättern, und nach langen Bemühungen 
erhielt die Jamilie die Erlaubniß, dem Flüchtling nach- 
folgen zu dürfen. Die Sache gab viel zu reden und 
manche Comjeetur wurde gejchmiedet. Aber die Vorher- 
jagungen trafen nicht ein, die Welt blieb ruhig und 
Bolen jchien nach) Grocdhomw und Djtrolenka in tödtlicher 
Ermattung verharren zu jollen. 

Eines Tages wandelte ich mit Kaufmann in den 
entblätterten Alleen des Parks, als ein hochgewachjener, 
jtattlicher Herr, der mit einem Hündechen daher gefommen 
war, vor mir jtehen blieb md jagte: 

„Mein Gedächtni ijt bejjer als das Jhrige.” 

Ssest erjt jah ich empor in das jchöne ernite Geficht 
und erfannte troß feiner jeit Prag ganz ergrauten Haare 
den General. Sch entjchuldigte mich, jo gut ich fonnte. 


Kurs wirt ER En £ 
- h N ER 


fann ihm der Bapjt jein ?“ 


beiveijen, wie Staat und Kirche untrennbar jeien und 


BE ra Ha WER Aa ner 
0 Gefchichte meines Lebens. 


Abends trat ich in eine PBarterrewohnung in der 
Nue des cerfs. Sie war jehr gewöhnlich möblirt, ein 
echtes Emigrantenguartier, das man nicht comfortable 
macht, weil man es bald zu verlafjen gedenft. Ein 
Kaminfeuer war erloichen, ohne die Räume zu erwärmen, 
von der Wand. blickte ein großes jchwarzes Crneifir. 
Und nun fam die Generalin heran und die fchöne blonde 
Hedwig, und auf dem Tijche jah ich wieder einmal den 
Samowar ımd die TIheefanne mit den dünnen Butter 
brödchen, von denen ich fo oft als Knabe hungrig Heim- 
gefommen. K 

Ach, wäre es mur der Thee und die Brödchen 


 gewejen! Der General trat ein, und faum hatten wir 


uns gejebt, al3 die längjt erivartete Strafrede über m 
hereinbradh. 

„Ih Habe FHr Gedicht gelejen,“ jagte ex, „aber 
mit welchen Empfindungen! So jind Sie den Krallen” 4 
des Böen verfallen! Sie fonnten es wagen, das einzige, - 
das ewige uftitut, Die römische Kirche anzugreifen? 
Unglüdlicher! könnte ich Ihnen die Augen öffnen und 
Shre Seele dem ewigen Hetle zuführen.“ 7 

„ber, Johann,“ fiel die Gemalin ihrem Gatten 3 
is Wort, „dur vergifjejt, daß umfer guter Freund in 
protejtantiichen Anjchauungen herangewachien it! Tee 


Die Einvede half nichts. Der General fing an zu ‘ 


jede echte Kumjt umd Boefte mr als fatholiiche gedacht 


u de 
zur hr 
Fat 


Zweites Buch. 201 


erden fünne. Wie die Neformation ein Werk des Teufels 
jei, den Keim der Zerjtörung in jich trage und die Be- 
völferungen, die fich ihr anheimgegeben, jtufenmweile zum 
Materialismus, Atheismus, Bantheismus führe . 

Alles das hatte ich vorausgejehen. Schon in Prag 
hatte der General neben feinen Eriegswiljenjchaftlichen 
Büchern den Grafen Le Matjtre und den Abbe Lammenais 
jo eifrig gelefjen — den Thomas a Kempis pflegte er 
in der Tajche bei fich zu tragen. 

Belch unerquiclicher Abend und wie bedauerte ich 
den Gang! Doch) was war zu thun? Dpponiren mochte 
ich nicht. Mit der jtumpfen Gelafjenheit eines Schlacht- 
opfers, etwa eines Negers vor dem Mäiffionär ließ ich 
alles an mir dahin gehen. 

Nur jagte ich, damit fi der Act nicht noch einmal 
wiederhole, daß ich morgen ipieder abreijen terde. 

Endlich war die Stunde gefommen, in der ich mich 
mit Anftand wieder entfernen konnte. Beim Abjchied jchlug 
das gute Herz des Generals wieder durch. Er füßte mich 
nach Art der Volen auf beide Wangen, zeichnete ein Streuz 
über mich und entließ mich mit den beiten Wiünjchen. 

Auch er gehört mit in das Bild der Cmigrirten 
von allen Farben, die Brüfjel damals beherbergte, ein 
Gegenjaß zu den anderen, wie er jchärfer gar nicht gedacht 
werden fan. 

Sch habe ihn jeit diefem Abend nie wiedergejehen 
und weiß nur, daß er vor nicht gar zu langer Zeit in 
hohem Alter zu Krakau gejtorben. 


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_ Gefchichte meines Leben? 


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er hatte jeiner Zeit ohne Beihilfe von irgend eine Y 
Seite den Kampf von vier Millionen gegen fünfzig Millio- 
nen geführt, zudem noch von Nachbarmächten eingeschloffen, 
von denen jede die Wiederaufrichtung des Polenreiches 
fürchtete. Auch bei größter militärifcher Begabung hätte j 
feine Hoffnungsloje Sache fein anderes Ende nehmen fönnen. 


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Erjier Eindrud von Paris. — Celejte wiedergefunden. Tr 


An einem jchneidend falten Wintermorgen — genau 
gejagt, am 8. Februar 1847 — wurde ich in Paris 
ausgejeßt. Seit ich die Stadt betreten, glaubte ich ein 
unaufhörfiches weitverbreitetes Getöfe, wie von einer 
Meeresprandung zu vernehmen. Möglich, dap es Tau 
ihung war; es mag aber auch wirklich eine umunter- 
brochene Erietitteriing der Luft, wie fie eine folche Stadt 
bedingt, ich gewifjen Nerven bemerkbar machen. = 

Diejes veeanische Braufen wuchs mir im Ohre, als ; 
ich mich ins Fnmere der Stadt führen ließ, um im Palais 
royal zu frühjtücden und es jteigerte jich bis zum Wider- 
wärtigen, als ich in die Nivolistrage hinaustrat. Exjt im 
nahen Tuileriengarten ward eS jchwächer. Dort hielt ih 
fange ftill vor einer Statue in Erzguß. 3 war der 
Spartacus von FoYatier, der vor dem mittleren Bavillon 
des Tuileriengartens jtand. Er hat die Feljeln zeriprengt, 


Zweites Buch. 203 


beide Arme mit geballten Fäuften übereinandergeichlagen, 
das furze Gladiatorenjchwert in der Linken, im Geficht 
den Ausdruck energiicher Empörung. Diejer vor das Nlönig- 
ichloß aufgeitellte Spartacus gab mir zu denken. Sollte 
er Frankreich Tomboliftren ? 

Sch wanderte weiter und fam auf den PBlab de la 
Concorde. Die Sonne trat aus den Wolfen und warf 
ihr Licht auf das ungeheure Bild, das jic) vor mir aufs 
that. Eine Fülle von Erinnerungen jtürmte auf mic 
ein, aber welche Fülle der Gegenwart war auch da! 
Die Springbrumnen, die ihr Wafjer in die colojjalen Beden 
ichütteten, die Wagen, die Menjchen, die ungeheure Strede 
der elyjäiichen Felder in Dumjt und Nebel verjchwinmend. .. 

Aber die Hijtoriiche Wichtigkeit der Stadt war für 
mich heute jo gut wie nicht vorhanden. Mein Haupt 
gedanfe war, daß ich tm diefer Stadt Eelejte wiederjehen 
werde. Bor allen andern Bekannten nur jte! 

MWiürde fie wohl von der Lieblichfeit verloren haben, 
mit der meine Phantajie jte umfleidete? Fch hatte fie jo 
lange nicht gejehen! So hold fonnte fie nicht mehr fein, 
als jie in meiner Erinnerung lebte. Sie hatte jo viel 
Trauriges durchgemacht. Ach, ihr Freund und Bejchüger 
zu werden im gefahrvollen Leben, war ein jchöner Ge- 
danke! Mein Herz zitterte vor Freude, aber auch vor 
heimlicher Angit! Ja, ich würde jie wiederjehen! Vielleicht 
ichon in der nächjten Stunde lag fie in meinen Armen! 
Sch Hatte mich Torgfältig angefleidet, wie e3 die gute 
Lebensart verlangt, wenn man in einer fremden Familie 


einen Ommibus, der mich in die Nähe der betr 
Straße bringen witrde, ohne daß auf ven vom Februar- x h 
Nebel gänzlich durchfeuchteten Pflajter meine Fußbekfei- “a 
dung leide. 2 

Es war weiter, als ich dachte; ich war fehlgegangen 
und hatte lange zu juchen. Der Abend begann zu 
dunfeln, al ich in der Aue de Provence vor dem Haufe 
Kummer 16 jtand. Die Hausthir ging vor mir auf. 

„Madame Alibert ?” fragte ich die Bortiersfrau. 

„Au fond!* oder jo ähnlich lautete die verdrießliche 
Antwort. 

Sa gehe über einen Hof von mittlerer Größe, ex 
tar nett gepflajtert und veinlich gehalten, ich jehe jofort 
eine Treppe vor mir und jteige aufwärts. Auf dem 
Treppenabjaß angelangt, ift feine Wahl von Thüren zu 
treffen, mw eine ift da. Und ehe ich noch die Stlingel 
gezogen, öffnet fich die Thür vor mir; eine junge Dame, 
ein Licht in der Hand, fam mir entgegen. 

Es war GCelefte. E 

Sie jtarrte mich eine Weile mit großgeöffneten 
Argen an, dann jagte jie fait tonlos: 

„Mein Gott, mein Gott, Sie find es!“ 

„Ss, liebe Celejte !“ 

„yeber, großer Gott, wo fommen Sie her?” fragte 
fie mit dem Ausdrude unermeplichen Erjtaunens. „Wer 
hat hnen meine Wohnung gejagt, meine Adrejje ge 
geben ?“ 


Zweites Buch. 205 


„shre Adrejfe?... Sch war im Herbite in Karlsbad. 
Sie haben an Jhren ehemaligen Hausherren gejchrieben“. . .. 

„sa freilich, freilich. Wr den habe ich gejchrieben 
um den alten Koffer! Seht begreife ich — jebt begreife 
ich Alles. Aber dies Wiederjehen war jo plößlih — 
Sie haben mich jo jchrecflih überrajcht, warum haben 
Sie mir nicht zuvor gejchrieben ?“ 

„Warum? Wann hätte ich Ihnen fchreiben jollen ? 
Heute früh bin ich angefommen — heute bin ich jchon 
da. sch brannte vor Ungeduld, Sie wiederzufehen !“ 

„sa, ja, Sie find es, Sie, mein guter Fremd, 
Sie jind es!“ rief Celejte im zärtlichjten Tone, indem 
jie beide Arme auf meine AUchjeln legte und mir in die 
Augen jah. 

„sch bin jelig,“ vief ich. Doch ich hatte fie faum 
umichlungen, als fie in Ihränen ausbrac). 

Es waren Thränen, twie ich fie noch nie im Leben 
gejehen. Sie brachen jtvommeife aus den Augen hervor. 
Wie em Guß von Perlen ging es über die Wangen 
hinab. Dabei verzog ich das Antliß, die ganze Gejtalt 
vibrirte; ein Krampf jchien alle Musfeln des Gefichts 
und der Brut erfaßt zu haben. 

Und in immer neuen Güffen rollten die Thränen. 

sch Itand Iprachlos, erjchüüttert da. Ya, der Abjtand 
von damals und heute ift groß! jagte ich zu mir. Sie 
weint um ihre Mutter, um eine Zeit, da jte reich und 
glücklich und unabhängig war. Sebt iht fie ein Gnaden- 
brot im fremden Haufe. Arme Cefeite! 


2 
L N N, 
rn) "Oel 


ai: meines zus. 


Sch wartete und wartete, daß Diele Shen d a ; 
hören, es wollte nicht enden. Crjt jeßt jah ich min e 
Gelejte näher an. Sie jtand vor mir nachläffig in einen 
weiten von oben bis unten gejchloffenen Schlafrod von 
hellbraunem Ihibet gekleidet, aber ihr Haar war jchön 
und funjtvoll Frifiet, und ihre Füßchen jtecten in ziers 
lichen Schuhen mit großen, vojenvothen Banpjchleifen. 
„Die Ueberrafchung hat Jhnen wehegethan !“ ingte x 
ich, als Celefte fich ein wenig beruhigt hatte. „Werzeihen 
Sie, daß ich jo plößlich vor Ihnen erjchienen bin. Aber 
num darf ich twohl vorwärts gehen und Sie bitten, mich 
der Familie, bei der Sie find, vorzujtellen. Als u 
Sshrer jeligen Mutter — als Fhr Freund —“ 
Damit ging ich vorwärts und Schritt Durcch den ee 
und engen Corridor einer offenjtehenden Thür zu. 
Sie führte in einen elegant möblirten Salon. Bivei 
Flammen eines Armleuchters, der twie vergeffen auf der 
Marmorplatte eines Kamins jtand, erhellten ihn nur 
ipärlih. ch ah geichloffene Fenjter, Draperien von 
ichwerem Stoff, die bis ar den Boden reichten, der mit 
einem Teppich belegt war. Ich jah ein Pianino und 
mehrere Bilder an den Wänden. Ein Sofa md vier 
bis fünf Fautenils von vothen Sammet jtanden u i 
einen ovalen Tifch, über den ein vergoldeter Krone 
herabhing. : 
„Der Salon ijt leer” — jagte ich. „Alles Scheint 
ausgegangen zu jein.“ 
Sch blieb an der Schwelle jtehen. 


Zweited Buch). 


„sa, alles ift ausgegangen,“ wiederholte Gelejte, 
die miv fangjam gefolgt war. „Sch glaube mwenigjtens 
— dab Madame Alibert nicht da ift..., aber fie kann 
jeden Augenblit fommen. Nein — daß ich Sie ihr 


vorjtelle, geht nicht an... Geht durchaus nicht. Sie 


it — eine ganz eigene Jrau —“ 
„Wohl eine jehr reiche vornehme, hoffährtige Dame ?“ 
„Eine ganz eigene Frau“ — fuhr Gelejte fort, 
indem fie jich scheu nach allen Seiten umjah — „und 
— md — ich rede offen: Sie wirden mir eimen 


Gefallen thun, wenn Sie mich schon jegt verlafjen 
wollten! Es ift nämlich jo,“ fagte fie jeßt jehr raldh: 
„Madame Alibert erwartet heute Gejellichaft. Sie jehen 
ja: ich war eben im Ankleiden begriffen, als Sie kamen. 
D jehen Sie mih niht an. ch will nicht, daß Sie 
mich anjehen! Nun kann aber jeden Augenblid Jemand 
kommen -—— und ich — in meiner Stellung hier — nein 
— Gie werden meine Bitte erfüllen —“ 

„Sch Habe längft die Empfindung gehabt, daß ich 
Shnen heute ganz ungelegen fomme,“ erwiverte ich etwas 
verlegt. „Seit ich da bin, jtehen Sie auf Nadeln. Aber 


Sie erlauben mir jchon ein andermal. — Was ijt natür- 
ficher, als daß ich der Dame, deren Gejfellichafterin Ste 
find, meine Aufwartung made? . . .“ 


„Nein, nein, nein!” evwiderte Celejte heftig. „Nach 
Madame Alibert fragen Sie nicht! Aber wifjfen Sie was? 
Sie laffen mir eine Karte mit Ihrer Adreffe zurück. Ich 
jchreibe Ihnen in Ihre Wohnung, und wir verabreden 


3 I Br Are. 
Kos u, Zu. “ “ 2 % 
7 Br): =, sat zu h Do 


Gefehichte meines Lebend. 1 TEN 


ein Wiederjegen! Fit das Jhnen recht? Sind Sie damit 
zufrieden ?* ze 

„Meine Wohnung merkt jich Leicht!“ umge id. 
„Hotel Violet, Aue Boifjonniere.“ 

„Hotel Violet, Aue Poifjfonniere,“ wiederholte Ge 
(efte. „Und nun gehen Sie. Bitte, gehen Sie! 3 it 
bejjer, daß Sie Niemand jieht. Weit beijer. Auf eimen 
Brief von mir fünnen Sie zählen. Morgen jchon. Adieu, 
mein guter Freund! Adien, mein Lieber!” ihre Stimme 
wurde jehr weich, und fofend legte fie ihre Arme um 
meinen Hals. — „Adien, mein Geliebter! Mein yugend- 3 
geliebter!” 2 

Damit — nein, geleiten fanıı man nicht jagen — 3 
damit jchob fie mich in den Corridor zurück, der Thür 
zu. Sch umfaßte jie noch vajch und drückte einen "a 
auf ihre Stirne. 

Danı ging ich langjam die Treppe herunter, während 
fie mir noch vom Geländer herableuchtete. 

Sch war jonderbar bewegt und hielt bei jedem 
Schritte inne. Celejtens Schref und Vertvirrung bei 
meinem rjcheinen — diefe Fluth von Thränen, dies 
icheue Wejen, das immer den Wunfch dirchleuchten ließ, 
daß ich mich jobald als möglich entferne — dieje Gejell- 3 
jchaft, die man heute erwartete und für die ich feinexlei 
Borbereitungen getroffen jah — diefer Anzug Celejtens 
und ihr Erjcheinen in demjelben an der Thür — alles 
das war mir jo jeltiam, jo wunderlich ... . Dahinter 
itecfte etwas, aber das Was errieth ich nicht. y 


I 


Zmeites Bud. 209 


&3 war jchon recht dunkel geworden. Yuf dem 
unterjten Abjabe der Treppe jtieß ich auf eine Gruppe. 

Eine jehr gepugte Dante conferirte eifrig mit einem 
Herrn. 

Sch ging, ohne fie zu beachten, ein paar Schritte 
weiter. 

Ueber den Hof fam ein Fräulein in Promenaden- 
Toilette daher, ein Liedchen trällernd, und firirte mich. 
Mir ging plöglich ein jchreefliches Licht auf. 

Sch blieb vor der jungen Dame stehen und fragte: 
„Schönes Kind, wohnen Sie auch bei Madame Alibert?“ 

„Bei went jonjt?“ eviwiderte fie. „Gefalle ich Jhnen ? 
Das freut mich. — Sch heiße Hortenfe —” Damit eilte 
fie davon. 

Ach, jegt wuhte ich Alles, Alles! Num wußte ich 
erit, two ich gewejen! Alfo dahin war es gefommen! Sch 
‚war ivie von eimer Kugel getroffen und hätte an die 
Wand fallen mögen. Celejte, Celejte! DO, ich fonnte mir’s 
denfen, twie Alles geworden; die Mutter gejtorben, jte 
allein, mittellos, zuricgeblieben im der Fremde, in Paris. 
Ein Weib, das an fie herangeschlichen fan mit den Vor- 
wande der Hilfe. Eine Berderberin. — Sc verbrachte 
eine jchlaflofe Nacht und dann einen öden, wüjten Tag, 
und danı noch viele, viele gejtörte Nächte, in denen ich 
Gelejte immer vor mir jah. Helfen? Wie helfen? Was 
in den Pfuhl gefallen, holt man nicht herauf. Die Sache 
war unbeilbar. 

Sahrelang aber ift mir die Sache nachgegangen. 

Meeihner, Gejchichte meines Lebens, I. B, 14 


eg E a Be = ar a 
Seite ER ee ER 


Der veriprochene Brief Celejte’s it nicht gefommen ; 
3 ich habe fie nie wiedergejehen und das Haus nie mehr 
=; betreten. Auch der Gejchichte, wie das Alles jo gekommen 1 
za habe ich nie nachforschen mögen. a 


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II 


u o . fi . r i see A 
Heinrich Heine daheim und im Cercle Dalois. — Deutjche Publicijten. 


&3 war am 10. Februar 1847 in einer der Na 
mittagsjtunden zwijchen Drei ımd Sechs, als ich mich, 
aufmachte, einen Brief Heinrich Yaube’s bei Heinrich Heine 
abzugeben. Ach hatte das Haus, das in der Nähe meines 
Abjteigequartiers, des Hotel Violet, lag, bald gefunden. 
In der Rue Faubourg Poiffonniere biegt (infs ein enges 
Säßlein ein; das dadırd entjtandene Eehaus war die 
bezügliche Nummer, 46. Sch stieg drei hölzerne, jchmale, 
gefährlich glatt polivte Treppen aufwärts und ftand vor 
einer jchmalen braunen Thüre, an der eine griimjeidene 


= SLocdenschnur herabhing. 
er. Sch schellte, eine corpulente, noch ziemlich ing 
IE liche Dame öffnete, warf einen prüfenden Blie auf meine N 


vaterländiichen Nod und jagte mir, dag Monfieur ers 
ausgegangen ei. 
Be „Je suis desol&,* jagte ich mit wirklicher on 
täufchung, „de ne pas trouver Monsieur Heine. Je 


viens de Leipzig, porteur d’une lettre de Monsieur 
er 


TE ER 


Zweites Buch. 


Laube. Quand, Madame, pourrai-je avoir le plai- 
sir? —* 

„I n’est pas sorti! Il n’est pas sorti!“ rief in 
diejem Augenblide eine jehr dünne Stimme und ein eher 
Eleiner als großer Manı, nicht alt, nicht jung, den Kopf 
ein jvenig vorgebückt, erichien zwijchen der Thür in einem 
Schlafrod, der um feine nackten Beine flatterte. 

Es war Heinrich Heine und ein Druc jeiner weichen 
janften Hand hieß mich toilllommeıt. 

„Entrez, entrez! ch bin joeben heimgefommen — 
muß mich umziehen, weil ich ganz in Schweiß gebadet 
war!“ vief ev Feuchend, aber jo laut, als wenn er zu 
einem Schwerhörigen jpräche. 

„sa, ma biche, das ift ein Fremd aus Deutjch- 
land, der mir einen Brief von Laube bringt,“ erklärte 
er der Gattin. „Madame Heine will feine Deutjchen zu 
mir lajjen. Sie erfennt diejelben auf den erjten Blicd,“ 
fügte er lachend Hinzu. 

Damit eilte er in das Nebenzimmer. 

„sa, mein Err!” jagte Madame gezwungen lächelnd. 
„Jai vu du premier abord que Monsieur est Alle- 


mand.“ r 
„Noran erfennen Sie ums?” fragte ich schüchtern. 
„Oh, mon Dieu — an den Slleidern — an den 


Stiefeln —“ 

„Der Ddeutjche Stiefel jteht faft immer jo aus, als 
habe ihn Hans Sachs verfertigt,“ vief Heine aus dem 
Nebenzimmer lachend heriber. 

14* 


Par 
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Arne Di 
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Gefchichte meine3 Rebens,. 


Sch warf einen Blif auf meinen Rod — mein 
Schuhwert — Dresdener Fabricat und fonnte an beiden 
nichts Ungervöhnliches erfennen. Dennoch mußte etwas 
4 daran micht Itylgemäß fein. „Und warum,“ frage id, 
h „ind die Deutjchen bei Fhnen jo in die Acht erklärt? E. 
i Doch — ich fann’s mir denken, Jhr Gemal wird mit 
Befuchen überlaufen —" 
% e „sch kann es nicht leugnen,” jagte jebt Heine, eo 
Br. mittlerweile in etwas vervollitändigter Toilette wieder 
erichienen war. „Es fommt mir fetten aus dem Vater- 
(ande etwas Erfreuliches zu. Was fich als deutjche Lande- 
mannschaft präfentirt, it oft jo zweifelhafter Natur — 
dagegen — Ichenft mir ein chrenhafter Landsmann, defjen 
E Namen mic befannt it, die Ehre feines Beluches, io 
fan ex einer freundlichen Aufnahme gewiß fein. — Doch, 
kommen Sie, fommen Sie auf mein Himmer. Wir 
” müfjen ein Langes und Breites Schwagen. Sc ui. 0 
- jelten etwas —“ 
Erjt jeßt jah ich mir Heine näher an. Er war 
e bei weiten noch nicht der franfe Mann, als den wir ihn 
einige Jahre jpäter ums zu denken gewöhnt find. Freilich 
| war das rechte Auge gejchloifen, "aber andere Spuren des 
a vorangegangenen Schlaganfall3 waren auf jenem Gejichte: 
BD; faum bemerkbar. Diejes Geficht war von eigenthümlicher 
. Schönheit, die Stine Hoch und edel, die Naje fein und. 
vornehn gejchnitten, den Mumd von zierlicher Bildung 
umschattete ein Bart, der auch das ganze Kinn unfleiete. | { 
Diefer Bart war jchon wei geiprenfelt, während das 


Zweites Buch. 213 


volle braune Haupthaar, das tief in den Nacen hinab- 
hing, in feiner Ueppigfeit noch feine Spur des Alters 
verriet. Der Gejammteindruck feines Gefichtes war 
ichwärmertiche Schwermuth, doch wenn er fprach und Jich 
bewegte, brach eine ungeahnte Energie und ein ütber- 
 rajchendes, fajt vämonijches Lächeln hevvor. Er war nod 
jo ziemlich gut auf den Beinen und konnte, auch nur um 
eines HYeitungsartifels wegen, den weiten Weg von Fau- 
bourg Boifjonniere bis zum Palais royal ing Cabinet de 
Reetüre zurücklegen. 

Heine jtand damals im achtumdvierzigiten Jahre, 
Zu jeiner Krankheit, welche jpäter zu fo schrecklichen 
Berwüjtungen führte, war durch Aufregungen in einem 
Erbichaftsitreite dev Grund gelegt worden. Heime hatte 
von jeinen Oheim, dem dreißigfachen Millionär Salomon 
Heine, eine Jahresrente bezogen und hatte nie einen 
HBweifel gehegt, daß ihm Diefe auf Lebzeiten gejichert 
bfeiben werde. Da war Salomon Heine im December 
1844 gejtorben und im Tejtamente fehlte die Nente. 
Zahlreiche Smititute und PBerjonen waren mit den jplen- 
divejten Legaten bedacht, und er, der Neffe, ging jo gut 
wie leer aus. hm war, ein für alle Mal, die Summe 
von acht Taujend Mark ausgejegt und jelbit an YAus- 
zahlumg diejer geringen Summe war noch die Bedingung 
geknüpft, daß der Dichter die Verpflichtung eingebe, nie 
mals eine Zeile zu jchreiben, durch welche irgend ein 
Mitglied der Heine’schen Familie verlegt werden fönne. 
Wer hatte in jo unheimlicher Weile auf den alten Herrn 


214. Geihichte meines Leben3. 


eingewwirft, im welchen Heine einen zweiten Vater verehrt 
hatte? Bon wem rührte diefe Nache her? Objchen mım 
das Tejtament die Claufel enthielt, daß jede Unzufrieden- 
heit mit den Bejtimmungen des Erblaffers, fowie jeder 
Berjuch, den Haupterben im ruhigen Bejite des ihm 
VBermachten zu jtören, den gänzlichen Verluft jedes Anz 
vechts auf das ihm Zugeiprochene nach jich ziehen jolle, 
var Heinrich Heine bei der eriten Kunde, daß jein Better 
das Ausiprechen der vorgenannten Berpflichtung verlange, 
entjehlofjen, fein bedrohtes Necht auf gerichtlichen Wege 
geltend zu machen. Da gab es Stürme, jchlaflofe Nächte, 
Aufregungen alle Art. Der Kämpfer, dem Hundert 
twüthende Angriffe nichts gejchadet hatten, erlag jeßt dem 
Uerger und der Kiränfung. Wie würde es um jeine alten 
Tage beitellt jein. 

Sein Organismus jehien ihn schon jest fühlen zu 
(ajfen, daß diefer Zujtand über furz oder lang mit dem 
Tode enden müfje. Ohne Beijerung zu fühlen, war er 
das Jahr zuvor aus dem Pyrenäenbad Bagneres zurücd- 
gekehrt und hatte es in Paris mit ebenjo wenig Erfolg 
mit mehreren Aerzten verfucht. 

Defienungeachtet war er noch immer gejellig, liebte 
es, Säfte bei jich zu jehen, konnte ausgelafjen lujtig fein, 
icherzen, lachen, jpotten. Sein Geift jchten von den Lei- 
den des Körpers völlig frei geblieben zu jein und arbeitete 
in einer in Trimmer gehenden Wohnung weiter mit der 
alten Kraft, wie umbefiimmtrt darum, wann das Dach 
über ihm zujammenftürzen follte. 


Zweites Bud). 215 


Es it erzählt worden, daß Heine jehr gejellig gelebt 
habe, viel in hochgejtellte Barifer Stretie gekommen jei 
und mit den Notabilitäten der franzöfiichen rejje viel- 
fachen Verkehr gepflogen habe. Das mag in den frühe- 
ren guten Tagen jo gewejen jein; jet war eS nicht der 
Fall, er lebte jehr zurücdgezogen. Si deutjche Familien 
fam er gar nicht, vermuthlich deshalb, weil er jeine Frau 
nicht dahin mitnehmen fonnte, und in franzöftiche ebenjo 
wenig. Er war mit der franzöfiichen Schriftjtelleriwelt 
befannt, aber die Beziehungen waren feine lebendigen, 
er fan mit feiner diefer Perjönlichkeiten öfter zujammen. 
Ein paar davon waren ihm immer fern geblieben. Victor 
Hugo auf jeinen Stelzen, Yamartine auf jeinem tweih- 
rauchduftenden Wolfenthron. Mit Georges Sand war 
er ehedent befreundet geweien, jest hatte er die Schrift- 
itellerin, die mit Chopin zujammen in der afazien- 
bejchatteten Cour du Orleans wohnte, jehon manches Jahr 
nicht mehr gejehen. Nächjt diejer genialen Frau inter 
ejjirte ihn Balzac am meijten, er erzählte oft von Spa- 
ziergängen im ITuileriengarten, wo dann Balzac die erite 
bejte etwas auffallende Erjcheinung zum Anlag nahm, 
die winderbarjten Kenntnifje in der Naturgejchichte der 
Stände zu entwidelr. Mit Leon Gozlan ıumd Jules 
yanin war der Verfehr, der ehedem bejtanden, auch ganz 
eingejchlafen. Die großen Entfernungen, der Ernft der 
Arbeit und das Leben einer Stadt wie Baris mit feinen 
taujend Zerjtrenungen bringen es mit ich, daß auch 
jolche, die großen Gefallen an einander finden, fich lange 


216 & Sejchichte meine Leben. 


nicht jehen und fich zulegt aus den Augen verlieren. 
Bollends aber der Stranfe ift mr ein halber Menich. 
Alles jchien ihn vergejfen zu haben. Nur der arme 
Gerard de Nerval, der ein lebendiges Intereffe an deut- 
jchem Geiftesteben nahn, fan zuweilen in’S Haus. 

Heine’s Hauptumgang war jonac) der mit einfachen 
Sterblichen, ohne Brätenfionen auf Kränze und Nachruhm. 
Er bejchränfkte fich jehließlich auf deutjche Literaten, die 
als Berichterftatter nach Baris gekommen waren. Unter 
diejen jtand Dr. Heinrich Seuffert obenan; er war der 
Einzige, der Heine gemüthlich nahe gefommen. Heine 
huchte jeinen Umgang und hatte es nicht gern, went 
Seuffert länger ausblieh. 

Heinrich Seuffert war ein hübjcher Mann, in den 
Dreigigern, mit blonden, zu Loden geneigtem Haarwuchs 
und echt germanifcher Wangenröthe, jcheinbar jehr gefund, 
aber von hochgeiteigerter Nevvofität. Er hatte eine Ge- 
twohnheit angenommen, die vieles Flüftern ımd Kopf 
jchlitteln erzeugte, wenn er ein öffentliches Local betrat 
und ihm bei Leuten, die feinen Namen nicht wußten 
oder nicht behielten, den Namen: le monsieur au ruban 
(der Mann mit dem Bande) verschafft hatte. Er pflegte 
nämlich ein mehrere Meter langes, jchmales jchtvarzes 
Seidenband bei jich zu tragen, das er auf und ab be- 
wegte, in die Luft warf umd wieder auffing. ES mußte 
neben ihm Liegen, wenn er jchried. Manchmal trieb ex 
es, jih und die Umgebung jelbit vergefiend, jo arg damit, 
tie ein junges Käßlen mit einem Sinäuel. Nahm man 


Zweites Bud). 


ihm icheyzeshalber jein Spielzeug weg, was nicht jelten 
geichah, jo wurde er unruhig, machte ein betrübtes Geficht 
und bat jchlieglih injtändig, daß man ihm jein Band 
zuriicitelle, denn er fonnte ohne Ddasjelbe nicht Leben. 
Ein jolches Band dauerte nicht lange, allwöchentlich wurde 
ein neues gefauft md das alte Spielzeug weggeivorfen. 

Diejer wunderliche Mann jchrieb gleich gut Fran- 
zöfiich wie Deutich und war überhaupt ein merkwürdiger 
Styliit. Er jchrieb die Woche mehrmals politiiche Be- 
richte für die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ und von 
——— Beit zu Zeit längere Artikel über Kumft md Literatur 
— Air die Beilage derjelben und für das „Stuttgarter 
Br Morgenblatt“. Seine Artikel, denen er das Marszeichen 
x 9 dvoranjtellte, glichen in der Form jo jehr denen Heine’, 
— —  daf fie vielfach von Jenen, welche die vorgelegten Zeichen 
nicht beachteten, — Heine führte das Davidsjchild XX — für 
Heine’sche gehalten wurden. Als die „Lutetia“ exrichien, 
‚dverntißten Biele diefen und jenen twißigen Brief, den fie 
im Gedächtniffe behalten umd Heine zugejchrieben hatten. 
€ waren Briefe Heinrich Senffert’3 geivejen. 

Er hatte ih ganz an Heime’s Styl herangebildet, 
bewegte fich in denjelben Sprüngen und Capriolen, aber 
em anderer Geift jchlug dann umd wann durch. . Er 
war nämlich ein gar gläubiger Katholif von Haus aus 
— er entitammte einer Würzburger Familie — umd 
ging in diefer Richtung immer weiter, jeitdem er fich in 
eine junge Franzöjin aus einer legitimiftischen Familie ver- 
liebt hatte. Das Fräulein hatte fich mit dev Abficht getragen, 


218 Gejchichte meines Lebens. 


im’3 Klojter zu gehen, fie wollte lange von Seuffert’3 
Werbungen nichts wiljen. Endlich machte ein Abbe Die 
junge Dame darauf aufmerkfjam, daß fie ja bei ihrem 
Geijte als verheiratete Frau im Verfehre mit Weltmänz- 
nern der Kirche weit größere Dienjte feijten fünne, als 
im Klojter. So war ein Ausweg aus den jich freuzen- 
den Neigungen gefunden, und Seuffert athmete wieder 
auf, voll Hoffnung, daß er die, welche eine Gottesbraut 
hatte werden wollen, jein Eigen nennen werde... 

Alles, was in Paris damals an deutichen Bericht 
eritattern beifammen war, fand fich zwijchen Drei und 
Fünf in eimem größeren Lejecabinet ein. Diejes, der 
Gercle Balois genannt, befand ich im Palais Royal, 
alfo einem bequem in der Mitte gelegenen Punkte. Auf 
einem großen Meitteltiiche waren an die fünfzig Heituns 
gen, franzöftiche und fremdländiiche, aufgelegt; es war 
für Tintenfäffer und Federn gejorgt; die Herren lajen, 
ichrieben ihre Berichte und trugen fie dan eigenhändig 
auf das unfern gelegene PBojtbureau der Bürfe. 

Sm diefem Lejecajino erjchien Heine jehr häufig, 
höchjt regelmäßig an den Tagen, da die Wochenblätter 
anfamen, und da er für Lob und Tadel feinesivegs un- 
empfänglich war, jtöberte er im den Blättern Herumt, 
jeinem Namen zu begegnen. Was er über fich und feine 
Schriften las, war jelten erfreulich. E3 war eine jtarfe 
Gegenjtrömung gegen ehemals eingebrochen ; man behaup- 
tete, ev habe fich ausgejchrieben, fein Talent habe ich 
abgejchtwächt und jei im DBerfalle begriffen. Und das 


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twmde nicht etiwa zu begriinden verfucht, e8 Äprach fich 
 ducch die Kürze umd den wegtverfenden Ton gelegentlicher 
Erwähnungen aus. Heine äußerte fich nicht darüber, 
aber man jah wohl, wie ihm dabei zu Muthe war. 
Bejonders jchten eine Anzahl Eleiner deutjcher Notiz- 
fer aus Paris es auf ihn abgejehen zu haben. Einer 
 berjelben hatte, während Heine die Bäder in Bagners 
gebrauchte, in der Deutjchen Allgemeinen erzählt, Heine 
 jei in eine PBarifer Srrenanftalt gebracht worden. Nam > 
hatte derjelbe Berichterjtatter gemeldet, Heine fei geftorben. 
$ „Mich ärgert nur,“ jagte Heine, „dab der Herr Profeffor 
 Billau, der Chefredacteur, jo wenig Werth auf mein u 
geben legt, daß er e3 nicht einmal der Mihe werth ge- 
halten hat, vorn im Inhaltsverzeichnig meines Todes 
Erwähnung zu thun. Da hat doch die „Rreupiiche Al za 
gemeine“, twiervohl fie mir nicht Hold ift, beffer gehandelt. 
Sie hat mir armem Sünder ein Kreuz gejpendet. Heine F.“ 
= - „un leben Sie aber, und das it die Hauptjache.“ 
Bi „Sa, ich lebe umd fühle, daß ich geitochen tverde,“ 
a entgegnete Heine bitter. „Das Schlimme ift, daß man 
ji) gegen das Ungeziefer nicht wehren und es auch nicht 
Br  beftrafen fan. Se Eleiner das Jnject ift, um jo weniger 
_  fann man ihm beifommen. Das it's: Flöhe fan man 
4 nicht brandmarfen! — Bon den Franzojen,“ fuhr er, 
 fich feloft tröftend, fort, „werde ich anders behandelt. 
——— Balzac hat mir feine Testerichienene Novelle gewidmet. 
BR - Be Er nennt mich in der Zueignung den twirdigiten Ne- 
E; präjentanten franzöfischen Geijtes in Deutjchland und 


220 Geihichte meines Lebens. 


deutjcher Boejie in Frankreich. Theophil Gautier jagt 
mir im jeiner Borrede zu den „Willis“ Die Liebenswiür- 
Digsten Schmeicheleien. — Sn der theueren Heimat da- 
gegen — doch ich will jchwweigen!* 

Sch hatte im Cercle Valois alle Berichterjtatter der 
„Nugsburger Allgemeinen Zeitung“ nacheinander fennen 
gelernt, mu einen derjelben, ven Baron Ferdinand dv. Ed- 
jtein, hatte ich nie zu Gejichte befommen. Cs tar dies 
ein getaufter umd geadelter Jude, der, wie es hieß, Sans- 
frit und andere indiiche Sprachen trieb und Der Zeitung 
ab und zu ganz loje, mit den Ereignifjen verfmiüpfte Be- 
trachtungen, wenn man will Barabajen, in einem äußerft 
twounderlichen apofalyptiichen Style gejchrieben, einjendete. 
Sn jedem Artikel war von der indiichen Trimurti, von dem 
Geheimnifje der heiligen Dreifaltigleit und vom Thomas 
von Agquin die Nede; in jedem wendete er jich mit Er- 
bitterung gegen die von ihm jogenannten „Hegelingen“. 

„Sie wünschten Eefjtein zu jehen ? Den fünnen Sie 
nicht zu jehen befommen,“ vief Heine herüber, als ich 
einmal fragte, warım man diefen Baron nie jebe. 
„Editein ift todt — jchon vor vielen Jahren gejtorben —” 

„sch habe doch neulich erjt wieder einen Barifer 
Artikel in der „WUllgemeinen“ gejehen“, meinte ich, „ven 
fein anderer als er gejchrieben haben fan. Cr handelte 
von Buddha, Schiiwa und vielen anderen indiichen Grh- 
Ben, um fchließlich auf Hegel zu kommen.“ 

„Editein ijt doch todt,“ jagte Heine mit jenem 
Tone aufrichtiger Trauer, von dem man immer wußte, 


- 


% 


Zweites Buch. al 


daß er einen Scherz verberge. „Der arme Eefjtein tft 
vollitändig todt. Er hat aber ein Necept hHinterlaffen, 
das in der Apotheke der Nedaction niedergelegt ift. Nach 
diejent Necepte wird von Zeit zu Zeit Die Mixtur — 
eine Art Theriak, jehr complicirt — bereitet. Sie ift in die 
Augsburger Pharmakopde vollitändig aufgenommen —“. 

Wie an den meisten jeiner Wiße, hatte Heine auch 
an diejem großes Wohlgefallen. Um ihn lachen zu hören, 
fragten woir ihn jpäter öfter, ob denn Baron Edjtein wirt 
lich. geitorben ei, und erhielten immer diejelbe Berfiche- 
rung, die gleiche Antwort mit Eleinen gelegentlichen Ausg- 
ichmüdungen. Es ijt begreiflich, daß jolche Scherze weiter- 
getragen wırden und endlich denen zu Ohren famen, die fie 
betrafen. Die Folge waren Anfeindungen, Gebälligkeiten, 
mündliche und gedruckte Sottijen. Er hatte nach diefer Nich- 
tung hin Erfahrungen genug gemacht, aber fie brachten ihn 
von jeinen Getvohnbeiten nicht ab. Er konnte den Wiß- 
figel, wenn er über ihn Fam, nicht unterdrüden. Potius 
amicum, quam dietum perdere, tanıte das der Römer. 


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— LOCH HH IH FELGE C EG FE) I I I 


IV. 
Beine’s Häuslichfeit. — Frau Mathilde. 
Angeborener leichter Sinn, der jich bei. phantafie- 


vollen Naturen bis in die Periode der Dreißig erhält, 
hatte Heine ein Band Fmüpfen lafjen, dem urjprünglich 


222 Geihichte meines Leben?. 


eine nur flüchtige Dauer zugedacht war und das jich all- 
mälig, weil fich in ihm ein teiches, nachgiebiges Herz 
mit einem ehr schwachen Willen vereinigte, in ein jehr 
fejtes, ungerreißliches Band verwandelte. Jch meine damit 
das Berhältnig zu Mathilde. Wie war es damit bejtellt? 
Hat es jeinem Leben eine bejtimmte Richtung gegeben ? 
War es ihm zum Heil oder Unheil? Hat es ihm mehr 
Süd oder mehr Leid gebracht? 

Sc glaube dieje Frage jebt weit richtiger als ehe- 
den beantworten zu fünnen, und doch beantworte ich jte 
heute ganz anders, als vor zwanzig Jahren. Jh glaube 
aber auch Durch mein von Adolph Strodtmann jtark 
benüßtes Buch Aırlaf zu einer jeher Falichen Auffafjung 
der Dinge gegeben zu haben, zu eimer Auffafjung, die 
fpäter gang und gäbe geivorden. ES gibt eben Dinge 
im Leben, die ein Menfch in jenen Jahren nicht durch- 
Ichaut, weil er noch ein Novize im Leben ijt und ven 
Worten der Menjchen mehr Bedeutung beilegt, als fie in 
der That haben, anders gejagt: weil er gläubig ijt. Es 
gibt aber merkwirdigerweile auch Dinge, über die man 
fich exit Klar wird, wenn Jahre und Jahre über fie dahin- 
gegangen. Zu den Dingen, die ich heute ganz anders 
anjehe, al$ vor zwanzig und mehr Jahren, gehört num 
auch Heine’s Berhältniß zu Mathilde. 

Die eriten Andeutungen über jeine leidenjchaftliche 
Neigung finden wir heute in jeinen Briefen an Campe 
vom Jahre 1835. Aber bald darauf jchreibt er dene 
jelben: „Gott jei Dank, meine Seele it wieder bejchwich- 


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Ziwveite3 Bud). 223 


tigt, die aufgeregten Sinne find wieder gezähmt, und ich 
lebe heiter und gelajfen auf dem Schlojje einer schönen 
Freundin, in der Nähe von Saint-Germain, im fieblichen 
Kreife vornehmer Berjönlichkeiten. ... . Jch glaube, mein 
Geijt iit von allen Schladen jebt endlich gereinigt, meine 
Bücher harmonijcher. Das weiß ich; vor allem Unedlen 
und Unflaren, vor Allen, was gemein und muffig tt, 
habe ich in Diefem Augenblid einen wahren Abjchen.“ 
Aber der Rückfall bleibt nicht aus; drei Monate jpäter 
jchreibt er aus Boulogne an einen andern Freund: „Den 
Ueberbringer Ihres Briefes habe ich Leider nicht jehen 
fönnen, da ich mich auf dem Lande befand, bei Saint- 
Germain, auf dem Schlojfe des jchönten und edeljten 
und geijtreichiten Weibes in welches ich aber nicht 
verliebt bin. ch bin verdammt, nur das Niedrigite und 
ZThörichtite zur Lieben — begreifen Sie, wie das einen 
Menjchen quälen muß, der ftolz und jehr geiftreich ijt ?* 
Er Hatte in der That bei jeiner Nückehr nah) Paris 
das Berhältnig zu Mathilden wieder aufgenommen umd 
jtellte jte jeinen Freunden al3 Madame Heine vor, ob- 
ihon er nicht daran dachte, den bürgerlichen Contract 
einer Ehe zu jchliegen oder gar die Sanction der Kirche 
für. diejelbe nachzufuchen. 

Mathilde, ein Dorffind aus der Normandie, durch 
irgend einen Zufall nach Paris verichlagen, war gänzlich 
ummifjend. Heine, darauf bedacht, dat fie fich doch einige 
Bildung aneigne, brachte fie, die doch fchon längere Zeit 
mit ihm einen jogenannten Menage parisien geführt, in 


dunklen Augenblicde bezwungen zu werden. 


weife eines vier- bis fünfjährigen Kindes angewöhnt, wie 


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© Seftötäjle meines Lebens, 


einem PBenjionate, einer Erziehungsanftalt fir junge 
Mädchen, unter. Hier befuchte er fie unter dem Titel 
eines Freundes oder Verwandten mır an Sonntagen. Ein 
Sahr zuvor hatte er an Lerwald gejchrieben: „Wir leben 
eingezogen und Halb und halb glüdlich; dieje Verbindung 
wird aber ein trübes Ende nehmen. Es it deshal b 
heilfam, dergleichen vorher zu twiljen, um nicht vom 


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Dffenbar dachte er: Wohin jende ich fie? Wie führe: 
ich fie wieder in ihre alten Verhältniffe zurüd? Ju ihren 
Laden fann fie nicht mehr jtehen. Wie tröfte ich fie für 
das, was ich ihr wieder nehmen muß? Das Alles üt 
auf die Länge nicht haltbar md doch jo jeher zu ändern, 
zu Löjen. : 
Vie Hätte er glücklich fein fönnen mit einer Fran, E 
die ummwifjerd war bis zum Unglaublichen und jich dabei 
als bildungsunfähig herausitellte, jo daß alle Verfuche, g 
ihr auch nur einigen Antheil für geiftige Intereffen bei 
zubringen, völlig jcheiterten? Sie hatte ich die Sprech i: 
das damals in einer gewiffen Claffe von Mädchen Mode — 
geworden, und das mochte ihr außerordentlich nett gejtan- 
den haben, als fie jehr jung und Hitbjch war, fiel jebt 
aber ehr albern aus, nachdem fie an die Dreißig und 
jtark geworden. Sie war einfältig und liebte es, ich 
noch einfältiger zu jtellen, als fie wirklich war; jie meinte, i 
e3 jei drollig. Aber Gurli muß jung jein, oder fie wird 
abgeichmacdt. % 


Amweites Buch. 2935 


„sch höre von den Leuten,“ pflegte das alte Kind 
zur jagen, „daß Henri ein geiftreicher Mann ift und jehr 
Ichöne Bücher gejchrieben Hat; ich muß mich begnügen, 
es aufs Wort zu glauben, ich habe noch nichts davon 
bemerkt.“ Henri hatte gewünscht, daß- ihr die Elementar- 
begriffe der deutjichen Sprache beigebracht würden. Yener 
Literat aus Köln, mit dem ich neulich in Brüfjel zufammen- 
getroffen war, der „rothe Wolf“, Hatte es verjucht, ihr 
Lehrer zu werden; e3 zeigte fich, daß fie zur Erlernung 
jeder Sprache unfähig jei. Nach einem halbjährigen 
Studium war fie noch nicht im Stande, einen deutjchen 
Sab auszujprechen. „Venten-fiesplag” war die eingelernte 
Formel, mit welcher jte Landsleuten ihres Gemals den 

Fautenil anzumveifen pflegte, worauf jte ob der Anftren- 
gung und der Schwierigfeit der Sache jedesmal in ein 
herzliches Lachen ausbrah. Einmal hat jie zu mir allen 
Ernites gejagt, Tte Habe die deutichen Stunden aufgeben 
müffen, tveil der Verjuch, fich die deutichen ch und jch 
anzueiguen, ihr Halsweh und eine rt Satarrh ver- 
urjacht hätten. 

Eine eheliche Verbindung zwischen zwei Perjonen 
jo ganz verjchtedenen Standes und verjchiedener Bildung 
üt, wie die Erfahrungs Nefultate lehren, nie vathiam; 
es gibt aber auch Gejchöpfe, die, wären fie auch im der 
niedrigjten Lebensjtellung geboren, doch höchjt vornehmer 
Abkunft find und den Abjtand jozujfagen durch ein Genie 
des Herzens ausfüllen. Aber das war bier nicht Der 
Sal. Dies Frauengemüth war feicht, es interejjirte fich 


Meihner, Gejchichte mieineg Lebens. I. B. 15 


226 Gedichte meines Leben. 


nur für Stleinigfeiten und hatte für nichts in der Welt 
eine innige Theilnahme. Sollte der flare Kopf Heinrich 
Heime’s das nicht eingejehen Haben? Heine trug fich jomit, 
wie aus jenen angeführten Briefitellen erhellt, eher mit 
Scheidungs- als mit Heiratsgedanfen. Aber es jollte 
anders fommen. Er mußte im Sommer 1841 die Her: 
ausforderung zu einem Duell annehmen und wandelte 
einige Tage zuvor im aufgeregter und nicht normaler 
Stimmung feine „wilde“ Che in eine „zahme” um, tie 
er jich im Briefe an einen Freund äußerte, „Mathildens 
Pojition in der Welt zu jichern“. 

Der Schritt war doch wichtiger, als ji) Heine 
gedacht Haben mag. Sein Leben hatte fortan eine andere 
Nichtung. Er war auf Paris, und zwar auf einen Kreis 
von Freunden vreducirt, die in ähnlichen Berhältniffen 
(ebten. Er wurde frank und hatte feine Häuslichkeit, 
den jeine Frau, die ebenjowenig Sinn fürs Haus, Herd, 
Comfort twie für geijtige Interefjen hatte und jich nicht 
zu bejchäftigen verjtand, mochte es daheim nicht leiden. 
Tagtäglih mußte im Miethswagen eine Spazierfahrt im 
die Champs-Elyjees oder ins Bois de Bonlogne gemacht 
iwerden, over es wurde der Hippodrom bejucht. Eine 
junge Berwandte, Pauline, Teiitete dabei Gejellichaft. 
Heine, jeiner Augen wegen unfähig, zu lejen, blieb jtunden- 
lang allein. Kam Mathilde dann zurüc, jo hieß es: 
„Voyons, as-tu souffert beaucoup? Oui? Voyez done 
ce pauvre chien? Voyez ce pauvre cheri!* &3 wurde 
wohl auch ein Thränlein vergofjen. Dann mußte man 


e Zweites Buch. 


nach Eoveotte, dem Papagei, jehen und was der Thor- 
heiten mehr war — ein paar Minuten jpäter jcholl 
Ion aus dem Nebenzinmer ein helles Lachen herüber. 
Heine war nicht eiferfüchtig, und hatte wohl auch feine 
= Urfache dazu; aber er jah jeine Frau doch nicht ohne 
Sorgen allein in diefem Babel. Er entlud ich Diejer 
Sorge in funzen Auseufungen. „ch,“ Teufzte er, „was 
fan ich tyun? Sch muß jegt Alles dem Schiefal und 
dem lieben Gott überlafjen. Wie fan ich Franfer Mann 
mit einer halben Million Männer coneurriven ?“ 
Manchmal steigerte ich Ddiefe Unruhe jo, daß er 
lage. „sh war gejtern,“ jagte er einmal zu eimer 
Freundin, die ihn bejuchte, „vecht unruhig, wirklich vecht. 
 amenhig. Mathilde war gegen Zwei mit ihrer Toilette 
fertig geworden umd ausgefahren. Sie hatte verjprochen, 
um Bier zurück zu fein. Es wird Fünf, fie fommt 
nicht; Sechs, fie fommt nicht. ES wird Acht, fie ilt 
immer noch nicht ae; meine Sorge B Sollte fie 


 Schlanen Berführer nee: jein: > Sr meiner pein- 
Een Angit jchiefe ich die Wärterin in ihr Zimmer hin- 
unter und lafje fragen, ob Cocotte noch da jei? Sa, 
 Cocotte ift noch da. Da fällt mir ein Stein vom Herzen. 
Ohne Cocotte mitzunehmen, geht fie mir gewiß nicht 
durch.“ 
> Der Welt wurde das Alles jorgfältig verborgen. 

Heine rühnmte fortwährend die guten Eigenjchaften Mathil- 
% den’s, ihren Humor, ihr Kindergemüth, als ob dies allein 

15* 


I» 


228 Geichichte meines Lebens. 


genüge, einen Mann glücklich zu machen, und als ob er 
nicht mehr fordern dürfe: aufrichtige Theilnahme, Inter 
ejje amı geitigen Leben des Mannes, Freude an feinen 
Erfolgen, Anregung zum Weiterjtreben, ITroft und Zus 
Ipruch im Leiden. Heine war gut, er wußte, woran e3 
fehlte, aber er-äußerte es nie. Er vermißte viel, aber 
er verbarg es. Wenige werden ahnen, in welchem jeiner 
Gedichte er fein verwundetes Herz gelüftet hat. Es jteht 
da tr der Sammlung ein Gedicht: „Unterivelt“, gejchrie= 
ben im Frühling 1840 (X VI. Band d. Gej.-A.), Da 
(äßt er den Gott Pluto jprechen und diefer Pluto ijt er 
jelbit. 

Blieb’ ich Doch nur Junggefelle ! 

Stets vergeblich, jtets nach Frieden 

King’ ich. Hier im Schattenreicd) 

Kein VBerdammter ift mir gleich). 

Sch beneide Sifyphus 

Und die edlen Danaiden. 


Es plagt ihn nämlich feine Gattin, es gibt Streit, 
fie will zu ihrer Mutter Ceres. Schließlich kommt es 
dazu, daß Projerpina jehs Monden in der Oberwelt 
mweilt und — „Pluto fan verichnaufen“. Dies Gedicht 
findet jeine Erflärung darin, daß Mathilde in den erjten 
Ssahren der gemeinjamen Menage die Sommermonate bei 
ihren Eltern zuzubringen pflegte und ihnen den Haushalt 
bejorgte, während jie draußen bei ihrer Feldarbeit waren. 
Den Schluß des Fleinen Eyklus bildet die Anfiprache eines 
Freundes, die aljo lautet: 


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Zweites Bud. 229 


„gumweilen dünft es mich als trübe 
Geheime Sehnjucht deinen Blid — 
Sc fenn es wohl, das Migejchie: 
Verfehltes Leben, verfehlte Liebe! 
Du niet jo traurig. Wiedergeben 
Kann ich div nicht die Jugendzeit, 
Unbheilbar it dein Herzeleid — 
Verfehlte Liebe, verfehltes Leben!“ 


Diejer Zujaß, voll tiefer Schwermuth, einem itber- 
müthigen Gedichte angehängt, jagt beredt genug, wie e3 
damals in Heine’s Gemüt) ausjah. Dennoch wurde ein 
Sahr Später Mathilde fein eheliches Weib. 


= 


V. 


Alfred de Muffet. -— Heine über denjelben. 


Henri Beyle (Stendhal), Prosper Merimee, Alfred 
de Mufjet waren damals die drei franzöfiichen Schrift- 
jteller, die ich am höchjten ftellte, ih fannte die Werke 
aller drei jehr genau. Bejonders die große Anziehung, 
die Alfred de Mufjet auf junge Gemüther übt, hatte ich 
frühe erfahren gelernt. Schon 1839, alfo in meinem 
fiebzehnten Jahre, brachte ich von einer Neife nach Leipzig 
einen Brüßler Nachdruf in Miniatur Format, „Poesies 
de Alfred de Musset“ mit heim. ch hatte jie mit jtür- 
mijcher Eife durchlejen, bevor ich noch in Prag eintraf und 


230 Geichichte meines Lebens. 


theilte die für einen Brimaner gefährliche Xeetiire meinem 
Freunde Morig Hartmann mit. Cine Zeitlang waren 
wir ganz in Muffet aufgegangen. Uns gefiel vor allen 
andern die „Komödie“ von den aus dem Feuer geholten 
Kaftanien (les marrons du feu) und das merfwirdige 
Drama „Zwifchen Kelch und Lippenrand“. Auch „Rolla“ 
— ein Trunf aus jchiverem Wein, der mit Biljenfraut 
gewürzt ift — erhißte uns die Köpfe gewaltig. Wir 
verichafiten uns bald Mufjets weitere Werke, die Heinen 
Dramen „Andrea del Sarto“, „Mariannens Launen“, 
den Roman die „Befenntniife eines Kindes des Jahr: 
hunderts“, die evjte Novellenfammlung. Bald hatte ich 
eine Neihe Muffet’icher Gedichte und ein paar jeiner 
Novellen, darunter den „Tizianello” überjeßt, fie er- 
jchienen in einem Prager Blatte. Nun wollte auch ich 
jo eine „Gejchichte aus Italien“, nach) Mufjeticher Art, 
gemischt aus Wolluft und Grauen, gejchrieben haben. 
Sch dichtete eine Erzählung in Alerandrinern: „Die 
Geheimnifie des Grabes,“ fie war 1840 im Leipziger 
„Kometen“ erjchienen. 

Nım, Ddiefe mahlofe Schwärmerei war verjlogen, 
dennoch war meine Bewunderung Alfred de Mufjet’s 
noch immer jehr groß. ES jtieg der lebhafte Winfch in 
mir auf, den Dichter kennen zu lernen. Sch verichaffte 
mir jeine Adreffe, packte meine Ueberjegungen zufanmen 
und Sandte fie dem Dichter mit einem Briefe ein, in 
welchem ich ihn bat, ihm auf jeiner Bibliothef — er war 
ja Bibliothefar — meine Aufwartung machen zu dürfen. 


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Zweites Bud). 231 


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„So jo,“ jagte Heine, dem ich davon erzählte, mit 
einem jonderbaren Gefichte. „Sie haben Mufjet hre 
Ueberjegungen eingeichikt ? Und wie denn, wenn er — er 
it immer in Geldverlegenheit — die Hälfte des von 
Shnen bezogenen Honorars beanjprucht? Haben Sie das 
in Bereitjchaft? Langt e8 zu einem Souper mit Damen 
bei den Freres Provenceaur?” — Das wurde bedenklich, 
das war mir nicht eingefallen. Ein Honorar hatte ich 
bei „Dit und Wejt“ nie zu jehen befommen umd auc 
der gute Herloßjohn vom „Stometen“ Huldigte nicht dem 
Honorarbrauce. ... . Doch Heine fuhr fort: „Das war 
ein unüberlegter Schritt. Eine Beziehung zwiichen Miufjet 
und Shnen ijt gar nicht denkbar. Er lebt das tolle und 
unnüte Leben vornehmer junger Geden. Sie würden über- 
dies nur eine Ruine jehen. Seine Production hat längjt 
aufgehört, der Duell ijt verjiegt und was da noch nach- 
tröpfelt, it nicht der Rede werth. Der vorfrüh geleerte 
Sreudenbecher hat ihn fürperlich ganz heruntergebracht, früh 
geichwächt, frühzeitig abgenußt an Leib und Seele. Er 
it ein umerquidlicher Anblick.“ 

„Wenn ich Ihnen jage, daß jeine einzige größere 
Production aus neuerer Zeit dem bedenklichjten Genre 
angehört, wiljen Sie genug. Das Ding heit „Deux 
nuits d’exees*“. Sie können e3 jich bei geheimen 
Berjchleigern Ihmusiger Waare im Palais Noyal ver- 
ichaffen. Es it ein Büchlein, das Kaifer Tiber auf 
Capri jedenfalls in jeine Handbibliothef aufgenommen 
hätte.” 


Befsihte eins) ee R ei, 


Sch wirde ganz niedergejchlagen, als ich Heine jo 
jprechen hörte. Mean will nicht an das Verlöfchen einer 
Flamme glauben, deren Glanz uns einft entzücdt und 
doppelt jchtwer glaubt man daran, daß fie noch bei Leb- 
zeiten eines Autors erlojchen fein fünne. Be 

„Mit Muffet ift es jeltfam zugegangen,“ fuhr Semas 
fort, „und e3 wundern fich Alle, die ihn jehen. Als er 
berühmt wurde umd in die Mode Fam, war er jchon der = 
Menjch nicht mehr, der jene Bücher gejchrieben, und über 
haupt fein Dichter mehr. Er hat drei Perioden gehabt: 
zuerjt eine wilde und fühne, dam metamorphojtrte Bi 
jein Talent und wurde graziös, ruhig — er jchrieb jenes 
dramatischen Salon-oyllen.“ 

„seßt jteht er in jeiner dritten Epoche und alles 3 = 
it aus. Wenn Sie zu mir kommen, will ich Shnen- 
zeigen, was ic) in meinem Buche „Shatejpeare’s Mädchen 
und Frauen“ jchon vor Jahren iiber ihn gejchrieben, es 55 
it gewiß nicht ungerecht.” =y8 

Sch hörte das alles ruhig mit an und bereute do 
nicht, an Muffet geichrieben zu haben. Mehrere Tage 
blieb ich neugierig, welche Antwort mic auf die Zufen 
dung der Ueberfegungen zu Theil werden twiinde. Aber 
e3 Fam nichts, Muffet hatte von meinen Einjerbunaä 
gar feine Notiz genommen. E 

„Sie wollten ihm in feiner Bibliothef Shre Auf 
wartung machen!“ lachte Heine. „Ich glaube nicht, daß 
er weiß, in welcher Straße die Bibliothek, der er vor- 
jteht, gelegen ijt! Die Stelle haben ihm die Orleans ge 


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Zweites Buch. ee 233 


geben, weil er die Geburt des Grafen von Paris mit 
Verjen begrüßt hat, im denen, nebenbei gejagt, eine jehr 
nüchterne Staatsweisheit in jogenannter gewählter Sprache 
vorgetragen wird. Es ijt framzöftiche Poefie.” — Am 
jelben Tage holte Heine einen Quartband mit roth- 
getvordenem Goldjchnitt und losgegangenem Dedel hervor. 
&3 waren „Shafeipeare's Mädchen und Frauen”, bei 
Brodgaus und Avenarius mit Stahlitichen erjchienen ; 
die Mufjet betreffende Stelle wırde aufgejucht. Jch citire 
fie hier, weil fie, jo viel ich weiß, von Paul Lindau in 
jeinem Buche über Miuffet nicht berücjichtigt worden it. 
„Die Gerechtigkeit verlangt,” jagt 9. Heine, „daß ich 
hier einen franzöftschen Schriftiteller erwähne, der mit 
einigem Gejchif Die Shafejpeare’ichen Stomödien nach- 
ahmte und jchon durch die Wahl feiner Miufter eine jeltene 
Empfänglichfeit für wahre Dichtkunit beurfundete. Diefer 
it Herr Alfred de Mufjet. Er hat vor etwa fünf Jahren 
einige Eleine Dramen gejchrieben, die, was den Bau md 
die Weije betrifft, ganz den Komödien Shafejpeare’s nac)- 
gebildet jind. Bejonders hat er fich die Caprice (nicht 
den Humor), die in denmjelben herricht, mit Franzöfiicher 
Leichtigkeit zu eigen gemacht. Auch an einiger, zwar jehr 
dünndrähtiger, aber doch probehaltiger Poefie fehlte es 
nicht in Ddiejen hübjchen Stleinigfeiten. Nur war zu be 
dauern, daß der damals jugendliche Berfaffer außer der 
franzöfiichen Weberjegung des Shafejpeare auch Die des 
Byron gelejen hatte und dadurch verleitet wurde, im @o- 
jtim des ipleenigen Lord jene Neberjättigung und Lebens- 


234 Gefchichte meines Lebens. 


jattheit zu affectiren, die ir jener Periode unter den jungen 
Leuten in Paris Mode war. Die vofigiten Knäbehen, 
die gejundejten Gelbjchnäbel behaupteten damals, ihre 
Genußfäbigkeit jer- erichöpft, fie erheuchelten eine greijen- 
hafte Erkältung des Gemüths und gaben fich ein zerjtör- 
tes umd gähnendes Aursjehen. 

Seitdem freilich ift unfer armer Monfteur de Muffet 
von feinem Srrthume zurücgefommen und er fpielt nicht 
mehr den Blaje in jenen Dichtungen — aber ach, jeine 
Dichtungen enthalten jegt jtatt der fimulicten Zerjtörniß 
die weit trojtlojeren Spuren eines wirklichen VBerfalls 
jeiner Leibes- und Seelenfräfte ...... Ach! Ddiefer Schrift 
Itellev erinnert mich am jene fünftlihen Ruinen, die man 
in den Schloßgärten des 18. Jahrhunderts zu erbauen 
pflegte, an jene Spielereien Findischer Laımen, die aber 
im Laufe der Zeit unjer wehmüthigjtes Mitleid in An 
fpruch nehmen, wenn fie in allem Exnjte verwittern md 
in wahrhafte Nuinen jich verwandeln.” 

Sp hatte Heine in feinem 1839 gejchriebenen Buche 
im Schlußeapitel, wo ev auf die Schüler und Nachahmer 
Shafejpeare’s zu jprechen fommt, über Alfred de Maufjet 
geurtheilt, wie man jteht, nicht gar günjtig. Als ich eines 
Tages, da das Geipräch twieder auf Muffet gefommen var, 
eine jeiner Komödien lobte, in der ich die Handlung, wenn 
man e8 Handlung nennen fann, um eine Börje dreht, ich 
glaube es war „Le Caprice*, — umd es eigentlich eine 
Srauenarbeit nannte, jelbjt ein Ding twie eine Börje, mit 
feiner, eleganter Hand aus Gold- und Seidenfäden in finft- 


Zweites Buch. 235 


fichen Mafchen gewoben, jagte Heine Eurzweg: „Sa, jo 
ettvas ift es, doch eine Börfe darf nicht Leer fein. 
Man muß Gold darin jehen; diefe Börfe aber ijt ganz 
leer !“ 

Dabei fonnte Heine ganz heftig werden, wenn mai, 
wie e8 von mancher Seite gejchah, der Georges Sand 
gedachte und ihrem Verhältniffe md ihrer thatjächlichen 
oder vermeintlichen Untreue eine Schuld am Meufjet’S 
frühen Verfall zufchreiben wollte. „Beim Himmel,“ jagte 
er danır, „Muffet war jchon fürperlich verfommen und 
jeder echten Liebe unfähig, als die Beiden miteinander 
nach Venedig gingen. Das war ein jaıberer Nonteo! 
Auch an ihrer Seite konnte er von den Ausjchweifungen, 
die ihm zur Gewohnheit geworden waren, nicht Lafjen, 
amd das verzeiht wohl auch eine Heilige nicht. Cr ver- 
fiel in Venedig in eine Erjchöpfungsfrankheit, Lelta pflegte 
ihn Tag und Nacht, und als er wieder auf die Füße 
fam, z0g er heim. Sie blieb zuricd, ihre Geldmittel 
waren erjchöpft, jte jehnte ich zu ihren Kindern md hatte 
fein Neifeged. Sie wohnte ärnlich, lebte von jchlechter 
Kost und arbeitete von Nachmittag bis zum Tagesanbrud). 
So find „Anders“, „Indiana“, „Matten“ entitanden, bis 
endlich Buloz (dev Nedacteur der „Revue des deux 
Mondes“) genügende Summen  jchickte, daß fie ihre 
Schulden zahlen und heimmweifen konnte! Man lafje Tich 
doch nicht durch die Masfe des Unglüds täujchen, die 
der ichlaffe und mit fich unzufriedene Mann fich jpäter 
vor’3 Geficht geiteckt hat!“ 


wo 
©3 
[op] 


Geichichte meines Leben. 


„Es it ımerfreulich,“ ichloß er, „eine urjprünglic 
hoch angelegte Natur in ihrem allmäligen Hinabjteigen 
zu verfolgen und ihren Berfall in ihren verjchiedenen 
Stadien zu conjtativen. Doch bleibt dem nichts anderes 
übrig, der Muffet’s jehriftitellerische Laufbahn ohne Vor- 
eingenommenbeit betrachtet. Diejer Geijt von unbejtreit- 
bar hochgenialer Anlage ijt fast gleich nach feinem erjten 
Auftauchen bergab gegangen: es ijt in ihm ein jtetiges 
Zugrimdegehen nachzumeifen. Das Uebermaß an Lebens- 
nit zeugte den Lebensüberdruß, den Efel und die Lange 
weile, die weder in der Welt noch im eigenen Wejen 
einen rechten Jnbhalt findet, z0g ins verödete Herz ein, 
So jehen e3 jene an, die ihn gefannt haben und unbe 
jtochen beurtheilen.“ 


== —— = — — — > > = > =—— = > >x = — SI = > = u = > = > — 


VI. 
Entdedungsreifen in Paris. — J. Michelet. — Adam Mlickiewicz. 


Vom Tage an,.da Heinrich Heine mir jein Wohl 
wollen geichenft, hatte ev es auch übernommen, mein 
Berather und Mentor zu jein und meine Schritte auf 
den Parifer Pflajter zu lenken. Oft jagte er mir, tie 
(eid es ihm tue, mich nieht jelbjt da- und dorthin be= 
gleiten zu fönnen. Sie müfjen, jagte er, alle Bäume 
diefes Gartens fennen und ihre Früchte umterjcheiden 
lernen. 3 genügt nicht, daß Sie die Monumente von 


A 


DER VRR TO. 


+ 


Zweites Buch. 29% 


Baris: den Obelisfen von Luxor, die Vendomejäule, den 
Arc de P’Etoile in Augenfchein nehmen. Sie müfjen mit 
dem Bejuch des architeftoniichen und des pittoresfen Paris 
auch die Bejichtigung feiner „lebendigen Ruhmesobelisfen“ 
verbinden, jonjt haben Sie Ihre Zeit und hr Geld ver- 
foren. Schon ein Morgenjpaziergang ins Kollege de 
Srance ift Lohnend. Der Literarhiitorifer Saint Mare 
Girardin, der Nationalöfonom Michel Chevalier, der 
Hiltorifer Michelet und Arago, der Aitronom, lejen fajt 
zu gleicher Zeit, da haben Sie nur die Wahl, welchen 


berühmten Mann Sie jehen wollen.“ 


Sch Kieß mir das nicht zweimal jagen. Schon am 
andern Tage, an einem frischen Wintermorgen, wanderte 
ich in das Quartier latin hinüber und wollte es darauf 
anfommen lafjen, wen ich zu hören befomme. 

„gu wen gehen alle diefe jungen Leute?“ fragte 
ich eine Objtverfäuferin, die am Thore des Collegs ihre 
Früchte und Kuchen feilhielt. 

„le zu Brofefior Michelet,“ antwortete fie. „Der 
hat jest die allermeisten Zuhörer.“ 

So hatte ich es denn gut getroffen. Jules Michelet 


hatte jeine Werfe: „Des Jesuites“ — „Le prötre, la 
femme et la famille“ — „le Peuple“ bereit3 ge= 


ichrieben und eleftrifirte eben, wie ich wußte, die Jugend 
durch Vorträge über die Gejchichte der großen Revolution. 
Es war eine Zeit, wo die Gejchichtsbücher über vielen 
Gegenitand gleichjam im VBorgefühl der kommenden Er- 
eignifje, einander jagten. 


238 Gefhhichte meines Lebens. 


Es war noch früh. Wir hatten im Hofe zu warten. 
Die Univerjitätsbehörde, die den Zudrang der Leute zu 
diefem Lehrer ungern jabh, Ipielte nämlich dem Auditg- 
vium den Schabernaf, die Thiren zu Herrn Michelet’S 
Colleg immer exit im legten Moment öffnen zu lafjen. 
Sp vertrieb man fich die Zeit mit Nauchen und Singen, 
und alles jtampfte, trampelte, jchüttelte und bewegte fich, 
um jich am falten Wintermorgen warm zu halten. Zeit 
weile erichollen Nufe: Aufgemacht! Aufgemacht! aber 
Nufen und Stampfen blieben erfolglos. Langjam rückte 


der Zeiger auf der Uhr über dem Portale vor, erjt als 


er die X erreicht und die Stunde vollitändig aus- 
geichlagen hatte, öffneten fich von unen die Ihürflügel. 
Num — kaum wußte ich, wie mir gejchahd — wurde ich 
gleichjam in die Höhe gehoben und unter gräulichem 
Toben und Boltern erit einige Treppen vorwärts getragen, 
um schließlich als Theil einer Menjchenlawine in einem 
fleinen, ampbitheatraliich gebauten Hörjaale niederzugehen. 

Endlich zu mir gekommen, mursterte ich) das Audi- 
torium. ES war eine echte Jugend des Lateiner Biers 
tels, die mich umgab. Abgetragene Nöcde, phantaftiiche 
Hüte, hübjche, aber blafje und verlebte Gefichter. Hie 
und da verfündigte eine vothe Bzapfa den polnijchen Emti- 
granten, der jein Nationalwahrzeichen auch in der Fremde 
nicht abgelegt. Born im den eriten Bänfen jagen fünf- 
zehn bis zwanzig Damen, die durch eine Nebenthüre 
Eingang gefunden Haben mochten, echte Blaujtrümpfe, 
jämmtlich veizlos. 


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Zweites Bud, a et 


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Bald machten fich die politischen Demonstrationen 
roter, die in Müichelet’S Collegium nie fehlten. Ein 
‚tiefer Ba jtimmte die erjten Noten der Marfeillaife an 
amd fofort ericholl aus Hunderten von Kehlen das Kriegs- 
y lied der Revolution. Als dies zu Ende, fam das 
_ „Jamais Anglais en France ne regnera* an die Neibe, 
auch das Ca-ira wirde angeftimmt, aber auch schnell 
| Bla gelafjen. Denn num traten Birtuojen auf, welche 
Vögel und Säugethierjtimmen nachahmten. Das Krähen 
y des Hahns, das Gebell des Hundes, jogar das Ya des 
 Ejels ließen fich vernehmen. 
b „Worüber wird der Profeffor heute jprechen ?“ 


’* 


fragte ich einen Nachbar, ein ziemlich bemvojtes Haupt. 


ir „Das weiß er vermuthlich jelbjt noch nicht,“ war 
die Antwort. 
5, meine, wo er zuleßt geblieben ?* 

„om! Das legte Mal hat er vom heiligen Chri- 


 ftoph, dem Buddha und der dreijaitigen a gejprochen.“ 


„Bon der dreijaitigen Leyer ?“ 
„So ijtes. Die Leyer erklärte er uns, war im Coflege 
Ri; de France aufgeftellt und erfüllte die Welt mit ihrem Wohl. 
| Ba. ‚shre erjte Saite war von Gold und hie Mickiewicz, 
die zweite von Silber und hie Edgar Duinet. Die dritte 
Saite it von Stahl umd die ift Michelet felbjt. Die NRe- 
 gierung hat zuerjt die Saite von Gold, dann die von Silber ä 
E _ zereifen und tveggeworfen, die dritte jchtwingt noch einfam, 
 bermag aber wenig ohne ihre Schweitern. Jr Ton ift 
| Fein geworden, .... Wunderbar gejagt, nicht wahr?“ 


das Ende des Beifallsjturmes ruhig abzuwarten. a 


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” Ei en Te 
Geihichte meines Lebens. 


„Und tie fam,“ fragte ich weiter, „der Heilige 
Ehriftoph in den Bortrag ?“ us 

„Der heilige Ehriftoph,“ eriviederte mix der Student b; 
„it eine Allegorie Frankreichs. Chriftoph war nämlich 
ein Rieje umd wollte nur dengenigen dienen, den ev jtärfer 
befunden, als ich jelbit. Da kam er eines Tages an 
den Hof des Königs von Syrien — nein, von Me 
Diet — Ei 

Ein plöglich Losbrechendes Donnerwetter, Bravo 
rufen md Händeklatichen durcheinander, unterbrach in, 
diefen Augenblid die Erzählung. B: 

Michelet war eingetreten und wand jich durch die = 
Neihen von Blauftrümpfen, die fich) allmälig aus den 3} 
vorderen Bänfen in die ummittelbare Nähe des Katheders 
gezogen hatten. Er verbeugte fich, winkte wiederholt den 
Beifall ab, wie wenn er jagen wollte: mın aber laßt es “ 
genug jein; umgonjt, dev Enthufiasmus wollte fich nicht E 
bejchwichtigen lafjen. Nur richtete er fich, die Hände auf 
den Tijch gejtemmt, auf umd blickte jtarr vor fich Hin, x | 


E53 war ein Fleines, hageres Männchen mit beinahe 
weißem Haar. Auf feinen Wangen jaß eine heftifche 
Nöthe, die Augen bliekten jehart, jogar jtechend. Er war 
ganz jchwarz, aber höchit elegant gekleidet, im Kuopflach 
bfühte, wie eine dimfelvothe Nelte, das Bändchen der 
Ehrenfegion. Als der Sturm voriibergegangen, jegte er 
fich, lieh den Kopf nachdenklich hängen, begann einen 
ichmalen Papieritreifen ziwiichen den Fingern zu rollen \ 

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Ba Er u nd ha A a nn air i> 


Zweiteg Buch. 241 


und hob endlich in ganz furzen Säben von fieben bis 
acht Worten folgendermaßen an: 
„Meine Herren, ich fee heute die Borlefungen iiber 
die franzöfiiche Revolution fort, die ich vorigen Mittwoch 
abgebrochen. Und zivar- wollen wir im’3 Auge fafjen die 
Epoche vom Zujfammentritt der comjtituirenden National- 
verjanmmlung bis zur Errichtung der Republik. Juni 1789 
bis 21. September 1792. Merken Sie jich diefe Daten. 


(Bauie.) 

Meine Herren, al3 ich Heute aufjtand — zur Stunde, 
wo der Duprier aufiteht — um Vier — denn ich bin 
ein DOuvrier — da war es fehr falt. Meine Feniter- 


jcheiben zeigten die Eisblumten. ch zündete meine Lanıpe 
an. Mich fror, doch wollte ich Niemand weden, mir Feuer 
im Kamin anzuzünden. Um mich zu erwärmen — dachte 
ich — an Sie! (Großer Beifall.) Sch Sagte dann zu mir: 
die Welt leidet zwiefach: geijtig und leiblich. ES it falt 
im der Welt und — finfter! ch gedachte der Armen. 
Aller Derjenigen, welche leiden. ch jagte zu mir: ja, 
der Winter wird zu Ende gehen, der Frühling wird 
fommen, der Sommer wird die Ernte bringen — aber 
wann haben wir eine Ernte des Geijtes? Wer wird fie 
hereinbringen, die Ernte des Geiites? (Baufe.) 

Etivas antwortete mir darauf: Derjenige wird fie 
einbringen, die Ernte des Geijtes, dev eS verjtehen wird, 
in einen Buche zu lefen. Sn welchem Buche? ES gibt 
zweierlei Bücher. Zur erjten Art gehört die orientalische 
Tradition, die jogenannte Bibel. Dann die italienifche 

Meißner, Gefchichte meines Lebens, I. B. 16 


242 Gejchichte meines Lebens, 


Bibel: Dante, die englische Bibel: Shafeipeare, endlich 
die glorreiche Franzöjtiche Bibel: Noufjeau und Boltaire. 
(Großer Beifall. Meichelet veibt jich) das Kinn und. blickt 


ummillig, weil man ihn unterbrochen hat.) Uber — Die 
zweite Gattung Bibel ijt noch. viel wichtiger und lehr- 
reicher, als die erjte — dieje Bibel it das menschliche 


Herz. (Bravo! Bravo!) Sr diefer Bibel jollen Sie Lejen, 
meine Herren, md das werden Sie, wenn Sie die be> 
vbachten, die da arbeiten und darben.... (Bravo! Bravo!) 

&s gibt nun wieder zivei Arten, dieje leßtere Bibel 
zu lejen: zu Haufe oder auf dem Markte. Zu Haufe 
lteft man im eigenen Herzen — auf dem Mearkte im 
fremden. Man hat gejagt: der Anfang der Weisheit jet 
die Furcht des Herrn. Nein! der Anfang der Weisheit 
it — (der Brofefior hält inne, große Spannung) der 
Anfang der Weisheit ift, jenen Ihürjchlüffel nicht draußen 
jteefen zu laffen! (Großer Beifall.) Sich abzujchliegen, fich 
abjperrei, das, meine Herren, ijt der Anfang der Weisheit. 

Dder — man muß jich dahin begeben, wo ich die 
Mafjen des Volles treiben, wo Menjch mit Menjch ver- 
fehrt. Meoliere, der größte Beobachter der Herzen, wurde 
auf einem Marfte geboren. Dante pflegte fich auf dem 
öffentlichen PBlabe niederzufegen. Das ijt’s! Auf den 
Markt mu man gehen, in’s Menjchengedränge als Zu- 
ichauer und Beobachter — da lernt man lejfen im Herzen 
des Bolfes, das ift das Buch der Bücher. Gehen Sie 
aljo Abends, wenn das Bolf aus den Fabriken jteömt 
und nach jeiner Arbeit Erholung jucht, in die Yaubourgs 


Zweiled Bud). - 943 


St. Monceaun und St. Antoine. Da werden Sie fernen, 
was Ihnen in den Gollegien nimmermehr gelehrt wird. 
Sie brauchen nicht mit Geld in der Tajche dahin zu 
gehen, Sie brauchen nur Menfchenliebe im Herzen und 
die Gejimmung der Gleichheit — da wird fich das Buch 
der Bücher vor Khnen aufthun. 

Eine Barabel! . „Em Schriftgelehrter in alter 
Zeit war auf dem Tege in’s Collegium. Cr hatte das 
Buch unter dem Arme, das ihm zum Vortrag diente. 
Auf dem Wege begegnete ihm ein Bedürftiger. Der Ge- 
lehrte feerte feine ITajche, Schenkte ihm, was er eben bei 
fih trug. Siehe da! An einer Ede traf er einen zweiten 
Bedürftigen, der fait ımbekleivet im Winterfvote jtand. 
Der Weife jchenfte ihm feinen Mantel. Und jchon kam 
ein dritter Bettler heran, der noch elender war, als die 
beiden anderen. Der Metjter Hatte nichts weiter ihm zu 
ichenfen, als das Buch, das er am Herzen trug. Der 
Arme bittet umd der Meifter jchenft es ihm. Und 
plößlich verklärt ein heller Schimmer den Scheitel des 
Armen. Es war der Chriftus, der dem Schrift 
gelehrten erjchienen. Und jeit dem Tage las der Weife 
feine Bücher mehr. : 

„eine Herren, es it jpät geworden, zu jpät, als 
daß wir heute noch den Faden umnjerer Gejchichtsitudien 
aufnehmen fünnten. u der nächiten Borlefung wollen 
wir fortfahren in der Betrachtung der Periode vom Zur- 
lammentritt der conftituivenden Berfammlung bis zur Er- 
richtung der Republik.“ 

16* 


244 Sefchichte meines Lebens. 


Das war Jules Müichelet’sS VBorlefung. Sch Habe 
fie, ohne ein Wort daran zu ändern, nach den Noten in 
meinen Gedenkbuch wiedergegeben. Man möge fich nicht 
wundern, daß fie jo furz it, durch die Art, in der fie 
vorgetragen twurde, und bei den Unterbrechungen von 
Seiten des Wublicums mag fie wohl fünfundzwanzig 
Minuten gedauert haben. Das Quartier latin war von 
ihr jehr befriedigt. Ein Ddonnernder Applaus begleitete 
ven Brofefjor auf jenem Nüczuge, einige Ehöre jtimmten 
twieder die Marfeillaife an, dazwijchen Ließen fich wieder 
die Birtuojen in Ihierjtimmen vernehmen. Auf dem Hofe 
jtecte alles in großer Erregung die funzen Pfeifen an md 
verabredete die Unterhaltungen für den Abend. 

Sch meinestheils konnte mir die Art des Mannes 
faum deuten und zurechtlegen. im Comödiant war er 
doch nicht, auch Fein Mann des Humbugs, im Gegen- 
theil, ein Mann von ehrlich demofratiicher Gefinmung. 
Wie fam er dazır, fich fo twunderlich zu geberden? Dachte 
ev bei fich: was fanı ich und darf ich einer blafirten 
Sugend bringen, die ohne Ernit, ohne jeden Sinn für 
Wilfenjchaftlichkeit blos daherfommt, zu demonftriven, aller 
hand U zu treiben, Speftafel zu machen und dann 
twieder zu ihren Kneipen, ihren Biergläfern, ihren Lieb- 
chen zurücktehrt? hr einen methodischen Bortrag zu 
halten, wäre vergebliche Mühe. Sch habe alles gethan, 
wenn ich ein paar Saatkürner der Humanität, wie jie in 
mir lebt, ihre Hiniverfe, vielleicht geht doch da und dort 
ein Halm auf.... 


Sn 


Zweites Buch. 245 


Als ich in diejen Gedanken auf dem Schwellenftein 
zauderte, hujchte ein Kleines Männchen an mir vorüber. 
E3 war Michelet. ch Jah ihn mun in nächjter Nähe 
und jah exit jebt vecht, wie alt, gebrechlic) und Hager 
das Männchen mit dem vothen Bändchen im Siunopfloch 
jeines jchwarzen Nodes. Und ein heimfiches Mitleid 
ergriff mich, aber auch Unwille. Nein, die beiten und 
nüßlichiten und wahrjten Gedanfen fünnen es nicht ver- 
tragen, daß man fie, mit phantaftiich Fchedigen Lappen 
verkleidet durch die Menge jpazieren führt. 

Einige Tage jpäter lernte ich auch Michelet’S ehe- 
maligen Collegen, den Dichter Wan Micktervicz kennen. 
Er wohnte drangen in Batignolles, Aue dir Boulevard 
12, in einer ebenerdigen Wohnung, welche die Zeichen 
äußerfter Armut) md Berwahrlojfung an fich trug. 
Aerger kann es auch bet Milton nicht ausgejehen haben. 
Die Erjcheimung des größten Dichters, den die Slaven 
je gehabt haben, hat die traurigjte Erinnerung in mir 
zurücgelaffen. Meickericz jtand erjt im achtundvierzigjten 
Sabre, jah aber jchon ganz verfallen aus. ES war im 
Sebruar; er ging auf den Ziegelfliefen eines ungeheizten 
Zimmers in ungeheuren Fusjchuhen umber. Bor ziver 
Jahren hatte er jeine Brofeffur der jlavischen Sprachen 
am College de France verloren. Armuth, Berfolgung, 
häusliches Unglück hatten ihn einem Zuftand entgegen- 
geführt, der wohl der Geiftesitörung jehr nahe war. Sch 
Iprach franzöfifch mit ihm, aber er mußte auch deutjch 
verjtehen, denm er hatte meinen „Zisfa”, den ihm ein 


246 Gejchichte meines Lebens, 


Landsmann, Ehojecky, gebracht, unlängit gelefen. Sodann 
fan er auf Polen zu jprechen und erzählte, daß e3 eine 
alte Wahrjagung gebe; Polen werde befreit werden durch 
einen Mann, dejjen Name eimmdvierzig Buchjtaben habe. 
Diejfer werde einen Bund von eimumdvierzig Städten 
itiften umd eim Heer von eimmmpdvierzig Legionen auf 
Itellen. Mickevviez jchten an diejen Unfinn jet zu glauben, 
er äußerte die Ueberzeugung, daß diefer Heiland bereits 
geboren jei. Schließlih gab er mir jein Werk: Le 
Messianisme mit, in welchen Napoleon für eine Art 
Heiland erklärt wird. 

Micktervicz hat, ebenjo wie jein ausgezeichneter Zeit 
genofje, der Dichter Slowacky, den Eindruck eines großen 
Unglüclihen auf mich gemacht; Tonjt weiß ich über ihn 
nichts zu jagen. 


a Eu IE NER TER NE YZ 2 0 WERKE 8 Ar eo — 
>22 >. 72 = RT I ITEIT II II I I I I = 


VIE. 


Maitage. — Jn Montmorency. 


Als der Mai herangefommen war, verließ Heine jeine 
Wohnung in der Aue Boifjonniere und 309 nach Mont- 
morency. Er meinte, Landluft und Stille wirrden jenen 
Nerven gut thun. Er hatte im der „Chataignerate“ 
ein hübjches Häuschen mit jchattigem Garten gefunden. 

Bald darauf erhielt ich einen Brief von ihm fol- 
genden Suhaltes: „ITaujend Grüße von allen Nachtigallen 


Zweite® Buch. 247 


meines Gartens! Auf übermorgen jind Sie freundlichit bei 
mir zu Tiiche geladen. Sie fernen unfere Stunde. Ver- 
gejjen Sie nicht Seuffert mitzubringen, der uns jehr 
willfommen fein toird.“ 

An bezeichneten Tage machten wir uns gegen Drei 
auf den Weg. „Der Mann mit dem Bandl“, jonit im ' 
Punft der Toilette jehr nachläflig, hatte ich fejtlich ge- 
wandet umd fich jogar mit einem neuen jchwarzen Spiel- 
bändchen veriehen. 

Montmorency, zu Roufjeau’s Zeit fait eine Wild- 
mg umd vier Wegjtunden von Paris entfernt, war jchon 
damals ducch die Stadtbahn fait an die Barriere gerüdt. 
Die Fahrt dauerte fünfzehn Minuten. Man fliegt am 
Montmartre, an den Forts, an St. Denis vorüber, und 
ehe man’s merkt, ijt man in Enghien. 

Hier find Landhäufer zwiichen Wiefen und Baum- 
partien zeritreut; ein Fleiner Weiher wird jeden Sonntag 
zu Wafjerfahrten benußt. Der Weg jchlängelt Fich in 
Krümmungen durch die Weinberge die Anhöhe hinan. 
Endlich jteht man Paris wie einen evitarrten Mteeres- 
ipiegel mit einzelnen grauen Stlippen in der Ferne Liegen. 
kım erjcheint ein Fleines Gehößz, von einzelnen Eichen 
überragt; zahlreiche Landhäuschen Liegen in den Senfun- 
gen md auf den Höhen. Man ijt in Montmorency. 

Wir fanden Heine in jeinem Gärtchen, auf einem 
Plaid in’s Grüne gelagert, die Mappe vor fich, den Blei- 
jtift im der Hand. Wenn man ihn damals fragte, woran 
er jchreibe, antwortete er: an meinen Memoiren. Aber 


248 Geihichte meines Lebens. 


e3 lag nicht in jeinen Gewohnheiten, von der Proja, die 
er jchrieb, etwas vorzulejen oder jonjtivie mitzutheilen. 
Die Mappe wurde, wenn ein Bejucher hevantrat, jofort 
zugeflappt. Sp habe ich auch jpäterhin niemals erfahren, 
mit welchem Abjchnitte jeines Werkes er jveben beichäf- 
tigt par. 

Frau Mathilde hatte ihrerjeits ein paar Freundinnen 
eingeladen. Ihr Papagei war nicht in der Stadt ge- 
blieben, der grüne Gejelle jaß in jeinem Käfig von 
Meiiingitäben und begrüßte die Heranfommenden mit 
einem lauten Bon jour! 

Das größere Zimmer im Erdgejchojje wurde als 
Speijejaal benußt; auf den zierlich gedeckten Tijche war 
ein viejiges Bouquet zu Schauen. Nicht ungern jah man 
das Fleine Arjenal diverjer Gläfer neben dem Couvert: 
das winzige Gläschen fir den Madeira, das größere für 
den Sauterne, das gewöhnliche Fir Nothivein, und ven 
edlen Spißfelch, der da Champagner bedeutet. Heine 
als Wirth — nach den mpdicien zu Schließen, ein paar 
hübjche junge Damen als Gäjte — ich meine, das ver- 
jpricht ein paar. heitere Stunden . .. 

„Was haben Sie indeß erlebt, Lieber Seuffert?“ 
war eine der eriten Fragen. ; 

„Mir hat das Unglück fatal mitgejpielt,“ war die 
Antwort. „Sie wiljen, ich habe jeit Jahren den leiden- 
ichaftlichen Wunjch, der Nachel vorgejtellt zu werden. 
Endlich Habe ich Ausficht dazıı. Noger gibt mir eine 
Empfehlung an jie. ch jende fie ein, erhalte Antivort, 


Aa Zweites Buch. 349 


88 wird Tag und Stunde bejtimmt, wo die Tragddin 


mich empfangen wird. Sch gehe hin — in welcher Be- 


mwegung fünnen Ste jich denfen.... Doch da jehen wir 
den Bechvogel! Fräulein Rachel hat plößlich zu einer 
Probe fahren müfjen — e$ empfangen mich an ihrer 


Stelle die beiden Eltern, Papa und Mama, die allerein- 
fachiten, ich jage Shen, die allereinfachiten Leute! Was 
fanın ich mit diejen anfangen? Was habe ich vom Bejuche ? 
Die alten Leute haben mich freundlich aufgenommen — 
aber was nüßt mir das? Sch wollte ja die Tochter jehen! 
Zum größten Unglück it die Sache nun abgethan — 
man hat mich nicht aufgefordert, twiederzufommen .. .“ 
„Die Nachel,“ exrwiderte Heine, „darf man nur auf 
dem Theater jehen wollen, nicht im Haufe. Auf dem 
Theater, wo ihr ein Dichter die Worte joufflirt, ijt te 
groß umd jublim Weiß geichminft, Bruft und YUrme 
herrlich drapirt in ihren weißen Geivande, gleicht fie 
einer griechiichen Statue. Sie hat aber auch eine Stimme, 
alle Herzen umzudrehen und wie weiß fie die jähen 
Uebergänge des Gefühls zu malen, wie jtellt fie die Aus- 
brüche der Leidenschaften dar! Vor allem aber hat te jo 
merfwürdige Töne für die Darjtellung geheimer, jich ver- 
bergender, verbrecheriicher Liebe . . . . Auf dem Theater, 
ja, tt fie jo groß! Daheim aber in ihrer Wohnung 
finden Sie nur ein gelbes, hageres, breitjtirniges Jrauen- 
‚zimmer, das ganz Gewwöhnliches jpricht, ohne jeden Adel, 


 jogar ohne jeden eigentlichen Geiit. Sch habe fie daheim 


gejehen und bedauere es! Freuen Sie jich vielmehr, daß 


250 Geihichte meines Lebens. 


Sie jte nicht daheim gefunden! So bewahren Sie fi 
Shre Slufionen! Vebrigens erinnert mich die Erzählung 
Shres Bejuches an die Gejchichte des Mannes, der im 
der Jahrmarktspude das jeltene Thier, das „Naturtvunder“, 
jehen wollte, entiprofjen dem Bindniß einer Häfın mit 
einem Karpfen. So war nämlich auf dem Zettel zu fejen. 
Der Mann zahlte das Eintrittsgeld, ging hinein, befam 
aber nur ganz gewöhnliches Menagerie-Gethier zu jehen. 
Da verlangte er, daß man ihn das Naturwunder zeige. 
„Das ijt nicht da,“ war die Antwort, „wir haben es 
nicht mehr. Aber wenn Sie die beiden Eltern, die Häfin 
jowohl wie den Karpfen, zu jehen winschen — jo jpazie- 
ren Sie in das Cabinet!” Sie, lieber Seuffert, wollten 
das große Naturwunder jehen, und man hat Jhnen nichts 
gezeigt, als dejjen Eltern, ein altes jüpdiiches Ehepaar!” 

E53 wurde zu Tijche gerufen, und wir gingen lachend 
in’s Speijezimmer. 


GGG DG DD DD DERZEZEZEZETETEER 


YIDEl: 


Denedey bei feiner Arbeit. — Beranger in Pajjy. 


Sch wohnte noch immer im Hotel Wiolet; meine 
Ausficht ging auf einen Hof, der durch zwer Neihen hoher 
düfterer Häufer gebildet war. Dicht daneben, nur durch 
ein vorjtehendes Haus gejchieden, braujte ein Strom von 
Menjchen die gemwundene Linie der Nue du Faubourg 


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Zweites Buch. 251 


Boifjonniere herab, aber die Bafjage Violet blieb jtill 
und öde vie eine entlegene nel, auf der nur landen, 
die dort wohnen. Much die Frühlingsjonne wollte mit 
der PBafjage Biolet nur wenig zu thun haben, fie fam 
des Morgens zu Bejuch auf eine furze Stunde, fait 
gleichzeitig mit dem alten Leiermann und dem Handels- 
juden, der nach alten Stleiwern fragte, und ward dan 
den ganzen Tag über nicht mehr gejehen. Um jo freudi- 
ger wurde fie begrüßt. Wenn ich beim Frühjtüd jaß 
und jie mir plößlich in das Buch und auf das Papier 
guekte, brachte fie mich mit einem Male aus der grauen 
Stimmung, die von dem ernten Quartier auf mich über- 
gegangen war. ch jchlug dann wohl das Fenjter auf, 
bliekte nach meinem Nachbar Fakob Venedey hinüber, der 
drüben jchon lange am Bulte jtand und Correjpondenzen 
für deutiche Blätter jchrieb, und riüjtete mich langjam 
zum Ausgang, deijen Ziel meiit die fünigliche Bibliothek 
war. udeß ließ fich die Drehorgel im £lagenden Tönen 
vernehmen, der alte Leiermann hiüjtelte und begann mit 
gebrechlicher Stimme jein Lied: le Dieu des bonnes 
gens! 

Il est un Dieu; devant lui je m’encline, 

Pauvre et content sans demander rien, 

De l’univers observant la machine 

J’y vois du mal et n’aime que le bien. 

Mais le plaisir a ma philosophie 

Releve assez des cieux intelligents; 


Le verre en main, gaiment je me confie 
Au Dieu des bonnes gens. 


252 Gejchichte meines Lebens. 


Tag für Tag hörte ich dasjelbe Lied und hörte es 
gerne. sch Dachte dabei an den, der es gedichtet: an 
Beranger. Was ijt es doch um eimen Dichter, der gleich- 
mäßig zu allen Clafjen der Bevölkerung Ipricht, der auc) 


den Geringiten zur jeinem Tifche lädt und Lieder zu vers 


ichenfen hat, zu deren erfrenligem VBerjtändniffe wie zu 
dem eines guten Glajes Wein oder eines warmen Sommer- 
tages man nur eines menschlich warmen Herzens bedarf! 
Beranger, dachte ich, wie Klein deine Welt auch it, wie 
eng umgrenzt, fie ijt Doch Schön! Dir it die Erde ein 
grünes, umjchlofjenes Thal, wo fleines Menjchenvolf 
fröhlich zecht und liebt. Der Himmel it nur die blaue 
Kuppel diejes schönen Grundes und durch deren Fenfter 
blieft der Liebe Gott als Herbergsvater vergnüglich auf 


jeine Kinder herab. Keim ift dein Lied ımd hat wie 


eine Hirtenjchalmei mm tvenig Töne, Dur bejingjt darauf 
im gleichen Metrum den Ruhm des Soldatenfaijers umd 
die Neize Lijettens, aber die Töne jind jchön umd Flar 
und jtimmen eben jo gut zum Tanze wie zur Feldmufif. 
Du biit ein exelufiv Franzöfiiches Getwächs, aber hier, two 
alles in deine Lieder einjtimmt, der Lajtträger und der 
Ssmovalide, der Student ıumd die Grifette, hier lernt man 
dich Lieben und veritehen. 

Das waren meine Gedanken, imdeR der Leierfaften 
im Hofe spielte, und nicht minder als ich schienen auch 
die übrigen Bewohner der Paljage Violet den Einfluß 
Beranger’s zu jpüren. Die Schneidergejellen, die im 
Erdgejchofie arbeiteten, jtellen ihre Arbeit eine Weile ein 


a a a a le Ze a ne 


Zweites Bud. 953 


md fingen den Nefrain im Chorus mit, die Grifette, 
die im Dachjtübchen nähte, twidelt ein dickes Sousftüc in 
Papier und wirt es den greifen Sänger vor die Füße. 
a  — Eimes Morgens war ich wieder unter dem Einfluffe 
de Dieu des bonnes gens, des Conmenicheins und des 
- Srühlings, als Benedey bei mir eintrat und mich fragte, 
ob ich ihm nicht auf einem größeren Spaziergange begleiten 
wolle? Er gönne jich heute Ferien. Er habe gejtern ein 
mehrbändiges Werk beendigt und werde kaum vor ein 
| oder zivei Tagen ein ähnliches in Angriff nehmen. Ein 
merfwürdiger Mann, desgleichen mir jeitdem nie wieder 
einer begegnet! Er brachte die ernjthäftejten Werfe mit 
einer Nuhe umd Leichtigkeit zu Papier, alS wenn es 
Kopiftenarbeit oder ein Stoß Briefe an Freunde wäre. 
Ein Berg blauen Briefpapiers in Quartformat lag unter 
feinem Budte, er hob einen Bogen nach dem andern ab 
I amd bededte ihn mit Schrift, daß es halb Lujtig, halb 
tragisch anzufehen war. QIirat Jemand bei ihm ein, jo 
bieß er ihn willtommen und jagte, daß feine Anwwejenbheit 
. gar nicht jtöre, er möge nur eine Weile fiben bleiben, 
e, bis dies Kapitel zu Ende geführt jet. Der Befucher 
 jeßte jich dann wohl, griff nach einem Buche, fam aber 
 jelten zum Lejen, denn Venedey fragte dies und jenes und 
— Benedey nicte der Antivort freundlich entgegen. Die Feder 
m feiner Hand, jcheinbar unabhängig von feinem Kopfe, 
u fegte weiter. Sp behandelte er die ernjthaftejten umd 
— schiwierigiten IThemata, mochten diefe mın Montesquien, 
Voltaire, Nouffeau oder anders heiken. Alfo entjtanden 


254 Geichichte meine Lebens. 


die breit und mächtig angelegten Werke, von denen Heine 
behauptete, daß er fie jo gerne habe, während er doch 
Benedey’s furze Bamphlete nicht ausjtehen fünne. 

„Bas?“ fragte ich verblüfft, als ich zuerit aus 
jeinem Mumde die Anficht hörte. „Venedey’S vielbändige 
Werfe find Shnem lieber, als jeine Kleinen Sachen?“ 

„llerdings,“ war die Antivort. „Waffer in unabjeh- 
barer Ausdehnung, als Binmenjee, als Meer, als ftolger 
Dcean it eine Sache, für die ich jchiwärmen fann. 
Dagegen it mir Wafjer im Staffeelöffel geradezu ver- 
hast...“ 

um, das waren Bosheiten, twie man jte von Heine 
gewohnt war. Mit welchem liebensiwirdigen Lächeln wur- 
den diefe scharf gejpigten WBfeile abgejchojjen! Jacob 
Benedey’s Bücher mochten langweilig jein, man hat aber 
faum ein Necht jcharf gegen fie zu verfahren. Die herbe 
Nöthigung des Lebens hatte den Flüchtling zum Schrift 
itellev gemacht und wenn er auch nur ein geringes Maß 
ichöpferiichev Gedanken befaß, die Gejinnung und das 
Wollen des Berfajfers waren gewiß immer im höchjten 
Grade nobel und achtungswerth . 

Bald waren wir aus unjeren düjteren vier Mauern 
heraus. 

E35 war ein schöner Morgen im angehenden Meat. 
Paris lag unter dem blauen Frühlingshinmel wie eine 
verzauberte Stadt da. Ueber das reinliche glänzende Pila- 
jter des Boulevards wogte ein Menjchenjtron, jeder Ei: 
zeime jchien fich des hellen Tages, der milden Luft zu 


Zweites Bud). 255 


 frenen. In den Weinfäden ftanden Leute aus den unteren 
- Bolfsclaffen und nahmen ihren zweiten Morgentrunf, auf 
Be vor den Kaffeehäujern Hinausgerücten Stühlen früh: 
 ftücte die elegante Männerwelt. Wagen und Starren 
 rollten vorüber, die Verkäufer boten ihre Waaren aus, 
im bimten Farben bemalte Ommibufje zogen wie jeltfame 
’ inaebener duch das verworrene Gewühl von Menjchen 
amd Wagen. Militär fam des Weges, die Trommeln 
wirbeln, die Bajonnete gligern in der Sonne. Blumen- 
- verfäuferinnen boten ihre friichejten Sträuße aus, Pub- 
_ macherinnen trippelten mit ihren ladirten Miodewaarenz 
Schachteln hin, alte Herren führten ihre kranfen Meöpje 


1 am rothen Bande fpazieren. Im den Tuilerien, die wir 


- jeßt durcchichritten, waren schon alle Heden grün, da blüht 
der Hollunder und der Orangenbaum im stübel, et lieb- 
licher Duft durchiwürzt die Luft. Wahrlich, die Welt 
jchien voll Jugendfriiche und Hoffnung zu jein! Jr den 
Alleen welch’ ein Leben! Taufend und taujend Kinder 
waren dort verjammelt, Ball zur Schlagen, den Reifen zu 
jagen und fich mit dem Springfeil zu tummeln. Welch’ 
dummes Wort: il n’y a plus d’enfants — mußte man 
bei diejem Treiben denken. Da treten leuchtend die weißen 
Marmorjtatuen aus dem grimen Hintergrunde der Kla- 
jtanien hervor, der DObelisf aber, ein jteimernes NRäthiel, 
blieft von Coneordeplaß leuchtend in den Himmel hinauf, 
indeß die Fontainen um ihn hevum vaujchen und fingen: 
fie hätten noch immer jo viel zu thun, das Blut hin- 
wegzinvaschen, das hier einst gefloijen 


Gejchjichte meines Lebens. 2 


Wenn ich mit VBenedey beifammen war, juchte ic 
ihn immer auf feine Vergangenheit und auf die Er; 
lung jeiner Erlebnifje zu bringen. Er hatte das 9 
bacher Feft mitgemacht, er war am fogenannten Fr 

| - furter Attentat vom April 1833 mitbetheiligt gewe 

3: einer jener unerjchrodenen Jünglinge, die mit Waffen in 

der Hand den deutjchen Bundestag zu fprengen verjuch- 

ten. Cr war durch eine lebensgefährliche Flucht Leben 18- 

länglicher Gefängnißjtrafe entgangen. Man denkt Heutzu- 


Er tage zu geringjchäßig von diefen Unternehmungen, D 

BI, doch in der Abficht veranjtaltet waren, den Gedanfen. 
Ein deutjcher Nationaleinheit zur Wahrheit zu machen. Weil 
B' die Mittel gar jo Elein, jcheinbar lächerlich, zuct man die 
Ahlen und doch wei; Jedermann, daß unter gegebenen 
x Bedingungen ein bischen Hefe alle Moleciile eines Teiges 


in Bewegung jeßt und ein Kleiner Funfen zumveilen die 
großartigjte Erplofion herbeiführt. Der Teig war nicht 

i gehörig vorbereitet, der FZunfe fiel in Sand und Staub, 
B: die jungen Leute" büßten fiir ihre jehr irrigen Vorau 18- 
jeßungen. . : 
Nun war Benedey allerdings das Gegentheil von 

dem getvorden, was er geiwvejen. Seines Jrrthums ges 
wahr, ging er jegt zu weit in die entgegengejeßte Nich- 
tung umd befämpfte allenthalben den praftiichen Nevolu- 
tionär, der ev doch jelbjt gewejen. Der ehemalige Mann 
des „jungen Europa“ wiederholte fortwährend den Spruch), 
daß wer das Schwert ziehe, durch das Schwert umfome 
men müffe. Nur proteftiren joll man, jeine Meinung 


.. 


Zweites Buch. al 


nämlich jagen, etwa auch die Zahlung der Steuern ver- 
tweigern und dann bilden. 

Wie wunderlich fam mir oft diefer politische Duä- 
fer vor! 

Wir hatten die Champs Elyjees, den grünen inner- 
halb der Mauern von Paris liegenden Wald erreicht. 
Neiter und Amazonen in flatternden Gewändern flogen 
die Avenue von Neuilly hinab, der Staub wirbelte ihnen 
nach. Ein zarter jchillernder Schleier ummbirllte den mäch- 
tigen Bau des Triumphbogens. 

Aus den Thoren heraus, befanden wir uns bald in 
einer an einem mäßigen Hügel hingebauten Borjtadt, die 
ich jeßt zum erjten Male jah. Sie hatte mit ihren Fleinemr 
niederen Häufern und jchlechtgepflaiterten Gafjen den Cha- 
rafter eines ärmeren Jaubourg. Schön war nur die Aus- 
jicht auf das weite Marsfeld, das fich auf dem jenfeitigen 
Seine-llfer Hindehnte. 

„Sp wären wir unerwartet bis Bajiy gekommen,“ 
jagte Benedey. „Hier wohnt Beranger, wir könnten eigent- 
lich bei ihm einfprechen. Es it ein freumdlicher alter 
Herr und hat jich mir immer gewogen gezeigt.“ 

Sch eriwiederte, dab ich täglich an Beranger gemahnt 
twerde md ihn gerne fennen lernen möchte. 

Stleich darauf blieb Benedey vor einem fleinen Häus- 
chen stehen. Ein paar Schritte, und er pochte an der 
Thür einer Parterrewohnig. Mehrere Stimmen riefen 
herein, wir jtanden in einem freimdlichen fleinen Sims 
mer, duch dejjen offenes, auf einen Garten hinaus gehen- 
Meiiner, Gejchichte meines Lebend. I. B. 17 


a RE 


258 Gejchichte meines Lebens. 


des Feniter grünes Weinlaub hereinnidte. Da jaß ein 
freundlicher alter Herr, eine Sammetmüße auf dem Kopfe, 
ihm gegenüber eine alte Dame, fie hatten eine Flajche 
Wem umd ein tüchtiges Frühitiik vor fih. in junger 
Menjch mit charafteriftiichem Gejichte, offenbar ein Siid- 
franzoje, laS dem alten Herrn die Zeitung vor. ‚Da 
hatten wir denn alles bei einander: der freundliche alte 
GreiS war Beranger, die alte Dame die Nachfolgerin 
Lifetten’s, Judith Frere, vermuthlich diejelbe, die als 
bonne vieille in jeinen Gedichten vorfommt, der junge 
Menich ein Nedacteur des „National“. 

Ein Porträt von Beranger zu geben, it wohl un- 
nüß, jein Kopf it nach einem von David D’Angers mo= 
dellivten Medaillon unzähligemal gezeichnet worden. Er 
ftand damals in feinem fiebenumdjechzigiten Jahre und 
glich diefem Bilde noch jo jehr, daß ich ihn gleich danach 
erfannt hätte. Ein Kopf, um den nur jpärliche Floden 
grauer Haare jpielten, eine bedeutende Stirne, geröthete 
Wangen, Eluge, jchelmifche Augen, ein bald jchmunzeln- 
der, bald farkaftiich zucender Mıumd — das zujammen 
gab das Bild des Alten, der bei Tijche jaß und jeiner 
Flasche eifrig zuiprach. 

E53 twar eben um die Zeit des von Friedrich Wilhelm 
dem Bierten einberufenen vereinigten Landtags, der Da- 
mals das ganze Intereffe von Paris in Anspruch nahn. 
Der Nomantifer auf dem Throne hatte Schon Ende 1846 
jenem Bolfe verjprochen, durch Einberufung eines Land- 
tages die Einführung einer VBerfaffung in Preußen an- 


a A A u a A 


Zweited Buch. 259 


 zubahnen. Nm war er zufammengetreten. Gleich nach 
I den erjten gewvechjelten Begrißungsworten fprang das 
|  Gejpräch auf das politiiche Gebiet. 3 

8 „Bas gibt’S Für Menigfeiten aus Deutichland ?“ 
B fragte der Alte in Leicht jatirifchem Tone. „Was macht 
] Berlin? Laffen Sie hören. Was macht das erite Volf 
der Welt ?” 

„Das erite Volt der Welt,“ eriwiederte Venedey, die 
feindliche Abjicht merfend, „Eünnen in Frankreich nur die 
Sranzojen heißen.“ 
| Beranger lachte: „Mit Nichten! Das erjte Volf der 
Welt find unzweifelhaft die Deutjchen. ch Höre umd 
Ieje das jeßt überall. Die Berliner Redner jagen e3 je- 

den Tag und auch die franzöfiichen Blätter behaupten, daß 
Deutjichland jest auf dem WBunfte ftehe, der Welt ein 
Schaujpiel von auferordentlicher Großartigfeit zu geben. 
Wir armen Galler jind jest ganz bei Seite gejtellt und 
es ijt nur die Frage, ob uns die Deutjchen erlauben, das 
ziveite Volk des Continents zu bleiben ?“ 

„2lus der SJronie, mit der Sie das jagen,“ erwiederte 
Benedey, „blickt nur zu deutlich hervor, daß Sie fich nicht 
an den Gedanken gewöhnen Fünnen, daß die zwei gebildet- 
jten Völker Hand in Hand, jo zu jagen, in einer Fronte 
vorivärts fommen können.“ 

„DBerzeihen Sie einem alten Manne, der von den 
- Erinnerungen der alten Tage nicht losfommen fan!“ 
eriviederte Beranger gleichjam bejchwichtigend, als er 
Venedey’3 Wangen fich bei den festen Worten röther 

178 


I} 


260 Gefchichte meines Lebens, 


färben jah. „sch weiß von Deutjchland gar jo wenig... 
Sch verjtehe nur franzöfiich und bin nie über den Pthein 
gefommen . . . . Sch weiß, daß Sie viele Kleine Fürjten 


haben und daß Cenjoren bejtellt find, hre Bücher und 


Zeitungen zu controliren. “ 

Hier fand ich endlich Gelegenheit eine fleine Bemer- 
fung anzubringen. 

„Wohl gibt es Cenjoren in Deutjchland,” jagte ich, 


„doch fie jtehen zwischen der Negierung umd der öffent < 


lichen Meinung mitten inne und die Zeit ift vorauszu- 
jehen, two die Cenjur factiich aufgehört haben wird, in= 
deß Tte formell noch beiteht. Zudem exijtirt Cenjur-Freiheit 
für alle Bücher über zwanzig Bogen. m der That be- 
twegt jich der deutjche Gedanke frei von allen Fejjeln. ES 
werden bei uns Bücher gedrucdt, die den Ffranzöfiichen 
Autor auf den Mont-Michel bringen würden . . .“ 
Beranger lachte laut auf. Er jchien e$ ganz ver- 
gejjen zur haben, daß er jelbjt unter Karl X. wegen einiger 
Ipottender Bemerkungen in feinen Liedern der Beleidigung 
der füniglichen Familie und Schmähung der Staatsreligion 
geziehen und zu neun Monaten Gefängnig und einer 
Gelditrafe von zehntaufend Frances verurtheilt worden war. 
„Sum Beweis diefer Behauptung,“ fuhr ich fort, 
„ann ich hnen Ludtvig Feuerbach aufführen. Ludivig 


Feuerbach ijt einer der größten Aufklärer, er nimmt das 


Werk Ihrer Encyflopädijten wieder auf und gibt dem 


jelben evt die tiefere philofophiiche Begründung. Seine 7 
Bücher ericheinen, tie wenn es bei ums fein nftitut der 


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Zweites Buch. 261 


Cenfjur gäbe. Doch ich fan Jhnen noch ein weit frappanz= 
‚ teres Beispiel weitgehender Meinungsfreiheit jagen. Sie 
haben wohl nie von Friedrich Daumer und jeinen „Ges 
heimniffen des chriftlichen Alterthums“ gehört?“ 

„Nie!“ erwwiderte Beranger lachend. „Was hat diefer 


Mann für „Seheimniffe“ aufgejtöbert ?“ 


„Daumer,“ jagte, ich „it überzeugt, daß in den erjten 
Zeiten des Chriftenthums, lange nachdem bei den Juden 
und anderen Völkern das Menjchenopfer durch das Thier- 
opfer abgelöft war, ja bis tief in’s Mittelalter hinein, 
das Blut eine große Nolle gejpielt hat und das erite 
Chriftentgum zum Nenjchenopfer zurüdgriff.“ 

„ber das it abjcheulih! Wer Dderlei behauptet, 
verdient meiner Meinung nach den Galgen 

„sh halte,“ erwiderte ich, „jedes Urtheil über 
Daumer’s Meinungen zurüd. Sch Führe jte mur einfach 
an, um Shnen zu zeigen, was bei ung in Deutjchland 
gejagt und gejchrieben werden fanıı. MUebrigens bin ich 
der Anficht, daß wifjenjchaftlich vorgetragene Ueberzengumz- 
gen nur woiljenichaftlich widerlegt, nicht aber polizeilich 


14 


_ geftraft werden jollen.“ 


Dieje Ansicht jchien dem alten Herrn jehr parador, 
er wandte fich an Benedey und fragte: „Sit das ein 
Landsmann von Jhnen ?“ 

„eur ein halber,“ war die Antwort. 

„Uli lafjen Sie hören,“ fragte Beranger. „Wo font 
men Sie her? In welcher Stadt haben Sie gelebt, ehe Sie 
in unjer liebes Baris kamen?“ 


262 Gefhichte meines Lebens, 


„sh bin aus Prag,“ antwortete ich. 

„to ein Ungar!“ 

„Am Berzeihung! Prag —* 

„Prag it aber doch die Hauptitadt Ungarns?“ 
(mais voyons, Prague est donc la capitale de la 
Hongrie ?) 

„Sie verwvechjeln Brag mit Bet, Monfteur Beranger.” 

„Peste, vous avez raison! Die Hauptjtadt von 
Ungarn heißt Pet. Und Sie jind aus Prag. J’y suis. 
Prag! Brag! Wer kennt das nicht! Wer hat nicht davon 
gehört! .... .. Sie fcheinen mir zu jung, als daß 
ich annehmen fünnte, daß Sie in den legten Kämpfen 
mitgefochten ?“ 

„Bardon! Wir haben jeit Napoleons Zeiten feinen 
Krieg gejehen.“ 

„Die? Was? feinen Krieg? Sie nennen das feinen 
Krieg? Die Senjenmänner — unter dem General — 
mein Gott, wie heißt er doh . .. . ? Sein Name geht 
auf Sfi aus (quelque chose en ski). 

„Monfienr Beranger verwechjeln, wie ich jehe,“ ent- 
gegnete ich, „Prag mit Braga. Praga ijt die jenjeits 
der Weichjel gelegene Borjtadt von Warjchau, Prag da= 
gegen —" 

„Sanz recht! Wir wideln uns jchon aus diejer Con- 
fufton heraus. Aber ein Pole find Sie doch ?“ 

„Neineswegs. Sch bin ein Deuticher. Prag ijt die 
Hauptjtadt von Böhmen und mitten, man fann jagen, im 
Centrum von Deutjichland gelegen.” 


Zweites Bud). 263 


„Bas? Prag? Mitten in Deutjchland? Was Sie 
mir da jagen! Nım, Sie merfen jchon, daß die Geographie 
nicht meine bejondere Stärke it. Und nun jagen Sie, 
gehört Böhmen zur confederation allemande oder zu 
Deiterreich ?” 

„Es gehört zu Dejterreich und zur „Confederation 
allemande.“ ° 

„Da haben wir’s nun!“ rief Beranger, auf's Höchite 
befujtigt. „ES liegt in Dejterreich und auch im deutjchen 
Bunde! Da joll jich der Teufel zurechtfinden! Sehen Sie, 
meine Herren, wir Franzojen find Freunde der Klarheit. 
Was nicht Flar ijt, das ijt nicht franzöftich, das mider- 
jtrebt unjerem Geijte. Num aber Herricht bei Shnen eine 
jolhe Wireniß, eine jolche Confufion, eine jolche Unklar- 
heit... . Wir werden nie flug werden über Jhre Ver- 
hältnifje ; es geht nicht; wir fünnen es nicht beim bejten 
Willen.“ 

Dabei blidte Beranger, Beiftimmung heifchend, auf 
jeinen franzöfischen Freund. 

Diejer nidte ihm zu. 

„Sehen Sie,“ wandte fich) Beranger wieder an 
Venedey, indem er jich offenbar. auf jeine Unfunde, die 
ihm ein Zeugniß für die überlegene Klarheit des franzö- 
fiichen Geijtes abzulegen jchien, etwas zu Gute that, 
„eben Sie, jo geht es mir in allen Deutjchland betreffen- 
den Dingen! Nehmen wir die Thronrede Fhres Königs, 
die eben jo großes Aufjehen macht. Haben Sie jet eine 
Berfafjung oder haben Sie feine? Jch werde nicht Flug 


264 Gefchichte meines LebenE. 


daraus. Für uns oberflächliche Sranzojen, die wir nicht 
viel BhHilojophie jtudiren, gibt eS feine Conjtitution ohne 
Charte, ohne politische Nechte, ohne gehörige Garantie. 
Die Unterjchiede zwischen jtändischen und constitutionellen 
Staaten fernen wir auch nicht und wifjen nur von ab- 
joluten und von mehr oder minder bejchränkten Negie- 
rungen.... Sie dürften mit Jhren berathenden Ständen 
ichlecht berathen jein.“ 

Nachdem das Gejpräch noch eine Weile in Ddiejer 
Weile hin umd her gegangen, verabjchtedeten wir uns. 

„Beranger hatte heute feinen guten Tag,“ meinte 
Benedey Fleinlaut, al3 wir draußen waren. 


Das Hatte ich mir allerdings auch gedacht. Es ift 
zivar viel verlangt, daß ein Dichter, den zwei Leute bei 
jeinem zweiten Frühjtüc überfallen, gleich den Dichter 
herausfehren joll, aber etwas mehr Geijt, Herz, Blid, 
Bildung hätte fich doch beanfpruchen Lajjen. 

Wie man mit einem jehr Fleinen Capital, das man 
gut anlegt und richtig verwendet, doch Großes ausrichten 
fann! war mein Gedanfe beim Weitergehen.  Sleime 
Lieder, ungeheure Wirkungen! Wie einjeitig nüchtern, 
projaisch, ja wie bejchränft und bornirt war alles, was 
wir da aus dem Mumde des gefeierten Mannes gehört 
hatten! Welche Selbjtzufriedenheit in der Ummiffenheit! 
Welche Sicherheit im Fehlgreifen! Und bei jcheinbarer 
Bonhonmtie, welcher Mangel an Gutartigkeit! Wahrlich, 
fie hatten die Rollen ausgetaujcht: Benedey war der über- 


welcher Erzphilifter ! 

be: Sch mußte mir ihn allmälig wieder von Anfang an 
conftruiren, als den Mann, der jo viel jchöne Lieder 
 gefungen und damit jo viele Menjchen erheitert hatte... 
MB ich Abends in mein Zimmer zurückam, jah ich 
den Greis im Erdgejchoffe feines Häuschens noch immer 
dor mir. Inde öffnete jich das Fenfter" gegenüber: die 
- Nähterin drüben im Dachjtübchen trälferte die Verje von 
Dieu des bonnes gens, wie fie es heute früh vom Leier- 
 Faftenmanne gehört. 


lg LG EG Gh CD REEL RETTET 


IX 
Kiterarijche Soiree. — Alerander Dumas. — Monte Ehrijto. 
Be». E3 gab um dieje Zeit wohl faum einen Schrift 


steller, der die Aufmerkiamfeit feines Publicums jo wach 
zu halten wußte, wie Alerander Dumas. Nicht nur, 
daß er mit umermidlicher Ihätigfeit einen Noman nach 
re dem andern, ein Drama nach dem andern im die Welt 
—— Hinausfchiefte, ev verjtand es auch durch das, was er jonft 
that und trieb, fortwährend von jich veden zu machen. 

E* Seßt hatte er auf eine feiner Tragödien — den Gali- 
 gula — eine goldene Denfmünze fchlagen lafjen, jeßt 
vertwieelte ihm der Zufall in eine cause eelebre und er 
- hatte in öffentlicher Sigung entjcheidendes Zeugniß abzu- 


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266 . Gejchichte meines Lebens. 


(egen. Sp war immer etwas von ihm zu erzählen. Die 
Zeitungen, die fich fait alle die Miene gaben, als ob jte 
den PVieljchreiber mißachteten, verichmähten es nicht, weit - 
öfter über jein Thun und Treiben Notizen zu bringen, 
als eben nöthig gemwejen wäre. 

Auch in diefem Jahre hatte e3 wieder von Dumas 
viel zu erzählen gegeben. Sein Theater hijtorique auf 
dem Boulevard du Temple hatte er noch immer nicht 
eröffnen fünnen; inzwijchen aber jtand er jelbjt fort 
während auf der Bühne und wußte — wunderbar bei 
einem Stücde von jolcher Dauer — dies veränvderliche 
Bolk der Franzofen in bejtändiger Spannung zu erhalten. 
Diefe Eomödie war jein Proceß mit den Herren Beroit 
und Girardin, den Nedacteuren des „Konjtitutionnel“ umd 
der „Brefje“. Diejen Beiden hatte Dumas alljährlich 
18 Bände Nomane zu liefern verjprochen, wogegen ihn 
eine Nente von 65.000 Franken zukommen follte. Nur 
diefe beiden Konrnale jollten fünftighin die neuen Bücher 
des berühmten Alerander bringen. Sndeß hatte Dumas 
von früheren Jahren her noch andere Verpflichtungen md 
war anderen Yournalen und Buchhändlern gegenüber im 
Rücjtand md zwar — 08 war ganz genau berechnet 
worden — mit nicht weniger als 162.000 Zeilen. Er 
aber, im göttlichen Leichtfinne und als wäre dies Gentners 
gewicht gar nichts Fir jeine Schultern, hatte den Bau 
einer Billa unternommen, durch jeinen Gönner, den Herzog 
von Montpenfier, das Brivilegium zu einen neuen Theater 
erwirkt, hatte das Theater von St. Germain angefauft, 


Zweites Buch. 267 


um darin junge Schaufpieler für die Bühne des Theatre 

hiftorique heranzubilden und war jchließlich nach Spanien 
zu den königlichen Hochzeitsfejten, dann endlich zur Tiger- 
jagd nach Algier und Tımis gegangen, ohne fich weiter 
um Beron und Girardin zu fiimmern. Daher Klagen 
und gerichtliche VBorladumngen, glänzende Plaidoyers md 
unendliche Bonmots über den zu Zivangsarbeiten ver- 
urtheilten und diejen entfliehenden Dichter. 

Was num die Billa in der Nähe von St. Germain 
betraf, jo hieß es, fie jolle ein Wunder von Pracht, eine 
Art Duovdezalhambra werden und den Namen „Monte 
Ehrijto“ erhalten. Monte Chrifto, das war um jo 
pifanter, als alle Welt damals den Monte Ehrifto las. 
Sedermann jprach von der Billa und Niemand wußte 
Beitimmtes davon: der Erfindung war offener Spielraum 
gelafjen. Einige behaupteten, Monte Ehrijto jet auf einer 
Sufel erbaut und übertreffe an Pracht Aladins Schloß, 
andere fagten, es mülje chon darımm auf dem fejten Lande 
liegen, weil es bei St. Germain en Laye gar feine Jujelt 
gebe. Noch andere behaupteten, Monte Chrijto jei eine 
Mythe und Zanfaronade. ES gebe fein anderes Monte 
Ehriito, als das Feljeneiland ummweit Marfeille. 

Sc Leugne nicht, daß ich gern einmal den Mann 
gejehen Hätte, dejfen Nomane mich jchon jo oft ergüßt 
umd dejjen Thun und Lafjfen im gewöhnlichen Leben auch 

jo bunt umd abentenerlich war. Der Zufall war mir 
K günftig. Eines Tages hatte mich Madame AU . ., die ich 
von Karlsbad her kannte, zu einer Spiree mit dem Bei- 


dal LAST Sa HF U Ba BEE GENE en EL Loc Ehe aa an dl Bari ap m 


268 Gejchichte meines Leben, 


jaße eingeladen, ich werde diesmal Alexander Dumas bei 
ihr fernen lernen. 

Madame A. . war eine der befanntejten literari- 
jchen Frauen des damaligen Paris. Ohne reich oder auch 
nur wohlhabend zu jein, hielt jie doch, wie man zu jagen 
pflegt, ein Haus und jah jeden Montagabend das Zimmer, 
das jte ihren Salon nannte, mit Meenjchen gefüllt. Es 
twaren meijt Schriftiteller, aber auch Kimftler fehlten 
nicht. Es waren theils berühmte Leute, theils jolche, die 
einige Ausficht hatten, berühmt zu werden. Auf alle 
Fälle mußte jeder, dev Madame A . .S Salon betrat, 
irgend ein Talent, ein Buch oder eine Eigenthünlichfeit - 
als Eintrittskarte vorziiveilen haben. Gegen Sänger und 
Pianiften, die bei anderen Hausfrauen in jo hohem An- 
jehen jtehen, hegte Madame A... eine tiefe Verachtung; 
dafür jtanden ihr die Gelehrten dejto höher. Ye abjon- 
derlicher und wunderlicher ihr Studium tar, dejto bejjer. 
Ein Franzoje, der den Hegel jtudirt zu: Haben vorgab, 
war ihr jchon jehr fieb, aber noch lieber waren ihr die 
Ueberjeger verjchollener Miyftifer und Gmojtifer und Sans- 
fritgelehrte. Am höchiten im Werthe jchägte jie Magneti- 
jeure, Doetoren, die jich mit Sommambulismus abgaben, 
Adepten geheimer Wifjenjchaften — fie glaubte an diejelben. 

Madame A. . jchwärmte für das Mittelalter; in 

 diefem jah fie die Glanzepoche der Menjchheit. Kopien 
nach Angelo da Fiejole und Cimabue zierten die Wände 
ihrer Zimmer, die Maler einer jpäteren Epoche, Raphael, 
Titian, Correggio, betrachtete fie jchon als Künjtler aus. 


4 


Bl & da 42 AUS alt a dr m Ara tr ul > un ih Mer 


ale 


Ziveites Buch, 269 


der Verfallsperiode der Kunft, twie fie in der Mufif des- 
gleichen für Bergoleje, Marcello, Orlando di Lafio 
Ichtwärmte; alles andere war ihr nur Epigonenthum. 

Bei diefer Richtung ihres Geiltes konnte Madame 
A... von dem durchaus modernen und weltlich gearteten 
Dumas unmöglich viel halten. Doch das Menjchenherz 
it jonderbar geartet! Es galt ihr doch als ein aufßer- 
ordentlicher Triumph, daß der Berfaffer der Neine Margot 
und des Monte Chrifto endlich veriprochen Hatte, bei 
ihrem nächjten jour fixe zu erjcheinen und fie hatte das 
bevorjtehende Creigniß nach allen Seiten anjagen lafjen. 
Am Abend, an dem der jeltene Gast einziehen jollte, war 
der fleine Salon voller, als ich ihn je gejehen. Da gab 
e3 feine Gruppen mehr, jondern ein compactes Gedränge. 
Die Hausfrau, eine wohlconjervirte Matrone, der ein 
bortreffliches Haarfärbemittel noch den Anjchein einer 
Bierzigerin verlieh, Jah, von einem fleinen Damenfreis 
umgeben, am eleganten Kamin und jchürte diefen von 
Zeit zu Zeit mit nervöfer Hajtigfeit. ch merkte auch, 
daß te ich oft unruhig umfehrte. um ging die Thüre 
rajh auf und ein Mann, der an Statur alle Umftehen- 
den überragte, trat mit energischem Schritt ein. &$ war 
Alerander Dumas. 

Ganz unlängit war ein großes Folioblatt, ein Cari- 
caturbild, erjchienen, das die befanntejten Franzöfiichen 
Tagesschriftiteller in Gruppen beifammen zeigte. m 
Bordergrumde desjelben jah man einen hochgewwachjenen 
Mann mit einem Negergefichte, der mit Siebenmeilen- 


Ten Zu Zi NE zZ Zr Due Zu 3 AZ U > 4,“ 


270 Gejchichte meines Lebens, 


jtiefefn über Berge und Thäler Hinwegjchritt. Ein Stern, e 


vermuthlich der Orden des Nijchan oder der phantajtiiche 


Elephantenorden des Schahs von PBerjien, hängt ihm 
twie ein Anmmlet um den Hals, auf dem Rüden aber trägt — 
er eine Unmasjfe Bücher. Schwer jcheint die Laft, aber 


für den herfulischen Bau des Mannes tft jte jo viel wie e 
nichts. Mit ungerjtörbarem Gfleichmuth trägt er jie und 


auch die Berge und Thäler da unten mit all ihren 
Hinderniffen ind für ihn nicht vorhanden. 

An dieje Caricatur wurde man jofort erinnert. 
Nicht nur, dag Alexander Dumas in ihr zum Sprechen 


getroffen, auch feine ganze Art umd Weile war damit 


gezeichnet. Dumas zeigte in jeinen Zügen noch viel von 
feinen afrifanischen Vorfahren. Das fchtwarze, gefräufelte 
Haar, das breite Geficht mit den dicken Lippen, das feurige 
Auge. gaben zufammen ein Ganzes, wie man fich den 
Kopf Dthello’s, des Mohren von Venedig, denkt. Hoch 
und jtarf gebaut, war er wie zum Tragen gewaltiger 
Laften gejchaffen. Der Bau feiner Stirn war nicht eben 
edel, aber Charakter und Bhantafie jagen da beifanmen. 
Dabei zeigte er in allen Bewegungen ettvas Energijches 
und Nobujtes, und wer ihn jprechen hörte, begriff Tofort, 
dag er einen Mann von fabelhafter Arbeitstraft und 
fprudelndem Erfindungsgeift vor fich habe, nebenbei auch 
einen Mann, der vor allen andern die größten Miindh- 
haufiaden mit Sicherheit vorzutragen verjtehe. 

Auch ich wurde dem Helden des Abends vorgejtellt. 
Dumas erfumndigte fich nach dem neuen Drama in Deutjc)- 


Zweites Bud). and: 


fand. ES war nicht jchiwer, ihm darüber etivas Neues 
zu jagen, da ihm alles unbefannt war. Sm Snterefje 
des Theatre hiftorique fragte er nach überjegbaren Stüden, 
ich erzählte ihm von Uriel Acojta, den Karlsjchiilern und 
von Hebbel’s Maria Magdalena. Er hörte zu und fam 
dann wieder auf jeine Achtung fir Schiller und Leiling 
zurüd. Cr erzählte, wie er eben mit einer Weberjeßung 
von „Cabale und Liebe“ bejchäftigt jei — eine Arbeit, 
die um jo erjtaunlicher erjcheint, wenn man bedenkt, daß 
Dumas fein Wort Deutjch verjtand. 

Unfer Gejpräch konnte nicht lange dauern. Dumas, 
der jelten nach Baris zu fommen pflegte, hatte gar Viele 
zu begrüßen. Er lud mich ein, ihn auf feinem Landfiße 
in St. Germain zu bejuchen. „sch werde Ihnen dabei,“ 
jeßte er hinzu, „Monte Ehrifto zeigen fünnen.“ 

Ein paar Monate vergingen, ehe ich im Strom des 
PBarijer Lebens wieder an diefe Einladung dachte. Endlich, 
an einem jchönen Sommertage, fuhr ich auf der Eijen- 
bahır hinaus. Der Weg nach St. Germain en Laye ift 
reizend. Er führt durch ein Land, das wie ein Garten 
bepflanzt md mit den freumdlichjten Dörfern überjäet ift. 
Auf der legten Station, eine Biertelftunde von St. Ger- 
main, beginnt ein Stüd atmojphärifcher Eifenbahn. Der 
Heine Zug fährt mit gleicher Schnelligkeit, aber ohne 
Dampf und Kohlenftaub, ganz geräufchlos in janfter 
Steigung hinan. Nun erfcheint das Städtchen auf der 
Anhöhe mit feiner prächtigen Terrafje, feinen weiten 
Kaftanien-Alleen, es erjcheint das Schloß, der uralte Königs- 


272 Gejchichte meines Lebens, 


ig, ein Bau mit grauen Thürmen und Zinnen. &$ 
gibt in der Nähe von Baris feinen jchöneren Anblick. 
Sch fragte nach Monftenr Alexandre Dumas; als 
tpäre er ei fouderäner Herr, jo jchten er befannt, 8 
wurde mir jofort Auskunft zu theil. Ya, man gab mir 
das Geleit zu jeinem Haufe. u 
sch traf den grand NRomaneier in einer ausgedehn- 
ten Barterrewohnung, deren Emrichtung heutzutage viel- 
feicht nicht mehr ganz abjonderlich wäre, mir aber damals 
ganz eigenthüntlich md einzig erjchten. Die Ausjtattung 
der Zimmer war im Geijte franzöfiicher Spätrenaifjance 
und des Barofs gehalten, hatte aber nebenbei einen jtarfen 
Beigeichmad orientaliich decorativer Bhantafie. Schränke 2 
aus dimfelgebeiztem Eichenhofze, theiltweife mit eingelegter 
Arbeit, Wandgeitelle mit phantaftischem Schnißiwerf reichten E 
bi an die Dede, dazwiichen ließen periische und türfifche 
Teppiche, hier al8 Wanddrapirung, hier als Portieren, 
dort als Möbelitberwwurf verivendet, den Zauber ihres 
Farbenfpiels und den Neiz ihres Linienornaments wirken. 
Uralte Fautenils und Hochlehnige Stühle, Kronleuchter 
von Schmiedeeifen, verblaßte Gobelins gaben dem Schreib- 
und Studirzimmer der Dichters das Ausfehen eines hijtort- 
chen Mufeums. An der einen Wandfeite des eigentlichen 
Schreibzimmers bildeten Helme, Harnifche, Schwerter und 
Schilde einen großen Stern. Darumter hingen arabifche 
Säbel in emaillirten edelfteinbejegten Scheiden, türkijche 
Flinten, wie Flammen geftaltete Dolche. Athos, Portfog 
und V’Artagnan, die twaceren Musketiere, twaren, in Bronze 


m.‘ 


Se = ea Zweites Buch. PAR, 


 - 


 Schreibzeug, jelbjt die Cavaffe mit Wein, die auf dem Tiiche 
stand und das Glas dazu, Schienen der Zeit des Vierten 
Heinrichs und der Königin Margarethe zu entjtammen. 
Pr Beim Apollo, wie contraftirte diefe Hauseinrichtung 
mit derjenigen der vaterländifchen Schriftiteller, die ich 
z bisher zu sehen befommen! Daheim brachte alle Arbeit 
amd alles Talent feinen Lohn ins Haus; wer da Schrift- 
—— fteller getvorden, hatte das Geliibde freiwilliger Armut 
i 4 auf jich genommen. Nur die machten eine Ausnahme, 
die einen Onkel beevbt oder eine reiche Frau geheiratet 
Hatten. Warum die Mifere daheim? Weil — ähnlich 
wie bei dem Speifungswunder des Evangeliums, two Fünf 
-Brode ımd zwei Fische genügten, fünftaufend Mann zu 
fättigen — bei uns eine Auflage von einigen Hundert, 
don höchitens taufend Eremplaren genügt, eine Nation 
von dreißig Millionen zu jpeijen umd zu jüttigen. Stier 
Dagegen Luxus, weil der berühmte Autor nebjt feinen 
franzöfischen Lefern, Leer in aller Welt und namentlich 
auch alle deutjchen Lejer Hat! Bei uns hatte Arguft 
Lerwald eine gewiffe Berühmtheit erlangt, weil ev zwei 
Dußend jilberne Gabeln und Löffeln bejaß — das war 
ja etwas Unerhörtes! Hier jah ich einen Schriftiteller 
eingerichtet wie einen König. . 

Sch fragte mich im Stillen, ob e3 wohl bei ung je 
anders iverden tolirde ? 

| Der Dichter, der in Hemdärmeln, mit abgelegten 
- Halstuch vor jeinem Schreibtifche faß, war offenbar durch 


Meikner, Gejchichte meines LXebens. I. B. 18 


gegofjen, auf einer hohen Confole zu jehen. Selbjt das 


274 „Seätgle meine Leben. 


meinen Bejuch gejtört umd im jeiner Arbeit unterbrochen 
worden. Troßvem jchenfte ev mir die liebenstwiürdigite 
Aufnahme. Sch bin einer von Denen, jagte er, die man 
immer zu Haufe trifft; es ijt mir aber ganz vecht, zu= 
weilen gejtört zu werden. sch Schreibe eigentlich immer, 
jeden Tag vor dem Ejjen etwa acht Stunden und wenn 
ich Die Feder nicht mehr halten fann, dictive ich. Sie 
iperden wiljen, daß ich meinen Broceß gegen den „Coniti- 
tutionel” verloren habe. Sch muß fFurchtbaven Wer- 
pflichtungen nachkommen. . .“ 

Mein Bliek jtreifte durch das Fenjter, vor dem die 
Hügel und Waldanflüge von Marly, Bejinay und Chatou 
im weiten Panorama ausgebreitet lagen und wandte jich 


jpieder der fojtbaren Zimmereinrichtung zu. Als Dumas 


bemerkte, wie jehr ich jte beivundere, fteng ev an, den 
Erklärer der einzelnen Stücke zu machen. Er nannte die 
Meiiter der einzelnen Bilder, fie mich auf Schwertern 
und Harntichen die eingeprägten Ornamente betrachten, 
ichließlich öffnete er eine Schublade und holte einen Nofen- 
franz aus Ichatiteinen hervor, von dem ein majjides 
goldenes Streuz herabding. „Der NRojenkranz des Herzogs 
von Alba!” fagte Dumas. „sch habe ihn unlängit in 
Madrid eritanden. Er war nicht wohlfeil, aber ich habe 
Die an Dapzer secht will. u...“ 

er Nofenkranz eines Menjchen, den vieles Beten 
ta am Morden Hinderte, warf"mich in ein Meer von 
Gedanken; Dumas, in der leutjeligen Laune eines großen 
Herrn, fuhr mit jenem Erklären fort. 


a aa le ie N 
x % 


Be “ 
1 u 


Zweites Bud). 


; Sm Ganzen,“ jagte er, „werden Sie meine Woh- 
m mg vecht bejcheiden finden. ch habe fie aber auch nur 
 proviforiich inne, bis nteine Billa ausgebaut ift. u zwei 
Monaten, hoffe ich, it fie bewohnbar. Haben Sie Luft, 
fie anzufehen ?“ 

Sch eriwiderte, das dies zu meinen befonderen Witnjchen 
gehöre. Dumas Fleidete ih vaich an und wir gingen 
hinaus. Wir fchritten Die Anhöhe herab, auf der 
Saint Germain erbaut ift und kamen, immer der Lands 
straße auf einem Seitentwege folgend, in ein grünes, 
- Hüigefiges Land, an den Ufern des Flufjes. Gruppen 
_ amd ganze Haine von Pappeln gaben diefer Gegend einen 
 eigenthiimlichen Charakter, auf den Hügelabhängen zogen 
ih Terrafjen der Weingärten hin, von den Strahlen des 
Abends bejchienen. ae 
E* Dumas hatte das Gejpräch auf die deutjche Litera- R 
tur gebracht. „Mir fommt vor,“ jagte er, „als hätten die 2 
 Deutjchen eigentlich noch gar feine Literatur, fondern fein gi 3 

£ 

% 

2 


 erft auf dem Punkte, eine zu gewinnen. Ein Aggregat 
von Büchern, die fein gemeinfamer Geift bejeelt, ijt noch 
immer feine Literatur. Sch verfenne nicht die Bedeutung | 
 Shillers und Goethes, deren Hauptwerfe mir wohl E 

Et find, aber fie fcheinen mir doch den Anjpriüchen or 
_ einer jo großen Nation nicht zu genügen.“ 


„Allerdings,“ erwiderte ich, „haben wir feinen Shafe- 3 
 speare, ich glaube aber, wir bejigen Werke von einer 7 
 Smmigfeit und Tiefe, die bei feiner anderen Nation fo ’ 
A 


ngetroffen twird. Unfere Literatur theilt den zerfahrenen 


‚Geifter: bei feinem Volke ift die Literatur ein jo um- 


ae 
an ee 


Gejchichte meines Lebens. RE 2 CE 
Charakter und die zerfahrene Erziehung der ganzen Nation, 
überrajcht aber mehr als jede andere durch geniale Natı 
ren. Das Drama ijt allerdings nicht unfer eigentliches 
Gebiet. Wir befigen nämlich fein maßgebendes deutjches 
Theater im Sinne des Theätre frangats, wie wir auch 
feine eigentliche Hauptitadt, Feine geichmackbeftinmmende — 
Capitale haben. Dafür bejigen wir eine Menge Theater, 
je nach der Eigenthümlichfeit der Stänmme. Doc) haben 
wir neben Lejling, Schiller umd Goethe auch auf diefem h 
Gebiete den getvaltigen Heinrich von Stleiit umd einen 
wunderbaren Dichter des Märchendrama’s, Ferdinand 
Raimund, den Verfaffer von „Alpenkönig Le Menfchen- 
feind“. Sch bedauere, daß umfere Lyrif Shnen unbefannt 

it: von Klopitod, Goethe, Uhland bis auf Lenau und \ 
Heine, welche Mannigfaltigfeit der Töne! Auch unfere 
Romantifer der Erzählung find einzig: Tiec, Achim von 
Arnim, Jmmermann. Ein Dichter diefer Schule, Amas — 
deus Hoffmann, it den Franzojen zufällig befannt gewor- — 
den umd wird von denfelben höher gejtellt, al3 es von 
uns gejchieht. Unferen Satyrifer Ludwig Börne werden 
Sie gefannt haben. Unzählig find unfere originellen 


faffendes Ganze, eine Einheit in unzähligen Abzwei- 
ange... :.. e Be 

Dumas hatte aufmerffam zugehört. „Jh muß doch 
noch deutjch fernen . . .,” fagte er mit nachdenklichem e 
Gefichte. „Glauben Sie, daß ich, wenn ich der Tu 
ein halbes Jahr widmete . . .?“ 


Zweite Bud). 


Leider fonnte ich ihm binnen eines jo furzen get 
 raums feinen Erfolg veriprechen . . . 

3 Unter jolchen Gejprächen erreichten wir nach einer 
% halben. Stumde rajchen Sehens Dumas’ Belisung. Ein 
 parfähnlicher Garten z30g fi an dem Abhang einer An 
höhe hin. Ein fleiner Bach, irgend einer höher gele- 
genen Schlucht entiprungen, und durch Dieje geleitet, 
bildete über herbeigeichaffte Felsjtiicke einen Fleinen Einft- 
 — Lichen Katarakft. Nun erblidte ich auch in der Mitte des 
— Rarks die Villa, im luftigen Style der überreichen franzö- 
fiichen Spätrenaifjance ausgeführt. Die Wände waren 
weißer Sanditein, das Dach bläulich glänzender Schiefer. 
Die Fenfterverzierungen waren von trefflicher Steinmeß- 
ae Reihen von Köpfen umd Figurinen liefen um die 
we  Gefimfe. 

„Monte Ehrijio ijt prächtig,“ jagte ich. „Sch bedauere, 
Daß ich es noch theilweije von Gerüjten umitellt jehe. 
Die Rarijer haben KRecht, wenn fie jagen, Sie bauten da 
ein fleines Alhambra. Doc auch die Capelle will ich 
mir anjehen, die Sie da droben aufführen lafjen.“ 

e Dumas lächelte und führte mich die gewundenen Gar- 
 tenmwege entlang, dem Häuschen entgegen, das twie ein gothi- 
 Ächer Miniatirdom ausjah. Bald zeigte es fich als ein 
wahres Wunderwerf der Steinmebarbeit. Der durch 
brochene Ihurm erhob ich leicht neben dem Schiffe, Die 

 gothifchen Feniter waren mit Nojetten verziert, Figurinen 
E füllten alle Nijchen: Die farbigen Glasfenjter blißten in 
der Sonne wie Juwelen. Num jah ich auch, daß Die 


nach Prag, beinchte mich und äußerte jofort beim Ein 


Geihichte meines Lebens. 


Capelle auf einer Infel ftand. Der kleine Bad) war 
daran md herumgeleitet, angepflanztes Schilf veichte bis 
an die Stufen der Pforte. Als ich noch näher fan, © = 
bemerkte ich an der Vorderwand Jnichrift an Inschrift; 
jedem einzelnen Duaderjtein war dev Name eines Bu 
von Dumas eingegraben. Wohl an Hundert Namen 
itanden da und bevedten die ganze Wand. Ri. 

Was ich für ein Kicchlein gehalten hatte, war ne 
eigentliche „Monte Chrifto“, zu gleicher Yeit Re 
und jelbjterbautes Ruhmesdenfmal. 8. 

„Die Infchriften werden vergoldet,“ jagte Alexander | 
Dumas. „Wenn fie jodanıı mit Arabesfen eingerahmt 
und unter einander verbunden jein werden, wird jich die | 
Wand gut ausnchmen.“ 

Sehr befriedigt und angeregt fan ich in jpäter Nacht B 
nach Paris zurücd, ging aber nicht zu Bette, ehe ich, was 
ich tagiüber gejehen und gehört, in mein Notizbuch ein- 
getragen. { x 
Viele, viele Jahre jpäter famı Alerander Dumas 


1 


treten, daß ex mir den Bejuch erwidere, den er in Paris S 
zu machen verhindert gewejen. ch erwähne dies nur i 
als ein Zeichen des auferordentlichen Gedächtnifjes eines ; 
Mannes, dem nichts entging. Er wußte auch noch, da 
ich ihm die Märchen-Dramen Ferdinand Naimumd’s zus 
geichiekt hatte, im guten Glauben, daß eine Ueberfegung — 
derjelben auf einer Barijer Bühne Fuß faffen könne. Wir 
befahen uns die Stadt nach allen Nichtungen; ich wog 


Zweites Bud). 279 


mehr Kenntnijje bei ihm als bei allen anderen Franzoien, 
die ich fennen gelernt, und einen sehr entwidelten Sinn 
für das Hiftorische. 

Dumas’ Name war indeß in der literarischen Werth- 
ihäßung jehr gelunfen. Er hatte fich verleiten lafien, 
äußerjt nachläfjtg zu arbeiten, und jchließlich Werke gebracht, 
die jeiner unmürdig waren. Tolle Berjchwendung hatte 
ihn financiell ruimirt. Seine Nefidenz, Monte Chrijto, 
hatte er längit, von Gläubigern bevdrängt, preisgeben 
müjjen. So endigte er in Ermattung und Abnahme und 
jtarb, fait unbeachtet, in Armuth und Berlafjenheit. 

Sch Fan von Dumas dem eltern nicht gering 
denfen. Er hatte ein phantaftisches Element in fich, das 
den verjtändigen und toisigen Stelten ganz abgeht und 
nur bei Victor Hugo wieder vorlommt. Seime Romane 
find allerdings Jmprovijationen, aber voll wunderbar 
dramatiichen Lebens. Er hat an Hundert und Hundert 
Figuren eine jchöpferijche Kraft bewährt. Jedenfalls hat 
er bei vielen jeiner Romane Mitarbeiter gehabt — man 
nennt als jolche Fiorentino und Augujte Maquet —, 
muß dieje aber, wie ein Architekt jeine Maurer, dirigirt 
und fie doch nur in von ihm jelbit geichaffenen Plänen 
bejchäftigt haben, denn was dieje Leute auf eigene Faujt 
gejchaffen, nimmt fich daneben völlig nichtig aus. 

Eine Zeit lang it Alexander Dumas ganz in den 
Hintergrund gedrängt worden. ebt zeigen fich wieder 
Symptome jeines Auflebens. Die großen Romane jener 
eriten Periode: „Die Musketiere der Königin,“ „Monte 


nicht zu befriedigen. Er hat auch jett feine Statue m 
Paris auf dem PBlat Males sherbes erhalten. Es it richtig 
bemerkt worden, daß fie von Gold fein fünnte, wenn Ri 
jeder von Dumas’ Lejern auch nur einen Lentime bei- 
gejtenert hätte. y 


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x 
Se Havre und die Auswanderer. — Befanntichaft auf der Eijenbahn. 


sn den legten Tagen des Auguft, als meine dem 
nächjtige Abreiie von Paris jchon feitjtand, machte ich 
noch einen Ausflug nach Havre. E3 gefiel mir dort jehr, 
die dverjchiedenartigjten Eindrüde traten an mich heran. 


SH jah zum erjten Male das mächtige graue nordiiche 


Meer, im welches die Fiicherbarfen mit aufgeblähten 
Segeln ımd die Dampfer mit ihrer jchiwarzen Nauchtvolfe 


hinausfuhren, und jah vom Leuchttgurme aus die geheimniße 
volle blaue Linie, mit welcher der Deean im Unendlichen 


verichiwimmmt. ch wohnte in einer jchauderhaften Kneipe: “ 


cafe de la Californie genannt, aber die böje, dort ver- E: 
brachte Nacht war jchnell vergeifen. Gegen Elf war ih 


nach Honfleuv gefahren, um Bier war ich twieder in Havre, 


Zweites Bud) ; 2a8l 


- Jah mir das Mufeum an und wandelte auf der jetee. 
Abends belebten jich die Matrojenfneipen mit den wunder- 
lichiten Bildern! Mehr aber als Alles ergriff mich der 
Anblid der großen Amerifafahrer, in deren Nähe in 
Erwartung der Abfahrt jo viele arme Landsleute, unglüd- 
fiche Leute aus Thüringen, Schwaben und Helfen in 
Gruppen beifammenstanden. Weiber und Kinder jagen 
auf den großen mit blauen und vothen Blumen bemalten 
Truhen, die ihre ganze Habe enthielten. 

Als ich am andern Tage Nachmittags in’s Coupe 
stieg, um nach Paris zurüchzufehren, erlebte ich noch ein 
fleines Abenteuer. ch fand dort eine junge Dame ganz 
allein figen. Sie mochte ungefähr zwanzig Jahre zählen, 
batte hellbraunes Haar, das in Loden herabftel, blaue 
heilblicende Eluge Augen und eim allerliebftes jchelmifches 
Stumpfnäschen. Sie führte gar fein Gepäd bei fich. 
Einfach, aber nett, jogar elegant bekleidet, hatte fie ihre 
Füßchen auf den ihr gegenüberjtehenden Sit gejtemmt und 
jo nett war die Ericheimung, jo allerliebjt waren Dieje 
Füßchen, daß ich bald näher rücte und allerhand Nedens- 
arten vorbrachte, die eine Comverjation anbahnen jollten. 

Sie aber, nachdem fie ein paar Fragen beantwortet, 
lächelte anmuthig, wobei die hiübjchejten, etwas jtarfen 
Zähne zum Worjchein famen und fjagte: „Reden wir 
doc deutjch miteinander, Sie haben eine Landsmännin 
vor fich.” 

Sie erzählte num, daß jte Freunde, welche die weite 
Neije über’s Meer angetreten, nad) Havre begleitet habe, 


23 


lo Gefchichte meines Leben, 


, iD, a #2 = I 
o Ex De ’ = treu be u ET, 


„Ich hätte mitgegen können,” meinte fie, „vielleicht jogar 
wäre es bejjer, wenn ich mitgegangen, aber wer lange 
Zeit in Paris gelebt hat, trennt jich nicht mehr von gi 
diefer Stadt. Sch lebe in Paris nun jchon viele, viele 
Sabre.“ 5 

„Und das hätte ich gemerkt, wern Sie e8 mir au 
nicht gejagt hätten,“ ertoiderte ich, „dern Fhr Deutich 
hat bereits einen fremdartigen Uecent, wie mein Fra 
zöftich jeine Mängel haben mag.“ 

„Birflich ?* Fragte jie. „Merft man es jchon ? ss Br 
it ganz möglich. Sch. habe alle Uebung, Deutjch zu 
iprechen, verloren — jeit meinen Kindesjahren Lebe ih 
unter Franzojen und jeit Jahren jpreche ich heute meine 
Mutterjprache zum. eritenmale.“ A 

Ein Wort gab das andere. Die junge Dame ra 
von Amerifa, vom Trieb des Menfchen, jein Gfüd in 
der Ferne zu juchen und von der Unausrottbarkeit jeines 
Heimatgefühls, von den Gegenfägen des Lebens in der 
deutjchen Stleinjtadt und im Strudel und Wirbel von 
Paris — alles war durchdacht, empfunden, alles fein 
und eigenthümlich geiftvol. Was wir fonjt noch alles 
ihwaßten, — ich weiß heute nichts mehr davon, ich weiß — i 
nur, daß ich den Conduceteur beiwog, feine weitere Gefell- 7 
ichaft in unfer Coupe zu laffen und daß fie damit ein- 
‚deritanden war, daß twir allein blieben, daß Noetot, 
beriihmt direch jeinen guten Fleinen König, den Beranger — 
befungen, Nouen, berühmt durch feine Kathedrale, Lou 
viere, berühmt durch jeine Tuchfabrifen u. j. w. u. 1]. or 


Zweiles Buch. 283 


und alle anderen Stationen, wie fie auch heißen mögen, 
vorüberflogen, ohne daß wir es im mindeiten achteten 
und daß ich vom der Anmuth meiner fleinen Neife- 
gefährtin ganz bezaubert war. 

Ueber uns brannte die Lampe. Als der Abend 
fühl geworden, breitete ich mein Wlaid über die Kleinen 
Süßchen, die ihren Bojten noch immer nicht verlafjen 
hatten und dabei wiederholte ich in allen Tonarten, tie 
allerliebjt ich meine Neifegefährtin finde und wie jehr ich 
es jeßt bedauere, Schon in den nächjten Tagen von Paris 
icheiven zu müfjen. Es tjt ein eigen Ding, wenn junge 
Herzen jtundenlange jo mit einander allein find. 

Es war Mitternacht, als wir uns der Bahnhalle 
der Norditation näherten; ich erjchrad ordentlich, als ich 
die vielen Gasflanmen von ferne fladern jah. Auch der 
Kleinen schien die Fahrt kurz gewejen zu fein. „Nehmen. 
Sie,“ jagte fie, „Diejes übrigens ganz werthloje Ninglein“ 
umd damit z0g fie einen Goldreif mit einem grünen Stein 
vom Finger „und behalten Sie e8 als Andenken an 
unjere heutige Fahrt. Sp werden Sie manchmal an mic) 
denfen, wenn Sie in Deutjchland find.“ 

„Und Ihr Name?“ fragte ich, indem ich den Ning 
anjtedte. „Sie werden mir doch auch jagen, wie Sie 
heißen ?“ 

„Was joll Jhnen mein Name, da Sie doch morgen 
veijen ?” jagte das Mädchen. „Wen Sie hier blieben, 
das wäre etwas anderes. Sp aber. ... Steht Fhr 
Entihluß wirklich fejt ?“ 


Sefchichte meines Lebens. : 


e „sch. reife morgen oder übermorgen!” war mein e 


Antwort. 2 
„And Sie kommen nicht wieder ?“ BL 
„Schwerlich vor Nahren. Mein Beruf wird mich i in. 

der Heimat fejthalten.“ 72 


„am, dann brauchen Sie meinen Namen u 
nicht zu wifjen.“ ? 
„Doch. So muß doch mein Andenken an einen. 
Namen früpfen fönnen.“ 
„Alfo nennen Sie mich Margot. Das gemügt. 
Des Familiennamens bedarf es nicht. Margot heiß" 
Ep“ Ei 
„to leben Sie wohl, allerliebfte Margot.“ 
„Leben Sie wohl.“ o% 
Wir waren jchon in die Bahnhalle eingefahren, 2 
‚meine Neifegefährtin iprang aus dem Coupe umd wurde 
von mehreren Frauen, die fie erwartet hatten, zum 
Ommibusjtand begleitet, ohne daß ich mur einen weiteren 
Blid von ihr erhalten hätte. u 
ww DwB GDC EG TG TG a 
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Ra 


Heidelberg. — Schweizer Sreifchärfer. — Autodafe von Manuferipten. 
u. E3 hatte mich wieder mit Macht nach 2 Deutichlensnil E 


jzuvücgetrieben. Was follte ich noch weiter in Paris? 
Länger dort bleiben, hieß die Zeit verlieren. Sch fühlte — 


“4 


Zweites Bud). 285 


mich unbefriedigt. Feite Ziele und Wläne lagen nicht 
vor meinen geiftigen Augen. Es litt mich nicht länger, 


ich fühlte, daß ich fort müfje. 


Sc hatte es Fertig gebracht, dreiviertel Jahr in 


Baris zu leben, ohne auch nur mit einem einzigen Jran- 


zojen zu verkehren. Mit vielen war ich befannt geiwor- 
den, für feinen fonnte ich ein nterefje faffen. Es tft 
etivas Trauriges um diejfe innere Unruhe der Franzofen, 
die jeden Einzelnen Tag für Tag auf den Boulevards 
umbertreibt, als Nahrung eine Barijer Neuigfeit aufzu- 
juchen und um das volljftändige Aufgehen in der Gegen- 
wart, im Barifer Tagesereigniß. Bei feinem anderen 
Bolfe iit ein jo enger Gefichtsfreis da, bei feinem eine 
vollftändigere Unfähigkeit, auf fremde Anjchauungen einzu- 
gehen. 

Hinter glatten Formen verbirgt ich die bare 
Gemüthlojigkeit. Zum Franzofen fol man fommen, er 
geht zu feinem. Die größte Unwifjenheit in allen außer- 
halb Baris liegenden Dingen it mit einer diünfelhaften 
Anmaßung verbunden, die feinen Widerjpruch verträgt. 
Er weiß eigentlich nichts, aber er weiß doch alles befjer. 
Enttäufcht und antipathisch berührt, zog ich mich von 
jeder neuen Befanntjchaft zurid. 

Da jaß ih nun Anfangs September in Heidelberg. 
Sc fühlte mich glücklich. Heidelberg vereinigt das geijtige 


Leben einer großen Ddeutichen Stadt mit allem Neiz einer 


herrlichen Umgebung. Ich war in einen Kreis von Mänz- 
nern aufgenommen, die jic) an allen Streitfragen und 


286 Gefchichte meines Lebens. 


Aufgaben der Zeit betheiligten und dabei im Umgang 
gute, brave, herzliche Menjchen waren. 

sch traf hier ven Dorfgefchichtsichreiber des Schiwarz- 
twalds, mit dem ich in Dresden jo viel verkehrt hatte, 
tvieder, im höchjten Grade zufrieden mit jich jelbjt und 
der ganzen Welt, glücjtrahlend im Befige einer liebens- 
würdigen Frau, einer angenehmen Häuslichfeit und »des 
erjten aller Verleger, ich jelbjt und jeden jeiner Gedanfen 
mit Behagen gemießend. ch lernte den PDramaturgen 
des Divenburger Theaters, Adolf Stahr, der jich hier 
zum Bejuch "befand, Tennen, jodann Jakob Molejchott, jeit 
Kurzem in Heidelberg als PBrivatdocent für Phyfiologie 
und vergleichende Ynntomie habilitirt; Hermann Hettner, 
ver Literaturhijtorifer und Kunjtgejchichtsforjcher, Herr 2. 
von Nochau, Berfaffer einer Neife durch Spanien, päterer 
Mitbegründer von Gervinus’ Deuticher Zeitung, jchloffen 
den Kreis. 

Was mir in Heidelberg am wenigjten gefallen hat, 
war die Heidelberger Studentenjchaft. Sie zerfiel Damals 
in zwei große und einen Fleinen Theil. Dbenan jtanden 
die Corps, die in ihren Kanonenjtiefeln das ganze Selbjt- 
gefühl einer vriüchjichtslofen Perjönlichkeit an den Tag 
legten. 

Sie theilten fich, wie es ihre Bänder und Müben 
auswiejen, in „Schwaben“, „VBandalen”, „Nafjauer“, 
„Saroborufjen“ und „Schweizer“, und waren, wie 
hundert tolle Streiche bezeugten, gewohnt, fich über alle 
Schranfen, welche eine polizeiliche Ordnung der Gejell- 


va I; ud, EEE 
ET De su 


Zweites Buch. 


Hatten bei ihnen eine enorme Ausdehnung erreicht. Die 
Angehörigen der Corps fühlten jich als etwas ganz 
Bejonderes und als Herren des Trottoird. Man wid) 
Een ihon gerne aus; anjtändige Frauen pflegten einen 
großen Bogen zu machen, wenn ihnen jo ein Trupp, 
jeder die brennende Eigarre oder Pfeife im Munde, den 
- Hund zur Seite des Weges fam. Da die jungen 
E viel pauften und viel tranfen, weiß ich; wann 
fie fich ihren Studien widmeten, habe ich nie erfahren 
- fünmen. 

. Eine zweite Abtheilung bildeten die Neformituventen, 
die eine Umgejtaltung des bisherigen Studentenlebens 
er »ielen und das Duell abgejchafft wifjen wollten; fie 
waren feider minder zahlreich. Endlich gab es noch eine 
: feine Schaar Solcher, die, unbefünmert um allen Bartei- 
 ftreit, mi ihren Studien leben wollten. Sie jtanden 
% unter einer erdrüdenden Mißachtung. 

u. Der Sonderbundsfrieg war im Anzug: die liberal 
 gefinnten Schweizer Cantone wollten die Einführung der 
Sejuiten nicht dulden, Freifchaaren bewaffneten jich. Sch 
, jah die erjten Anzeichen der bald darauf erfolgenden 
Kämpfe gewittergleich aufjteigen. Won Heidelberg aus 
Hatte ich einen Ausflug in die Schweiz gemacht und war 
= nach) Moerdum am Neuenburger See gefommen. Eines 


ie es Weges gehe, fällt mir ein Dampfichiff auf, aus 


ich ichait gezogen hat, hinmwegzufegen. Trinken und Duelliven — 


mM orgens, da ich als harmlojer Wanderer am Ufergelände. 


welchem Fäljer ausgeladen werden jollen. „Bier pflegen 


288 Geichichte meines Lebens. 


doch Dampfer jonjt nicht zu halten,“ denfe ich mir noch. 
Da wird es plöglich, wenige Schritte vor mir, in den 
Gebüjchen lebendig, ein Haufen Freiichärler, der dort 
verborgen gelegen, jtürzt hervor, läuft mit lautem Hurrah 
den Fleinen Abhang herunter und twoirft jich auf die 
Schiffsmannichaft. ES gibt ein wildes Durcheinander, 
Schüfje krachen, Kugeln pfeifen an meinen Ohren vorbei. 
sch hatte, ohne es zu ahnen, einer Eröffnungsicene des 
nahenden TIrauerjpiels, der Beichlagnahme eines jonder- 
bünpdleriichen Dampfers beigewohnt, aus welchem Burlver- 
fäffer ausgeladen werden jollten. ch machte, daß ich 
aus der Schweiz fortlam ...... 

sit Heidelberg war Alles, wenngleih in Spannung 
auf fommende Ereignifje, noch immer heiter. Wie jhön 
war es, um die Stunde des Sonnenuntergangs auf der 
Plattform vor dem alten Schlofje zu jigen und auf die 
Dächer der Stadt und in die Straßen herabzujehen! Das 
herrlihe Schloß, von edler Kunjt geichmücdt, von Epheu 
umfleidet, der Fluß mit den grünen, vajch dahinvaujchen- 
den Wellen, die üppige Natur, wo die edle Kaftanie ihre 
mächtige Krone weijt und der Weinftoc jich an den janft- 


gewölbten Bergen hinzieht — Heidelberg hat ja nicht 
jeines Gleichen . . . . Welch gejellige Ausflüge gab es, 


nach Nedarjteinach, zum Wolfsbrunnen, in den Dbden- 
wald! Wie manche Bruderjchaft wurde getrunfen im hell- 


Ein nachtwirfendes Moment haben für mich dieje 
Tage gehabt: 


na ein de Dar ae En A Sc ee a gu 


Zweites Buch. 289 


Sch hatte in Paris fleißig am meinen zwei Hijto- 
riichen Gedichten weitergejchrieben, die jich dem Zisfa 
anjchliegen jollten. in Drittheil des Buches: „Georg 
von Podiebrad“ war jo gut tie fertig; num arbeitete ich 
an der „Weißenberger Schlacht”, ich hatte jogar geglaubt, 
in Heidelberg beiondere Studien über Friedrich von der 
Pia, den Winterfönig, machen zu fünnen. Nım zeigte 
ich meinen Freunden die Arbeit. Sie lobten Ausführung 
und Behandlung, aber was jte mir über die Tendenz des 
Ganzen zu jagen wußten, verjtimmte mich tief. ES jollte 
mir vom Ddeutjchen Standpunft aus eigentlich verwehrt 
fein, dies Buch zu jchreiben. Meine gejchichtliche Auf- 
fajjung jet jentimental. ch erinnerte daran, daß Friedrich 
Lejiing, an dejjen gutem Deutjchthum man doch nicht 
ziveifeln werde, Hut vor dem Gone und die Huffiten 
gemalt habe. . Man entgegnete, Dies jet etivas ganz 
anderes. 

Am lebhaftejten opponirten mir Hermann Hettner 
und Anerbadh. Böhmen, jo lauteten ihre Argumente, 
- ft zum Hälfte germanifirt, zugejtanden, dircch verwerfliche 
Mittel; e3 gilt nun weiter zu germanifiren durch Mittel 
der Bildung. Ganz faljch fjei es, in die halberlojchene 
Ajche zu blajen, indem man die Vergangenheit poetiich 
verfläre. ES möge eine Forderung der Humanität iein, 
den bisher von Schule und höherem Bildungsleben fern 
gehaltenen jlaviichen Bauer und Arbeiter zur Bildung 
heranzuziehen, aber mit der Wiedererwedung, Wieder- 
geivinnung ihrer Mutterjprache für die Gebildeteren, aller- 


Meipner, Gejchichte meines Lebens. I. B. 19 


290 Gefchichte meines Lebens. 


dings eine Lebensbedingung für jede erivachende Nation, 
habe es doch jeinen Hafen . ... . Habe die Regierung 
Böhmen bisher als ein Deutjches Land behandelt und 
adminiftrirt, jo twiirden dann die czechiichen PBatrioten 
das Land als ein rein czechisches erklären und verlangen, 
daß jeder Böhme fich als Slave betrachten jolle. Das 
jet dann wahrlich fein Vorwärts. Sollte der num ger- 
manifirte Theil jich wieder zurücjchrauben lajfen und der 
großen Culturjprache, die ihn in den Streis euvopäiicher 
Bildung Hineingezogen hat, wieder entjagen? Das wäre 
Unsinn. Mehr als zwei Jahrhunderte lang habe Böhmen 
in tiefem Schlafe gelegen. Wenn eS erwache, werde 8 
eben um zwei Jahrhunderte zuric jein. „UWeberlaß es,“ 
Hieß es zum Schluß, „ven Böhmen für Böhmen zu 
wirken, Du bift ein Deutjcher. Was Du in diejer Nich- 
tung thuft, jchädigt die deutjche Sache!“ 

„Hat nicht Lenau,” fragte ich entgegen, „die Al- 
bingenjerfämpfe befungen? Was hat das heute gut fatho- 
tiiche Böhmen mit den Hufliten gemein? ch rede vom 
Böhmen vor zweihundert Jahren, nicht vom heutigen. . . .“ 

„Laß gut fein,“ war die Antwort, „das heutige 
zieht jeinen WBortheil daraus.” 

Sch war Fir diefe Argumente nicht taub. Was ich 
bereit3 von Dem und Jenem gehört, vernahm ich in ver 
jtärktem Maßjtabe wieder. Das benahm mir alle Luft 
weiterzuarbeiten, ich hatte das Gefühl, daß eine reine 
Freude an meiner Arbeit mir für immer genommten jet. 
Eines Tages, nach einer erneuten Debatte über den 


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ae 


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Zweites Buch. 


genftand gerieth ich in einen Zorn über mich felbft 
und war entjchloffen, mich aus meinem Dilemma zu 
befreien. Ich ftürmte auf mein Zimmer, vernichtete meine 
Mannferipte und Eonnte der Gejelljchaft, als ich fie Abends 
wiederfah, ‚ankündigen, daß eS bei mir mit den alten 
hmen fir immer worüber fei. 


KR. E Hofbuhdruderei Karl Prochaska ir Teichen. 


arerats of ertr. of. Torınla 
. 


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REMOVE 
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